COLUMBIA LIBRARIES OFFSITE
HEALTH SCIENCES STANDARD
^Pc^^Ä'^Si^
mtljeCttpüflfmgork
COLLEGE OF
PHYSICIANS AND SURGEONS
LIBRARY
m
k
77^^
^W7c^
TiXy
i^^^M
}yZS-
^^^^^^
Ä
^J^y^^hJ-
"~^
^
aI
<^
^^
:^^k
s
w
^
m
M
a'
-:^(r-
^;
«t
•^at::^
Digitized by the Internet Archive
in 2010 with funding from
Open Knowledge Commons
http://www.archive.org/details/bibliothekderges03dras
BIBLIOTHEK
DER GESAMMTEN
MEDICINISCHEI WISSENSCHAFTEN
FÜE
PRAKTISCHE AERZTE UND SPECIALAERZTE.
HERAUSGEGEBEN
VON
HOFRATH PROF. DR. A. DRÄSCHE IN WIEN
unter mitwirkung der herren
Prof. Arnold, Dr. Asmus, Prof. Babes, Doc. Bach, Dr. Barnick, Doc. Baumert, Dr. Beckh,
Dr. Bergeat, Prof. Bergmeister, Doc. Bernheimer, Prof. Beumer, Prof. Biedert, Prof.
Birnbacher, weil. Prof. Birnbaum, Dr. Boas, Prof. Böke, Reg.-Rath Brandl, Prof. Brandt,
HoFR. Braun, Doc. v. Braun, Doc. Braünschweig, Redact. A. Brestowski, Dr. Brik, Prof.
Brunner, Ass. Buchholz,^Prof. v. Buchka, Prof. Bürkner, PfioF. Büsing, Prof. Chiari, HoFk.
Claus, Doc. Cohn, Prof. Chvostek, Prof. Czermak, Prof. Dittrich, Prof. Döderlein* Dr.
Dräer, Prof. Dreser, Prof. Droysen, Prof. . Düring, Prof, Dührssen, O.-A. Dr. Eichhoff,
Prof. Elischer, Doc. Elschnig, Prof. Emmert, Prof. Escherich, Prof. Finger, Prof. v.
Fodor, Dr. E. Freund, Prim. v. Frisch, G. A. Frölich, Prof. Frommel, Prof. Gärtner,
Doc. Geigel, Prof. Geppert, Prof. Goldschmiedt, Doc. Gomperz, Prof. Gottlieb, Prof. Gra-
denigo, Dr. Graefe, Doc. Greeff, Dr. Hajek, Prof. Hammarsten, Prof. Harnack, Doc. Haug,
Doc. Ha VAS, Doc. Dr. Heinz, Doc. Herrnheiser, Doc. Herzfeld, Dr. Heryng, Prof. Hess,
Dr. Higier, Doc. Hilbert, Prof. Hochenegg, Prof. Hofmann, Prof. Hofmokl, Doc. v.
Hüttenbrenner, Prof. Jadassohn, Dr. Jaenner, Prof. Janowsky, Doc. Jaquet, Prof.
J^ndrassik, Dr. Jessner, Prof. Ipsen, Prof. Irsai, R. A. Dr. Kamen, Doc. Kaufmann,
Prof. Kirn, Doc. Klein, Prof. Klug, Prof. Kohlschütter, Doc. Kopp, Dr. Kornauth,
Prof. Kossel, Doc. Koväcs, Prof. Kratter, Prof. Kraus, Dr. Kreutz, Dr. Krücke, Prof.
Kuhn, Dr. Kurz, Dr. Kwisda, Prof. Lang, Prof. Lassar-Cohn, Prof. Lesshaft, Prof.-
Lieeermann, Doc. v. Limbeck, Prof. Litten, Prof. Loos, Prof. Maydl, Prof. Messerer,
Doc. R. Meyer, Prof. Ugolino Mosso, Prof. Mragek,_ Doc. Naumann, Dr. Neüdörfer,
Prim. Neugebauer, Hofr. Neumann, Hofr. Prof. Neusser, Prof. Nevinny, Prof. Obalinski,
Dr. V. Oefele, Doc. Ortner, Doc. Pal, S. R. Pätz, Doc. Pawinski, S. R. Dr. Pelizaeus. Prof.
Penzoldt, Prof. Piskagek, Prof. Pohl, Prof. Pott, Prof. Proskauer, O.-A. Dr. Prior,
Doc. Redlich, Prof. Riffel, Dr. Ritsert, Prof. Röhmann, Doc. Rosin, M. R. Roth, Dr.
Saalfeld, Doc. Salzmann, S. R. Samelsqhn, Zahnarzt Dr. SchaefFer-Stuckert, Ger.-A. Dr.
ScHÄFFER, Prof. Schauta, Prof. Scheck, Dr. Scheier, Prof. Schimper, Prof. Schnabel,
Doc. Schustler, Geh.-R. Prof. Schweninger, Doc. Seydel, Dr. Siedler, Prof. Silex,
Prof. Singer, Prof. v. Sobieranski, Prof. Sommer, Dr. Spira, Dr. Sperling, Prof. Stein-
brügge, Prof. S. Stern, Doc. R. Stern, Prof. Stricker, Prof. Tappeiner, Dr. Thimm,
weil. Prof. Uffelmann, Dr. Vahlen, Doc. v. Vajda, Prof. H. Vierordt, Prof. v. Wagner,
Dr. Jul. Weiss, Hofr. Prof. Wiesner, Doc. Winkler, Prof. Witzel, Prof. Wolters, Dr.
Woltersdorf, Prof. Zander, Dr. Zarniko, Prosect. Dr. Zemann, Dr. Zerner,
Prof. Zuntz.
REDIGIRT VON
DR. JUL. WEISS MD A. BRESTOWSKI.
KARL PROCHASKA
WIEN K. UND K. HOF- & VERLAGSBUCHHANDLUNG LEIPZIG
I. Ktjmpfgasse 7. TESCHEN IN SCHLESIEN. königsstrassf, 9/11,
1898.
INTEME MEDICIN
UND
KINDEPiKßANKHEITEN
MIT BEITRÄGEN VON:
Pkof. Dr. Babes, Bukarest. — Dr. W. Balser, Köppelsdorp i. Th. — Prof.
Du. Ph. Biedert, Hagenau i. E. — Dr. J. Boas, Berlin. — Dr. J. H.
Brick, Wien. — Dr. F. Buzzi, Berlin. — Prof. Dr. Fr. Chvostek, Wien.
— HoFR. Prof. C. Claus, Wien. — Prof. Dr. Paul Dittrich, Prag. —
HoFR. Prof. Dr. Dräsche, Wien. — Prof. Dr. Escherich, Gtraz. — Prim.
Dr. V. Frisch, Wien. — Prof. Dr. Gärtner, Wien. — Doc. Dr. Richard
Geigel, Würzburg. — Prim. Dr. Higier, Warschau. — Doc. Dr. Hilbert,
Königsberg. — Doc. , Dr. v. Hüttenbrenner, Wien. — Prof. Dr. E. Jen-
DRAssiK, Budapest. — Dr. S. Jessner, Königsberg. — Prof. Kohlschütter,
Halle a. S. — ?rof. Dr. Kirn, Freiburg i. B. — Prbi Doc. Dr. Koväcs, Wien.
— Prof. Dr. F. Kraus, Graz. — Prof. Lesshaft, St. Petersburg. — Prim.
Doc. Dr. v. Limbeck, Wien. — Prof. Dr. Litten, Berlin. — Prof. Dr. Loos,
Innsbruck. — Dr. S. Mintz, Warschau. — Doc. Dr. Naumann, Leipzig. —
G. A. Doc. Dr. Neudörper, Wien. — Hofrath Prof. Dr. Neusser, Wien.
— Doc. Dr. Norbert Ortner, Wien. — Prim. Doc. Dr. J. Pal, Wien. — Dr. C.
Pariser, Berlin. — Prim. Dr. Pawinski, Warschau. — Prof. Dr. Penzoldt,
Erlangen. — Prof'. Pott, Halle a. S. — 0. A. Dr. Prior, Köln. — Doc.
Dr. E. Redlich, Wien. — Dr. C. Reuter, Ems. — O. A. Dr. Richter, Marien-
burg. — Doc. Dr. Rosin, Berlin. — Ghr. Prof. Dr. Schweninger, Berlin. —
Erof. Dr. Singer, Prag. — Prof. Dr. Robert Sommer, Giessen. — Dr.
Arthur Sperling, Berlin. — Prof. Dr. Steinbrügge, Giessen. — Prof. Dr.
S. Stern, Wien. — Doc. Dr. Richard Stern, Breslau. — Prof. Dr. S.
Stricker, Wien. — Prof. Dr. H. Vierordt, Tübingen. — Prof. Dr. v.
Wagner, Wien. — - Dr. Jul. Weiss, Wien. — . Dr. R. Wichmann, Braun -
SCHWEIG. — Prosect. Dr. Zemann, Wien. — Dr. Th. Johann Zerner, Wien.
— Prof. Dr. Zuntz, Berlin.
III. BAND.
MIT SACHREGISTER DER BANDE I ^ III, 1 FARBEN TAFEL UND
37 FIGUREN IM TEXT,
KARL PROCHASKA
WIEN K. UND K. HOF- & VERLAGSBUCHHANDLUNG LEIPZIG
l. KUMPFGASSE 7. TESCHEN IN SCHLESIEN. KÖNIGSSTBABSE 9/11.
1898.
1C1I
K. u. k, Hofbuchdruckerei Karl Prochaska in 'leschea.
Nabelkrankheiten. Der Nabel bildet die Pforte, durch Avelche die
lebenserhaltende Verbindung des Kindes mit der Mutter bewirkt wird mittels
der in dem Nabelstrang zu und von dem Fötus ableitenden Blutadern; diese
Pforte muss nach der Trennung des Kindes von der Mutter geschlossen
werden."") In dem feuchten Gewebe des Nabelstranges, der WnARTON'schen
Sülze, eingebettet, führt die Nabelvene das mütterliche Blut durch den Nabel-
ring und nachher im Leib längs des Ansatzes des Lig. Suspensorium nach
der Leber hin und von hier theils durch Leber und Lebervenen, theils durch
den Duct. venös. Arantii in die untere Hohlvene und das kindliche Herz, und
das verbrauchte Blut kehrt von unten an der vorderen Bauchwand aufsteigend
aus der A. hypogastrica in den 2 Aa. umbilicales durch den Strang wieder
zur Mutter zurück. In den Vorgängen, die mit der Unterbrechung dieser
Verbindung verknüpft sind, hernach in dem von dem Abwerfen der Verbin-
dungsbrücke, des Nabelschnurrestes, herrührenden Zustand können sich die
Zustände abspielen, welche als Nabelkrankheiten bezeichnet werden. Endlich
waren in manchen Fällen von vorneherein schon falsche Bildungen da oder
machen sich noch nach anscheinender Vollendung des Abstossungs- und Ab-
schlussprocesses noch krankhafte Verbildungen geltend.
Sobald das Neugeborene anfängt zu athmen, strömt das Blut von den
Nabelarterien in die sich dehnenden Lungen ab und der Blutfluss in jenen
stockt, etwas später auch in der Nabelvene. Doch ist das nicht von so zu-
verlässiger Wirksamkeit, das man nicht zuweilen durch Unterbindung des Na-
belschnurstumpfes Blutungen vorbeugen müsste — und dies hie und da nicht
einmal sicher! Mit dem Aufhören des Blutstromes in den Gefässen ziehen
diese sich zusammen und dadurch in Verbindung mit der Blutgerinnung ent-
steht die endgiltige Abschliessung des Blutflusses durch den Nabel; der ganze
Strang, der nur von dem in den grossen Canälen selbst fliessenden Blut ernährt
wurde, stirbt ab. Bei richtigem Verlauf vertrocknet hierbei der Strangrest
und fällt im Mittel nach 5—6 Tagen höchstens, bei schwächlichen Kindern
am 12. — 14. Tage ganz ab. Das Austrocknen ist ebenso wichtig für die
"-sichere Blutstillung wie für die gefahrlose Abstossung.
Der Nabelverband hat diesen Process zu begünstigen durch Verwendung von
-N^ porösem, trockenen Verbandzeug, reiner, nöthigenfalls sterilisirter Leinw^and,
' weniger gut von Watte, darüber weiche Binde. Feuchte antiseptische Verbände,
Fett- und Salbenverbände wirken geradezu nachtheilig, indem sie das nütz-
liche Austrocknen des Schnurrestes hindern. Bei diesen fand Chalmogorow
(s. Jahrb. f. Kinderheilk. XXXI S. 145) stärkere, bei Watteverband nicht so
starke feuchte Fäulnis, bei jenem sehr viel, bei diesem ziemlich viel Eiter-
coccen neben Saprophyten, in dem gleich nach der Geburt ganz bacterienfreien
Nabelschnurrest. Rascher geschieht die Eintrocknung bei dem ersten ein-
fachen Verband und noch rascher bei vorherigen Bedecken mit Gypspulver
^ nach SuTURiN. Da entwickelten sich fast nie Eitercoccen und die Nabel-
schnur fiel am 4.-5. Tag ohne Eiterung ab. Auch Salicyl-Amtjlumimlver 1:5
(Runge) wirkt ähnlich. Nach dem Abfall bleibt eine kleine, granulirende
*) Vergl. ^Nabelschnur-Nahelschnuranomalien'* i. Bd. „Geburtshilfe — Gynaekologie'
pag. 538.
Bibl, med. Wissenschaften. I, Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III; 1
2 NABELKRANKHEITEN.
Höhle, die rasch vernarbt. Wenn infolge von Unreinlichkeit, Misshandlung
des Nabelschnurrestes oder durch Infection, welche durch Hände und Instru-
mente von Hebamme oder Arzt, die mit infectiösen Processen zu thun hatten,
insbesondere aber von einer puerperalkranken Mutter her droht, sei es bei
der Loseiterung des Schnurrestes, sei es schon bei Trennung der Nabelschnur
dieser einfache Verlauf gestört wird, so entstehen die entzündlichen Nabel-
krankheiten und deren Folgen. Einige weitere sind daneben, wie schon an-
gedeutet, das Ergebnis falscher Bildungen in der Nabelgegend.
Das Nabelgeschwür, die Omphalitis stellt die leichteste Form dieser ent-
zündlichen Störungen dar. Statt der Vernarbung entsteht eine stärkere Ab-
sonderung der nach Abstossung des Strangrestes bleibenden, kleinen . Wund-
fläche. Diese vergrössert sich eher etwas, wird grau belegt, und der Haut-
rand entzündlich geröthet. In schlimmeren Fällen dehnt sich diese Entzün-
dung phlegmonös weiter auf die Nachbarhaut aus, kann zu kleineren oder
grösseren Abscedirungen des Unterhautzellgewebes führen oder dringt in die
Tiefe bis auf das Peritoneum vor. So kann das im Anfang und in der Regel
ungefährliche Leiden einen gefährlichen und tödtlichen Charakter annehmen.
Das Allgemeinleiden, die Fieberbewegung und die Schmerzhaftigkeit stehen
im Verhältnis zu den angebenen Graden der Entwicklung des Leidens. Bei
ausgebreiteter Entzündung liegt das Kind unbeweglich mit steif angezogenen
Beinen und jammert bei Handtirung an der unteren Körperhälfte.
Die vorbauende Behandlung besteht in Vermeidung jeder Beschädigung
und Verunreinigung der noch nichi vernarbten Nabelgegend, insbesondere in
grösster Reinlichkeit bei Berührung derselben. Bei dem ersten verdächtigen
Aussehen der Geschwürsfurche an dem Ansatz des Nabelschnurrestes empfiehlt
sich Aufstreuen des Salicyl-Amylumpulvers 1 : 5 oder von Jodoform beim
Verband, Geht es nicht bald ganz gut, so kann ich unverzügliche Hei-
lung in Aussicht stellen durch Anlegung eines kleinen Sublimatpriessnitz-
verbandes: ein kleines Watte- oder Gazebäuschchen wird mit 0'2Voo Sublimat-
lösung getränkt und dies mit Guttaperchapapier bedeckt und mit einem
Wattebinden- oder Wattecollodiumverband befestigt. Bereits weit ausgebrei-
tete Entzündung lässt vielleicht wegen Resorptionsgefahr nur noch ein un-
schädlicheres Antisepticum: S^/o Borsäure, 1/2 "/o Solveol etc., hierfür zu und
ist somit neben ihrer grösseren Gefahr weniger wirksam zu bekämpfen. Ei-
terung fordert Incision, Schwäche besonders sorgfältige Ernährung.
Die Gangrän des Nabels kann die schlimmste Folge eines Nabel-
geschwürs, mit dem besonders rauh und unreinlich verfahren worden ist,
sein, oder sie entsteht infolge von allgemeiner Sepsis, die dann oft auch
wieder durch den Nabel ihren Eingang gefunden hat, und des damit zusam-
menhängenden septischen Brechdurchfalls. R. Fischl (Pädiatr. Sect. der 65.
Nat.-Vers. zu Nürnberg) hat die erregenden Streptococcen im Nabel oder
der Lunge nachgewiesen. Auch kann die Nabelgangrän noch bei älteren
Säuglingen als Complication der gewöhnlichen Kindercholera entstehen. Es
wird das Nabelgeschwür missfärbig, oder es bildet sich eine Blase mit trübem
Inhalt, und nach deren Platzen breitet sich unter fötidem Geruch und fetzigen
Abstossungen der feuchte Brand nach der Fläche, selbst über 2/3 der Bauch-
wand (Runge, Krankh. der Neugeborenen, 1893) aus oder dringt in die Tiefe und
tödtet mittels Durchbruch in die Peritonealhöhle. Hiebei kann auch der Darm
brandig werden und Kotherguss in die Bauchhöhle erfolgen; war der
Darm vorher mit der Bauchwand verlöthet, so entsteht ein künstlicher After;
das verhindert indess nur selten den Tod, dem oft noch ein Vorfall des
Darmes oder eines ganzen Darmconvolutes vorausgeht, Blutungen oder all-
gemeine Sepsis werden in anderen Fällen die Todesursache. Tritt — wohl
kaum öfter als in 10% und fast nur bei local auf Omphalitis folgendem
Brand — Genesung ein, so stösst reactive Entzündung das Brandige ab und
NABELKRANKHEITEN. 3
Granulationen und Narbencontraction schliessen den Ausfall. Die Behand-
lung besteht in einem antiseptischen l'riessnitzverband, bei welchem die bran-
dige Stelle mit einer dicken mit Campherwein, V2 — l'^/o Lysol-, Solveol-, oder
Kresol-, 37o essigsaui-er Thonerdelösung getränkter Gazecompresse und Gutta-
perchapapier bedeckt ist. Roborirende Ernährung (Muttermilch) und Ana-
leptica.
Das Erysipel des Neugeborenen mag hier mit berührt werden,
weil es wohl auch von anderen Verletzungen, doch in der Mehrzahl der Fälle
vom Nabelgeschwür, bei dem die eben erwähnte Streptococcen-Invasion statt-
gefunden hat, ausgeht. Denn man nimmt ja wohl jetzt an, dass die Strepto-
coccen, welche Eiterung und Sepsis hervorrufen, unter Umständen auch das
Erysipel und dies oft bei der Nabelinfection gleichzeitig mit jenen veranlassen
können. Dasselbe hat grosse Neigung zur Ausbreitung über grosse Körper-
liächen, und die Neugeborenen sterben w^ohl immer. Man mag dagegen bei noch
nicht zu grosser Ausbreitung einen Sublimat-Priessnitzverband (0-27oo) wagen,
bei grösserer mit Ichthyol pinseln.
Nabelschwamm, Granulom, Adenom des Nabels, Fungus
umhilkalis entsteht in einem länger geschwürig bleibenden, indess nur massig
entzündlichen Nabel in Form eines runden oder länglichen, fleischrothen
Granulationsknopfes, der in den Nabelfalten versteckt liegt, aber auch bis
zu Zwetschkengrösse darüber hervorragen kann. Er besteht entweder aus
reinem Granulationsgewebe und ist dann Product chronischer Entzündung
oder in einer wesentlich davon verschiedenen Form aus Muskelfasern, von
einer Art Schleimhaut mit schlauchförmigen Drüsen und Cylinderepithel be-
deckt: Adenome (KtJSTNEß), Enteroadenom (Kolaczek). Diese Geschwülstchen
sind entweder divertikelartige Ausstülpungen und Umstülpungen der Darm-
(YON Heukelom) und selbst Magen- (Preisz) Schleimhaut, auch einfach der
Allantoisauskleidung (v. Hüttenbrennee) oder reine Drüsenwucherungen,
Adenosarcome (Waldeyer). (Vgl. Preisz Jahrh. d. Kinderheilk. XXXIII.)
Wenn man infolge fortdauernder Absonderung in der Tiefe oder auch
offen vorragend eine solche Wucherung entdeckt, so werden beide Formen
gleichmässig sicher und rasch durch Abbinden geheilt. Aetzen würde bei der
2. Form schwer zum Ziel kommen. Abschneiden unnöthige Blutung machen.
Nabelfisteln können nach Operation der zweiten Form des eben-
genannten Leidens entstehen, wenn die Ausstülpungen eine nicht verklebende
Communication mit inneren Höhlen hatten, oder solche Communicationen sind
direct nach Abfall der Nabelschnur durch offenbleibende MeckePsche Diver-
tikel oder Urachus erkennbar, beziehungsweise machen sich durch wässerige
Ausflüsse, Entleerung von Koth im ersten, Urin im zweiten Fall bemerklich.
Auch Nabelgangrän kann solche fistulöse Oeffnungen hinterlassen, selbst grosse,
durch welche weiterer Darmvorfall droht, j\Ianchmal führen auch die Fisteln
in nach innen abgeschlossene, mit Magenschleimhaut (Tillmanns, von Heuke-
lom) oder Darmschleimhaut ausgekleidete Höhlen. Man muss nach PiOsthorn
annehmen, dass es sich im ersten Fall nur vor dem 6. Fötalmonat, im letzten
wohl auch um später abgeschnürte Divertikel handle, die beim Schnurabfall
aussen offen blieben. Man muss mit der Sonde sich vergewissern, ob die
Oeffnung mit einem grösseren Organ (Darm) in Verbindung steht, falls dies der
Kothausfluss nicht schon gelehrt hat, oder nur mit einem kleineren Blindsack.
Diese Fisteln wurden im letzten Fall mehrfach durch Exstirpation der Aus-
kleidung geheilt, bei weit mit dem Darm in Verbindung stehenden durch
Bauchschnitt und Darmnaht. Bei engen Fisteln genügt Brennen mit dem
Paquelin- oder Galvanokauter, vielleicht auch Aetzung.
Die Entzündung der Nabelgefässe, Arteriitis und Phlebitis um-
bilicalis ist ebenfalls ein infectiöser Vorgang, bei welchem der noch nicht ver-
narbte Nabel die Eingansrsthüre für das krankmachende jMikrobion bildet.
4 NABELKRANKHEITEN.
Letzteres ist gewöhnlich der Streptococcus pyogenes (Baginsky, R. Fischl)
vielleicht auch manchmal ein besonderes Stäbchenbacterium, das Babes dabei
auffand und als pathogen nachwies. Den Weg für das giftige Bacterium kann
der Nabelschnurrest abgeben, wenn er erweicht und fault, statt zu vertrock-
nen, aber auch die Abstossungsfurche, seltener das nachher bleibende Nabel-
geschwür. Die Infection nimmt ihren Weg nicht sowohl in das Innere des
Gefässkanals, als in das perivasculäre Zellgewebe und, wie Runge dargethan
hat, zumeist in das der Arterie, weil dieses hier doppelt so dick ist. Von da
wandert es entgegen dem Blutstrom, welcher nach der Peripherie gerichtet
ist, gegen das Körperinnere vor, dasselbe zunächst mittels der Lymphgefässe
inficirend — in gleicher Weise von der Vene, wie von der Arterie aus. Die
Gefässwände werden durch das ihnen angelagerte, sulzige Infiltrat starr und
klaffend, im Nabelgeschwür und im Umkreis der Gefässe zeigt sich Eiter. Die
Infiltration setzt sich in der Bauchwand gegen die Blase, beziehungsweise Leber
hin fort. Durchwandern der Infection ins Gefässinnere kann eiterige Throm-
bose, bei Phlebitis bis in die Leber hinein, bewirken. Secundäre Heerde finden
sich in Lunge, Leber, Milz; es findet sich weiche Milzschwellung, Entzündung
des Bauchfells, der Hirnhäute, der Gelenke, der Knochen, der Pleura, des
Pericardium, des Herzinnern.
Die Infection kommt entw^eder schon beim Abschneiden der Nabelschnur
mit unreinen Instrumenten und Händen zustande oder, wohl am häufigsten,
nachher, wenn aus dem feuchtfaulen Piest die Streptococcen in die Gefäss-
scheiden dringen, am häufigsten, wenn sie mit unreinen Händen, Flüssig-
keiten (im Bad), Wasch- und Verbandstücken an die Absterbungsturche ge-
bracht werden, sehr selten nach Abfall der Schnur, wenn die schützenden
Granulationen durch rohe Behandlung verletzt werden. Uebertragung von
nabelkranken Kindern oder puerperalkranken Müttern kann zu Epidemieen
von Nabelgefässerkrankung in Spitälern, eventuell auch der Praxis einer He-
bamme führen.
Demnach tritt die Krankheit schon in den allerersten Tagen ein, tödtet
schon am 4. meistens am 5.— 10. Tag, später immer seltener bis gegen Ende
der dritten Woche. Man wird auf die Krankheit aufmerksam durch stärkere
Entzündung, Eiterung oder Borkenbildung am Nabel, was Alles aber auch bis,
zu dem Grade fehlen kann, dass der Grundvorgang hinter einem verheilten
Nabel verborgen ist. Treten zu den Nabelerscheinungen hohes, insbesondere
intermittirendes oder remittirendes Fieber, schweres Allgemeinleiden, Gelb-
sucht, lassen sich Ausstreuungen in den Lungen, vielleicht auch der Milz und
mittels Katheterisirung in den Nieren nachweisen, so kann man unsere Krank-
heit vermuthen, sie durch Fühlen von Härten längs der Arterie gegen die
Blase hin, längs der Vene nach oben vom Nabel und in seltenen Fällen noch
deutlicher durch Ausfluss, beziehungsweise sehr vorsichtiges Ausdrücken von
Eiter aus einer dieser Pachtungen (Bednar) bestätigen. Wenn in langwieri-
geren Fällen auch möglich, so ist es doch wohl noch eine Aufgabe der Zu-
kunft, als wirkliche Leistung seitheriger Beobachtung, alle oder möglichst viele
dieser Zeichen zur Anschauung zu bringen. Bis jetzt verliefen fast alle Fälle
dunkler, sehr viele ganz rasch und unkenntlich bis zum plötzlichen Tod und
zur aufklärenden Section.
Für die Behandlung kann nur sehr früh ein antiseptischer Priessnitz-
verband mit 0-2 7oo Sublimat in schon bei der Omphalitis angegebener Weise
etwas leisten. Es wird sofort bei jedem schlechten Aussehen des genau beob-
achteten Nabels einsetzen müssen. Wichtiger aber noch ist die Prophylaxe,
die alle genannten infectiösen Verunreinigungen verhüten und bei misslar-
biger Gestaltung der Abstossungsfurche, beziehungsweise fauligem Schnur-
rest die genannten antiseptischen Pulver, Salicyl-Amylum 1 : 3 oder auch Gyps-
pulver, anwenden muss. Die Abnahme der tödlichen Nabelgefässentzündungen
NABELKRANKHEITEN. 5
im letzten Jahrzehnt infolge Verhütung der Sepsis gehört mit zu den
Triumphen der neueren Medicin.
Die Nabelblutung beim Neugeborenen kommt in 2 Formen vor:
1. Der verhältnismässig ungefährlichen Blutung aus den ungenügend ver-
schlossenen Nabelgefässen, 2. Der gefährlichen idiopathischen Blutung aus
der Nabelwunde. Die erste entsteht, wenn die Nabelschnur nicht haltbar,
unterbunden wird und wenn die im Eingang dieser Arbeit geschilderten Blut-
stillungsvorgänge nicht richtig zustande gekommen waren. Wenn also bei
lebensschwachen oder asphyktischen Kindern durch ungenügende Athmung
die Ableitung des Blutstromes vom Nabel- nach dem Lungenkreislauf nur
ungenügend bewirkt worden, danach auch die Gefässe sich unvollständig zu-
sammengezogen hatten oder bald nachher in ihrer Zusammenziehung wieder-
erlahmten; insbesondere wenn dann bei feucht bleibendem Nabelschnurrest
diesen Vorgang nicht durch feste Thrombenbildung unterstützt wird, so beginnt
bei undichter Unterbindung bald oder auch später aus dem noch hängenden
Schnurrest, selten auch aus dem Geschwür nach Abfall der Schnur das Blut,
manchmal in lebensgefährlicher Menge, zu fliessen.
Der zweite idiopathische Blutfluss ist stets eine ungeheure Gefahr,
beruhend auf der Ursache derselben, die ausnahmslos ein schweres Leiden
darstellt. Eine geringe Rolle spielt Hämophilie unter diesen Ursachen, auf
575 Blutern kommen 12 Fälle ("Geandidier, Runge). Viel häufiger findet
sich angeborene Syphilis bei diesen Blutungen, die dann Theilerscheinung viel-
fältiger Blutaustritte, Syphilis congenitalis haemorrhagica, sind. Wie diese
Blutungen nun mit den syphilitischen Veränderungen zusammenhängen, ob
durch specifische Verdickung und Verstopfung der Gefässe (Wracek), die aber
von FiscHL geleugnet und als bei Neugeborenen normal bezeichnet wird, oder
durch Secundärinfection mit septischen Coccen (Kassowitz und Hochsinger,
Fischl) oder sonstwie, mag noch bestimmt festgestellt werden. Die letztere
Annahme würde diese mit der zweiten Ursache, der acuten Sepsis, zusammen-
ordnen, in deren Verlauf Blutungen sehr häufig sind. Noch umfassender wird
diese Einheit der Ursachen, wenn die acute Fettentartung, die Buhl-
sche Krcml'heit, welche als dritte in der Reihe der Ursachen steht, ebenfalls
mit Recht als eine Art der septischen Infection aufgefasst wird. Diese mit
angeborener Cyanose und Asphyxie auftretende Krankheit, zu der sich nach-
her blutige Durchfälle und Erbrechen, multipler Blutaustritt und Nabelblutung,
Icterus und Oedeme gesellen, hat als eigenthümliche Unterlage fettige Ent-
artung des Lungenepithels, der Herzmuskulatur und besonders stark der
Leber- und Nierenzellen. Diese, in gleicher Weise durch Phosphor- und Ar-
senik erzielbaren Veränderungen ist man jetzt geneigt, wie die als Fohlen-
lähme beschriebene ähnliche Krankheit (Bollinger), septischer Blutvergiftung
zuzuschreiben und ist nach neueren Erfahrungen über Sepsis auch in solchen
Fällen nicht daran verhindert, wo an Nabel und sonstwo eine Eingangspforte
für die Sepsis nicht gefunden wird (Runge).
Die schwere Form der Nabelblutung beginnt zuweilen schon vor, öfter
nach Abfall der Nabelschnur mit gleichmässigem Hervorsprudeln des Blutes,
das aus dem Nabelgeschwür ohne unterscheidbare Quelle wie aus porösem
Grunde quillt. Die Stärke des Flusses nimmt ab und zu, ist aber für Stillungs-
versuche nahezu unüberwindlich. Das Kind selbst kann daneben gesund und
kräftig erscheinen oder alle Anzeichen der vorerwähnten Grundkrankheiten,
syphilitische Hautleiden, Petechien, Gelb- und Blausucht, schwere Allgemein-
leide, darbieten. Lider 1.— 2. Woche, selten später sterben 83 7o der Kinder
(Grandidier).
Die erste, leichte Form wird verhütet oder geheilt durch feste Unter-
bindung mit 4 — omni breiten (mit einem Antisepticum) angefeuchteten Bändchen
4 — 5 cm von dem Nabel, IV2 c^» '^'om Schnittrand entfernt, nöthigenfalls mit
6 NABELKRANKHEITEN.
einem Gummiband (Budin). Erfolgt die Blutung aus dem Nabelgescliwür
oder kurz abgerissener Schnur, so genügt manchmal Betupfen mit Höllenstein.
Aufstreuen der oben erwähnten Pulver und Druckverband. Selten wird hier
Umstechung in der Bauchwand nöthig; und bei der schweren Blutung pflegt
diese nur dann etwas zu nützen, wenn eine Karlsbader Nadel durch die Haut
von einer Seite des Nabels nach der anderen gestochen, an dieser der Nabel
in die Höhe gehoben und senkrecht darauf eine zweite Nadel tiefer durch-
gestochen und nun mit Achter- und Kreistouren umschnürt wird. Vorher
könnte man Tamponade mit Eisenchlorid versuchen, nachher, wenn trotz der
Schnürung aus den Nadelstichen Blut sickert (A. Vogel), Ausgiessen mit
Gypsbrei und immer wieder Neuaufgiessen auf die Ritzen.
Recht häufig ist die Nabelblutung Theilerscheinung von Blutungen in den Magen
und Darm, die alsMelaena neonatorum zusammengefasst werden, sich durch Erbrechen
und Stuhlentleerung schwarzer Blutmassen äussern und in diesem Fall denselben consti-
tutionellen Ursachen: Syphilis, Sepsis und BuHL'scher Krankheit, auch der Haemophilie zu-
geschrieben werden. Davon getrennt ist die Melaena, die auf einem Geschwür des Magen-
darmcanals beruht. Letzteres aber wird von Landau wieder von einem den Nabelgefässen
oder dem Ductus venosus entstammenden Thrombus hergeleitet, dessen Folge Nekrose der
Magen- etc. Schleimhaut und Geschwürsbildung durch Selbstverdauung sei. Nicht sicherer
ist der Zusammenhang der Extravasate und Geschwürsbildung oder unmittelbar der
Blutung mit einer dem Geburtsact zugeschriebenen Darmhyperämie (Ebstein, Kujmdrat),
beziehungsweise einen solchen durch nervöse Circulationsstörungen infolge von centralen
Blutergüssen intra partum (Pomorski). Wohl weil die letzteren immerhin leichteren Ur-
sachen mit in Betracht kommen, heilen unter Eisauflage, Anwendung von Liq. fcrri ses-
quichlorat. und Ergotin, letztes auch subcutan, in Fällen von Meläna mehr Kinder, als von
der Nabelblutung, circa 40 — ÖO^/^ (Runge).
Da Runge nachdrücklich dafür eintritt, dass die als Ursache der Nabelblutung ge-
nannte BuHL'sche mit der WiNKEL'sc/jen Krankheit im Wesen der Fettdegeneration der
Organe in den Symptomen, Cyanose und Icterus, wie in der Ursache, die er für septisch-
infectiöser Natur (Epstein) halten zu müssen glaubt, sehr nahe zu stellen sei, so soll diese
hier wenigstens kurz berührt werden. Ihr Hauptsymptom ist allerdings die Haemoglobi-
nurie, in Uebergangsfällen (Bigrlow, Parrot) nur Haematurie und Bluteindickung, wäh-
rend wohl von Extravasaten oder von sonstigen Blutergüssen, insbesondere Nabelblutungen
Nichts verzeichnet ist. Indess die Degeneration der Organe, die Neigung zu Blutverlusten
irgend welcher Art und die wahrscheinlich sepiische Ursache bringt doch alle diese Dinge
einander nahe. Die Krankheit kommt in den allerersten Tagen zum Ausbruch und tödtet,
wie es scheint, noch rascher, als irgend eine andere.
Wenn wir seither mit und nach Eintritt der Geburt am Nabel sich ab-
spielende, entzündliche und infectiöse Vorgänge, in dem Nabeladenom und
den Nabelfisteln wenigstens damit in mehr oder weniger in Zusammenhang
stehende Bildungen abgehandelt haben, so bleibt schliesslich noch eine ledig-
lich auf Missbildung oder unvollkommener Anlage beruhende Unregelmässig-
keit zu besprechen:
Der Nabelbruch derKinder, Hernia umbilicalis. Man unterscheidet
wieder zwei wesentlich verschiedene Formen: den angeborenen Nabelschnur-
bruch und den nach der Geburt erst sich vollendenden Nabelbruch. Der
Nabelschnur bruch beruht auf einem unvollständigen Heranwachsen der
vorderen Bauchdecken an die Nabelgegend, sodass hier eine mehr oder
w^eniger grosse Partie der Bauchhöhle nur durch das Peritoneum und die
Bestandtheile des Nabelstrangs, dessen Amnionhülle mit oder ohne zwischen
sie und das Peritoneum gelagerte WnARTON'sche Sülze geschlossen erscheint.
Wenn die in der Regel noch nebenbei bestehenden anderweitigen Missbil-
dungen die Lebensfähigkeit nicht selbst schon ausschliessen, so erscheinen
die Kinder, bei denen kleinere oder grössere Darmtheile und bald ein Theil
bald die ganze Masse der Leber, seltener andere Unterleibsorgane durch die
Bauchwandlücke unter diese dünne, selbst kaum existenzfähige Decke vor-
getreten sind, dadurch in ihrem Leben aufs Aeusserste oder unrettbar bedroht.
Neben der oben oder an der Seite der Vorwölbung eingepflanzten Nabelschnur
erkennt man durch die dünne Decke, wenn sie nicht entzündlich grau getrübt
ist, die vorliegenden Eingeweide, den Darm an seinem grünlichen Meconium
NABELKRANKHEITEN. 7
unterscheidbar. Kleine cylindrische Brüche können auf den ersten Blick über-
sehen werden und durch Mitfassen bei Unterbindung der Nabelschnur zum
Tode führen, worauf bei dicker Nabelschnur zu achten ist. In günstigen
Fällen ist Selbstheilung seit dem vorigen Jahrhundert schon wiederholt beob-
achtet, indem bei entzündlichem Abfall der Nabelschnur, sich eine Granu-
lationsdecke und schliesslich Vernarbung über der Lücke der Bauchwand bildet
(Kkämek, Lindfors).
Bei leicht reponiblen und nicht zu grossen Brüchen kann man diese
Naturheilung anstreben, indem man nach Pteposilion durch einen Verband
mit Jodoform-Salicylwatte-Collodium den Bruch schliesst und die abgebogene
Nabelschnur in den eingangs beschriebenen Pulververband einwickelt. Bunge
stimmt in jedem Fall, bei grösseren und nicht reponiblen Brüchen ent-
scheidet man sich zweifellos allgemein für alsbaldige Radicaloperation, wovon
gelungene Fälle zuerst von St. Germain, Felsenreich berichtet, von Lind-
fors zusammengestellt wurden. Macdonald hat 1890 schon 19 Fälle mit
16 Heilungen, während er unter 12 exspectativ behandelten 9 Todesfälle zählt.
Seitdem finden sich bei Runge noch etwa 7 Operationen mit 5 Heilungen.
Man kann nach Olshausen die Amniondecke der Bruchhülle spalten, den
Bruch mit uneröffnetem Peritoneum zurückbringen und die angefrischte Bruch-
pforte vernähen. Wenn Amnion und Bruchsack verwachsen oder der Bruch
irreponibel ist; so muss die Bauchhöhle eröffnet werden, am besten, indem
man den Bruch an seiner Basis, Vi ^''^ vom Amnionansatz entfernt, bogen-
förmig umschneidet und damit zugleich die Ränder der Bauchwand anfrischt,
nöthigenfalls auch noch die Oeffnung nach oben und unten erweitert, reponirt
und die Bauchnaht macht. Die Nabelgefässe werden einzeln unterbunden,
eine eventuelle Blutung aus Verklebungen der Leber durch Nähern des glü-
henden Paquelin gestillt. Die Operation wird aseptisch nach Reinigung der
Bauchdecke mit Seife und sterilisirtem Wasser, allenfalls 37oo Salicyl-, 3%
Bor-, ^2% Lysol-, Kresol- oder Solveollösung gemacht, die Naht mit Jodo-
form- oder sterilisirter Gaze und Kautschuk-Heftpflaster bedeckt. Wenn das
Kind mit geplatztem Bruch zur Welt kommt, wird sofort operirt (Runge),
sonst womöglich im Laufe des 1. Tages.
Der erworbene Nabelbruch, Nabelringbruch entsteht Tage,
Wochen oder Monate nach der Geburt, wenn der Verschluss des Nabels nicht
haltbar genug war, insbesondere bei Kindern, die bei Darmstörungen, Mete-
rorismus oder bei der Urinentleerung wegen enger Phimose häutig und stark
drängen. Nach Sachs soll eine schwache Stelle am Nabel bleiben, wenn die
als Fortsetzung der Fascia transversa den Nabel überziehende Fascia umbili-
calis sich darüber mit einem nach unten concaven Rand ausbreitet, nach
Herzog entsteht eine Schwäche im oberen Theil des Nabels, weil hier das
schwächere adventitielle Gewebe der Nabelvene keine so haltbare Verwach-
sung mit dem Nabelring hervorruft, wie unten das der Arterien. Es bildet
sich eine blasige Vortreibung des Nabels in der Regel von Kirschgrösse, die
manchmal bis zu Taubeneigrösse anwachsen kann. Einklemmungen kommen
ausnahmsweise und sogar schon früh vor. Gewöhnlich geht der Bruch leicht
zurück. Dann lege ich ein entsprechend grosses, zusammengeknäueltes Char-
pie-Küchelchen in die Lücke, klebe dies mit 2 gekreuzten, 2^/3 cm breiten
(Kautschuk-) Heftflasterstreifen fest, darüber eine breitere Sfache Leinwand-
compresse, die mit einer elastischen (rippig gestrickten) Bauchbinde in drei
Touren befestigt wird. Binde und Compresse können beliebig oft erneuert
werden; bei der viel selteneren Erneuerung des Pflasters verschiebt man das
Kreuz etwas, um dis Haut zu schonen. Das ist das einfachste, beste und
alleinwirksame Nabelbruchband und heilt jeden Bruch in 3 — 6 Monaten. Ein-
klemmung muss in jedem Alter operirt werden, analog der Operation des
Nabelschnurbruches. biedert.
8 NEPHRITIS.
Nephritis. Die diffusen Nierenentzündungen theilte man frülier
in drei Stadien ein (Feeeichs), indem man der Ansicht huldigte, dass ein
Uebergang des einen in das nächste stattfinde. Ein solcher bildet jedoch eher
eine seltene Ausnahme als die Regel. Man hat daher jetzt die alte Ein-
th eilung verlassen und unterscheidet nach dem klinischen Verlauf acute
und chronische Nephritis; bei letzterer werden die hauptsächlich mit
Erkrankung der specifischen Parenchymzellen einhergehenden als chronische
parenchymatöse von den vorwiegend im interstitiellen Gewebe sich ab-
spielenden (chronische, interstitielle) getrennt.
Die acute Nephritis tritt zuweilen nach acuten Vergiftungen mit
Schwefelsäure, Oxalsäure, Salzsäure auf, häufiger nach Darreichung gewisser
Arzneimittel wie Terpentin, Copaivabalsam, Natron salicylicum, nach äusserer
Application von spanischer Fliege; das grösste Contingent stellen jedoch die
acuten Infectionskrankheiten. Der Scharlach nimmt unter diesen die erste
Stelle ein. Ausnahmsweise während des Blüthestadiums des Exanthems, ge-
wöhnlich nach völligem Erlöschen der Krankheit, in der 3. Woche, entsteht
die Nierenentzündung. Sie kann den leichtesten und den schwersten Fällen
nachfolgen und wird durch das Auftreten oder Fehlen febriler Albuminurie
während derselben nicht beeinflusst. In einzelnen Epidemien ist ihre Frequenz
eine sehr bedeutende (bis zu 50°/o), in anderen stellen sie Seltenheiten dar.
Frühes Verlassen des Bettes, Erkältung, u. s. w. scheinen keinen Einfluss auf
ihre Entstehung zu haben, da sie auch bei sorgsamster Pflege heobachtet sind.
Nächst dem Scharlach kommt die Diphtheritis als ätiologischer Factor
der acuten Nephritis in Betracht; sie tritt hier bei besonders schweren Er-
krankungen ein. Auch bei Masern, Pocken, Unterleibstyphus, Pneumonie,
Angina, acuten Eiterungen, Sepsis, Varicellen wird sie gelegentlich beobachtet,
in einem Fall ist sogar ihr Auftreten nach erfolgreicher Vaccination kürzlich
berichtet. Der Zeitpunkt, in welchem die Nierenentzündung bei diesen Krank-
heiten entsteht, fällt im Gegensatz zum Scharlach zumeist mit dem Höhesta-
dium zusammen, (viel. pag. 15 ds. Bd.)
Auch durch Erkältung, Wohnen in feuchten, kalten Räumen u, s. w.
wird sie nicht selten verursacht.
Pathologische Anatomie: Die Nieren sind erheblich vergrössert, weich, leicht
zerreisslich, ihre Oberfläche entweder roth gesprenkelt, oder blass gelblich gefärbt. Die
Kapsel lässt sich leicht abziehen. Auf dem Durchschnitt erkennt man sofort, dass die
wesentlichsten Veränderungen in der Rinde ihren Sitz haben, während die Marksubstanz
annähernd normal erscheint. Die Rinde ist verbreitert, brüchig und zeigt in einigen Fällen
roth und gelb gefärbte Stellen mit einander abwechselnd, in andern eine mehr diffus gelb-
liche Färbung. Bei den ersteren sind mikroskopisch reichliche Blutungen in die BowMAN'schen
Kapseln und das Lumen der Harnkanälchen zu constatiren, bei den letzteren fehlen die-
selben. Stets ist eine grosse Anzahl von Malpighischen Körperchen erkrankt, die Capillaren
der Glomerulusschlingen und das Epithel der Kapseln verändert; in den Harnkanälchen
sind die Epithelzellen theils desquamiert, theils fettig und körnig degenerirt, vielfach
werden in ihnen Cylinder nachgewiesen.
Kleinzellige Infiltrationen im interstitiellen Gewebe können ganz fehlen, meist sind
sie nachzuweisen, haben aber nur eine geringe Ausbreitung.
Die Symptome treten am ausgeprägtesten bei der Scharlachnephritis
zu Tage, da sie hier nicht mit Erscheinungen von Seiten der Grundkrankheit
vermischt sind.
Der Beginn kann deutlich markiert sein durch Schüttelfrost, hohe Tem-
peratursteigerung bis 40°, Erbrechen, Häufiger ist er ein allmähliger; die
Kranken klagen über Schwäche, Kopfschmerzen, Uebelbefinden, und sind auf-
fallend blass. Treten solche Erscheinungen in der 3. bis 6. Woche nach
Beginn eines Scharlachs auf, so ist sofort der Urin einer näheren Prüfung zu
unterziehen. Seine Menge ist erheblich vermindert bis auf 500, in schweren
Fällen sogar bis auf 100 und noch weniger Cubikcentimeter pro Tag, das
specifische Gewicht wesentlich erhöht, beträgt 1025 bis 1035. Er enthält
NEPHRITIS. 9
reichlich Eiweiss und setzt beim Stehen ein Sediment ab, welches aus zahl-
reichen rothen und weissen Blutkörperchen, granulierten Epithelial- und
Blutcylindern und nicht näher zu definirenden Trümmern besteht. Der Appetit
ist sehr gering, oft besteht Widerwille gegen Nahrungsaufnahme und Er-
brechen. Nach einigen Tagen bildet Oedem sich aus, welches zunächst im
Gesicht, an den Augenlidern und Wangen auftritt, und auf diese Theile be-
schränkt bleiben kann, während es in anderen Fällen das gesammte Unter-
hautzellgewebe befällt, so dass die Kranken einen vollkommen gedunsenen
Eindruck machen. In den Körperhöhlen sammelt sich dann ebenfalls Flüssig-
keitserguss an, und führt durch Compression der Lungen zu erheblichen
Eespirationsbeschwerden. In den inneren Organen kommt es selten zu einer
analogen Ausschwitzung, doch ist dieselbe in den Lungen, den Nieren und im
Gehirn beobachtet. Hand in Hand mit dem Auftreten der Wassersucht geht
eine Verminderung der Urinmenge.
Ueber die Ursachen des Hydrops '•) ist viel hin und hergestritten. Dass er
nicht allein durch Wasserretention bedingt ist, beweisen Experimente, bei
welchen Thieren colossale Mengen von Kochsalzlösung in das Gefässsystem
eingebracht wurden, ohne dass Oedem entstand. Wahrscheinlich besteht in-
folge der veränderten Blutmischung eine Alteration der Gefässwände, eine
abnorme Durchlässigkeit derselben, welche die Transsudation der Flüssigkeit
ermöglicht. Unterstüzt wird sie dadurch, dass viel Flüssigkeit im Körper
zurückgehalten wird.
Der weitere Verlauf kann sich in der Weise gestalten, dass die Oedeme
allmählig schwinden, der Appetit und das Aussehen des Kranken sich bessert,
der Urin reichlicher, heller, sediment- und eiweissärmer wird, und in circa 3
bis 6 Wochen vollständige Heilung erfolgt. Die Eeconvalescenz ist aber oft
durch Rückfälle unterbrochen und verzögert, welche durch Verminderung der
Urinmenge mit Erscheinen von viel Eiweiss, Blut und Cylindern gekenn-
zeichnet sind.
Bisweilen verläuft die Krankheit ungünstiger; es treten schwere Er-
scheinungen auf, welche durch die Stockung der Urinausscheidung bedingt
sind. Unter diesen^- nimmt die acute Urämie die wichtigste Stelle ein. Sie
tritt unvermittelt auf, oder ist durch vorausgehende Kopfschmerzen, Benom-
menheit, Apathie eingeleitet; der Puls ist dann verlangsamt, und gelegentlich
unregelmässig. Die Urinsecretion ist vermindert oder stockt gänzlich; aus-
nahmsweise ist auch bei vermehrter Absonderung infolge von Resorption der
hydropischen Ergüsse der Eintritt der Urämie beobachtet. Das Hauptzeichen
bilden epileptiforme Krampfanfälle, welche in klonischen Zuckungen der ge-
sammten Körpermuskulatur, bei weiten, reactionslosen Pupillen, bestehen und
einige Minuten anhalten. Sie sind gefolgt von tiefem Coma und lauter,
schnarchender Respiration. In den günstigsten Fällen schwindet dasselbe
nach einigen Stunden, und ist damit der urämische Anfall beendet. Bei
schwererem Verlauf treten mehrere Krampfanfälle auf, zwischen welchen das
Bewusstsein nicht zurückkehrt, ja die Anfälle können sich häufen, und auf
der Höhe eines der Tod erfolgen.
Die Urämie zeigt manchmal einige Abweichungen von dem beschrie-
benen Bilde. So kommen halbseitige Convulsionen nach Art der bei Jack-
soN'scher Epilepsie beobachteten vor. Zuweilen fehlen Krämpfe ganz und
dafür treten Lähmungen in den verschiedensten Nervengebieten auf. Nicht
selten besteht urämische Amaurose, eine sehr räch sich entwickelnde
totale Erblindung ohne ophthalmoskopischen Befund bei erhaltener Reaction
der Pupillen auf Lichteinfall, welche in wenigen Tagen zu heilen pflegt. Auch
das Asthma uraemicum ist hier noch zu erwähnen, eine anfallsweise auf-
*) Vergl. Artikel ,Hi/drops," Bd. II. pag. 101.
10 NEPHRITIS.
tretende hochgradige Athemnoth, welche ebenfalls den Ausdruck der Urämie
bildet. Heftiges Erbrechen und reichliche Durchfälle kommen nicht selten
hinzu, um das Krankheitsbild zu vervollständigen.
Ueber das Wesen der üraemie sind hauptsächlich zwei Theorien aufgestellt. Die
eine, von Traube herrührende, versucht die dabei auftretenden Symptome von einem acuten
Gehirnödem abzuleiten. Dagegen ist einzuwenden, dass Oedem des Gehirns ein durchaus
inconstanter Sectionsbefund ist. Die andere führt sie auf eine Vergiftung des Blutes durch
die nicht zur Ausscheidung gelangenden Stoff wechselproducte zurück. Dass Harnstoff als
solcher nicht der Urämie ähnliche Erscheinungen hervorzubringen vermag, ist durch viel-
fache Injectionsversuche an Thieren erwiesen. Frerichs nahm daher an, dass im Körper
eine Umsetzung desselben in kohlensaures Ammoniak stattfindet, welches bei Injection in
die Blutbahn Krämpfe und Coma erzeugt. Auch gegen diese Hypothese sind schwer-
wiegende Bedenken erhoben. So viel scheint zur Zeit festzustehen, dass nicht alle Fälle
von Urämie nach einer Schablone zu erklären sind, sondern dass verschiedene Factoren bei
der Entstehung derselben concuriren können; das eine Mal wird ein allgemeines oder locales
Hirnödem, ein anderes Mal Vergiftung durch im Körper zurückgehaltene, toxische Stoffe,
deren Natur nicht näher bekannt ist, und ein drittes Mal eine Combination beider ver-
antwortlich zu machen sein.
Complicationen von Seiten der Lungen kommen mitunter zur
Beobachtung, und bestehen in mehr oder weniger ausgebreiteten Pneumonien,
Das Herz bleibt beim acuten Morbus Brightii gewöhnlich intact, nur selten
ist Hypertrophie des linken Ventrikels während des Lebens zu constatiren.
Die Diagnose ist bei genauer Untersuchung des Urins leicht. Vor
allem muss man sich vor Verwechselung mit einfacher, febriler Albuminurie
hüten, welche durch geringen Eiweissgehalt des Urins, und die Anwesenheit
nur spärlicher, hyaliner Cylinder gekennzeichnet ist. Sehr schwierig kann
die Diagnose sich gestalten, wenn der Arzt den Patienten erst in urämischen
Convulsionen zu Gesicht bekommt. Dann ist es schwierig, überhaupt Urin
zur Untersuchung zu erhalten und der Nachweiss von Eiweiss ist an sich nicht
beweisend, da auch nach epileptischen Krämpfen dasselbe reichlich vorhanden
ist. Eine genaue Berücksichtigung der Anamnese und der ätiologischen
Momente kann hier nur vor Irrthümer schützen.
Die Prognose ist im allgemeinen nicht als ungünstig zu bezeichnen.
Die Mehrzahl der Erkrankungen geht in Heilung über. Für die nach Er-
kältung auftretenden ist sie günstiger, als für die secundären. Bei der die
Diphtherie begleitenden fällt sie mit der des Grundleidens zusammen. Für
die Scharlachnephritis trifft das nicht zu, da hier auf die leichtesten, die
Kranken kaum zur Bettruhe zwingenden Erkrankungen die schwersten Nieren-
entzündungen folgen können. Durch das Auftreten urämischer Symptome oder
anderer Complicationen werden die Aussichten erheblich schlechter. Ueber-
gang in chronischen Morbus Brightii ist selten.
Die Therapie hat in erster Linie die Schonung des erkrankten Organs
anzustreben. Dazu ist absolute Bettruhe und die Darreichung einer reizlosen
Kost unbedingt erforderlich. Als letztere ist reine Milchdiät am meisten zu
empfehlen, wo sie infolge Widerwillens des Kranken nicht durchzuführen ist,
fügt man der Milch Kaffee hinzu, oder reicht Milch und Mehlsuppen (Legu-
minosen). Zugleich ist Sorge für leichten, regelmässigen Stuhlgang uner-
lässlich. Als Getränk sind Selterwasser, Biliner, Fachinger Brunnen zu em-
pfehlen. Unter dieser Behandlung heilen die meisten leichten und mittel-
schweren Fälle. Wenn sie nicht genügt, muss man versuchen, die im Körper
durch die mangelhafte Nierenthätigkeit zurückgehaltenen Stoffe durch die
Haut zur Ausscheidung zu bringen, indem man die Diaphorese anregt. Trinken
von viel warmer Limonade und Thee, und prolongirte warme Bäder von 30° R.
mit nachfolgender Einwickelung in wollene Decken für ca. 1 Stunde führen
meist zur Erreichung dieses Zieles. Pilocarpininjectionen sind, wenn möglich,
zu vermeiden, da sie leicht Collaps erzeugen. Bei der Darreichung diuretisch
wirkender Mittel muss die äusserste Vorsicht beobachtet werden, sie bewirken
eine Reizung der Nieren, und ist es daher besser, sie nicht anzuwenden. Das
NEPHRITIS. 11
am mildesten wirkende ist, fällt fort, das Kalium aceticum, welches in einer
Lösung- von 6— 10'0:200 3mal täglich 1 Esslöffel gegeben wird.
Beim Eintritt urämischer Symptome muss ausserdem eine kräftige Ab-
leitung auf den Darm, behufs Ausscheidung der giftigen Stoffe in demselben,
durch Verordnung kräftiger Abführmittel (Coloquinten u. s. w.) erzielt, und
gegebenen Falles, eine ausgiebige Blutentziehung durch einen Aderlass bewirkt
werden. Auch Salzvvasserinfusionen in das subcutane Zellgewebe sind in
neuerer Zeit mehrmals in Anwendung gebracht worden.
Die chronische, parenchymatöse Nephritis kann aus einer acuten sich
entwickeln; doch ist das im ganzen ein sehr seltenes Ereignis, welches gele-
gentlich bei einer im Gefolge von Scharlach oder von Erkältung entstandenen
Nierenentzündung beobachtet wird. Gewöhnlich tritt sie von vornherein als
chronische Erkrankung auf. Häufige Erkältungen und Durchnässungen, an-
dauernder Aufenthalt in dumpfen feuchten Räumen bilden eine Ursache der-
selben. Nicht selten ist sie auch nach chronischen Eiterungen, bei cariösen
Knochen- und Gelenkleiden, bei Lungentuberkulose, bei Syphilis, und dann
bisweilen mit amyloider Entartung des Organs verbunden. Auch Malaria-
krankheiten werden als Ursache derselben angeschuldigt. In einer grossen
Reihe von Fällen endlich ist eine directe Veranlassung nicht nachzuweisen.
Pathologische Anatomie. Das Ergebnis der Sectionen weist vielfach wech-
selnde Bilder auf, welche theilweise in gewissen Varietäten des klinischen Verlaufs ihre
Erklärung finden. Der als grosse, weisse Niere bezeichnete Zustand besteht in einer
erheblichen Vergrösserung der Nieren, deren Kapsel leicht abziehbar ist, und deren Ober-
fläche eine gelblich weisse Färbung aufweist. Ein Durchschnitt durch das Organ lehrt,
dass der Hauptantheil an der Grössenzunahme den Rindenpartien zufällt, während der
Pyramidentheil nur unwesentlich von der Norm abweicht. In erstere sind eine Menge
gelblich weisse Inseln und Streifen eingesprengt. Mikroskopisch sind die hauptsächlichsten
Veränderungen in den Parenchymzellen des Nierenlabyrinths zu finden. Dieselben sind in
grosser Ausdehnung fettig degenerirt, zerfallen, abgestossen und die Lumina der Harn-
kanälchen anfüllend, in welchen ausserdem reichlich Cylinder angetroffen werden. Daneben
besteht Ersatz der verloren gegangenen durch frische Epithelzellen, welche theilweise durch
die Inhaltsmassen der Harnkanälchen stark abgeplattet sind. An den Glomerulis sind eben-
falls hochgradige Veränderungen nachzuweisen, Verfettungen der Capillarschlingen und
Wucherungen des Kapselepithels. Blutungen und kleinzellige Infiltrationen des interstitiellen
Gewebes sind nur in geringem Maasse vorhanden.
In anderen Fällen finden wir ein Bild, welches als grosse, bunte Niere bezeichnet
ist. Das Aussehen einer solchen Niere ist buntgesprenkelt, es wechseln rothe und gelbe
Stellen an der Oberfläche und auf dem Durchschnitt mit einander ab. Die letzteren
entsprechen Verfettungen, welche dem oben geschilderten Zustande gleichen, in den ersteren
herrschen Blutungen vor. Oft werden theilweise Schrumpfungen in solchen Nieren be-
obachtet. Die Vergrösserung des Organs pflegt dann nur gering zu sein. Auf der Ober-
fläche erscheint es höckerig, indem eingesunkene Partieen mit hervorragenden abwechseln.
Die Kapsel ist an den vertieften Stellen in mehr weniger hohem Grade adhärent. Mikro-
skopisch entsprechen diese Theile älteren Krankheitsheerden, in denen es bereits zu einer
Schrumpfung des Gewebes gekommen ist, während in den erhabenen, zum Theil Verfettungen
zeigenden Partieen der Process jüngeren Datums ist. Man bezeichnet diesen Zustand
auch als „secundäre Schrumpfniere. "
Symptome: Das Leiden tritt schon in jugendlichem Alter, gewöhnlich
aber erst in mittleren Lebensjahren auf; Männer erkranken auch hier durch-
schnittlich häufiger als Frauen.
Der Beginn ist in der Mehrzahl der Fälle ein ganz allmählicher, nur
wo die Krankheit an eine acute Nierenentzündung anschliesst, lässt er sich
genauer feststellen. Das erste Zeichen, welches die Kranken auf ihren Zu-
stand aufmerksam macht, ist Wassersucht, welche sich zuerst im Gesicht
und bald auch um die Malleolen herum entwickelt. Durch dieselbe wird die
schon bestehende Abmagerung verdeckt. Gleichzeitig stellt sich Schwäche-
gefühl, Unlust und Unfähigkeit zum Arbeiten ein, und es bildet sich eine
erhebliche Anämie aus, welche auch in der Hautfarbe sich ausprägt und den
Gesichtszügen ein eigenthümlich gelbliches Colorit verleiht, so dass man den
Patienten ihre Krankheit vom Gesichte abzulesen vermag.
12 NEPHRITIS.
Der Urin zeigt sehr charakteristische Veränderungen. Seine Menge ist ver-
mindert auf 500 bis 1000 ccm pro Tag, sein specifisches Gewicht dem entspre-
chend erhöht, seine Reaction sauer. Er enthält viel Eiweiss und hat einreich-
liches Sediment, welches aus zahlreichen weissen und rothen Blutkörperchen,
verfetteten Epithelien und Cylindern besteht. Letztere sind theils sogenannte
Epithelialcylinder, theils hyaline, an deren Oberfläche vereinzelte Blutkörper-
chen, Fetttröpfchen, Fettkörnchenzellen, resp. verfettete Epithelzellen anhaften.
Die Wassersucht erreicht bei schwerer Erkrankung sehr hohe Grade, so
dass der Körper des Kranken wie gedunsen aussieht, und auch in den Körper-
liöhlen, besonders den Pleuren und dem Pericard, ein Flüssigkeitserguss sich
ansammelt. Die Athmung ist in solchen Fällen sehr erheblich behindert, nur
in sitzender Stellung des Kranken möglich. (Orthopnoe). Am Herzen ist oft
eine Hypertrophie des linken Ventrikels, seltener beider nachzuweisen; der
Puls ist dementsprechend voll und hart.
Der Appetit leidet meistens; mitunter besteht längere Zeit anhaltendes
Erbrechen und Singultus, gelegentlich auch Durchfälle.
Uraemie wird in der .vorher beschriebenen acuten Form in jedem
Stadium der Krankheit gefunden. Häufiger noch erscheint sie als chronische
Uraemie. Diese kann sich über Wochen und Monate hin erstrecken, und
abwechselnd Besserungen und Verschlimmerungen erkennen lassen; der End-
ausgang ist jedoch meistens ein ungünstiger. Ein Hauptsymptom bildet an-
haltender Kopfschmerz, zu welchem sich auch Schwindel hinzugesellt. Dabei
besteht Schläfrigkeit, Abgeschlagenheit, Apathie und Gleichgiltigkeit gegen
die Umgebung, welche mit der früheren Intelligenz auffallend contrastiren.
Sie geht schliesslich in Coma über, welches durch Zuckungen oder auch durch
Convulsionen unterbrochen wird, und aus dem die Kranken nicht wieder-
erweckt werden können. Gleichzeitig besteht starkes Hautjucken, welches die
Kranken unwillkürlich zu heftigem Kratzen veranlasst. Wenn Schweisse auf-
treten, bedeckt sich manchmal die Haut mit weissen, glänzenden Schüppchen,
die aus Harnstoff bestehen.
Das Bild der chronischen Urämie kann erhebliche Abweichungen von
dem geschilderten Typus zeigen. So werden die wesentlichsten Erscheinungen
derselben durch häufiges Erbrechen, durch starke Durchfälle dargestellt. In
anderen Fällen bestellt heftiger Singultus, welcher bis zum Ende anhält,
oder Anfälle von Athemnoth, sogenanntes urämisches Asthma.
Die Netzhaut ist bei chronischem Morbus Brightii oft erkrankt. Um
die Macula lutea finden sich radiär angeordnet weisse Streifen und Flecke,
welche in der Peripherie zu grösseren Plaques zusammenfliessen. Daneben
bestehen kleinere und grössere Blutungen. Die weissen Stellen ändern in
kurzen Zeiträumen ihre Gestalt und Grösse, die durch sie bedingten Seh-
störungen sind bald kaum bemerklich, bald sehr bedeutend. Nach längerem
Bestände tritt Atrophie des Sehnerven ein, und damit hochgradige Amblyopie.
Die lietinitis albuminurica tritt gelegentlich sehr frühzeitig ein, und führt ihre
Feststellung dann erst zur Diagnose des Leidens.'")
Verlauf und Ausgänge: Die Dauer des chronischen Morbus Brightii
schwankt zwischen mehreren Monaten und 4 bis 5 Jahren, durchschnittlich
beträgt sie V2 bis 1 Jahr.
Heilungen sind selten, aber doch mit Sicherheit beobachtet. Sie treten
hauptsächlich in den Phallen auf, wo rechtzeitig die Ursache entfernt werden
kann, so bei Nephritis nach Eiterungen; ferner in den leichten Fällen, welche
ohne Oedeme verlaufen, dann auch besonders bei den Erkrankungen, die sich
den acuten in ihrer Erscheinungsweise mehr nähern, so besonders bei acutem
Beginn und bei hämorrhagischer Beschaffenheit des Harns.
*) Vergl. Die entsiDrechenden Farbendrucktafeln im Bd. „Augenkrankheiten'
NEPHRITIS. 13
Besserungen kommen ebenfalls vor, gelegentlich folgen ihnen Rückfälle,
die in ihren Aeusserungen acuten Nephritiden ähneln. Der Ausgang in secun-
däre Schrumpfniere ist dadurch angezeigt, dass die Oedeme schwinden, der
Harn reichlicher, ja über das Normalmaass vermehrt wird, und der Gehalt an
Eiweiss und Cylindern abnimmt. Der häufigste Ausgang ist der Tod. Er
erfolgt durch Erlahmung der Herzkraft, welche zu einer erheblichen Ver-
mehrung der Oedeme bei gleichzeitiger Abnahme der Harnmenge und Zu-
nahme der Eiweissausscheidung führt, durch Urämie, oder durch secundäre
Erkrankungen, so Pneumonien, Pleuritiden, Eiterungen, Lungenödem.
Die Diagnose ist bei genauer Beachtung der Beschaffenheit des Urins
leicht. Von der acuten Nephritis ist die chronische durch die längere Dauer
unterschieden. Tritt bei der Schrumpfniere Störung der Herzthätigkeit ein, so
kann der Urin eine ähnliche Beschaffenheit erhalten. Die Diöerentialdiagnose
gelingt bei genauer Ermittelung der Anamnese. Verwechselung mit Amyloidniere
ist ebenfalls möglich, wird aber durch den Nachweis eines ätiologischen Momentes,
sowie von amyloider Entartung in anderen Organen (Leber, Milz) vermieden.
Die Prognose ist um so günstiger, je leichter die Ursache zu be-
seitigen ist; sie ist ferner besser bei den leichten Formen und bei scharf ge-
kennzeichnetem Anfang; ungünstig ist sie bei hochgradigen Oedemen, schwerer
Urämie, schweren Veränderungen am Herzen, und bei xluftreten secundärer
Erkrankungen.
Die Therapie muss in erster Linie, wo eine angreifbare Ursache für
das Leiden vorliegt, auf die Entfernung derselben Bedacht nechmen. Dahin
gehören vor Allem die operative Behandlung chronischer Eiterungen, Knochen-
und Gelenkleiden. Leider spielen bei denselben häufig tuberculöse Processe
mit, welche weitere Ausbreitung im Körper gefunden haben, so dass eine
radicale Heilung nur selten gelingt. Bestand Malaria, so reicht man Chinin,
bei Lues Jodkalium und Quecksilber, das letztere jedoch nur vorsichtig, da es
oft bei visceraler Syphilis nicht gut vertragen wird.
Wenn die Grundkrankheit einer directen Behandlung nicht zugänglich,
oder überhaupt eine solche nicht aufzufinden ist, hat die Therapie in erster
Linie die Aufgabe, durch Regelung der hygienischen Verhältnisse günstige
Bedingungen für die Ausheilung des krankhaften Vorganges herbei zu führen.
Dazu gehört Entfernung aus ungesunden Wohnräumen, eventuell längerer
Aufenthalt in einem wärmeren Klima, an der Riviera, in Aegypten. Wenn
acutere Schübe bestehen, muss während der Dauer derselben Bettruhe ein-
gehalten werden und möglichst Milchdiät. Auch nachher werden alle reizenden
Gewürze und Genussmittel vermieden, aber zugleich durch eine kräftige Kost
für Erhaltung und Aufbesserung des Körperzustandes gesorgt.
Gegen Wassersucht erweist eine Steigerung der Diaphorese sich am
wirksamsten. Warme Bäder von 30 und mehr Grad R., V2 bis 1 Stunde lang
genommen mit darauf folgender Einwickelung in wollene Decken, rufen eine
starke Schweissbildung hervor. Besteht aus äusseren Gründen die Unmög-
lichkeit, Bäder zu verabreichen, so leisten mitunter Einpackungen in mit warmem
Wasser angefeuchtete Tücher dasselbe. Auch die transportablen Schwitz-
apparate sind zu empfehlen, z. B. der QuiNCKE'sche, welcher am Bett des
Kranken angebracht wird, und dessen Princip darin besteht, dass die durch
eine Spiritusflamme angewärmte Luft, vermittelst eines gebogenen Rohres
direct unter das Deckbett geleitet wird. In neuerer Zeit sind auch heisse
Sandbäder mehrfach mit Erfolg in Anwendung gezogen.
Von Diureticis sind Thee aus Baccae Juniperi, Kai. acetic. (6'0 — 10*0
pro die), Coffeinum-natrosalicyUcum (O'l — 0'2, 3 mal täglich), Theobrominum
natrosalicijUcum (Diuretin 6*0 pro die) zweckmässig. Vor der Anwendung
von Calomel, welches bei Hydrops im Gefolge von Herzkrankheiten bisweilen
zauberhaft wirkt, kann bei kranken Nieren nicht dringend genug gewarnt
14 NEPHRITIS.
werden. Schon nach kleinen Dosen entstehen ausgedehnte diphtheritische
Stomatitiden, welche durch Behinderung der Nahrungsaufnahme die Kranken
hochgradig schwächen. In einem Falle sah ich daneben infolge Glossids die
Zunge so stark anschwellen, dass sie zwischen den Schneidezähnen hervortrat,
die Athmung in hohem Maasse behinderte, und das Schlucken zur Unmög-
lichkeit machte. Wenngleich es hier gelang der Stomatitis und Glossitis Herr
zu werden, so erfolgte der Exitus letalis doch so unmittelbar nachher, dass
eine Beschleunigung desselben durch die Folgen der Calomeldarreichung mit
Sicherheit angenommen werden musste.
Wo der Hydrops den namhaft gemachten Mitteln nicht weicht, führt
man mit einem Schlauch armirte sog. BocK'sche Canülen in das Unterhaut-
zellgewebe der Unterschenkel, und fixiert sie daselbst für 24 bis 48 Stunden
mittelst Heftpflasterstreifen. In dieser Zeit tropfen mehrere Liter Flüssigkeit
ab. Sorgfältige Antisepsis und exacter Verschluss der Wunde nach Entfernung
der Canülen ist nothwendig. Der Hydrops der Pleuren und des Peritoneums
kann durch Function entfernt werden.
Bei Eintritt urämischer Symptome sind die bei der Therapie der acuten
Nephritis angegebenen Medicamente in Anwendung zu bringen.
Die chronische, interstitielle Nierenentzündung (Nierendrrhose,
Schrunipfniere, Granularatrophie) stellt eine äusserst schleichend sich ent-
wickelnde Krankheit dar. Ihre Aetiologie ist daher sehr schwer festzustellen,
speciell die Richtigkeit der Angaben, dass sie nach gewissen Infectionskrank-
heiten, wie Scharlach u. s. w., oder nach Erkältungen entsteht, kaum zu er-
weisen. Für die meisten Fälle werden wir den Grund nicht auffinden können,
doch kennen wir einige Zustände, in deren Verlauf Schrumpfniere entsteht,
und für welche mit Sicherheit ein ätiologischer Zusammenhang anzunehmen
ist: die chronische Bleivergiftung, den Alkoholismus und die Gicht.
Pathologische Anatomie: Die Nieren sind verkleinert, von röthlicher Farbe,
die Kapsel haftet an vielen Stellen fest, so dass sie ohne Läsion des Parenchyms nicht
abgezogen werden kann, die Oberfläche ist grob granulirt, auf derselben erscheinen ein-
zelne Cysten. Die Rindensubstanz ist auf die Hälfte und noch mehr reducirt, während die
Pyramiden nur eine geringe Abnahme aufweisen. Bei der Gichtniere findet man sogenannte
Harnsäureinfarkte in ihnen. Mikroskopisch wechseln hochgradig veränderte mit normalen
Partien ab. Besonders auffallend ist die Wucherung des interstitiellen Gewebes, welches
die theils atrophirten, verkleinerten, theils compensatorisch dilatirten Harnkanälchen ein-
fasst. Auch die Mehrzahl der Glomeruli ist atrophisch, die Capillarschlingen verödet, durch
concentrische "Wucherung des Kapselendothels zurückgedrängt. In den kleinen Arterien ist
das Endothel ebenfalls gewuchert und das Lumen dadurch verengt.
Symptome: Die Schrumpfniere macht zum Beginn fast gar keine sub-
jectiven Erscheinungen; sie bleibt daher lange Zeit unerkannt und wird erst
bei Eintritt gewisser Complicationen oder zufällig bei intercurrenten Erkran-
kungen, oder erst auf dem Sectionstisch aufgedeckt. In ausgeprägten Fällen
weist der Harn sehr charakteristische Veränderungen auf. Seine Menge ist-
erheblich vermehrt, auf 3000 bis 6000 (sogar auf 12000) cbcm, die Farbe
hellgelb, das specifische Gewicht niedrig, 1,004—1,010, der Eiweissgehalt
gering, von minimalen Trübungen bis zu 0,5 pro mille, im Nachtharn fehlt
es ganz und kann auch in dem während des Tages entleerten gelegentlich
nicht nachzuweisen sein. Das Sediment ist spärlich und besteht aus verein-
zelten hyalinen und granulirten Cylindern.
Fast constant besteht bedeutende Hypertrophie des linken Ventrikels,
der Puls ist demnach gespannt und hart [DraMpids). Die hierdurch bedingte
Druckzunahme in den normal gebliebenen Nierengefässen und Glomerulis
bewirkt die Absonderung des reichlichen, verdünnten, an festen Bestandtheilen
armen Urins.
Im Gefässystem finden sich arteriosklerotische Processe auch bei jugend-
lichen Individuen. Dieselben greifen auch an den Aortenklappen Platz und führen
zu der nicht selten die Nephritis complicirenden Insufficienz dieser Klappen.
NEPHRITIS INFANTUM. 15
Hypertrophie des linken Ventrikels zusammen mit den Veränderungen
der Arterien bringen es mit sich, dass relativ oft Gehirnhämorrhagien bei
Schrunipfuiere eintritt. In ihrer klinischen Erscheinung unterscheidet diese
sich nicht von der gewöhnlichen Gehirnblutung.
Blutungen in anderen Organen kommen ebenfalls zur Beobachtung; be-
kannt sind die sehr abundanten Nasenblutungen bei Brightikern.
Retinitis albuminurica, acute und chronische Urämie treten in der früher
geschilderten Weise auch bei Schrumpfniere auf. Dagegen bildet Wassersucht
hier ein verhältnismässig seltenes Ereignis; sie ist von Störung der Herzthä-
tigkeit abhändig, indem der hypertrophische linke Ventrikel seinen Dienst
versagt, und steigt daher in der Weise wie bei incompensierten Herzfehlern
von unten beginnend allmählig in die Höhe. Der Urin verändert in diesem
Falle seine BeschaÖenheit, wird spärlicher, dunkler, schwerer, enthält mehr
Eiweiss und ähnelt überhaupt dem Stauungsharn.
Verlauf: Die Schrumpfniere ist eine exquisit chronische Krankheit, sie
besteht nicht selten 10 bis 15 Jahre, es ist sogar eine Dauer von 23 Jahren
constatiert. Der schliessliche Ausgang ist immer der Tod. Er erfolgt an
Urämie, infolge Erlahmung des Herzens, durch Gehirnblutung oder an einer
intercurrenten Erkrankung.
Die Diagnose ist bei sorgfältiger und mehrmaliger Untersuchung des
Urins leicht; wenn bei Herzschwäche die charakteristische Beschaffenheit des-
selben verloren geht, kann sie Schwierigkeiten bereiten.
Die Prognose ist in Bezug auf den Endausgang ungünstig zu stellen.
Die voraussichtliche Dauer des Leidens wird nach dem Kräftezustand, dem
Verhalten des Herzens, dem Vorhandensein oder Fehlen anderer P'olgezu-
stände oder Complicationen beurtheilt.
Ueber die Therapie wäre das in den vorhergehenden Abschnitten ge-
sagte zu wiederholen. Es sei daher hier nur nochmals nachdrücklichst darauf
hingewiesen, dass die Hauptaufgabe derselben eine hygienische ist, Regelung
der Kleidung, wobei Wolle den Vorzug verdient, der Wohnung und der Er-
nährung. In letzter Beziehung muss betont werden, dass eine ausschliessliche
Ernährung mit Milch oder Buttermilch, wie sie von manchen Seiten empfohlen
wurde, nicht nur bei einer so lange währenden Krankheit undurchführbar
ist, sondern auch durchaus keine Vorzüge vor Fleisch und Eiern hat, zumal
bei Darreichung dieser Diätformen die vermuthete Vermehrung der Eiweiss-
ausscheidung nicht stattfindet. Die Nahrung darf daher nicht einseitig ge-
regelt sein, sondern muss auf breitester Grundlage derart angelegt sein, dass
sie geeignet ist, dem drohenden Kräfteverfall entgegenzuarbeiten.
Von inneren Mitteln ist ein Versuch mit Jodkalium in kleinen Dosen
gerechtfertigt, da es im Rufe steht, die Eiweissausscheidung herabzusetzen.
Ist Gicht als Ursache der Schrumpfniere anzusehen, so sind die ent-
sprechenden Trink- und Badecuren anzuordnen.
Auch bei der genuinen Schrumpfniere werden Mineralbrunnen mit Vor-
theil in Anwendung gezogen; die eisenhaltigen Wässer sind am meisten zu
empfehlen. hilbert.
Nephritis infantum. [Nierenentzündungen im Kindesalter). Nierenent-
zündungen treten im Kindesalter am häufigsten unter der Form einer acu-
ten, infectiösen Nephritis auf. Als infectiöse Nephritis bezeichnen wir
zunächst alle Nierenentzündungen, welche sich im Anschluss, oder richtiger
gesagt, in directer Folge und Abhängigkeit einer allgemeinen acu-
ten Infectionskrankheit {Scharlach, Diphtherie etc.) entwickelt haben
In dieselbe Kategorie gehört aber auch der grösste Theil der primären,
acut oder schleichend einsetzenden, sogenannten „rheumatischen" Nephri-
tiden, als deren Ursache gemeinhin eine „heftige Erkältung" angenommen
16 NEPHRITIS INFANTUM.
ZU werden pflegt. Man wird gewiss den Wechselbeziehungen, welche zwischen
den äusseren Hautdecken und den Nieren unzweifelhaft bestehen, gerade bei
Kindern (Ueberfirnissen junger Thiere!) eine grössere Bedeutung zuerken-
nen dürfen, als bei Erwachsenen; — man wird auch die Thatsache nicht
wegleugnen wollen, dass eine plötzliche intensive Abkühlung des Körpers bei
enorm gesteigerter Hautthätigkeit eine Erkrankung der Nieren zur Folge
haben könne! — (In diesem Falle würde die Entstehung der Nephritis auf
„chemisch- thermische", resp. vasomotorische, das „Circulationsgleichgewicht"
störende Einflüsse zurückgeführt werden müssen!)
Aber bei jeder „Erkältung," die mit Fieber verläuft, spielen doch gewiss
zunächst specitische, uns allerdings noch nicht genügend bekannte Krankheits-
erreger die Hauptrolle. Dieselben brauchen keineswegs alle bacterieller Natur
zu sein. Bisher ist es allerdings nur für eine kleinere Anzahl der primären
Nephritiden gelungen, die mycotische Natur derselben, in überzeugender
Weise darzuthun. (Letzeeich, v. Jaksch, Mircoli-Tizzoni u. a.)
Sachgemässer wäre es allerdings, die infectiöse Nephritis als toxische
Nephritis zu bezeichnen. Nicht die Krankheitserreger als solche (z. B. die
Löjß-lerschen Diphtheriehadllen) bedingen die Entzündung der Nieren, sondern
die während der Krankheit im Blute sich bildenden und circulirenden Gift-
stoffe {Ptomaine, Toxine etc.). Diese verursachen auch in anderen Geweben
und Organen (z. B. in der Herzmusculatur) mit Vorliebe, wie es scheint, aber
auch in den kindlichen Nieren, als dem Organ, welches bei der Ausscheidung
dieser Krankheitsproducte in starke Mitleidenschaft gezogen wird, nicht nur
functioneile, sondern auch pathologisch-anatomische Störungen und Verände-
rungen von solcher Intensität und Extensität, dass die Nieren er krankung
dann nicht mehr als eine Krankheitscomplication erscheint, sondern
dass sie als ein selbstständiges Leiden in den Vordergrund unseres
Interesses gerückt wird.
Die Bezeichnung der toxischen Nephritis möchte ich aber für alle solche
Fälle von Nierenentzündung gewahrt wissen, welche auf die Einwirkung uns
chemisch bekannter Arznei- oder Giftstoffe zurückgeführt werden müssen,
welche von aussen, sei es von der Haut aus oder per os, in den Organis-
mus hinein gelangten. Hier wären die Theerpräparate, Carbol, Petroleum,
das Cantharidenpflaster, die Jodeinpinselungen, die Balsamica, das chlorsaure
Kali u. s. w. zu nennen.
Die Diagnose der Nephritis stützt sich selbstverständlich auch bei
Kindern in erster Linie auf die Untersuchung des Harnes. Um den-
selben bei Säuglingen zur Untersuchung zu gewinnen, sei die häufigere An-
wendung des Katheters angelegentlich empfohlen. Das wichtigste Symptom ist,
und bleibt das Vorhandensein von Ei weiss (Serumalbumin) im Urin. Die
Menge des Eiweiss unterliegt grossen Schwankungen. Schleierartige, wolkige
Trübungen auf der einen, gallertartiges Erstarren der ganzen Urinprobe auf
der anderen Seite bilden die Extreme. Im grossen und ganzen beträgt aber
die Eiweissmenge nach Bartels selten mehr als VaVoi nieist darunter. Eiweiss
kann bei einer Nephritis wohl vorübergehend längere Zeit fehlen,
dauernd aber nie. So bestehen beispielsweise bei Scharlach und Diphtherie
anatomisch schon recht beträchtliche Störungen und Veränderungen in den
Nieren, ehe es zur Ausscheidung des Eiweiss kommt.
Andererseits sind aber Albuminurie und Nephritis keineswegs gleich-
bedeutend und es wäre voreilig, aus dem Vorhandensein von Eiweiss im Urin
stets auf entzündliche oder destructive Processe in den Nieren schliessen zu
wollen.
Es würde zu weit führen, alle die Möglichkeiten, unter denen auch bei
Kindern, ebenso wie auch bei Erwachsenen Eiweiss im Urin auftreten kann,
hier zu erörtern. Häufig sind es active Hyperämien oder Stauungserschei-
NEPHRITIS INFANTUM. 17
niingen in den Nieren acuter, wie chronischer Art, oder es liegen Erkran-
kungen des Blutes in Folge allgemeiner constitutioneller Erkrankungen u. s. w.
zu Grunde. Nur lässt sich meines Erachtens der Begrift' der „febrilen"
Albuminurie im Kindesalter nicht aufrechterhalten. Es ist nicht zu leugnen,
dass gelegentlich und vorübergehend bei hochfieberhaften Krankheiten ver-
schiedenster Art (z. B. bei der Pneumonie) Eiweiss auftritt und schwindet,
ohne weitere Erscheinungen zu machen. Gelegentlich entwickelt sich aber
auch bei fieberhaften Krankheiten, welche gewöhnlich ohne Betheiligung
der Nieren schnell zur Abheilung zu führen pflegen (z. B. beim Drüsen-
tieber, Heubner!) eine ausgesprochene Nephritis. Es wäre jedenfells inconse-
quent, die „febrile" Albuminurie nicht als den Ausdruck der mildesten Form
einer schnell sich wieder bessernden Nierenentzündung auffassen zu wollen.
Hier sei aber auf die Albuminurie der Neugeborenen und die
cyklische Albuminurie im Kindesalter hingewiesen.
Nach den Untersuchungen von Martin und Rüge findet sich bei Neugeborenen
Albumin während der 3 ersten Lebenstage in durchschnittlich 30— 40"/o- Der Eiweissgehalt
schwankt in Menge und Häufigkeit. An einzelnen Tagen finden sieh nur Spuren, bei
anderen kürzere oder längere Zeit sehr grosse Mengen. Er nimmt bis zum 6. Tage ab
und schwindet vom 8. Tage ab völlig. Der Morgenharn enthält häufiger Eiweiss, als der
Abendharn; die schwereren Kinder scheinen länger an Albuminurie zu leiden, als die leich-
teren. — Die Albuminurie bei Neugeborenen deutet darauf hin, dass auch in normaler
Weise gebildete Stoffwechselproducte (Harnsäure), falls sie in gesteigerter und vermehrter
Menge zur Ausscheidung gelangen, das Auftreten von Eiweiss im Urin veranlassen können.
Die cyklische Albuminurie tritt nach Heubnees Statistik vorzugs-
weise bei jugendlichen Individuen auf. Wir verstehen darunter einen Zustand,
bei dem zwar meist anämische, sonst aber gesunde, wenigstens keine Zeichen
einer Nierenentzündung darbietende Menschen bei Tage nach dem Aufstehen
Eiweiss im Urin zeigen, welcher Nachts bei ruhiger Bettlage wieder schwindet.
Die Diagnose Nephritis kann mit Sicherheit erst dann gestellt werden,
wenn sich in dem eiweisshaltigen Urin auch bestimmte morpho-
logische Elemente nachweisen lassen. Man findet sie im Bodensatz des
im Spitzglase stehen gelassenen Urins; in zweifelhaften Fällen empfiehlt es
sich, den Urin zu centrifugiren.
Von pathologischer Bedeuiung sind a) die Nierenepithelien. Sie sind oft
reichlich vorhanden, selten aber völlig intact. Man sieht sie im gequollenen, zerfallenen
und zerbröckelten Zustande, meist im Stadium der fettigen Degeneration. Der Kern wird
dann völlig unsichtbar und die Zelle erscheint mehr als ein Haufen glänzender Kügelchen,
die auseinander gerissen feinkörnige Detritusmassen bilden. Bisweilen bilden die
Zellen die Form eines Harncylinders (Epithelci/linder.)
b) JRotJie Blutkörperchen finden sich oft auffallend wenig (bei der Nephritis diphthe-
ritica), in vielen Fällen fehlen sie auch ganz ; in anderen wieder enthält der Urin sehr viel
Blut und Blutfarbstoff, so dass sich derselbe durch eine rothbraune, bierähnliche Färbung
(Methaemoglobin) auszeichnet. Chemisch lässt sich das Vorhandensein des Blutes im Urin
durch Prüfung desselben auf seinen Paraglobulingehalt nachweisen. Man setzt der Urin-
probe einen Tropfen Guajactinctur zu und dann einige Tropfen ozonisirten Aethers. Es
entsteht nach dem Schütteln der Masse eine obere, blaugefärbte Aetherschicht. Die Reaction
fehlt nie, wenn ein starker arterieller Blutdruck in den Nieren vorhanden ist; sie geht
meist dem Auftreten von Eiweiss im Urin voraus (Mahomed). Dass das Blut aus den
Nieren und nicht aus den Harnwegen stammt, darf man aber mit Sicherheit annehmen,
wenn sich hie und da „Blutcylinder-' vorfinden, d. h. die Blutkörperchen sich mit Fibrin
oder Exsudationsproducten zu Cylindern vereinigt haben, oder Blutkörperchen den Harn-
cylindern anhaften.
c) Leukocyten wird man selten vermissen ; ihre Menge hält gewöhnlich mit der Heftig-
keit und der Stärke der Entzündung gleichen Schritt, nur kommt es auch hier darauf an,
den Nachweis zu liefern, dass sie den Nieren und nicht der Blase etc. entstammen.
d) Hamcylinder fehlen nie. Sie treten auch schon auf, ehe der Urin Eiweissreaction
zeigt. Sie kommen in verschiedener Menge und verschiedener Art vor. Vorhersehend sind
es hyaline Cylinder (wachsartige Cylinder sind nur ganz ausnahmsweise bei Scharlach
nephritis hie und da einmal gesehen worden !) Doch erscheinen die hyalinen Cylinder nicht
immer als eine durchscheinende, homogene Substanz, sondern sie tragen häufig zahlreiche
feine Körnchen, bisweilen in gleichmässiger Vertheilung an und in sich. Nicht selten haften
den Harncylindern auch rothe Blutkörperehen, Leukocyten, Nierenepithelien an. Letztere
Formelemente können noch intact, körnig oder fettig degenerirt, oder durch Pigment gefärbt
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten, Bd. III. 2
18 NEPHRITIS INFANTUM.
sein. Neben den gut erhaltenen Cylindern finden sich vielfach Trümmer derselben.
Deutlich sondern sich von den Cylindern die sogenannten Cylindroide (Thomas) ab,
jene durchsichtigen, farblosen, fadenförmigen oder bandartigen Gebilde mit unregelmässigen
Contouren und wellenförmig gebogenen Verlauf, oft von beträchtlicher (bis 1 mm) Länge.
/) Mikroorganismen kommen sowohl bei den primären, wie secundären Nephritiden
der Kinder im frisch entleerten Harn vor. Da aber die kindliche Niere bei infectiösen, mit
Fieber verlaufenden Processen eine grosse Reihe theils pathogener, theils nicht pathogener
Mikroorganismen eliminirt und sich keineswegs immer diejenigen Mikroorganismen wieder
finden, welche im Einzelfalle die Krankheitssymptome hervorgerufen haben, so ist es schwer
zu sagen, welche Rolle die Mikroorganismen speciell bei der Entzündung der Niere zu theil
geworden ist. Jedenfalls würde es voreilig sein, aus dem Vorhandensein oder Fehlen be-
stimmter, selbst uns bekannter Mikroorganismen (Tuberkelbacillen, Diphtheriebacillen etc.)
im Harn diagnostische Schlussfolgerungen ziehen zu wollen. Doch iehlt es hier vielfach
noch an sorgsamen und systematisch durchgeführten Untersuchungen. Soviel steht aber
wohl fest, dass die Mikroorganismen aus den Nieren in den Harn nur dann übertreten, wenn
pathologische Veränderungen im Nierengewebe Platz gegriffen haben (Wysioköwitsch).
Die Menge des Urins ist vermindert, zeitweise kommt es sogar zur
völligen Anurie. Das specifische Gewicht des Urins ist erhöht.
Zeigt der Urin neben seinem Eiweissgehalte die soeben erwähnten mikro-
scopisch nachweisbaren, morphologischen Bestandtheile, so sind wir meines
Erachtens voll berechtigt, eine Nephritis zu diagnosticiren, selbst dann, wenn
es zu weiteren Krankheitserscheinungen überhaupt nicht kommt. Ja man darf
direct behaupten, dass diese Fälle im Kindesalter geradezu die grössere
Mehrzahl ausmachen.
Gewöhnlich gehen diese Formen in ein bis zwei, höchstens drei Wochen
in Genesung über, und falls nicht die vorausgegangene acute Infectionskrank-
heit Veranlassung gegeben hätte, den Urin unter steter Controlle zu halten,
würden sie überhaupt nicht erkannt worden sein. Besonders leicht werden
daher die meist ebenfalls gutartig verlaufenden „primären" Nephritiden der
Kinder übersehen, da auch hier gerade die übrigen Krankheitserscheinungen,
Avenn überhaupt, meist nur andeutungsweise vorhanden sind.
Fieber fehlt oft ganz, oder nur Abends steigt die Körpertemperatur,
aber keineswegs ist es charakteristisch. Noch bestehende Fieber werden durch
die Nephritis kaum merklich beeinflusst. In einzelnen Fällen ging die Tem-
peratur mit dem Eintritt der Nierenentzündung sogar zur Norm zurück (Thomas).
Bei den ganz acut einsetzenden Nephritiden mit hohem Eiweiss- und Blut-
gehalt im Urin treten heftigere Fieberaffectionen auf, und bei besonders schweren
Fällen hält sich das Fieber auf seiner Höhe bis zum Tode. Ueber Schmerz-
empfindungen in der Nierengegend wird selten geklagt, häufiger besteht
Druckempfindlichkeit und lästiger Harndrang. Die verdriessliche und reiz-
bare Stimmung der Kinder, Kopfschmerzen, Mangel an Appetit mit Neigung
zum Erbrechen, das leichte Gedunsensein und die auffallende Blässe des Gesichts
und der Schleimhäute deuten noch am häufigsten auf die in der Entwicklung
begriffene oder schon bestehende Erkrankung der Nieren hin. Kommt es zu
ödematösen Anschwellungen, wird die Diagnose leicht sicher gestellt
werden können, doch vermisst man dieselben in vielen Fällen auch gänzlich.
Sie können localisirt bleiben, doch ist ihr localisirtes Auftreten nicht immer
bedeutungslos (Glottisödem.) Häufig beschränken sie sich nur auf die Knöchel-
gegend, das Gesicht (Augenlider) und die Genitalien (Scrotum). Sie schwinden
und kommen, sind also localem Wechsel unterworfen. In anderen Fällen
wachsen sie aber sehr rapid. Das Gesicht, die Kreuzgegend, die Bauchdecken,
Beine und Hände (Arme nur in geringer Weise!) schwellen beträchtlich äü.
Bei Knaben erreichen der Penis und das Scrotum oft das drei- bis vierfache
ihres Volumens. Die Oedeme bleiben constant, wenn der Hydrops anasarca
ein allgemeiner geworden ist. Die Hautdecken sind bleich, gespannt und
lassen tiefe Druckgruben zurück. Anasarca an und für sich ruft in den meisten
Fällen keine ausgesprochenen Symptome hervor. In schweren Fällen kommt
es auch zu serösen Ergüssen in die Lungen {Oedema plumonum), in die grösseren
NEPHRITIS INB'ANTÜM. 19
Köi'perhöhlen {Hydrothorax, Hydropericardium, Ascites), am seltensten zu sub-
mucösen Flüssigkeitsansammlungen in die Larynxschleimliaut {Glottisoedem!)
Die Dauer der Oedeme ist in den verschiedenen Fällen eine ganz ver-
schiedene. Treten Lungenödem, Glottisödem oder Hirnödem auf, so erfolgt
meist schnell ein letaler Ausgang. Hydrothorax und Hydropericardium sind
ebenfalls im hohem Grade bedenklich, aber der Rückbildung fähig und nicht
so rapid tödtlich. Der vorhandene Ascites lässt eine günstigere Prognose zu.
Anasarca dauert mindestens 3 Wochen, oft bedeutend länger.
Das Entstehen der Hydrops ist auf eine ungenügende Wasserabfuhr
aus den erkrankten Nieren zurückzuführen. Mit dem Eintritt und dem
Umsichgreifen der Oedeme hält die Verminderung der Harnmenge meist
gleichen Schritt. Ist die Harnmenge auf ein zu geringes Maass beschränkt,
oder stockt dieselbe ganz, so findet eine Eetention der specifischen Harn-
bestandtheile und eine Aufnahme derselben ins Blut statt. Die Folge
davon sind urämische Erscheinungen. Das Bild der acuten Urämie
ist ein sehr constantes. Epileptiforme Krämpfe von oft furchtbarer Heftigkeit
mit nachfolgendem Coma oder maniacalischer Aufregung! Meist häufen sich
die Krampfanfälle nach kurzen Pausen, ehe Patient aus seinem Coma
erwacht. Bisweilen bleibt es bei einem oder einigen Anfällen und können
sich die Kranken von einer urämischen Attaque völlig erholen. Dem
urämischen Anfall gehen gewöhnlich als warnende Vorboten Hydrops, Dys-
pepsie, heftige Kopfschmerzen, hartnäckiges Erbrechen, clonische Zuckungen
oder tonische Contracturen in einzelnen Muskelgruppen voraus. Oft treten
die Anfälle aber, wie gesagt, unvermuthet und blitzartig ein. Nicht selten
dürften die eclamptischen Anfälle im Säuglingsalter urämischer Natur
sein. Dass zwischen Eclampsie und Nephritis ein Abhängigkeitsverhältnis
bestehen kann, darauf hat Hirschspkung besonders aufmerksam gemacht.
Zu den urämischen Erscheinungen pflegt man auch die plötzlich ein-
tretenden transitorischen Erblindungen zu rechnen. Diese Amau-
rosen stehen mit der Nephritis scarlatinosa im engsten Zusammenhang, ge-
hören derselben aber nicht ausschliesslich an. Sie entwickeln sich sehr
rasch, sind stets doppelzeitig und absolut, wenigstens für einige Zeit. Die
Pupillenreaction ist erhalten, der Augenspiegelbefund negativ. Die Sehstörung
schwindet völlig, kann aber mehrere Tage fortbestehen. Urämische Taubheit
ist nur selten beobachtet.
In einzelnen Fällen blieben nach den urämischen Anfällen Lähmungen
oder psychische Störungen (melancholischer oder maniacalischer Art)
zurück.
Somit ist die Urämie stets ein sehr unliebsames und bedenkliches Vor-
kommnis, wenn sie auch nicht immer zum Tode führt. Doch droht den
Kindern mit schw^erer Nephritis noch eine andere Gefahr. Unter dem Einfluss
der specifischen Giftstoffe der vorausgegangenen infectiösen Krankheiten
unterliegt die Herzmusculatur häufig degenerativen Veränderungen. Mit
dem Eintritt und im Verlaufe schwerer diffusen Nephritiden kommt es in
Folge dessen zur Entwicklung von Erschlaffungs- und Dilatation s-
zuständen der Herz Ventrikel, namentlich des linken Ventrikels
(C. Friedländer.) Percutorisch sind solche Dilatationen der Ventrikel wohl
kaum mit Sicherheit nachzuweisen. Es sei hier daran erinnert, dass schon unter
normalen Verhältnissen die äussere Herzdämpfungsgrenze die linke Mamillar-
linie bei Kindern durchschnittlich 1 cm überragt. Dahingegen sind die un-
motivirten, ohne Fieber, ohne psychische Alterationen u. s. w. auftretenden,
überhasteten, deutlich w^ahrnehmbaren Palpitationen des Herzens und
die damit verbundenen asthmaartigen Athembeschwerden und Beängstigungen
auf solche Erschlaffungs- und Dilatationszustände der Ventrikel zurück-
zuführen. Gleichzeitig steigert sich die bei hy dropischen Kindern bis
20 NEPHRITIS INFANTUM.
dahin verlangsamte Pulsfrequenz. Der Puls wird unregelmässig und zeigt
in den schlimmsten Fällen Galopprhythmus. Diese Zustände geben am
häufigsten bei der Scharlachnephritis, doch auch bei den diphtheritischen
Nierenentzündungen eine directe Todesursache ab.
Ihrer Häufigkeit und Schwere nach steht die Scharlachnephritis oben
an. Als „selbstständiges" Leiden pflegt dieselbe erst nach der Defer-
vescenz und nach der scheinbar völligen Abheilung der ganzen Krankheits-
processe (meist in der ersten Woche) aufzutreten. Trotzdem darf diese
Nierenentzündung streng genommen nicht als eine „Nachkrankheit" des
Scharlachs bezeichnet werden. Die Nieren participiren an der Scharlach-
erkrankung von vornherein, wie aus den histologischen Untersuchungen von
Scharlachnieren aus der ersten Krankheitswoche (Crooke, Babes, Baginskt u. a.)
hervorgeht. Vermehrte Schleimabsonderung in Form wolkiger Trübungen,
Epithelien, Epithelialschläuche und Cylindroide, einzelne rothe Blutkörperchen,
zahlreichere Leukocyten, nebst Spuren von Eiweiss im Urin treten auch
schon im Stadium des Exanthems und des Fiebers auf und werden vielfach
als der Ausdruck eines „Harncanälchencatarrhs'' aufgefasst. Die
Nieren befinden sich zu dieser Zeit in einem Stadium der Hyperämie und
zeigen ausgedehnte Infiltrationen mit Ptundzellen. Wir sind nicht im Stande,
dem weiteren Fortschreiten dieser Nierenreizung Halt zu gebieten, mit anderen
Worten, die Nephritis zu verhüten.
Es steht fest, dass einzelne Scharlachepidemien durch die Häufigkeit
der folgenden Nephritiden besonders ausgezeichnet sind. Im Einzelfalle
geht aber die Nephritis keineswegs mit der Schwere der Allgemeininfection
parallel. Ja, auffallender Weise tritt sie sogar oft nach anscheinend sehr
leichten Scharlacherkrankungen mit kaum deutlich ausgesprochenem Exanthem
auf. Jedenfalls wissen wir nicht, in wie weit die Menge des sich im
Organismus entwickelnden Scharlachgiftes oder die Art und Weise, in der
es ausgeschieden, respective im Körper zurückbehalten wird, von Einfluss ist.
Dass die allgemeinen hygienischen Verhältnisse, unter denen die Scharlach-
kranken sich befinden, für das Zustandekommen nachträglicher Nieren-
entzündung nicht gleichgiltig sind, glaubt Baginsky daraus folgern zu können,
dass bei der Spital Verpflegung und Ueberwachung der Scharlach-
kranken viel seltener schwere Nierenerkrankungen mit üblem Ausgang zur
Entwicklung kommen.
Meist beginnt die Nephritis scarlatinosa schleichend und ohne
charakteristische subjective Beschwerden. Eine Anzahl der Kranken klagt
wohl über Mattigkeit und allgemeines Unbehagen, selten über dumpfen
Schmerz in der Nierengegend, die auf Druck sich mehren. Am charakteri-
stischesten ist noch der häufige und äusserst lästige Drang zum Urinlassen.
Fieber kann ganz fehlen, oder ist massig. Der Appetit ist gering und zeit-
weilig ist auch Neigung zum Brechen vorhanden. In einzelnen Fällen be-
standen 1, 2 Tage lang sehr heftige ;Stirnkopfschmerzen und häufiges Er-
brechen. Anfangs findet man nur Spuren von Eiweiss, Leukocyten und
Nierenepithelien. Doch pflegt die Erkrankung schnell Fortschritte zu machen.
Die Urinmenge vermindert sich. Der Urin zeigt grössere Eiweissmengen,
zahlreiche Lymphkörperchen, auch Blutkörperchen und hyaline Cylinder. Das
specifische Gewicht ist erhöht. Oedeme, wenn sie überhaupt auftreten,
folgen erst später. In anderen Fällen setzt die Nierenaffection ganz acut ein
mit einer mehr oder weniger heftigen Nierenblutung. Der Harn ist von
braunrother, „muddiger" Beschaffenheit, sehr spärlich, von hohem specifischem
Gewicht, überaus grossem Gehalt an rothen Blutkörperchen, freiem Hämo-
globin, Cylinder, Leukocyten, sowie Eiweiss in grosser Menge. Dabei einige
Tage anhaltendes hohes Fieber (bis 40° C. und darüber! Baginsky).
NEPHRITIS INFANTUM. 21
Zwar führt auch die Scharlachnephritis in der grössten Anzahl der
Fälle zur Heilung, doch tritt keine einzige aller übrigen primären, wie
secundären Nephritiden als selbstständiges Leiden so in den Vordergrund,
wie dieses. Sie überdauert den eigentlichen Scharlachprocess und giebt auch
am häutigsten zu den schwersten, selbst den Tod herbeiführenden Compli-
catiouen Veranlassung. Hierzu sind zu rechnen Bronchitis, Pneumonie, Pleuritis
mit sero-tibrinösen oder eitrigen Ergüssen, allgemeinen Hydrops, Urämie,
Degenerationszuständen des Herzmuskels und den damit wohl in engstem
Zusammenhang stehenden Dilatationen der Herzventrikel.
So prägnant übrigens auch die einzelnen Stadien der Scharlachnephritis klinisch
hervortreten und sich abgrenzen können, niemals sind wir im Stande, etwa aus der
Menge des Eiweisses oder der Harncylinder, aus der Hochgradigkeit der Oedeme, dem
Auftreten der Urämie etc., das Vorherrschen i)estimmter anatomischer Veränderungen
der einzelnen Gewebstheile der Niere abzuleiten. Im allgemeinen pflegt die acute paren-
chymatöse Nephritis den häufigeren Obductionsbefund der frischeren Fälle (aus der
zweiten Woche!) zu bilden. Erst später (nach der dritten Woche!) entwickeln sich neben
den degenerativen Processen ausgebildete Ptundzelleninfiltrationen im inter-
stitiellen Gewebe (interstitielle Nephritis), sowie ausgedehntere Zerstörungen und
Verödungen der Glomeruli (enorme Kapselverdickungen etc.). T)och daridie GlomeruUtis,
wie dies Klebs zuerst annahm, keineswegs als die anatomische Ursache der Urämie an-
angesehen werden. In jedem Stadium der Krankheit können bald die parenchymatösen,
bald die Veränderungen der Glomeruli überwiegen, bald endlich die Scharlachniere mehr
den Charakter einer interstitiellen Nephritis darbieten. Die letztere scheint besonders
solchen Scharlachfällen eigen zu sein, welche wir als septische Formen zu bezeichnen
pflegen.
Nächst der Scharlachnephritis begegnen wir am häufigsten Nieren-
entzündungen im Kindesalter in Folge von Diphtherie. Wie frühzeitig und
schwer die Nieren bei der Diphtherie in Mitleidenschaft gezogen sind, ergiebt
sich zur Evidenz aus den histologischen Untersuchungen von Diphtherienieren
(FüRBEiNGER, FiscHL, Letzerich, A. Bremlt, Felsenthal u. a.). Doch darf
man, wie Baginsky mit Recht betont, den Beginn der Nephritis nicht von
dem ersten Auftreten des Eiweisses im Urin abhängig machen. Schon einige
Tage früher deuten die im Harn vorhandenen Formelemente auf die Mit-
betheiligung der Nieren hin. Man findet auffallend wenig rothe Blutkörperchen,
dagegen Leukocyten, Nierenepithelien in gequollenem, zerfallenem und zer-
bröckeltem Zustande, oft als stark lichtbrechende, zu Haufen liegende, fast
amorphe Massen, die bei den schwersten Formen sich in gröbere oder feinere
Körnchen auflösen, Cylinder mit solchen Massen bedeckt, oder grobkörnige
stark lichtbrechende, undurchsichtige Cylinder, hyaline Cylinder mit langen
unregelmässigen Fäden und Strangformen. Namentlich "bei den schweren
septischen Diphtherieformen treten plötzlich und reichlich solche Zerfalls-
producte mit grösseren Mengen von Albumin im Urin auf und dauern bis
zum Tode an. Bei Diphtheriefällen leichteren Grades bleibt die Menge der
morphologischen Elemente im Harn gering, die Albuminurie bleibt massigen
Grades und schliesst mit der Heilung der diphtheritischen Processe ab. Die
Albuminurie beginnt am häufigsten am 4. 5. bis 10. Krankheitstage (unter
224 Fällen ISOmal, Sänne) und dauert selten länger als 1, 2 bis 10 Tage.
Die Eiweissquantität schwankt von einem Tage zum anderen, ja von einer Stunde
zur anderen. Einige Zeit kann der Urin ganz frei von Eiweiss sein, dann
tritt er wieder von neuem auf. Zu ausgesprochenem Hydrops und Urämie
kommt es ungemein selten. Ueberhaupt bewahrt die Nephritis diphtheritica
in der Regel den Charakter einer Krankheitscomplication und unterscheidet
sich auch in dieser Beziehung sehr wesentlich von der Scharlachnephritis.
Kommen auch durchschnittlich gleich viele Diphtheriefälle mit oder ohne
Nephritis zur Heilung, so ist dieselbe doch keineswegs bedeutungslos. Dies
zeigt sich besonders in solchen Fällen, wo die Nephritis nicht mit der Ab-
heilung der diphtheritischen Localerkrankung (z. B. nach Entfernung der
Tracheotomiecanüle und völligem Verschluss der Tracheotomiewunde!) schwindet,
22 NEPHRITIS INFANTUM.
oder wo sie in nocli späteren Stadien mit dem Eintritt der diphtheri-
tischen Lähmungen (Baginskt) mit erneuter Heftigkeit recidivirt. Der-
artige Vorkommnisse sind in hohem Grade bedenklich! Ob es auch ohne die
localen diphtheritischen Schleimhauterkrankungen zu einer primären
diphtheritischen Nierenaffection kommen kann, ist unwahrscheinlich, doch
lässt eine Beobachtung von Levi-Luigi eine derartige Deutung zu. Es er-
krankten 2 Kinder an schwerer Nephritis, deren Bruder vier Tage vorher an
Diphtherie gestorben war. Die an Nephritis Erkrankten zeigten keine
Localaffection diphtherischer Natur.
Auf das Auftreten von Nephritis nach Varicellen hat zuerst Henoch
aufmerksam gemacht. Diese Beobachtung ist von verschiedenen Seiten (Rusch,
ScENTSCHENKO, HöGYES u. a.) bestätigt worden. Die Symptome der Nephritis
können sich bald in kürzerer, bald in längerer Zeit (5 — 21 Tage!) nach dem
Auftreten der Varicellen einstellen, doch wurden sie während des Exanthems,
respective vor der Entwicklung der Bläschen bisher nicht beobachtet. Die
Nephritis nach Varicellen kann sogar sehr ernster Natur sein, so sahen
Henoch, wie Högyes Fälle mit acut tödtlichem Verlauf. Es dürfte sich also
empfehlen, den Urin 8 Tage nach Ausbruch der Varicellen eingehender zu
controlliren.
Gelegentlich wurden leichtere, wie schwerere Nierenentzündungen im
Kindesalter nach Pocken, Masern (Thomas) Parotitis (Ckoner, Mettenheimek),
Abdominaltyphus (Geier) exanthematischen Typhus, nach Darmerkrankungen,
acuter wie chronischer Art (Kjellberg) gesehen und beschrieben und damit
dürften die Möglichkeiten, unter denen sich dieselben bei infectiösen Krank-
heiten im Kindesalter entwickeln können, keineswegs erschöpft sein. Doch
scheint es mir ungemein fraglich, ob die Nierenerkrankung in solchen Fällen
stets auf die Einwirkung der jeweiligen, specifischen Infectionserreger, respective
deren Stoffwechselproducte zurückzuführen sei. Ja selbst bei der Scharlach- und
Diphtherienephritis wird der Einfluss der secundären Mischinfection
schwer zu eliminiren sein. Ich bin der Meinung, dass die infectiöse
Nephritis im Kindesalter vorwiegend septischer Natur istund
sie ihre Entstehung dem indirecten Einfluss der Eiter- und Entzündungs-
erreger (den Streptococcen und Staphylococcen) verdankt. So sind Strepto-
coccen beispielsweise in den Scharlachnieren ein häufiger, bisweilen schon
histologisch, meist aber erst durch bacterielle Züchtung nachweisbarer Befund
(Babes). Als „septische" Nephritiden sind die Nierenentzündungen nach
Erysipelen, nach eiternden Eczemen, Impetigo, Furunkelbildungen aufzufassen.
Ebenso deuten die Nieren- und Urinbefunde von lebend, wie todt von eclamp-
tischen Müttern geborenen Kindern (Martin-Ruge) auf puerperale d. h.
septische Infectionen hin.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Nephritis im Kindesalter in der
grossen Mehrzahl der Fälle schnell (nach 2 — 3 Wochen!) zur Heilung führt.
Doch darf man wohl kaum annehmen, dass die erkrankten Nieren sich nach
dem Schwund der auffallendsten Krankheitssymptome wieder in völligem
Normalzustande befinden. So ist es auch erklärlich, dass Recidive und Nach-
schübe häufiger vorkommen und dass sich eine, oft auf halbe Jahre hinaus fort-
bestehende Reizbarkeit der Nieren geltend macht. Aber ungemein selten
geht die acute Nephritis in die chronische Form über. Die chronischen
Nephritiden sind im Kindesalter überhaupt selten. Sie unterscheiden
sich von dem chronischen Morbus Brightii der Erwachsenen
in keiner Beziehung und sie bedürfen daher auch hier keiner eingehen-
den Besprechung. Nur möge noch kurz auf das Auftreten der Schrumpfniere
im Kindesalter hingewiesen werden, (cf. Alfred Oppenheim, lieber Schrumpf-
niere im Kindesalter J.-D. Halle a/S., 1891), Sie kann sich aus der chronischen
parenchymatösen Nephritis entwickeln und bildet dann das sogenannte 3. Sta-
NEPHRITIS INFANTUM. 23
dium des Morbus Brightii, andererseits tritt sie aber auch von vorneherein
primär, als eine selbstständige Erkrankungsform der Xieren auf. Vordem
5. Lebensjahre aber nur vereinzelt! Doch ist es unmöglich, den Anfangs-
termin der Erkrankung auch nur annähernd mit Sicherheit festzustellen. Die
Zahl der wohlverbürgten, durch die Section bestätigten Fälle primärer
Schrumpfniere im Kindesalter ist keine grosse und mag 30 — 40 nicht
überschreiten. In ihren Endsymptomen wird zwar die secundäre Schrumpfniere
mit der primären im grossen und ganzen übereinstimmen, aber im Beginn
der Erkrankung bestehen doch grosse Differenzen.
Die Diagnose der primären Schrumpfniere stützt sich hauptsächlich auf
die Verhältnisse des Plarns und des Herzens, sowie auf die cere-
bralen, wie dyspeptischen Erscheinungen, gegenüber denen jede The-
rapie machtlos erscheint.
Die Hauptschwierigkeit des frühzeitigen Erkennens der Krankheit beruht
darin, dass dieselbe lange Zeit latent verläuft und erst dann deutliche Symp-
tome zeigt, wenn bereits in der Structur des Nierengewebes grosse Verhee-
rungen angerichtet sind. Bei Kindern wird die Diagnose noch dadurch er-
schwert, dass oft die Symptome von den Harnorganen aus zuvörderst i n d e n
Hintergrund treten, und die prävalirenden Verdauungsstörungen, Kopf-
schmerzen, Bronchitis etc., da sie so häufige idiopathische Krankheitsformen
des Kindesalters darstellen, zunächst gar nicht an eine Nierenerkrankung
denken lassen (Oppenheim).
Polyurie ist in manchen Fällen das erste Symptom. Oft werden
enorme Harnmengeu entleert (2 — 4 Liter pro die!); doch hält die Polyurie
nicht bis zum Tode an, sie tritt längere oder kürzere Zeit zurück, sobald die
Triebkraft des Herzens Einbusse erleidet. Trotzdem behält der Urin sein
abnorm geringes specifisches Gewicht. Albuminurie wird im Anfang des
Leidens oft vermisst, auch späterhin sind nur Spuren von Eiweiss vorhanden
und während des ganzen Verlaufes bleibt die Menge desselben gering, wenn
nicht Herzschwäche, erneute acute Entzündungen in den Nieren, ein voraus-
gegangener urämischer Anfall etwa einen stärkeren Eiweissgehalt bedingten.
Auffallend vermehrtes Druckgefühl, Bettnässen, häufiger Harndrang, Liconti-
nentia urinae sind als Begleitsymptome der bestehenden Polyurie anzusehen.
Seltener treten zuerst Oedeme auf, doch sind diese nie so hochgradig, wie bei der
chronischen parenchymatösen Nephritis. Pathognomisch für das betreffende
Leiden ist die Hypertrophie des Herzens, in specie die Hypertrophie
des linken Ventrikels. Sie fehlte in keinem der Fälle, wo Schrumpfniere
bei Kindern beobachtet wurde. Objectiv ist die Hypertrophie des linken Herzens
durch die Dislocation und Verstärkung des Spitzenstosses, durch die Verbreiterung
der Herzdämpfuug nach links, die abnorme Härte und Spannung des Piadial-
pulses und die verstärkte klappende Accentuirung des 2. Aortentones nach-
zuweisen. Subjectiv macht die Herzhypertrophie, solange das Organ die ver-
mehrten Anstrengungen zu überwinden vermag, abgesehen von antallsweise
auftretenden Kopfschmerzen und Schwindelanfällen, gar keine Symptome.
Treten Compensationsstörungen ein, oder erlahmt die Herzkraft, so treten,
meist unmittelbar ante mortem Oedeme und Transsudate in Thoraxraum etc.
auf, doch fehlen dieselben auch während des ganzen Krankheitsverlaufes.
Setzt aber das Leiden mit den Folgeerscheinungen einer Herz in suf fi-
el enz ein, so ist das Symptombild ein ganz anderes. Die Kinder ermüden
bei den geringsten Bewegungen, sie sind matt und kurzathmig; Beklemmung
und Herzklopfen stellt sich ein. Bronchitis in Folge Stauung in den Lungen
mit consecutiver lobulärer Infiltration ist nicht selten. Es bestehen heftige
Kopfschmerzen, Schwindelerscheinungen, der Schlaf ist unruhig, die Gemüths-
stimmung der Kinder mürrisch und trübe. Die Stauung in den Abdominal-
Organen führt zu chronisch- dyspeptischen Störungen, die in keinem
24 NEPHRITIS INFANTÜN.
Falle fehlen. Der Appetit lässt nach oder wird launisch, der Stuhlgang un-
regelmässig; nicht selten ist Erbrechen; erwähnt wird auch ein widerwärtiger
Geruch aus dem Munde (Häringslakenartig! Föester). Die Folge der Dys-
pepsie ist allmählige Abmagerung, Anämie und Entkräftung; das Aussehen
wird cachectisch, die Haut trocken und nimmt fast in allen Fällen eine eigen-
thümliche schmutziggrau- grüne oder erdfahle Färbung an.
Apoplexie und Hemiplegie als Initialsymptome der Nierenschrumpfung
wurde nur einmal (12-jähriger Knabe! Filatoff, Rachmanikoff) beobachtet.
Unstillbare Blutungen aus der Nase oder den Schleimhäuten (Darmblutungen)
kurz vor dem Tode werden öfter erwähnt. Retinitis albuminurica ist wieder-
holt im Laufe der Krankheit constatirt worden, doch pflegen Sehstörungen
bei Kindern seltener das erste Krankheitssymptom zu bilden, als bei Erwach-
senen.
Die Urämie tritt in diesen Fällen selten acut auf, meist entwickelt sie
sich bei der Nierenschrumpfung chronisch und bricht exacerbirend mit den
schwersten Symptomen erst hervor, wenn die äussersten Grenzen der Nieren-
atrophie erreicht sind und das secernirende Parenchym auf ein Minimum re-
ducirt ist. Das Bild der chronischen Urämie ist ein sehr wechselndes.
Zu den Symptomen derselben sind zu rechnen: Koptschmerzen, beständiges
Erbrechen wässeriger schleimiger Massen (diese enthalten sowohl noch un-
zersetzten Harnstoff, als bereits gebildetes kohlensaures Ammoniak! Steümpell),
profuse Diarrhoen, epileptitorme Convulsionen mit schliesslichem Coma und
Exitus, letalis; doch können die Convulsionen ganz fehlen; die Kinder werden
apathisch, schlummersüchtig, soporös und verfallen endlich in tiefes Coma,
aus dem sie nicht mehr erwachen. Auch hier sind maniakalische Zustände,
urämische Taubheit und Blindheit beobachtet worden.
Die Urämie führt meist zum Tode, zu derselben gesellen sich, Darm-
catarrh, Lungenoedem oder complicatorische Entzündungen innerer Organe,
Pneumonie, Pleuritis, Pericarditis etc. Bisweilen kommt es bei der Schrumpf-
niere zu exacerbirenden, frischen Entzündungen. (Bull, Handford). Dann
treten zu dem Bilde der alten Schrumpfungsprocesse die Erscheinungen der
acuten, parenchymatösen Nephritis hinzu. — Der Urin wird spärlicher, aber
er behält sein niedriges specifisches Gewicht; er enthält mehr Eiweiss, sowie
zahlreichere, körnige und Epithelialcylinder. — Die Prognose der primären
Schrumpfniere im Kindesalter ist absolut ungünstig, die Krankheit ist un-
heilbar; alle bisher bekannten Fälle verliefen letal.
Die secundäre Schrumpfniere lässt einen günstigeren Verlauf zu,
hier kann ein Stillstand und eine zeitweilige Besserung eintreten. Da die se-
cundäre Schrumpfniere sich aus der chronischen Nephritis entwickelt, so fehlt
hier das Stadium der Latenz. Bei Kindern entwickelt sich aber die chronische
Nephritis stets aus der acuten Form und meist werden sich die Ursachen der-
selben, mögen sie infectiöser oder toxischer Natur gewesen sein, aus der
Anamnese des früheren Krankheits Verlaufs etc. ergeben.
Die Aetiologie der primären Schrumpfniere im Kindesalter ist völlig
dunkel, da die ätiologischen Momente, welche bei der Entstehung der Schrumpf-
niere Erwachsener von Bedeutung sind, kaum in Frage kommen. (Alkoho-
lismus, Bleiintoxication, harnsaure Diathese, atheromatöse Gefässerkrankun-
gen). Nur in 2 Fällen wurde eine chronische Endarteriitis mit unzweifel-
hafter Hypertrophie der Media in verschiedenen grösseren Arterien
constatirt.
Geht die chronische Nephritis in Schrumpfung über, so tritt an Stelle der
verminderten Urinmenge mit viel Eiweiss und auffallend reichlichen Form-
elementen, hohem specifischen Gewicht, Polyurie, Abnahme des Albu-
mins, und Schwinden der Formelemente und ein niedriges speci-
fisches Gewicht des Harnes. Gleichzeitig bildet sich allmählig eine
NEPHRITIS INFANTUM. 25
nicht selten auch deutlich physikalisch nachweisbare Herzhypertrophie aus.
Die meist hochgradigen Oedeme und Transsudationen in den serösen Körper-
höhlen aber schwinden.
Im weiteren Verlaut decken sich die Symptome der secundären Schrumpf-
niere völlig mit denen der primären. Doch scheint der Schrumpfungsprocess
und die consecutive Herzhypertrophie bei der secundären Schrumpfniere, zu-
nächst wenigstens, gerade zur Abwehr der drohenden Todesgefahr (Urämie,
Oedeme, Ascites, Hydro thorax!) beizutragen, und somit eine zeitweilige Bes-
serung des schliesslich allerdings doch letal endenden Leidens herbeizuführen.
Die Schrumpfniere spottet jeder Therapie, kein Mittel ist im Stande,
dem fortschreitenden Schrumpfungsprocess Einhalt zu gebieten. Selbst in
symptomatischer Beziehung leisten wir recht wenig. Unsere dahin zielenden
Verordnungen sind zum grössten Theil die gleichen, welche wir bei der acuten
Nephritis zu treffen pflegen.
Aus der Behaiidhmg der acuten Nephritis infantum ergeben sich
daher die therapeutischen Maassnahmen für die Behandlung der chronischen
Nierenerkrankungen im Kinderalter von selbst.
Die Verhütung der acuten Nephritiden liegt nicht immer in unserer
Macht. Trotzdem darf der Nutzen der allgemeinen hygienisch-diäte-
tischen Vorsichtsmaassregeln keineswegs unterschätzt werden. Chemisch-
toxisch wirkende Arzneimittel, von denen es feststeht, dass sie bei
kleinen Kindern leicht Nierenreizungen und -entzündungen hervorrufen,
sollen möglichst vermieden, oder wo dies nicht angeht, nur mit der nöthigen
Vorsicht und Ueb erwachung gebraucht werden.
Zur Verhütung ebenso wie zur Erkenntnis der ersten Anzeichen der para-
sitären infectiösen Nephritiden ist eine stete Con trolle des Urins bei er-
lo-ankten Kindern dringend geboten. Gerade im Anfangsstadium ist die
Nierenentzündung noch am ersten einer erfolgreichen Behandlung zugänglich.
Bei Scharlach und Diphtherie sollte sich diese Controlle auf mindestens 4 Wochen
nach Ablauf der eigentliclien Krankheit forterstrecken. Ausdrücklich sei hier
nochmals auf die häufigere Anwendung des Katheters zur Gewinnung der
nöthigen Urinproben bei kleineren Kindern hingewiesen!
Nach dreierlei Eichtungen hin werden wir sowohl in prophylactischer
Beziehung, wie auch zur Bekämpfung der bereits im Entstehen begriffenen
Nierenerkrankung therapeutisch wirksam eingreifen können.
1. Durch Vermeidung aller Nahrungs- Genuss- und Arzneimittel,
welche irgend wie reizend auf die Nieren einwirken können.
2. Durch Anregung der Hautperspiration.
3. Durch Anregung der Diurese.
1. Naturgemäss empfiehlt sich für Kinder in erster Linie absolute Milch-
diät, namentlich bei Scharlachkranken. Doch ist die ausschliessliche Milch-
diät nicht in allen Fällen durchführbar und vielleicht auch nicht für alle
Fälle gleich nützlich. Im Einzelfalle wird man in die Lage kommen, eine
eiweissreichere Kost mit Vorsicht versuchen zu müssen. Die Gefahr der ei-
weisshaltigen Nahrung bei Nierenkranken liegt, wie Prior gezeigt hat,
namentlich in den extremen Mengen, so sind rohe Hühnereier ganz ent-
schieden zu vermeiden. Eine absolut eiweissarme Nahrung würde aber sogar
schaden.
Eine ausschliessliche Milchdiät halte ich z. B. in der Reconvalescenz
Diphtheriekranker nicht für ausreichend. Fleisch und gekochte Eier in ge-
eigneter Form wird man wenigstens grösseren Kindern unbeschadet selbst
dann verabreichen dürfen, wenn noch Eiweiss im Urin nachweisbar ist. Alle
Gewürze und reizenden Zusätze zu den Speisen sollten indessen vermieden
werden. Wein und Alkoholica sind nur bei drohender Herzschwäche in therapeu-
26 NEPHRITIS INFANTUM.
tischen Dosen zulässig, als Getränk allen nierenkranken Kindern auf das
strengste zu untersagen.
2. Dass zwischen den Nieren und der Haut gewisse Wechselbeziehungen
bestehen, ist experimentell vielfach festgestellt worden. Nach den Unter-
suchungen D. SzoKOLOw's befindet sich die Nierenaffection bei Scharlach im
Causalnexus mit der Verminderung der Hautverdunstung. Es ist
daher rationell, die Hautverdunstung bei Scharlach- und Nieretikraiiken
überhaupt anzuregen und zu steigern. Scharlachkranke sollen in trockener
und warmer Luft gehalten werden. Eine Erhöhung des Feuchtigkeitsgehaltes
und eine Verminderung der Temperatur der Aussenluft erhöht die Vermin-
derung der Hautperspiration und begünstigt die Entstehung der Scharlach-
nephritis. Bettruhe und gleichmässige Bettwärme erheischt jeder Fall von
Nephritis im Kindesalter; Scharlachreconvalescenten sollten vor Ablauf des
Abschuppungsstadiums das Bett nie verlassen. Warme Bäder steigern die
Hautverdunstung beträchtlich, während Fetteinreibungen sie vermindern. Daher
sind warme Bäder (28^30'' E) sowohl bei Scharlachkindern, wie bei
Nephritikern möglichst früh zu verordnen, Fetteinreibungen sind zu ver-
meiden! Heisse Bäder rufen oft Nierenblutungen hervor oder steigern die-
selben wenigstens, nicht selten trat unmittelbar nach dem Schwitzbade ein
urämischer Anfall auf; ich glaube daher, vor heissen Bädern warnen zu
müssen, dahingegen ist eine PEiESSNiTz'sche Einwickelung des ganzen Kindes,
um die Haut nach dem lauwarmen Bade zu anhaltender Schweissecretion an-
zm-egen, gewiss von Nutzen (besonders bei Hydrops!).
3. Von den diuretisch wirkenden Mitteln versprerche man sich nicht zu viel
und sei in der Anwendungsweise derselben vorsichtig. Schon durch den
Genuss grösserer Flüssigkeitsmengen wird die Diurese gesteigert. Alkalische
Wässer (Biliner, Vichy, Wüdunger oder vorher abgekochtes, lauwarmes Wasser mit
etivas Natron hicarhon. darin aufgelöst!) sind als Getränk zu empfehlen. Man
erwartet von ihrem Gebrauch, dass sie „zur Fortschwemmung" der in den
Nieren-Canälchen angesammelten Formelementen beitragen.
In der Mehrzahl der Fälle wird man gut thun, von jeder weiteren Me-
dication völlig Abstand zu nehmen.
Heilung erfolgt meist nach 8 — 14 Tagen, längstens 3 — 4 Wochen. An-
dererseits wird man sich aber immer und immer wieder bei Zunahme des
Hydrops und Verminderung der Harnsecretion veranlasst sehen, zu diu-
retisch wirkenden Mitteln seine Zuflucht zu nehmen. Man kann die Diu-
retica im allgemeinen in zwei Klassen theilen, erstens in directe, als
solche, die durch Heizung der Nieren selbst eine stärkere Function derselben
hervorrufen und zweitens indirecte, welche durch Wirkung auf andere
Organe den Nieren eine grössere Blutmenge zur Verarbeitung zuführen. Zu
den indirecten gehören in erster Linie die cardialen Diuretica (Digitalis,
die Coffeinsahe, Tinct. Strophanti, Diuretin).
Ich kann den cardialen Diureticis bei der renalen Nephritis der Kinder
ni cht das Wort reden ; die herzlähmende Wirkung der Digitalis, des Strophantus
etc. tritt jedenfalls bei Kindern sicherer, leichter und unvermittelter ein, als
bei Erwachsenen. Die meiste Empfehlung verdient bei diesen Zuständen wohl
noch das Diuretin. {Diuretini-Knoll 0"5 — 1, Äqu. dest. 90,o Aqu. menth.
pip. ad 100. Mds. 2-stündlich 1 Kinderlöffel?) Die direct auf die Nieren
wirkenden Diuretica (Liqu. Kali acetic, Squilla, Bacci juniperi etc.) dürften
aber bei der doch vorwiegend acut auftretenden Nephritis der Kinder als zu
intensiv reizend wohl wenig am Platze sein. Unschuldiger, aber auch
zweifelhaft in ihrer Wirkung sind das Aqu. Petroselini und die Fol. uvae ursi
(Decoct. 5:120 Jcinderlöffelweise). In einigen Fällen von hochgradigem Öy-
drops in Folge von Scharlachnephritis sah ich guten Erfolg von Blatta orien-
talis {0'6 3mal tägl. Decoct. 5:100 3mal tägl. 1 Kinderlöffel l), in anderen
aber nicht.
NEPHROLITHIASIS. 27
In verzweifelten F ä 1 1 e n dürfte gerade bei den acuten Formen eine
Calomelcur (0'05— 0*1 Morgens wie Abends zu nehmen!) statthaft sein. Die
diuretische Wirkung der Quecksilberpräparate wie des Calomel auch bei renalem
Hydrops steht unzweifelhaft fest, und sind die häufigeren Stuhlentleerungen
nach so grossen Calomeldosen eher nützlich, wie nachtheilig.
Gegenüber der Uraemie sind wir ziemlich machtlos, doch möge hier
nochiüals daran erinnert werden, dass der Ausgang der Nephritis im Kindes-
alter trotz ausgesprochener urämischer Anfälle häufig noch ein günstiger
ist. Das Pilocarjnn hat früher viele Lobredner gefunden, ist aber neuerdings
(durch Henoch) wieder in Misscredit gekommen. Die deprimirende Wirkung
des Mittels, die event. eintretenden CoUapse sind nicht unbedenklich. Stimu-
lantien (Campheröl oder Äetherinjectionen!) sind entschieden mehr am Platze !
Der acute urämische Krampfanfall wird am besten durch Chloroforminhala-
tionen coupirt. POTT.
NephrolithiasiS. Nierensteine stellen Concrementbildungen'") von
sehr verschiedener Grösse, Härte und Zusammensetzung dar. Ganz kleine,
von Sandkorn- bis zu Hirsekorngrösse bezeichnet man als Nierensand,
Nierengries ; sie werden gewöhnlich in grösseren Mengen entleert; grössere
werden Nierensteine genannt. Die letzteren sind von Bohnen- bis Hasel-
nussgrösse, ihr Gewicht beträgt durchschnittlich 2 — lO^r, nur ausnahmsweise
werden grössere gefunden von 100 und noch mehr Gramm, welche das ganze
Nierenbecken ausfüllen und Ausläufer in die Nierenkelche hineinsenden. Die
Gestalt derartiger grosser Concremente gewinnt dadurch Aehnlichkeit mit der
einer Koralle. Nierensteine werden vereinzelt, sowie auch in grösserer An-
zahl in einem Nierenbecken gefunden.
Die Consistenz der Steine hängt in hohem Grade von dem Material ab,
aus welchem sie aufgebaut sind. Am häufigsten bestehen sie aus Harnsäure
und ihren Salzen. Die Uratsteine sind hart und haben eine glatte Ober-
fläche ; ihre Farbe schwankt nach dem Reichthum an Pigment von hellgelb
bis zu röthlichgelb und selbst bräunlich. Die Bruchfläche der kleineren zeigt
einen krystallinischen, die der grösseren einen amorphen Bau; auf Schliffen
erkennt man eine eoncentrische Schichtung. Sie kommen in allen Dimen-
sionen, von den kleinsten bis zu den allergrössten Exemplaren vor. Chemisch
sind sie charakterisirt durch leichte Auflösbarkeit in kohlensauren Kalium
und durch positiven Ausfall der Murexidprobe.
Die aus oxalsaurem Kalk bestehenden Steine sind viel seltener, Sie
zeichnen sich durch ausserordentliche Härte, unebene, stachelige, warzige
(maulbeerförmige) Oberfläche und braungraue Farbe aus; auf dem Durchschnitt
bieten sie radiäre, sternförmige Streif ung. Sie sind in Mineralsäuren löslich.
Häufig beobachtet man Combinationen von Urat- und Oxalatsteinen, indem
der Kern aus Oxalsäuren Kalk gebildet wird und der Mantel aus Harnsäure oder
umgekehrt, und schichtweise beide Substanzen mit einander abwechseln.
Phosphatsteine bestehen aus phosphorsaurem Kalk und phosphor-
saurer Ammoniakmagnesia. Sie sind ziemlich weich, weiss oder gelblich gefärbt,
in Mineralsäuren löslich; der Bruch amorph. Sie kommen theils als selbständige
Bildungen, theils als Mantel anderer, zumal von Harnsäuresteinen vor.
Sehr selten sind Steine von kohlensaurem Kalk, welche mit Mineral-
säuren behandelt unter Aufbrausen sich lösen, und von Cystin, die durch
mattgelbliche bis bräunliche Färbung, wachsartigen Glanz und hohen Schwefel-
gehalt gekennzeichnet sind.
Ausnahmsweise sind aus Xanthin und aus Indigo bestehende Con-
cretionen gefunden worden.
*) Vergl. den Abschnitt ,,Harnconcremente" im Artikel „Concremente'^ äs. Bds. „Me-
dicinische Chemie", pag. 328.
28 NEPHROLITHIASIS.
Als Ursache der Steinbildung sah man früher eine abnorme Anhäufung
der betreffenden Stoffe im Organismus, also das Bestehen einer harnsauren,
Oxalsäuren Diathese an. Dass diese nicht ausschlaggebend ist, beweist die
verhältnismässig seltene Complication von Gicht und Nierensteinen, sowie der
Umstand, dass die geographische Ausbreitung beider nicht zusammenfällt.
Immerhin mag für manche Fälle die Annahme zutreffend sein, dass die im
Urin reichlich in Lösung erhaltenen Stoffe schon im Körper ausfallen und zur
Bildung von Concrementen Veranlassung geben.
Von grösserer Bedeutung sind jedenfalls Veränderungen des Aciditäts-
grades des Urins, wodurch die Löslichkeitsverhältnisse der Harnbestandtheile
sehr wesentlich beeinflusst werden. Bei stark saurer Reaktion scheidet sich
leicht Harnsäure, bei alkalischer Phosphate ab.
Aber auch hierdurch wird mehr das Wachsthum bereits bestehender
Steine, als die Ursache ihrer Bildung erklärt. Sie beruht für viele Fälle in
Fremdkörpern, wie Schleim, Eiter, Geschwulstfetzen, Blutgerinnseln, Eiern von
Parasiten {Distoma haematobium), welche im Innern der Concremente gefun-
den werden.
Wichtig ist für die in vielen Punkten noch dunkle Frage der Entstehung
der Harnsteine der von Ebstein erbrachte Beweis, dass in denselben ein orga-
nisches Gerüst besteht, zwischen dessen Maschen die Ablagerung der Salze
erfolgt ist.
Vorkommen und Symptome: Das Leiden tritt in allen Lebensaltern
auf, besonders häufig im ersten Decennium und im mittleren Alter; bei Männern
ungefähr dreimal so oft als bei Frauen. Gewöhnlich ist nur eine Niere er-
krankt, doppelseitige Steinbildung ist viel seltener. Die Symptome sind
äusserst wechselnd. Mitunter sind gar keine Erscheinungen vorhanden, welche
darauf hinweisen ; die Krankheit wird zufällig bei der Section aufgedeckt.
Wenn Gries und kleine Steine gebildet sind, können sie ohne Beschwerden
mit dem Urin entleert werden. Grössere passiren den Harnleiter nicht ohne
Hindernisse; sie bleiben stecken und verursachen einen Symptomencomplex,
welchen man als Nierensteincolik bezeichnet. Im Anschluss an brüske
Bewegungen, Erschütterungen, oder ohne jede Veranlassung, im Schlaf, in der
Kühe tritt sie ein. Bezeichnend hierfür ein äusserst heftiger Schmerz in
einer Seite, in der Gegend des Ureters, welcher hauptsächlich nach der
lüguinalgegend zu ausstrahlt, aber auch nach dem Kreuz, dem Magen, der
Brust sich verbreiten kann. Die Kranken sind in hohem Grade mitgenommen,
collabirt, der Puls klein, die Haut mit klebrigem Schweiss bedeckt, der Hoden
der betreffenden Seite durch reflectorischen Krampf des Cremasters in die Höhe
gezogen. Dabei besteht Ohnraachtsgefühl, Erbrechen, Temperatursteigerung
und heftiger Urindrang, wobei nur wenige Tropfen entleert werden. In
einigen Stunden bis Tagen endet der Anfall, indem der Stein entweder in die
Blase hinabgetrieben wird, oder in das Nierenbecken zurücktritt. Kolikanfälle
wiederholen sich im Laufe der Jahre mehrmals. Nicht immer ist der Ausgang
ein günstiger. Der Stein kann stecken bleiben und zu einer andauernden
Erweiterung des Nierenbeckens, zur Bildung einer Hydronephrose führen ; oder
es entsteht durch den Druck eine Ulceration der Schleimhaut des Harnleiters,
welche auf die Muskelschicht weitergreift und Perforation erzeugt. Je nach
dem Orte, wohin dieselbe stattfindet, erfolgt rasch tödliche Peritonitis oder
Eiterung in der Umgebung der Niere (perinephritischer Abscess). Auch im
Anfall selbst kann der Tod eintreten, besonders bei Kindern unter heftigen
eclamptischen Krämpfen. Bei öfterer Wiederholung werden die Koliken in
Folge allmählicher Dilatation des Ureters gelinder, falls nicht grössere Steine
zum Durchtritt gelangen. Grosse Concremente vermögen ihren Platz im
Nierenbecken nicht zu verlassen und rufen daher keine Anfälle hervor.
NERVENLÄHMUNG. 29
Als Folgeziisümde werden nicht selten Gescliwürsbildungen im Nieren-
becken, sowie eitrige Entzündungen desselben und der Niere selbst beobachtet
(Pyelonephritis), welche durch Anwesenheit von Blut, Eiter, Epithelien etc. im
Harn sich kundgeben ; das Leben der Kranken wird dadurch in hohem Grade
gefährdet.
Die Diagnose ist leicht, wenn der Abgang von Nierengries oder von
Steinen constatirt ist. Von grosser Bedeutung für dieselbe ist auch das Be-
stehen von Koliken. Doch ist zu bemerken, dass diese auch durch das Pas-
siren von Blutcoagulis, Geschwulsttheilen und Echinococcusblasen hervorge-
rufen werden. Gelegentlich gelingt es, die Steine im Nierenbecken zu fühlen
und bei Druck ein Keiben derselben an einander zu erzeugen. Haematurie
kommt auch bei Neubildungen vor, auf Steine ist sie nur dann zu beziehen,
wenn sie in langen Zeiträumen recidivirt, ohne dass der Kräftezustand der
Patienten in erheblichem Maasse gelitten hat.
Falls bei consecutiver Pyelitis die operative Behandlung in Frage steht,
ist es wichtig festzustellen, ob eine oder beide Nieren erkrankt sind. Für
Einseitigkeit der Affection spricht ausser auf einer Seite localisirtem Schmerz
und fühlbarer Vergrösserung die Thatsache, dass während der Kolikanfälle
normaler Urin abgesondert wird, in der freien Zeit eitriger.
Die Versuche, einen Ureter zu katheterisiren oder temporär zu ver-
schliessen, um das Secret der Nieren getrennt zur Untersuchung zu erhalten,
haben bisher nicht zur Entdeckung allgemein brauchbarer Methoden geführt.
Prognose: Heilungen erfolgen bei kleinen Steinen durch Abgang, bei
grösseren durch Abkapselung, wobei die Niere atrophisch wird, schrumpft
und die andere ihre Funktion übernimmt ; sie sind relativ selten. Ernst wird
die Vorhersage, wenn Pyelonephritis oder Perforation in die Nachbarschaft
entsteht. Sie hängt dann wesentlich von der Möglichkeit und den Aussichten
eines chirurgischen Eingriffs ab.
Therapie: Harnsaure Diathese ist durch entsprechende Diät, besonders
Vermeidung zu reichlicher, stickstoffhaltiger Nahrung zu bekämpfen, daneben
durch Muskelthätigkeft, Soolbäder u. s. w. der Stoffumsatz anzuregen. Bei
oxalsaurer Diathese sind die die Ausscheidung von Oxalsäure vermehrenden
Gemüse, wie Spinat, Sauerampfer, Rhabarber, sowie Cacao zu meiden.
Bei sicher constatirter Steinbildung versucht man einerseits, die Heraus-
beförderung zu erleichtern, andererseits eine Lösung anzubahnen. Das erstere
erreicht man durch reichliche Flüssigkeitszufuhr, das letztere bei den Urat-
steinen durch Darreichung von Alkalien. Beiden Indicationen genügen die
alkalischen Mineralwässer, unter denen Vichy, Wildungen, Ems, sowie die
Lithionhaltigen von Salzschlirf, Assmannshausen, Obersalzbrunn eines beson-
deren Rufes sich erfreuen. Bei Störungen der Verdauung sind Karlsbad,
Marienbad, Tarasp von Nutzen. Es ist jedoch darauf zu achten, dass nicht
durch zu starke Alkalescenz des Urins ein Niederschlag von Phosphaten und
dadurch eine Vergrösserung der vorhandenen Concremente entsteht. Der
innere Gebrauch von Piperacin l'O bis 3'0 pro die ist wegen der Harnsäure-
lösenden Eigenschaft dieses Körpers ebenfalls zu empfehlen.
Die Lösung von Phosphatsteinen muss durch Verabreichung koUensäure-
reicher Wässer angebahnt werden.
Bleibt die interne Behandlung ohne Erfolg und treten die erwähnten
schweren Folgezustände ein, so ist die Entfernung der Steine durch Nephro-
tomie, oder des erkrankten Organs (Nephrectomie) , eventuell die Eröffnung der
entstandenen Abscesse in Aussicht zu nehmen. hilbert.
Nervenlähmung. Nervenlähmungen im allgemeinen nur im Sinne der
Lähmungen motorischer Nerven, Lähmungen peripheren Ursprungs,
„periphere Ij^ihmung^n, Paralysen, wenn unvollständig: Paresen. Läh-
30 NERVENLÄHMUNG.
mung eines Gliedes: Wlonoplegie, symmetrische Lähmung zweier Extremitäten:
Diplegie.
Der Verlauf motorischer peripherer Nerven reicht von ihrem Austritt
aus dem Gehirn, beziehungsweise Rückenmark bis zu den Nerven-
endplatten. Die Beschädigung, Verletzung, Durchtrennung der Nervensubstanz
auf dieser Strecke verursacht die Schwächung, Störung, Aufhebung der Funktion
der dazu gehörigen Muskelgruppe. Diesen Zustand nennen wir Nerven-
lähmung, periphere Lähmung oder einfach Lähmung.
Von den peripheren Lähmungen diagnostisch und therapeutisch streng
zu scheiden sind die centralen Lähmungen, die durch Gehirn- und
Rückenmarkskrankheiten verursacht werden.
Periphere Lähmungen müssen vonFall zu Fall betrachtet
werden. Eine streng individualisirende diagnostische Auffas-
sung ist nothwendig. Die pathologisch-anatomische Grundlage
ist in jedem Falle verschieden und durchläuft alle Grade und
Varietäten von der einfachen, functionellen Störung bis zur
schwersten, parenchymatösen Entzündung. Das ätiologische
Moment gibt dem Krankheitsbild die charakteristische Form
und Farbe und ist auch prognostisch und therapeutisch von der
grössten Wichtigkeit.
Am zweckmässigsten ist es, die Lähmungen ätiologisch in gewisse
grosse Gruppen zu ordnen, um einen Ueberblick über das ganze Gebiet zu
gewinnen.
1. In erster Reihe, sowohl der Häufigkeit des Vorkommens wie der
therapeutischen Bedeutung wegen sind die traumatischen Lähmungen
im weitesten Sinne des Wortes zu nennen.
Dazu gehören: a) die Drucklähmungen, durch enganliegende Dauer-
verbände, durch längeres Liegen oder Sitzen, wobei ein Nerv durch eine
Stuhl-, Tisch-, Wagen-, Bettkante gedrückt wird (z. B. die gewöhnlichste
Form der Radialis- und die Peroneuslähmung), durch Hieb und Stoss mit
stumpfen Gegenständen oder Wafien, durch Knochen, Callus, Varicositäten,
Aneurysmen, Geschwülste, Muskelkrämpfe, luxirte Knochenenden (z. B. nach
Schulter-Luxation) ; geburtshilfliche Lähmungen (Finger- und Zangendruck).
Die rudimentäre Form dieser Drucklähmungen ist das sogenannte ,,Ein-
sdilafen"- einer Extremität, welche am häufigsten durch Druck des Plexus
brachialis und ischiadicus ganz plötzlich bei Leuten auftritt, die die gewöhn-
lichen Nerven durch unzweckmässiges Liegen oder Sitzen einem längeren
Druck ausgesetzt haben. Gewöhnlich rasch vorübergehend kann jedoch die
Lähmung auch Tage und Wochen lang anhalten {^^ScJilaf Lähmung^"), und die-
selbe wiederholt einwirkende Schädlichkeit (Gewohnheit unzweckmässiger Arm-
Lage im Bett) kann auch zu einer chronischen, schleichenden Nerven-Degene-
ration und Muskel-Atrophie führen, wie ich es in einem Falle gesehen habe.
Der Druck, welcher nur eine vorübergehende Lähmung veranlasst, hat
wohl auch nur eine molekulare Störung in dem Gefüge der Nervenelemente
zu Stande gebracht, welche sich bald wieder ausgleicht. Verlängert und ver-
stärkt sich der ausgeübte Druck, so kann es kommen, dass kein Ausgleich
mehr erfolgt, und dass der Nerv einer mehr oder weniger schleunigen Dege-
neration anheimfällt, welche ebenso wie die Neuritis, die Nerven-Entzündung,
von Muskelatrophieen, Veränderungen der electrischen Erregbarkeit u. s. w.
gefolgt sein kann.
Prognose und therapeutischer Erfolg hängen in erster Linie ab von der
Schwere der durch das Trauma ausgeübten Verletzung, in zweiter von der
Reactionsfähigkeit (vulgo Gesundheitszustand) des betreffenden Nerven, bezie-
hungsweise des Gesammt-Organismus.
NERVENLÄHMUNG.. 31
h) Lähmung durch Verwundung des Nerven, directe Ver-
letzung (durch Stich, Stoss mit scharfen, schneidenden Instrumenten, Säbeln
und Schlägern) — partielle oder vollkommene Durchschneidung
des Nerven (Continuitätstrennung). Nehmen wir den schlimmsten P'all an:
vollkommene Durchtrennung des Nerven, Unmöglichkeit, die Schnittenden mit
einander zu vereinigen. Dann erfolgt secundäre Degeneration (primär
ist die Verletzung) des peripheren Nervenabschnittes, ein Vorgang, Avie er in
allen Lehrbüchern der Neurologie beschrieben worden ist, am zutreffendsten,
wie ich finde, z. B. bei Ranyier und Gowers, von denen die Degeneration
nicht als ein passives Umkommen der Nervenfaser, sondern als ein activer
Reactionsprozess angesehen wird. Ob die Degeneration rein als solche ver-
läuft, oder ob sich ihr entzündliche Kernwucherungen und Zellenanhäufungen
zugesellen, das hängt durchaus von dem primären Trauma ab in seiner Eigen-
schaft, Entzündung zu erregen oder nicht.
Durchschnittene Nervenenden können, auch wenn bereits Degeneration
eingetreten ist, zusammenwachsen und sich wieder regeneriren. Der Anstoss
dazu geht von dem centralen Ende aus.
2. Ischämische Lähmungen, durch Abschluss der Blutzufuhr her-
vorgerufen, z. B. bei zu festen Verbänden (v. Volkmann). Eine Unterbindung
der Bauchaorta bei Thieren führt zur Lähmung beider Hinter-Extremitäten.
(STENON'scher Versuch), Obliteration (Arteriosclerose) oder Com-
pression grösserer Gefässtämme (durch Geschwülste, gespannte
Muskeln) macht gleichfalls Lähmungen; die „daudication intermittente^^
(Charcot) soll darauf zurückzuführen sein.
3. Toxische Lähmungen, a) durch Aufnahme giftiger ^toEe: Alkohol ^
Blei, Schwefelkohlenstoff, Kohlenoxyd, Arsenik, Antipip'in^ Mercur u. s. w.
Alle diese Lähmungsformen haben das gemeinsame, dass sie auf einer
Neuritis beruhen. Und diese Neuritis hat die Eigenthümlichkeit, vorzugs-
weise in zwei Formen zu erscheinen, nämlich entweder auf eine Extremi-
tät localisirt (Blei, Schwefelkohlenstoff} oder symmetrisch, (vorzugsweise
Alkohol, aber auch Arsenik). Der ersteren Form liegt meistens eine Peri-
neuritis (Entzündung der Nervenscheide) zu Grunde, der letzteren eine
parenchymatöse Neuritis.
Es ist eine Eigenthümlichkeit z. B. der Bleilähmung (auch der Schwefel-
kohlen stofl-L.), dass sie nicht selten auf einen Arm beschränkt bleibt und gewisse
Muskelgruppen mit Vorliebe befällt, während sie andere auslässt. Es ist aus
diesem Verhalten der Schluss gezogen worden, dass eine periphere Neuritis
einen solchen Eclecticismus kaum erklärlich mache, wohl aber eine centrale
fleckenweise Läsion. Thatsächlich sind auch centrale Veränderungen bei der
Bleilähmung gefunden worden. Indessen muss auch an eine Verwandschaft
dieser Stofie zu ganz bestimmten Organen und damit an eine eigenartige
Auswahl derselben gedacht werden, ein Gedanke, der uns durch das selective
Verhalten gewisser Arzneistoffe, z. B. des Morphiums zu den nervösen Cen-
tralorganen, der Digitalis zum Herzen, des Ferrums und Plumblums zu den
Gefässen, der China und des Sublimats zu gewissen Theilen des Darmkanals
u. s. w. nahe gelegt wird. Gründe für das weshalb? — sind wir nicht im
Stande anzugeben (v. die „Einleitung^' zum I. Bande der „Internen Mediän^).
In den Fällen von Bleilähmung (v. Artikel „Bleilähmung^^ , Bd. I, pag.
165) mag wohl die einseitige Ueberanstr engung des rechten Armes die Prä-
disposition für die Erkrankung gerade dieses Körpertheiles schaffen; und auch
bezüglich der fast immer verschonten Supinatoren mögen ähnliche Gründe
vorliegen.
Die alkoholische Lähmung erscheint am häufigsten unter dem sehr
charakteristischen Bilde der multiplen Neuritis — vorausgesetzt, dass
der Alkohol nicht blos die Bolle des disponirenden Momentes spielt für die
besonders starke Einwirkung äusserer oder innerer Schädlichkeiten (Schlaf-
32 NERVENLÄHMÜNG.
Arsenik-Lähmung). Es ist bekannt, dass diese Krankheit erst nach jahre-
langem Abusus Spiritus und besonders bei Schnaps-Trinkern und Trinkerin-
nen aufzutreten pflegt. Daher ist es anzunehmen, dass durch die chronische
Alkoholvergiftung allmälig den flüssigen Körperbestandtheilen, insbesondere
dem Blut eine eigenartige Beschaffenheit mitgetheilt wird; es entsteht eine
Toxikämie, für welche es charakteristisch ist, dass sie durch eine bisher un-
aufgeklärte Verwandtschaft zum Nervensystem ihre toxischen Stoffe auf die
peripheren Nerven verpflanzt — und merkwürdigerweise gerade bei
Frauen, während bei Männern sich die chronische Alkoholintoxikation mehr
in H i r n Symptomen, (Delirien etc.) abspielt. (Gowees u. a).
Zu erwähnen ist noch, dass die Reihenfolge der befallenen Nerven
sehr constant ist; Peroneus und Radialis scheinen für das alkoholische Virus
am empfänglichsten zu sein.
Der neuritische Process spielt sich möglichst nahe der Peripherie ab;
je schwerer der Fall, desto näher rückt die Entzündung an das Rückenmark.
Diese Thatsache scheint ein Beweis dafür zu sein, dass die Resistenz-
fähigkeit der Nerven gegen Krankheitsstoffe nahe den Centralorganen am
grössten ist und mit der Annäherung an die Muskeln abnimmt.
4. Toxik am ische Lähmungen, a) durch Erkältungen h) durch Gicht
und Rheumatismus, c) durch acute und chronische Infections- und contagiöse
Krankheiten, d) Typhus, Variola^ Diphtherie, Cholera, Dysenterie, Influenza,
Malaria, Kakke, Lepra u. s. w.
Die Lähmungen dieser Gruppe haben das gemeinsame, dass sie einer
Intoxication des Organismus ihre Entstehung verdanken. Stoffe der regressi-
ven Metamorphose, welche nicht ausgeschieden worden sind, und nach mehr
oder weniger langem Verharren im Körper beginnen, toxisch zu wirken, geben
dazu in erster Linie Veranlassung. Dies ist der Fall bei den sogenannten
Erkältungen, bei welchen, wie es scheint, Circulationsstörung, Aenderung des
Stoffwechsels und Bildung von Toxinen der Reihe nach aufeinander folgen.
Ein ähnlicher Vorgang mag sich bei der Entstehung der Gicht, des Rheu-
matismus und des Diabetes abspielen. Bemerkenswerth ist es, dass die Lo-
calisation der Toxine nicht allgemein giltigen Gesetzen folgt, sondern sich
durchaus nach ganz individuellen Dispositionen richtet. Zu den mit Vorliebe
von jenen giftigen Stoffwechselproducten heimgesuchten Organen gehören auch
die peripheren Nerven.
Die dadurch hervorgerufenen pathologisch-anatomischen Veränderungen
variiren sehr stark; alle Stadien, von dem absolut negativen Befund, welchen
wir dem klinischen Bilde der „function eilen Lähmung" parallel stellen, bis
zur schweren parenchymatösen Entzündung können vorkommen.
Die sogenannten Infectionskrankheiten scheinen nach dem heutigen
Stande der Wissenschaft nicht direct durch die Mikroorganismen, sondern
erst durch ihre giftigen Stoffwechselproducte (Toxine) zu Stande zu kommen,
so dass die Infectionen ebenfalls als Intoxicationen aufzufassen wären.
Auch hierbei ist wiederum die Verwandtschaft der Toxine zu bestimmten
Organtheilen, Muskelgruppen und Nerven evident. Nirgends treten diese in-
dividuellen Beziehungen mehr hervor, wie bei dem diphtherischen Virus, w^elches,
wenn es überhaupt zu irgend einer Lähmung führt, dann mit Sicherheit zu-
erst das Gaumensegel trifft; erst in zweiter Linie werden Motilitätsstörungen
am Auge, in dritter Lähmungen der Extremitäten erzeugt.
4. Reflexlähmungen — bei Reizungeines Nerven durch eingeheilte
Geschosse, Glasstücke etc. scheinbar durch Verletzung motorischer Fasern,
thatsächlich aber durch Reizung sensibler Nerven zu Stande kommend, welche
sich auf dem Wege des Reflexes in Lähmung umsetzt. Streng genommen
gehört also diese Lähmungsform nicht hierher.
NERVENLÄHMÜNG. 33
Die Symptome der peripheren Lcähmung sind mannigfacli. Je
nachdem die Function der zu dem gelähmten Nerven gehörigen Muskelgruppe
ganz oder nur theilweise aufgehoben ist, sprechen wir von einer Paralyse
beziehungsweise Parese. Wenn an einer Extremität nur ein Nervenstamm
gelähmt ist, während die anderen intact sind, so neigen die letzteren zu
Contracturen (sogenannte: „antagonistische Contracturen"), wodurch nicht
selten hochgradige Deformitäten entstehen. Zuweilen sieht man Zuckungen
und krampfartige Erscheinungen in dem afficirten Gebiet.
Hat die Lähmung eine Zeit lang gedauert (s. d. nähere bei: „Neuritis'^),
so nehmen die gelähmten Muskeln an Volum ab, sie „atrophiren".
Knochen und Gelenkenden nehmen an der Atrophie Theil. Gleichzeitig ver-
ändert sich in ziemlich gesetzmässiger Weise ihre elektrische Erregbarkeit,
(vgl. d. Artikel „Elektrodiagnostik", Bd. l pag. 497).
Sind gemischte Nerven von der Lähmung getroffen, so leidet natürlich
auch die Sensibilität der Haut, jedoch meistens nicht in dem gleichen Maasse
wie man es nach dem Grade der motorischen Lähmung erwarten sollte.
Auch bei der Heilung geht die Wiederherstellung der motorischen und sen-
siblen Functionen durchaus nicht parallel.
Veränderungen der Haut findet man fast regelmässig bei Lähmungen,
besonders bei allen jenen Formen, welche ihren Ursprung einer Neuritis
verdanken. Dann ist die Haut trocken, dünn, rissig, spröde, glatt und
glänzend (glossy skin), der Haarwuchs ist vermehrt, meistens auch die
Schweisssecretion; die Circulation hat immer erhebliche Störungen erlitten,
so dass subjectiv und objectiv Kältegefühl vorhanden ist, welches besonders
bei niederen Aussentemperaturen, beim Waschen mit kaltem Wasser u. s. w.
sehr leicht eintritt und selbst durch intensive Ofenwärme nur schwer zu be-
seitigen ist.
Die pathologische Anatomie der Lähmungen umfasst das grosse
Gebiet der Nerven-Degenerationen (secundäre Degenerationen) und der
Nervenentzündungen (Neuritis, Polyneuritis u. s. w.), welche in den be-
treffenden Capiteln zur Abhandlung kommen. Nur soviel soll hier gesagt
sein, dass die Zellen der Vorderhörn er des Rückenmarkes als diejenigen
Organe angesehen werden müssen, von welchen die Functionsfähigkeit
der Nerven abhängt. Ihre Axencylinder sind die Verlängerung der Fortsätze
der Zellen; werden jene getrennt, so ist das abgetrennte periphere Stück
nothwendig dem Untergang geweiht. Ob sich die Degeneration auch central-
wärts erstreckt {^^aufsteigende secundäre Degeneration^^), das hängt von den
besonderen Verhältnissen des Falles und der Verletzung ab. Degeneration
und Entzündung können unter Umständen mit einander combinirt vorkommen.
Therapie der Lähmungen. Es ist selbstverständlich, dass die
Therapie streng individuaiisirend nach den Eigenheiten des besonderen
Falles verfahren muss.
Vor allem hüte man sich, dass die ärztliche Kunst dem Kranken
ein Schaden wird. So habe ich es bei vielen Fällen gesehen durch zu feste
und zu lange liegende Verbände nach Luxationen und Fracturen, durch über-
triebene Massage oder zu starke elektrische Ströme. Leider herrscht noch
immer unter den Aerzten die Unsitte, die physikalische Therapie einschliesslich
der Anwendung der Elektricität rohen Laienhänden zu überlassen. Das sollte
endlich aufhören und die Einsicht Platz greifen, dass die wissenschaftliche
und künstlerische Bildung des Arztes gerade gut genug ist, um die seelen-
volle Maschine des menschlichen Organismus in Gang zu halten.
Die gewöhnlichen Fälle der Drucklähmungen, gleichgiltig, ob hier
schon eine Neuritis eingesetzt hat oder nicht, werden am besten mit dem
galvanischen Strom behandelt, und zwar am erfolgreichsten so, wie ich es in
meinen „Elektrotherapeuthischen Studien" (Leipzig, Fernau, 1891) und in der
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkranklieiten, III, Bd. o
34 NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE.
VI. Auflage meiner Elektrotherapie angegeben habe: mit einer Dosis, die
zwischen 0*5 und 0*2 M. A. schwankt. Es ist schon lange erkannt worden,
dass Ströme, die so stark sind, dass sie dem Kranken Schmerzen bereiten
oder Muskelzuckungen hervorbringen, eher schaden wie nützen. Deshalb
pflegt man im allgemeinen bereits davon abzurathen; ich selber habe niemals
bessere Erfolge gehabt wie durch die Behandlung mit minimalen Strömen
von 0*2 M. A., stabil oder labil, höchstens zwei Minuten lang angewandt;
Sitzungen 2 bis 3mal wöchentlich, nicht öfter.
Auch die Massage kann unzweifelhaft günstig wirken. Meiner Erfahrung
nach wird sie immer zu intensiv und zu oft ausgeübt. Der Kranke darf
absolut keine Schmerzen dabei empfinden, 2 bis 3 Minuten genügen an-
fänglich für eine Sitzung, 14 Tage bis 3 Wochen nach der Verletzung oder
noch länger lässt man ihn am besten in Ruhe.
Auch mit Wasserproceduren, Begiessungen, Umschlägen lässt sich unter
Umständen von einem geübten Hydrotherapeuten gutes erreichen. Jedoch
ne nimis! — möge man beherzigen!
Mit Arzneimitteln braucht man sich in solchen Fällen nicht aufzuhalten,
wenn man nicht sehr gewandt damit umzugehen weiss, und man denke daran,
dass es in erster Linie darauf ankommt, das Trauma in seiner Wirkung
möglichst zu beschränken, in zweiter, die gestörte Circulation recht bald
wieder normal zu gestalten.
Auch alte, chronische Lähmungen, gleichgiltig welcher Aetiologie, kann
man in gleicher Weise behandeln; besonders der galvanische Strom leistet
oft wunderbares; Faradisation und Franklinisation passen seltener, wenngleich
einzelne Sitzungen, besonders mit der letzteren, in die galvanische Behandlung
eingeschaltet, sehr zweckmässig zu sein scheinen. speeling.
Neubildungen innerer Organe, im Nachfolgenden seien pathologisch-
anatomisch alle jene Neubildungen der Brust- und Bauchorgane besprochen,
welche der Internist zu beobachten Gelegenheit hat. Insoferne diese Neo-
plasmen selbständige klinische Erscheinungen bieten, sind sie rück-
sichtlich ihrer Symptomatologie, Diagnose und Therapie in besonderen Special-
artikeln besprochen.
A. Neubildungen der Brusthöhle.
1. Pleura.
Primäre Neubildurigen sind auf der Pleura selten. Bei chronischen Entzün-
dungen finden sich bisweilen, besonders auf der Pleura diaphragmatica fädige oder
kolbige, meist in Büscheln und Gruppen zusammenstehende bindegewebige Excres-
cenzen {papilläre Fibrome); andererseits werden manchmal in schwieligen Verdickun-
gen der Pleura platte Knochenneubildungen gefunden (flache Osteome). Bei Fett-
leibigen entwickeln sich nicht selten aus dem subpleuralen Fettgewebe längs der
Eippen kughge, kolbige oder lappige Lipome von Erbsen- bis Haselnussgrösse bis-
weilen in ganzen Reihen. Auch an den Rändern der Lungenbasis beobachtet man
manchmal einen Saum zartester verästigter Fettgewebsläppcheu {Lipoma arborescens).
Gewöhnlich haben alle diese Geschwülste nur pathologisch-anatomisches Interesse, da
sie keine nennenswerthe Grösse erreichen und klinisch nicht wahrnehmbar werden.
Die primären Sarcome, gleichfalls selten, erreichen bisweilen eine namhafte Grösse.
In der Regel bei jüngeren Individuen vorkommend entwickeln sie sich als kugel-
förmige, scharfbegrenzte Geschwülste manchmal bis zu der Grösse, dass sie den
ganzen Pleuraraum einnehmen, die Lungen comprimiren und das Mediastinum und
Zwerchfell verdrängen.
Das Endotheliom oder Endothelialcarcinom ist, wenn auch selten, doch häufiger
als das Sarkom. Es bildet meist eine flächenhafte, oft schwartige Verdickung der
Pleura mit glatter oder flachhöckeriger, manchmal knotiger Oberfläche. Auf dem
Durchschnitte weiss, zeigt es entweder eine mehr dichte, faserige Textur oder es
NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE. 35
ist weicher und saftreicher, krebsähnlicher. Sind die Aftermassen sehr ausgebreitet
und ziemlich dick, so können sich die Flächen der Pleuren aneinander legen und mit
einander verwachsen. Dadurch crliält die Thoi'axwand und das Zwerchfell einen
hohen Grad von Starrheit, und die Lunge ist in der Aftermasse eingebettet und von
ihr manchmal auch längs der Bindegewebssepta infiltrirt. An den freien Flächen der
Pleura kommt es meist zu entzündlichen Vorgängen mit Bildung von fibrösem, fibrinös-
serösem, auch hämorrhagischem Exsudate.
Ungleich häufiger als die primären finden sich secundäre Geschwülste
auf der Pleura und zwar Sarcome und Carcinome, meistens im Vereine mit den
gleichen Geschwulstbildungen in der Lunge. Die Sarcome erscheinen als rundliche,
miliare bis wallnussgrosse, auch grössere, scharf begrenzte Tumoren von verschiedener
Consisteuz, oft in grosser Zahl, wie die Melanosarcome.
Das Carcinom mrd auf die Pleura entweder metastatisch oder durch Ueber-
greifen aus der Nachbarschaft (ex continuo) verpflanzt. Der Krebs der Oesophagus,
der Mamma, des Magens geben am häufigsten Veranlassung zu der letzteren Art
des Wachsthums von Secundärkrebs. In diesem Falle sind es die Lymphbahnen,
längs welcher das Carcinom sich entwickelt. Entweder sieht man in unmittelbarer
Nachbarschaft der Primärgeschwulst dichtgedrängt und confluirend kleinere weisse
Knötchen, die nach der Peripherie hin an Zahl abnehmen und immer spärlicher werden,
oder sie erscheinen von vornherein in grösseren Abständen auf der Pleura zerstreut
und von verschiedener Grösse. Es kommt aber auch vor, dass sich, wie bei
Mammacarcinomen, welche die Thoraxwand infiltriren, an den Berührungsflächen
der Costal- und Pulmonalpleura, offenbar durch Implantation, Carcinomknoten ent-
wickeln. Eine besondere Art des Wachsthums secundärer Carcinome ist die inner-
halb der Lymphgefässe, so dass diese als knotige oder gleichmässig dicke, manchmal
geschlängelte weissliche Stränge auf der Pleura hervortreten. Auf der Lungen-
oberfläche erscheint dann in ausgezeichneten Fällen das ganze Lymphgefässnetz wie
mit einer weissen Masse injicirt. Auf dem Durchschnitte tritt die weisse Aftermasse
in kleinsten, weichen oder auch mehr festen, weissen Pfröpfchen hervor, die sich
mikroskopisch lediglich als Haufen epithelialer Zellen erweisen.
In gleicher "Weise wie bei dem Auftreten primärer Geschwülste kann es auch
bei secundärer Geschwulstbildung auf der Pleura zu Entzündungserscheinungen ver-
schiedenen Grades und grösserer oder geringerer Ausbreitung kommen.
Es kann bei einer Injektion oder Verdichtung der Pleura in nächster Umge-
bung der Geschwülste bleiben. Es kann zu Verwachsung der Pleurablätter in ver-
schiedenem Maasse, oder zu leichter Fibrinausscheidung, aber auch zu massenhafter
Exsudatbilduug mit hämorrhagischem Charakter kommen.
2. Bronchien.
Im Anschluss an chronisch-entzündliche Processe der Luftwege finden sich
manchmal mehr oder weniger umschriebene Schleimhauthypertrophien, die flachhö-
ckerig, bisweilen auch fast polypös werden können. Fibrome und Lipome gehen mit-
unter vom submucösen Gewebe aus, sind meist sehr klein, können aber doch zur
Obturation eines Bronchus Veranlassung geben. An der Schleimhaut der grossen
Bronchien finden sich im Verein mit den gleichen Veränderungen in der Luftröhre
bisweilen multiple, flache Osteoiue. Knotige Knorpelbildungen werden als Ecchondrosen
an den Bronchialringen beobachtet. H. Chiaei beschreibt ein reines Adenom der
Schleimdrüsen der Bronchialschleimhaut, ferner eine Mischgeschwulst (Chondrom,
Lipom, Adenom).
Sarcome sind in den Bronchien sehr selten.
Auch das primäre Carcinom ist in den Bronchien selten. In den grossen
Bronchien erscheint es als eine weissliche, weisslichrothe bis dunkelrothe Verdickung
der an ihrer Oberfläche höckrigen, feinpapillären, sammtartigen oder längsfurchigen
Schleimhaut mit Verengerung des Bronchiallumens. Von der Schleimhaut greift das
markige Infiltrat in die tieferen Schichten der Bronchialwand, so dass die letztere
3*
36 NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE.
allmälig in der markigen Aftermasse ganz aufgellt. Während sich das Carcinom in
der Schleimhaut der nächsten ßronchialäste weiterschiebt, infiltrirt es gleichzeitig
das angrenzende Lungengewebe. Späterhin kann das Carcinom von der Bronchial-
oberfläche her exulceriren. Man findet dann in der Nähe der Lungenwurzel, häu-
figer im Unterlappen als im Oberlappen, eine grössere, fast reinweisse, markige
Geschwulstmasse, welche an den Eandpartien längs der Bronchien die Nachbarschaft
infiltrirt und im Innern, entsprechend den grossen Bronchien angeordnet, Hohlräume
mit meist blutig jauchigem Inhalt einschliesst. Diese medullären Carcinome ent-
halten manchmal vorwiegend Cylinderzellen und dürften vom Epithel der Schleim-
drüsen ausgehen. H. Chiabi beschreibt auch ein papilläres Carcinom der Bronchien
mit zahlreichen Metastasen. Die Carcinome der kleinen Bronchien lassen sich von
Lungencarcinomen gewöhnlich nicht unterscheiden.
3. Lungen.
Primäre Geschwülste kommen in den Lungen nicht häufig vor, es können aber
die mannigfachsten Geschwülste in der Lunge beobachtet werden. Fibrome bis zu
HaseLnussgrösse, Lipome bis erbsengross und subpleural sind selten. Auch Enchon-
drome sind sehr selten; die von den Bronchialknorpeln ausgehenden Eccliondrosen
treten manchmal multipel auf und können bis über kirschkerngross werden. Osteome
können durch Verknöcherung aus Ecchondrosen der Bronchialknorpel oder aus pri-
mären Enchondromen hervorgehen. Ihre Form ist dann in der Regel eine kugelige
oder knollige. Es tritt aber auch Knochenneubildung auf in Schwielen der Lunge
in Form platter oder spangenförmiger, knorriger Gebilde. Aber auch ohne entzünd-
liche Processe sind in stark pigmentirten, atelektatischen Lungen alter Leute, meist
im linken Unterlappen, Yerknöcherungen des interlobulären Gewebes zu einem
starren, drahtnetzähnlichen Gerüste beobachtet worden (Luschka, Rokitansky). Diese
Knochenneubildungen dürfen nicht verwechselt werden mit den sogenannten Lungen-
steinen, Concrementen, welche durch Kalkinfiltration verkäster Lungenpartien oder
eingedickten Bronchialinhaltes entstehen. In der zackigen, knorrigen Form den er-
wähnten Knochenneubildungen ähnlich, unterscheiden sie sich von ihnen schon makro-
skopisch leicht durch die kreidige Bruchfläche.
Sarcome sind in den Lungen ausserordentlich selten. Eine besondere Stellung
nehmen die von E. "Wagnee und Hesse genauer untersuchten, eigenthümlichen Ge-
schwülste ein, welche bei den Bergleuten der Kobaltgruben in Schneeberg in Sachsen
endemisch vorkommen. Es entstehen hiebei zunächst Knoten in der Lunge, welche
langsam eine ansehnliche Grösse erreichen und auch auf die Pleura übergreifen. Es
schliessen sich auch secundäre Knoten in Lymphdrüsen, Leber und Milz an. E. Wagner
hält diese Geschwülste für Lymphosarcome. Sie dürften infectiösen Ursprungs sein.
Das von Weichselbaum beobachtete subpleurale Adenosarcoma papilläre, ebenso wie
das von Heschl beschriebene Cylindrom der Lunge sind grosse Seltenheiten.
Der primäre Krebs der Lunge, eine seltene Lungenerkrankung, geht entweder
von den kleinsten Bronchien aus und greift auf das Lungenparenchym über oder er
entwickelt sich vom Alveolarepithel aus. Wie schon beim Bronchialkrebs erwähnt
wurde, ist eine Unterscheidung manchmal nicht möglich. Mit Sicherheit lässt sich
dagegen der Ausgangsort angeben, wenn im Krebse Cylinderzellen nachweisbar sind,
die den Bronchialkrebsen eigenthümlich sind. Der Lungenkrebs entwickelt sich in
Form rundlicher, scharfbegrenzter, multipler, meist markig weicher Knoten oder er
tritt als gleichmässiges Infiltrat einer grösseren Lungenpartie auf. Der betreffende
Lungenantheil ist gross, dicht und luftleer wie bei pneumonischer Hepatisation. Die
Schnittfläche erscheint grauweiss bis weiss, durch Lungenpigment schwarzgrau und
schwarz gesprenkelt. Ueberall lässt sich milchiger bis rahmiger Saft abstreifen.
Einzelne Partieen sind fettgelb, zerfliessend weich oder von Blutungen verschiedener
Ausdehnung durchsetzt. Sehr häufig kommt es zu ausgebreiteterem Zerfall mit
Bildung von grösseren Hohlräumen. Der Inhalt dieser ist meist blutig-jauchig, oft
mit erweichenden Gewebstrümmern untermengt. Durch Arrosion grösserer Gefässe
kann es zu heftigen Blutungen kommen.
NEUBILDUNGEN INNERER ORGAXE. 37
Dermoidcysten ^ind in den Lungen bisher sehr selten beobachtet worden.
Secundäre Geschwülste kommen in den Lungen ziemlich häufig vor und
zwar sowohl durch directes Uebergreifen, wie von der Mamma, vom Magen und
Oesophagus, als auch metastatisch. Die Metastasenbildung wird begünstigt durch den
Umstand, dass der Strom des gesammten venösen Blutes durch die Lungen hindurch
fiiesst, Gesch^\ailsttheilchen von der Peripherie also sehr leicht in die Lungen gelan-
gen können. Wir beobachten daher, ähnlich wie bei Infarcteu, die ersten Metastasen
zunächst subpleural an der Lungenoberfiäche, andererseits sehen wir in den Lungen
Metastasen von Geschwülsten entstehen, welche nicht leicht anderwärts Metastasen
machen, z. B. von Enchondromen, Osteochondromen, Myxomen und Lipomyxomen.
Am häufigsten sehen wir wohl Metastasen des Sarcoms und des Carcinoms.
Das Sarcom bildet immer kugelige Knoten, die bisweilen recht gross und recht zahl-
reich werden ; besonders ist es das Melanosarcom, welches, wie anderwärts auch in
den Lungen oft ganz enorm zahlreiche Metastasen verschiedenster Grösse, von grau-
weisser Farbe durch die verschiedensten Farbentöne bis in das tiefste Schwarz bildet.
Das Carcinom bildet wohl auch, wenn es metastatisch in den Lungen auftritt, mei-
stens Knoten; diese sind bald dichter und hart, bald markig weich, bohnengross bis
hühnereigross, manchmal auch faustgross, entweder mehr oberflächlich liegend oder
gleichmässig in den Lungen vertheilt. Die oberflächlich liegenden ragen zumeist
zur Hälfte über das Niveau der Pleura empor, sind dann abgeplattet oder genabelt,
bisweilen auch pilzhutförmig; die Pleura in ihrer Umgebung stark vascularisirt, die
Gefässe weit und geschlängelt. Ausnahmsweise sehen wir das Carcinom wie die
Miliartuberculose in ungemein zahlreichen miliaren Knötchen gleichmässig vertheilt
in beiden Lungen gleichzeitig auftreten. Wenn das Carcinom von einem Organe
unmittelbar auf die Lungen übergeht, dann wächst es bisweilen innerhalb der Lymph-
gefässe weiter und füllt dieselben innerhalb der Lungen vollständig aus. Die Lymph-
gefässe erscheinen dann auf der Schnittfläche als ein weit- oder kleinmaschiges Netz-
werk bis stricknadeldicker, weisser, geschlängelter, knotiger Stränge, auf deren Durch-
schnitt ein weisses Pfröpfchen oder ein dicker weisser Tropfen hervortritt. An den
Strängen sitzen stellenweise, in der Regel kleine, Krebsknoten. Diese Art der Yer-
breitung des Krebses bleibt nicht immer auf einzelne Lungenbezirke beschränkt,
sondern kann sich auf beide Lungen erstrecken.
4. Herzbeutel und Herz.
Auf dem Pericardium kommen primäre Geschwulstbildungen ausserordentlich
selten vor. Hier wird abgesehen von den fädigen, kolbigen oder lappigen, meist in
Büscheln zusammenstehenden, mehrere Millimeter langen Excrescenzen, wie sie sich
ziemlich häufig an der Vorderfläche des linken Ventrikels an der Herzspitze, sel-
tener anderwärts, finden. Sie bestehen aus Bindegewebe, schliessen auch manchmal
Fett ein; sie sind zweifellos gleichen Ursprungs wie die bekannten Sehnenflecken des
Pericards. Ein Theil entsteht, wie ich mich überzeugt habe, durch Zerreissung
fädiger Verbindungen der Pericardblätter. Auch die Hyperplasie des subpericar-
dialen Fettgewebes, das Fettherz, soll hier nicht weiter erörtert werden.
Embolisch oder ex contiguo kommen LympJiadenome, Sarcome und Carcinome
auf dem Herzbeutel vor. Bezüglich des Uebergreifens mancher Geschwülste aus der
Nachbarschaft auf das Pericardium wäre zu bemerken, dass bisweilen dadurch der
Herzbeutel in grösserer Ausdehnung zu einer festen unbeweglichen Masse umgewan-
delt und in Folge dessen das Herz in seiner Beengung wesentlich beeinträchtigt
werden kann. Dies kann man z. B. beobachten bei Mediastinalsarcomen, bei Schild-
drüsen- oder Oesophaguscarcinomen.
Bei Entwicklung von Sarcomen und Carcinomen, besonders, wenn sie in grösse-
rer Masse gegen den Herzbeutel hereinwachsen, gesellen sich bisweilen auch exsu-
dative Processe auf dem Pericardium hinzu.
Im Herzfleisch sind secundäre Geschwulstbildungen {Carcinome und
Sarcome, besonders Melanosarcome) häufiger als primäre. Die secundären Geschwülste
38 NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE.
erscheinen als Knoten von Miliar- bis Erbsengrösse, selten"' grösser, sitzen im Herz-
muskel, subpericardial oder unter dem Endocardium und ragen bisweilen knotig oder
polypös in die Herzhöhlen hinein. Es können aber auch Geschwülste aus der Um-
gebung in den Herzmuskel hineinwachsen.
Yon primären Geschwülsten wurden Fibrome, Myxome^ Lipome, Myome,
cavernöse Anglome beobachtet. Diese fanden sich vielfach bei jugendlichen Indivi-
duen, manche auch angeboren, an den verschiedensten Abschnitten des, Herzens oder
an den Papillarmuskeln und sassen theils im Herzfleisch, theils fanden sie sich sub-
endocardial, ihrem grösseren Antheil nach in die Herzhöhlen prolabirend. Häufig
schlagen sich auch grössere Gerinnsel auf ihnen nieder, wodurch die Geschwulst an
Umfang gewmnt. Auch sogenannte globulöse Vegetationen können sich manchmal
organisiren und als Tumoren imponiren (Czapek). Die meisten dieser Geschwülste
sind zufällige Befunde an der Leiche.
5. Oesophagus.
Bei Potatoren und alten Individuen findet man im Oesophagus hirsekoru- bis
fast halblinsengrosse, flache, rundliche oder länglich rundliche Höckerchen, welche
grauweiss bis reinweiss, manchmal fast von mattem, perlenartigen Glänze, eine sehr
feinkörnige Oberfläche besitzen. Mikroskopisch bestehen sie aus meist einfachen
Papillen, welche eine mehrschichtige Decke von Plattenepithel tragen. Die knotigen
Fibrome ebenso die tuberös auftretenden, manchmal auch mit Stielen polypös auf-
sitzenden Lipome und Myome werden selten gefunden und sind fast nie von klini-
scher Bedeutung. Weigert sah ein polypöses Adenom. Ich hatte Gelegenheit eine
gleiche Geschwulst zu sehen, welche multipel im ganzen Oesophagus in Form hirse-
korn- bis kleinbohnengrosser Geschwülste verbreitet war. Sarcome sind sehr selten.
Dagegen ist das Carcinom die häufigste Geschwulst, welche im Oesophagus
klinisch und auch anatomisch zur Beobachtung kommt.
Das primäre Carcinom entwickelt sich in der Kegel im höheren Lebensalter
und weitaus häufiger bei männlichen Individuen. Die Lieblingsstelle, wo sich der
Krebs zu entwickeln pflegt, ist nach meinen Erfahrungen die Gegend der Bifur-
cation der Trachea, in zweiter Linie die Cardia und weniger häufig andere Bezirke
der Speiseröhre.
In dieser Beziehung weichen die Angaben der Autoren von einander ab. Während
die englischen Autoren (Harrison, Allen, Mackenzie, Haberson), das obere Drittel des
Oesophagus und nach diesem das mittlere als häufigsten Sitz bezeichnen, finden deutsche
Autoren (Zenker, Petri, Orth) das Carcinom in erster Linie im unteren, dann zunächst
im mittleren Drittel.
Das Oesophaguscarcinom geht in der Mehrzahl der Fälle vom Deckepithel aus,
ist also ein Plattenepithelkrebs. Hin und wieder kommen auch Drüsenkrebse mit
meist medullärem Charakter vor. Das Carcinom umfasst in der Regel die Speise-
röhre halbringförmig bis ringförmig in der Ausdehnung von 2 — 5 cm, auch darüber.
Die äussere Form hängt vom histologischen Bau und von den regressiven Yer-
änderungen ab. Zellreiche weiche Krebse können sich zu umfänglichen, höckerigen
an den Rändern überhängenden Massen entwickeln, welche die Speiseröhre erfüllen
und durch ihr Volumen undurchgängig machen. Diese Carcinome erscheinen auf
dem Durchschnitte röthlichweiss, geben sehr viel Krebsmilch auf der Schnittfläche,
infiltriren und substituiren in der Regel nur die Schleimhaut des Oesophagus.
Als Gegensatz seien jene Carcinome angeführt, welche als Geschwüre mit kaum
prominenten weichen, röthlichen Rändern und mit weicher, ziemlich glatter, schmutzig-
röthlicher oder missfärbiger Basis auftreten, welche man aber doch makroskopisch
an dem saftigen, trüben Infiltrat im Grunde und Rande als Carcinome erkennen kann.
Diese Carcinome bilden den Uebergang zu jener Form, welche durch makro-
skopische Merkmale kaum mehr als Carcinome erkennbar sind, da sie als Substanz-
verluste erscheinen, deren Ränder durch dünne, manchmal unterminirte Schleimhaut
gebildet werden, während die Basis aus feinzottigem oder glattem, meist schmutzig
.«ichwärzlichgrünen Gewebe besteht. Die letzteren zwei Arten sind fast immer weiche
NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE. 39
Drüsenkrebse und erzeugen keine Verengerung der Speiseröhre, Icönnen sogar ganz
latent bleiben.
Anders verhalten sich die eigentlichen Plattenepithelkrebse, die ja die bei
weitem häutigsten sind.
Wir hndeu Geschwülste, welche 4 — 10 mm und mehr prominiren, eine war-
zige, höckerige oder zerklüftete Oberfläche darbieten und ziemlich feste, manchmal
überhängende Ränder besitzen. Sie breiten sich oft nur an einem Theil des Um-
fanges der Oesophaguswand 3 — 6 an entlang derselben aus. In anderen Fällen
bleibt von der Oesophaguswand nur ein wenige Millimeter schmaler Streifen erhalten.
xVuf dem Durchschnitte finden wir eine Aftermasse mit rein weisser, massig feuchter,
feinkörniger Schnittfläche, auf der wir mit dem Messer leicht nebst milchigem Saft
weisse, bis mohnkorngrosse, ziemlich weiche Körnchen abstreifen können. Diese
Aftermasse dringt tief in die Oesophaguswand ein oder ersetzt sie in ihrer ganzen
Dicke. Bei diesen Carcinomen findet sich ein massig entwickeltes Stroma mit poly-
morphen, protoplasmareichen, grosskörnigen, meist fettig degenerirenden oder stark
gekörnten Zellen. Es kommen aber auch im Aeusseren ähnlich geformte Carcinome
vor, welche härter sind und eine trockene, sehr grobkörnige Schnittfläche besitzen,
auf welcher mau ähnlich wie bei den Cancroiden der Haut sehr harte Körner aus
den Alveolen hervorheben kann. Diese Carcinome zeigen mikroskopisch deutlich ge-
schichtete, zwiebelschalenförmig aneinander gelagerte, oft sogar fast verhornende Platten-
epithelien. Diese Formen des Carcinoms, besonders die weicheren ersterwähnten, haben die
Neigung auf die Nachbarorgane überzugreifen und oberflächlich zu zerfallen.
In anderen Fällen sehen wir das Carcinom als einen 1 — 2 cm grossen Substanz-
verlust,dessen Eänder flachwulstig und hart sind. Im Grunde findet sich ein ziemlich
dichtes, feinliörniges, gelblichweisses von fettgelben Körnchen unterbrochenes oder
auch missfärbiges Gewebe. Auf dem Durchschnitte findet sich dichtfaseriges Gewebe,
in dessen Lücken die gleichen weichen Pfröpfchen in spärlicher Zahl liegen. Die
Muskelschichte erscheint, sofern sie erhalten ist, verdickt, durchscheinend, von weiss-
lichen, dünneren und dickeren Faserzügen durchsetzt. Das Zellgewebe um den Oeso-
phagus ist immer verdichtet, manchmal fast schwielig und der Oesophagus dadurch
von den Nachbarorganen schwer abpräparirbar. Diese fibrösen Krebse führen, wenn
sie halbringförmig oder ganz anulär auftreten, eine Strictur des Oesophagus herbei.
Meist breiten sie sich nicht weit der Länge nach aus, sondern bilden, schmale Ringe,
bisweilen mit sehr geringer ülceration.
Im Allgemeinen erscheinen die fibrösen Formen flacher, während die weiche-
ren mehr die Neigung zur Wucherung auf der Oberfläche zeigen. In der Leiche
finden wir die Oesophaguskrebse immer in Zerfall, sehr häufig in Yerjaucliung.
Bezüglich des Fortschreitens in der Peripherie und in die Tiefe verhält sich
das Carcinom sehr verscliieden. In der Regel finden wir nur einen Substanzverlust
von verschiedener Grösse mit mehr weniger tief gebuchteten Rändern. Wenn in
unmittelbarer Nachbarschaft in der Schleimhaut kleine Krebsknötchen entstehen, so
können durch Zerfall dieser mehrere Geschwürchen sich bilden. Auch wächst das
Carcinom bisweilen längs der Lymphgefässe fort, die dann unter der Schleimhaut
als weisse Stränge durchschimmern. In Bezug auf das Wachsthum in die tieferen
Schichten wurde bereits erwähnt, dass in einzelnen Fällen das oberflächlich sich ent-
wickelnde Carcinom vollständig zerfällt und einen seichten Substanzverlust zurück-
lässt; in der Mehrzahl der Fälle jedoch wächst es in die Tiefe und kann je nach
seiner Lage in die Pleurahöhle, in die Bronchien, in die Lungen oder in die Tra-
chea durchbrechen.
PleuritiS; putride Bronchitis, Lobularpneumonie mit Ausgang in Lungengangrän,
Mediastinitis, sind gewöhnlich die Complicationen, die sich dann hinzugesellen. Selten
ist die Perforation der Aorta mit nachfolgender Yerblutung.
Die Beeinträchtigung der Wegsamkeit des Oesophagus kann herbeigeführt
werden durch Verlegung des Oesophagus durch weiche mächtige Geschwulstmassen
oder durch die stark vorspringenden harten Ränder eines Krebsgeschwüres, meistens
40 NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE.
aber wird sie bedingt durcli die Uuuachgiebigkeit und Starrheit der infiltrirten
Oesopbaguswand oder durch eine wirkliche Stricturirung durch die sich zusammen-
ziehenden fibrösen Massen des Krebses. Die Verlegung kann unter Umständen durch
ausgiebigen Zerfall des G-eschwulstgewebes manchmal schwinden. Besteht jedoch eine
erschwerte Wegsauikeit der Speiseröhre in höherem Grade und durch längere Zeit,
so bildet sich über der verengten Partie eine Hypertrophie der Muscularis und eine
Dilatation des Oesophagus heraus. Die letztere kann bisweilen recht beträchtlich
werden, so dass der Oesophagus ober der Verengerung einen gleichmässig weiten
Sack darstellt oder auch einzelne divertikelartige Ausbuchtungen zeigt. Das Schleim-
hautepithel ist in der Regel weisslich verdickt und undurchsichtig, an der Leiche
meist zum Theil macerirt und deshalb defect,
Metastasen des Carcinoms fehlen in den benachbarten Lymphdrüsen fast nie.
Manchmal degeneriren die sämmtlichen Lympdrüsen des Thorax, so dass auch die
supraclaviculareu Drüsen als Geschwülste wahrnehmbar werden, manchmal ein wich-
tiges klinisches Symptom, falls die Primärgeschwulst als solche latent bleiben sollte.
Nicht selten sind Metastasen in der Leber, weniger häufig in anderen Or-
ganen.
Secundär entwickelt sich bisweilen ein Oesophaguscarcinom ex contiguo aus
einem Krebs der Magencardia oder des Pharynx; auch bei Schilddrüsenkrebs wurde
ein Hineinwachsen in den Oesophagus beobachtet.
6. Mediastinum, Thymus und Lymphdrüsen.
Innerhalb des Mediastinums können sich Geschwülste entwickeln, welche von
den Lymphdrüsen, von der Thymus oder vom Zellgewebe ausgehen. Klinisch wird
sich der Ausgangspunkt wohl nie feststellen lassen, man wird sich mit der allge-
meinen Diagnose eines Mediastinaltumors begnügen müssen. Diejenigen Geschwülste
innerhalb des Mediastinums, welche von klinischer Bedeutung sind, gehören fast
durchwegs den Sarcomen an. Die von den Lymphdrüsen ausgehenden Sarcome ent-
wickeln sich zunächst aus einer Lymphdrüse als sehr circumscripte Geschwülste und
erreichen oft einen sehr beträchtlichen Umfang, ohne dass die benachbarten Lymph-
drüsen eine nennenswerthe Vergrösserung zeigen. Dadurch unterscheiden sie sich
hauptsächlich von den leukämischen imd pseudoleukämischen Geschioulstbildungen der
Lymphdrüsen. Bei diesen erscheinen die Lymphdrüsen bisweilen auch sehr ver-
grössert, aber die Vergrösserung betrüft ziemlich gleichmässig oder innerhalb nicht
sehr weiter Grenzen die gesammten Lymphdrüsen oder fortschreitend, regionäre
Gruppen derselben. Die reinen Sarcome der Lymphdrüsen sind recht selten. Im
Mediastinum findet sich gewöhnlich die weichere Form des Rundzellensarkoms vor,
welche als Markschwamm beschrieben wurde. Man trifft dieses Sarkom gewöhnlich
bei jugendlichen Personen,
Die von der Thymus ausgehenden primären Geschwülste entwickeln sich
im vorderen Mediastinum und stellen sehr häufig zusammenhängende, hie und da
septirte, weissliche, auf der Schnittfläche glatte, weichere oder festere Geschwulst-
massen, dar, welche ihren Hauptantheil im oberen Mediastinum entwickeln und sich
glatt, zungenförmig zwischen Sternum und Pericard bis an das Diaphragma entwickeln.
Durch diese Eigenthümlichkeit des diffusen Wachsthums unterscheiden sie sich
anatomisch von den Sarcomen der Lymphdrüsen, Dagegen kommt es bei den Lympha-
denomen bisweilen vor, dass dieselben confluiren und gleichfalls zusammenhängende
Tumoren darstellen. Es kann dadurch manchmal schwer werden, die Entscheidung
zu treffen, ob eine Geschwulst von den Lymphdrüsen oder von der Thymus ausgeht.
Xur wenn man die charakteristischen HASSAL'schen Körperchen vorfindet, ist man
sicher, dass es sich um einen Tumor der Thymus handelt. Histologisch erweisen
sich die Thymusgeschwülste als Sarcome,
VmcHOW demonstrirte 1891 ein Carcinoma scirrhosum des vorderen Mediasti-
nums, das sich von der Gegend der Thymus nach abwärts erstreckte und auf Herz und
Lungen übergriff. Es entwickelte sich bei einer Frau, die einige Zeit vorher an üterus-
carcinom operirt worden war.
NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE. 41
Die Entwicklung einer Geschwulst aus dem Zellgewebe des Mediastinums lässt
sich nicht immer mit Sicherheit behaupten, es müsste denn die histologische Zu-
sammensetzung derselben eine derartige sein, dass vermöge dieser ihr Ursprung un-
zweifelhaft gegeben ist.
Die im Mediastinum sich entwickelnden Geschwülste sind wohl meist dadurch
von Bedeutung, dass sie durch ihre Grösse die Brustorgane verschieben und be-
drängen. Durch die mehr zusammenhängenden Massen des vorderen Mediastinums
wird sehr häufig das Pericardium an der Herzkrone und auch weiterhin unbeweglich
und fixirt. Die grossen Venenstämme können comprimirt werden, oder sie werden
ganz undurchgängig dadurch, dass die Geschwulstmassen die Venenwand durchbrechen
und im Venenlumen weiterwachsen; daran können sich ausgedehnte Thrombosirungen
auch weiter gelegener Venen mit begleitenden Oedemen in den betreffenden Körper-
abschnitten anschliessen. Auch die Trachea kann durch grosse Geschwülste com-
primirt werden. Ebenso kann eine Alteration der das Mediastinum durchziehenden
Nerven (Laryngeus recurrens, Vagus, Phrenicus) durch Zerrung oder Infiltration
herbeigeführt werden,
Secundär erkranken innerhalb des Mediasinums wohl nur die Lymphdrüsen,
in denen sich häufiger als Sarcome Carcinome, ausnahmsweise auch Enchondrome
metastatisch entwickeln können. Die Carcinommetastasen der Lymphdrüsen an der
Lungenwurzel können auch in die Bronchien durchbrechen und so zu Verjauchungen
führen.
B) Neubildungen der Bauchhöhle.
1. Magen.
Schon gelegentlich chronischer Entzündungen der Magenschleimhaut können
wir Veränderungen an derselben beobachten, welche füglich in die Gruppe der Neu-
bildungen gezählt werden können.
Bei chronischen Magencatarrhen kommt es nämlich zu zelliger Infiltration und
Zunahme des Gewebes der Schleimhaut hauptsächlich in den oberen Schichten
zwischen den Ausführungsgängen der Drüsen. Durch die Vorwölbung des sich vor-
drängenden Gewebes zwischen den Drüsenöffnungen wird manchmal schon eine feine
Felderung der Schleimhautoberfläche erkennbar. Entwickelt sich diese Gewebs-
wucherung in die Länge nach der Oberfläche, so wächst die Schleimhaut zu einem
zarten lamellösen Filze aus, zwischen dessen Lamellen in der Tiefe die Aus-
mündungen der Drüsen liegen. Die Drüsen selbst werden hiebei meist verlängert,
geschlängelt, auch verästigt, erweitert, selbst cystisch umgewandelt.
Wenn diese Vorgänge auf einzelne Stellen beschränkt bleiben oder an um-
schriebenen Partien besonders intensiv auftreten, dann verliert die Schleimhaut ihre
gleichmässig gefelderte oder sammtähnliche Oberfläche, sie wird höckerig, warzig
(Surface mamelonnee). Einzelne dieser Höcker können durch Weiterschreiten der
Wucherung ganz über die Oberfläche emportreten und allmälig mit einem walzen-
förmigen oder platten Schleimhautstiele in die Magenhöhle als Polypen prolabiren
(Polyposis ventricuU). Damit erhalten diese Gebilde bereits den Charakter der
Neubildungen.
Die Polypen finden sich bisweilen vereinzelt, in der Regel in der Mehrzahl,
manchmal sogar sehr zahlreich in der Pylorusgegend des Magens, ausnahmsweise
auch auf der ganzen Oberfläche der Magenschleimhaut. Sie sind auf ihrer Ober-
fläche bald ziemlich glatt oder höckerig, bald sammtartig, feinpapillär bis aus-
gesprochen zottig oder blumenkohlkopfähnlich. Letztere sind in der Ptegel ziemlich
weich, können leicht zerfallen und zu Blutungen Veranlassung geben. Die papillären
Formen bestehen vorwiegend aus dem Bindegewebe der Mucosa, während die
kugeligen, glatten Polypen manchmal aus Schleimhautgewebe bestehen, manchmal
aber vorzüglich aus gewucherter Drüsensubstanz. Wenn hiebei die Drüsen durch
Retention des Inhaltes zu Cysten erweitert sind, so sind die Geschwülste stärker
durchscheinend und beim Betasten ziemlich prall.
42 -NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE.
Ihrer äusseren Form nach bezeichnen wir alle diese Geschwülste, weil sie
gestielt sind, als Polypen. Histologisch müssen wir sie aber in Fibrome, papilläre
Fibrome, wenn ihr Grundgewebe Schleimhaut ist, in Adenome, Cystadenome, wenn
Drüsengewebe den Hauptbestandtheil bildet, scheiden.
Die Adenome des Magens sind deshalb bemerkenswert, weil sie mitunter zu
recht ansehnlicher Grösse gedeihen und auch der Fläche nach sich weit ausbreiten
können. Da sie hiebei zerfallen, bluten und verjauchen und zu ausgedehnten Zer-
störungen führen, so werden sie als maligne oder destruirende Adenome be-
zeichnet.
Histologisch zeigen sie an allen Stellen den tubulären Bau, manchmal mit Ectasirung
der Tubuli bis zu Cysten, und überall die Auskleidung durch Cylinderepithel. In ihrem
äusseren Aussehen gleichen sie sehr gewissen Formen von Carcinom, zu dem sie die Ueber-
gangsstufe darstellen.
Das Carcinom des Magens ist eine der häufigsten Magenerkrankungen. Es
gehört aber auch zu den am häufigsten vorkommenden Carcinomen überhaupt.
Unter von mir aufgezeichneten 1744 secirten Fällen von Carcinomen zähle ich
540 Magencarcinome also fast SO^o ^^^ Gesammtzahl. "Wie alle Carcinome tritt
der Magenkrebs zumeist zwischen dem 40. und 60. Lebensjahre auf; doch findet sich
derselbe manchmal schon bei jugendlichen Personen; ich fand ein Carcinom bei
einem einundzwanzigjährigen Manne und auch bei Individuen Ende der zwanzig
Jahre. Es werden als seltene Vorkommnisse auch Krebse des Magens bei Kindern
von 14 Jahren (Scheffee) und sogar von 5 Monaten (Cullingwoeth) angeführt.
Der Magenkrebs kommt bei beiden Geschlechtern ziemlich gleich häufig vor. Es
scheint, dass auch eine Erblichkeit des Carcinoms nicht ausgeschlossen ist; wenigstens
werden auch hiefür Beispiele angeführt.
Von dem primären Magenkrebse werden gemeiniglich 4? Formen beschrieben:
1. der Cylinderzellenkrebs 2. der Medullarkrebs 8. der Faserkrebs 4. der Gallertkrebs.
1. Der Cylinderzellenkrebs tritt in Form einer mehr weniger kugeligen, manchmal
fast gestielten, weichen, auf der Oberfläche flachhöckerigen oder zottigen, röthlichgrauen
bis blauröthlichen Geschwulst meist in der Pylorusgegend zunächst an der hinteren Wand
derselben auf. Von hier aus kann er sich nach allen Seiten hin ausbreiten, überschreitet
aber den Pylorus fast nie. Er kann bis zu einer sehr ansehnlichen über kindskopfgrossen
Geschwulst anwachsen, das Antrum pyloricum anfüllen und ausdehnen, auch zum Theil
in das Duodenum prolabiren, ohne nennenswerthen Zerfall zu zeigen. In dieser seiner
Eigenschaft ist er den vorerwähnten malignen Adenomen des Magens ähnlich. Doch kommt
es auch vor, dass er durch ülceration zerfällt, besonders dann, wenn etwa durch Stauung
in den Gefässschlingeu der Zotten Blutung in das Geschwulstgewebe erfolgt. Es kann
der Zerfall sogar ein sehr bedeutender werden. Unter solchen Verhältnissen finden sich
an den Randpartien des zerfallenden Gewebes die wohlerhaltenen papillären oder zottigen,
überhängenden weichen Antheile der jüngeren Geschwulstmassen. Schneidet man eine
solche Randzone ein, so findet man zunächst an Stelle der Schleimhaut ein grauweisses
bis röthlichweisses, markiges Gewebe, das durch sehr zarte, radiär gegen die Oberfläche
ausstrahlende Bälkchen unterbrochen wird. Das Gewebe ist sehr saftreich, ziemlich stark
vascularisirt. Stellenweise dringt dieses markige Gewebe in die Muskelschichte vor,
durchsetzt die ganze Magenwand, so dass schliesslich Aftermasse an Stelle der Magenwand
tritt. Durch diese letztere Eigenschaft unterscheidet sich der Cylinderzellenkrebs schon
makroskopisch von dem ihm ähnlichen Adenom. Histologisch ist der Unterschied viel
leichter. Das Adenom zeigt typischen tubulären Bau, die Tubuli sind mit einer ein-
schichtigen Lage ziemlich hoher Cylinderzellen ausgekleidet und durch eine Membrana
proijria scharf begrenzt; auch in den cystisch ausgeweiteten Tubulis gestalten sich die
Verhältnisse nicht anders. Im Adenocarcinom finden sich ähnliche Verhältnisse insoferne,
als auch tubuläre Hohlräume vorhanden sind, die aber nebst der Cylinderzellen auskleidung
auch ungleichgeformte epitheliale Zellen in unregelmässigen Haufen zusammengedrängt
einschliessen. Ausserdem finden sich kleinere Hohlräume und Gewebsspalten, in denen
lediglich solche atypisch gelagerten epithelialen Zellen zu finden sind. Das Bindegewebe
der Umgebung zeigt reichliche kleinzellige Wucherung.
2. Der Medullarkrebs findet sich wohl an jedem Theile der Magenwand, sitzt aber
verhältnismässig am häufigsten in der Pars pylorica. In seinem Beginne erscheint er als
eine flachhöckerige Vorragung von weisslicher Farbe und etwas festerer Consistenz als die
benachbarte Schleimhaut. Im weiteren Verlaufe erweichen und zerfallen die centralen
Antheile und es bildet sich eine flachrundliche Grube, deren Grund bald mehr weisslich
und glatt, bald missfärbig, röthlich bis braunschwarz, höckerig, zerklüftet oder zottig aus-
sieht. Die Ränder prominiren mehr oder weniger, sind bald sanft abfallend, bald steil,
auch überhängend gegen den Geschwürsgrund ; gegen die Schleimhaut der Umgebung ver-
NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE. 43
laufen sie allmälig, sind aber auch nianchmal pilzhutähnlich umgebogen oder mehr weniger
knollig. Auf einem vom Rande gegen das Centrum des Öubstanzverlustes geführten Durch-
schnitt der Magenwand nimmt man wahr, dass der aufgeworfene Rand gebildet wird durch
eine markig weisse, ziemlich weiche Aftermasse, welche im Rande am mächtigsten ist und
gegen die Mitte des Substanzverlustes von der Oberfläche her zerfällt, dass aber diese
Aftermasse auch im Grunde des Geschwüres die tieferen beziehungsweise äusseren Schichten
der Magenwand intiltrirt oder ganz ersetzt und von den Rändern aus nach der Peripherie
in die gesunde Schleimhaut vordringt. Im weiteren Wachsthum kann sich die Aftermasse
über grosse Strecken der Magenwand ausbreiten, manchmal den ganzen Pylorustheil um-
fassen, selbst die vordere und hintere Magenwand ergreifen und längs der kleinen Curvatur
bis an die Cardia reichen. Auch kann das Neoplasma in der Dicke eine bedeutende
Mächtigkeit erlangen. Di-ingt es bis an die Serosa, so kann es in Gestalt ziemlich grosser
flacher, central etwas eingezogener Knoten gegen die Bauchhöhle vorragen. Mikroskopisch
erweisen sich die markig weissen Stellen als ein Gewebe, welches ein maschiges Stroma
darstellt, in dessen Lücken die nicht sehr grossen epithelialen Zellen unmittelbar und dicht
aneinander liegen. An den Randpartien liegen die Zellen in kurzen Reihen oder in kleinen
Nestern, drängen die Gewebe auseinander und wachsen hauptsächlich in den Lymph-
bahnen weiter.
Als zellenreicher Krebs bildet der Medullarkrebs sehr häufig Metastasen sowohl auf
dem Wege der Lymph- als auch der Blutbahnen. Wir finden sie demnach nicht allein in
den benachbarten Lymphdrüsen, sondern auch in entfernten Regionen, manchmal in recht
grosser Zahl.
3. Der Faserkrebs (Scirrhus) ist eine Geschwulstform, welche hauptsächlich als
Infiltrat, beziehungsweise als gleichmässige Verdickung der Magenwand auftritt. Er beginnt
in der Regel am Pylorus und sehr häufig schon von Anfang an als ringförmige Verdickung,
die allmälig gegen die normale Magenwand ausläuft, am Pylorus dagegen steil absetzt.
Die Oberfläche ist zumeist sehr wenig und sehr flach höckerig; die Schleimhaut kann zum
grössten Theil erhalten sein, manchmal aber auch in grosser Ausdehnung fehlen. Dann
findet sich ein Substanzverlust, dessen Ränder kaum oder nur sehr wenig prominiren und
härtlich sind und dessen Basis sehr glatt und faserig erscheint. Dem Durchschneiden
bietet die Magenwand ziemlichen Widerstand, bisweilen knirscht sie fast unter dem Messer
und schneidet sich wie eine derbe Schwiele. Auf dem Durchschnitte sind alle Schichten
der Magenwand verdickt, manchmal sehr wenig, in extremen Fällen jedoch so, dass die
Gesammtdicke bei 2 cm und darüber beträgt. Die Mucosa und Submucosa erscheinen als
eine grauweisse, fein- und dichtfaserige Schichte, die nur wenig verschiebbar, manchmal
ganz starr erscheint. Die Muscularis, gleich dick oder dicker als die oberflächlichen
Schichten, ist durchscheinend und durch breite weisse Faserzüge, welche von der Sub-
mucosa zur Serosa ziehen, und durch querverlaufende feinere, verästigte Fasern verbunden
sind, in ziemlich grobe Bündel getheilt. Die Serosa mit der subserösen Schichte ist zu-
meist nur 1 — 2mvi dick, so dass also der Hauptantheil der Verdickung der Magen wand
auf die Muskel- und Schleimhautschichte entfällt. Es gibt nun Fälle, bei denen man auf
der Schnittfläche spärlichen Krebssaft abstreifen kann, es gibt aber auch solche, wo man
keine Spur von Krebssaft erhält. Diese letzteren bieten auch mikroskopisch die Eigen-
thümlichkeit, dass man fast gar keine Krebszellen findet. Das Bindegewebe ist so massig,
dass nur hin und wieder Gruppen von wenigen und kleinen, epithelialen Zellen nachweisbar
sind, so dass man bisweilen verleitet werden könnte, den ganzen Process für eine chro-
nische Entzündung mit fibröser Degeneration der Magenwand zu halten. Es kommt näm-
lich noch hinzu, dass bei Scirrhus des Magens auch sehr nennenswerthe Schrumpfung bald
stellenweise, bald in grosser Ausdehnung auftreten kann. Es besteht gar kein Zweifel,
dass dadurch ganze Antheile des Krebses zu einer Art narbiger Ausheilung geführt werden
können, so dass man in der Schwiele dann selbstverständlich Krebselemente nicht mehr
nachweisen kann. Es ist auch das makroskopische Bild dem einer Narbe völlig gleich.
Die Schrumpfung solcher Magentheile ist eine ganz beträchtliche. In solchen Fällen ist es
nöthig bei der Obduction genau die Serosa des erkrankten Antheiles zu untersuchen. Man
wird die in den mehr gleichmässigen oder streifenförmigen oder strahlig sich ausbreitenden
Verdickungen des Peritonealüberzuges Stecknadelkopf- bis hirsekorngrosse, meist nur sehr
vereinzeinte, weisse, sehr zarte Knötchen eingelagert finden, auch kann man eine oder die
andere der Lymphdrüsen der nächsten Nachbarschaft, wenn nicht etwas vergrössert, so
doch sehr verhärtet und weiss finden. In diesen gelingt es dann in der Regel sehr kleine
Krebszellennester in sehr festem Stroma eingebettet zu finden. Vermöge dieser grossen
Neigung zur Schrumpfung wird ein Scirrhus am Pylorus zu Strictur des letzteren führen;
erstreckt sich der Scirrhus aber auf den ganzen Magen, so wird dieser von der Cardia bis
zum Pylorus in ein dick- und starrwandiges Rohr ximgewandelt, das innen eine dickwul-
stige, wenig oder gar nicht exulcerirte Schleimhaut trägt und manchmal nur für 3—4 Finger
durchgängig ist. Ich habe gefunden, dass sich eine ganze Reihe solcher Fälle, die ich
secirt habe, dadurch auszeichnete, dass das Carcinom dem Kliniker verborgen blieb. So
degenerirte Mägen ziehen sich durch die Schrumpfung des mitbetheiligten kleinen Netzes
ganz unter die Leber zurück, und da sie selbst klein sind, werden sie der tastenden Hand
unzugänglich. Die Patienten selbst hatten keine Magenbeschwerden, keine Schmerzen,
44 NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE.
keine Blutungen, kein Erbrechen, hatten sogar bis zum letzten Moment guten Appetit.
Palpable Metastasen fehlten. Nur die Cachexie war sehr auffällig und Hess irgendwo ein
verborgenes Carcinom vermuthen.
Selten wird sich der schrumpfende Scirrhus im Fundus vorfinden. Ich sah einen
Fall, bei welchem der Fundus zu einem hühnereigrossen Sacke geschrumpft und mit der
Milz schwielig verwachsen war. Die Wand war dick und derbfibrös, der Grund des Sackes
eine glatte blass grauweisse Narbe, an deren Rändern die angrenzende Schleimhaut dick
und krausenartig gewulstet war. Die Magenwand sonst war ziemlich verdickt, weich, die
Schleimhaut schiefergrau pigmentirt. Hier stellte erst die mikroskopische Untersuchung
die Diagnose des Scirrhus fest, während das makroskopische Bild viel mehr einer Narbe
nach Entzündung glich.
4) Der Galiertkrebs hat in Bezug auf seine Form und Ausbreitung sehr viel Ge-
meinsames mit dem Faserkrebs. Auch er tritt mit Vorliebe als diffuses Infiltrat auf und
iimfasst grosse Antheile der Magenwand. Allerdings gehören reine Gallertkrebse zu den
selteneren Vorkommnissen. Man erkennt den Gallertkrebs schon auf der Oberfläche daran,
dass auf den grösseren Höckern kleine, grau, gelbgrau bis bräunlichgelbe, mohnsamenkorn-
grosse und grössere, durchscheinende bis wasserhelle Körnchen sich aus dem opaken Ge-
webe vordrängen. Auf dem Durchschnitte erscheint, wie beim Faserkrebs, die Magenwand
sehr dick, man sieht ein weisses, manchmal sehr starkes Balkenwerk, in dessen Lücken die
erwähnten durchscheinenden oder durchsichtigen Massen eingelagert sind, welche auf der
Schnittfläche in Körnchen hervortreten. So sehr diese Massen dem Schleime ähnlich
sehen, so sind sie doch nicht so fadenziehend, sondern lassen sich mit der Messerspitze
leicht als Körnchen herausheben. Histologisch untersucht, zeigt das Gewebe den schon
mit freiem Auge leicht erkennbaren alveolären Bau, wobei die Bindegewebsbalken nicht in
allen Fällen gleich mächtig sind, so dass in einzelnen Fällen die coUoiden Massen, in anderen
das fibröse Gewebe vorwiegt. In den Alveolen findet man neben wenig wohlerhaltenen
epithelialen Zellen, welche aufgebläht sind und einen colloiden Tropfen einschliessen, ausser-
dem freie Zellkerne und Zelldetritus. Alles ist aufgenommen in der colloiden Substanz, die
den Hauptantheil des Alveolus ausfüllt.
Der Colloid krebs ist als eine Degenerationsform des Carcinoms anzusehen. Man
kann nämlich bisweilen an einen- und demselben Präparate Stellen finden, wo das Gewebe
in seiner ganzen Dicke so weit colloid umgewandelt ist, dass es ganz durchscheinend ist,
während an den Randpartien, wo das jüngere Krebsgewebe sich findet, colloide und weisse
opake Stellen sich mengen. An letzteren wird man auch in den Alveolen vorwiegend gut
erhaltene Krebszellen in grosser Zahl finden.
In Vorigem wurden die vier Formen des Magencarcinoms in ausge-
sprochenen Fällen in Kürze geschildert. In der Mehrzahl der Fälle jedoch finden
wir so prägnante Bilder nicht, wir sehen vielmehr meist Uebergangsformen.
So sind zwischen Faserkrebs und Medullarkrebs eine ganze Reihe von Zwisclien-
formen möglich. Auch der Gallertkrebs zeigt Uebergänge zum Scirrhus, aber auch
zum Medullarkrebs. Es ist also im Aussehen und auch im histologischen Bau des
Magenkrebses eine grosse Mannigfaltigkeit möglich. Auch die Metastasen sind der
Primärgeschwulst nicht immer gleich. Bei Scirrhus können die Metastasen gleich-
wohl sämmtliche medullär sein. Beim Colloidcarcinom wird man Metastasen nicht
häufig rein colloid, sondern meist fibrös oder medullär finden.
Es wurde schon wiederholt erwähnt, dass der Pylorus der Prädilectionssitz des
Carcinoms sei. Die statistischen Angaben schwanken zwischen 50 — 65 '^Jq. Lebeet
fand 50 ^g, BEmTON 60 ^j^, Oeth ebensoviel der Magenkrebse am Polyrus. Ich
fand bei 540 Fällen 352 d. i, 65 "^/^ in der Regio pylorica. Auf die hintere Magen-
wand entfallen 43 Fälle, auf die kleine Curvatur 42 und auf die Cardia 32, es sind
also alle anderen Magengegenden in Bezug auf die Häufigkeit des Carcinoms hinter
der Pylorusgegend weit zurück.
Durch die Entwicklung des Carcinoms wird in den meisten Fällen der Magen
Gestalt- und Grössenveränderungen erfahren. Bei den seltenen blumenkohlähnlichen
Tumoren kommt es zu Dilatation der Magenhöhle durch die grosse Geschwulst selbst,
welche die Magenhöhle einnimmt und dadurch die Magenwandungen ausdehnt. Ab-
norme Verkleinerung des ganzen Magens kommt bei den beschriebenen,- den ganzen
Magen gleichmässig infiltrir enden Formen von Scirrhus vor. Vergrösserungen ein-
zelner Theile des Magens werden bedingt durch den medullären oder den einfachen
oder mit Medullarkrebs combinirten Gallertkrebs. Diese Vergrösserungen kommen
zu Stande durch die Mächtigkeit der medullären Aftermasse, welche die Stelle der
Magenwand einnimmt, gegen die Aussenfläche des Magens sich immer weiter ent-
NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE. 45
wickelt und an der Innenfläche zerfällt. Eine derartige Vergrössenmg des Pylorus-
antheiles kann dazu führen, dass der Pförtner in Folge der Unbeweglichkeit der
degenerirten, starren Magenwand sich nicht mehr schliessen kann, dass er insufficient
wird. Es kann aber auch geschehen, dass durch Entwicklung des Neoplasmas haupt-
sächlich am vorderen und unteren Umfang des Antrum pyloricum der Pylorus auf
die Scheitelhöhe der durch den Tumor ausgeweiteten Höhen zu liegen kommt,
wodurch die Entleerung des Magens erschwert oder fast unmöglich gemacht wird;
es kommen dann dieselben Folgeerscheinungen wie bei Stricturen des Pylorus. Bei
weitem am häutigsten finden wir aber die Verengerungen einzelner Theile des Magens.
Dabei kommt, wie schon erwähnt, der Pylorus in erster Linie in Betracht. Die Ur-
sache für die Verengerung des Pyloras liegt selten in der Grösse der Aftermassen,
welche ihn durch ihr Volumen verlegen; in der Regel kommt es zu einer Schrum-
pfung der entarteten Magenwand, also zu einer Strictur derselben, Ist nun die
Magenwand durch die krebsige Entartung verdickt, so wird keine hochgradige
Schrumpfung nöthig sein, um den Pylorus undurchgängig zu machen; anderseits
können Scirrhi, welche in der Dicke und Ausdehnung ganz unansehnlich sind, in so
hohem Grade schrumpfen, dass man den Pylorus kaum mit einer 5 — 7 mm dicken
Sonde passiren kann. Die Erscheinungen bei Verengerung der Cardia fallen zu-
sammen mit den Erscheinungen der Strictur des Oesophagus im untersten Antheil.
Schrumpfungen der mittleren Antheile des Magens, etwa ausgehend von der kleinen
Curvatur und auf die vordere und hintere Magenwand übergreifend, führen zur
Bildung der sogenannten Sanduhrform des Magens mit Dilatation des Fundus. Bei
Stricturen am Pylorus kommt es zu Dilatation des ganzen Magens. Die Dilatation
des Magens, besonders bei Pyloruskrebs, kann noch begünstigt werden durch Lage-
anomalien desselben. In der Mehrzahl der Fälle kommt es in Folge der Ent-
wicklung des Carciuoms und des Vordringens desselben gegen die Serosa, später
auch durch Bildung von Metastasen in Leber und Lymphdrüsen zu Verwachsungen
des Magens mit der Leber, dem Netz, dem Colon transversum, der vorderen Bauch-
wand, manchmal in dem Maasse, dass eine Entfaltung der einzelnen Organe selbst
mit Hilfe des Messers grosse Schwierigkeiten macht. Dadurch kann der Pylorus
unbeweglich, auch von aussen her comprimirt werden. Er wird aber auch bisweilen
hoch emporgezogen, gedreht oder geknickt. In einzelnen Fällen bleibt jedoch der
Pylorus ganz frei, da es zu gar keinen Verwachsungen kommt. In solchen Fällen
kann der Pylorus allmälig ziemlich tief, ja bis unter das Promontorium hinabsinken.
Durch diese verschiedenen Lageveränderungen wird der dilatirte Magen eine ver-
schiedene Gestalt annehmen müssen. Bei Fixation oder Hochstellung des Polyrus
wird sich eine der Tabakspfeife ähnliche Form herausbilden, wobei die grosse Cur-
vatur bis in das kleine Becken hinabsinkt, die kleine Curvatur eine langausgezogene
Schlinge darstellt, und der Fundus aufrecht gestellt im linken Hypochondrium zu
finden ist. Sinkt aber der Pylorus hinab, dann streckt sich die kleine Curvatur vor
der Wirbelsäule gerade nach abwärts, der Fundus dreht sich nach aufwärts in das
linke Hypochondrium und die grosse Curvatur dehnt sich in schwach gekrümmtem
Bogen nach links aus und wendet sich im Becken in scharfer Krümmung zum Py-
lorus empor. Der Magen liegt also in diesem Falle blos in der linken Hälfte des
Bauchraumes, kann aber dieselbe vollständig einnehmen. Die Menge des Inhaltes
bei Magendilatationen kann eine beträchtliche werden und leicht 2 — 3 Liter und
mehr erreichen. Die Beschaffenheit hängt von der Dauer und dem Grade der Dila-
tation, von der Dauer der Ketention, von eventuellen Blutungen, von dem Grade
und der Art der Veränderungen im Neoplasma ab. In kurz dauernden, nicht sehr
hochgradigen Fällen der Dilatation, bei denen das Carcinom nicht sehr zerfällt und
nicht blutet, ist der Inhalt trüb, schleimig wässerig, galliggrün bis dunkelbraun, mit
Speiseresten untermengt. Die Schleimhaut meist mit viel Schleim bedeckt, nach dem
Grade des Catarrhes, der fast immer vorhanden ist, mehr oder weniger geschwollen
manchmal auch atrophisch oder postmortal erweicht. Die Muscularis ist hypertro-
phisch, oft so bedeutend, dass sie mehrere Millimeter dick wird und die Muskel-
46 NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE.
bünclel nuter der Sclileimhaut leistenförmig vorspringen. Bei liochgradiger, lange
dauernder Dilatation ist die Wand in allen Scliichten dünn. Der Inhalt ist durch
lange Zurückhaltung in Zersetzung, bald dünnflüssig, bald dünnbreiig; kommen dann
öftere Blutungen hinzu, die den Inhalt färben, so wird derselbe in einen schmutzig
schwarzgrauen, morastähnUchen Brei umgewandelt. Wenn nun etwa die Geschwulst-
massen stark ulceriren oder gangränös werden, so wird der Inhalt vollends in eine
stinkende Jauche umgewandelt.
Regressive Veränderungen im Magenkrebs sind ein regelmässiger Be-
fund. Wie alle Krebse, besonders die zellenreichen und weichen, hat auch der
Magenkrebs die Neigung zu fettiger Degeneration; bei dieser kommt es durch
fettige Degeneration der kleineren Grefässchen oder durch Thrombose derselben zu
anämischer Nekrose in einzelnen Bezirken; sind die oberflächlichen Partien zer-
fallen, so ist das Geschwulstgewebe der Einwirkung des Magensaftes ausgesetzt,
zugleich ist aber auch das Eindringen von Entzündung erregenden Mikroorganismen
und von Jauchung veranlassenden Fermenten ermöglicht. Durch tiefgreifende Zer-
störungen in der Magenwand oder in angrenzenden Organen können bei Arrosion
von grösseren Gefässen tödtliche Blutungen entstehen. Eine intensivere Entzündung
im Geschwulstgewebe kann zu Entzündungen benachbarter seröser Häute, insbeson-
dere zu Peritonitis führen, es kann aber auch zu allgemeiner septischer Infection
kommen. Tiefgreifender Zerfall der vorderen Magenwand oder der kleinen Curvatur
führt bisweilen zu Perforation des Magens; an der hinteren Magenwand ist sehr
häufig das dahinterliegende Pankreas ein Schutz gegen die Perforation, da es meist
anwächst und den entstehenden Substanzverlust in der Wand deckt.
Bezüglich des weiteren Wachsthums des Carcinoms wurde bereits erwähnt,
dass es sich sowohl nach der Fläche in der Schleimhaut ausbreitet, indem es zunächst
in den Lymphbahnen der lockeren Submucosa fortwuchert, dass es aber auch die
tieferen Schichten infiltrirt. Es kann demnach ein Krebs successive die ganze
Magenwand ergreifen, ein Cardiakrebs kann auf den unteren Theil des Oesophagus
übergehen; selten wird ein Pyloruskrebs auf das Duodenum sich fortsetzen. Ander-
seits können tiefgreifende Carcinome auch Nachbarorgane, welche durch voran-
gehende Entzündung an den Magen fixirt wurden, infiltriren, so insbesondere die
Leber, das Colon transversum, das Omentum majus, das Pankreas, die vordere Bauch-
wand. Auf diese Weise können Jauchehöhlen innerhalb der Leber entstehen, welche
mit der Magenhöhle in Verbindung stehen, oder es bilden sich abnorme Communi-
cationen zwischen Magen und den angewachsenen Darmtheilen, oder es kann das
Carcinom auch nach aussen durchbrechen. Die Lymphwege vermitteln aber auch
die Infection entfernterer Regionen: des Peritonaeums, des Diaphragmas, der Pleura,
selbst der Lungen, am häufigsten aber der nächsten Lymphdrüsen. In die Leber
gelangen dagegen die Krebskeime sowohl mittelst der Lymphbahnen als auch durch
die Blutbahn.
Secundär erkrankt der Magen selten an Carcinom, am häufigsten noch
dadurch, dass ein Primärkrebs eines Nachbarorganes — etwa des Oesophagus, des
Pankreas ■ — auf den Magen übergreift. Metastasenbildungen im Magen sind ausser-
ordentlich selten. Auch sogenannte Implantationskrebse des Magens sind beschrieben
worden, das sind Krebse, welche dadurch entstehen, dass Krebskeime, etwa aus
einem Oesophaguskrebs, auf die Schleimhaut des Magens gelangen, dort festhaften
und sich zu Geschwülsten entwickeln (Klees, Beck).
Es wären noch die klinisch belanglosen Bindesubstanzgeschwülste zu erwähnen.
Diese sind meist kleine, rundliche, scharfumgrenzte Geschwülstchen, die sich meist
submucös, manchmal auch subserös entwickeln. Häufiger als Fibrome sind Myome,
Myofihrome und Lipome beobachtet werden, letztere bisweilen multipel.
Sarcome, als primär auftretende Geschwülste, kommen im Magen selten vor.
Sie finden sich als rundliche, meist weiche, markige, nicht leicht ulcerirende Tumoren
his zu beträchtlicher Grösse; sie bestehen aus kleinen Rundzellen. Es finden sich
NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE. 47
aber auch dichtere, mehr flach auftretende und die Magenwand inflltrirende Ge-
schwülste, welche histologisch den Charakter der Lymphosarcome zeigen.
2. Darm.
Von Neubildungen aus der Gruppe der Bindesubstanzgeschwülsten finden sich
im Darme:
Fibrome als knotige und papilläre Geschwülste meist unbedeutender Grösse die
ersteren, wenn sie etwas grösser werden, können in die Darmhöhle prolabiren, und
dadurch dass sie diese, wie im Dünndarm, erfüllen, das Darmstück, an dem sie
hängen, invertiren. In ähnlicher Weise können Lipome als rundliche und gelappte
Geschwülste von Bohnen- bis Hühnereigrösse auftreten, vorwiegend im .Jejunum.
Wenn die Geschwülste gestielt sind, so kann der Stiel durch constanten Zug und
durch Drehung reissen und die Geschwulst auf diese Weise von selbst abgehen. Auf
der Serosa des Dickdarmes wachsen bisweilen die Appendices epiploicae zu grösseren
gestielten Lipomen aus, welche späterhin bei Drehungen des Stieles fibrös umgewandelt
werden oder auch verkalken können. Sie können an andere Organe (Dünndärme,
Uterus) anwachsen und sich nachträglich nach Zerreissung des Stieles vom Dickdarme
loslösen. Sie können aber auch als Corpora libera in die Bauchhöhle hinabfallen.
Myome oder Mi/oßbro77ie, Angiome als flächenhafte und knotige Teleangiektasien
sind selten. Desgleichen werden Sarcome nicht oft beobachtet.
Cysten in der Darmwand sind ausserordentlich selten. Sie finden sich zum
Theil in der Darmwand, zum Theil im Gekröse eingebettet, sind mehrkämmerig,
mit serösem Inhalt. Sie werden als Chylangiome gedeutet (Rokitansky, Bollinger),
Das Adenom entwickelt sich bei chronisch-entzündlichen Zuständen der Darm-
schleimhaut, aber auch ohne solche. Der Form nach tritt es als rundliche oder
papilläre, gestielte Geschwulst auf, bald vereinzelt, bald in grosser Zahl, meist im
Dickdarm, insbesondere im Rectum. Es findet sich in allen Lebensaltern. Nicht
selten beobachtet man spontanen Abgang der Geschwülste nach Zerreissung des
Stieles.
Mikroskopisch findet man bald einfache Hypertrophie der Drüsen in zellenreichen
Schleimhautgewebe, bald üppige "Wucherung der Drüsen mit Verästigang und cystischer
Ausweitung derselben. Selbst bei letzteren Fällen findet man eine scharfe Abgrenzung der
epithelialen Auskleidung gegen das Gewebe der Schleimhaut und der Submucosa. Und
doch können diese Geschwülste durch grosse Zahl und durch Ausbreitung in die Fläche
ein derartiges Aussehen darbieten, dass sie den Carcinomen ähnlich werden.
Das primäre Carcinom des Darmes ist thatsächlich in den meisten Fällen ein
Adenocarcinom, d. h. ein Carcinom bei welchem man überall noch die Anordnung
der Carcinomzellen in der Art der Drüsentubuli sieht.
Anatomisch sehen wir den Darmkrebs als Medullarkrebs oder als Scirrhus;
weniger wird der Gallertkrebs beobachtet. Er erscheint zumeist als ein das Darm-
rohr umfassender Ring von 1"5— 3 cm Breite, welcher den Darm verengert — kreb-
sige Darmstrictur. Dieser Ring ist scharf begrenzt, sehr hart; die Innenfläche des-
selben ziemlich glatt, kaum exulcerirt, die Darmwand im Bereiche desselben voll-
ständig durch dichtfaseriges Gewebe substituirt, die Strictur sehr hochgradig und
unnachgibig — Scirrhus oder der Ring ist nach oben unten begrenzt durch einen
höckerigen Wall weisser oder röthlich-weisser auf der Oberfläche noch mit Schleim-
haut bedeckter, härterer oder weicherer Aftermasse, welche die Darmwand durch-
dringt und auf der Serosa im Bereiche des Ringes in flachen Tuberositäten sich
verwölbt. Auf der Innenfläche entsteht zwischen den Rändern durch Zerfall und
Ulceration eine Rinne, in deren Grunde sich zottiges, zerfallendes Gewebe der After-
masse findet. Bisweilen jedoch erscheint das Carcinom als Aftermasse, Avelche in
grösserer Ausdehnung die Darmwand substituirt, eine namhaftere Verdickung der
letzteren herbeiführt und einen bedeutenderen Umfang annimmt. Auch in diesen
Fällen sind es medulläre Massen, welche nach innen zu zerfallen und zur Bildung
grösserer Jauchehöhlen an Stelle des Darmrohres führen. Seltener sind jene Fälle,
bei denen, ähnlich wie im Magen, grössere Strecken des Darmes oder der ganze
48 NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE.
Dickdarm in ein starres, enges Rohr mit fibrösen "Wandungen und verdickter Serosa
umgewandelt werden.
Im Anfange ist das krebsig degenerirte Darmstück frei. Die Strictur macht
sieb durch eine theilweise Knickung oder durch eine ringförmige Einschnürung von
aussen her erkennbar. Am Ansätze des Gekröses pflegen einzelne kleinere Krebs-
knoten auf der Serosa zu sitzen. Bewegliche Därme können zu dieser Zeit in das
Hypogastrium oder in das Becken hinabsinken und dort fixirt werden. Späterhin
verwächst der Darm mit den Nachbargebilden, mit der Bauchwand, der Wirbelsäule,
mit dem Kreuzbein. Die Aftermasse greift auf die mit dem entarteten Darme ver-
wachsenen Grebilde über und durchbricht die Wandungen von Hohlorganen, so vom
Rectum aus die Harnblase, die Vagina, selbst den Uterus oder angewachsene Dünn-
därme, vom Colon transversum den Magen, oder es infiltrirt die Nachbargewebe,
so das periproctale und subseröse Zellgewebe des Beckens bei fibrösen Krebsen des
Rectums, so dass letzteres in eine feste, fibröse Masse wie eingemauert erscheint.
Die Darmkrebse bleiben in der Mehrzahl der Fälle auf eine kleine Strecke
des Darmes beschränkt. Bisweilen sind sie so klein und so derb faserig, dass man
geneigt sein könnte sie für einfache Narben zu halten, wenn sich nicht die charak-
teristischen Knötchen an der Serosa und Metastasen in den Lymphdrüsen fänden.
Die weicheren, ringförmigen Krebse können dagegen wieder so weit zerfallen, dass
sie geschwürige Flächen bilden, deren Grund ziemlich glatt und in deren dünnen
Rändern von einer Aftermasse nichts zu sehen ist. Andererseits können sich durch
Verwachsungen und durch nachfolgenden Zerfall umfängliche Jauchehöhlen bilden,
die mit verschiedenen Hohlorganen communiciren oder auch nach Durchbruch der
Bauchwand sich nach aussen eröffnen.
Die wichtigste und häufigste Veränderung, welche durch den Darmkrebs gesetzt
wird, ist die Behinderung der Wegsamkeit des Darmrohres. Diese geschieht in den
seltensten Fällen durch die Grösse oder Gestalt der Geschwulst oder durch Ver-
lagerung und Knickung des Darmes. In den meisten Fällen ist es eine Strictur
des Darmes durch das neugebildete fibröse Gewebe der Aftermasse. Das Darm-
rohr wird kaum für den Finger passirbar, in hochgradigen Fällen sogar bis auf
Federkieldicke verengert. Der darüber liegende Darm wird in Folge dessen in seiner
Muscularis hypertrophiren und sich aUmälig ausweiten. In günstigen Fällen kann
die Geschwulst zerfallen und dadurch wieder eine leidliche Wegsamkeit hergestellt
werden, oder es bildet sich, wie oben erwähnt, ein Jauchecavum, in welches sich die
ober der Strictur liegenden Darmpartien entleeren, so dass dadurch für den Darm-
inhalt ein Reservoir entsteht, das sich allmälig durch das Rectum oder auch durch
eine auf ulcerativem Wege entstandene Oeffnung nach aussen entleert. Bleibt aber
die Strictur bestehen und nimmt die Verengerung sogar zu, so wird sich der Darm
nur entleeren können, wenn er dünnbreiigen oder flüssigen Inhalt enthält. Dies
würde durch einen Catarrh begünstigt, und es gibt auch Fälle, wo durch solche Ver-
hältnisse eine Darmstrictur sich weniger fühlbar macht. Der gewöhnliche Verlauf
ist jedoch der, dass die Hypertrophie der Muscularis im Laufe der Zeit nicht mehr
genügt, dass die Dilation des Darmes immermehr überhand nimmt, und dass
durch die Kothstauung die katarrhalische Affection der Schleimhaut immer intensiver
wird. Der schliessliche Ausgang solcher Fälle ist Darmparalyse mit Ileus, Peri-
tonitis, Darmperforation aus Ulceration oder Darmzerreissung. Der Darm über der
Strictur ist ungeheuer ausgedehnt, so dass der Dickdarm 3 5 — 40 cm im Umfang
erreichen kann. Die Serosa ist dunkelroth injicirt. Der Darm ist schwer und ent-
hält Unmassen breiigen, fäculenten, gallig gefärbten, schaumigen Inhaltes, der nach
oben zu dünnflüssiger wird und sich bis in den Magen entleert. Ueber der Strictur
ist die Darmschleimhaut auf der Muscularis gespannt, stellenweise ecchymosirt, hie
und da oberflächlich verschorft und mit länglich rundlichen Substanzverlusten ver-
sehen, deren Ränder suffundirt sind; die Basis der Geschwüre ist glatt (Decubitus,
stercorale Geschwüre.) Die Serosa darüber ist mit fibrinösen Lamellen bekleidet.
Bisweilen sieht man an einer oder mehreren Stellen die Serosa auseinander weichen,
NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE. 49
ebenso die darunter liegenden Bündeln der Muskelliaut, und aus dem Spalt drängt
sich als feiuzottiger Saum die durclirissene Mucosa hervor. In dem letzteren Falle
tindet sich auch der fäculente Inhalt, nicht immer aber Gas, in der Bauchhöhle
zwischen den Darmschlingen vertheilt. Die Darmpartien unter der Strictur sind
contrahirt und leer.
Das Rectum ist wohl der Darmtheil, wo Carcinome sich am häutigsten ent-
wickeln. Unter 1(35 Carcinomen des Darmes zähle ich 81 Mastdarmkrebse, also 49 "/q
der Darmkrebse. Ihm zunächst reiht sich an das Colon und die Flexura sigmoidea
mit 32 und '60 Fällen, das Coecum mit 12, Ileum mit 6, Duodenum mit 3, Processus
vermiformis mit einem Falle. Die primären Duodenalkrebse sind meist Cylinderzellen-
krebse und gehören zu den Seltenheiten. Vom Ductus choledochus oder vom Pancreas
auf das Duodenum übergreifende Carcinome können primäre Duodenalkrebse vortäuschen.
Im Rectum trifft man bisweilen den Plattenepithelkrebs oder das Cancroid, ausgehend
von dem Pflasteropithel an der Analöffnung. Er erscheint als Geschwulst mit knolli-
ger oder blumenkohlähnlicher Oberfläche und umfasst bisweilen den ganzen Anus.
Es greifen aber auch Cancroide der Haut der Schamlippen oder der Analgegend
auf das unterste Eectumstück über.
Secundäre Krebsbildung findet sich im Darme hauptsächlich durch Fort-
leitung von Xachbarorganen, so vom Magen auf den Querdarm; vom Ductus chole-
dochus, von der Gallenblase und dem Pankreas auf das Duodenum; von der Gallen-
blase auf die Flexura hepatica des Dickdarmes; vom Uterus und der Vagina auf das
Rectum. Metastasen des Darmkrebses entwickeln sich zuerst in den benachbarten
Lymphdrüsen, aber auch in der Leber, in den Lungen und Knochen.
Bei Gelegenheit der Besprechung der Darmkrebse sei hier ein kleiner Ueber-
blick über die Häufigkeit des Krebses im Darmtr actus und in seinen ein-
zelnen Theilen gestattet. Bei 21624 Sectionen, von denen ich den grössten Theil
gesehen und mehr als die Hälfte selbst vorgenommen habe, fand sich als unmittelbare
Todesursache in 2070 Fällen Neoplasmen. Von diesen 2070 Fällen, welche 9'57^/q
aller Sectionen ausmachen, waren 1744 Carcinome, also 84°/q aller Neoplasmen.
Von den 1744 Carcinomen entfielen 912 Carcinome, demnach 52 ''/q, auf den Darm-
tractus von der Zunge angefangen bis zur Analöffnung.
Im Verlaufe des Darmtractus vertheilten sich die Krebse der Zahl nach in folgender
Weise :
Zunge 37
Pharynx 34
Oesophagus 136
Magen 540
Duodenum 3
Ileum 6
Coecum 12
Processus vermiformis . . 1
Colon 32
S romanum 30
Rectum 81
Es steht demnach obenan derMagen mit 59'2%, dann folgen Oesophagus mit 149%,
Rectum mit 8'9**/o, Zunge mit 4%, Pharynx mit 3-7°/o, Colon mit 3 5"/,,, S romanum mit
3'3%, Coecum mit 1"3%. Im Ileum und Duodenum so wie im Processus vermiformis ge-
hören die Krebse zu den Seltenheiten, dagegen machen die 540 Magenkrebse 2-5°/o der
21624 Sectionen aus, woraus die ausserordentliche Häufigkeit des Magenkrebses erhellt.
3. Leber, Gallenblase^ Gallenwege.
Die Geschwülste der Leber, welche vom praktischen Standpunkte am wich-
tigsten sind, die Carcinome und Sarkome wurden bereits im Artikel „Leöe?--
carcmom'' (Bd. II, pag. 475 — 490), sowohl in klinischer als auch in pathologisch-
anatomischer Hinsicht besprochen.
Von den sogenannten gutartigen Geschwülsten sind primäre Fibrome und
Lipome ausserordentlich selten und meist sehr klein.
Bibl. med. Wissenschaften. I, Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 4
50 NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE.
Ich sah als zufälligen Befund in einer Leber ziemlich zahlreiche Lipome als kugelige,
scharfbegrenzte, 3—4 cm im Durchmesser haltende Geschwülste, welche das benachbarte
Lebergewebe verdrängten. Mikroskopisch erwiesen sie sich als aus reinem Fettgewebe be-
stellend, wie sie ja auch makroskopisch die fettgelbe Farbe und den fettigen Glanz des
Fettgewebes deutlich zeigten.
Ein ziemlich häufiger Befund sind die Tumor es cavernosi, Cavernome
oder Angiome. Man sieht sie zumeist als halblinsen- bis bohnengrosse, scliwarz-
rothe oder blauschwarze Flecken auf der Leberoberfläche, bisweilen . in mehreren
Exemplaren und von verschiedener Grösse in demselben Organ. Manchmal promi-
niren sie, viel häufiger sind sie leicht eingesunken. Beim Durchschneiden derselben
quillt flüssiges, schwarzrothes Blut hervor. Nach dem Ansspülen des Blutes kann
man bei den grösseren schon mit freiem Auge das grauweisse Maschenwerk sehen.
Grosse Cavernome veröden bisweilen durch Schwielenbildung im Inneren der Ge-
schwulst.
Ausnahmsweise erreichen diese Geschwülste auch eine monströse Grösse. Birgh-
HiRSCHFELD erwähnt in seinem Lehrbuch der pathologischen Anatomie ein Lebercavernom
von der Grösse eines schwangeren Uterus. Ich secirte ein solches, bei dem vom Leber-
gewebe kaum Spuren nachweisbar waren und welches ein Gewicht von 22 Kilo erreichte.
V. EiSELSBERG entfernte durch Laparotomie ein 720 ffr schweres Cavernom.
Die in der Leber vorkommenden Cysten mit serösem Inhalt werden als an-
geborene Retentionscysten normaler Gallengänge oder adenomatöser Gallengangs-
wucherungen angesehen. Enthalten sie gallig gefärbten, mit Cholestearin gemengten
Inhalt, dann sind sie erst später erworben und ihre Entstehung aus Gallengängen
kann mit Sicherheit behauptet werden.
Von den in der Gallenblase vorkommenden Geschwülsten kommt wohl nur
das primäre Carcinom in Betracht. Von diesem kommen sowohl weiche als
harte Formen vor. Die weichen Carcinome erreichen als Geschwülste manchmal
eine beträchtliche Grösse. Bisweilen wachsen sie papillär mit zottiger Oberfläche
in die Höhle der Gallenblase aus. Die harten Krebse erscheinen meist als fibröse
Verdickung von 2 — 6 mm Mächtigkeit der ganzen Gallenblasenwand oder eines
Theiles derselben, besonders im Vertex der Gallenblase. Die Wand ist dadurch
starr, sehr häufig schrumpft sie auch beträchtlich zusammen, manchmal bis fast zum
vollständigen Verschwinden des Gallenblasenlumens. In der Leber schliesst sich
meist unmittelbar an die Gallenblase entweder ein grösserer Krebsknoten oder eine
Gruppe kleinerer solcher an, oder das Infiltrat der Blasenwand geht in ein ausge-
dehnteres Krebsinfiltrat der Leber über, so dass die Grenzen der Gallenblase völlig
verschwinden können. In den meisten Fällen von Gallenblasenkrebs finden sich
Concremente (Gallensteine) in der Blase; bisweilen sind dieselben eng umschlossen
von der schrumpfenden Blasenwand. Dieses häufige Zusammentreifen von Krebs und
Gallensteinen macht es wahrscheinlich, dass die Concrementbildung den Anstoss zur
Entstehung der Carcinoms gibt. Der Gallenblasenkrebs greift manchmal direct
auf das Peritoneum der vorderen Bauchwand oder auf angewachsene Darmschlingen
über und verursacht zahlreiche Metastasen in der Peritonealhöhle und in der Leber.
Auch in den Gallenwegen ist das Carcinom die einzige Geschwulst von
Bedeutung, da andere Geschwulstarten zu den seltensten Vorkommnissen zählen.
Der Krebs tritt in den grossen Gallenwegen • — Ductus cysticus, choledochus und
hepaticus — meist als ein Infiltrat eines Theiles oder des ganzen ümfanges der
Gallengangswand in der Ausdehnung von 5 — 15 mm auf. Das Infiltrat ist weisslich,
hart, auf seiner Oberfläche flachhöckerig. Durch die Höckerung der Oberfläche,
aber auch durch Schrumpfung der Neubildung wird der Gallengang schwer durch-
gängig oder ganz geschlossen. Wie aus dem Angeführten ersichtlich ist, sind die
Gallengangkrebse meist fibröse Carcinome oder Scirrhi. Sie sitzen mit Vorliebe
an der Zusammenflussstelle des Ductus hepaticus und cysticus. Es werden jedoch
auch medulläre und Gallertkrebse beobachtet.
Secundäre Carcinome der Gallengänge entwickeln sich durch directes üeber-
greifen von Carcinomen des Pankreas und des Duodenums, auch von der Gallen-
blase und der Leber, selten vom Magen.
NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE. 51
Carcinom des Ductus liepaticus und choledoclius werden durch Verlegung der
Gallenwege immer Gallenstauung, bisweilen mit enormer Ausweitung der Gallenwege
und hochgradigem Icterus veranlassen.
4. Pankreas.
Im Pankreas erscheint als Geschwulst von Bedeutung nur das Carcinom. Der
Medullarkrebs ist selten, kann aber eine beträchtliche Grösse erreichen; auch der
Gallertkrebs kommt nur ausnahmsweise vor; gewöhnlich ist der Pankreaskrebs ein
fibröser Krebs. Meist rindet er sich im Kopfe des Pankreas, seltener im Schweife
oder er nimmt die ganze Drüse ein. Wenn er auch meist keine erhebliche Grösse
erreicht, so führt er doch durch das Uebergreifen auf die Xachbargebilde die mannig-
fachsten Complicationen herbei. Magen, Duodenum, Ductus choledochus sind die
am häufigsten Betroffenen; besonders leicht wird der Ductus choledochus comprimirt
und dadurch Gallenstauung herbeigeführt. Aber auch die Venen, so die Vena lie-
nalis können eine Compression erleiden oder von der Aftermasse durchbrochen werden,
woraus sich Thrombenbildung und Circulationsstörungen (hämorrhagische Infarcirung
der Milz) ergeben. Durch einen Krebs des Pankreaskopfes wird auch meist der
Ausführungsgang des Pankreas verengert oder ganz undurchgängig und der Ductus
Wirsungianus bis in seine Aestchen durch Secretstauung mehr oder weniger dilatirt.
Metastasenbildungen sind bei Pankreaskrebsen in der Piegel nur in den nächsten
Lymphdrüsen und bei weicheren Formen auch in der Leber zu finden. Die Krebse
des Pankreaskopfes können gewöhnlich durch die Bauchdecken hindurch getastet
werden, die Carcinome der Cauda dagegen, besonders die schrumpfenden Scirrhi
entziehen sich durch ihre anatomische Lage der Untersuchung und werden klinisch
meist nicht diagnosticirt. Histologisch erweist sich das Pankreascarcinom als Drüsen-
krebs, bei dem das Stroma in den meisten Fällen ziemlich stark entwickelt ist, beim
Scirrhus treten die epithelialen Elemente fast vollständig zurück. Es sind aber auch
Cylinderzellenkrebse beobachtet worden, welche von den Ausführungsgängen ihren
Ausgang nehmen und auch Metastasen mit Cylinderzellen bilden.
Primäre Sarcome des Pankreas gehören zu den grössten Seltenheiten.
Secundäre Sarcome^ besonders melanotische Sarcome können bisweilen vorkommen,
so auch Carcinoma.
In Kürze seien hier noch die Cystenbüdungen des Pankreas angedeutet, zunächst
deshalb, weil sie sich manchmal durch ihre Grösse dem Kliniker als Geschwülste
bemerkbar machen. In der Mehrzahl der Fälle sind sie allerdings weder Geschwülste
im engeren Sinne, noch Neoplasmen. Secretstauung aus irgend einer Ursache, Blu-
tungen, entzündliche Processe können solche Höhlenbildungen bedingen. Es ist aber
auch denkbar, dass sich Cysten bedeutenderer Grösse aus Cystadenomen des Pan-
creas entwickeln.
5. Milz.
Wenn man absieht von den durch Leukämie und Pseudoleukämie bedingten
Hyperplasien der Milz, so wird man eigentliche primäre Geschwülste in der Mik
sehr selten beobachten. Fibrome der Milz wurden von Eokitanskt und Willige
beschrieben; Weichselbaum beobachtete ein Fibrosarcom. Fükstek und Eokitanskt
erwähnen cavernöse Tumoren^ Langhaus sah ein grosses cavernöses Ängiom, an-
geblich traumatischen Ursprunges, l)ei gleichzeitigem Vorhandensein ähnlicher Ge-
schwülste in der Leber. Barbacci fand multiple Lymphangiome. Ab und zu kann
man auch Cysten von Erbsen- selten von Kirschengrösse in der Milz finden. Der
Inhalt ist bald rein wässerig, bald breiig, chocoladebraun, oder auch blutig. Die
Cysten mit rein wässerigem Inhalt haben fast immer eine dünne, membranöse Wand
mit glatter Innenfläche. Andere haben sowie die mit breiigem, braunem Inhalt eine
mehr oder weniger dicke fibröse, manchmal gelbbraun pigmentirte Wand. Während
der Ursprung der ersterwähnten Cysten sich meist schwierig erweisen lässt, kann
man die letztgenannten Cysten ziemlich häufig auf erweichte, verödende, anämisch-
necrotische Herde zurückführen.
Secundäre Geschwülste entwickeln sich in der Milz nicht oft.
4,*
52 NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE.
6. Nieren.
Grosse fibröse Geschwülste gehören in den Nieren zu den seltensten Befunden,
Dagegen findet man in den Pyramiden der Nieren ziemlich häufig vereinzelte hanf-
korngrosse weisse, scharfbegrenzte, sehr harte Knötchen, die aus sehr dichtem, fein-
faserigen Bindegewebe bestehen; seltener sind sie in der Rindensubstanz.
Bemerk ensw^erth sind die, freilich auch selten vorkommenden Teleangiektasien
des Nierenbeckens, die durch schwere Blutungen gefährlich werden können.
Sarcome sind als Spindelzellen- und Rundzellensarcome in den Nieren
beobachtet worden; doch kann das Sarcomgewebe mit fibrösem oder myxomatösem
Gewebe untermengt sein. Auch Cystosarcome werden erwähnt (Oeth). Die Sarcome
finden sich gar nicht selten schon bei Kindern in den ersten Lebensjahren und er-
reichen mehr als Mannskopfgrösse bei einem Gewichte bis zu mehreren Kilogramm.
Sie sind rundliche, bisweilen tuberöse Geschwülste von meist weicher Consistenz,
welche das Nierengewebe allmälig verdrängen und die Nierenkapsel ausdehnen, so
dass schliesslich vom Nierengewebe nur dünne, ausgezerrte Schichten an der
Peripherie des Tumors übrig bleiben. Bei so grossen Geschwülsten sieht man auch
bisweilen, dass die Aftermasse in das Nierenbecken hineinwächst oder in der
Reualvene weiterwuchert. Auf Durchschnitten findet man das Geschwulstgewebe von
Blutungen durchsetzt oder in grösseren Strecken fettiggelb necrosirt, manchmal mehr
trocken, manchmal erweicht.
In den bei Kindern vorkommenden Sarcomen sind mehrfach glatte oder quer-
gestreifte Muskelfasern, aber auch beide nebeneinander in einem Tumor nachgewiesen
worden, ein Umstand, der darauf hinweisen würde, dass ein Theil dieser Geschwülste
jedenfalls congenital ist und erst später zur weiteren Entwicklung gelangte, und
dass einzelne Fälle in einem Vitium primae formationis ihre Ursache haben.
Adenome kommen als grauweisse miliare Knötchen manchmal multipel in der
Binde vor und sind den miliaren Tuberkelknötchen sehr ähnlich, nur etwas schärfer
begrenzt. Meist sind sie jedoch vereinzelt, höhnen- bis haselnussgross, in der Rinde
oder über die Oberfläche hervorragend, jedoch von der Nierenkapsel überzogen.
Das Gewebe ist weich, gelb bis ziegelroth, stellenweise blutroth oder rostbraun,
manchmal von ausgedehnteren Blutungen zerstört. Der histologische Bau ist nicht
immer gleich. Bei der einen Art findet man eine mehr tubuläre oder alveoläre
Anordnung der Epithelzellen zwischen dem Bindegewebe, während bei der anderen
die Hohlräume grösser sind und von der Wand der Hohlräume zapfenartig oder
verästigt das Bindegewebe auswächst; die Hohlräume sind von cubischem Epithel
ausgekleidet, welches auch die papillenartigen Auswüchse überzieht. Weichselbaüm
und Geeenish unterscheiden demnach auch ein alveoläres und ein papilläres Adenom
der Niere und nehmen an, dass das alveoläre Adenom von den Tubulis contortis,
das papilläre von den Sammelcanälchen der Rinde aus geht.
In den Nieren findet sich nicht gar so selten eine Geschwulstart, welche in ihrem
makroskopischen Aussehen den Lipomen oder den stark fettig degenerirten Adenomen
ähnlich sehen kann, deren Natur erst durch Grawitz genauer bekannt geworden ist.
Mikroskopisch ist der Bau ähnlich den alveolären oder tubulären Adenom, nur sind die
Epithelzellen dadurch auffällig, dass sie fast durchwegs grosse Fetttropfen einschliessen.
Das meist ziemlich spärliche interstitielle Gewebe besteht manchmal aus wirklichem Fett-
gewebe, und dadurch ist die Aehnlichkeit mit dem Lipom bedingt. Grawitz hat nun
nachgewiesen, dass diese Art von Geschwülsten aus versprengten Nebennierenkeimen hervor-
gehe und nennt sie Strumae suprarenales lipomatodes aherratae, weil sie in ihrem Bau
den in der Nebenniere vorkommenden Strumen gleichen. Aus diesen Geschwülsten können
bisweilen maligne, meist sarcomatöse, Metastasen bildende Tumoren hervorgehen.
Wie das Adenom überhaupt kann auch das Adenom der Niere carcinomatös
degeneriren. Entsprechend den zwei Arten des Adenomes wird sich aus dem
alveolären Adenom ein Carcinoma simplex, aus dem papillären ein Adenocarcinoma
papilläre entwickeln, die in der Regel makroskopisch schon unterscheidbar sind.
Das erstere ist auf der Schnittfläche weiss, massig weich und lässt den alveolären
Bau im Groben schon erkennen. Das papilläre Adenocarcinom ist meist sehr weich,
häufig von Blutungen durchsetzt und unter Wasser löst sich die Aftermasse in ein
sehr feinzottiges Gewebe auf.
NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE. 53
Das Carchiom erscheint in der Niere in der Kegel als rundliche oder knollige,
umschriebene oder abgekapselte Geschwulst bis zu enormer Grösse, welche die
Niere zum Theile einnimmt oder aber vollständig bis auf geringe Reste substituirt.
Meist wird das Nierengewebe durch die wachsende Geschwulst verdrängt. Das
Nierencarcinom tritt einseitig auf, doch kann es auch bilateral vorkommen und dann
ist die Geschwulst der einen Seite erheblicli grösser als die der anderen. Grössere
Geschwülste sind durch Bindegewebssepta in kleinere Knollen getrennt; die jüngeren
Partien der Geschwulst bieten das bekannte Aussehen des medullären oder fibrösen
Krebses; zumeist ist das Carcinom medullär. In den älteren Partien finden sich die
mannigfachsten regressiven Metamorphosen als: fettige Degeneration, schleimige Er-
weichung mit cystoiden Höhlenbildungen, Verkallvung des Bindegewebes, frische
Blutungen und Residuen von solchen. Der Nierenkrebs kommt in höherem Alter,
aber auch sehr häufig bei Kindern vor.
Während der knotige Krebs in der Niere der häufigere ist, kommt der
infiltrirte Krebs nur ausnahmsweise vor. Bei diesen findet sich die Aftermasse an einer
Stelle als markig weisses Gewebe in einem grösseren oder kleineren Herde, welcher
an den Randpartien keine scharfe Abgrenzung findet, sondern durch allmälige Farben-
übergäuge in das benachbarte l^ierengewebe übergeht. An den Uebergangspartien,
die nicht immer nach allen Seiten bin von gleicher Ausdehnung sind, erscheint das
Gewebe ähnlich dem Rindengrau eines blasseren Gehirnes.
Nicht unerwähnt dürfen hier jene selten vorkommenden Krebse bleiben, welche vom
Becken oder von den Kelchen der Niere beziehungsweise von deren Epithel ausgehen.
Entsprechend ihrem Mutterboden sind diese von Kundrat zuerst beschriebenen Krebse
Plattenepithelkrebse, welche vom Nierenhilus in die Niere hineinwachsen. Sie zeichnen
sich durch weisse Farbe, ziemliche Trockenheit und grobe Körnung der Schnittfläche aus.
Die Körnchen lassen sich sehr leicht als ziemlich feste Gebilde aus kleinen Alveolen heraus-
heben und bestehen aus concentrisch geschichteten, manchmal fast verhornten Platten-
epithelzellen.
Secundäre Geschwulstbildungen?
7. Nehennieren.
Vergrösserungen der Nebennieren sind bereits von älteren pathologischen Ana-
tomen verzeichnet. Virchow hat die Vergrösserungen der Nebennieren mit dem
Namen Struma suprarenalis bezeichnet und eine diffuse und eine knotige Form
unterschieden. Die Knoten sind meist erbsengross, können aber bis wallnussgross
werden; auf dem Durchschnitt sind sie schwefel- oder citronengelb, braun, braun-
grün oder röthlichgrau, meist von weicher Consistenz wie die Nebennierenrinde, bis-
weilen ziemlich dicht, stellenweise selbst knorpelartig hart. Während die weichen
Knoten fast wie Lipome aussehen, erinnern die harten dichten Stellen an die fibrösen
Knoten in der Schilddrüse. Diese Knoten können, wie Viechow annimmt, cystisch
erweichen oder verkalken. Mikroskopisch finden sich in den Knoten längliche, ästige
und gewundene Zellreihen wie in der Rinde der Nebennieren; die Zellen zumeist in
weit vorgeschrittener fettiger Degeneration.
Einen ausserordentlichen Fall excessiver allgemeiner Hyperplasie der Nebennieren
beschreibt Marchand, bei welchem die eine Nebenniere in ihren einzelnen Durchmessern
8"6 und 3 cm mass, die andere war etwas weniges kleiner. Die Nebennieren zeigten keine
Differenzirung von Mark und Rinde.
Die von Yiechow beschriebenen Gliome sind erbsen- bis kirschgrosse meist
multipel auftretende von der Marksubstanz ausgehende Geschwülstchen, welche aus
sehr zarten, blassen, schwach körnigen, theils sternförmigen, theils unregelmässigen
Zellen mit verhältnismässig grossen Kernen und Kernkörperchen bestehen. Weichsel-
baum beobachtete ein gangliöses Neurom aus Nervenfasern und Ganglienzellen be-
stehend, Dagonet eine Geschwulst, welche faseriges Bindegewebe, Ganglienzellen und
glatte Muskelfasern enthielt {Ganglio-Fibromyoni).
Ausser Lipomen kommen ISarcome, Myxosarcome, Ängiosarcome, Melanosar-
conie vor.
Primäre Krebse und krebsähnliche Geschwülste sind mehrfach beschrieben
worden. Secundär findet sich der Krebs in den Nebennieren sowohl fortgeleitet als
54 NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE.
auch metastatiscli. Bemerkenswerth ist das gleichzeitige Yorkommen von Krebs der
Nebennieren und der Geschlechtsorgane.
<S. Peritoneum.
Die vom Peritoneum oder vom subserösen Zellgewebe ausgehenden Binde-
substanzgeschwülste sind nicht sehr häufig. Bei allgemeiner Fettleibigkeit können
allerdings die Wucherungen des Fettgewebes im grossen Netz und im Gekröse die
Dimensionen umfänglicherer Geschwülste annehmen; die Appendices epiploicae stellen
dabei einen ansehnlichen Behang des Dickdarmes dar, indem die einzelnen manchmal
bis zur Walluussgrösse anwachsen und oft ziemlich lang gestielt sind. Es finden sich
aber auch bisweilen bei ganz abgemagerten Individuen kugelige, lappige oder zungen-
förmige Lipome im Netze oder Mesocolon transversum isolirt vor, die sich durch
ihre helle, rein fettgelbe Farbe auszeichnen.
Grössere Lipome^ Mijxome, Mi/xolipome, Fibrome und Fibrosarcome können vom
retroperitonealen Zellgewebe ausgehen, in dem sich auch Sarcome von beträchtlicher
Grösse entwickeln. Als Seltenheiten seien die von Rokitanskt erwähnten cavernösen
Blutgeschwülste des Peritoneums und das von "Weichselbattm beschriebene Chylan-
gioma cavernosum angeführt. Die von Waldeyee als plexiforme Angio-Sarcome be-
zeichneten Geschwülste können ihrem Aussehen und ihrer Ausbreitung nach sehr
leicht mit dem Gallertkrebs verwechselt werden. Es sind gallertige, flächenhaft sich
ausbreitende Sarcome, bei denen es zu einer reichlichen Gefässneubilduug und
Wucherung von Schleimgewebe mit gleichzeitiger Umwandlung der Gefässwandung-
kommt.
Das Endotheliom (Endothelialcarcinom) erscheint auf dem Peritoneum in ähn-
licher Art w'ie auf der Pleura, weniger in Form von multiplen, umschriebenen Ge-
schwülsten, sondern häufiger als ungleichmässige höckrige Verdickung der Serosa,
Bei den festeren, fibrösen Formen kommt es zu einer starken Schrumpfung des
Netzes und Gekröses. Seröse, serös-hämorrhagische Peritonitis sind in der Regel
begleitende Processe.
Die ab und zu vorkommenden Dermoidcysten und Teratome seien nur nebenbei
erwähnt.
Secundäre Geschwülste — Sarcome, Melanosarcome, Carcinome — finden
sich ziemlich häufig, oft in enormer Zahl und Ausbreitung und von verschiedenster
Grösse auf dem Peritoneum und im Netze. Die Sarcome finden sich immer als
Knötchen von miliarer Grösse an bis zu Taubeneigrösse und darüber und durch-
setzen dabei insbesondere das Netz ganz dicht, so dass sie oft confluiren. Besonders,
merkwürdig sehen die weissgrauen bis grauschwarzen Massen des metastatischen
Melanosarcoms aus, durch welche das Netz zu ausserordentlichem Umfange anwachsen
kann, während das Peritoneum zwischen den Knoten schwarz gefleckt und wie mit
Tusche gesprenkelt erscheint.
Das metastatische Carciiiom des Bauchfells kann ein sehr mannigfaches Aus-
sehen darbieten. Zunächst kann es sowie das Sarcom in Form multipler Knoten
erscheinen. Die Knoten können weich sein und dann werden sie in der Regel auch
grösser. Die härteren Carcinome gehen meist mit Bindegewebswucherung auf dem
Bauchfell einher. Diese Bindegewebswucherung beschränkt sich auf die nächste Um-
gebung der einzelnen meist hirsekorn- bis linsengrossen, grauweissen bis markigweissen
flachen Knoten, wobei sich das Bindegewebe strahhg gegen den Knoten zusammen-
zieht; oder aber das Bindegewebe wächst maschenförmig oder balkenartig von Knoten
zu Knoten oder überkleidet als dichte, hellgraue, schiefergraue, bis grauschwarze
Schichte die Serosa und führt zu Schrumpfungen des Netzes und Gekröses und auch
des serösen Darmüberzuges. Das Netz wird zu einem daumendicken, harten wul-
stigen Saume am Querdarme umgewandelt, das kleine Netz wird zu einer dicken
fibrösen Platte und zieht den Magen unter die Leber hinauf, das Gekröse stellt eine
niedrige, starre, eng zusammengefaltete Krause dar, au der die Dünndarmsclilingen
dicht aneinandergedrängt sind. Magen und Gedärme sind durch die dicke Serosa
NEUBILDUNGEN INNERER ORGANE, 55
contrahirt, so dass man bisweilen das zusammengeballte Dünndarm convolut leicht mit
zwei Handtiächen zudecken kann. Die Bauchwand liegt den Därmen manchmal an,
kann sogar mit ihnen venvachsen. Es kann sich aber auch sehr viel Flüssigkeit im
ßauchraum ansammeln, nach deren Abfliessen erst die Därme sichtbar werden. Auf
dem Bauchfell, beziehungsweise in den Pseudomembranen findet man die Carcinom-
knötchen, die meist klein und ungleich gross sind, manchmal aber gleich den miliaren
Tuberkelknötchen ganz dicht als durchscheinende, kaum stecknadelkopfgrosse Knöt-
chen auf der Fläche gleichmässig ausgesäet sind. Bisweilen wird die Unterscheidung
solcher Krebsmetastasen, die von chronischer Entzündung und Bindegewebswucberung
auf dem Peritoneum begleitet sind, von gewissen Fällen chronischer tuberculöser
Peritonitis ausserordentlich schwer, da die kleinen fibrösen Krebsknötchen den Tuber-
kelknötchen sehr ähnlich sehen können, und da bei der Tuberkulose anderseits das
Merkmal der Veiicäsung der Knötchen makroskopisch nicht immer wahrgenommen
werden kann.
Das Gallertcarclnoin bildet sehr häufig eine gleichmässige mehrere Millimeter
bis daumendicke, gallertige, körnige und höckerige Auflagerung auf dem Peritoneum,
deren Färbung bald gelblich bald durch Injection oder Blutung mehr röthlich oder
roth ist. Das Omentum majus kann hiebei durch massige Entwicklung des Neo-
plasmas einen monströsen Umfang erreichen.
Eine gallertige Schichte auf dem Peritoneum und zwischen den Darmschlingen
findet sich auch bei dem sogenannten Pseudomtjxoma peritonei, welches zuerst
Werthner und in jüngster Zeit Waitz beschrieben haben. Das sind Gallertschichten,
welche durch ihre eigenthümliche Vertheilung auf der Serosa des Bauchraumes eine
myxomatöse Geschwulst vortäuschen, selbst aber nicMs anderes sind, als der colloide
Inhalt, welcher nach dem Platzen einer Ovarialcyste austritt und sich allmälig in
der Bauchhöhle vertheilt. Unter der Gallertschichte findet man Entzündung des
Peritoneums, meist geringen Grades.
9. Lymphdrüsen des Baiichraumes.
Bezüglich der in den Lymphdrüsen des Bauchraumes vorkommenden Geschwülste
lässt sich im allgemeinen auf das von den Lymphdrüsen des Brustraumes Gesagte
verweisen. Die hier vorkommenden primären Sarcome sind eben auch nicht häufig;
die Unterscheidung der Ptundzellensarcome von den aleukaemischen Lymphadenomen
kann bisweilen Schwierigkeiten bereiten.
Secundär entwickeln sich Sarcome manchmal in allen Lymphdrüsen des
Bauchraumes und in vielen zu beträchtlicher Grösse. Dies beobachten wir nament-
lich bei Sarcomen der unteren Extremitäten bei jugendlichen Individuen, bei Sar-
comen des Hodens und bei Melanosarcomen.
Bei secundärer C arcinomentwicklung finden wir in der Regel die
zunächst betheiligten Lymphdrüsen degenerirt. So finden wir Metastasen in den
Lymphdrüsen des Epigastriums und der Porta hepatis bei Krebs des Magens, des
Pankreas, der Gallenblase, der Gallenwege und der Leber. Bei den weichen Krebsen
dieser Organe werden die Krebsmetastasen in der Regel ziemlich gross und weich.
Bei Scirrhus der betreffenden Organe sind die Drüsen manchmal kaum linsengross,
aber sehr hart. Nicht selten wird das sie umgebende Zellgewebe ungemein dicht
und schrumpft sehr stark. Dadurch können die Gallenw^ege comprimirt werden und
die Erscheinungen der Gallenstauung auftreten; in gleicher Weise kann die Pfort-
ader betroffen werden und Hydi'ops ascites sich entwickeln; es kann aber auch die
Vena cava ascendens dadurch beengt und damit die Blutcirculation in der ganzen
unteren Körperhälfte alterirt werden. Die retroperitonealen Lymphdrüsen besonders
die der Lumbaigegend degeueriren bei Carcinomen der Beckenorgane, freilich be-
obachten wir aber auch häufig bei sehr ausgebreiteten Uteruskrebsen kaum eine
Metastase in den Lymphdrüsen.
A. ZEMANN.
56 NEURALGIEEN.
Neuralgieen. Neuralgie bedeutet .^Nervenschmerz^' (viupov und aX^oc).
Ja jeder Schmerz ist an die Nerven gebunden, aber nicht jeder Nervenschmerz
ist eine Neuralgie.
Der Begriff der Neuralgie muss strenge gefasst werden. Es gehört dazu:
1. Ein eigenartiger Schmerz, der entweder ständig den Kranken
plagt und zu Paroxysmen ausartet, (remittirend), oder ganz freie Pausen hat
und anfallsweise auftritt (intermittirend).
2. Ausbreitung des Schmerzes in bestimmten Nervenbahnen,
wodurch der rein nervöse Charakter der Neuralgie gewahrt und die Isolation
der Nervenbahnen von anderen Organtheilen bestätigt wird.
3. Eine mehr dem Organismus innewohnen de, in ihm selbst
producirte Ursache, ein immanenter Reiz, welcher die Krank-
heit entstehen lässt und unterhält.
4. Das Vorhandensein von Schmerzdruckpunkten im Ver-
lauf des neuralgischen Nerven.
Es kommen vielleicht auch Neuralgieen ohne dieselben vor, jedoch ge-
hören diese Fälle zu den Ausnahmen.
Allgemeines. Die Neuralgie ist eine Krankheit der Erwachsenen; nur
selten findet man Kinder daran leiden, wie ich es einmal z. B. bei einem
Mädchen von 12 Jahren mit scrofulösem Habitus in Folge von Ueberanstren-
gung beim Turnen gesehen habe.
Bei Frauen ist vorzugsweise die Neuralgie des Trigeminus und der sen-
siblen Nerven des Kopfes und des Rumpfes vertreten, bei Männern mehr
Ischias und andere Neuralgieen der unteren Extremitäten, ein Unterschied,
der wohl auf die bei beiden Geschlechtern verschiedene Angriffspunkte schäd-
licher Reize zurückgeführt w^erden muss.
Man ist berechtigt, eine Classification der Neuralgieen in Constitu-
tion eile und accidentelle vorzunehmen. Die constitutionelle Prädispo-
sition haben Leute, deren Eltern bereits an Neuralgieen, Migräne, Gicht,
Rheumatismus, Epilepsie, Alkoholismus, Syphilis, Diabetes gelitten haben. In
diesen Fällen muss man an eine vererbte, „ungewöhnliche, abnorme Func-
tionirung des gesammten Nervensystems oder speciell einzelner Theile des
sensiblen Nervenapparates" (Eulenburg) denken. Schon die primäre An-
lage der nervösen Organe war nicht normal, demgemäss konnte sich auch
ihre Entwicklung nicht in normalen Grenzen vollziehen, und das moleculäre
Gefüge wurde zu lose und zu locker, um den täglich und stündlich einstür-
menden Reizen (Kälte, Wärme, differente Temperaturen, tellurische und atmos-
phärische Einflüsse, u. s. w. auf die Dauer zu widerstehen. Das kindliche
Alter vermochte es noch, Vv^enn eine durchaus zweckmässige, von zu grossen
krankmachenden Reizen freie Lebensweise jenem von Natur aus labilen Mole-
cular-Gefüge ernste Erschütterungen ersparte. Im späteren Alter sind solche
Reize, welche eine schwankende Gesundheit gefährden, an der Tagesordnung:
sexuelle Unsitten und Modethorheiten, Unmässigkeiten im Essen und Trinken,
Nicht-Bewegung oder üeberanstrengung u. s. w. — und jene krankhafte Dis-
position wird vermehrt, die Labilität der moleculären Verbindungen in den
Nerven wächst und wird durch eine accidentelle Schädlichkeit wie Fall, Stoss,
Quetschung, Erkältung, übergrosse psychische Erregung u. s. w. derartig
gesteigert, dass sie schliesslich als „neuralgischer Zustand," als „Neuralgie'^
zu Tage tritt.
Oft scheint die Neuralgie der einzige Ausdruck für die ererbte Dispo-
sition zu dem bestehenden Leiden zu sein. Sieht man genauer zu, so wird
man in fast allen Fällen körperliche Störungen entdecken, welche die Haut,
die Muskeln, die Blutgefässe, die Respirations- oder Digestions-Organe be-
treffen. Nicht so hochgradig sind diese Veränderungen, dass man berechtigt
wäre, sie mit Krankheitsnamen zu belegen; aber wir deuten das Vorhanden-
NEüRALGIEEN. 57
sein eines von der (jesundheit abweichenden Kürperzustandes an, indem wir
von einer „mangelhaften Function," einer „Schwäche, Trägheit," „Reizbarkeit",
„reizbaren Schwäche" dieses oder jenes Organes reden, und wenn wir dies
alles mit einem Wort zusammenfassen, so gebrauchen wir häufig den Ausdruck
^^ Nervosität. ^^
Dieser IS^ame bezeichnet den subjectiven Symptomencomplex, welchen
wir als Aeusserung der Nerventhätigkeit auffassen, die äussere Erscheinungs-
form. Das Wesen der Sache kennen wir nicht, und damit fehlt uns auch
der demselben entsprechende Name. Indessen können wir wohl mit
Kecht annehmen, dass die sogenannte „Nervosität" der Ausdruck für Stö-
rungen des Stoffwechsels ist, welche, seien sie physikalischer oder che-
mischer Art, so gering sind, dass sie sich des wissenschaftlichen Nachweises
entziehen. Wahrscheinlich haben wir es da mit den Vorstufen ausgesprochener
Krankheiten zu thun, die sich entweder zu jenen entwickeln, oder auch immer
latent bleiben. Die letzteren Fälle sind natürlich sowohl diagnostisch wie
therapeutisch am schwierigsten und stellen an die persönliche Erfahrung, an
den Takt und den Instinkt, mit einem Wort: an die Kunst des Arztes, die
höchsten Anforderungen.
Leichter ist es, die Art der Prädisposition zu erkennen, wenn sie uns
in der Form bestimmter Krankheitstypen entgegentritt. Ist für eine bestehende
Neuralgie der ursächliche Zusammenhang mit dieser constitutionellen Prädis-
position festgestellt, so gilt es therapeutisch, der Neuralgie den Nährboden
zu entziehen.
Krankheiten, welche erfahrungsgemäss einen solchen Nährboden für
Neuralgieen bilden, sind: Hysterie, Gicht und Piheumatismus, Anämie und
Chlorose, Diabetes, Malaria, Syphilis, Blei-Intoxication und das Degenerations-
stadium der Greise.
Hysterische Neuralgieen betreffen entweder die Kopfnerven, zumal
den Trigeminus, oder die Intercostal- und Visceralnerven. Niemals fehlen
andere hysterische Symptome.
Gicht und Ptheumatismus haben entschieden enge Beziehungen zu
dem neuralgischen Zustand insofern, als die damit behafteten Personen be-
sonders häufig von wirklichen Neuralgieen heimgesucht werden. Dies ist
auch kürzlich noch von Gowers in seinem bekannten Lehrbuch hervorgehoben
worden.
Anämie und Chlorose disponiren zu Kopf-Neuralgieen, zu Gastralgie
und Mastodynieen. Meist fühlen sich die Kranken relativ am besten, wenn
sie absolute Ruhe haben. Charakteristisch ist das Springen und Wechseln
der Neuralgieen von einem Nerven zum anderen.
Es ist fraglich, ob die Malaria, die Syphilis, die Bleiintoxication als
solche Neuralgieen produciren, oder ob nicht vielmehr der daraus resultirende
secundäre Zustand der Anämie daran schuld ist. Die Malaria-Neuralgie wählt
den Nervus supraorbitalis und die Intercostal-Nerven als Lieblingssitz, Chinin
ist nicht immer Heilmittel, oft heilt Arsen oder der galvanische Strom, vor
allem Klimawechsel.
Das syphilitische Virus verursacht zur Zeit seiner Verbreitung im Orga-
nismus, d. h. mehrere Wochen bis Monate nach geschehener Infection neural-
gische Zustände. Ganz kürzlich habe ich noch eine solche Neuralgie gesehen,
welche die Intercostalnerven l^etraf und im Sternum localisirt erschien; dumpfe,
lästige, beunruhigende, intermittirende Schmerzen, besonders Nachts quälend
und beim Sprechen, den Athem beengend. Sie schwanden nach zweimaliger
Application der franklin'schen Douche. Erst acht Wochen später wurde die
Inunctionscur begonnen.
In späteren Stadien der Lues ändern sich die Verhältnisse. Dann sind
es anatomisch nachweisbare Veränderungen, die in den Nerven vor sich gehen:
58 NEÜRALGIEEN.
Zeil-Infiltrationen, Entzündungen in den Nervenscheiden, im Periost oder den
Knochen, in welchen die Nerven eingebettet sind.
Neuralgieen solcher Ursache leiten uns hinüber zu jenen Zuständen,
welche eigentlich keine echten Neuralgieen sind, weil ihnen ein anatomisches
Substrat in Gestalt einer Entzündung, beziehungsweise Atrophie oder Degene-
ration zu Grunde liegt. Man spricht wohl in solchen Fällen besser von n e u-
ralgiformen Schmerzen.
Zu dieser Art der sogenannten Neuralgieen gehören die im
Greisenalter nicht so selten vorkommenden, welche mit Gedächtnisschwäche
combinirt sind und augenscheinlich auf degenerativen Processen beruhen. Die
Neuralgieen der Diabetiker werden von einigen Autoren als neuritische Vor-
gänge aufgefasst.
Immer noch unklar liegt die Sache bei allen sogenannten traumatischen
Neuralgieen. Ein Fall, Hieb, Schlag trifft den Nerven und im Anschluss
daran entsteht eine Neuralgie dieses Nerven. So sagen wir wenigstens und
bezeichnen diesen Fall als Reflexneuralgie; indessen ist es zweifelhaft,
ob es nicht vielmehr eine wirkliche Neuritis ist, welche die Schmerzen ver-
ursacht, wenn z. B. nach einer Armverletzung eine Trigeminus-Neuralgie
entsteht. In der Praxis spielen gerade diese Reflexneuralgieen eine
grosse Rolle; oft genug sind es die Verdauungs- und die weiblichen Genital-
organe, welche den Ausgangspunkt dafür bilden.
Die accidentellen Ursachen der Neuralgieen sind sehr mannig-
faltig: Erkältungen durch Wind, Kälte, feuchtes Wetter und plötzlicher Tem-
peraturwechsel können den in oben genannter Art disponirten Nerven in den
neuralgischen Zustand versetzen. Dasselbe vermögen Ueberanstr engung und
Ermüdung, starke geistige Erregung und Erschütterung, tiefe Trauer eben-
sowohl wie grosse Freude, Schreck, Angst, Furcht. Ursache und Wirkung
sind häufig zeitlich von einander getrennt, so dass Wochen und Monate da-
zwischen liegen, und der Zusammenhang dunkel wird. Erstaunlich ist mit-
unter die Geringfügigkeit der Ursache; nur im Hinblick auf die constitutio-
nelle Prädisposition darf sie uns als genügende Erklärung für eine so starke
Gleichgewichtsstörung im Organismus gelten. Nirgends mehr wie hier hat
der Satz: „kleine Ursachen, grosse Wirkungen" seine Giltigkeit. Nicht uner-
wähnt darf es bleiben, dass auch unzweckmässige und rigorose Curen mit
Wasser, Elektricität, Brunnen, Medikamenten eine nicht seltene Ursache zum
Ausbruch von Neuralgieen sind. So habe ich eine sehr schwere Trigeminus-
Neuralgie nach einer forcirten Cur in Marienbadent stehen sehen, andere nach
übertriebenen Quecksilber-Inunctionen. Auch Chinin, Eisen, Arsen in zu starken
und zu oft wiederholten Gaben machen typische Neuralgieen oder neuralgi-
forme Schmerzen.
Symptome. Aus dem Gesagten geht hervor, dass der Arzt bei allen an
Neuralgie leidenden Personen dem objectiven Befunde einen besonderen
Werth beizulegen hat. Es ist wichtig, eine vorhandene Chlorose, Syphilis,
Diabetes, Tuberkulose u. s. w. zu diagnosticiren, bevor die Therapie be-
gonnen wird.
Die einzelnen Formen der Neuralgie verrathen sich dem aufmerksamen
Arzt häufig durch das Benehmen der Kranken, wie besonders bei der Ischias
und der Trigeminus-Neuralgie (vgl. diese Artikel). Für die Brachialneural-
gieen, dies möchte ich hier gleich hinzufügen, ist nicht selten ein krampfhaftes
Einschliessen des kranken Armes in die gesunde Hand ganz charakteristisch,
weil ein festes Umfassen und Umschnüren den Schmerz betäubt.
Vasomotorische, secretorische und trophische Störungen gelangen fast
jedesmal zur Beobachtung, insbesondere bei den Trigeminusneuralgieen, deren
Anfälle fast stets durch übermässige Gesichtsröthe (seltener Blässe), Schweiss-
bildung, Thränenlaufen, Nasenträufeln, Speichelfluss ausgezeichnet sind. Auch
NEÜRALGIEEN. 59
eine Veränderung der Haut (Sprödigkeit, Abschuppung, ödematöse Anschwel-
lung) und der Haare (Grauwerden, Dünnerwerden, Haarausfall), acute Erytheme,
Periostverdickungen, Knotenbildungen {Tuhercula äolarosä) werden beobachtet.
Bei Ischias ist eine excessive Temperatur (entweder Kälte oder Wärme) der
kranken Extremität, besonders an Fuss und Unterschenkel an der Tages-
ordnung.
Charakteristisch für die Neuralgie sind die von Valleix entdeckten
Schmerzdr uckpunkte {Points douloureux). Es finden sich nämlich im
Verlauf der schmerzenden Nerven local eng begrenzte Stellen, welche bei einem
darauf ausgeübten Fingerdruck den Kranken einen mehr oder weniger heftigen
Schmerz empfinden lassen. (Für „Ischias" und „Trigeminus-Neiiralgie" v. d. betr.
Artikel.) Sie fehlen nur selten während des Anfalls, sind aber auch in der
anfallsfreien Zeit vorhanden. Die Intensität der Schmerzparoxysmen geht
indess nicht immer mit der Zahl und der Stärke des Schmerzgefühls parallel,
welches durch den Druck auf jene Punkte hervorgerufen wird.
Bei der Occipital-Neuralgie {N. cervico-occipitalis), welche in den
vier oberen Cervicalnerven ihren Sitz hat, ist meistens diejenige Stelle auf
Druck schmerzhaft, an welcher der Occipitalis maior unter die Haut tritt.
Erstrecken sich die Schmerzen auf das Ohr, so findet man Druckschmerz-
punkte in dessen Umgebung. Jede Occipital-Neuralgie muss den Gedanken
rege halten, dass diese nur ein Symptom einer Pachymeningitis, einer Wirbel-
säulen-Erkrankung oder einer Otitis ist. Gleichzeitig bestehende Lähmungen
und Sensibilitäts-Störungen werden die Diagnose beeinflussen.
Die Brachial-Neuralgie trifft den Complex der vier untern Hals-
nerven und des ersten Brachialnerven vollständig oder in seinen einzelnen
Theilen (N. axillaris, miisculo-cutaneus, radialis^ ulnaris, medianus.) Schmerz-
druckpunkte fallen im allgemeinen mit den motorischen Punkten zusammen
und sind vorzugsweise zu finden: wenn der ganze Plexus befallen ist, über
und unterhalb der Clavicula; bei Neuralgie des Axillaris da, wo sich der Nerv
um den Humerus herumwindet oder über dem Schultergelenk an mehreren
Stellen. Ist nach der Beschreibung des Kranken einer der drei Hauptnerven
des Armes ergriffen, so folge man mit dem Finger leicht drückend dessen
Verlauf und stelle die schmerzenden Punkte fest; es gibt deren viele, und sie
wechseln auch häufig, so dass die Aufzählung der einzelnen überflüssig er-
scheint und ihre Kenntnis besser durch eigene Erfahrung gewonnen wird.
Bei der Intercostalneuralgie, welche nur selten die Grenzen eines
Intercostalraumes überschreitet, findet man Schmerzdruckpunkte in der Nähe
der Wirbelsäule, annähernd in der Mitte des Bogens zwischen Sternum und
Wirbelsäule und neben dem Sternum. Die Fleurodijnie und Masiodijnie sind
Formen davon.
Die Neuralgieen der einzelnen Zweige des Plexus lumhalis sind unter
Umständen sehr schwer von einander zu unterscheiden; dazu muss man jedes-
mal von neuem anatomische Lehrbücher und Atlanten in die Hand nehmen.
Die Schmerzdruckpunkte folgen dem Verlauf der befallenen Nerven;
aus der Richtung der Verbindungslinie muss sich der Name der Neuralgie
ergeben. Das gleiche gilt von den Neuralgieen des Plexus sacralis, unter
welchen die Ischias freilich prädominirt und auch die ausgeprägtesten
Schmerzpunkte aufweist. (Vgl. den Artikel ^^Ischias'' .) Die Neuralgieen des Nervus
pudendus, welcher die Genitalien versorgt, sind nicht besonders häufig; bei
intermittirenden Schmerzen im Penis, Scrotum, Perineum, Clitoris oder Vagina
muss man daran denken.
Ueber die Bedeutung der Schmerzdruckpunkte ist viel gestrit-
ten worden, ohne endgiltige Aufklärung zu erzielen. Lender (1869) hielt sie
für „umschriebene Entztindungsheerde, deren eines Symptom Neuralgie sein
kann." Eulenburg gibt dies für einige Fälle zu, nimmt aber für andere die
60 NEURALGIEEN.
Schmerzdruckpimkte als Ausdruck von Leituugshyperästhesien an. Berücksich-
tigt man, was Valleix hervorhebt, dass Schmerzdruckpunkte vornehmlich dort
gefunden werden, wo Nervenstämme aus einer tieferen in eine oberflächliche
Schicht übergehen, und kennt man die bereits von Romberg gemachte Beob-
achtung, dass die Intensität der Neuralgie durchaus nicht der Intensität des
Schmerzdruckpunktes parallel geht, und dass ein starker Druck auf einen
Schmerzdruckpunkt sogar einen neuralgischen Anfall coupiren kann, so kommt
man zu der Einsicht, dass die Deutung derselben sehr schwierig ist und viel-
leicht von Fall zu Fall eine andere werden muss.
Wenn diese Auffassung richtig ist, und wenn die Verschiedenheit der
krankmachenden Ursachen, die Variation im Verlauf und der Wechsel der
Begleiterscheinungen mit in Betracht gezogen wird, dann führt ein Schritt
weiter bereits zu der Annahme, dass auch die anatomische Unterlage der
Neuralgie von Fall zu Fall wechseln muss.
Sicherlich gibt es viele Fälle, bei welchen am ausgeschnittenen Nerven
vom geübtesten Anatomen keine Veränderung entdeckt werden dürfte, that-
sächlich sind auch solche Untersuchungen mit negativem Resultat häufig ge-
macht worden, wobei freilich der Einwand berechtigt wäre, dass vielleicht auf
Umfang und Dicke des Nervenstammes sowie auf die Anzahl der ihn zusam-
mensetzenden Bündel und Einzelfasern nicht genug Rücksicht genommen sein
könnte. Vielleicht hatte der Nerv ein normales Aussehen, und doch müsste
man die Möglichkeit zugeben, dass er im Vergleich mit gleichnamigen Nerven
der gesunden Seite dürftig, atrophisch hätte erscheinen können, also jedenfalls
nicht gesund. Auch über das Verhalten neuralgisch afficirter Nerven gegen-
über Farbstoffen sind, soviel ich weiss, noch keine Erfahrungen gesammelt
worden, kurz — die gebotene Gelegenheit, solche Nerven zu untersuchen,
war zu selten, um die Untersuchungsmethoden, mit welchen wir die feinsten
Unterscheidungsmerkmale von gesundem und krankem Gewebe herausfinden,
zu erschöpfen. Somit liegt auch kein Grund vor, dem neuralgischen Nerven
jegliche anatomische Veränderung abzusprechen, wenn wir keine solche con-
statirt haben; wir können nur sagen, dass wir mit unseren augenblicklichen
Hilfsmitteln dazu nicht im Stande gewesen sind.
In anderen Fällen, deren klinische Erscheinung die Diagnose Neuralgie
gerechtfertigt hat, wurden an ausgeschnittenen Nervenstücken Infiltration
der Nervenscheide, Zerfall und Zerstörung der Nervenfasern und Bildung von
Bindegewebe an Stelle der geschwundenen Fasern, Verdickung der Intima
der benachbarten Blutgefässe, Schrumpfung der Nervenfasern u. s. w. gefunden,
mit einem Wort das Bild der Neuritis, beziehungsweise dessen Folgezustand,
der Degeneration (s. d.). Auch die nicht entzündliche Atrophie ist vorgekommen.
Und auch selbst für diese Fälle hat sich der Name der Neuralgie ein-
gebürgert und erhalten, obwohl die pathologisch-anatomische Grundlage, deren
Fehlen für die Neuralgie nach älteren Begriffen Voraussetzung bildet, da
ist. Diese Forderung lässt sich nicht mehr aufrecht erhalten; die fort-
schreitende Verfeinerung der Instrumente und Ausbildung der Methoden der
Gewebsuntersuchung würde bald jenen Namen auf einige wenige Fälle be-
schränken. Deshalb ist es zweckmässig, die Namengebung allein
nach dem klinischen Bilde zu vollziehen und zu gestatten,
dass unter Umständen auch eine wirkliche Neuritis einer
Neuralgie zu Grunde liegt.
Praktisch werden daher für die Diagnose folgende Gesichtspunkte in
Betracht kommen:
1. Niemals begnüge man sich mit der Diagnose Neuralgie
allein.
2. Stets forsche man so intensiv wie möglich nach dem der
Neuralgie zu Grunde liegenden Processe.
NEÜKALGIEEN. 61
In Betracht kommt dabei:
a) die consfittitionelle Prädisposition,
h) die accidenteUe Schädlichkeit.
Bezüglich a) und b) wird die Erfahrung und wissenschaftliche Forschung den
Charakter der zu Grunde liegenden Störung an die Hand geben.
c) Die Frage : wo ist der Sitz der die Neuralgie hervorbringenden Ursache ?
ist dieselbe Constitutionen? ist sie local? — im letzteren Falle: ist das
schmerzende Organ der Ausgangspunkt des Schmerzes'? — oder ist dies nur
scheinbar, ist ein fernerliegendes Organ zu beschuldigen, und welches, handelt
es sich um eine sogenannte Reflex-Neuralgie?
d) Kach Feststellung von c): sind es functionelle oder organische Ver-
änderungen der Nerven und welche? Druck von Tumoren etc. sind zu berück-
sichtigen. Danach richtet sich Therapie und Prognose.
3. Man stosse sich also nicht an dem Wort Neuralgie;
wenn man will, so setze man dafür „neuralgiformen Schmerz"
ein. Stets sei man sich jedoch dessen bewusst, dass dies eben
nur ein Wort ist, und dass die Diagnose dasselbe in jedem
einzelnen Fall zu einem individuellen Begriff zu gestalten hat.
Interessant ist nun die Frage nach der Entstehung der am meisten
charakteristischen Eigenschaft der Neuralgie, des Schmerzes. Um es be-
greiflich erscheinen zu lassen, dass eine Verletzung eines Nerven oder eine
ausgesprochene Neuritis bei der einen Person eine Neuralgie macht, bei der
anderen nicht, müssen wir auf die oben angedeutete Disposition der Individuen
zu neuralgischen Zuständen zurückgehen. Es ist wohl sicher, dass eine Ver-
letzung, Entzündung u. s. w. eines Nerven an den verschiedensten Stellen
seines Verlaufes eine Neuralgie hervorbringen kann; auch dass der Sitz der
Erkrankung im Nerven selbst ebensowohl dazu führt wie die Veränderung der
Nervenscheide (Gowers glaubt die Ursache der Neuralgie vorzugsweise an
die letztere gebunden) bedarf keines Zweifels. Allen Fällen von Neuralgie
gemeinsam ist die Weiterleitung von Störungen in den sensiblen Bahnen,
zuerst zu den Hinterhörnern des Kückenmarkes und dann weiter zum
Eindengrau, welches die Schmerzempfindung zum Bewusstsein bringt und
dadurch erst den Zustand hervorruft, den wir Schmerz nennen. Art,
Charakter, Intensität, Ausdehnung des Schmerzes müssen als durchaus von
individuellen Bedingungen abhängig gedacht werden. Die Schmerzanfälle
kann man sich mit Gowers als Einzel-Entladungen der Nervenzellen vor-
stellen. Der Piuhezustand vorher ist der zeitliche Ausdruck für die Ladung,
welche von dem jedesmaligen Krankheits-Reiz besorgt wird.
Die Prognose der Neuralgie richtet sich nach der constitutionellen
und acciden teilen Ursache, nach dem Alter, Sitz, Intensität und Dauer der
Atfection. Gowers hat sicherlich Recht, dass von allen Neuralgieen die des
Quintus am schwersten zu behandeln und zu heilen sind, und besonders dann,
möchte ich hinzufügen, wenn sie bei älteren Leuten nach dem 45. oder
50. Jahr auftreten. Der Grund dafür liegt, glaube ich, darin, dass die
Trigeminus-Neuralgieen vorzugsweise zu den constitutionellen Neui'algieen ge-
hören und gewissermaassen als deren Typus zu betrachten sind. Dagegen
hat die Ischias im allgemeinen mehr den Charakter der accidentellen Neuralgie
(Eülenburg) und zeichnet sich deshalb auch durch eine relativ gute
Prognose aus.
Die Gestaltung der Prognose hängt auch sehr wesentlich von der Be-
handlung ab, die gerade bei den Neuralgieen ungemein individualisirend
sein muss.
Die Vorschriften der allgemeinen Hygiene über Wohnung, Kleidung.
Waschung, Bäder, Diät im weitesten Sinne können unter Umständen allein
das richtige Heilmittel bilden. Gowers hat beobachtet, dass Neuralgieen
62 NEURALGIEEN.
durch Entziehung der Fleischnahrung entstanden sind, durch Fleischkost ver-
schwanden und beim Uebergang zu vegetarischer Diät recidivirten.
Eine anämische oder chlorotische Neuralgie erfordert Eisen, welches ich
in kleinen Gaben (1*0 : 100 Sacch. alb gut verrieben) relativ am wirksamsten
finden. Bei Malaria-Neuralgie ist Chinin und Arsenik nützlich, welches bereits
in 7ioo Theil der gewöhnlichen Gabe vortreffliche Dienste leisten kann. Jod
und Mercu7' sind bei syphilitischen Neuralgieen kaum zu entbehren. Brom
ist ein schlechtes Mittel bei Neuralgie, dagegen soll sich Bromidia, eine
Mixtur, die aus Bromkali, Chloral, Extr. Hyoscyami, Extr. Cannab. u. s. w.
zusammengesetzt ist, in einigen besonders hartnäckigen Fällen gut bewährt
haben. Atropin, Belladonna (O'Ol — 0*02), Aconitin (0*0002 — 0*0006) Gelsemin
(0*001 — 0*002) werden von Gowers angeführt. In schwierigsten Fällen muss
man zu Opium und Morphium seine Zuflucht nehmen; doch vergesse man
nicht, dass diese Mittel nur eine Betäubung der empfindenden Centren ver-
ursachen und keine eigentliche Heilung herbeiführen können.
Eine übereifrige chemische Produktion hat in neuerer Zeit eine grosse
Anzahl von Antineuralgicis auf den Markt geworfen, die im wesentlichen
Phenolderivate sind: Antiptjrin, Antif ehrin, Salipyrin, Salol\ Phenacetin,
Exalgin, Salophen u. s. w. Dass dieselben unter Umständen in geeigneten
Fällen gute Dienste bei Neuralgien thun, ist nicht zu bestreiten. Jedoch deren
instinktive Anwendung durch planvolle Indikationsstellung zu ersetzen ist, vor
der Hand unmöglich. Unbeabsichtigte Nebenwirkungen treten häufig ein.
Durch das vielgebrauchte Antipyrin und Antifebrin sind mannigfache Todes-
fälle verursacht worden — wahrscheinlich übrigens noch viel mehr als durch
medicinische u. a. Zeitungen in die Oeöentlichkeit gedrungen sind.
Die Methode der Behandlung der Neuralgie durch „Gegenreize", welche
in der alten Medicin eine so grosse Rolle spielte, ist gegenwärtig mehr in
den Hintergrund gedrängt, vielleicht mit Unrecht. Die Erklärung der Wirk-
samkeit derselben stösst noch immer auf grosse Schwierigkeiten, aber wer
wollte bezweifeln, dass manche Kranke dadurch ihre Schmerzen auf mehr
oder weniger lange Zeit bedeutend gelindert haben?
Empfohlen werden nach wie vor Senf- und andere Pflaster, „Wunder-
salben" u. s. w., verschiedene Einreibungen, z. B. Chloroform l'O -\- Linim.
Saponis 6'0. Aconit- und Veratrinsalbe, Tinctura Aconiti, Kampherchloral
Menthol, Oleum Terehinth. (mit letzterem Leinwand- oder Lederlappen be-
feuchtet und auf die kranken Stellen aufgelegt), Einspritzungen unter die
Haut mit Osmiumsäure (1 bis 2 Tropfen der l^o Lösung in Wasser oder
Glycerin — Goweks), mit reinem Wasser, mit Carbolsäure u. s. w.; ausser-
dem Cauterisation, Acupunhtur^ Chlormethyl und Kohlensäure-Aufblasungen
u. s. w.
Von grösserem Werth sind die verschiedenen Mittel der Hydrotherapie,
der Elektrotherapie und der Massage.
Bezüglich der ersteren werden von Winternitz am meisten empfohlen "") :
1. locale schottische Douchen 2. Erwärmung mit nachfolgender Abkühlung,
3. Schwitzproceduren mit nachfolgender Kaltwasserbehandlung.
Die dabei geltenden Principien sind nach Winternitz folgende: „Grosse Temperatur-
Contraste, flüchtige aber intensive Temperaturen, mechanische Reize, thermische Massage,
Schweisserregungen, active und passive Muskelbewegungen, Friktionen, mechanische Mani-
pulationen, mannigfache elektrische Eingriffe, warme Getränke, in manchen Fällen innere
Reizmittel." Man sieht, dass Winternitz die Wasserbehandlung noch durch mannigfache
andere Hilfs- und Heilmittel unterstützt. Aus meiner persönlichen Erfahrung möchte ich
hinzufügen, dass mir von hydrotherapeutischen Mitteln bei Ischias gerade das locale
Dani]}fbad, auf das kranke Glied eine halbe Stunde lang in der KNEiPp'schen Art applicirt,
besonders gute und schnelle Dienste geleistet hat.
*) Vergl. auch Artikel ^Hydrotherapie'-'' , Bd. II, pag. 141.
NEURASTHENIA. 63
Von elektrotherapeutischen EiDgriffen kann ich bei Ischias die energische
faradische P'mselung, bei dieser und bei allen anderen Neuralgieen aber vor
allem den galvanischen Strom in der von mir in meinen „Elektrotherapeu-
tischen Studien- (Leipzig 1891) angegebenen Anwendungsweise am meisten
empfehlen.
Nicht selten erreicht man auch mit einer gut ausgeführten Massage, die
der Arzt selber üben und in keinem Falle Laienhänden anvertrauen sollte,
gute Resultate.
Ueberblicken wir die gegen die Neuralgieen empfohlenen Heilmittel und
die damit erzielten Erfolge, so wird es unzweifelhaft klar, dass nur dann
sicher und schnell geheilt werden kann, wenn die individuellen Eigenheiten
des Falles nach allen Richtungen erfasst sind und dementsprechend das spe-
cifische Heilmittel verordnet worden ist.
Aus der Erfahrung, dass der eine Fall durch Elektricität, der zweite
durch Arsen, der dritte durch einen Klimawechsel seine Heilung findet, geht
hervor, dass das innere Wesen der verschiedenen Neuralgieen, sei es an und
für sich, sei es in Beziehung auf die übrigen Theile des Organismus, indi-
viduell verschieden ist, und dass dasjenige Mittel das rechte ist, welches die
molekulare Störung durch die ihm anhaftenden specifischen Eigenschaften
wieder ausgleicht.
Andererseits gibt es Neuralgieen, welche beim erstmaligen Anfall z. B.
durch den galvanischen Strom geheilt wurden, während beim Recidiv dasselbe
Mittel versagt. Soll man annehmen, dass es sich da um grundverschiedene
Störungen des Nerven handelte, oder ist der pathologische Vorgang im
wesentlichen derselbe, aber im zvt^eiten Falle so modificirt, dass das zuerst
wirksame Mittel nunmehr nicht mehr das adäquate Mittel ist? Können beide
Processe nicht in ähnlicher Weise von einander verschieden sein, wie der
elektrische Strom in seinen verschiedenen Formen, der, je nachdem er hohe,
geringe oder gar keine Spannung besitzt, ganz verschiedene Erscheinungen
und Reactionen macht, und doch elektrischer Strom ist und bleibt?
Wenn wir aber an der Einheit des Vorganges, welcher zu dem neural-
gischen Zustand führt, festhalten, so kommen wir zu dem Schluss, dass auch
allen den hier aufgezählten Mitteln ein gemeinsames Charakteristicum inne-
wohnt, welches sie befähigt, in den Nerven mit krankhaft veränderter Bewe-
gung andere Bewegungen zu erzeugen, welche jene je nachdem hemmen oder
beschleunigen und dem Vorgang zuführen, welchen wir „Heilung" nennen.
Aber ebenso wie die neuralgischen Störungen, so haben auch diese
Mittel eben so viele individuelle Formen ihres Grundwesens, und es ist die
Aufgabe der Heilkunst, die zu einander passenden auszuwählen. (Vgl. den
Artikel: , , Hom öopathie'') .
Weder von den einen, noch von den anderen kennen wir bisher das
innerste Wesen; jedoch finden wir Anhaltspunkte in der Chemie und Physik,
welche eine Anschauung darüber gestatten. Die neuesten Forschungen haben
es wahrscheinlich gemacht, dass die Aeusserungen der molekularen Kräfte als
elektrische Erscheinungen aufzufassen sind. Mit molekularen Kräften haben
wir es ebensowohl bei den biologischen Erscheinungen wie bei den Wirkungen
der Arzneistoffe auf den Organismus zu thun. Nichts steht also im Wege,
auch für diese beiden anzunehmen, dass sie durch elektrische Vorgänge zu
Stande gebracht werden. Sperling.
Neurasthenia {Nervenschwäche, nervöse Erschöpfung) ist eine allgemeine
Neurose, charakterisirt durch eine abnorme Reizbarkeit des Nervensystems
in Verbindung mit auffallend geringer Widerstandsfähigkeit, sehr rascher Er-
müdung und Erschöpfung (reizbare Schwäche).
64 NEURASTHENIA.
Es ist das grosse und bleibende Verdienst des Amerikaners G. M. Beard, im Jahre
1869 die Neurasthenie als neue Krankheit in die Wissenschaft eingeführt und zuerst im
Jahre 1880 monographisch bearbeitet zu haben. Die Geschichte der Medicin lehrt uns
zwar, dass Fälle von Nervenschwäche aufgetreten sind, seit die Menschheit eine gewisse
Höhe der Cultur erreicht und grössere Anforderungen an die Thätigkeit des Nervensystems
gestellt hatte; man sprach schon lange von Nervosismus, Etat nerveux und Spinal-Irrita-
tion ; man hatte unter dem Namen der Hysterie und Hypochondrie die meisten Erschei-
nungen der Nervenschwäche geschildert, allein Niemand hatte bisher die Neurasthenie als
eigenartige Erkrankung erkannt und sie von anderen Nervenleiden diagnostisch ab-
getrennt. Erst die modernen Verhältnisse mit ihrem rastlosen Ringen und Streben, welche
die früher vereinzelten Fälle mehr als verzehnfacht und unserer Zeitepoche mit Recht den
Beinamen der „nervösen" gegeben haben, haben die Neurose in den Vordergrund des medi-
cinischen Interesses gedrängt und Beard zu seinen grundlegenden Beobachtungen und Ver-
öffentlichungen veranlasst. Mit Unrecht dagegen hat Letzterer dieselbe eine „amerikanische
Erkrankung" genannt, denn sie tritt heute in allen civilisirten Ländern mit einer geradezu
erschreckenden Häufigkeit auf und bildet eine ernste Gefahr für die künftige Entwicklung
ganzer Nationen.
Die Neurasthenie ist als ein selbstständiger Krankheitszustand
aufzufassen, nicht nur als Krankheitsdisposition, welcher sich durch ein charak-
teristisches Bild von anderen allgemeinen Neurosen abhebt. Ihr Wesen liegt
in der gleichzeitig bestehenden abnorm starken Erregbarkeit und
Erschöpfbarkeit des centralen Nervensystems und in dem grossen
Missverhältnis zwischen den hochgradigen Beschwerden und dem Mangel an
anatomischen Läsionen. Ihre wesentlichen Symptome lassen sich zurück-
führen auf vermehrte Reaction auf alle Reize und auf vermin-
derte Leistungsfähigkeit auf allen Gebieten. Die Combination
der verschiedenen functionellen Störungen ruft das Gefühl schwerer Erkran-
kung hervor, oft verbunden mit tiefer Depression, mit Sinken der Ernährung
und Verlust des Schlafes.
Wenn wir auch bis heute ausser Stand sind, irgend welche palpable ana-
tomische Veränderungen nachzuweisen, so kann doch nach dem klinischen
Bilde ein Zweifel darüber nicht bestehen, dass die Erkrankung im Gehirn
ihren Sitz habe. Sie kann als der Ausdruck der Störung der Ernäh-
rung des centralen Nervensystems betrachtet werden, deren nähere
Entstehung uns unbekannt ist. Arndt hat hiefür eine von anderer Seite
nicht bestätigte mangelhafte Entwicklung der Ganglienzellen des Grosshirns,
Löwenfeld eine zu geringe Ausbildung der Gehirngefässe verantwortlich gemacht.
KowALEWSKY führt die Erkrankung auf eine Vergiftung der Nervenelemente
mit Producten der regressiven Metamorphose zurück, die eine allgemeine
Inanition im Gefolge haben soll. Von anderer Seite wurde die Erkrankung
von einer primären Störung der Thätigkeit der vasomotorischen Centren ab-
geleitet. — Alle diese Erklärungen haben nur die Bedeutung bis heute
unerwiesener Hypothesen.
Die Aetiologie lehrt uns, dass die Ursachen der Neurasthenie theils
in einer angeborenen Disposition, theils in einer ganzen Reihe chronischer Ein-
wirkungen liegen, welche angethan sind, die Ernährung des Gehirns zu schä-
digen und seine Leistungsfähigkeit herabzusetzen. Zumeist wirken mehrere
Faktoren gleichzeitig oder nach einander ein und kommen dann in cumula-
tiver Weise zur Geltung. Es ist in solchen Fällen oft nicht zu sagen, welche
der Ursachen zuerst eingewirkt hat und welche derselben überwiegt, deshalb
ist auch eine Scheidung in prädisponirende und occassionelle Ursachen nicht
wohl durchführbar.
Die erste Rolle spielt zweifellos die angeborene ererbte Anlage,
welche bei 50 7o, nach Löw^enfeld sogar bei 75 7o der Erkrankten vorhanden
sein soll. Seltener finden wir aber in der Ascendenz schwere Psychosen und
Epilepsie, als leichtere Neurosen, krankhafte Gemüthsreizbarkeit, Charakter-
Eigenthümlichkeiten, weiter Gicht, Anämie und Chlorose, Tuberkulose und
Syphilis, hohes Alter, Alkohol und Morphium-Missbrauch bei den Eltern.,
Eine unhygienische, namentlich verzärtelte Erziehung kann die Anlage leicht
zur Krankheit entwickeln.
NEÜRASTHENIA. 65
Unter den psychischen Ursachen ist die wichtigste die fortgesetzte
geistige Ueberanstrengung, welche zur krankhaften Erschöpfung führt.
Deshalb sind die Kopfarbeiter weit reichlicher, als die Handarbeiter unter
den Neurasthenikern zu linden, wie Gelehrte, Professoren und Lehrer. Die
Gefahr wächst, wenn gleichzeitig mit der Ueberanstrengung entweder Ueber-
reizung der Phantasie wie bei schaffenden Künstlern, oder eine grosse Verant-
wortlichkeit wie l)ei Eisenbahn-, Telegraphen- und Kassen-Beamten, oder endlich
ein hohes pekuniäres Piisiko, wie bei Bankiers, speculirenden Kaufleuten und
Grossindustriellen eingewirkt hat. Auf letzteres Moment dürfte auch, wenigstens
theilweise, die grössere Gefährdung der semitischen Ptace zurückzuführen sein.
Die neuerdings vielfach beschuldigte Schulüberbürdung scheint haupt-
sächlich nur bei von Hause aus Minderwerthigen in Betracht zu kommen.
Sehr verhängnisvoll werden auch andauernde, oder oft wiederholte pein-
liche Einwirkungen auf das Geraüth, wie Kummer und Sorgen, Pteue
und Gewissensbisse, Nichterfüllung gehegter Wünsche, enttäuschter Ehrgeiz,
Kränkungen, häusliches Unglück, unbefriedigtes Leben, Unterliegen im Kampf
ums Dasein. Der Schreck kann in acuter Weise eine Neurasthenie aus-
lösen. Dies beweist am besten ein Theil der neuerdings so häufigen trau-
matischen Neurosen, bei welchen der Schreck entschieden eine wich-
tigere Rolle spielt, als die Gehirn- oder Rückenmarks-Erschütterung.
Zahlreich sind die so m ati s ch en Ursachen der Neurasthenie. In Betracht
kommen namentlich andauernde, mit Schlaflosigkeit verbundene, Neuralgieen,
Magen- und Darm-Erkrankungen, Metrorrhagien, Schwächung durch rasch auf
einander gefolgte Wochenbette, Chlorose, Tuberkulose, Abdominaltyphus, Ma-
laria und Influenza. Von besonders ätiologischer Wichtigkeit ist die Syphilis,
ferner die chronische Gonorrhoe mit ihren Folgezuständen.
Sehr beachtenswerth ist der Missbrauch von Genuss mittein, von
Alkoholica, Kaffee, Thee, Tabak, von Medi kam enten, besonders von Morphium
und Chloral-Hydrat, auch von Entfettungskuren.
Die Sexual-Organe vermitteln nicht selten die Entstehung der Neu-
rasthenie. Abstinenz bei sonst gesundheitsgemässem Leben dürfte trotz gegen-
theiliger Behauptung kaum schädlich sein. Auch gehäufter Geschlechtsverkehr
schädigt selten, so lange er sich in den naturgemässen Bahnen bewegt, während
der habituelle Congressus interruptus sive reservatus nicht ohne Gefahren ist.
Weit übler wirkt aber die Onanie auf das Nervensystem ein und zwar ent-
weder durch directe Ueberreizung der sexuellen Centren und zwar über-
wiegend häufiger auf psychischem Wege infolge der das Gemüth mehr und
mehr beherrschenden Furcht und Angst vor den Folgen des Lasters.
Syniptoiiiatologie. Das Krankheitsbild der Neurasthenie ist äusserst
mannigfaltig und wechselvoll. Allen Formen gemeinsam sind aber bestimmte
geistige und körperliche Ermüdungsphänomene in Verbindung mit Er-
regungserscheinungen und Gemeingefühls-Störungen.
Vor Allem sind es gewisse psychische Symptome, welche jeden
Fall von Neurasthenie kennzeichnen.
Die Stimmung ist äusserst eindrucksfähig und schwankend und rea-
girt vorwiegend schmerzlich, mit leicht bereiten Thränen {psychische Hyper-
ästhesie); das Gemüth ist sehr reizbar. Sensationen verschiedenster Art nähren
die schmerzliche Verstimmung, welche oft eine hypochondrische Richtung an-
nimmt, aber nicht bis zur Höhe der Melancholie ansteigt. Das Interesse an
dem Geschehen der Aussenwelt nimmt ab, weil das Bewusstsein zu sehr von
den eigenen, krankhaften, Empfindungen erfüllt ist. Es treten Gefühle von
Angst ein; diese ist oft nosophobisch, äussert sich namentlich als Furcht,
„geisteskrank zu werden." Oder die Angst ist vorstellungslos, dann mit
höchst peinlichen Empfindungen der Oppression, der Erstickung und mit vaso-
motorischen Störungen verbunden. In anderen Fällen tritt die Angst jeweils
Bibl . med. Wissenschaften T. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. III. Bd. O
66 NEURASTHENIA.
unter bestimmten Verhältnissen ein — als Platzfurcht (Agoraphobie) beim
Ueberschreiten grosser Plätze, als Furcht vor engen Räumen (ClaustrophoUe),
als Höhenfurcht, als Angst vor bestimmten Orten [Topophohie), vor Gewittern
{Astrophohie), allein zu sein (Monop)hobie), vor Krankheiten (PathophoUe) etc.
etc. Solche höchst qualvolle Angstzustände weichen nur mit Aufhebung der
sie veranlassenden Ursachen.
Oft verliert der Kranke infolge des schweren auf seinem Gehirn
lastenden Druckes jedes Selbstvertrauen, er glaubt Nichts mehr voll-
bringen zu können, er sucht jede Verantwortung von sich zu halten und wird
in hohem Grade zaghaft und unentschlossen. Ja er kann sich selbst der
Aufgabe zu leben nicht mehr gewachsen fühlen und wird dann von Leb ens-
überdruss befallen. Die grosse Energielosigkeit und Willens-
schwäche verhindert aber in der Regel die Ausführung der vielfach ge-
planten Selbstmord-Attentate.
Hier muss ausdrücklich bemerkt werden, dass trotz allen höchst pein-
lichen und für die Umgebung qualvollen Veränderungen im Gemüthsleben
des Neurasthenikers niemals eine Charakterverschlechterung desselben im
Sinne der Moral Insanity, wie dies behauptet wurde, zur Beobachtung kommt.
Die intellectuellen Störungen sind von sehr verschiedener Höhe.
In den leichteren Fällen macht sich die Herabsetzung der Leistungsfähigkeit
nur durch eine geringe Gedächtnisschwäche und eine Neigung zum Zerstreutsein
und zu rascher Ermüdung bei geistiger Arbeit, in Verbindung mit Kopfdruck,
geltend, während das Geleistete tadellos ist. In den mittelschweren Fällen
wird andauernde geistige Arbeit unmöglich, sowie das Product minderwerthig.
Das Urtheilen wird schwierig und unsicher, das Gedächtnis sehr lückenhaft.
Lesen und Zuhören erfordern eine ausserordentliche Anspannung. In den
schlimmsten Fällen endlich wird jede wirkliche geistige Arbeit unmöglich.
Die leichtverständlichste Leetüre, das harmloseste Gespräch müssen schon
nach wenig Minuten wegen Erschöpfung aufgegeben werden, der kürzeste
Brief kann eine Tagesarbeit sein. Die Gedächtnisstörung des Neurasthenikers
ist durchaus keine dauernde Ausfallserscheinung, sondern stets nur
eine temporäre und einfache Folge der fehlenden Aufmerksamkeit.
Viele Neurastheniker leiden an sogenannten Zwangsvorstellungen,
d. h, an Gedanken, welche in monotoner Weise immer und immer wieder im
Bewusstsein auftauchen, sich demselben förmlich aufdrängen und nicht unter-
drückt werden können. Sie sind nicht selten mit Zwangs-Empfindungen
verbunden und können zu Zwangs-Handlungen führen. Der Inhalt derselben
kann sehr mannigfaltig sein. Er ist bald ganz harmlos (zwangsmässige Be-
rührung gewisser Gegenstände oder Wiederholung bestimmter Bewegungen),
oder für den Kranken sehr qualvoll (z. B. den Gedanken, er habe seinen
Kassenschrank nicht verschlossen) oder endlich in hohem Grade gefährlich
(er müsse sich selbst, seine Frau, sein Kind tödten). Zumeist bewahrt der
Patient das Bewusstsein des Krankhaften seiner Zwangsvorstellungen und
bleibt vor Zwangshandlungen gefährlicher Art bewahrt.
Der Schlaf der Kranken wird durch die psychischen Symptome in
vielfacher Weise gestört; zeitweilig kann eine hartnäckige Schlaflosigkeit in
den Vordergrund der Erscheinungen treten.
Störungen der Sensibilität fehlen in keinem Falle von
Neurasthenie.
Die ungemein häufigen, die geistige Thätigkeit erschwerenden Em-
pfindungen im Kopfe sind — Eingenommenheit, Druck oder Schwere,
Gefühl eines den Kopf umspannenden Reifes oder eines denselben ein-
zwängenden Schraubstockes, Dumpfheit und Leere, Hitze, Kälte, Pulsationen,
nach geistigen Anstrengungen — Kopfschmerz mit umschriebener Druck-
empfindlichkeit.
NEUßASTHENIA. 67
Etwas seltener begegnen wir im II ticken, und zwar in der Gegend der
Wirbelsäule, den früher als ^^Spinalirritation'^ bezeichneten Empfindungen von
Druck, Schwere, Spannung und Steifigkeit mit Hyperästhesie der Haut und
deutlicher Druckempfindlichkeit der Processus spinosi. Diese Erscheinungen
treten oft in Anfällen auf und zwar bei Frauen weit häufiger als bei Männern.
Schmerzanfälle in den Hoden und Samensträngen oder in den Ovarien,
sowie die Extremitäten (namentlich die unteren) durchschiessende Schmerzen
(ähnlich wie bei Tabes) werden oft geklagt, desgleichen die Gefühle krank-
hafter Müdigkeit und Schwere in den Beinen, von Hitze und Kälte, von
Taubsein, Ameisenkriechen, Steifigkeit etc. auch Glieder-Unruhe (Anxiefas
tibiarum).
Weiter beobachten wir Hauthyperästhesien, Pruritus an verschiedenen
Körpertheilen, halbseitig und umschrieben, Gefühlsstörungen der Haut ver-
schiedenster Art.
Im Bereiche der höheren Sinnesorgane stellt sich nicht selten
akustische Hyperästhesie, mitunter so hohen Grades ein, dass die Kranken
durch jedes fremde Geräusch in Aufregung gerathen. Manche leiden an sehr
qualvollen subjectiven Ohrgeräuschen, Andere an Perversitäten des Ge-
schmackes oder an erhöhter Empfindlichkeit des Geruchs. Häufig ist endlich
die nervöse Asthenopie, d. h. eine abnorme Empfindlichkeit und Ermüdbarkeit
der Augen — namentlich bei allen Näharbeiten. Zuweilen ist eine con-
centrische Einengung des Gesichtsfeldes nachzuweisen, welche neuerdings für
die Diagnose der „traumatischen Neurose" eine grössere Bedeutung erlangt
hat. Die öfters beobachteten Pupillen-Differenzen scheinen keine grössere
diagnostische Bedeutung zu besitzen. Oefter beobachtet man eine durch ab-
wechselnde Verengerungen und Erweiterungen bedingte andauernde Unruhe
der Pupillen {Hippus).
Von motorischen Störungen ist zunächst die häufige Muskel-
schwäche zu betonen, welche nur in einzelnen Muskelgruppen oder im ge-
sammten Muskelsystem empfunden wird. Am meisten besteht dieselbe in den
Beinen; sie setzt bei Stehen und Gehen eine rasch anwachsende Ermüdung
der Art, dass manche dieser Kranken schliesslich dauernd liegen bleiben.
Dabei sind die Muskeln in einem Theil der Fälle kräftig entwickelt und
dynamometrisch gemessen leistungsfähig, in einem anderen dürftig und kraftlos.
Oft beobachten wir eine sehr rasche Erschöpfbarkeit der anfangs
normalen Leistungen. Das andauernde Schwächegefühl führt leicht zur
nosophobischen Annahme einer bestehenden Ptückenmarkserkrankung.
Bald begegnen wir einem verminderten, bald einem erhöhten Muskel-
Tonus, bald einem mehr oder weniger ausgebreiteten Tremor, ähnlich dem
alkoholischen, in anderen Fällen einer grossen Muskelunruhe oder Zuckungen
in einzelnen Muskeln, welche oft in Verbindung mit psychischen Erregungs-
zuständen auftreten.
Die Reflexthätigkeit ist beim Neurastheniker oft erhöht, seltener
herabgesetzt, niemals aber fehlend. Die Pupillen-Reflexe sind stets er-
halten, während ein zeitweiliger Wechsel der Pupillenweite nahezu charak-
teristisch ist. Der stets vorhandene Pupillen-Pteflex ist von grosser
diagnostischer Bedeutung; bei grosser psychischer Erregung wird er oft ge-
steigert. Die mechanische Erregbarkeit der Nerven ist manchmal
erhöht.
Das Verhalten der elektrischen Erregbarkeit der Nerven und
Muskeln ist im Grossen und Ganzen normal.
Vasomotorische Störungen stehen so sehr im Vordergrund der
Erkrankung, dass von manchen Forschern der ganze neurasthenische Symptomen-
complex auf eine geänderte Function der vasomotorischen Nerven zurück-
geführt wurde.
68 NEÜRASTHENIA.
Viele Patienten leiden an (durch vasomotorische Paralyse bedingten)
Kopfcongestionen, bei diesen kann sich die Gesichtsröthe schon bei leichten
Gemüthsbewegungen oder bei unbedeutendem Alkohol-Genuss bis ins Purpurne
steigern; die Eöthe breitet sich nicht selten über die ganze behaarte Kopfhaut,
über den Hals und die obersten Brustpartien aus. Oder die Ohren allein
sind dunkelgeröthet und abnorm warm, häufig auch nur eines derselben.
Auch Conjunctiva oder Retina zeigen vorübergehende Hyperämien. Blässe
und Röthe der Haut und der Schleimhäute können rasch mit einander
wechseln. Weiter sehen wir Blässe und Kälte der Hände und Füsse, Ischae-
mieen einzelner Finger und Zehen. Verstärkte Pulsationen oft mit Er-
weiterung und Schlängelung in verschiedenen Arterien-Gebieten. Der Puls
erweist bei sphygmographischer Untersuchung grosse Veränderlichkeit der
arteriellen Spannung mit deutlicher Herabsetzung derselben.
Die Herzthätigkeit zeigt häufig eine massige Beschleunigung. Diese
steigert sich bedeutend in Anfällen von Herzklopfen, welche nach An-
strengungen, nach Aufregungen, nach Kaffeegenuss u. A. m. eintreten und
von Schmerzen in der Herzgegend, Brustbeklemmung, Ohnmachtsgefühlen und
Todesangst begleitet zu sein pflegen. Solche Anfälle von Tachycardie
ähneln sehr der echten Angina pectoris. Vorübergehende Verlangsamung der
Herzaction ist bei nervöser Herzschwäche selten.
Lehr unterscheidet zwei Formen oder Stadien der Neurasthenia cordis^
ein Reizstadium mit mittelvollem Pulse von 72 — 84 und ein Lähmungsstadium
mit kleinem, leicht unterdrückbarem Pulse von 96 — 120, ja bis 140 Schlägen;
in ersterem steigt die Pulswelle ungemein steil an und fällt ebenso rasch wieder
ab, in letzterem ist dieselbe sehr klein und unregelmässig. Viele Neurasthe-
niker fühlen beständig die Art ihrer Herzaction, auch die Blutcirculation
im Kopf und in den Extremitäten (Hyperästhesie des Herzens und der
Gefässe).
Die Erscheinungen der nervösen Herzschwäche sind bei der Neurasthenie
sehr häufig und werden von den Aerzten leider nicht allzu selten auf or-
ganische Veränderungen bezogen — zur grossen Beunruhigung der Kranken
(vergl. Artikel ..Herznewosen^', Bd. H, pag. 75).
Störungen der Magen- und Darmfunction treten bei der
nervösen Erschöpfung häufig hervor.
Die nervöse Dyspepsie ist stets die Aeusserung einer allgemeinen
Neurose, wenn auch die Erscheinungen derselben nicht selten so sehr vor-
herrschen, dass ein isolirtes Magenleiden vorgetäuscht wird. Im nachfol-
genden Artikel wird Boas hierüber ausführlich sprechen.
Störungen der Sexualsphäre finden wir bei einer sehr grossen
Zahl von Neurasthenikern, bei Männern weit häufiger als bei Frauen. Oft
bilden diese Störungen den Ausgang der Erkrankung, indem die Reizung oder
Erschöpfung der im Lendenmarke befindlichen, für den ganzen Organismus
hoch bedeutsamen, genitalen Centren secundär reizend oder erschöpfend auf
das ganze Nervensystem einwirkt. Die schädigende Wirkung der sexualen
Schwächezustande wird wesentlich gesteigert durch die tiefe Depression, welche,
dieselben auf die Stimmung und das Selbstgefühl auszuüben pflegen.
Diese Störungen sind zumeist durch sexuellen Missbrauch oder durch
Erkrankung der Sexual-Organe bedingt; sie können aber auch Theilerschei-
nungen des allgemeinen nervösen Erschöpfungszustandes sein. In letzterem
Falle nimmt entweder die Libido und Errectionsfähigkeit ab, oder es treten
gehäufte Pollutionen bis zur förmlichen Spermatorrhoe ein; bei Coitus- Ver-
suchen kann es zu präcipitirter Ejaculation kommen. Bei den durch sexuelle
Schädlichkeiten Erkrankten begegnen wir zunächst vermehrten nächtlichen
Samenergiessungen in Verbindung mit geschlechtlicher Erregung und prä-
cipitirten Ejaculationen beim Coitus. Dieser Zustand kann sich bei hygie-
NEÜRASTHENIA. 69
nischem Leben wieder verlieren, oder er schreitet fort zu Taj^es-Pollutionen
und schliesslich zur Spermatorrhoe. Allmälilich nimmt dann die Potenz mehr
und mehr ab. In anderen Fällen kann sich aber auch die Spermatorrhoe primär
an die sexuellen Schädlichkeiten anschliessen. Weiter können sich hiezu gesellen
— Schmerzhaftigkeit des Geschlechtsactes, reizbare Blase, reizbare Prostata.
Zuweilen begegnen wir auch einer rein psychischen Impotenz.
Auch bei neurasthenischen Frauen werden nach sexuellen Schädigungen
Abnahme der Libido, psychisch bedingte Unmöglichkeit des Coitus und krank-
hafte sexuelle Erregungszustände, gefolgt von grosser Prostation beobachtet.
Gesteigerte Seh weiss-, Speichel- oder Thränen-Sec retion wird
nicht gerade selten bei Neurasthenikern wahrgenommen.
Von Störungen in der Urin-Ausscheidung sind zu erwähnen Poly-
urie, Phosphaturie, Oxalurie, sowie temporäre Albuminurie und Glycosurie.
Selbstverständlich wird nicht die ganze umfängliche Pieihe der geschil-
derten Symptomengruppen bei allen Neurasthenikern beobachtet, vielmehr
stets nur eine grössere oder kleinere Zahl derselben in den verschiedenartigsten
Varietäten. Je nach den am meisten hervortretenden Erscheinungen hat man
folgende Typen aufgestellt: Cerebrale Neurasthenie (Cerebrasthenie), spi-
nale Neurasthenie (Mi/elaf.thenie), Cerebro-spinale oder allgemeine
Neurasthenie, nervöse Herzschwäche (N. cordis seii vasomotoria),
gastrische Neurasthenie (nervöse Dyspepsie), sexuelle Neurasthenie,
Hysteroneurasthenie. Vom ätiologischen Gesichtspunkte lässt sich
ausserdem noch eine hereditäre und eine traumatische Neurasthenie
abgrenzen. Neben den mehr oder weniger reinen Typen begegnet man in
der Praxis nicht selten Uebergangsformen und Combinationen mannig-
faltiger Art.
Verlauf und Ausgänge. Die Neurasthenie ist eine chronische Er-
krankung ohne typischen Verlauf. Sie kann sich zw^ar nach Traumen
und Shoks acut entwickeln, in der Regel aber ist ihre Ausbildung eine all-
mälige. Sie ist ein äusserst qualvolles Leiden, gefährdet aber nur selten das
Leben. Ihr Verlauf richtet sich grossentheils nach den ätiologischen Ver-
hältnissen.
Die schwere hereditäre Form pflegt sich nach einer bereits krankhaften
Kindheit, oft schon in der Pubertätszeit oder mit dem 20. Lebensjahre zu
-entwickeln und allmälig zu grosser Höhe anzusteigen. Sie führt zu tiefer
melancholischer oder hypochondrischer Verstimmung, zu hervortretenden Angst-
Äuständen und Zwangsvorstellungen, zu grosser Willenlosigkeit. Sie zeigt
einen grossen Wechsel und periodische Wiederkehr gewisser Erscheinungen.
Sie erfährt erfreuliche, selbst Jahre lang dauernde Besserungen, selten aber
eine vollkommene Genesung.
Die traumatische Neurasthenie steigt langsam zu ihre Höhe an, auf
welcher sie oft mit mancherlei Schwankungen bis zum Lebensende stehen
bleibt.
Der Verlauf der anderen nicht ererbten Zustände hängt in erster Linie
davon ab, ob es gelingt, die Ursachen gründlich zu beseitigen und frühzeitig
eine rationelle Behandlung einzuschlagen.
Das Krankheitsbild ist bei längerer Dauer selten ein einheit-
liches. So können längere Zeit die Erscheinungen der Cerebrasthenie,
wie Kopfdruck, Verminderung der geistigen Arbeitskraft und Schlafstörungen
im Vordergrunde stehen, um später nach einer Ptemission von Rückenschmer-
zen, Abnahme der Leistungsfähigkeit der Beine, oder aber von den Sympto-
men der sexuellen oder gastrischen Neurasthenie abgelöst zu werden.
Selten nehmen die Fälle einen ungetrübten Verlauf zur Besserung, viel-
mehr schieben sich, auch bei endlichem guten Verlaufe, immer wieder zeit-
weilige Verschlimmerungen ein, bis endlich Genesung erreicht wird. Auch
70 NEüRASTHENIA.
die im Laufe eines Tages eintretenden Schwankungen können so gross sein^
dass der am Morgen tief Gebeugte am Abend ein animirter Gesellschafter ist.
Im Allgemeinen hängt der Ausgang weniger von der Schwere der Er-
scheinungen, als von der Dauer der Erkrankung ab. Doch wird auch ein
günstiger Ausgang selten vor einer längeren Reihe von Monaten, in der Regel
erst nach 1 — 2 und mehr Jahren erreicht.
Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass bei rechtzeitiger und sachgemässer
Behandlung die meisten Fälle von Neurasthenie zur Genesung und bei schwerer
erblicher Belastung wenigstens zur Besserung geführt werden können. Eine
grosse Geneigtheit zu Rückfällen pflegt aber zeitlebens anzudauern.
Die mehrfach ausgesprochene Ansicht, „die Neurasthenie gehe sehr
häufig in Seelenstörung über, sie bilde gewissermaassen das Vorstadium der-
selben" widerspricht den Beobachtungsthatsachen, Es kann nur so viel ein-
geräumt werden, dass eine gewisse Zahl einwandfreier Neurasthenien, zu-
meist auf hereditärer Basis, von der Neurose zur Psychose und zwar in der
Regel zur einfachen oder hypochondrischen Melancholie, weit seltener zur
Manie fortschreiten. In vielen anderen herangezogenen Fällen lag ofienbar
anfänglich ein diagnostischer Irrthum vor. Dies gilt namentlich von Fällen
von Dementia paralytica, welche vielfach in ihrem Initialstadium ein der Neu-
rasthenie sehr ähnliches Krankheitsbild zeigen.
Die Diagnose ist in zahlreichen ausgebildeten Fällen von Neurasthenie sehr
leicht zu stellen, aber keineswegs in allen. Stets rauss deshalb eine genaue
Untersuchung vorgenommen werden. Da nun in erster Linie die subjectiven
Symptome das Krankheitsbild beherrschen, so ist es von grösster Wichtigkeit,
dass auch eine Reihe objectiver Erscheinungen (welche Löwenfeld
sorgfältig zusammengestellt hat) bald in grösserer, bald in kleinerer Zahl,
nachweisbar ist. Die wichtigsten sind folgende: Lebhafte Röthe des Gesichtes
schon bei geringen Gemüthsbewegungen, mit auffälliger Blässe wechselnd,
oder nur temporäre Röthe der Ohren, oder eines derselben, abnorm weite, sehr
bewegliche Pupillen, seltener einseitige Pupillenerweiterung transitorischer Art;
leichte Zeichen der Insufficienz in allen Gebieten der willkürlichen Muskula-
tur; Tremor der Hände und Herabsetzung der Muskelkraft der Beine mit un-
sicherem Gang; fibrilläre Muskelzuckungen an Zunge, Gesicht und Extremi-
täten, Steigerung der Sehnenreflexe, namentlich des Kniephänomens, besonders
bei ängstlicher Erregung (niemals dagegen Verlust dieses Reflexes); häufig
Steigerung der mechanischen, selten der elektrischen Erregbarkeit der Musku-
latur; kramphaftes Gähnen; abgeschwächte Stimme; Paraphasie und Wort-Am-
nesie; vorübergehende partielle amnestische Aphasie. Bei Neurasthenia cordis
beobachtet man in der Regel Beschleunigung der Herzthätigkeit, seltener
Verlangsam ung und Unregelmässigkeit derselben, öfters Anfälle von Tachy-
eardie, bei Neurasthenia sexualis Spermatorrhoe, zuweilen Polyurie. Weiter
sind noch zu erwähnen: Vermehrung, seltener Verminderung der Schweiss-
Secretion, sowie gesteigerte Neigung zur Thränenbildung.
Die Differential-Diagnose hat zwei Aufgaben zu erfüllen; die erste
und für das praktische Handeln wichtigste, besteht in der Unterscheidung von
organisch bedingten Leiden des, namentlich centralen, Nervensystems, die
zweite in derjenigen von anderen functionellen Nervenleiden.
Viele organische Leiden des Gehirns, Rückenmarkes, zuweilen auch
der peripheren Nerven zeigen in ihren früheren Stadien nicht gerade selten
eine so grosse Aehnlichkeit mit dem Bilde der Neurasthenie, dass nur eine
genaue und wiederholte Untersuchung und eine längere Beobachtung des
Verlaufes Aufl^lärung zu bringen vermag. In Betracht kommen hier besonders
die allgemeine Paralyse der Irren, die Tabes, manche Formen von Hirn- und
Rückenraarks-Lues, manche Zustände von Polyneuritis. In solchen Fällen
müssen die Erscheinungen psychischer und motorischer Schwäche sorgfältig
NEUßASTHENIA. 71
beachtet, die Pupillenphänomene sowie die Sehnenreflexe gründlich geprüft,
etwaige anderweitige syphilitische Krankheitsheerde aufgedeckt, Sensibilität
und electrisches Verhalten einer genauen Untersuchung unterzogen werden.
Auch das Verhalten des Gemüthszustandes ist jeweils wohl zu berücksichtigen.
Im Allgemeinen verdienen hier folgende diagnostische Gesichtspunkte
Beachtung:
1. Bei Neurasthenie findet man sehr häufig eine krankhafte Veranlagung.
2. Die Symptome der organischen Erkrankungen sind zumeist fest und
stetig, während viele Zeichen der Neurasthenie nur vorübergehend und wech-
selnd auftreten.
3. Die Reflexthätigkeit ist bei organischen Erkrankungen zumeist ver-
mindert, bei functionellen erhöht.
Von functionellen Nervenleiden kommen hauptsächlich die
Hysterie und Hypochondrie in Betracht. Die Hysterie tritt vorwiegend bei
Frauen auf, sie zeigt einen eigenartigen wohlbekannten psychotischen Charakter,
sie ist mit dem Gefühl voller Gesundheit verträglich, endlich erzeugt sie
Anästhesieen, Lähmungen, Contracturen und Krampfanfälle, welche bei der
Neurasthenie in der Regel vollständig fehlen (v. „Hysterie" Bd. H, pag. 167).
Die Hypochondrie charakterisirt sich durch, aus krankhaften Organgefüh-
len abgeleitete Furcht vor schwerer Erkrankung. Diese Furchtvorstellung ist
zumeist auf bestimmte Organe fixirt, beherrscht das Individuum vollkommen
und macht es interesselos für die Aussenwelt. Die Hoffnungslosigkeit des
Neurasthenikers ist viel allgemeiner, sie wechselt ihr Object und ist durchaus
nicht ausschliesslich auf den eigenen Körper gerichtet, sie ist mit anderwei-
tigen geistigen Interessen vollkommen vereinbar (v. „HypocJiondrie'''- Bd. H,
pag. 175).
Immerhin bestehen zwischen diesen beiden allgemeinen Neurosen und
der Neurasthenie fliessende Uebergänge, so dass immer wieder auf der Grenz-
linie stehende Fälle beobachtet werden, welche man ebenso gut der einen
wie der anderen Krankheitsform zutheilen kann. Die nahe Verwandtschaft
der Neurasthenie mit der Hysterie bekundet sich dadurch, dass beide Zu-
stände eine verminderte Leistungsfähigkeit mit gesteigerter Reizbarkeit des
Nervensystems in charakteristischer Weise zeigen; während die Annäherung
unserer Neurose an die Hypochondrie daraus erhellt, dass die für leztere
charakteristische Pathophobie d. h. die Furcht vor schwerer Erkrankung auch
bei ersterer nicht selten eine wichtige Rolle spielte. Solche Uebergangsfälle
wird man am besten als hysterische, resp. hypochondrische Neu-
rasthenie besonders namhaft machen.
Die Special-Diagnose der Neurasthenia cordis von organischen Herzleiden
gründet sich auf den Mangel physikalisch nachweisbarer Herzveränderungen,
die der Neurasthenia gastrica auf fehlende Structurab weichungen des Magens.
Die Prognose ist im Allgemeinen bei frischen Fällen, welche zeitig
einer sachgemässen Behandlung unterzogen werden, günstig, bei veralteten
zweifelhaft zu stellen. In der Regel aber ist der Verlauf ein langwieriger,
die Geneigtheit zu Recidiven eine grosse, dagegen die Gefahr des Uebergangs
in Geistesstörung nicht sehr erheblich. Jene Form der schweren, erblichen
Belastung, welche die Individuen schon ab ovo eigenartig und wenig wider-
standsfähig erscheinen lässt, trübt die Vorhersage ganz erheblich. Das Gleiche
gilt von der auf traumatischem Wege entstandenen Neurasthenie. Das Leben
ist — ausser den relativ seltenen Fällen von Selbstmord — durch die Neu-
rasthenie nicht direct bedroht.
Die Behandlung der Neurasthenie gehört mit zu den schwierigsten
ärztlichen Aufgaben; sie erfordert — auf eine gründliche psychische und soma-
tische Untersuchung gestüzt — ebenso viel Sachkenntnis und Erfahrung, als
nimmer wankende Geduld und Ausdauer. Sie darf sich niemals auf einzelne
72 NEÜßASTHENIA.
Heilindicationen, auf bestimmte therapeutisclie Methoden beschränken, muss
vielmehr den ganzen Schatz psychischer und somatischer Therapie in streng
individualisirender Weise zurathe ziehen. Temporäre Misserfolge dürfen nie-
mals entmuthigen, müssen vielmehr zu neuer Thatkraft anspornen.
Zunächst gilt es, die unheilbringenden Ursachen zu bekämpfen, oder
wo möglich zu beseitigen. Der ererbten, neuropathischen Veranlagung muss
durch eine möglichst sorgfältige den Geist entwickelnde, aber nicht überbür-
dende, den Körper kräftigende und abhärtende Erziehung ein gesundes
Gegengewicht gesetzt werden. Der Neigung zur Masturbation ist auf das Ent-
schiedenste entgegenzutreten. Die durch schwere erschöpfende Erkrankungen
herabgekommene Constitution ist zu heben. Haben übermässige Leistungen
auf geistigem oder körperlichem Gebiete, wie geistige Ueberanstrengungen,
sexuelle Excesse, körperliche Strapazen, fortgesetzte Nachtwachen u. dgl. m.
die Erschöpfung des Nervensystems gezeitigt, so sind diese auf das Strengste
zu verbieten. Jede gesteigerte gemüthliche Inanspruchnahme, durch Kummer,
Sorgen, Aerger, Schrecken, durch aufregende Speculationen oder unbefriedigten
Ehrgeiz ist thunlichst aus dem Wege zu räumen, Ist die Erkrankung durch
einen habituellen Uebergenuss von Kaffee oder Thee, von Spirituosen oder
Tabak, durch den Missbrauch von Morphium, Cocain oder dgl. hervorgerufen,
so müssen alle diese Schädlichkeiten vollständig ausgeschaltet und die durch
sie bedingten Intoxicationen gehoben werden.
Die diätetische Behandlung ist nach allgemeinen hygienischen
Principien zu regeln, wobei aber jeder Einzelfall in besonderer Weise zu be-
rücksichtigen ist.
Die Ernährung sei weder eine einseitig vegetabilische, noch über-
wiegend animalische, vielmehr eine gemischte, verschieden nach Körper-
beschaffenheit und Constitution. Schlecht Genährten sind reichliche Nahrungs-
mengen, am besten auf eine grössere Zahl kleiner Mahlzeiten vertheilt, zuzu-
führen. Auch Milchkuren sind diesen zu empfehlen; unter Umständen kann
ihnen auch eine WEiR-MiTCHELL'sche Mastkur grossen Vortheil bringen. Bei
Neurasthenia gastrica muss die häufig bestehende Furcht vor dem Essen über-
wunden, sodann aber eine sorgsame Auswahl kräftiger, aber leicht verdaulicher
Speisen getroffen werden; eine Mischung derselben mit Peptonen ist empfehlens-
werth. Jede, namentlich geistige, Arbeit alsbald nach den Mahlzeiten ist
streng zu verbieten. Bei grosser Corpulenz können Entfettungskuren heilsam
wirken; sie seien aber massvoll, indem ihre Uebertreibung leicht grossen
Schaden bringen kann.
Thee und Kaffee ist nur bei hochgradiger nervöser Reizbarkeit gänz-
lich zu entziehen, in der Regel schadet er, wenn er einen gewohnten Lebens-
reiz bildet, in bescheidenen Gaben nicht. Das Gleiche gilt von geisti-
gen Getränken, welche den an sie Gewohnten in kleinen Mengen in der
Form leichten Weines und Bieres ohne Nachtheil gewährt werden können.
Sie sind nur kräftigen Individuen mit Neigung zu Kopfcongestionen gänzlich
zu verbieten, während umgekehrt bei hochgradig Heruntergekommenen starke
Alkoholica geradezu angezeigt sein können.
Rauchtabak ist nur durch prädominirende Herzsymptome völlig contra-
indicirt, sonst ist er bei Gewohnheitsrauchern, auf einige leichte Cigarren
eingeschränkt, nicht schädlich.
Eine hochwichtige Aufgabe bildet die Regulirung der Beschäf-
tigung, welche eine strenge Individualisirung erheischt. Anstrengende,
direct geistig schädigende Berufsarten müssen völlig aufgegeben werden,
während die maassvolle Fortsetzung wenig ermüdender beruflicher Thätigkeit
unter Umständen von grossem Vortheil sein kann. Völlige Unthätigkeit ist
in der Regel schädlich. Deshalb ist es geboten, für irgend welche harmlose
Beschäftigung zu sorgen, an welcher der Kranke Gefallen findet und welche
NEURASTHENIA. ' 73
ihn ablenkt, in keiner Weise aber seinen Geist zu sehr anstrengt. Im All-
gemeinen sind körperliche Leistungen mit nicht überanstrengender Uebung
der Muskeln bei der überwiegend cerebralen Nervenschwäche heilsam, während
l3ei der mehr spinalen Form derselben körperliche Kühe entschieden empfohlen
werden muss.
Der geschlechtliche Verkehr muss in jedem Falle sexueller Neu-
rasthenie, je nach Lage der Verhältnisse, geregelt werden; bald wird eine
Hemmung bald eine Förderung desselben angezeigt sein.
Eine arzneiliche Behandlung, obwohl sie selbstverständlich nur
eine symptomatische sein kann, wird wohl in den meisten Fällen die diäte-
tische zu unterstützen haben. Hier spielt die Bromtherapie, welcher die Auf-
gabe zufällt, die Erregung der Nervencentren herabzusetzen, die erste Rolle.
Die Bromsalze (und zwar am besten eine Mischung mehrerer derselben in
kohlensaurem Wasser) sind also dann angezeigt, wenn ausgesprochene Erre-
gungszustände in einem oder dem anderen Nervengebiete hervortreten, contra-
indicirt aber bei dominirenden Erscheinungen der Schwäche und Erschöpfung.
Das Medikament ist in grösseren Dosen zu verabreichen, aber zeitweilig
wieder auszusetzen, um cumulative Wirlmngen zu verhüten. In vereinzelten
Fällen scheinen kleine Opium-Dosen in oben angeführten Indicationen noch
besser zu entsprechen.
Von anderen dem Arzneischatze entnommenen Mittel verdienen Verwer-
thung: Ferrum bei primärer Anämie, CÄMza-Präparate zur allgemeinen Kräf-
tigung, Arsen zur Umstimmung des Stoffwechsels, Äntipyrin, Antifebrin und
Phenacetin gegen Kopfdruck, Kopfschmerz, Migräne, und neuralgische Affec-
tionen (Cocain nur vorübergehend zur Anästhesirung), Ergotin gegen Con-
gestionen von Hirn und Rückenmark, Atropin gegen Pollutionen, Campher
(namentlich Monobromcampher) gegen geschlechtliche Ueberreizung und ner-
vöse Herzschwäche, Coffein zur Anregung der Gefässthätigkeit u. A. m.
Eine besondere Besprechung verdient die Bekämpfung der so häufigen
und in ihren Folgen für das Nervenleben so verhängnisvollen Schlaflosig-
keit. Ist dieselbe — was stets in erster Linie anzustreben ist — durch
diätetische Mittel (Regelung der Lebensweise, Fernhaltung von allen Anstren-
gungen und von geistiger Arbeit an den Abendstunden, abendliche Darreichung
von einem Glas kräftigen Biers) durchaus nicht zu beheben, so werden wir — wenn
auch ungern — zu den Hypnoticis greifen müssen, unter welchen wohl S u 1-
f onal vor Paraldehyd und Chloralhydrat zu bevorzugen sein dürfte. Bezüglich
des Morphium ist grosse Vorsicht geboten, um nicht durch Angewöhnung
an dasselbe dem Nervensystem eine neue Schädigung zuzufügen.
Von anderen mehr -allgemeinen Heilmethoden sind in erster Linie
die sogenannten Luftkuren zu empfehlen, welche ebensowohl psychisch
ablenkende, als somatisch kräftigende Wirkungen auszuüben pflegen.
Schon ein gewöhnlicher Landaufenthalt oder eine nicht ermüdende
Fussreise vermögen in frischeren oder leichteren Fällen günstig einzuwirken.
Oft aber reichen diese einfachen Heilfactoren nicht aus; dann müssen wir
klimatische Kuren in Betracht ziehen, namentlich das Höhen- und das
See- Klima. Beide pflegen mächtig die Hautthätigkeit und den Stoffwechsel
anzuregen, sowie die Esslust zu heben und dadurch die ganze Nerventhätig-
keit zu fördern. Durch den Höhenaufenthalt wird ausserdem die Herzthätig-
keit gekräftigt, die Athmung vertieft. Keinenfalls darf auch die wohlthätige
Einwirkung dieser Luftcuren auf das Gemüth unterschätzt werden. Allge-
meine Indicationen für die Wahl des einen oder anderen Klimas lassen sich
nur schwer aufstellen, denn für viele Kranke ist die Wirkung beider gleich-
werthig. Nur ist zu bemerken, dass das Seeklima auf manche Nervöse erre-
gend einwirkt und unruhige, schlaflose Nächte erzeugt; es ist desshalb bei Neu-
rasthenia cordis und N. sexualis nicht zu empfehlen. Der Aufenthalt in
74 NEÜRASTHENIA.
Gebirgen wirkt auf die meisten Neurastheniker beruhigend und wird deshalb
in manchen Fällen zu bevorzugen sein.*)
Von keinem geringen Einfluss auf neurasthenische Zustände erweisst sich
ferner eine rationell geleitete Wasserkur, welche aber durchaus maassvoll
ausgeführt und längere Zeit fortgesetzt werden muss. Am dienlichsten sind
Halbbäder und Sitzbäder, feuchte Einpackungen und Abreibungen,
Unter den Heilbädern verdienen die kalten Seebäder keineswegs
das ihnen in Laienkreisen gespendete Lob grosser Wirksamkeit bei allen
nervösen Schwächezuständen. Dieselben können allerdings sehr mächtig auf
den menschlichen Organismus einwirken; sie setzen aber auch eine gewisse
Widerstandskraft desselben voraus. Nur kräftige Neurastheniker vermögen
dieselben zu ertragen und ziehen aus ihnen Vortheil, die schwachen dagegen
werden durch sie noch mehr geschwächt. Die Letzteren werden dagegen nicht
selten durch erwärmte Seebäder gefördert oder durch die mit ihnen nahe
verwandten Soolbäder, unter Umständen wohl auch durch Stahlbäder und
indifferente Thermen.
Die neuerdings bei Behandlung der Neurasthenie sehr viel angewandte
Elektricität rühmt sich grosser Erfolge. Mögen dieselben zum Theile
vielleicht auch suggestiver Natur sein, so kann doch die direkt physische
Wirkung dieses mächtigen Heilagens auf das Nervensystem bei einer gewissen
Zahl von Fällen nicht in Abrede gestellt werden. Dieselbe sollte deshalb
bei nervösen Zuständen, welche anderen Heilmitteln hartnäckig widerstehen,
wenigstens versuchsweise in Anwendung gezogen werden. In Betracht kommt
hier die Galvanisation des Kopfes, Rückens und Halses, die allgemeine Faradi-
sation, die Franklinisation, das elektrische Bad
Von weiteren Heilmethoden sei schliesslich noch der al Ige me inen
Massage Erwähnung gethan, welche andere Kuren unter Umständen trefflich
zu unterstützen vermag. Sie bildet namentlich einen integrirenden Theil der
MiTCHELL-PLAYFAiR'schen Mastkur.
Alle geschilderten mannigfaltigen Heilmethoden allein reichen niemals
für die erfolgreiche Behandlung der Neurasthenie aus. Vielmehr muss in
jedem Falle die psychische Behandlung gleichzeitig wirksam eintreten;
sie stellt den rothen Faden dar, welcher die verschiedensten therapeutischen
Angriffe mit einander verbindet, welcher den ganzen Heilplan durchziehend,
diesem erst warmes Leben einhaucht.
Der Arzt muss sich das Vertrauen des Kranken dadurch erwerben, dass
er nicht nur eine gründliche Untersuchung desselben vornimmt, sondern auch
auf alle seine Klagen bereitwilligst eingeht. Er darf ihm das nicht als „Ein-
bildung" darstellen, was er so peinlich empfindet; er muss ihm vielmehr
bereitwilligst sein Kranksein einräumen und ihn seiner warmen Theilnahme
versichern. Erst nachdem er das volle Vertrauen gewonnen hat, darf er ihn
über den Ungrund seiner ängstlichen Befürchtungen aufklären und ihm Heilung
in Aussicht stellen. („Er sei krank, aber auch bestimmt heilbar.") Zugleich
muss er aber auch mit aller Bestimmtheit und Entschiedenheit strengste
Befolgung aller ärztlichen Anordnungen verlangen. Die stets wieder auftauchende
Hoffnungslosigkeit muss immer von Neuem bekämpft, die Entstehung der
Angstzustände muss dem einsichtsvollen Patienten wiederholt dargelegt werden.
Für jede neue Heilmethode muss ein vertrauensvolles Entgegenkommen des-
selben beansprucht werden. Nie darf während der meist sehr langwierigen
Behandlung die ärztliche Geduld ermüden, vielmehr stets die
gleiche feste Stütze für den haltlosen Kranken bleiben; sie muss mit
Milde und Energie zugleich gewappnet sein!
*) Vergl. Artikel „KUmatotherapie" , Bd. II, pag. 417.
NEURASTHENIA GASTRICA. 75
Die psychische Therapie muss grösstentheils einen suggestiven Cha-
racter haben, indem sie gegen die mächtigen Autosuggestionen des Kranken
ankämpft. In der Regel dürfte hier die sogenannte „ Wach-Suggestion " in
Form der Autklärung und Einredung ausreichen. Von einigen Autoren wird
auch der hypnotischen Suggestion das Wort geredet, die aber grade bei
Neurasthenikern auf grosse Schwierigkeiten stösst.
Noch ist die Frage zu beantworten, unter welchen Umständen die Auf-
nahme des Neurasthenikers in eine Nerven-Heilanstal t angezeigt sei.
Die Majorität der Erl^rankten bedarf derselben nicht. Sie ist aber in jenen
Fällen durchaus anzustreben, in welchen die häuslichen Verhältnisse die
Durchführung des nothwendigen Heilverfahrens nicht gestatten, oder wo eine
strenge Ueberwachung, eine Führung und Leitung des Patienten geboten ist.
Die durch die Hausordnung durchaus geregelte Lebensweise, die strenge Ab-
haltung aller Schädlichkeiten, der jede Zeit bereite ärztliche Rath wirkt auf
den schwer Kranken äusserst wohlthätig eia und bietet in schweren Fällen
die günstigsten Bedingungen zur Wiederherstellung. kikn.
Neurasthenia gaStrica (Nervöse Dyspepsie). Seitdem Leube im
Jahre 1879 das Krankheitsbild der nervösen Dyspepsie geschaffen hat, haben
sich die Anschauungen hierüber wesentlich geändert, ja der Begründer der
nervösen Dyspepsie hat selbst einen Theil seiner ursprünglichen Aufstellungen
aufgegeben. Im Allgemeinen muss man unter nervöser Dyspepsie solche
Formen der Digestionsstörung verstehen, bei denen dauernde objectiv
nachweisbare Störungen nicht vorhanden sind, während subjectiv mehr oder
weniger starke dyspeptische Erscheinungen gefühlt und geklagt werden. Der
Ursprung dieser Klagen kann nun entweder in perversen Innervationszuständen
am Magen oder Darm selbst entstehen, oder sie können von einem entfernteren
Organ — den Nieren, den weiblichen oder männlichen Geschlechtsorganen
u. A. — ausgel öst werden, oder es können schliesslich auch organische Magen-
Darmaffectionen die Basis bilden, auf der sich, bei geeigneter Disposition
nervös-dyspeptische Beschwerden entwickeln.
Aetiologie. Die nervöse Dyspepsie ist zweifellos eine Theilerscheinung
der allgemeinen Neurasthenie oder Hysterie, und man begegnet daher hier
allen denjenigen ursächlichen Momenten, die bekanntermaassen das Zustande-
kommen der ersteren bewirken: Ueberanstrengung, Aerger, Schreck, Sorgen,
Furcht vor Krankheit, Verluste u. A. Dabei spielen die krankhaften Genüsse
der modernen Zeit, das Hasten und Jagen nach Erwerb, die Perversitäten
des Gesellschaftslebens, sowie Excesse im Essen, Trinken, Rauchen, vielleicht
auch sexuelle Ausschweifungen hervorragende Ursachen.
Symptome und Diagnose. Von den subjectiven Symptomen sind für
die Diagnose von Wichtigkeit schwankende durch mehr oder weniger
lange Pausen normalen Verhaltens charakterisirte Befinden. Dabei ist ganz
besonders bemerkenswerth, dass die Störungen der Verdauungsthätigkeit in
weiten Grenzen unabhängig sind von der Art und Quantität der Nahrungs-
aufnahme. Allerdings kann man häufig genug, irre geleitet durch die Be-
schwerden, die Magenfunctionen der Kranken für ausserordentlich geschwächt
und insufficient halten, eine genaue Prüfung ergibt jedoch, dass zu gewissen
Zeiten die höchsten Anforderungen an die Verdauungsorgane ohne Störungen
hervorzurufen, ertragen werden, während zu anderen Zeiten das Umgekehrte
der Fall ist. Noch wichtiger und charakteristischer ist die objective Prüfung
des Magens. Die Palpation ergibt in der Regel normale Beschaffenheit der
Magengrenzen und Mangel an Druckempfindlichkeit des Organs, doch kommt
zuweilen namentlich bei Frauen, Magentiefstand verbunden mit Myasthenie
vor, ohne dass man mit Sicherheit sagen kann, ob diese ein ursächliches
oder accidentelles Moment der nervösen Dyspepsie bilden. In nicht seltenen
76 NEÜRASTHENIA GASTRICA.
Fällen werden gewisse Druckpunkte in der Gegend des grossen Bauchplexus
beobachtet, besonders häufig wieder bei Frauen. Desgleichen beobachtet man
am Rücken diffuse, meist asymmetrisch angeordnete Druckpunkte. Die
wichtigsten Ergebnisse liefert auch hier die Mageninhaltsuntersuchung. Man
findet entweder völlig normale chemische, motorische und resorptive Ver-
hältnisse, oder aber, und das ist ganz besonders charakteristisch, die Er-
gebnisse sind zu verschiedenen Untersuchungszeiten verschieden. So z. B.
findet man bei einzelnen Kranken zu gewissen Zeiten völligen Mangel an
Salzsäure, zu anderen normale Abscheidung, bald findet man eine in den
Grenzen der Norm sich bewegende motorische Thätigkeit, bald ist sie abnorm
verlangsamt. Dass ähnliche Zustände sich auch in der Darmsphäre abspielen,
dafür spricht der Umstand, dass Durchfälle mit Verstopfung häufig abwechseln.
Differentialdiagnostisch kommen in erster Reihe chronische
Gastritis, Atonie, seltener Ulcus und Carcinom in Betracht. Von der chro-
nischen Gastritis unterscheidet sich das Bild durch die exquisite Abhängigkeit
der Magenbeschwerden von der Beschaffenheit der Ingesta, die, wie oben
erwähnt, bei der nervösen Dyspepsie vermisst wird. Sodann ist hervorzuheben
der beständige, kaum durch unwesentliche Schwankungen beeinflusste Charakter
der chronischen Gastritis. Endlich ist von Wichtigkeit der Mageninhalts-
befund, der bei chronischer Gastritis, wenigstens in den späteren Stadien,
Salzsäuremangel und mehr oder weniger vorgeschrittenen Enzymschwund
(Pepsin, Labferment) zeigt. Die Unterscheidung von Atonie und nervöser
Dyspepsie kann gelegentlich um so mehr auf Schwierigkeiten stossen, als
auch bei nervöser Dyspepsie Zustände von muskulärer Erschlaffung der
Magenwände beobachtet werden. Hier wird die Differentialdiagnose lediglich
dem Ermessen des Diagnostikers überlassen bleiben müssen, jedoch bieten die
Fälle, mit denen Zeichen completer Myasthenie vorhanden sind (Druck, Völle,
Aufstossen, Pyrosis, Erbrechen) für die Differentialdiagnose keine Schwierigkeit.
Die Unterscheidung der nervösen Dyspepsie vom Ulcus ventriculi ist in der
Regel leicht, nur wo es sich um jene allerdings nicht seltenen Fälle von
atypischem Ulcus handelt, kann die Diagnose grossen Schwierigkeiten unter-
liegen. Es ist dabei hervorzuheben, dass periodische Remissionen, wie wir
sie oben als charakteristisch für nervöse Dyspepsie geschildert haben, in ein-
zelnen Fällen auch bei Ulcus ventriculi beobachtet werden. In solchen
zweifelhaften Fällen würde die probeweise Anstellung einer Ulcuskur das
geeignetste Mittel zur Behebung aller Zweifel sein.
Auch die Unterscheidung von nervöser Dyspepsie und Carcinom, so
leicht sie auf den ersten Blick zu sein scheint, unterliegt bisweilen den
grössten Schwierigkeiten. In der Regel wird es sich um Fälle handeln, in
denen kein palpabler Tumor vorliegt. Die rapide Abmagerung, die man bei
nervösen Dyspeptikern häufig genug beobachtet, der chronische schleichende
Verlauf, die dyspeptischen Beschwerden können auf das Bestehen einer occulten
malignen Magenerkrankung hindeuten. Unterscheidende Merkmale sind der
absolute und andauernde Mangel an Salzsäure, die Entwickelung starker
Stagnation, endlich die abnorme Milchsäureabscheidung, auf die ich zuerst die
Aufmerksamkeit gelenkt habe (v. „ Magencarcinom" ^ Bd. IL pag. 565). Für
Carcinom sprechen ausserdem leichte Oedeme, Vorhandensein von Pepton und
Indican im Harn, Schwellungen der peripheren Lymphdrüsen.
Therapie. Die Behandlung ist in erster Reihe eine ursächliche, da ge-
legentlich andere Organerkrankungen (dislocirte Niere, Entozöen, Genital-
erkrankungen) dem Leiden zu Grunde liegen, in zweiter Reihe muss die
allgemeine nervöse Grundlage zum Angriffspunkt der Behandlung genommen
werden. Hierzu dienen jene vielfach erwähnten hydriatischen, mechanischen
und electrischen Proceduren, wobei aber zu bemerken ist, dass nirgends
Schablonisiren mehr schadet, als bei der vorliegenden Neurose. Einen wich-
NEURASTHENIA INTESTINALIS. 77
tigeii Theil der Therapie bildet die Ernährungsfrage. Nirgends sind ein-
greifende diätetische Beschränkungen weniger am Platze, als bei nervöser
Dyspepsie, allerdings geht es ebensowenig an, den Kranken völliges plein
pouvoir in der Diät zu geben. Hier handelt es sich eben darum, die Reaction
des Kranken gegen gewisse Speisen und Getränke eingehend zu beobachten,
auf Grund einer solchen Beobachtung lässt sich dann ein geeigneter Speise-
plan entwerfen. Grössere Mengen Alkohol und schwerere Arten desselben
sind ihm ganz zu verbieten, nur die leichteren Alkoholica, Bier, ein milder
Tischwein, verdünnter Cognac, sind in massiger Menge zu gestatten; Thee,
Caffee sind im Allgemeinen schädlich und durch Milch, Cacao, Chocolade oder
die verschiedenen Caffeesurrogate (Gerstencaffee, Malzcaffee) zu ersetzen. Ganz
anders steht es mit den Genussmitteln, ich halte dieselben für nicht allein
unschädlich, sondern direct nützlich, insofern sie den Appetit anregen, die
Absonderung der Verdauungssäfte fördern und dem Kranken das Gefühl der
Behaglichkeit schaffen. Hierher gehören ganz besonders Obst, Weintrauben,
Salate, wozu ich auch Austern, Muscheln u. A. rechne.
Gegenüber diesen ebengenannten Heilpotenzen ist die eigentliche Materia
medica relativ arm. Je klarer wir den Patienten darauf hinweisen, dass sein
Heil ihm nicht aus der Apotheke erblüht, desto leichter und williger wird er
sich den diätetischen und sonstigen Anordnungen unterziehen. Es unterliegt
keiner Frage, dass hierbei das zielbewusste und sichere Auftreten des Arztes
verbunden allerdings mit einer genauen Kenntnis des vielgestaltigen Krank-
heitsverlaufes von grösster Wichtigkeit für die Heilung des Leidens ist. Von
den wenigen Arzneimitteln, die in Betracht kommen, stehen in erster Eeihe
die sogenannten Stomachica, Condurango (als Fluidextract oder Abkochung)
Orexin (0"2) und die verschiedenen Bittermittel {Quassia^ Colombo, Cetrarin,
Äbsi/nthin, Gentiana u. A). Von tonisirenden Mitteln werden die Eisenpräpa-
rate, in ihrer heut zu Tage so stark entwickelten Variationen und Formen
verordnet. Ich selbst ziehe übrigens die altbewährten Pilulae Blaudii allen
angeblich auf das rationellste zusammengesetzten Eisenpräparaten mit den
„gelehrten Namen" vor. Zuweilen werden auch sedative Mittel nicht ent-
behrt werden, ich wende in erster Pieihe die Bromalkalien, sodann auch nach
dem Vorgange von Germain See auch das Bromstrontium in Gaben von 1 — 2 ff
an. Nur in seltenen Fällen und nur da, wo hartnäckige Agrypnie besteht,
sollte man zu Schlafmitteln greifen, man halte sich dann aber nicht mit den
häufig genug versagenden Hypnoticis der neuesten Zeit auf, sondern reiche
das altbewährte Chloral, allenfalls auch das Chloralamid. Wo letztere in Form
von Klysmen prompt wirken, ist diese der Application per os vorzuziehen.
Von Brunnenkuren ist bei nervöser Dyspepsie nur in wenigen Fällen Erfolg
zu erwarten, nur wo eine deutlich nachweisbare anämische Basis vorhanden
ist, dürfte ein Versuch mit milden Eisenwässern (Franzensbad, Cudowa, Rip-
poldsau, Elster u. A.) indicirt sein. Vor dem Gebrauch von Carlsbad,
Marienbad u. A. Glaubersalzquellen ist entschieden zu warnen.
Schliesslich hat man nervöse Dyspepsien auch mit Magenausspülimgen, resp.
Berieselungen behandelt. Wie gross der Antheil der Suggestion bei diesen
Erfolgen ist, mag dahingestellt bleiben, jedenfalls finden sich, wie ich aus
eigener Erfahrung sagen kann, häufig Fälle, die sich unter Anwendung der
genannten Proceduren eher verschlimmern. boas.
Neurasthenia intestinalis. Nervöse Dyspepsie des Darmes.
Analog jener nervösen Magenaffection, die als ..nervöse Dyspepsie" be-
zeichnet wird, begegnet man bei Neurasthenikern einem Symptomencomplex
von Darmstörungen, welche Peter mit einem äquivalenten Namen als „Ner-
vöse Dyspepsie des Darmes" (D/jspepsia enterica nervosa) bezeichnet.
Die Kranken haben meist einen gut erhaltenen Appetit und klagen typi-
78 NEURITIS.
sclierweise über einen eigenthümlichen dumpfen Druck im Unter-
leib, insbesondere unterhalb des Nabels, wodurch die Patienten selbst
anzeigen, dass das Leiden nicht im Magen seinen Sitz habe. Nebstbei finden
sich die proteusartigen Symptome der allgemeinen Neurasthenie, unter denen
insbesondere sehr häufig solche der sexuellen Sphäre prävaliren. Mit Aus-
nahme jenes typischen Schmerzes zeigen sich keine objectiven Erschei-
nungen einer gestörten Darmf unction, der Stuhl erfolgt ganz regel-
mässig, zuweilen etwas retardirt. Die Untersuchung der Faeces ergibt keine
Abnormitäten, nur ausnahmsweise findet sich Flatulenz:
In der Literatur finden sich Fälle von Neurasthenia intestinalis beschrieben, die in
die grosse Gruppe der Darmneiirosen und nicht zu dem scharfumschriebenen Krankheits-
typus der „Nervösen Darmdyspepsie" gehören. Die „Nervöse Darmdyspepsie" hat nämlich
nur dann ihre selbständige klinische Berechtigung, wenn man jene Zustände, die als
„Nervöse Diarrhoe," ferner als „Nervöse Obstipation" und drittens als „Nervöse Darmkolik"
bezeichnet werden, hie von absondert. *) Treten jene drei genannten Symptome in den
Vordergrund des klinischen Bildes, dann soll man nur von einer Darmneurose im weiteren
Sinne, und nicht von einer „Nervösen Dyspepsie des Darmes" sprechen. Der Zukunft
bleibt es wohl vorbehalten, eine genaue Abgrenzung dieser verschiedenen Typen von ner-
vösen Darmaffectionen zu schaffen.
Die differential diagnostische Unterscheidung der nervösen Darm-
dyspepsie ergibt sich aus den typischen Symptomen der als Enteritis chronica
und Enteritis membranacea (v. Bd. I, 'pag. 564 und 566) bezeichneten Zu-
stände, wobei ferner auch die Colitis stercoralis (v. Bd. I, pag. 267) und die
Typhlitis (v. „Para-Perügphlitis" in ds. Bd.) in Betracht gezogen werden
müssen.
Nicht selten bildet auch eine früher abgelaufene anatomische Laesion die Grundlage
für eine spätere nervöse Erkrankung. Hieher gehört wohl jener Fall von Peyer, bei dem
im Anschlüsse an eine vor Jahren überstandene Typhlitis eine intermittirend auftretende
nervöse Darmkolik sich entwickelte.
Die Therapie der nervösen Darmdyspepsie ist zunächst gegen die
allgemeine Neurasthenie gerichtet. Sind irgend welche specielle Ursachen
der allgemeinen neurasthenischen Erkrankung auffindbar (im Bereiche der
weiblichen Genitalien, der männlichen Sexualsphäre, der Harnorgane) so ist
selbstverständlich eine Behandlung dieser pathologischen Ursachen für die
Heilung, sowohl der allgemeinen Neurasthenie, als auch der Darmneurasthenie
eine nothwendige Bedingung. Dessen ungeachtet werden auch specie
auf den Darm gerichtete therapeutische Eingriffe (Pharmako-, hydro- und elek-
trotherapeutisch), sofern dies die speciellen Symptome betrifft, von Erfolg be-
gleitet sein. Ist die nervöse Darmdyspepsie mit nervöser gastrischer
Dyspepsie vergesellschaftet, dann wird speciell jene Behandlung eingeleitet
werden müssen, die im vorstehenden Aufsatze angegeben wurde. ß.
Neuritis. Wenn wir dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens Rechnung
tragen wollen, so müssen wir die einfache Neuritis, welche einen peripheren
Nerven in Folge einer nachweisbaren örtlichen, mechanischen oder entzünd-
lichen Alteration befällt, sondern von der grossen Gruppe von Neuritiden
oder richtiger degenerativen Processen, welche sich unter dem Einflüsse von
allgemeinen (endogenen oder exogenen) Ursachen entwickeln. Es ist, und
das muss besonders betont werden, unter diesen Umständen dann ganz gleich-
giltig, ob ein Nerv allein oder deren mehrere betheiligt erscheinen.
Neuritis simplex. Unter dieser Bezeichnung gehören heute nur jene
Fälle von Nervenerkrankung, in welchen entzündliche, degenerative Verän-
derungen in einem Nerven in Folge einer im Verlaufe desselben zur Geltung
gelangten Schädlichkeit entstanden sind.
Aetiologisch kommt daher zunächst in Betracht das Trauma, welches
durch Quetschung, Zerrung, Torsion oder Durchtrennung auf den Nerven ein-
*) Vergl. „Darmnenrosen" Bd. II. pag. 609.
NEURITIS. 79
wirken kann. In diese Gruppe gehören die Fälle von professioneller Neu-
ritis, in welchen durch constanten Druck an einer bestimmten Stelle, bei
gleichartigem Gebrauche gewisser Instrumente, die Schädigung des Nerven
erfolgt ist. Hieher gehören ferner die Krückenlähmimf/, sowie die F'älle von
Neuritis in Folge von Druck pathologischer Gewebsmassen, Caries (z. B. Felsen-
beincaries), Tumoren etc.
Die Neuritis kann ferner entstehen durch örtliche Einwirkung von Hitze
und Kälte, allgemein werden hieher gezählt, aber mit Unrecht, die Fälle von
sogenannter rheumatischer Affection.
Die Neuritis kann desgleichen durch Application chemischer Reize auf
den Nerven, (subcut. Injectionen, speciell von Aether, Campher, Ueberosmium-
säure etc.) zu Stande kommen. In Folge von Infection kann sich einfache
Neuritis gleichfalls entwickeln, wenn sich metastatische Ablagerungen (Infec-
tionsheerde) im Nerven bilden (Syphilis, Lepra, Pyaemie), die anderen Formen
der infectiösen Neuritis gehören in die Gruppe der multiplen Neuritis. Auch
Carcinommetastasen, leukaemische Infiltrate können Neuritis hervorrufen.
Schliesslich kann der Nerv von Entzündungsprocessen secundär ergriffen
werden, wenn in der Nachbarschaft solche etablirt sind, wie auch der Gefässe
oder Neoplasmen — wie hervorgehoben — denselben secundär in Mitleiden-
schaft ziehen können.
Pathologische Anatomie. Der entzündete Nerv zeigt selten ma-
kroskopisch sichtbare Veränderungen. Es ist dies gewöhnlich nur dann der
Fall, wenn an den Hauptstellen der Aöection Schwellung, Auftreibung oder
Röthung vorhanden ist. Diese Veränderungen sind zwar meist circumscripte,
können aber auch diffus sich erstrecken. Der Process selbst kann sich auf
die Bindegewebsscheide des Nerven (Perineurium) beschränken, das interstitielle
Gewebe (interstitielle Neuritis) oder endlich das Parenchym ergreifen (paren-
chymatöse Neuritis).
Je nach dem Grade der Betheiligung des Perineuriums und des interstitiel-
len Gewebes finden wir dasselbe im mikrokopischen Bilde kleinzellig infiltrirt.
Selten laufen diese beiden Formen nämlich die Perineuritis sowie die intersti-
tielle Neuritis ab, ohne dass das Parenchym erheblich betheiligt wäre. Die
parenchymatöse Erkrankung findet in einem Zerfall der Markscheide Ausdruck.
Wir finden den Nerven mit einer Kette von Markballen — welche sich mit
Ueberosmiumsäure (V4 — l7o) schwarz färben — erfüllt, während die Axen-
faser besteht. Die Faser kehrt — nach Stricker — zur embryonalen Form
zurück. Je weiter der Process fortschreitet, umso mehr schwinden die Fett-
körnchen und es bleibt nur der Faden mit den spindelförmigen Zellen.
Schliesslich geht die Faser in Bindegewebe auf, wenn nicht Regeneration
erfolgt. In diesem Falle treten wieder Markballen auf, und der Nerv erhält
allmählich seine frühere Gestaltung wieder. Dem Wesen nach sind aber alle
Processe, von welchen der Nerv befallen wird, im mikroskopischem Bilde
conform.
Allen Erfahrungen nach erfolgt bei der einfachen Neuritis eine se-
cundäre Degeneration im Sinne von Waller, d. h. in der Ptichtung der Lei-
tung*) In neuester Zeit sind zwar Fälle bekannt, in welcher Degeneration
im entgegengesetzten Sinne gefunden wurde (Bregmann), doch ist diese An-
gelegenheit noch nicht spruchreif. Nach neuesten Untersuchungen wird es
w^ahrscheinlich, dass es sich auch hier nur um secundäre Degeneration han-
delt, welche durch retrograde Einflüsse des in seinem peripheren Verlaufe lae-
dirten Nerven auf die centrale Zelle hervorgerufen wird. (Vergl. die Unter-
suchungen von FOREL, NiSSL, MaRINESCO, BlEDL.)
*) Vergl. die anatomisch-physiologischen Bemerkungen über die moto-
rische Leitangsbahn im Artikel „Muskelatrophie'^ . Bd. II. pag. 748.
80 NEURITIS.
Die Symptome der Neuritis sind nach der Art der Entstehung, nach
der Function des betroffenen Nerven sehr verschiedenartige. So treten sen-
sible Erscheinungen bei der Läsion eines sensiblen Nerven mehr m den
Vordergrund. Das erste Krankheitszeichen ist zumeist der Schmerz, mit-
unter von leichter Fieberbewegung begleitet.
Der Schmerz wird durch den entzündlichen Vorgang am Nerven hervor-
gerufen, ist aber nicht immer ein localisirter, häufig ist er ein ausstrahlender.
Er ist gewöhnlich ein sehr heftiger, anhaltender und steigert sich bei
Nacht und besonders bei Unruhe des Kranken. Das entzündliche Gebiet ist
hyperämisch und hyperästhetisch. Die Hyperästhesie ist im Anfang im ganzen
Inners'ationsgebiete der Nerven nachweisbar. Der Patient klagt häufig über
Kriebeln, Ameisenlaufen, und ist es ein gemischter oder ein motorischer Nerv,
über schmerzhafte Muskelzuckungen.
Im weiteren Verlauf treten vasomotorische Erscheinungen auf, Hyperämie,
Oedem (Gelenksschwellungen), starke Schweissecretion hinzu. Cessiren die
Reizerscheinungen, so nimmt die Hyperästhesie ab und geht allmälig in
Hypästhesie oder gar Anästhesie über, die vom erkrankten Nerven versorgten
Muskel werden unbeweglich, sie atrophiren, zeigen fibrilläre Zuckungen.
In manchen Fällen weist die Haut trophische Störungen auf (Glanzhaut,
Glossy skin).
Die Schmerzen können lange fortbestehen und sind sie auch abgeklun-
gen, so bleibt in der Regel der Nerv selbst noch lange sehr druckem-
pfindlich. Allmälig hört auch dieses Zeichen auf und der Process geht in
das oft unvermeidliche chronische Stadium über. Chronisch wird schliesslich
jede Neuritis, welche nicht rasch durch Regeneration des Nerven zur Hei-
lung gelangt.
Es kann die Neuritis von vorneherein chronischen Verlauf zeigen, in
welchem Falle die Symptome weniger stürmisch und nur allmälig zur Ent-
wicklung gelangen. Die trophischen Störungen im speciellen erlangen hier
oft höhere Grade.
Ueber die Art der Ausbreitung der Processe haben wir kein ab-
geschlossenes Urtheil. Es gibt Forscher, welche behaupten, eine entzündliche
Neuritis könne gegen das Centrum hin fortkriechen und das Centralorgan
ergreifen ohne Rücksicht auf die Leitungsrichtung des Nerven. Diese nament-
lich von Leyden und seinen Schülern — auch für den motorischen Nerven
— aufgestellte Ansicht wird angezweifelt. Jedenfalls ist in Fällen von ausge-
breiteter oder sich ausbreitender Neuritis an Polyneuritis zu denken (v, diesen
Artikel), namentlich wenn eine örtliche Veranlassung zur Entzündung fehlt.
Die Diagnose der acuten einfachen Neuritis ist meist leicht. Die
Druckempfindlichkeit des Nerven, die der Läsion des betroffenen Nerven ent-
sprechende Ausbreitung der Symptome sind maassgebend.
Die Gruppirung der peripheren Symptome sichert selbst im Rückbildungs-
stadium noch die Diagnose. Differential-diagnostisch kommen in Betracht
entzündliche Processe der Gewebe der nächsten Umgebung der Nerven
(periostale Processe), Gelenksrheumatismus (s. diesbezüglich den Artikel „Poly-
neuritis''). Bei chronischen Processen ist die Verwechslung mit Neuralgieen
leicht möglich. Hier fehlen meist die Erscheinungen in der Peripherie (Sensi-
bilitätsstörungen etc.). Gegenüber Schmerzen centralen Ursprungs kommen
in Betracht die Druckempfindlichkeit des Nervenstammes und die typische
Localisation auf einen Nerven.
Mit der Entwicklung der Degeneration treten im motorischen Nerven
Abweichungen in der elektrischen Erregbarkeit gegenüber der Norm auf.
Je intensiver die Affection, um so deutlicher die Entartungsreaction. Nach
der Regeneration erfolgt ganz allmälig auch Rückkehr der normalen elek-
trischen Erregbarkeit.
NEUROMYOSITIS. 81
Verlauf und Prognose sind zunächst abhängig vom Grundleiden.
Die Dauer der Affection lässt sich im allgemeinen schwer sicher voraussagen.
Oft erfolgt die Regeneration in wenigen Wochen, bei älteren Individuen nicht
selten erst nach Jahren. In manchen Fällen bleibt die Regeneration ganz
aus, namentlich nach vollständiger Durchtrennung der Nerven, doch schliesst
die letztere eine vollkommene Wiederherstellung gar nicht aus.
Für die Feststellung der Prognose ist das elektrische Verhalten auch
von Belang. Je weniger dieses alterirt erscheint, umso günstiger ist die
Prognose der einfachen Neuritis und eine umso kürzere Heilungsdauer
dürfte erforderlich sein.
Die Therapie hat vor allem, wenn möglich, der Causalindication zu
genügen. Liegt z. B. eine Durchtrennung vor, so muss der Nerv reconstruirt
werden. Ebenso muss jede örtliche Schädlichkeit, insoferne eine solche nach-
weisbar ist, behoben werden.
Für das acut entzündliche Stadium ist die wichtigste Maassnahme: die
Ruhe. Im Uebrigen örtlich Kälte, eventuell bei starken Schmerzen trockene
Wärme, Blutentziehung, auch Cocaininjection. Innerlich Abführmittel, Natrium-
saUcyL Bei heftigen Schmerzanfällen Antipyrln oder dgl. eventuell Morphin.
In chronischen Fällen örtlich Vesicantien, Cauterisation, Application der
Anode des galvanischen Stromes auf die schmerzhafte Stelle (1-4 Ma.),
locales Dampfbad (nach Gaertner), wenn möglich Massage, allgemeine robo-
rirende Behandlung, Luftveränderung, Thermen. In verzweifelten Fällen
namentlich bei Fixation der Nerven ist die Dehnung zu versuchen. Selbst
in vernachlässigten und uralten Fällen ist mitunter bei entsprechender Be-
handlung vollständige Heilung erzielt worden.
Rücksichtlich der elektrischen Behandlung sei hier schliesslich hervor-
gehoben, dass das acute Stadium für die elektrische Behandlung sich gar
nicht eignet. Später ist die Galvanisation am Platze, speciell wenn noch
Schmerzen bestehen (Anode auf die empfindliche Stelle). Zur Behandlung
der Lähmungen ist der faradische Strom — wie gewöhnlich — vorzuziehen.
PAL.
NeuromyOSitiS. Aetiologie. Die Neuromyositis ist eine seltene
Krankheit, welche zuerst 1888 von Senator beschrieben worden ist.") Da es
sich im ganzen nur um wenige Fälle handelt, die Senator und nach ihm
Adler beschrieben haben, so lässt sich, auch wenn man andere hierher ge-
hörige Fälle, vor allem die von Debove, Eisenlohr und Mossdorf, hinzu-
rechnet, über die Aetiologie noch wenig Bestimmtes sagen. Nur eines scheint
festzustehen, dass es sich auch hier um eine Infectionsk rankheit han-
delt, wobei der Erreger in ähnlicher Weise wie bei der multiplen Neuritis
den Organismus befällt. Es werden dabei nicht allein die Nerven, sondern
auch gleichzeitig die Muskeln befallen.
Krankheitsbild. Die Affection setzt sich zusammen aus den
Symptomen der multiplen Neuritis und der Polymyositis, wobei
bald die Symptome der einen, bald der anderen Erkrankung besonders her-
vortreten. Auch diese Erkrankung kann mit Prodromal er seh einun-
gen beginnen: Kopfschmerzen, Erbrechen, Uebelkeit, Durchfall, Schwindel-
gefühl und grosse Mattigkeit können sogar wochenlang (Fall II Senator,
Fall Adler) vorangehen. Unter Verschlechterung des Allgemeinbefindens,
insbesondere unter Fieberbewegungen tritt die eigentliche, örtliche Erkran-
kung auf. Dieselbe besteht erstens in einer entzündlichen Affection
der Muskeln, mit denselben Veränderungen, wie sie bei der Polymyositis
genauer beschrieben werden sollen. Schmerzen, Schwellungen, Bewe-
*) Vergl. auch Artikel ^Myositis'', Bd. IL pag. 796.
Bibl. med. Wissenschaften. Interne Medicin und Eanderkankheiten. Bd, III.
82 NEUßOMYOSITIS.
gungs Störungen treten in den verschiedensten Muskelgebieten auf,
zuerst gewöhnlich in den Extremitäten, die Muskeln sind nicht nur bei activer
Bewegung, sondern auch spontan auf Druck empfindlich, und die darüber-
stehende Haut kann die nämlichen, theils collateral entzündlichen, theils
exanthematösen Veränderungen erleiden wie die Polymyositis (s. d.). Zu
dieser Muskelaffection gesellt sich, in der Regel etwas später, eine aus-
gesprochene Erkrankung der zugehörigen Nerven. Fraglich bleibt
es, ob diese Nervenerkrankung eine von den Muskeln fortgeleitete oder eine
gleichzeitig auf derselben Ursache beruhende primäre Affection ist. Wie dem
auch sein mag, diese Nervenkrankheit äussert sich, wie bei multipler Neuritis,
in schlaffer Lähmung der zugehörigen Muskeln, eine Lähmung, welche also
anders wie bei Polymyositis nicht nur dem Grade der Bewegungsbehinderung
entspricht, sondern eine viel ausgesprochenere ist und auch bei wenig entzün-
deten Muskeln nachweisbar ist. Ausserdem zeigt sich die Neuritis besonders
im weiteren Verlauf der Krankheit, inSchraerzhaftigkeit der Nerven-
stämme auf Druck und in vollständigem Erlöschen der Sehnen-
reflexe. Sensibilitätsstörungen der Haut sind ebenfalls vorhanden.
Die gelähmten Muskeln zeigen Entartungsreaction. Das anatomische Bild
der Erkrankung ergibt in den Muskeln einen gleichen Befund, wie bei der
Polymyositis. (Paremchymatöse Veränderungen Atrophieen und interstitielle
Veränderungen). Die Untersuchung der Nerven ergibt deutlichen Zerfall der
intramusculären Stämmchen. (Adler). Der Verlauf der Erkrankung ist
ein ziemlich rascher. Es kann entweder der Tod erfolgen (Fall I Senator, Fall
Adler) unter Zunahme des Fiebers, der Frequenz der Pulsschläge, nach
voraufgegangenen Symptomen von Herzschwäche, innerhalb 6 — 8 Wochen. Oder
aber es kommt zur Heilung (Fall H Senator), wobei allerdings die Erkran-
kungsdauer bis zur Wiederherstellung erheblich verlängert ist. (ca. 3 Monate).
Diagnose. Differentialdiagnostisch sind in Erwägung zu ziehen mul-
tiple Neuritis, acute Polymyositis und Trichinosis. Von der
multiplen Neuritis unterscheidet sich die Krankheit durch die Betheiligung
der Muskeln, besonders durch die ausgeprägte Schmerzhaftigkeit derselben,
ferner auch durch die zuweilen ausgesprochene Schwellung, während bei der
multiplen Neuritis zwar die Nervenstämme schmerzhaft sind, die Muskeln aber
nicht; auch sind bei der Neuritis die Muskeln nicht stark atrophisch. Von
der acuten Polymyositis unterscheidet sich die Erkrankung durch die Bethei-
ligung der Nerven, d, h. durch die Schmerzhaftigkeit der Nervenstämme, die
Lähmung und vielleicht die Entartungsreaction der Muskeln, obwohl deren
Verhalten bei der Polymyositis noch nicht genügend untersucht worden ist.
Was die Reflexe betrifft, so sind die Sehnenreflexe bei der Polymyositis auch
oftmals aufgehoben, aber wie es scheint aus anderen Gründen, nämlich nicht
infolge der Lähmung der Nerven, sondern infolge Schwerbeweglichkeit und
Entzündung der Muskeln. Es kommen ferner bei der Neuromyositis Sensi-
bilitätsstörungen der Haut vor, welche sich auch in nicht afficirten Hautpar-
tieen finden und daher mit der Affection der Nerven in Verbindung gebracht
werden müssen. Von der Trichinose endlich unterscheidet sich das Leiden
aus denselben Gründen wie die Polymyositis. Adler macht auf eine gewisse
Verwandschaft der Erkrankung mit der Kak-Ke der Japaner aufmerksam.
Prognose und Therapie. Das spärlich vorliegende Material ge-
stattet ein allgemeines Urtheil über die Prognose noch nicht, doch muss sie
auf Grund der beobachteten Fälle als ad malam vergens bezeichnet werden.
Die Behandlung, die keine specifische sein kann, wird sich auf die Be-
kämpfung bedrohlicher Symptome, insbesondere des allgemeinen Schwäche-
zustandes und der Gefahr von Seiten des Herzens beschränken müssen, wenig-
stens im Anfange. Später wird die Anwendung von Electricität und Massage
NIERENABSCESS. 83
auf Nervenstämme und Muskel zur Beseitigung der Lälimung am Platze sein.
Von den Salicylpräparaten und den übrigen Antirheumaticis ist nicht viel zu
erwarten. rosin.
NierenabSCeSS. (Nephritis suppurativa, vera, circumscripta.) Während
die unter der Bezeichnung Morbus BricjJitii zusammengefassten Formen der
Nierententzündungen dadurch aus gezeichnet sind, dass die pathologischen
Veränderungen eine diffuse Ausbreitung haben, ist für die eitrige
Nephritis das herdförmige Auftreten charakteristisch. Wir fin-
den bei derselben vereinzelte oder multiple Abscesse in einer oder beiden
Nieren, welche, ausser in den hochgradigsten Fällen, durch nicht erkrankte
Drüsensubstanz von einander getrennt sind.
Aetiologie: Nierenabscesse können ohne äussere Veranlassung idio-
pathisch entstehen — ein sicher beobachtetes, aber jedenfalls sehr seltenes
Ereignis, dessen wahrer Grund bisher noch durchaus unbekannt ist. Die
Annahme, dass das Leiden in derartigen Fällen durch Erkältung entstanden
ist, hat nicht viel Wahrscheinlichkeit für sich. Meistens liegt das ursäch-
liche Moment klar zu Tage. So entwickeln sie sich nach Stich- und Schuss-
verletzungen des Organs, indem eitererregende Mikroorganismen in die Wunde
übertragen werden; auch nach Contusionen der Lendengegend treten sie auf,
wenn auch vermuthlich die letztgenannte Veranlassung seltener wirksam ist,
als man früher geneigt war anzunehmen. Sehr oft finden sich multiple
Abscesse in beiden Nieren bei septischen und pyämischen Erkrankungen,
wenn eine ulceröse Endocarditis zu diesen Leiden hinzugetreten ist. Die
von pathogenen Mikroorganismen durchsetzten Auflagerungen auf den Herz-
klappen erweichen, zerfallen, kleinste Theilchen werden durch den Blutstrom
abgebröckelt und in die Nierencapillaren verschleppt, wo sie stecken bleiben
und eine Eiterung in ihrer Umgebung anregen. Diese metastatischen Abscesse
sind mit Infarktbildung der Nieren vereint.
Die häufigste Ursache der Abscedirungen bilden wohl eitrige Pyelitiden,
welche an Blasenkatarrhe mit ammoniakalischer Zersetzung des Urins sich
angeschlossen haben, oder durch Anwesenheit von Steinen im Nierenbecken
bedingt sind. Die hierbei auftretenden Bacterien wandern theils auf dem
Wege der geraden Harncanälchen, theils auf dem der Lymphbahnen in die
Niere ein und erregen Eiterungen. Man bezeichnet diese Zustände als
Pyelonephritis. Selten kommen Nierenabscesse infolge von Perforation von
benachbarten Eiterherden in das Parenchym des Organs zu Stande.
Pathologische Anatomie: Wenn eine Eiterung in der Niere sich
entwickelt, sind die betroffenen Partieen im Beginn hyperämisch und von
weicher Consistenz, später lässt die Röthung besonders in der Mitte nach und
daselbst kommt die eitrige Einschmelzung des Gewebes zustande. Sitzen
die Abscesse in der Rinde, so haben sie eine kuglige Gestalt und schimmern
an der Oberfläche hindurch; in der Marksubstanz zeigen sie eine mehr strich-
oder streifenförmige Ausbreitung. Ihre Grösse schwankt von den kleinsten,
mit blossem Auge kaum sichtbaren bis zu solchen, welche die ganze Nieren-
substanz zerstört und Kapsel und Becken zu einem deutlich fühlbaren Tumor
erweitert haben. Das Innere solcher grossen Eiterhöhlen weist einen fächerigen
Bau auf, da die Nierenkelche der Zerstörung Widerstand geleistet haben.
In einer Niere finden wir Abscesse bei der idiopathischen Form, ferner
nach Traumen, und wenn dieselben durch Steine im Nierenbecken Ijedingt
sind. Beide Nieren sind erkrankt bei ulceröser Endocarditis und bei Stauung
zersetzten Harns in der Blase. Der letztgenannte Zustand tritt bei Stricturen
der Harnröhre, bei Prostatahypertrophie und bei Rückenmarksleiden auf, be-
sonders wenn der Urin nach Katheterisiren mit unreinen Instrumenten in Zer-
setzung geräth. Ich beobachtete brandige Zerstörung der Blasenschleimhaut
6*
84 NIERENABSCESS.
mit consecutiver Pyelonephritis bei durch Retroflexio uteri gravidi entstandener
hochgradigster Harn Stauung.
Die Symptome sind oft so unbestimmt, dass eine Erkennung des
Leidens kaum möglich ist. Besonders die bei Pyämie auftretenden Nieren-
abscesse rufen gewöhnlich gar keine oder so schwer zu deutende Symptome
hervor, dass dieselben in dem schweren Allgemeinzustande der Kranken völlig
aufgehen.
Bei den nach Traumen entstehenden finden wir die prägnantesten Zeichen.
Zunächst besteht Hämaturie, nach Aufhören derselben tritt Schmerz in der
afficirten Seite auf, welcher durch Druck gesteigert wird und bis in das Bein
ausstrahlt. Dasselbe wird in Flexionsstellung gehalten, kann aber ohne
wesentliche Schmerzen im Hüftgelenk flectirt werden. Gleichzeitig besteht
hohes Fieber mit remittirendem Typus und die erkrankte Niere erweist sich
bei der Palpation als vergrössert. Erfolgt nun eine Entleerung von Eiter
mit dem Harn, bedingt durch Perforation des Abscesses in das Nierenbecken,
und zugleich ein Nachlass der Schmerzen mit Abfall der Temperatur, so ist
die Diagnose mit grösster Wahrscheinlichkeit zu stellen. Gesichert wird sie,
wenn necrotische Fetzen von Nierengewebe mit dem Urin zu Tage gefördert
werden.
Entwickeln sich Nierenabscesse im Anschluss an durch Steinbildung
oder durch Stauung zersetzten Harns verursachte Pyelitis, dann sind die Er-
scheinungen viel weniger in die Augen fallende. Nur die genaueste Unter-
suchung des Urins kann hier unter Umständen den richtigen Weg weisen.
Wenn in demselben aus Epithelien der geraden Harncanälchen bestehende
Cylinder gefunden werden, spricht das für Affection der Nieren. Fühlt man
an der Niere eine fluctuirende Geschwulst, so kann durch die Probepunction
die Natur derselben näher festgestellt werden. Man thut gut, diese stets vom
Rücken aus an dem Rande des m. sacrolumbalis auszuführen.
Wenn Nierenabscesse längere Zeit bestehen, haben sie die Neigung, in
die Nachbarorgane zu perforiren. Bei Durchbruch in das Nierenbecken, dem
häufigsten Ausgang, zeigt der Urin die beschriebenen Eigenschaften, enthält
Eiter, Blut und Gewebstrümmer. Perforation nach aussen wird durch teigige
Anschwellung der Haut in der Lendengegend unterhalb der falschen Rippen
eingeleitet, welcher erysipelatöse Röthung und später deutliche Fluktuation
folgen. Durch Einschnitt werden dann ein und mehr Liter Eiter entleert.
Durchbruch in das Colon ist ebenfalls häufig, seltener in den Dünndarm oder
durch das Zwerchfell in die Lungen und Pleuren.
Der Ausgang kann in Heilung bestehen, wenn der Eiter vollständig
entfernt ist und die Höhle vernarbt. In anderen Fällen bleibt eine chronische
Eiterung durch eine Fistel, und der Tod erfolgt unter zunehmender Ent-
kräftung. Mitunter stockt die Urinsecretion vollständig und es tritt unter
schweren nervösen Erscheinungen, welche den bei Urämie beobachteten
gleichen, der Exitus ein.
Die Diagnose ist in ausgeprägten Fällen nicht schwer, sie wird
gestützt durch den Schmerz in der Lendengegend, den Tumor, das Fieber
und die Anwesenheit von Eiter und Blut im Urin. Verwechslungen sind
möglich mit Entzündung des die Niere umgebenden Bindegewebes {'para-
nephritischer Abscess). Bei diesem fehlt der Eiter im Harn, dafür besteht
Anschwellung und Oedem der Haut, welche dem uncomplicirten Nierenabscess
nicht zukommt. Bei palpatorisch festgestellter Vergrösserung der Niere
kommen Geschwülste und Echinococcus differential-diagnostisch in Betracht.
Der sicherste Entscheid wird durch die Probepunction geliefert. Metastatische
Abscesse sind nur ausnahmsweise der Diagnose zugänglich, wenn sie eine er-
hebliche Grösse erreicht haben und Blut, respective Eiter dem Urin beimen-
gen. Im Anschluss an Pyelitis entstehende Niereneiterungen sind ebenfalls
NIERENAMYLOIDOSE. 85
sehr schwer zu erkennen. Nach Feststellung der Grundkrankheit ist der Nach-
weis von Nierenepithelien, Cylindern und besonders eine plötzlich auftretende
reichliche Eiterentleerung von Wichtigkeit. Im Uebrigen muss nochmals
hervorgehoben werden, dass gelegentlich Nierenabscesse vollkommen latent
verlaufen.
Die Prognose ist für die metastatischen Abscesse mit der der Grund-
krankheit zusammenfallend und daher ungünstig. Für die anderen hängt sie
wesentlich davon ab, ob eine rechtzeitige Diagnose und eine operative Be-
handlung möglich ist, durch welche wiederholt Heilungen erzielt sind. Un-
günstig ist die Prognose, wenn Perforationen in Organe der Nachbarschaft
stattgefunden haben.
Therapie: Bestehen Zeichen, welche auf die Entwicklung einer
Niereneiterung hindeuten, so ist eine kräftige Antiphlogose (Eis, Blutent-
ziehungen) einzuleiten, daneben Bettruhe und leichte Diät anzuordnen.
Kommt es dennoch zur Eiterbildung oder ist die Existenz eines Abscesses
mit Sicherheit nachgewiesen, dann ist die chirurgische Behandlung, wenn
irgend möglich, anzustreben, da durch innere Mittel der Gang des Leidens
kaum beeinflusst werden dürfte. hilbert,
NierenamyloidOSe. Die amyloide Entartung der Nieren tritt nur aus-
nahmsweise als primäres Leiden auf. Gewöhnlich ist sie die Folge gewisser
zu Cachexie führender krankhafter Vorgänge in anderen Organen. Als solche
sind vorzüglich lange währende Eiterungen in den verschiedensten Theilen
zu nennen, besonders chronische, cariöse Knochen- und Gelenkerkrankungen,
welche durch Fistelgänge mit der Aussenwelt communiciren. Auch bei vor-
geschrittener Lungentuberculose und bei tuberculösen Darmgeschwüren kommt
sie zur Beobachtung, seltener bei sackartigen Bronchiectasen, welche im An-
schluss an Lungenschrumpfung sich entwickeln. Inveterirte Syphilis und
Malaria bewirken ebenfalls hochgradige Cachexie, in deren Begleitung die
amyloide Degeneration sich einfindet.
Pathologische Anatomie: Je nach der Ausbreitung des Processes
bieten die mit amyloider Entartung behafteten Nieren sehr verschiedene Bilder
dar. In den geringsten Graden erscheinen sie bei makroskopischer Betrach-
tung vollkommen normal. Auf dem Durchschnitt ragt ein Theil der Glome-
ruli als gräulich perlartig durchscheinende Knötchen hervor, welche bei Ueber-
giessen von Jodtinctur über die Schnittfläche eine intensiv mahagonibraune
Färbung annehmen. Die amyloide Degeneration ist in diesen Fällen auf die
Glomeruli beschränkt, deren Capillarschlingen theilweise oder vollständig ent-
artet sind. Mikroskopisch sind die erkrankten Partieen im ungefärbten Prä-
parat durch ihre homogene Beschaffenheit und ihren hellen Glanz zu erkennen;
sie geben ausserdem mit Jod behandelt die erwähnte Färbung, welche bei
Zusatz von Schwefelsäure dunkelviolett sich gestaltet; durch Methyl violett
erhalten sie einen röthlichen Farbenton.
Ist der Process über die ganze Niere ausgebreitet, so erscheint dieselbe
bedeutend vergrössert, die Kapsel ist leicht abziehbar, die Oberfläche glatt
und blass grau gelblich gefärbt. Auf dem Durchschnitt hat das Organ einen
speckigen Glanz und zeigt eine erhebliche Verbreiterung der Rinde. Bei
Behandlung mit Jod treten dunkelbraun gefärbte Punkte und verästelte Streifen
deutlich hervor, (v. Artikel „Leberdegeneration^^) Das Amyloid findet sich hier
in den Gefässen der Niere und der Membrana propria der Harnkanälchen.
Gleichzeitig bestehen Veränderungen des Epithels wie bei der grossen weis-
sen Niere.
Auch Spcckschnimxifniere wird beobachtet, besonders wenn die Krank-
heit lange Zeit bestanden hat. Dieselbe ist der gewöhnlichen Schrumpfniere
durchaus analog beschaffen mit dem einzigen Unterschiede, dass eine aus-
86 NIERENECHINOCOCCüS.
gedehnte amyloide Degeneration der Gefässe und Harnkanälchen nachweis-
bar ist.
Die Symptome des Leidens treten gegenüber denen der Grundkrank-
heit in den Hintergrund; dasselbe wird daher leicht übersehen, wenn nicht
eine sorgfältige und oft wiederholte Urinuntersuchung stattfindet. Aber auch
das Verhalten des Harns ist durchaus nicht in allen Fällen constant, wie aus
der Mannigfaltigkeit der Sectionsbefunde leicht erklärlich. Es ist daher un-
möglich, ein einheitliches, für alle Fälle passendes Krankheitsbild zu entwerfen.
Gewöhnlich ist die Menge des Urins vermehrt, auf 2000 bis 4000 ccm
derselbe hat eine helle Farbe, wenn auch eine etwas dunklere als der bei
Schrumpfniere, und niedriges specifisches Gewicht (1*006 bis 1"010). Er ent-
hält viel Eiweiss, dagegen wenig morphotische Bestandtheile.
Die Veränderungen des Harns bestehen lange Zeit als einziges Zeichen
der Affection. Erst spät tritt Wassersucht auf, welche aber dann sehr hart-
näckig zu sein pflegt. Uraemie, Retinitis, secundären Entzündungen in anderen
Organen begegnet man bei Amyloidniere viel seltener als bei den anderen
Nierenkrankheiten, auch die -Hypertrophie des linken Ventrikels fehlt gewöhn-
lich, was wahrscheinlich in der durch das primäre Leiden bedingten Cachexie
seinen Grund hat.
Combinationen mit chronischen, parenchymatösen und interstitiellen Pro-
cessen in der Niere kommen häufig vor und sind geeignet, das Bild wesent-
lich zu modificiren.
Verlauf, Dauer, Ausgang: Die amyloide Entartung der Nieren kann
schon in den Kinderjahren zur Entwicklung gelangen, am häufigsten begegnen
wir derselben im mittleren Lebensalter. Die Dauer des Leidens ist wechselnd
und wesentlich von der Grundkrankheit abhängig; wenn dieselbe bald beseitigt
werden kann, sind Heilungen möglich; im anderen Falle kann die Krankheit
3 bis 15 Jahre währen. Der Ausgang in Tod ist jedenfalls der gewöhnlichste.
Die Diagnose kann meist nur mit Wahrscheinlichkeit gestellt werden.
Das Verhalten des Harns bietet keine absolut sicheren Anhaltspunkte, da es
zu verschiedenen Zeiten schwankt und mit dem bei den anderen Nierenkrank-
heiten, sowie mit dem Stauungsharn Aehnlichkeiten darbietet. Von grosser
Bedeutung ist der Nachweis des ätiologischen Momentes und die Beachtung
amyloider Veränderungen in anderen Organen, da Nierenamyloid gewöhnlich
nicht isolirt besteht. In Betracht kommen hauptsächlich Leber und Milz,
welche vergrössert und hart sind, sowie der Darm, von dessen amyloider Er-
krankung hartnäckige Durchfälle Zeugnis ablegen. Wenn gleichzeitig diffuse
Nierenentzündungen bestehen, ist eine genaue Diagnose kaum möglich.
Die Prognose hängt von dem Grundleiden ab, ist also für die Mehr-
zahl der Fälle ungünstig. Wenn dasselbe rechtzeitig beseitigt werden kann,
wie mitunter Knochen- und Gelenkeiterungen im kindlichen Alter durch
Operation, so kann der Process in den Nieren zum Stillstand kommen. Ob
wirkliche Ausheilungen amyloid veränderter Gewebstheile möglich sind, ist
mit Sicherheit nicht entschieden, aber unwahrscheinlich.
Die Therapie hat demnach vorzugsweise auf die primäre Krankheit ihr
Augenmerk zu lenken, im übrigen in der Anordnung eines allgemein robo-
rirenden Regimes zu .bestehen. Die innere Verabreichung von Jodkalium,
Jodeisen und von Chinadecocten ist empfohlen. hilbert.
NierenechinOCOCCUS. Die in verschiedenen Organen des Menschen
vorkommenden Echinococcusblasen sind Entwicklungsstadien (Finnen) des im
Hundedarm lebenden kleinen Bandwurms Taenia Echinococcus. *) Die geogra-
phische Verbreitung der Echinococcuskrankheit weist ausserordentliche Diffe-
*) Vergl. Artikel „Eingeweideivürmer des Menschen^'- im Bd. I, pag. 463.
NIERENECHINOCOCCÜS. B7
renzen auf. Während sie bei uns ein relativ seltenes Leiden darstellt, ist
sie beispielsweise in Island sehr häutig, so dass nach glaubwürdigen Berichten
jeder siebente Mensch dort daran sterben soll. Der Echinococcus besteht aus
der in eine vom Wirth gelieferte dicke Bindegewebsmembran eingelagerten
Mutterblase mit aus zarten Lamellen gebildeter Wand, in welcher zahlreiche
Tochterblasen eingeschlossen sind, welche ihrerseits wieder kleinere Bläschen
beherbergen. An der Wand derselben sitzen die Scolices, mit 4 Saugnäpfen
und einem Hakenkranz versehene Bandwurmköpfe. Die in den Blasen ent-
haltene Flüssigkeit ist klar oder leicht opalescirend. Der Nierenechinococcus
ist ungefähr zehnmal seltener als der der Leber (v. „Leherechinococcus'').
Meist ist nur eine Niere befallen, die linke häufiger als die rechte.
Er bildet Apfel- bis Kindskopfgrosse Geschwülste, welche Fluktuation und
manchmal bei kurzem Anstoss ein eigenthümliches Vibriren, sogenanntes
Hydatidenschivirren darbieten. Er sitzt theils in der Rinde, theils in den
Pyramiden, aber auch zwischen Nierenkapsel und Niere. Durch sein Wachs-
thum werden die ihn umgebenden Theile des Organes zur Verödung gebracht
und damit ein grosser Theil desselben functionsuntüchtig. Perforationen in
Nachbarorgane werden oft beobachtet, am häufigsten nach dem Nierenbecken,
wobei es zumeist infolge von Neigung zu consecutiver Pyelitis kommt, seltener
in den Darm oder durch die Lendenmuskulatur nach aussen, mitunter auch
durch das Zwerchfell in die Lungen.
Vereiterung des Sackes findet ebenfalls statt, besonders w^enn eine Com-
munication desselben mit dem Darme besteht.
Die Symptome sind zu Beginn des Leidens ausserordentlich unbestimmt
und wechselnd. Sobald der Parasit eine gewisse Grösse erreicht hat, pflegen
dumpfe Schmerzen im Kreuz, in der Nierengegend aufzutreten, wie sie auch
sonst bei Nierengeschwülsten angetroffen werden. Durch die Palpation ist
dann meist ein cystischer Tumor nachzuweisen, welcher mitunter Hydatiden-
schwirren erkennen lässt. Wenn der Echinococcus in das Nierenbecken per-
forirt, enthält der Urin Beimengungen von Eiter- und Blutkörperchen als
Anzeichen von Pyelitis, ausserdem nimmt er zeitweise milchigtrübe oder
seifenlaugenartige Beschaffenheit an und weist dann charakteristische Be-
standtheile, wie Echinococcushaken, Membrantheile oder auch ganze Blasen
auf. Die Passage der letzteren durch den Ureter erfolgt, wenn sie
eine gewisse Grösse besitzen, unter heftigen, kolikartigen Schmerzen, welche
mehrere Stunden anhalten; die Entleerung aus der Urethra ist ebenfalls meist
schwierig und erfordert oft Kunsthilfe; bei spontaner Ausstossung werden sie
mit grosser Gewalt herausgeschleudert. Bei manchen Kranken wiederholen
sich derartige Kolikanfälle in Zwischenräumen von einigen Wochen bis Monaten
häufiger und sind jedesmal von der geschilderten Beschaffenheit des Urins
gefolgt. Bei Durchbruch in den Darm werden die Blasen mit dem Stuhl, bei
Perforation in die Lunge durch Expectoration entleert.
Die Dauer des Leidens erstreckt sich über viele Jahre. Die Aussichten
sind im Ganzen nicht ungünstig, da Spontanheilung nach Perforation in der
Nachbarschaft nicht zu selten beobachtet ist, andererseits die operative Be-
handlung durch die Fortschritte der Technik immer bessere Chancen bietet.
In den seltenen Fällen, wo eine Hufeisenniere oder überhaupt nur eine Niere
existirt, ist die Prognose ungünstig.
Die Diagnose bereitet oft sehr bedeutende Schwierigkeiten. Verwechs-
lungen mit cystischen Tumoren des Ovariums sind möglich und thatsächlich
mehrfach berichtet. Für die Angehörigkeit der Geschwulst zur Niere ist be-
sonders das Verhalten des Dickdarmes eventuell nach Lufteintreibung zu ver-
werthen, welcher über die vordere Fläche des Organes hinzieht. Bei Ent-
wickelung eines Echinococcus in den oberen Theilen der rechten Niere kann
die Abgrenzung von der Leber erhebliche Schwierigkeiten bereiten.
88 NIERENKOLIK.
Wenn die cystische Geschwulst als der Niere zugehörig durch die Palpa-
tion erkannt ist, bedient man sich zur Ermittelung ihrer wahren Natur der
Probepunction, falls nicht durch Perforation Blasen an die Oberfläche befördert
sind. Für Echinococcus spicht die Abwesenheit von Eiweiss, sowie der Nach-
weis von Bernsteinsäure und insbesondere der von Häkchen in der Punktions-
flüssigkeit.
Erscheinen Blasen, respective Membrantheile und Haken im Urin, so
können sie durch Perforation eines anderen Organen angehörenden Echino-
coccus in die Blase dahingelangt sein. Für Nierenechinococcus sprechen der
Entleerung vorangehende kolikartige Schmerzen in der Gegend der Ureteren.
Therapie: Von einer inneren Medication (Terpentin) ist kein Erfolg
zu erwarten. Wenn daher keine Aussicht auf Spontanheilung besteht und die
Beschwerden einen erheblichen Grad erreicht haben, muss die operative Ent-
fernung des Parasiten vorgenommen werden. Dieselbe erstrebt entweder,
nach Incision und Entleerung des Inhaltes den Sack zur Verödung zu bringen,
oder sie besteht in einer Entfernung des erkrankten Organes in toto. Der
letztere Eingriff ist wesentlich schwerer, während der erstere weniger Gefahren
in sich schliesst, dafür aber eine längere Heilungsdauer beansprucht. Mit den
Fortschritten der Technik sind die Resultate beider Operationen in der Neuzeit
recht befriedigende geworden. hilbekt.
Nierenkolik. Man versteht unter Nierenkolik anfallweise auftretende
Schmerzattaquen, die in der Nierengegend beginnend dem Verlaufe des
Ureters folgen und nach verschiedener Richtung ausstrahlen.
Aetiologie: Die Ursachen der Nierenkolik sind sehr verschieden; selten
ist dieselbe durch entzündliche und ulcerative Processe im Nierenbecken, in
den Kelchen oder in den Harnleitern bedingt, so dass ein in seinen chemischen
Mischungsverhältnissen von der Norm abweichender Harn den Schmerzanfall
hervorruft. Zumeist ist die Becken- oder Harnleiterwand normal, aber die
Passage des Harnleiters hat plötzlich eine Unterbrechung erlitten.
Die Obturation kann entstehen
1. durch den Inhalt des Nierenbeckens und zwar durch Concremente,
Neubildungen und Parasiten {Echinococcus^ Distoma haematohium^ Strongylus)
oder durch Blutgerinnsel und Eiterpfropfe.
2. Durch Tumoren, die den Harnleiter von aussen comprimiren.
3. Durch Dislocation der Niere selbst, so dass es zu einer Knickung
oder Achsendrehung des Ureters kommt.
4. Durch Narbenbildungen im Ureter selbst.
5. Durch einen Harnleiterkrampf, wie er infolge von Malaria oder als
Symptom von Tabes beobachtet wurde.
Der Kolikschmerz ist zum Theile wohl durch den mechanischen, be-
ziehungsweise chemischen Reiz, den das Concrement, oder der stark saure
Harn auf die Schleimhaut des Ureters ausübt, hauptsächlich jedoch durch die
acute Dilatation des Harnleiters und Beckens oberhalb des Passagehinder-
nisses hervorgerufen und wird durch frustrane Peristaltik des Ureters
gesteigert. (Vergl. auch Artikel ^^Xephrolithiasis'^, Bd. III, pag. 27.)
Symptome: Die Nierenkolik setzt zumeist plötzlich ein, bald unver-
muthet, bald nach körperlichen Anstrengungen, und bietet folgende charak-
teristische Erscheinungen: ein sehr heftiger, einseitiger von der Lumbai-
gegend ausgehender, im Verlaufe des Ureters gegen die Blase localisirter
Schmerz, der oft nach der Wirbelsäule, gegen die Schultern und auf die
Oberbauchgegend sich erstreckt. Beim Manne macht der Schmerz Ausstrahlun-
gen gegen die Glans und gegen den Hoden der kranken Seite, welcher stark
in die Höhe gezogen und empfindlich ist und sogar anschwillt. Wenn auch
der Schmerz continuirlich ist, zeigen sich doch Exacerbationen von solcher
NIERENKOLIK. 89
Vehemenz, dass die Kranken laut schreien und sich auf dem Boden wäl-
zen. Neben diesen localen treten auch Allgemeinerscheinungen in den Vor-
dergrund, Bangigkeit, Todesangst. Das Gesicht ist anfangs congestionirt,
später blass entstellt, die Augen halonirt, die Stirn mit klebrigem Schweisse
bedeckt. Der Puls ist zumeist verlangsamt; bei sehr heftigen Anfällen ist
er ausserordentlich frequent, von geringer Spannung, kaum fühlbar.
Häufig, ja nahezu constant ist Uebligkeit und refiectorisch erregtes Er-
brechen vorhanden. Auch Singultus, Convulsionen oder Ohnmächten stellen
sich bei nervösen Individuen ein. Den Anfall leitet öfter ein Schüttelfrost
mit hohem Temperaturanstieg ein; andauernde Fiebererscheinungen gehören
nicht zum Bilde der Renalkolik. Oft stellen sich Störungen der Harnab-
sonderung und Harnentleerung ein. Es kann mehr oder weniger lang an-
dauernde Anurie auch bei Ergriffensein nur einer Niere zur Beobachtung ge-
langen; diese Anurie ist eine reflectorische, ebenso wie der so häufige
Harndrang.
Die Harnmenge ist constant spärlich; der Harn theils klar, theils getrübt
und blutig tingirt. Geringe Mengen Albumin sind in der Regel nachweisbar.
Im Sediment findet man zumeist Krystalle irgend eines Steinbildners ein-
zelne oder auch reichliche rothe Blutkörperchen, weil es durch spitze Con-
cremente zu Verletzungen der Schleimhaut kommt. Bei vorhandener Eite-
rung im Nierenbecken, wird der Harn während der Dauer eines Kolikan-
falles häufig ganz klar, weil das eitrige Secret in Folge der Observation
nicht abfliessen kann.
Die Dauer der Anfälle ist meist mehrere Stunden, indessen gibt es auch
solche, wo der Anfall Tage, ja sogar Wochen fortdauern kann. Die Ptenalko-
lik endet nicht selten plötzlich, dies ist der Fall, wenn das den Ureter obtu-
rirende Hindernis entfernt ist, dann bleibt noch eine Mattigkeit und Abgeschla-
genheit längere Zeit zurück. Die Nierenkolik bleibt selten auf einen oder
wenige Anfälle beschränkt, sie wiederholt sich zumeist und befällt in der
Regel dieselbe Seite.
Die Prognose der Nierenkolik muss im Allgemeinen als günstig
hingestellt werden, da der Tod im Anfalle selbst sehr selten ist; in Bezug
auf dauernde Heilung ist aber die Prognose nicht günstig, da sich die An-
fälle wiederholen und den Lebensgenuss beeinträchtigen. Die Nierenkolik ist
ein Symptom einer Reihe von Erkrankungen, von deren Natur dann
die Prognose abhängig ist.
Die Diagnose ist im ersten Anfalle oft allerdings schwer zu stellen.
Die Schmerzen in der Niere werden mit anderen Schmerzanfällen verwechselt,
insbesondere mit Darmkoliken, Gallensteinkoliken und Gastralgien, Embolie
in die Nierenarterien. Wenn man aber das Vorhandensein eines Leidens
des Harnapparates, durch den Harnbefund sowohl in chemischer als insbeson-
dere mikroskopischer Beziehung berücksichtigt, die Anamnese auf eine wich-
tige Erscheinung hinlenkt, dass nämlich vor dem Eintritt der Nierenkoli-
ken fast stets Abgang von Sand beobachtet wurde, wird man zumeist in der
Lage sein, die Diagnose zu stellen. Bei der Untersuchung der Nieren und
Harnleiter zeigt sich die Lumbaigegend bei der Palpation sehr empfindlich.
Oefter ist eine acute Dilatation des Nierenbecken {acute Hijdro- oder Pyone-
2)hrose) nachweisbar.
Therapie. Die Behandlung der Renalcolik muss eine energische sein.
Um den Schmerz zu stillen, wendet man das Morphin und zwar auf
hypodermatischem Wege ein. Man kann mit O'Ol beginnen und allmählig
auf 0-02 und 0*03 steigen und kann je nach Gewöhnung und Toleranz nach
mehreren Stunden die Injection wiederholen. Lassen die Schmerzen nach
der Injection im Verlauf von mehreren Stunden nicht nach, oder ist deren
Intensität eine sehr grosse, dann lässt man 10 bis 20 Tropfen Chloroform
90 NIERENNEOPLASMEN.
auf ein Sacktuch träufeln und lässt den Kranken mit Vorsicht solange
inhaliren, bis die Schmerzen^nachlassen — was in der Kegel bald geschieht.
Bei Wiederkehr des Schmerzes kann die Inhalation wieder begonnen werden.
Will man nicht Chloroform verwenden, so kann man auch Chloralhydrat ge-
ben und zwar als Klysma nach folgender Verschreib ung: Rp. Hydrati chloral.
2 — 3-00, Laudani Sydenhami gtts. X. Ladis. löO'OO, Vitelli ovi Nr. L,
D. S. Klysma.
Die Behandlung mit Opiaten wird unterstützt durch möglichst warme
Kataplasmen auf die schmerzhafte Stelle. Auch kann man zweckmässig
narkotische Umschläge, Chloroform auf Watte oder noch zweckmässiger die
Chloroform-Morphinsalbe verwenden: Rp. Morphii hydrochlor. 0'20, Chloroformi
10-00, Vaselini 20'00. Die Salbe wird auf einen Leinwandfleck von Handteller-
grösse aufgestrichen, auf die schmerzhafte Stelle gelegt, mit Watte bedeckt
niedergebunden. Den gleichen Zweck erreicht man, wenn man Methylchlorür
gegen die Lumbaigegend zerstäubt.
Lang dauernde heisse Bäder werden von manchen Patienten sehr
gerühmt. Nur eine ganz geringe Zahl von Kranken zieht Kälte vor, und
zwar eine Eisblase über den Leib.
Ein weiteres therapeutisches Moment ist es die Ureterobturation
zu beheben, theils dadurch, dass die vis a tergo gesteigert wird durch die
Anwendung der Diuretica oder auch bloss durch Zufuhr von grossen Mengen von
Flüssigkeiten — z. B. von Mineralwässern, Theesorten u. dgl. Diese Em-
pfehlung hat nur einen theoretischen Werth, da die meisten Kranken Alles
erbrechen, und wenn dies auch nicht der Fall ist, so wird häufig der Schmerz
durch die noch mehr gesteigerte Ausdehnung des Harnleiters vermehrt.
Reliquet und Bochut empfehlen Compression der unteren Extremitäten mit
Kautschuckbinden zur Steigerung des Aortadruckes und dem entsprechend
auch des Secretionsdruckes in der Niere.
Massage ist wegen grosser Schmerzhaftigkeit selten anzuwenden. Als
Curiosum mag das Vorgehen von Simpson angeführt werden, der einem mit
Nierenkolik erkrankten Patienten auf den Kopf stellen und ordentlich durch-
schütteln Hess. Der Stein soll in diesem Falle wieder ins Nierenbecken ge-
fallen sein und hiermit war der Anfall beendet.
Die durch Malaria hervorgerufenen Nierenkoliken, verschwinden nach
Anwendung grosser Dosen Chinin (Legüen). Bei anderen, rein neuralgischen
Formen, bei welchen, wegen der irrthümlich gestellten Diagnose auf Nieren-
concremente, eine Explorativ-Operation oder auch die Incision der Niere mit-
tels des Sectionsschnittes gemacht wurde, wurde von Guyon u. A. öfter Hei-
lung beobachtet. j. h. beick.
Nierenneoplasmen. Unter den Nierengeschwülsten im engeren Sinne
sind zunächst die Cysten zu erwähnen. Kleinere Exemplare bis zu Hasel-
nussgrösse werden an der Oberfläche normaler, häufiger von Schrumpfnieren
gefunden. Sie sind durch Abschnürung einzelner Harnkanälchen entstanden
und haben lediglich anatomisches Interesse.
Von grösserer Bedeutung sind die sogenannten Cy st enni er en, welche
sowohl congenital, als auch im mittleren Lebensalter bei Männern und Frauen
zur Beobachtung gelangen. Sie sind sehr selten; die Nieren sind fast voll-
ständig von kleineren und grösseren Cysten durchsetzt, so dass kaum eine
der Norm zu vergleichende Stelle aufgefunden werden kann. Mikroskopisch
sind sie durch Wucherung des Epithels der Harnkanälchen mit Abschnürung
einzelner Hohlräume gekennzeichnet, welche nachträglich durch Secretion
einer klaren, eiweissfreien Flüssigkeit cystisch erweitert werden. Die Nieren
können durch die Erkrankung um das 3 bis 4-fache ihres normalen Volumens
vergrössert sein.
NIERENNEOPLASMEN. 91
Ein häufigeres, praktisch sehr wichtiges Leiden stellen die Hydroneph-
rosen dar. Sie kommen hauptsächlich bei Frauen vor und bestehen meistens
nur auf einer Seite. Sie sind cystische Erweiterungen des Nierenbeckens, ver-
ursacht durch Verschluss des Ureters der betreffenden Seite. Derselbe erfolgt
durch angeborene, abnorme Einmündung in die Blase, durch narbigen Ver-
schluss, durch Compression bei Knickungen, Vorfall und Krebs des Uterus,
durch Einklemmung von Steinen u. s. w. Günstig für die Entwicklung einer
Hydronephrose ist es, wenn der Verschluss nicht auf einmal ein vollständiger
ist, sondern allmählig zunimmt.
Die Niere und ihr Becken werden zu einer bedeutenden Geschwulst aus-
gedehnt, welche bis zu 10 Liter Inhalt umschliessen kann. Dabei werden
die Papillen zunächst abgeplattet, gehen dann atrophisch zu Grunde oder
werden nekrotisch abgestossen und die Substanz der Niere selbst fällt bis auf
einen schmalen Saum der Druckatrophie anheim. Der Inhalt zeigt anfangs
deutlich Harnbestandtheile, besonders Harnstoff, später verschwinden dieselben
durch Resorption. Bezeichnend für Hydronephrosen ist, wenn die von ihnen
gebildeten Tumoren durch Druck, Lagewechsel u. s. w. eine Verkleinerung
erfahren, indem gleichzeitig eine Vermehrung der Urinausscheidung eintritt.
In einigen Fällen verschwand der Tumor vollständig, um sich nach einiger
Zeit, unter heftigen Schmerzen und Erbrechen, wieder zu finden (intermit-
tirende Hydronephrose).
Von malignen Neubildungen''^ kommen primär in der Niere Sar-
come und Carcinome vor. Die Sarcome sind auf congenitale Anlage zurück-
zuführen, sie treten in früher Jugend, ja schon im ersten Lebensjahre auf,
durchsetzen eine Niere vollständig oder zum grössten Theile, bilden deutlich
palpable Geschwülste, welche die eine Bauchhälfte merklich hervorwölben und
zeichnen sich durch sehr bösartigen Verlauf aus.
Carcinome sind in mittlerem und höherem Alter bei Männern häu-
figer als bei Frauen beobachtet. Ueber ihre Aetiologie ist nichts näheres
bekannt, oft werden Traumen dafür verantwortlich gemacht. Sie sind theils
im Parenchym eingeschlossen und dann nur als vermehrte Resistenz durch-
zufühlen, theils ragen sie höckerartig über die Oberfläche hervor oder bilden
mehr gleichmässige Massenzunahmen des Organs. Ihren Ursprung nehmen
sie von den Epithelien der Niere oder von in die Drüse versprengten Neben-
nierenkeimen. Sie haben die Tendenz zu erweichen und eitrig zu zerfallen.
Haematurie kommt während ihres Bestehens nicht selten zur Beobachtung,
Sie führen zur Bildung von Metastasen in anderen Organen, besonders den
Lungen und der Leber, und durch Cachexie nach 1 bis 4 Jahren zum Tode.
Secundäre Nierencarcinome machen nur ausnahmsweise gesonderte kli-
nische Erscheinungen.
Fibrome, Lipome, Myxome der Nieren werden als Nebenbefund bei
Sectionen gefunden, ohne eine praktische Bedeutung beanspruchen zu können.
Für die Diagnose der Nierengeschwülste ist eine genaue, bimanuelle
Palpation von höchstem Werth. Besonders die Möglichkeit, durch Druck von
der Lendengegend her die Tumoren der auf die Bauchdecken aufgelegten
Hand entgegenzubringen, kommt für andere Bauchgeschwülste kaum in Frage.
Von grosser Bedeutung ist das Verhalten des Dickdarms zur Geschwulst.
Da das Colon adscendens über die Vorderfläche der rechten Niere, das Colon
descendens über die der linken hinüberzieht, finden wir mit seltenen Aus-
nahmen auch bei Vergrösserungen der Nieren dasselbe. Der Darm ist bei
massiger Füllung als platter Strang auf der Vorderseite des Tumors zu fühlen;
ist er ganz leer, so kann man ihn durch Lufteinblasung in den Dickdarm
mittelst eines Doppelgebläses hervortreten lassen.
*) Vergl. „Neubildungen innerer Orgaue'^ Bd. III. pag. 52.
92 OBSTIPATION.
Hydronephrosen bilden glatte, prall gefüllte, bei genügender Grösse
deutlich fiuctuirende Geschwülste, welche die Bauchhälfte, der sie angehören,
hervorwölben. Ist ihr Umfang ein beträchtlicher, so reichen sie bis in das
kleine Becken hinab und es sind dann Verwechslungen mit Ovarialcysten
möglich und thatsächlich passirt. Ausschlaggebend ist die anamnestische An-
gabe, von welchem Ort aus die Entwicklung des Tumors begonnen. Bei
Hydronephrosen findet dieselbe von oben, bei Ovarialcysten von unten her
statt. Auch die zuweilen eintretende Verkleinerung der Geschwulst durch
Druck, Kneten u. s. w. bei gleichzeitiger Zunahme der Urinentleerung spricht
für erstere. Das Ergebnis der Probepunction ist nicht immer entscheidend,
da aus alten Hydronephrosen die Harnbestandtheile vollkommen verschwun-
den sein können.
Für die Diagnose der Nierencarcinome kommen neben Schmerzen,
welche in der Lendengegend ihren Sitz haben und in die Nachbarschaft aus-
strahlen, der Nachweis einer Geschwulst und das Bestehen von Haematurie
in Betracht. Letztere ist relativ seltener als erstere. Zur Erkennung eines
Nierentumors ist exacteste Palpation erforderlich. Wie viel dieselbe gerade
hier zu leisten vermag, ist durch Israel erwiesen, welcher mehrmals ganz
kleine, in der Entstehung begriffene Tumoren richtig erkannt und mit Glück
operirt hat. Wenn durch die bimanuelle Palpation ein sicheres Urtheil über
die Zugehörigkeit eines Neoplasmas zur Niere nicht gewonnen wird, kann
die Abtastung der Niere vom Darm aus durch Einführen der halben, resp.
ganzen Hand in das Kectum während der Chloroformnarkose (nach Simon)
Aufklärung verschaffen.
Haematurie infolge von Nierenblutung zeichnet sich durch gleichmässige
Vertheilung des Blutes im Harne aus. Colikartige Schmerzen^') treten in
Begleitung desselben nur ausnahmsweise auf, falls grössere Blutcoagula eine
vorübergehende Verstopfung des Ureters bewirken, und endigen mit deren
Ausstossung. Sie entsteht, wenn ein Tumor in das Nierenbecken hinein ge-
wuchert und in seinem Inneren erweicht, zerfallen ist; sie kann sehr reich-
lich sein, eventuell Tage lang fast reines Blut liefern. Wenn kein Tumor in
der Nierengegend nachzuweisen ist, bringt das Cystoskop die Entscheidung,
aus welcher Niere das Blut stammt.
Therapie: Hydronephrosen, welche durch Einklemmung eines Steines
in den Ureter entstanden sind, heilen nach Abgang desselben von selbst. Bei
den durch Verlagerung des Uterus entstandenen ist eine Ausgleichung die-
ser zu bewirken. Ist eine causale Behandlung nicht ausführbar und sind
die durch das Leiden gesetzten Beschwerden bedeutend, so bleibt nur chirur-
gische Hülfe übrig (Function, eventuell Incision und Exstirpation).
Die im Kindesalter auftretenden Sarkome sind öfter operirt worden,
doch gingen fast alle Patienten durch sehr bald entstandene Recidive zu
Grunde. Günstiger sind die Aussichten bei den Carcinomen der Erwachsenen,
besonders wenn die Diagnose frühzeitig gestellt und die Exstirpation der
erkrankten Niere vollzogen wird, ehe die Geschwulst in die Nachbarschaft ge-
wuchert oder Metastasen gemacht hat. Die interne Behandlung vermag bisher
nur die Beschwerden der Kranken zu lindern. hilbert.
Obstipation, indem man die täglich erfolgende Absetzung der Faeces zu
den Kennzeichen eines normal functionirenden Organismus zählt, wird als Ob-
stipation jener Zustand, bei dem diese „Function" gestört ist, bezeichnet. Die
Ursachen hiefür können zunächst in einer Erkrankung des Darmes liegen und
muss diesbezüglich auf die Artikel „CoUtis^\ „Enteritis chronica^'' und „Para-
Perityphlitis'-'- („Ti/phütis^^) verwiesen werden. Die Stuhlverhaltung kann ferner
*) Vergl. Artikel „Nierenkolik" in ds. Bd., pag.
OESOPHAGÜSCARCINOM. 93
durch eine Obturation, Compression oder Stricturirung des Darmlumens bedingt
werden. Die Entstehung dieses Darm verschlusses wird im Artikel „Entero-
stenose'' besprochen. Stuhlträgheit und Stuhlmangel tritt endlich als Symptom
von Nervenaftectionen auf, sei es dass dieselben centralen Ursprunges sind
(Hirn- und Rückenmarkskrankheiten), sei es dass sich dieselben im Bereiche
des den Darm versorgenden sympathischen Nervengeflechtes abspielen {Darm-
neurosen: nervöse Obstipation).
Inwiefern Erkrankungen im frühesten Kindesalter die Ursache von Obsti-
pation bilden können, wird im Artikel „ Verdauungsstörungen im Säuglings-
alter^^ des Näheren abgehandelt werden.
Abgesehen von den vorerwähnten Krankheiten, in denen die Obstipation
ein Symptom bildet, gibt es aber auch einen selbstständigen pathologischen
Zustand, „chronische, habituelle Obstipation^ genannt, deren Genese und Be-
handlung in dem Artikel „ Verstopfung^^ besprochen werden soll.
OeSOphaguSCarcinom. Das Oesophaguscarcinom bildet die aller-
häufigste Affection der Speiseröhre. Das Carcinom kommt hier in der Mehr-
zahl der Fälle als primäre Form des Plattenepithelkrebses vor.*) Anfangs
inselförmig, nimmt die Geschwulst mit der Zeit die ganze Peripherie des
Rohres ein, wodurch das Lumen der Speiseröhre verengt wird. Oberhalb der
verengten Stelle bildet sich meist eine Ausbuchtung aus, die jedoch beim Car-
cinom nie so grosse Dimensionen, wie bei den Jahre lang bestehenden, narbigen
Stricturen erreicht. Die Neubildung schreitet nicht selten auf die angren-
zenden Organe, nämlich auf das Mediastinum posticum, Magen, Herz, Lungen
und Wirbelkörper über. Anderseits kommt es häufig zu geschwürigem Zerfall
der Geschwulst, wodurch die Passage wieder etwas freier wird. Unter dem
Einfluss der stagnirenden Speisen, beziehungsweise der Fäulnisbacterien tritt
Verjauchung auf, und können endlich Perforationen in die Luftwege, den
Herzbeutel, die Pleurahöhle und die grossen Gefässe entstehen.
Der Sitz der Geschwulst ist in der Mehrzahl der Fälle der infrabifurcale
Theil des Oesophagus. Als Praedilectionsstellen gelten: 1. die von den
Schneidezähnen etwa 23 cm entfernte Verzweigungsstelle des linken Bronchus
mit der Speiseröhre und 2. die Umgebung der Cardia.
Aetiologie. Wie für das Carcinom im Allgemeinen, so können auch
speciell für das Oesophaguscarcinom keine sicheren ätiologischen Momente
angeführt werden. Als solche sollen Trauma, hereditäre Belastung, Gemüths-
bewegungen und A, gelten. Es scheint, als sei der Krebs der Speiseröhre
nicht in allen Ländern gleich verbreitet. So kommt z. B. die Krankheit
auffallend häufig bei der jüdischen Bevölkerung in Polen und Russland
vor, was möglicherweise auf die Lebensweise, nämlich auf das hastige Essen,
beziehungsweise das ungenügende Zerkauen der Speisen zurückzuführen wäre.
Das Oesophaguscarcinom kommt in mittlerem und vorgerücktem Alter, jenseits
des 40. Lebensjahres, vor. Ausnahmsweise entwickelt sich das Leiden bei
jüngeren Individuen. Männer erkranken unverhältnismässig häufiger als
Frauen.
Symptome und Verlauf. Die subjectiven Beschwerden treten meist
allmählich auf. Das erste Symptom ist die Dysphagie. Anfangs ist der Kranke
noch im Stande consistente Nahrung zu schlucken, doch gelangen grössere
Bissen nicht mehr ganz ungehindert in den Magen. Mit Zunahme der Schluck-
beschwerden tritt das beunruhigende Gefühl auf, als bleiben die festen Speisen
an irgend einer Stelle der Speiseröhre stecken, wobei doch die Stelle, die der
Kranke angibt, nicht immer dem wahren Sitz des Hindernisses entspricht.
Der Kranke muss viel während der Mahlzeit trinken und heftige Schling-
*) Vergl. Artikel „Neubildungen innerer Organe'^, Bd. III, pag. 38..
94 OESOPHAGüSCARCINOM.
bewegungen ausüben, um den stockenden Bissen in den Magen fortzuschaffen
oder denselben zu regurgitiren. Im weiteren Verlauf muss Patient immer
mehr auf feste Nahrung verzichten, und ist er bald ausschliesslich auf breiige
oder flüssige Nahrung angewiesen. Von Zeit zu Zeit treten noch freie Inter-
valle auf, in denen die Passage auf eine kurze Zeit durchgängiger wird.
Diese Erscheinung kann entweder von geschwürigem Zerfall der Geschwulst
oder von Abnahme der Schwellung des den Tumor umgebenden Gewebes her-
rühren. Endlich wird die Dysphagie permanent und so hochgradig, dass der
Kranke selbst Flüssigkeiten nur schluckweise zu nehmen im Stande ist. Die
aufgehobene Nahrungszufuhr führt schliesslich zu grossem Kräfteverfall und
hochgradiger Abmagerung.
Schmerzen sind beim Oesophaguscarcinom wenig ausgesprochen. Die
Kranken klagen meist über ein Druckgetühl, Spannung und Beklemmung im
Thorax, mitunter auch über Athemnoth. Schwere dyspnoische Anfälle
kommen nur dann vor, wenn die Geschwulst in das Mediastinum posticum
wuchert (Druck auf den Vagus). In letzterem Fall kann sich auch Stimm-
bandlähmung durch Druck auf die Recurrentes hinzugesellen.*) Beim. Krebs
der Cardia stellt sich meist ein empfindliches Druckgefühl in der Gegend des
Schwertfortsatzes ein, welches zuweilen durch Druck von aussen gesteigert
werden kann. Heftige ausstrahlende Schmerzen machen es wahrscheinlich,
dass der Process nicht auf die Cardia beschränkt ist (Ewald).
Das Regurgitiren bildet ein constantes Symptom des Oesophaguscar-
cinoms. Das Regurgitiren mit Speisen kommt anfangs nur während des Essens
oder gleich nach der Mahlzeit vor, später aber, sobald sich eine Erweiterung
oberhalb der Strictur ausbildet, ist dasselbe vom Essen ganz unabhängig. Das
Regurgitirte enthält weder Salzsäure noch Magenfermente noch Gallenbestand-
theile, reagirt neutral und besteht aus Speisepartikeln, Schleim und Pilzmassen,
seltener ist darin Blut und Eiter und nur ausnahmsweise Geschwulststückchen
zu finden. Bei Verjauchung der Geschwulst besitzen die ausgewürgten Massen
einen höchst widerlichen Geruch. Das Regurgitiren mit Schleim kommt auch
dann vor, wenn der Kranke keine Nahrung zu sich nimmt. Nach Bouveret
soll Singultus häufig bei Krebs der Speiseröhre vorkommen. Bei meinen
Kranken war es nicht der Fall.
Abmagerung und Kräfteschwund sind die naturgemässen Folgen der be-
schränkten Stoffzufuhr. Doch ist es zu bemerken, dass der Grad der Stenose
nicht immer mit dem Allgemeinbefinden des Kranken Hand in Hand geht.
Die Ernährung und das Aussehen des Kranken können selbst bei hochgradiger
Strictur noch relativ gut sein. In der Mehrzahl der Fälle tritt aber mit der
Zunahme der Stenose eine Schädigung der Ernährung ein, der Kräfteverfall
nimmt immer mehr zu, und falls wichtige Complicationen nicht früher den
Tod herbeiführen, bildet sich eine hochgradige Inanition aus: Musculatur und
Körperfett verschwinden. Haut und Schleimhäute nehmen eine blasse Farbe
an, der Puls wird klein, der Urin wird sparsam und enthält nur Spuren von
Chloriden, und schliesslich kommt auch cachektisches Oedem der Unterschenkel
hinzu. Die Krankheit führt in etwa einem Jahre zum Tode. In seltenen Fällen
zieht sich der Process über 2 Jahre hinaus.
Physikalische Untersuchung. Geben schon die angeführten sub-
jectiven Beschwerden werthvolle Anhaltspunkte für die Erkennung des in
Rede stehenden Leidens, so bildet doch immer erst die Feststellung einer
Stenose mittelst der Sonde den Hauptpunkt in der Diagnose. Selbstverständ-
lich muss man vor der Einführung der Sonde alle Contraindicationen zur
Sondirung in Erwägung ziehen. Besonders unterlasse man niemals das Herz
zu auscultiren. Es ist rathsam, bei den ersten Untersuchungen stets einen
*)Vergl. auch Artikel „Mediastinaltumoren" , Bd. II. pag. 667.
OESOPHAGUSCAECINOM. 95
gewöhnlichen Magenschlauch anzuwenden und zwar aus folgenden Motiven:
1. mit Hilfe des weichen Schlauches gelingt es bei gewisser Uebung bereits
im Beginn des Leidens, wenn die stärksten festen Sonden noch ganz anstands-
los die Speiseröhre passiren, ein Hindernis zu ermitteln; 2. lührt man den
Magenschlauch bis an das Hindernis ein und aspirirt darauf den an dieser
Stelle vorhandenen Inhalt, so gelingt es in seltenen Fällen (bei tiefsitzenden
Oesophagusdivertikeln) die Sonde in den Magen hineinzubringen, was für die
Differentialdiagnose nicht ohne Belang ist. — Ist eine Stenose constatirt, so
bedient man sich zur Ermittelung des Sitzes des Hindernisses und des Grades
der Strictur der BoucHAED'schen Bougies oder der Schlundröhren, deren man
immer verschiedene Nummern vorräthig haben muss. Die BoucHARD'schen
Bougies, die man sich zweckmässig mit Blei ausgiessen lässt, leisten sehr gute
Dienste. Die Schlundröhren, die am äusseren Ende trichterförmig erweitert
sind und am untern Ende seitliche Oeffnungen besitzen, haben den Vorzug,
dass man, sobald die Sonde die verengte Stelle, passirt hat, Ernährungs-
material in den Magen eingiessen kann. Ausserdem können bisweilen in den
seitlichen Fenstern Geschwulstpartikelchen haften bleiben, die bei genauer
mikroskopischer Untersuchung Aufklärung über die Natur des Leidens geben.
Die mit Elfenbeinknöpfchen armirten Fischbeinbougies sollen bei Ver-
dacht auf Oesophaguscarcinom wegen der Gefahr der Perforation gänzlich ver-
mieden werden.
Den Sitz des Hindernisses bestimmt man dadurch, dass man sich vor
dem Herausziehen der Sonde die Stelle, wo sie von den Schneidezähnen be-
rührt wird, merkt. Die Entfernung der Schneidezähne von der Cardia beträgt
40 — 44 cm, wobei der Anfang der Speiseröhre von der Zahnreihe ungefähr
15 cm weit entfernt ist.
Der AuscultaMon kommt nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Sie
kommt nur als diagnostisches Ergänzungsmittel zur Feststellung einer Stenose
in Betracht. Die Auscultation soll aber immer da angewendet werden, wo
entweder die Untersuchung mit der Sonde bedenklich ist, oder der Kranke
sich weigert, sich der Sondirung zu unterwerfen. Das constante Fehlen oder
bedeutendes Verspäten des sogenannten Durchpressgeräusches (normal tritt
dasselbe 7 — 8 Secunden nach Beginn des Schluckaktes ein) während des
Schluckaktes spricht für theilweisen oder vollständigen Verschluss der Cardia.
Diagnose. Entwickelt sich Dysphagie bei einem bisher gesunden Indi-
viduum jenseits der 40 Jahre, ohne dass die Anamnese irgend einem Grund
für die Entstehung des Leidens aufweist, und constatiren wir mittelst der
Sonde eine Verengerung des Oesophagus, so ist es wahrscheinlich, dass es
sich um Krebs der Speiseröhre handelt. In der Mehrzahl der Fälle wird
allerdings die Diagnose zutreffend sein, doch gibt es Fälle, in denen der Arzt,
der sich mit der leichtgewonnenen Wahrscheinlichkeitsdiagnose begnügt, zum
grossen Schaden des Patienten in Irrthum geräth. Bei dem grossen Werth,
den die richtige Diagnose für die weitere Behandlung des Kranken besitzt,
soll deshalb die Feststellung der krebsigen Natur, wie es Leube und Andere
betonen, erst per exclusionem geschehen.
Sehen wir von den angeborenen Stricturen ab, so kommen bei der Diffe-
renzialdiagnose 4 Hauptarten von Oesophagusstenosen (Zenker und Ziemssen)
in Betracht.
A) Die Compressionstenosen können durch verschiedene Ursachen ent-
stehen. Zunächst muss der Hals auf etwa vorhandene Halslymphdrüsen, In-
filtration des Halszellgewebes oder Struma untersucht werden. — Wo es sich
um ein hoch liegendes Hindernis handelt, ist es zweckmässig, selbst wenn
keine Heiserkeit oder Aphonie bestehen, die laryngoskopische Untersuchung
anzuschliessen. — Finden wir bei der Percussion eine Dämpfung über dem
Manubrium sterni, so müssen wir durch sorgfältige Untersuchung des Cir-
96 OESOPHAGÜSCARCINOM.
culationsapparates (Auscultation der Geräusche und Vergleichung der Radial-
pulse) entscheiden, ob eine Struma substernalis oder ein Aneurysma die
Dämpfung veranlasst. — Mediastinaltumoren und grosse Pericardialexsudate
geben nur selten zur Dysphagie Veranlassung und können bei genauer Unter-
suchung des Thorax und nach Erwägung des Symptomencomplexes ausge-
schlossen werden. — Ferner ist die Wirbelsäule zu untersuchen, da eine
hochgradige Lordose oder ein von einem cariösen Wirbel ausgehender peri-
oesophagealer Abscess (Schmerzhaftigkeit bei Druck auf die Wirbel) zur Com-
pression des Oesophagus führen können. Im Allgemeinen zeichnen sich die
Compressionstenosen dadurch aus, dass sich oft eine dickere Schlundsonde,
trotz bestehender hochgradigen Schlingbeschwerden, mit Leichtigkeit in den
Magen einführen lässt (Tillmanns).
Zu den Compressionstenosen werden auch die Divertikel der Speise-
röhr e gerechnet. Dieselben kommen nicht nurim oberenDrittel des Oesophagus
vor, sondern es gibt auch tiefsitzende Oesophagusdivertikel, deren Grund sich auf
der Höhe der Cardia befindet. Ein derartiger Fall ist zuerst im Jahre 1892
von mir veröffentlicht worden. Das Divertikel verlegt nur im gefüllten Zu-
stande die Passage in den Magen. Bei den tiefsitzenden Divertikeln der Speise-
röhre gelangt die Sonde leicht in den Magen nach Entleerung deren Inhalts
durch Aspiration. Von diagnostischer Bedeutung ist also der Wechsel in der
Durchgängigkeit der Sonde. Es kommen ausserdem bei der Differential-
diagnose die Dauer der Krankheit und die Menge des aus der Speiseröhre
herausbeförderten Inhalts in Betracht. Bei dem Carcinom ist dieselbe gering,
dagegen kann der Inhalt des Divertikels über 200 cm betragen.
B) Die narbigen Stricturen können sich aus jeder Art von Ulceration
entwickeln und kommen nach Einwirkung ätzender Substanzen, nach Heilung
eines peptischen, seltener eines tuberculösen oder syphilitischen Geschwürs
der Speiseröhre vor. In sehr seltenen Fällen kann eine narbige Strictur durch
Verwachsung der erkrankten Drüsen mit dem Oesophagus und Durchbruch in
denselben entstehen (Leichtenstern, Buss). Ueber die Stenose in Folge von
Aetzwirkung wird uns die Anamnese fast immer Aufklärung geben. — Ulcus
pepticum oesophago (Quincke, Debove, Ewald u. A.) hat seinen Sitz im unteren
Theiledes Oesophagus bis zu 10 cm oberhalb der Cardia. Die Unterscheidung
ist erst nach längerer Beobachtung des Kranken aus Krankheitsdauer, ferner
aus dem Fehlen von Drüsenschwellung und Cachexie möglich. Bei noch frischem
Geschwür treten heftige brennende Schmerzen und Erbrechen auf. Das Er-
brochene enthält eine beträchtliche Menge von Blut. Dagegen kommt, meines
Erachtens, der Magensaftuntersuchung nicht die Bedeutung zu, die derselben
zugeschrieben wird, da auch bei Oesophaguscarcinom die Verdauungskraft
nicht immer aufgehoben ist, wie ich bei einigen Gastrostomirten nachweisen
konnte. Im Allgemeinen spricht für narbige Strictur die Anamnese, die lang-
same Ausbildung der Dysphagie, das Fehlen von Blut und Eiter an der
herausgezogenen Sonde und die grössere Nachgiebigkeit der Strictur.
C) Die spastischen Stricturen zeichnen sich dadurch aus, dass der Wider-
stand mit steifen Sonden überwunden werden kann. Doch ist dies nicht immer
der Fall. Es kommen Stenosen vor, bei denen die Speiseröhre für feste
Sonden inpermeabel ist und die zu den schwersten Ernährungsstörungen Anlass
geben, so dass die Diagnose der malignen Natur, zumal sich die Krankheit
bei einem älteren Individuum entwickelt, gesichert zu sein scheint, und doch
stellt sich erst aus dem weiteren Verlauf heraus, dass es sich um eine spa-
stische Strictur handelte. Merkwürdigerweise gleitet oft in diesen Fällen
der weiche Schlauch anstandslos in den Magen, während jede feste Sonde auf
ein unüberwindliches Hindernis stosst. Es handelt sich vielleicht in diesen
Fällen um geringfügige Ulcerationen gutartiger Natur, die durch die festen
Sonden stärker gereizt werden und heftigen Spasmus der Cardia hervorrufen.
OESOPHAGüSCARCINOM. 97
D) Die Ohturationstenosen können durch äussere maligne Neubildungen,
durch Polypen, Soormassen und verschluckte Fremdkörper veranlasst werden.
Polypen gehen meist aus dem untersten Pharynxrand aus und sind laryngoskopisch
nachweisbar. Bei den tiefsitzenden Polypen ist der Wechsel in dem Durch-
gang der Sonde maassgebend, da die Sonde bald gar nicht die Speiseröhre
passirt, bald ungehindert in den Magen gleitet. Die Dauer der Krankheit
und die Erfolge der Ernährung mit der Sonde tragen desgleichen zur Er-
klärung des Leidens bei. — Soormassen können leicht durch die Sonde über-
wunden werden. — Ueber verschluckte Fremdkörper gibt der Kranke selbst
Aufschluss.
Erst wenn auf diese Weise alle möglichen Ursachen der vor-
handenen Stenose ausgeschlossen worden sind, haben wir das
Recht, ein Oesophaguscarcinom zu diagnosticiren, aber auch
dann ist die Diagnose nicht absolut sicher, denn es kommen, wie dies
Schreiber hervorhebt, „zweifellos anscheinend maligne Stricturen vor, deren
carcinomatöse Natur dem Verlaufe nach mehr als fraglich ist, ohne dass
wir jedoch bisher sie ihrem wahren Weseu nach mit Sicherheit zu be-
urtheilen vermögen " .
Therapie. Nur bei sehr hohem Sitz des Oesophaguscarcinom kann
die Rede von einer radicalen Heilung durch Exstirpation (Billroth, Czerny)
die Rede sein. In den übrigen Fällen handelt es sich nur darum, das Leben
des unglücklichen Kranken solange wie möglich in erträglichem Zustande zu
erhalten. Die Aufgabe des Arztes ist die Ernährung des Kranken zu beför-
dern und die vollständige Undurchgängigkeit der vorhandenen Stenose zu
verhindern. Das erste Ziel erreicht mau dadurch, dass man dem Kranken,
solange er noch breiige und flüssige Nahrung zu nehmen im Stande ist, mög-
lichst viel Nährmaterial zuführt. Es eignen sich für diesen Zweck Milch,
Kephir, rohe oder weichgekochte Eier, Weizen-, Hafer-, Gries- und Legumi-
nosenmehlsuppen, Bouillon mit Zusatz von Peptonen oder Somatose, Leim-
suppen u. Aehnl.
Ist die Ernährung des Kranken sehr beeinträchtigt, so kommen Nähr-
kly stiere, die von verschiedener Zusammensetzung sein können, in Betracht.
Die von Boas empfohlenen bestehen aus 250 g Milch, 2 Gelbeiern, 1 Theelöffel
Kochsalz, 1 Esslöffel Kraftmehl und 1 Esslöffel Rothwein. Diese Masse wird
2 — omal täglich nach vorgängigem Wasserklystier lauwarm und langsam in
den Mastdarm eingegossen.
Durch Darreichung von Innern Mitteln sind wir nicht im Stande die
Stenose zu erweitern oder dieselbe im Status quo zu erhalten. Doch gelingt
es nicht selten, durch Argentum nitricum (0-12 : 200'0 Aq. ein Esslöffel 3mal
täglich) und grosse Dosen von Jod (Boas) die Passage auf eine kurze Frist
freier zu machen, was möglicherweise auf die Abnahme der Schwellung des
den Tumor umgebenden Gewebes zurückzuführen wäre. Dasselbe erzielt man
häufig dadurch, dass man den Kranken einige Tage per os keine Nahrung
gibt, sondern ihn ausschliesslich per clysmata ernährt.
Die eigentliche Behandlung der Strictur besteht entweder in allmählicher
Dilatation durch Schlundsonde oder in der Anlegung einer Magenfistel.
Die allmähliche Dilatation der Stenose geschieht durch Einführen der
BoucHARD'scAm Bougies oder der Schlundsonden in die verengte Stelle. Die
Sonde, die noch durchgeht, lasse man einige Minuten liegen. Um die Spei-
chelsecretion zu vermeiden, soll man nach Ewald eine subcutane Injection
von 3 Milligr. xitropin und 5 Milligr. Morphium vorausschicken. Die Sondirung
soll man nicht sehr oft, höchstens nur jeden zweiten oder dritten Tag, vor-
nehmen. Die Einführung von Sonden gibt häufig in Folge des Reizes zu
Blutungen und Schwellungen Veranlassung. Bei der Section findet man oft
Verletzungen der erkrankten Partie des Oesophagus, die nur auf Trauma
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 7
98 OESOPHAGÜSKRANKHEITEN.
zurückzuführen sind. Diese Nachtheile sollen der von Schreiber angegebenen
Düatationsonde nicht zukommen. Der ScHREiBER'sche Diktator beraht auf
dem Princip der hydraulischen Kraftäusserung." Auf Einzelheiten in der Con-
struction der Dilatationsonde können wir hier nicht eingehen. Die Vorzüge
des Instruments sollen darin bestehen, dass selbst bei ganz engen Stenosen
die Erweiterung möglich ist, und dass die Dilatation vom Centrum in die
Peripherie sich entfaltet.
Von Senator sind zur Erweiterung der Oesophagusstenosen aufquellende
Laminariastäbchen angegeben worden. Dieselben werden durch eine Schraube
fest an eine dünne Sonde befestigt und so in die Strictur gebracht, wo sie
1 Stunde liegen bleiben. Rosenheim rühmt die Wirkung der Laminariasonden
beim Oesophaguscarcinom. Ihr Vorzug vor den oben erwähnten Bougies und
Schlundsonden besteht wesentlich darin, dass man ein Caliber wählen kann,
das sich leicht in die verengte Stelle einführen lässt und erst hier allmälig
aufquillt, so dass die Erweiterung ohne Anwendung von Gewalt und durch
langsamen Druck geschieht.
Von SwiTZER, Krishaber, Mackenzie und letzthin von Leyden und
Renwers sind für die Behandlung der Oesophagusverengungen Dauercanülen
empfohlen worden. Krishaber bediente sich der sogenannten Sonde ä
demeure, die am wenigsten 45 — 50cw lang ist und die er meist durch die
Nase einführen liess. Von Leyden und Renv\^ers wurden kurze, nur von
2—6 cm lange Röhre von Hartgummi oder von Kautschuk angewendet. Sie
werden mittelst eines mit zwei Elfenbeinknöpfen versehenen Fischbeinstabes
in die verengte Stelle gebracht und lassen sich leicht dadurch entfernen,
dass man vor ihrer Einführung einen Seidenfaden daran befestigt. Bei car-
cinomatöser Strictur bleiben die Dauercanülen wochen- und monatelang liegen.
Sie gestatten eine reichliche Ernährung des Kranken durch längere Zeit und
können selbst eine Gewichtszunahme der Patienten zur Folge haben.
Die Dauercanülen besitzen gleich den Laminariastäbchen den Nachtheil,
dass sie nicht selten zu schnellerer Wucherung der Geschwulst, Entzündungen
und Blutungen Veranlassung geben.
Im Allgemeinen kann die langsame Dilatation der bösartigen Strictur
keine glänzenden Erfolge aufweisen. Das beste Verfahren zur Behandlung
des Oesophaguscarcinom bleibt immer die Anlegung einer Magenfistel (Gastro-
stomie). Nur ist es wünschenswerth mit dem chirurgischen Eingriff nicht allzu
lange zu warten, sondern noch bei leidlichem Kräftezustand des Patienten
die Gastrostomie auszuführen. Dieselbe ermöglicht den Ernährungszustand
des Kranken zu bessern und dadurch das Leben zu verlängern. Einer meiner
Kranken, wegen Oesophaguscarcinom operirt, lebte nach der Operation fast ein
ganzes Jahr und erfreute sich verhältnismässig guten Aussehens. Auffallend
ist es, dass nach der Anlegung einer Magenfistel die bis daher verlegte
Passage häufig frei wird, so dass der Kranke, der vor der Operation Nichts
in den Magen bringen konnte, einige Zeit nach derselben breiige und
flüssige Nahrung ganz anstandslos zu schlucken im Stande ist.
Da beim Oesophaguscarcinom die Magenöffnung nicht zu retrograder
Dilatation, sondern ausschliesslich zur Ernährung des Kranken dienen soll,
so ist die Ausführung der Gastrostomie nach den Methoden von Witzel,
Hacker oder Frank sehr zweckmässig. s. mintz.
Oesophaguskrankheiten. in diesem zusammenfassenden Artikel sollen
nur besprochen werden: Oesophagismus, Oesophagitis, Oesophagomalacie,
Oesophagomycose. Betreffs der Neubildungen und Stenosen des Oesophagus
sei auf die Artikel Neubildungen innerer Organe und Oesophaguscarcinom ver-
wiesen.
OESOPHAGüSKRANKHEITEN. 99
1. Oesophagismus. Speiser öhrenkrampf. Sclilingkrampf. Dysphagia
spastica. Stenosis spastica. Der Krampf der Speisenröhrenmuskulatur, welche
aus glatten Muskelfasern besteht, denen nur im oberen Abschnitte querge-
streifte in grösserer Zahl beigemengt sind, ist kein ganz seltenes Leiden.
Soweit derselbe eine Folge organischer Veränderungen der Speiseröhren-
wandungen (Carcinom, Ulcerationen, Stenosen etc.) oder der Xachbarorgane
(Halswirbelerkrankungen, Retropharyngealabscess) ist, soweit Erkrankungen des
Nervensystems (Vagus, Gehirn, Rückenmark) ihn bedingen, oder toxische All-
gemeinerkrankungen wie Lyssa ihn auslösen, findet er hier keine Besprechung.
Hier soll nur der Oesophagospasmus abgehandelt werden, der als reine Neurose
ohne organische Grundlage auftritt. Als solche findet man ihn nicht ganz
selten und zwar fast ausschliesslich bei neuropathisch veranlagten Individuen,
vornehmlich bei hysterischen Frauen im mittleren Lebensalter.
Die krampfhafte Contraction, welche meist sich nur auf einen Abschnitt
des Oesophagus, vornehmlich den oberen erstreckt, ist keine andauernde,
sondern tritt nur ein, sobald durch den Schlingact die in der Norm sich
peristaltisch fortpflanzende Zusammenziehung der Muskeln angeregt wird. Es
kann nun entweder jeder Schlingact den Krampf auslösen, oder letzterer
insofern intermittiren, als bald das Schlingen glatt von statten geht, bald durch
den Krampf gestört wird. Ein wirklich andauernder Speiseröhrenkrampf, der
auch ausserhalb der Schlingversuche anhält, kommt wohl kaum vor. Ist auch
die neuropathische Grundlage das Hauptmoment für das Entstehen des
Krampfes, so sind doch gewöhnlich Gelegenheitsursachen zu constatiren, die
auf dem Wege des Reflexes dabei mitwirken. Solche Gelegenheitsursachen
spielen sich zunächst oft auf psychischem Gebiete ab. Eine heftige Erregung,
Furcht, Schrecken, Aerger rufen eine Reizung des Nervensystems hervor, welche
krampfhafte Contractionen des Oesophagus auslösen, sobald ein Versuch ge-
macht wird etwas zu verschlucken. Hierher gehören auch die Fälle, wo
von Hunden gebissene Kranke aus Angst vor der Wasserscheu Speiseröhren-
krampf bekommen, ohne lyssakrank zu sein. Ferner sind es ausserhalb des
Oesophagus gelegene Krankheitsherde, — abgesehen von den ihn direct in-
nervirenden Theilen, — welche die veranlassenden Momente bilden, so Erkran-
kungen des Larynx, des Pharynx, des Magens, des Darmes (Parasiten!) und
besonders häufig der weiblichen Genitalorgane (des Uterus, der Ovarien). Aber,
wie gesagt, der Reflex ist nur von so heftig erregender Wirkung, wo über-
haupt eine übergrosse Reizbarkeit des Nervensystems (Hysterie, Neurasthenie)
vorhanden ist.
Symptome: Das Cardinalsymptom des Schlingkrampfes ist die Dysphagie,
die wiederum verschiedenen Grades sein kann. Bald erstreckt sich die Be-
hinderung sowohl auf feste Bissen wie auf Flüssigkeiten, bald — und das ist
häufiger — gleiten letztere und auch kleinere Bissen ohne jede Erschwerung
hinunter. Bald ist die Behinderung eine absolute, der Bissen bleibt stecken
und wird schliesslich unter heftigen Würgbewegungen regurgitirt, bald nur
eine relative; der Bissen gleitet hinunter, aber langsamer und unter grossen
Beschwerden. Wo das zu Schlingende regurgitirt, hängt die Schnelligkeit des
Regurgitirens ab von dem Sitze des Krampfes. Je höher derselbe, desto
schneller wird dasselbe herausbefördert. — Ein steter Begleiter der Dysphagie
ist ein Schmerz, der bald sich nur kundgibt in einem Gefühl des Zusammen-
geschnürtseins oder in mehr oder weniger heftigem Brennen, bald einen rein
neuralgischen Charakter hat und im Halse, im Brustbein oder im Rücken
zwischen den Wirbeln localisirt wird. Gewöhnlich fehlt auch nicht ein Gefühl
von Beklemmung. Diese subjectiven Beschwerden können eine bedeutende
Steigerung erfahren, wenn sich, wie es vorkommt, ein Glottiskrampf mit
wahrer Luftnoth, ein Krampf der Brust- und Halsmuskulatur hinzugesellen.
Dann bietet der Kranke ein Bild grösster Angst. — Die Dauer des Leidens
100 OESOPHAGÜSKRANKHEITEN.
ist eine sehr verschiedene, bald über Wochen, bald über Monate sich er-
streckende, sie ist abhängig von der Schwere der Hysterie (Neurasthenie)
und dem Fortbestehen der Reflexquelle. Von der Dauer des Krampfes und
von dem Grade seiner Schwere hängt es natürlich auch ab, ob derselbe von
geringer oder bedeutender Rückwirkung auf das Befinden des Patienten ist.
Wo die Dysphagie eine absolute, oder auch eine incomplete aber doch lange
andauernde ist, kann die Ernährung des Kranken sehr leiden, zumal die Er-
krankten aus Furcht vor den die Dyphagie begleitenden Beschwerden nicht
selten jede Nahrungszufuhr verweigern oder dieselbe wenigstens erheblich
vermindern. Dennoch pflegt der Ausgang auch in diesen Fällen ein guter zu
sein, da schliesslich, wie ähnlich bei hysterischem Erbrechen, der Krampf
zumal bei entsprechender Therapie aufhört, wenn die Noth am grössten ist.
Leichtere Fälle, die keine völlige Behinderung, sondern nur eine unangenehme
Erschwerung des Schluckens zeigen, alteriren die Kranken auch bei sehr
langer Dauer des Leidens fast gar nicht.
Diagnose. Bei vorhandener Dysphagie leitet oft schon die Betrachtung
des ganzen Kranken, die Berücksichtigung der Anamnese durch die vorhan-
denen oder vorhanden gewesenen hysterischen, neurasthenischen Erschei-
nungen auf die Diagnose eines neurotischen Spasmus, zumal wenn, wie ge-
wöhnlich, der Schlingact nur intermittirend erschwert, resp. unmöglich ist und
als von psychischen Vorgängen abhängig sich erweist. Entscheidend ist die
Sondenuntersuchung. Wird die Sonde eingeführt, so stösst man auf einen
Widerstand, der aber nicht unüberwindlich ist, entweder genügt stärkerer oder
länger, etwa einige Minuten anhaltender Druck, um die Strictur zu beheben,
und plötzlich gleitet die Sonde glatt hinein. Kommt dann noch hinzu, dass
ein anderes Mal die Sonde überhaupt kein Hindernis findet, was bei dem
launischen Wechsel eines derartigen neurotischen Spasmus leicht vorkommen
kann, dann ist die Natur des Leidens über allen Zweifel festgestellt. Die
Abgrenzung gegenüber organischen Stricturen durch Narben, Carcinom, Ver-
legung durch Fremdkörper, wie gegenüber Divertikel hat dann weiter keine
Schwierigkeiten. Im Nothfalle wird die Sondirung in der Narcose, in der alle
Spasmen wegfallen, entscheiden. — Mit der Feststellung der spastischen Na-
tur der Dysphagie ist unsere diagnostische Thätigkeit aber nicht erschöpft,
vielmehr müssen wir noch festzustellen suchen, ob nicht irgendwo im Körper
eine krankhaft veränderte Stelle vorhanden ist, die eine Reflexquelle abgibt.
Man wird deshalb Pharynx, Larynx, Genitalien etc. sorgsam untersuchen müs-
sen, um bei etwaigen vorhandenen krankhaften Veränderungen eine Hand-
habe für Prognose und Therapie zu gewinnen.
Prognose. Man kann im allgemeinen eine gute Prognose stellen, wenn
man auch die Dauer des Leidens nicht bestimmen und die Möglichkeit et-
waiger Recidive nicht in Abrede stellen kann.
Therapie. Von grösster Wichtigkeit ist die Allgemeinbehandlung der
zu Grunde liegenden Neurasthenie, resp. Hysterie. Es kommt dabei der ganze
psychisch und physisch wirkende Apparat in Frage, wie wir ihn gegen die
letztgenannten Leiden in Bewegung zu setzen haben, so hydropathische Proce-
duren, Ortswechsel, Regelung der Thätigkeit u. s. w. Es kann an dieser Stelle
natürlich nicht näher darauf eingegangen werden, (v. ^^Hysterie'-'- und ^^Neu-
rasthenie".) Gleichzeitig wird man die accidentellen Momente ins Auge zu
fassen haben und die vorhandenen krankhaften Veränderungen in den Bereich
der therapeutischen Bestrebungen ziehen. Bei der Regelung der Ernährung
wird es oft von Vortheil sein jede Reizung der Oesophaguswände durch
festere Kost eine Zeit lang zu unterlassen und sich auf Flüssigkeiten, vor allem
Milch zu beschränken. Wo es nöthig ist, wo jegliche Nahrung regurgtiirt,
wird man zur Sondenfütterung greifen und zwar recht dicke Sonden dazu
wählen, weil die Einführung solcher oft schon an sich genügt, um die erhöhte
OESOPHAGUSKRANKHEITEN. 101
Reizbarkeit herabzusetzen, die krankhaften Zustände zu beseitigen. Anderer-
seits wird man beherzigen müssen, dass unter Umständen die oft wiederholte
Sondeneinführung eine Oesophagitis erzeugen und so durch Steigerung der
Reizbarkeit direct schaden kann. — Von Medicamenten kommen, abgesehen
von den zur Allgemeinbehandlung und zur Erfüllung der etwa durch andere
Leiden bedingten Indicationen nöthigen, nur solche, die eine beruhigende
Wirkung ausüben, in Frage. Am wirksamsten sind wohl grosse Dosen Brom-
hali oder der anderen Bromsahe^ durch welche ja bekanntlich die Erregbar-
keit der Schleimhäute im Pharynx und Oesophagus abgestumpft wird. Ein Ver-
such kann auch mit Cocain und mit Morpliiiim gemacht werden, die man zu
diesem Zwecke am besten in Glycerin löst.
Gegenreize auf Brust oder Hals oder Rücken in Gestalt von Sinapismen
oder Vesicantien können gut wirken, vielleicht weniger durch Gegenreiz als
durch Suggestion. Die Anwendung des constanten Stromes kann auch zum
Versuche empfohlen werden. Die Combination dieser localen Behandlung mit
der Allgemeinbehandlung wird bei richtiger psychischer Beeinflussung der
Patienten stets zum Ziele führen.
2. Oesophagitis, Sj^eiseröhrenentzündung.
a) Oesophagitis catarrhalis, Speiseröhrencatarrh. Die catarrhalische
Veränderung der Speiseröhrenschleimhaut ist relativ genommen, d. h. im
Verhältnisse zu den vielfachen Insulten, welchen sie ausgesetzt ist, und im
Verhältnis zu den häufigen catarrhalischen Affectionen der Schleimhäute, an
welche dieselbe grenzt, ein seltenes Leiden. Allerdings entgehen wohl nicht
wenige Oesophagealcatarrhe der Beobachtung, da ihre Symptome wenig charak-
teristisch und oft auch recht unbedeutender Natur sind.
Man kann eine acute und chronische Form unterscheiden. Letztere kann
selbstständig in schleichender Weise entstehen oder auch aus der ersteren
hervorgehen. Die Beschwerden beschränken sich meist auf ein Gefühl von
Brennen oder Drücken beim Schlingact, besonders wenn differente, saure, sal-
zige, gepfefierte Substanzen oder Alkohol in concentrirterer Form geschluckt
werden, oder wenn die Temperatur der genossenen Speisen und Getränke eine
sehr hohe ist. Nur selten wird über wirklichen Schmerz geklagt, der in die tie-
feren Theile des Halses, in die Brust oder in den Rücken, zwischen die
Schulterblätter verlegt erscheint. In vereinzelten Fällen kommt es reflectorisch
zu einem Schlingkrampf und dadurch zu wirklicher Schlingbehinderung, die
gewöhnlich dem Katarrh nicht eigen ist. Dieses wird besonders dann der
Fall sein, wenn es sich um neurasthenische, hysterische Patienten handelt
und wenn der Katarrh an einer umschriebenen Stelle zu einer Erosion, zu
einem catarrhalischen Geschwür geführt hat. Von dieser sehr hyperästhe-
tischen Stelle wird dann der Reflex ausgelöst. Ausserhalb des Schlingactes
macht sich der Katarrh wohl kaum bemerkbar; vielleicht sind die Klagen über
Sodbrennen in einzelnen Fällen auf Oesophagealkatarrh zurückzuführen.
Die Ursachen des Katarrhs der Speiseröhre können der verschiedensten
Natur sein. Es kommt da zunächst ein Trauma in Frage, wie es ein un-
gewöhnlich grosser und harter Bissen während seines Hinabgleitens der
Schleimhaut zufügt. Hieher zählen auch die nicht selten durch Sondirung
ausgelösten Katarrhe acuten oder chronischen Charakters, dann kann eine
thermische Reizung ausgeübt werden durch übermässig heisse Getränke und
Speisen, ein gewiss nicht seltenes ätiologisches Moment. Ein weiteres, be-
sonderes für die chronischen Katarrhe wichtiges Moment ist der Genuss
starker Alkohole, weshalb Potatoren relativ häufig an Oesophaguscatarrhen
leiden. Chemische Reizmittel, soweit sie nicht schwerere Folgen nach sich
ziehen, kommen auch in Betracht. Wo eine directe Läsion der Oesopha-
gusschleimhaut nicht stattgefunden, da sind es oft Katarrhe der Nachbar-
schleimhaut, welche fortwandernd den Oesophagus katarrhalisch afficirt haben,
102 OESOPHAGÜSKEANKHEITEN.
sei es dass die Fortwanderung von oben, vom Pharynx, oder von unten,
vom Magen, ausgegangen ist.
Auch Stauungscatarrhe sind gesehen worden, bedingt durch venöse
Stauung innerhalb der Brusthöhle, so bei Circulationsstörungen in Folge von
Herzfehlern und Lungenleiden (Emphysem). — Die höchsten Grade katarrha-
lischer Veränderungen in der Schleimhaut des Oesophagus findet man als
Begleiter anderer, umschriebener Erkrankungen desselben, so bei Stenosen,
Carcinomen etc. Hier sind es wohl zum grössten Theil die sich im Oeso-
phagus anstauenden, sich zersetzenden Speisen, zum kleinen die therapeutischen
Versuche (Sondirung), welche den begleitenden Katarrh bewirken.
Der acute Katarrh geht gewöhnlich in wenigen Tagen in Heilung aus.
Der chronische Katarrh ist natürlich hartnäckiger, heilt nur, wo die einwir-
kende Schädlichkeit beseitigt wird. Wenn es zu katarrhalischen Erosionen,
resp. Geschwüren gekommen ist, und das soll besonders oft bei Tuberculosen
der Fall sein, liegt die Möglichkeit vor, dass dieselben, etwa durch verschluck-
tes tuberculöses Sputum inficirt werden. In der weitaus grössten Mehrzahl
der Fälle heilen diese Geschwüre wohl auch ohne jeden Zwischenfall und
ohne Narbenbildung aus.
Die Schleimhautveränderungen, welche man beim Oesophagus-
catarrh findet, weichen von dem gewöhnlichen Bilde des Katarrhs nicht un-
erheblich ab. Starke Hyperämie fehlt, die Schleimhaut ist nur bedeckt mit
einer trüben Epithelschicht, die sich in lebhafter Abstossung und entsprechen-
der Erneuerung befindet. Man hat deshalb den Vorgang als Desquamativ-
catarrh bezeichnet. Eine lebhafte Secretion der Schleimhaut findet man bei
acuten Fällen fast nie, bei chronischen nur zuweilen und zwar besonders dann,
wenn der Katarrh einen folliculären Charakter angenommen hat (Oesopha-
gitis follicularis). Diese Form ist gekennzeichnet durch ein Hervortreten der
Schleimfollikel als kleine, oft in Längsreihen angeordnete über die etwas
hyperämische Schleimhaut hervorragende Knötchen, die durch Zerfall sogar
zu folliculären Geschwüren führen können. — Wo ein chronischer Katarrh
sehr lange besteht, da greift die Ernährungsstörung zuweilen auch auf die
tieferen Schichten der Oesophaguswandungen über, es kommt zu einer hyper-
trophischen Verdickung derselben, welche aber doch niemals eine Behin-
derung in der Durchgängigkeit des Eohres bewirkt. — Die catarrhalischen
Geschwüre sind bereits oben erwähnt, sie sind fast ausnahmslos oberflächlich.
h) Oesophagitis diphtheritica ei crouposa. Die eigentliche ^Diphtherie
des Oesophagus ist trotz der Nachbarschaft des Lieblingssitzes dieses Lei-
dens sehr selten. Es scheint die Speiseröhrenschleimhaut einen hohen Grad von
Immunität gegen die Diphtherieerreger zu haben, da sie selbst dann frei
bleiben kann, wenn, was in seltenen Fällen ja vorkommt, die Diphtherie ausser
dem Pharynx auch die Magenschleimhaut ergreift. Dennoch ist auch die
Diphtherie des Oesophagus in einigen Fällen gesehen worden, sie hatte zu
tiefgehendem ulcerösen Zerfall geführt.
Croupöse Auflagerungen sind schon häufiger gefunden, wenngleich auch
sie nur selten sind. Sie bilden kein selbstständiges Leiden, sondern sind
Folgen schwerer Allgemeinerkrankungen. Fast alle schweren Infectionskrank-
heiten, wie auch andere tiefgehende Constitutionsanomalien können zu crou-
pösen Auflagerungen auf der Oesophagusschleimhaut führen, so Cholera,
Typhus, Pocken, Tuberculose etc. Die Membranen sind meist den Längs-
falten entsprechend in Gestalt schmaler Streifen angeordnet. — Ausserdem
führt das Verschlucken von Ammoniak zuweilen zu croupöser Entzündung.
c) Oesophagitis phlegmonosa. Die eigentliche Phlegmone der Speise-
röhrenwandung ist wiederholt beobachtet worden. Dieselbe spielt sich
in der Hauptsache im submucösen Bindegewebe ab, welches eitrig einschmilzt.
Der Process bleibt umschrieben, umgibt ein Stück des Oesophagus circulär,
OESOPHAGUSKRANKHEITEN. 103
oder verbreitet sich über grössere Flächen, ja fast die ganze Ausdehnung der
Speiseröhre. Dabei wird die Schleimhaut an den erkrankten Stellen von der
Muscularis abgehoben und in das Lumen des Oesophagus vorgewölbt. Spielt
der Process nur an einer Stelle sich ab, hat sich ein Abscess an einer Wand
gebildet, dann sind die Schlingbeschwerden nur unbedeutend, da die Wan-
dungen des Abscesses doch ziemlich nachgiebig sind. Sobald aber der Eiter
circulär, oder in sehr grosser Ausdehnung die Schleimhaut abhebt, fehlen
Störungen der Deglutition niemals. Schliesslich bricht der Eiter meistens nach
dem Oesophagus an einer oder mehreren Stellen durch, die Wandungen der
Eiterhöhle legen sich nach Entleerung des Eiters und des necrotisirten Binde-
gewebes an einander, verkleben und es bleibt kaum ein Residuum von dem
schweren Process zurück. In einzelnen Fällen sind die Wandungen nicht an
einander geheilt, es ist eine Höhle zurückgeblieben, die sich mit Epithel
bedeckt und durch die Perforationsöffnungen mit dem Oesophagus in Verbin-
dung steht, ohne dass das böse Folgen hätte. Wahrscheinlich schliessen sich
die Oeffnungen beim Schlingacte ventilartig.
Die Symptome der Oesophagitis phlegmonosa sind sehr verschieden, je
nach der Acuität und Ausdehnung des Processes. Es können lebhafte Fieber-
bewegungen, heftige Schmerzen, Dysphagie bestehen, aber alle diese Erschei-
nungen können auch fehlen, resp. nur andeutungsweise ausgesprochen sein. —
Die Ursache der Speiseröhrenphlegmone sind zunächst Verletzungen derselben
durch Fremdkörper, so besonders Fischgräten und ähnliche spitze Substanzen,
die sich in der Schleimhaut festbohren, dann Aetzungen mit sehr diöerenten
Stoffen. Hier tritt die eitrige Entzündung auf als Reaction auf die Morti-
licirung der Schleimhaut, um die zerstörten Theile abzustossen. Häufig aber
entsteht die Phlegmone auch in Folge von Perforation von Abscessen, welche
sich in der Umgebung der Speiseröhre gebildet haben, ausgehend von ver-
eiterten Drüsen des Mediastinum, von cariösen Wirbeln etc. Diese Abscesse
bahnen sich so nach Durchbohrung der Oesophagealwand einen Weg nach
aussen. Brechen diese Abscesse übrigens ausser in den Oesophagus, wie es
vorkommt, auch in die Trachea oder Bronchien durch, dann kann es zu fistu-
lösen Verbindungen zwischen diesen Organen kommen, die aber wahrscheinlich
mit ventilartigen Verschlüssen versehen sind und deshalb keinen Schaden
bringen. Es sind also Oesophagus-Trachealfisteln nicht Folgen einer nach
der Trachea durchgebrochenen Oesophagusphlegmone, sondern eines nach
beiden Organen perforirten, ausserhalb derselben entstandenen Processes.
d) Oesophagitis ulcerosa. Speiseröhrengeschwüre. Es sind bereits
erwähnt die bei intensiven Katarrhen vorkommenden oberflächlichen katarrha-
lischen, die folliculären und die diphtheritischen Geschwüre. Es kommen aber
noch andere Geschwürsformen vor, die hier kurz besprochen werden sollen.
Traumatische Geschwüre entstehen durch Fremdkörper, die durch
scharfe Kanten und Spitzen die Schleimhaut lädiren, aber nur, wenn diese
Fremdkörper die Wandungen anbohren und längere Zeit vollkommen festsitzen,
gehen diese ulcerativen Processe tiefer und können dann selbst zur Perfora-
tion der Wandungen führen.
Es gibt aber auch eigentliche Druckgeschwüre. Es kann der Druck
entweder von innen aus wirken, wenn ein grosser Bissen, ein aus Versehen
verschlucktes Zahngebiss etc. im Oesophagus stecken bleibt, oder von aussen
nach innen, indem ein benachbarter Tumor, etwa ein Aortenaneurysma einen
andauernden Druck ausübt, der zum geschwürigen Zerfall führt. — Diese
Druckgeschwüre sind übrigens nicht zu verwechseln mit den Decubitalge-
schwüren des Schlundes, welche den Erkrankungen des Pharynx zuzählen.
Tuberculöse Geschwüre sind im Verhältnis dazu, dass doch so-
viel tuberculöses Sputum bei phthisischen Menschen die Speiseröhre passirt,
recht selten. Das ist um so autfallender, als man, wie oben erwähnt, einfache
104 OESOPHAGÜSKRANKHEITEN.
katarrhalische Erosionen gerade bei Tuberculosen häufiger findet. Wo man
tuberculöse GeschAYüre im Oesophagus findet, da besteht stets gleichzeitig eine
Tuberculose der Lungen oder des Kehlkopfs. Sie entstehen auf doppelte Weise:
Entweder werden die eben erwähnten katarrhalischen Geschwüre inficirt, oder
es brechen tuberculöse, verkäste Lymphdrüsen in den Oesophagus durch und
von der Durchbruchstelle aus entwickelt sich ein Geschwür mit tuberculösem
Charakter.
Syphilitische Geschwüre im Oesophagus kommen, wenn auch
selten als Folge tertiärer Producte, zerfallener Gummata, vor. Sie können nach
der Ausheilung durch Narbenretraction zur Stenosenbildung Veranlassung geben.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass einzelne Autoren das
Vorkommen eines runden perforirenden Geschwüres, eines Analogon des
Ulcus rotundum ventriculi, in der Speiseröhre annehmen. Dasselbe soll dicht
über der Cardia sitzen und seine charakteristische Form unter dem Einflüsse
regurgitirenden Magensafts erhalten. Die meisten Autoren bestreiten das
auf das entschiedenste.
Die Symptome der Speiseröhrengeschwüre sind wenig bezeichnend,
so dass die Erkennung derselben keine leichte ist und man oft die Difieren-
tialdiagnose zwischen Geschwür und Katarrh, resp. Phlegmone oder gar zwischen
den verschiedenen Geschwürsformen nicht wird stellen können. Das Allge-
meinbefinden des Patienten und Erkrankungen der Nachbarorgane werden für
die Diagnose oft wichtiger sein, als der locale Befund und die subjectiven Be-
schwerden. Für das Vorhandensein eines Geschwüres wird die Sondenunter-
suchung zuweilen zu verwerthen sein, wofern dieselbe mit Blut und Eiter bedeckt
oder Blut und Eiter in den Augen enthaltend zurückkommt.
Die Therapie wird bei allen bisher aufgeführten Oesophagitiden mu-
tatis mutandis wohl dieselbe sein müssen. In erster Reihe heisst es alle
ursächlichen Momente entfernen, sei es dass der Alkohol zu verbieten ist, sei
es dass Fremdkörper zu beseitigen sind, sei es dass die Sondiruiig eingestellt
werden muss, sei es dass Erkrankungen der Nachbarorgane oder constitutio-
nelle Leiden (Syphilis!) der Behandlung zugänglich gemacht werden müssen
u. s. w. Sodann vdrd man alle scharfen und zu hoch temperirten Speisen und
Getränke fernzuhalten haben, antikatarrhalische Brunnenwässer (Karlsbader,
Emser etc.) in reichlicher Menge reichen u. s. w.
Zwei Formen von Oesophagitis bleiben hier noch zu besprechen :
e) Oesophagitis variolosa. Die Pocken können neben katarrhalischen und
croupösen Entzündungen in der Speiseröhre auch specifische Veränderungen
erzeugen. Es entstehen hyperämische, flachpapulöse, von gelockertem Epithel
überzogene Erhebungen, welche sich später in kleine Geschwüre verwandeln
können. Letztere heilen ohne eigentliche Narbenbildung.
f) Oesophagitis corrosiva. Unglückselige Verwechslungen und Conamina
suicidii führen in nicht seltenen Fällen zum Verschlucken scharf ätzender
Stoffe, welche die verschiedensten Zerstörungen im Oesophagus bewirken können.
Man fasst dieselben zusammen unter der Bezeichnung Oesophagitis corrosiva.
Am häufigsten kommen da in Frage starke Säuren, besonders Schwefel-
säure, Salzsäure, Carbolsäure, starke Alkalien, Kali und Natronlauge, Ammoniak,
Kupfervitriol etc. Die Veränderungen, welche diese Substanzen hervorrufen,
sind in Bezug auf Extensität und Intensität abhängig von der Concentration
und der Menge des Verschluckten. Sie schwanken von leichter Epitheltrübung
bis zu vollkommener Zerstörung der Oesophaguswand.
Die charakteristische Veränderung ist jedenfalls immer die Mortification
des Gewebes, die Entzündung ist stets eine reactive, secundäre. In leichten
Fällen sieht man nur eine oberflächliche, weissliche Verfärbung der Schleim-
haut, in schwereren erscheint letztere grauschwarz, in den schwersten ist die
Schleimhaut und zuweilen auch die Muscularis in eine schwärzliche, schorf-
OESOPHAGUSKRANKHEITEN. 105
artige oder gallertige Masse verwandelt. Fast stets erstrecken sich die Ver-
änderungen über die ganze Länge des Oesophagus, dabei sind aber nicht
alle Stellen gleichmässig zerstört, sondern es liegen normale zwischen den
afficirten. Häufig ist die Zerstörung eine streifenförmige. Die entzündliche
Reaction ist natürlich vom Grade der Mortification abhängig, wir finden bald
nur leichte Hyperämie, bald mehr oder weniger ausgedehnte Phlegmonen,
bald geschwürigen Zerfall. Die zerstörte Schleimhaut wird in Fetzen abge-
stossen; in einigen Fällen ist das sogar in toto geschehen. — Wo irgend die
Zerstörung eine tiefer gehende ist, da geschieht der Abschluss der Heilung
durch Narbenbildung. Die Folge davon ist natürlich eine Stenosenbildung.
Die so entstandenen Stenosen sind meist sehr ausgedehnt und hochgradig.
Die Therapie der Oesophagitis corrosiva erfordert zunächst die Darreichung
der entsprechenden Antidota, energische Spülungen, milde Getränke (Milch) etc.
Im weiteren Verlauf wird man vor allem jede Schädlichkeit fern zu halten
haben, um die heilende reactive Entzündung nicht zu stören und auch
nicht unnütz zu steigern. Es ist das nicht immer leicht, mit der Ernährung
des Kranken in Einklang zu bringen. Mit der beginnenden Vernarbung
wird die Sondirung einzusetzen haben, welche der Stenosenbildung soweit
als möglich vorbeugen soll.
3. Oesophagomalacie. Speiseröhrenerweichung. Die Oesophagomalacie ist
ein Analogon der Mag euer w^eichung und, wie diese, eine Folge der Selbst-
verdauung. Die Magenerweichung entsteht bekanntlich durch die Einwirkung
des verdauenden Magensaftes auf die warme, blutleere Magenwandung; die-
selben Momente müssen beim Entstehen der Oesophagomalacie mitsprechen.
Man wird also voraussetzen müssen, erstens dass Magensaft von verdauender
Kraft in die Speiseröhre gelangt ist und dort einige Zeit verweilt, zweitens,
dass die Wandungen des Oesophagus nicht in normaler Weise mit Blut ver-
sorgt sind, w^elches Kraft seiner alkalischen Beschaffenheit dem Magensaft
seine Kraft nehmen könnte. Diese beiden Bedingungen sind nun nicht nur
erfüllt post mortem, wie manche Autoren annehmen, sondern auch sub mor-
tem, in der Agonie, und in dieser Zeit spielt sich auch die Oesophagomalacie in
der weitaus grössten Mehrzahl der Fälle ab. Bei sterbenden Menschen gelangt
einerseits Mageninhalt in Folge der Atonie der Muskeln, oder in Folge des
Brechactes leicht in die Speiseröhre hinein, andererseits liegt die Circulation
so darnieder, dass eine anomale, ungenügende Blutversorgung der Speise-
röhrenwandungen anzunehmen sehr nahe liegt. Auffallend ist es, dass gerade
an Gehirnaffectionen sterbende Menschen häufiger am Ende ihres Lebens die
Erscheinungen der Oesophagomalacie zeigen, und zwar ist es hier vornehmlich
die tuberculöse Basilarmeningitis, welche zu dieser Affection disponirt.
Jedoch handelt es sich nicht in allen Fällen von Oesophagomalacie um
sterbende Menschen, es sind auch einige beobachtet, wo bisher gesunde
Menschen lediglich an den Folgen der Speiseröhrenerweichung zu Grunde
gegangen sind. Diese Fälle sind noch schwerer zu erklären, als die oben ge-
nannten. Dass auch bei diesen das Regurgitiren des Mageninhalts mitspielt,
ist man allerdings auch hier umso berechtigter anzunehmen, als es sich mei-
stens um Gewohnheitstrinker handelte, bei denen nicht nur wirkliches Erbrechen,
sondern Würgen und Aufstossen sehr häufig ist. Aber wie steht es mit der
mangelhaften Blutversorgung in solchen Fällen, da doch von einem Darnieder-
liegen der gesammten Circulation nicht die Rede ist? Eine locale Circulation s-
behinderung, etwa durch Thrombose, anzunehmen, dafür hat man bei den
Sectionen keinen Anhaltspunkt gefunden, eine locale Ischämie auf angioneu-
rotischer Grundlage als ursächliches Moment heranzuziehen, ist w^ohl kaum
angänglich. Ein Angiospasmus, etwa als Begleiter des Brechactes könnte
wohl kaum so lange andauern, dass der Verdauungsvorgang Zeit hätte sich
zu entfalten. Also es ist der Vorgang in diesen Fällen noch dunkler, als in
106 OESOPHAGüSKKARKHEITEN.
den während der Agonie entstehenden, wo doch wenigstens annehmbare Hypo-
thesen vorhanden sind.
Folgen der Oesophagomalacie machen sich während des Lebens nur
dann geltend, wenn dieselbe zu einer Zerreissung geführt hat. Dann ent-
wickelt sich plötzlich ein Krankheitsbild mit sehr stürmischen Erscheinungen,
welches die meist ohnehin verlorenen Kranken schnell dahinrafft. Lebhaftes
Erbrechen blutig gefärbter Massen, heftiger Schmerz, grosses Angstgefühl,
kaum stillbarer Durst kürzen die Agonie sehr ab.
Der anatomische Befund ergibt als Sitz des Leidens stets das untere
Ende der Speiseröhre unmittelbar neben der Cardia. In leichten Fällen ist
nur die Schleimhaut in mehr oder weniger ausgedehntem Maasse losgelöst,
in schweren ist die ganze Wand in eine weiche, gallertige, seltener schwärz-
liche, pulpöse Masse verwandelt, welche bei dem geringsten Zuge einreisst.
Wo schon intra vitam Ruptur eingetreten, besteht meistens ein Längsriss,
seltener ein Querriss oder, wie es auch gesehen ist, sogar eine totale quere
Durchreissung des Oesophagus. Im Mediastinum und Pleuraraum findet man
als Folge der Ruptur Mageninhalt, sowie die etwa noch zugeführten Getränke.
Daneben besteht gewöhnlich ein subpleurales Emphysem. Bemerken swerth
ist der Befund von Suggillationen, da dieselben für intravitale Entstehung der
Ruptur sprechen.
Die Erkennung der Oesophagomalacie ist gebunden an die eingetretene
Ruptur. Wo, besonders bei Schwerkranken, plötzlich Erbrechen blutiger
Massen, Schmerzen in Brust und Rücken u. s. w. auftreten, wird man an
eine Oesophagusruptur als Folge einer Malacie denken müssen. Vielleicht
würde eine physicalische Untersuchung des Pleuraraumes grössere Sicherheit
der Diagnose bieten,
4. Oesophagomycosis. Die häufigste, ja fast ausschliessliche Mycose
des Oesophagus wird ausgelöst durch die Ansiedlung des Soorpilzes. Fast
immer handelt es sich dabei nicht um eine primäre Erkrankung der Speise-
röhrenschleimhaut, sondern dieselbe ist per continuitatem entstanden, nachdem
die Mundhöhle und der Pharynx der Ansiedlungsplatz des Soorpilzes gewor-
den. Dementsprechend sind es auch vornehmlich kleine, schwächliche Kinder
in den ersten Lebensmonaten, welche an Oesophagomycose erkranken. Jedoch
kommt letztere auch bei Erwachsenen vor, aber nur bei durch ein schweres
acutes Leiden oder häufiger bei durch ein langwieriges, chronisches Leiden
heimgesuchten Patienten. Vor allem ist es die Phthise, welche in ihrem End-
stadium zur Sooransiedelung im Oesophagus disponirt. — Die Folgen derselben
sind verschieden je nach der Ausdehnung der Pilzcolonien; nur wo grössere
Theile der Speiseröhre mit ihnen besetzt sind oder wo gar, wie es besonders
bei kleinen Kindern auch vorkommt, dieselben so bedeutend sind, dass sie
das Lumen der Speiseröhre ganz verlegen und damit den Schluckakt behin-
dern, kommt der Affection als solcher eine ernstere Bedeutung zu. In leich-
teren Fällen wird man, zumal bei dem fast stets gleichzeitigen Ergriffensein
der Mund- und Rachenhöhle, die Mitbetheiligung der Speiseröhrenschleimhaut
nur vermuthen können. In einzelnen Fällen leiteten im Erbrochenen gefun-
dene ganze Pilzmembranen auf die Diagnose; Geehakdt sah einmal sogar
einen ganzen Soor-Abguss des Oesophagus durch Erbrechen entleeren.
Der Befund ist folgender: Entweder es sind kleine, grauweisse Hügel
und Flecken auf der Schleimhaut sichtbar oder ganze zusammenhängende,
grössere oder kleinere Strecken überziehende Membranen. Zuweilen haben
die Colonien eine andere Farbe durch Tinction mit dem Farbstoffe genossener
Nahrungsmittel. Die Colonien haften ziemlich lose an der hyperämischen,
zuweilen erodirten Schleimhaut. Die erste Entwicklung des Pilzes findet in
den mittleren Epithelschichten statt. In sehr seltenen Fällen hat man den
OSTEOMALACIE. ' 107
Pilz in die Tiefe wuchern, ja bis in die Blutgefässe hinein gelangen sehen,
der Entstehungsmodus für die Soormetastasen.
Die Therapie des Soor der Speiserühre erheischt vor allem eine Berück-
sichtigung constitutioneller Momente und in erster Reihe bei den am häufig-
sten erkrankten kleinen Kindern die Regelung der Ernährung, Local wird
wohl die Darreichung von Natrium bicarbonicum Lösungen am meisten zu
empfehlen sein. Wo man eine Verstopfung des Speiseröhrenlumens durch
Soor annehmen zu müssen glaubt, wird man zur Sonde greifen müssen.
Anhangsweise sei noch erwähnt der Fall von Mycosis Oesophagi, den
Letzerich beschrieben hat. Als Ursache von mit Dysphagie einhergehenden
gastrischen Störungen ergab sich die Ansiedelung eines Coccus von eigen-
thümlicher Wachsthumsart auf der Speiseröhrenschleimhaut. Dieselben Coccen
wurden in einem nassen Flecken der Zimmertapete gefunden.
JESSNER,
Osteomalacie. Mit dem deutschen Wort Knochenerweichung ist das
Wesen der Krankheit gekennzeichnet. An der Literatur dieses Leidens sind
in erster Reihe die Gynaekologen betheiligt. Die Beziehungen der Osteo-
malacie zu den weiblichen Genitalorganen und ihren physiologischen-
pathologischen Functionen sind so innige, dass man die Erkrankung ein
Frauenleiden zu nennen berechtigt erscheint. Die männliche Osteo-
malacie ist sehr selten. Fälschlich wurden Fälle von Rachitis bei Kindern
als infantile Osteomalacie beschrieben (Rehn). „Senile Osteo-
malacie" werden Zustände von Knochenbrüchigkeit genannt.
Eine feststehende Theorie der Erkrankung existirt bis heute nicht.
Zum Theil gelten dieselben Ansichten, wie sie für die Rhachitis geäussert
werden auch für die Osteomalacie und sei diesbezüglich auf den von Professor
Escherich bearbeiteten Artikel „Rhachitis" verwiesen.
Inwiefern Veränderungen der Ovarien (Beziehungen des Stoffwechsels
und der Function der Ovarien zu jenen der Knochen) die Entstehung von
Osteomalacie veranlassen, und welche Beziehungen überhaupt zwischen Sexual-
function des Weibes, Schwangerschaft und Puerperium und der Pathogenese
der Erkrankung bekannt sind, ist im Artikel ;; Osteomalacie" im Bande „ Gehurts-
hilfe-Gynaekohgle'''' (pag. 585) ausführlich abgehandelt.
Nachfolgend seien die Hauptsymptome der Osteomalacie zusammen-
gestellt:
1. Schmerzen, sowohl spontan als auch auf Druck auftretend, vor-
nehmlich localisirt auf die Beckenknochen, das Kreuz und die Rippen, zu-
weilen dumpf, zuweilen neuralgiform.
2. Allgemeine Schwäche, Ermüdungsgefühle, Steifigkeit der Glieder.
3. Verwunderungen des Ganges: Kopf leicht vorgebeugt, kleine Schritte
von spastischem Charakter; in vorgeschrittenen Fällen: typischer, watschelnder
Entengang.
4. Veränderungen des Skeletes: Verbildungen der Beckenknochen*),
wie sie als „osteomalacischcs Becken"' beschrieben werden. (Promontorium
nach vorn gesunken, die Pfannenboden der Hüftgelenke aneinander genähert,
die Symphyse schnabelförmig vorspringend). Die Verbildungen an der Wirbel-
säule entstehen durch Abplattung der Wirbelkörper, wodurch verschieden-
artige Verkrümmungen zu Stande kommen: Kyphosen, Skoliosen, Lordosen.
Die Verbildung am Thorax betrifft die Rippen, welche seitlich abgeflacht
oder mannigfach verkrümmt und geknickt werden können.
*) Vergl, auch die Darstellung Schauta's über die osteomalacischen Beckenformen
im Artikel ^Beckenanomalien'^ des Bds, „Gebiirtsliilfe-Gynaekologie" pag. 70.
103 OSTEOMALACIE.
Typische Fälle zeigen eine Kypliose des oberen Theiles der Brust Wirbelsäule, einen
kegelförmigen Thorax mit abgeflachten Rippen und schief nach vorne unten gestellten
Sternum, eine stark verkürzte Lendenwirbelsäule und eine hiedurch bedingte Annäherung
der Rippenbögen an die Darmbeinkämme.
Die Verbildung der Extremitätenknochen bestellt in Auftreibungen
in den ersten, Knickungen und Drehungen in den späteren Stadien der
Krankheit.
5. Muskehütern, Muskelatroi^hien und Contracturen. Bei Berührungen
zeigen sich oft fibrilläre Zuckungen. Die Contracturen localisiren sich typisch
in den Adducturen der Oberschenkel (Latzko).
Mit Beziehung auf die Differentialdiagnose von Nerven-
affe ctionen sei erwähnt, dass die Patellarreflexe oft erhöht sind, dass die
Hautsensibilität bis auf zeitweilig vorhandene Parästhesien intact ist, dass die
elektrische Untersuchung in einzelnen Herabsetzung der Erregbarkeit, aber
sonst nichts Abnormes ergibt.
In erster Linie sind es Rückenmarks erkrankungen, die von der
Osteomalacie zu differenziren sind: Myelitis, Tabes spastica, amyotrophische
Lateralsclerose, Forme« frustes der multiplen Sclerose. Bei der Myelitis sind
Blasen- und Sensibilitätsstörungen ein regelmässiges Vorkommnis, bei der
Tohes spastica und amyotrophischen Lateralsclerose ist der Gang ein viel
ausgesprochen spastischer und sind sämmtliche Reflexe (nicht blos die Patellar-
reflexe wäe bei Osteomalacie) erhöht. Bei den Formes frustes der Sclerosis
midtiplex insularis fällt die stärkere Betheiligung einer Extremität und das
eventuelle Vorhandensein von Intention stremor, scandirende Sprache, Nystagmus
in die Wagschale. Endlich wäre noch die Hysterie in Berücksichtigung zu
ziehen, die in ihrem proteusartigen Bilde oft auch Osteomalacie vortäuschen
kann. Vereinzelt und deshalb erwähnenswerth ist der Fall von Schneter,
in dem eine Hysterica, die in einer Ambulanz eine Osteomalacische öfters zu
sehen Gelegenheit hatte, schliesslich selbst das Symptomenbild der Osteomalacie
„nachahmte." — Entscheidend für die Diagnose sind nur die objectiv nach-
weisbaren Veränderungen an den Knochen, insbesondere am Becken.
Bekannt ist die Thatsache, dass Individuen mit beginnender Osteomalacie
oft w^ochen- und monatelang mit der Diagnose „Rheumatismus" behandelt
werden.
Von peripheren Nervenaffectionen, die Osteomalacie vortäuschen
können, wären Neuralgien und Neuritiden der Beckennerven zu erwähnen, sei
es, dass dieselben spontan oder durch Druck von Seiten der Tumoren (Neo-
plasmen der Cauda, carcinomatöse Lymphdrüsen, umfangreiche parametritische
Exsudate, Neubildungen, die von irgend einem der Beckenorgane ausgehen)
zu Stande kommen.
Von Erkrankungen der Knochen kommen in Betracht Caries,
primäre Sarcome der Beckenknocheti oder secundäre Carcinome der Wirhelkörper
und des Beckens. Schwierig zu unterscheiden ist die Osteomalacie von dem
Lymphoma malignum multiplex ossium [multiples Myelom.^ Zahn).
Kahler hat die unterscheidenden Merkmale folgendermaassen angegeben: 1. Die
Knochendifformitäten bleiben auf das Rumpfskelet beschränkt, 2. Es fehlt die erhöhte
Biegsamkeit der Knochen. 3. Die Muskelkraft bleibt erhalten. 4. Die Schmerzen zeigen
einen typisch localisirten Charakter. 5. Es besteht Albumosurie. 6. Es treten Lymph-
drüsen- und Milzschwellung zuv/eilen hinzu.
Während es sich bei dem eben beschriebenen Knochenlymphom um eine
Entwicklung von neoplastisch-lymphoid en Gewebes innerhalb
des Knochenmarkes handelt, besteht die von Nothnagel als Lymphadenia
ossium bezeichnete Knochenaflfection in einer von lymphoiden Gewebe
infiltrirten Osteophy twucherung an der Oberfläche der Knochen,
die zu unförmlichen Verdickungen derselben führt und wohl wegen dieses
pathognostischen Momentes mit der Osteomalacie nicht zu verwechseln ist.
PACHYMENINGITIS CEREBRALIS. 109
Schwierig kann zuweilen die Differentialdiagnose der Osteomalacie von
der diffusen osteoplastischen Carcinominfiltration der Knochen werden. Indem
das Carcinom zahlreiche Rumpf- und Extremitätenknochen vollständig durch-
wuchert, wird das Skelett w^eich und zeigt osteomalacie-ähnliche Verbiegungen.
{y, Osteomalacie der Carcinomhranken"). Diese Carcinomatose tritt häufig in
Erscheinung, ohne dass intra vitam ein primärer Herd zu finden wäre.
In den Fällen Recklinghausen's fand sich bei den Obductionen ein Prostatakrebs
als primärer Herd. Schwere Anämie mit dem Befund von Markzellen dürfte wie im
Falle L. Braun's auf die richtige Diagnose führen.
Zur Behandlung der Osteomalacie'") wird der Phosphor als Specificum
empfohlen. Günstige Berichte hierüber liegen von Busch, Hartmanx, Höxter,
Sprengel, v. Bamberger, Sternberg, Latzko u. A. vor. Phosphor consequent
durch Monate in genügender Dosis (Phosphor O'Oo : Ol. jecor. Äselli 50. S.
täglich ein Kaffeelöffel) angewandt nennt Sternberg ein „directes und de-
finitives Heilmittel" der Osteomalacie.
Der Gynaekologie Fehling hat die Castration als Heilmittel der
Krankheit vorgeschlagen. Die Entfernung der Ovarien i. e. der Wegfall der
Ovulation wirkt auf den Krankheitsprocess heilend ein. In der überwiegenden
Mehrzahl der operirten Fälle trat dieser Erfolg ein, nur in einer kleinen
Minorität blieb er aus. Anderseits ist v. Winkel dem überschwänglichen
Enthusiasmus über die Erfolge der Castration bei Osteomalacie entgegenge-
treten, indem er nachwies, dass in vielen Fällen zwar ein augenblicklicher
eclatanter Nachlass der Erscheinungen, aber keine definitive Heilung
des Processes eintrete. Somit wäre nach v. Winkel die Castration erst
dann vorzunehmen, wenn „die anderen Behandlungsmethoden erschöpft"
sind. Mag man aber dem operativen Verfahren Vertrauen schenken oder
nicht, jedenfalls wird in Fällen, wo die Beckenveränderung so hochgradig,
dass die Geburt eines reifen lebenden Kindes unmöglich ist, die Castration
indicirt sein. Für alle anderen Fälle ist der Phosphor zu empfehlen.
Günstige Wirkung von Soolbädern wurde namentlich von Gelpke
gerühmt. Chloroformnarcose als Heilmittel der Osteomalacie wurde von
Petrone empfohlen, ohne bisher Glauben gefunden zu haben, obwohl auch
Latzko in einigen Fällen nach Chloroformnarcose eine vorübergehende
Wirkung auf die Schmerzen und das subjective Befinden der Kranken deutlich
wahrnehmen konnte. r.
PachymeningitiS CerebraliS. Die Pachymeningitis cerebralis zeigt
sich unter der Form der Pachymeningitis cerebralis interna haemorrhagica.
Aetiologie. Die Pachymeningitis cerebralis wird als nebensächlicher,
oft unerwarteter Sectionsbefund nach verschiedenen Infectionskrankheiten oder
erschöpfenden Cachexieen auch bei manchen Geisteskrankheiten angetroffen.
Hämorrhagische Diathesen, wie Morbus maculosus Werlhofii, Purpura, Scor-
but, perniciöse Anämie können damit complicirt sein. Sonst findet man die
Krankheit besonders beim männlichen Geschlecht, häufig gegen die vierziger
Jahre hin, und glaubt, dass Potus eine ihrer uns sonst noch unbekannten
Ursachen abgeben kann. Kinder leiden nicht so selten daran und abgesehen
von den oben genannten haemorrhagischen Diathesen kommt hier hereditäre
Syphilis als ätiologisches Moment in Betracht und können es sogar Blutungen
intra partum sein, welche eine chronische Pachymeningitis nach sich ziehen.
Bei progressiver Paralyse soll die Krankheit häufig als Complication ange-
troffen werden (Mendel).
Pathologisch-anatomischer Befund: An der Innenseite der
Dura mater kommt es zu einer fibrinösen Ausscheidung aus den Gefässen, die
*) Vergl. auch die Darstellung der geburtshilflichen Therapie bei Osteomalacischen
im Bd. „Gebiu'tslülfe-Gjniaekologie", pag. 565.
110 PACHYMENINGITIS CEREBRALIS,
sich in eine zarte bindegewebige Membran, durchzogen von vielen neuge-
bildeten Gelassen verwandelt. Aus letzteren erfolgt überaus leicht per dia-
pedesin oder durch Rhexis eine Blutung, die in der neugebildeten Membran
selbst liegen bleiben oder mit Durchbrechung dieser sich in den subduralen
Raum ergiessen kann. So entsteht das sogenannte Haematom der Dura
mater, die Blutung wirkt immer ihrerseits als ein Reiz für die Fortdauer
des grundlegenden Processes, so kommt es dann zu neuen Ausscheidungen
und einer geschichteten Auflagerung auf die Innenseite der Dura mater, durch-
setzt von grösseren und kleineren Blutergüssen; von den Schichten ist die
der harten Hirnhaut zunächst gelegene die jüngste. Der ganze Process kann
sich einund doppelseitig entwickeln, Lieblingssitz ist unter den Parietalb einen.
Bei umfänglicherem Haematom finden sich am Gehirn die Zeichen er-
höhten Druckes: Blutarmuth, enge, leere Ventrikel, die Gyri abgeplattet, die
Sulci verstrichen. Fortschreiten des Processes auf die Arachnoidea, Verwachs-
ungen mit derselben kommen vor, auch Veränderungen im Ohr: Hyperaemie
und Entzündung im Labyrinth, Neomembranen in der Paukenhöhle sind an-
getroffen worden (Moos und Steinbrügge).
Die Symptome sind abhängig von den Blutungen im Haematom. Wo
diese nur in geringfügigem Maasse und allmälig auftreten, kann der ganze
Process symptomlos verlaufen, oder es führt wenigstens nur ganz unbestimmte,
der Deutung nicht fähige klinische Erscheinungen herbei. Anderes bei inten-
siveren Haemorrhagien. Hier setzt sich das Krankheitsbild zusammen aus
einer Reihe von apoplectiformen Anfällen, die im Allgemeinen
gerade so verlaufen wie bei Gehirnhaemorrhagien. (Vergl. „Gehirnkrankheiten'-^
Capitel „Haemorrhagie".) Genetisch von besonderem Werth ist das häufige Vor-
kommen von ,,Rindensi/mptomen" (Convulsionen, zurückbleibende Monoplegieen),
namentlich aber eine weitgehende Besserung nach Abklingen des Insults, auch
wenn dieser augenscheinlich ein sehr schwerer war. Doch bleibt in der Regel
das eine oder andere „Ausfallsymptom", oder Zuckungen, leichte Störung der
Motilität, der Sprache, der Intelligenz u. dgl. zurück. Charakteristisch für
die Krankheit ist nun ferner, dass der Insult sich nach kürzerer oder län-
gerer Frist immer wiederholt — und gewöhnlich die bleibende Schädigung
der Hirnfunctionen sich als immer bedeutender erweist. Dann kommen auch
,,Hirndrucks]/mptomen'\ Stauungspapille entwickelt sich, die Pupillen werden
starr und sind gewöhnlich ungleich. Auch conjugirte Deviation der Bulbi
und einseitiger Nystagmus kommt vor.
Unter Umständen ist aber schon der erste Anfall tödtlich und es kann
dann von einer sicheren Diagnose nicht die Rede sein, vielmehr entsteht nur das
mehr oder weniger deutliche Bild einer meningealen Blutung, oder der ganze
Process verläuft, wie schon erwähnt, anscheinend symptomlos und wird bei
der Section als „Nebenbefund" registrirt. Eventuelle Gehörstörungen kommen
anfallsweise und gehen schliesslich in Taubheit über durch Blutungen im
Labyrinth oder degenerative Atrophie der Nerven und seiner Endorgane
(Moos).
Für die Diagnose ist vor Allem maassgebend der Nachweis eines der
angeführten ätiologischen Momente. Ferner das anfallsweise Auftreten der
Krankheit mit intercurrenten bedeutenden Besserungen, die bedeutsame Rolle,
welche die Rindensymptome in der einzelnen Attaque spielen und namentlich
die Ungleichheit der Pupille. Während der erste Anfall fast nothwendig mit
einer Blutung in der Nähe der Hirnrinde oder einer meningealen Apoplexie
verwechselt werden muss, wird bei öfterem Wiederholen der Scene die Sach-
lage immer klarer und dann kann auch die Diagnose mit hinreichender
Sicherheit gestellt werden, mitunter kann dies mit Hilfe der otoskopischen
Untersuchung geschehen.
PACHYMENINGITIS CEREBRALIS. 111
Die Prognose ist im Allgemeinen ungünstig, denn der Process trägt
den Charakter eines progressiven vornehmlich dadurch an sich, dass seine
Producte, die Blutungen, selbst wieder Anlass zum Fortschritt der eigenthüm-
lichen Entzündung werden. Vielleicht ist im jugendlichen Alter bei erwor-
bener haemorrhagischer Diathese (Morbus maculosus Werlhofii), noch am ersten
zu hoffen, dass mit Heilung des letzteren auch die Pachymeningitis ihr Ende
erreicht.
Die Therapie des einzelnen Anfalles ist zu führen wie bei blutigem
Hirnschlag (vergl. Artikel „Gehinikrankhe/ten^\ Bd. I, pag. 731), die Grund-
krankheit ist nach den für diese giltigen Regeln zu behandeln; empfohlen
wurden besonders die Styptica, namentlich das Ergotm. In den anfallsfreien
Intervallen spielt die Anwendung des galvanischen Stromes auf den Kopf die
wichtigste Ptolle.
Anhang. Meningeale Blutungen. Blutungen in die Gehirnhäute kommen aus den
Gefässen der IMeuiugen selbst oder bei Durchbruch eines haemorrhagischen Herdes
im Hirn von innen her zu Stande. Sieht man von der schon besprochenen Pachy-
meningitis haemorrhagica ab, so gehören meningeale Blutungen zu den Seltenheiten,
insoweit sie nicht durch ein Trauma hervorgerufen werden. Schlag oder Sturz auf
den Schädel, Fractureu, Impressionen des letzteren sind sehr häufig von Blutungen
ins Cavum cranii gefolgt, die nur in den seltensten Fällen im Innern des Gehirns,
sondern fast stets an der Oberfläche desselben sich abspielen. Das Blut kann aus den
Arterien (Carotis, namentlich auch Arteria meningea media) oder den Yenen (der
Sinus namentlich bei Basisfractur) stammen. Das Blut kann sich seinen Weg even-
tuell in den Wirbelcanai bahnen und dortselbst Druckwirkungen aufs Mark und
die Nervenwurzeln ausüben.
Theoretisch sollte man von den meningealen Blutungen die „Uindensymptome"
in ausgesprochenem Maasse erwarten, Schmerzen, Monoplegieen^ Convulsionen sollten
häufig sein. Es sind aber nur seltene Fälle von geringfügiger Blutung, die dieser
Erwartung entsprechen, bei den meisten erfolgt ein so massenhafter und so rasch
wachsender Bluterguss, dass die diffusen Gehirnsymptome vor Allen die schwere
Bewusstlosigkeit das Bild vollkommen beherrschen und die „Drucksijmptome" : starre
Pupillen, Erbrechen, Vaguspuls, eingezogener Leib in den Vordergrund treten. Die
Leichtigkeit, mit der die Blutung sich über weite Strecken ausbreiten kann, lässt es
begreiflich erscheinen, warum Monoplegieen kaum je zur Beobachtung kommen können,
dagegen sind Convulsionen, ein- und doppelseitig, sehr häufig und auch die Schmerzen
fehlen dann nicht, wenn die Blutung nur langsam zunimmt und das Bewusstsein
länger erhalten bleibt. Verbreitet sich das Blut unter solchen Umständen auch in
den Wirbelcanai, so können sehr heftige ausstrahlende Schmerzen an Rumpf und
Extremitäten neben Hyperaesthesie und Paraplegie auftreten.
Die Diagnose kann nur in seltenen Fällen mit mehr als Wahrscheinlichkeit
gestellt werden, dann, wenn eine Betheiligung des Rückenmarkes und seiner Wurzeln
deutlich wird, sonst wird man über die Annahme einer Massenhaemorrhagie be-
sonders bei dem raschen Ablauf des Krankheitsbildes nicht hinauskommen. Anders
liegt die Sache bei Einwirkung eines Trauma auf den Schädel. Auf die differen-
tielle Diagnose einer Schädelfractur und einfache Commotio cerebri soll hier nicht
eingegangen und nur so viel hervorgehoben werden, dass starke Verlangsamung des
Pulses als ein sicheres Zeichen einer intracraniellen Blutung angesehen werden darf,
nicht minder Lähmungen, die erst nach abgelaufener initialer Bewusstlosigkeit in
wachsender Extensität und Intensität auftreten.
Die Prognose ist für alle Fälle von Durchbruch einer cerebralen Haemor-
rhagie nach Aussen absolut ungünstig. Bei traumatischen Blutungen ist sie schon besser
und es vermag die Kunsthilfe mitunter den drohenden Tod abzuwenden.
Die Therapie ist so zu führen, wie sie für die Gehirnhaemorrhagie (vergl.
Artikel „GeJiirnkrankheiten") empfohlen wurde. Wenn nach einem Trauma der
112 PACHYMENINGITIS SPINALIS.
Puls verlangsamt wird, so halten wir die Trepanation, das Aufsuchen und Unterbinden
des blutenden Gefässes für absolut indicirt, weil sonst unter allen Umständen der
Patient verloren ist. Schon v. Bergmann hat vor Jahren mit vollem Eecht ver-
langt, man solle stets trepaniren, wo stetige Zunahme der Drucksymptome sich
einstellt. eichakd geigel.
PachymeningitiS SpinaliS. Aetiologie. Das Vorkommender chro-
nischen, spinalen Pachymeningitis") als einer selbstständigen Erkrankung
gehört zu den seltenen Ausnahmen und v^ird dann ausschliesslich auf syphi-
litischer und tuberculöser Basis oder bei chronischem Alkohol ismus
beobachtet. In der Regel ist die chronische Form secundärer Natur und
begleitet eine vorgeschrittene Spinalerkrankung (Tabes, Syringomyelie,
chronische Myelitis^ progressive Muskelatrophie, amyotrophische Lateralsclerose)
oder ein Wirbelleiden (Tuherculose, Gumma); gelegentlich entwickelt sich
die chronische Form aus dem acuten Stadium der epidemischen Cerebro-
spinalmeningitis. (s.d.) Ob und inwiefern der andauernde Einfluss der Kälte,
die körperliche Ueberanstrengung, die Erschütterung des Rückenmarks
und das Senium zu den Momenten gerechnet werden dürfen, welche die
chronische Meningitis hervorrufen, muss dahingestellt bleiben. Nicht selten
finden sich in der Leiche älterer Personen ausgesprochene chronische Spi-
nalmeningitiden, die intra vitam nicht die geringsten spinalen Erscheinungen
verursacht haben.
Pathologische Anatomie. Ist die Erkrankung durch ein voraus-
gegangenes acutes Stadium bedingt, so kann eine ausgedehnte Strecke der
Rückenmarkshäute ergriffen sein, sonst bleibt in den meisten Fällen der entzünd-
liche Process beschränkt. Die charakteristischen Erscheinungen bestehen in
einer intensiven Trübung der hyperämischen, verdickten Häute, sowie in der
Gegenwart von Adhäsionen, welche die gegenüberstehenden Abschnitte der ent-
zündeten Partieen mit einander verbinden. Die Pia ist verdickt und mit dem
Rückenmarke verwachsen. Die Nervenwurzeln sind durch die bindegewebigen
Adhäsionen comprimirt, zuweilen findet man sie deutlich erweicht und atro-
phisch und die Peripherie des Rückenmarkes sklerosirt. Bei der syphilitischen
Meningitis, wo die Affection in der Regel von den weichen Rückenmarks-
häuten ausgeht, breitet sich das pathologische Granulationsgewebe flächenhaft
aus, so dass die verdickten Meninges — abgesehen von den hie und da vor-
handenen, circumscripten, gummösen Geschwulstbildungen — fast in ganzer
Ausdehnung von speckig-sulziger Masse, resp. von dickem fibrösem Gewebe
durchsetzt sind. Neben den Verdickungen, Adhaerenzen, Verkalkungen, pseu-
domembranösen Neubildungen finden sich regelmässig parenchymatöse Atrophie
und interstitielle Sclerose des Rückenmarkes und der Nervenwurzeln.
Diagnose. Die bei der Diagnose in Betracht kommenden Symptome
sind bei der acuten Spinalmeningitis ausführlich besprochen worden. Als her-
vorstechendste Krankheitszeichen seien an dieser Stelle erwähnt: Rücken-
schmerz, Rückensteifigkeit, irradirende Schmerzen im Bereich der Spinal-
nerven, Parästhesien mannigfachster Natur (Kriebeln, Taubheit, Ameisenlaufen,
Constrictionsgefühl), leichtere Lähmungserscheinungen, eventuell verbunden
mit Muskelschwund. Die Rückenschmerzen sind meist diffus, sehr hartnäckig
und beständig und werden durch Beklopfen oder Bewegungen intensiv gestei-
gert. Gelegentlich — bei der tuberculösen Meningitis — ist die Hyperästhe-
sie circumscript, so dass durch Berühren der Haut oder geringe Kälte und
") Wie im Artikel ^Meningitis spinalis" näher auseinandergesetzt wurde, pflegt man
unter acuter Spinalmeningitis in der Mehrzahl der Fälle eine Leptomeningitis, unter
chronischer eine Paehymeningitis zu verstehen. Es soll daher im Folgenden ausschliesslich
von der chronischen Form der Spinalrneningitis die Rede sein.
PACHYiMENINGITIS SPINALIS. 113
Wärme Schmerz erzeugt ^Yird, der den Hauptsitz der Krankheit anzugeben
vermag. Eine nachweisbare Wirbelcaries, tiefgreifender Decubitus oder Sup-
puration in der Nähe der Wirbelsäule machen auf das Bestehen der sonst
schwer diagnosticirbaren Pachymeningitis externa aufmerksam.
Differentialdiagnose. Bei der Differentialdiagnose kann hie und da
die Neurasthenie, chronische Myelitis und Tabes dorsalis in
Frage kommen. Bei genauer Untersuchung macht jedoch ihre Unterscheidung
kaum irgend welche nennenswerthe Schwierigkeit. Nicht zu vergessen ist die
Thatsache, dass die genannten drei Krankheiten neben der chronischen Menin-
gitis bestehen können.
Die multiple Neuritis in ihrem chronischen Verlaufe bringt zuweilen
Erscheinungen an den Nerven hervor, welche denselben Character haben wie
die der chronischen Meningitis, aber die Symmetrie und die eigenartige Ver-
theilung der atrophischen Lähmung, das Ueberwiegen des Schmerzes an den
Extremitäten, der Verlust der Sehnenreflexe und das Fehlen von Erscheinun-
gen seitens des Markes sind doch unverkennbar.
Therapie. Die Therapie stimmt im Grossen und Ganzen mit der der
meisten Erkrankungen des Rückenmarkes überein. Absolute Ruhe ist die
Hauptsache. Besteht Lues, event. Potus, so ist eine Quecksilberkur, event,
Alkoholabstinenz indicirt, beim Vorhandensein des PoTx'schen Uebels sind
die chirurgisch operativen und orthopädischen Maassregeln am Platze. Sonst
kommt die rein symptomatische Behandlung in Betracht: örtliche Application
von Gegenreizen an der Wirbelsäule in der Form von wiederholten Jodein-
pinselungen, Schröpfköpfen, Blasenpflastern, Ferrum candens, femer lauwarme
Bäder (bis 28° R) oder systematische Kaltwasserkur und endlich die Massage
und der constante Strom. Von pharmakologischen Mitteln ist zur Linderung
der Schmerzen Morphium und Belladonna, zur Beförderung der Resorp-
tion der Entzündungsproducte das Jodkalium und Quecksilber am zweck-
mässigsten.
Von den chronischen Meningitiden verdienen sowohl ihres klinischen wie
pathologisch-anatomischen Verhaltens wegen zwei Varietäten einer besonderen
Aufmerksamkeit: die Pachymeningitis spinalis hypertrophica interna und P. sjn-
nalis haemorrhagica interna. Hinsichtlich der äusserst complicirten echt sy-
philitischen Pachymeningitis, die mit Recht gemeinsam mit der
Arachnitis gummosa, Meningomyelitis luetica bei der Rückenmarkssyphilis be-
sprochen zu werden pflegt, verweisen wir auf die entsprechende Specialdisciplin.
Die P. spinalis hypertropliica interna (cervicalis) wurde von
Chaecot und Joffroy (1871) zuerst beschrieben. Aetiologisch werden
bei dieser diagnostisch sehr gut fundirten Krankheit Erkältung und Alko-
hol missbrauch beschuldigt. Auf das häufige Zusammentreffen der P. hyper-
trophica einerseits mit der Syringom yelie, andererseits mit Syphilis
des Centralnervensystems wurde nun besonders in letzterer Zeit aufmerksam
gemacht. Anatomisch charakterisirt sie sich durch eine gewöhnlich am un-
teren Abschnitte der Cervicalintumescenz des Markes sitzende chronische
Entzündung der inneren Fläche der Dura mater. Die derbe Schwiele an
der Dura erreicht zuweilen Vo — 1 cm und stellt sich histologisch dar als con-
centrische Schichten eines neugebildeten derben Bindegewebes. Das Rücken-
mark und besonders die austretenden Nervenwurzeln erleiden dadurch eine
beträchtliche, mechanische Compression, die im späteren Verlaufe der Entzün-
dung nothwendigerweise zur secundären Atrophie der motorischen Nerven
und absteigenden Degeneration der Pyramidenstränge im Rückenmarke führen
muss. In den letzten Stadien der Krankheit ist regelmässig eine interstitielle
Entzündung im Rücken marke selbst resp. in der ganzen Peripherie des
Rückenmarksquerschnittes zu finden. Neben den rein localen Erkrankungen
sämmtlicher Rückenmarkshäute in der Nähe des Cervicalmarkes ist bei der
Bibl, med. WiBsenschaften, Interne Medicin und Kindeikranklieiten. Bd. III. 8
114 PACHYMENINGITIS SPINALIS.
luetischen P. liypertrophica das Rückenmark, die Oblongata und sogar das
Gehirn mitbetheiligt.
Die klinischen Symptome sind aus dem anatomischen Substrate
sehr leicht zu deduciren. Im Beginne sind ausschliesslich streng localisirte
Reizungserscheinungen vorhanden (Irritationsstadium): Nackenstarre,
heftige Schmerzhaftigkeit am Rücken, Hyper- und Parästhesien in den Armen,
Zuckungen und Spasmen iq den Muskeln, trophische Störungen der Haut, wie
Herpes- und Pemphiguseruptionen, — kurz, Erscheinungen, die von der Rei-
zung der vorderen und hinteren Cervicalwurzeln abhängen. Nach 8 — 12 Wochen
beginnt das Lähmungsstadium. Die fortwährende Compression der moto-
rischen Wurzeln verursacht eine Degeneration ihrer Nervenfasern mit nach-
folgender, atrophischer Lähmung der oberen Extremitäten und deutlicher elec-
trischer Entartungsreaction. Von sensiblen Erscheinungen sind in diesem
Stadium theilweise Anästhesien der Haut zu merken. Bezüglich der Locali-
sation der Muskelatrophien ist die Thatsache bemerkenswerth, dass in den
meisten Fällen nur das Innervationsgebiet der unteren Cervicalwurzeln, d. h.
das Gebiet des N. Medianus und Ulnaris befallen wird, das des Radialis
beiderseits intact gelassen. Die antagonistische Contractur der Extensoren ver-
ursacht daher eine äusserst charakteristische Stellung der Hand: Dorsal-
fiexion der Hand mit gleichzeitiger Klauenstellung der Finger. (Prediger-
hand, main en predicateur.)
Betrifft die anatomische Läsion die obere Partie der Halsanschwellung, so
werden vorzugsweise die vom Radialis innervirten Muskeln afficirt (Ross) und
die Hand nimmt dann eine ganz entgegengesetzte Position an, d. h. statt der
continuirlichen Hyperextension eine Hyperflexion. Nur ganz ausnahmsweise
localisirt sich der Process an den Membranen oberhalb der Lendenschwellung
oder der Cauda equina (Gowees).
Schliesslich kommt das dritte Stadium, das der intensiven Compres-
sion des Rückenmarkes selbst. Die das Cervicalmark durchziehenden moto-
rischen Bahnen für die unteren Extremitäten werden in Mitleidenschaft ge-
zogen, endlich auch die sensiblen Bahnen für die Beine und den Blasenmast-
darmapparat. Die nächste und klinisch wichtigste Folge davon ist eine spa-
stische Parese der unteren Extremitäten ohne Atrophie und Entartungsreac-
tion, da die Vorderhörner (trophische Centra) und Wurzelfasern der Lumbal-
intumescenz intact bleiben. Die Sehnenreflexe an den Beinen sind sehr ge-
steigert, die Sensibilität stark alterirt. Kommen noch Störungen seitens der
Blase und Mastdarmes mit consecutiver Cystitis und Decubitus hinzu, so tritt
der Tod nach mehr oder weniger kurzer Zeit unter septischen Erscheinun-
gen ein.
Die Diagnose des Leidens ist ziemlich leicht. Der Beginn mit Schmer-
zen im Nacken und den Armen, der spätere Eintritt von Muskelatrophien mit
antagonistischer Extensorencontractur an den oberen, von spastischer Lähmung
ohne Atrophie an den unteren Extremitäten lassen keine Zweifel über das
anatomisch-pathologische Substrat der Krankheit, Die amyo trophische
Lateralsklerose und progressive spinale Amyotrophie können
hie und da zur Verwechslung veranlassen. Das Fehlen von Nackenstarre und
Sensibilitätsstörungen, das Vorhandensein von Bulbärsymptomen und spastisch-
paretischer atrophischer Lähmung an den Beinen erleichtert gewöhnlich
die Diagnose. Schwieriger wird zuweilen die Differentialdiagnose bei den
Compressionserscheinungen infolge einer Spondylitis cervicalis oder
Neubildung am Halsmarke; aber auch hier wird der atypische Krank-
heitsverlauf früher oder später auf die Unhaltbarkeit der Annahme einer
Rückenraarkshautentzündung aufmerksam machen. Die umschriebene Empfind-
lichkeit eines einzelnen Wirbels, die Difformität desselben, event. seiner Um-
gebung^ und der etwaige Nachweis von Tuberculose oder Syphilis anderer
PACHYMENINGITIS SPINALIS. 115
Organe weist auf Spondylitis, die Multiplicität der Neubildung — auf Sarcom
oder Carcinom hin.
Die Prognose bei der P. cervicalis ist eine relativ gute. Wesentliche
Besserung, resp. Heilung wird selbst nach jahrelangem Verlauf constatirt.
Die ernste Krankheit kann in jedem Stadium zum Stillstand kommen.
Die Therapie muss vorzugsweise symptomatisch sein und stimmt mit
der oben angeführten ganz überein.
Als P. spiimlis haemoiThagica interna, oder „Haevmtoma durae spinalis"
bezeichnet man tiächenhaft ausgebreitete, inder Regel abgekapselte Hämorrha-
gien an der inneren Oberfläche der Dura.
Aetiologie und pathologische Anatomie. Ueber die Pathogenese
dieser hämorrhagischen Entzündungsform sind zur Zeit die Acten noch keines-
wegs abgeschlossen. Die eine, von Virchow vertheidigte Ansicht betrachtet
als primär die eigenthümliche Entzündung, als secundär die Blutung in das
gefässreiche, neugebildete Bindegewebe. Die ältere, von Virchow bekämpfte,
neuerdings von den meisten Pathologen genehmigte Theorie spricht sich zu
Gunsten einer primären Blutung (Hämatom) aus den degeuerirten leicht zer-
reisslichen Gefässwänden aus; die bindegewebigen Membranen sollen sich erst
secundär aus den organisirten Gerinnseln bilden.
Die Auflagerung erreicht zuweilen eine beträchtliche Dicke und setzt sich
aus mehreren Schichten zusammen, von denen die älteste der Dura anliegt
und aus deren fibrillärem Bindegewebe besteht, die jüngste von weicher Con-
sistenz und nach dem Rückenmarke zu gelegen ist. Auf der letzteren sind
zahlreiche rothe und bräunliche Flecken (Hämatoidin) und gelegentlich auch
Cysten, welche Blutklumpen in verschiedenen Stadien der Resorption ent-
halten, zu finden. Der ganze Process entwickelt sich, wie aus der schicht-
weisen Anordnung der Membranen hervorgeht, in verschiedenen Kachschüben,
Die grösseren Blutergüsse finden gewöhnlich zwischen den Schichten statt,
Ergiesst sich das Blut, nachdem es die centralste Schicht durchbrochen hat,
in den Raum zwischen Dura und Arachnoidea, so haben wir eine sog. Inter-
meningealapoplexie.
Als weiterer charakteristischer und constanter Befund bei dieser Ent-
zündungsform seitens des Marksubstanz ist eine ausgesprochene Randdegene-
ration des Rückenmarkes mit Vermehrung der Neuroglia, Verbreiterung der
Septa und Zerfall, resp. Atrophie der an diese grenzenden Marksubstanz.
Durch den genannten Hirnschwund verlieren wahrscheinlich die endarteriiti-
schen Piagefässe ihren Stützpunkt und geben zu Zerreissungen leichter Ver-
anlassung. Da die Blutung in der Regel von den Piagefässen ausgeht, wäre
vielleicht der Käme ^^Leptomeningitis haemoi-rhagica^' angezeigter, insofern man
wenigstens die Endarteriitis als Entzündung auffasst.
Das Hämatom wird selten bei Lebzeiten diagonisticirt (1 : 7). Bei den
Sectionen wird sie gleichzeitig mit dem Haematoma durae des Gehirns
entdeckt : bei diff"user Arteriosclerose, bei chronischen Herz-, Kieren- und Lun-
genkrankheiten, bei allgemeiner hämorrhagischer Diathese, bei marantischen
und cachectischen Zuständen, ferner bei schweren, acuten Infectionskrankhei-
ten. Wichtiger und klinisch interessanter sind diejenigen relativ häufigen
Formen, die auf der Basis schwerer, chronischer Psychosen (Dementia para-
lytica) und Alkoholismus sich entwickeln. Bei jedem zehnten zur Autopsie
kommenden Paralytiker und Potator ist die hämorrhagische Pachymeningitis
nachzuweisen.
Diagnose. Handelt es sich um einen exscessiven Alkoholiker oder vor-
geschrittenen Paralytiker, bei dem sich neben diffuser Arteriosklerose und
bestehenden Symptomen von Durhämatom des Gehirns Erscheinungen der
Spinalmeningitis geltend machen, um von Zeit zu Zeit zu exacerbiren und
mit den Symptomen des anwachsenden Druckes auf die Rückenmarkssubstanz
8*
116 PANCREASKRANKHEITEN
und die Nervenwurzeln sich zu vergesellschaften, — so ist die Wahrschein-
lichkeit einer P. haemorrhagica mit Nachschüben von stärkerer Blutung aus
den sich ausbildenden Pseudomembranen ziemlich gross. Von einer sicheren
Diagnose ist übrigens auch bei solchem Sachverhalte nicht die Eede.
Therapie. Die Möglichkeit, therapeutisch einzugreifen, ist sehr gering.
Ableitungen auf den Darm, Verbot von Alkoholicis, von geistigen und körper-
lichen Ueberanstrengungen bleiben die wichtigsten und einzigen Maassregel.
H. HIGIER.
Pancreaskrankheiten. obwohl dem Secrete der Bauchspeicheldrüse
drei für den Verdauungsvorgang wichtige Fähigkeiten, diePeptonisation
von Eiweisskörpern, die Saccharificirung der Stärke und die
Verseifung von Fetten zukommt^"), so pflegen doch Erkrankungen des
Pancreas oft ganz latent zu verlaufen. Den pathologischen Afifectionen der
Bauchspeicheldrüse werden eine Reihe „specifischer Symptome" zugeschrieben,
die aber im Einzelfalle nur nach sorgfältiger Erwägung aller Umstände
diagnostische Bedeutung besitzen. Als solche werden angeführt die Ste ar r h o e,
das Auftreten von Fett im Stuhl, der Befund zahlreicher unverdauter
Muskelfasern in den Entleerungen, ein übermässiger Speichelfluss (Salivatio
pancreatica) vielleicht eine Compensation für die Hemmung der Pancreas-
secretion, endlich ein eigenthümlicher epigastrischer Schmerz, der oft kolik-
artig wird (Neuralgia coeliaca). Dazu kommt ferner das Heer aller jener Be-
schwerden, welche Störungen der Verdauungsthätigkeit begleiten, als da sind:
Anorexie, Pyrosis, Flatulenz u. ä.
In zahlreichen Fällen von Pancreasaffection wurde Glycosurie con-
statirt, so dass, wenn auch in anderen Fällen von Bauchspeicheldrüse-
erkrankung kein Zucker im Harne gefunden wurde, der positive Befund
immerhin als pathognostisch für Pancreaskrankheiten zu gelten
hat. Wegen der hiedurch entdeckten Beziehungen des Ausfalles der Bauch-
speicheldrüsefunction zu der Genese des Diabetes muss auf diese Frage
etwas ausführlicher eingegangen werden.
Es ist gegenwärtig allgemein anerkannt, dass den Pancreaskrank-
heiten ein ursächlicher Einfluss auf die Entstehung eines Dia-
betes zukomme. Seit den bahnbrechenden Experimenten v. Mering's und
MiNKOwsKi's, nach denen bei Hunden durch die totale Exstirpation des Pan-
creas ein Diabetes schwerster Form erzeugt werden kann, wurde den
Beziehungen der pathologischen Pancreasveränderungen zum Diabetes erhöhte
Aufmerksamkeit geschenkt, wenngleich schon früher Boüchardat, Lan-
CERAUX, PtECKLINGHAUSEN, ROKITANSKY, SENATOR, BaUMEL U. A. hierüber
vereinzelte und wenig beachtete Mittheilungen gemacht hatten. Hansemann
hat die Sectionsbefunde von Diabetikern aus dem Zeitraum von zehn Jahren
1884 — 1894 zusammengestellt und 8 Fälle von Diabetes ohne Pancreaser-
krankung, 40 Fälle von Diabetes mit Pancreaserkrankung und endlich 19
Fälle von Pancreaserkrankung ohne Diabetes gefunden. Aus der Literatur
konnte Hansemann 72 Fälle von Diabetes namhaft machen, in denen aus-
gesprochene Pancreasaffectionen constatirt worden waren. Auf Grund dieses
Materials gewann Hansemann die Anschauung, dass unter allen Pancreas-
erkrankungen, die mit Diabetes verlaufen, die Atrophie obenansteht; diese
Atrophie ist eine specifische, entzündliche und von der cachectischen
Form wohl zu differenzirende ; seltener ist Concrementbildung, acute Entzün-
dung, Cystenbildung, Verstopfung des Ausführungsganges die Grundlage jener
Affection des Pancreas, die in einer Reihe von Diabetesfällen gefunden wird.
*) Vergleiche Artikel ^Organo-Histochemie^'' und ^Verdauungssäfte'^ im Bande
„Metücinische Chemie".
PANCREASKRANKHEITEN. 117
Ueber die Ursachen der Diabetesgenese nach Pancreasexstirpation
hat man zwei Hypothesen aufgestellt. Die eine lautet: Nach der Pancreasexstirpation
ist ein in der Norm vom Pancreas gebildetes, zuckerzerstörendes Ferment (Li^pine) in Blut
und Gewebe nicht mehr in genügender Menge vorhanden und demgemäss gehe die
Zuckerzerstörung nur unvollkommen vor sich; dies führe zur üeberladung des
Blutes mit Zucker, Glycämie, und zur nachfolgenden Zuckerausscheidung durch den
Harn, Diabetes. Die zweite Hypothese basirt auf folgender Ueberlegung: der Organismus
der diabetisch gemachten Thiere hat in Folge Wegfall eines vom Pancreas producirten
Stoffe.s die Fähigkeit verloren, Zucker in Glykogen umzuwandeln und wird
deshalb der Zucker als „nicht verwendbar" wieder ausgeschieden.
Bewiesen ist keine dieser beiden Hypothesen und erscheint namentlich die zweite
wenig wahrscheinlich, da man annimmt, dass nur die Leber und die Muskeln die Bildungs-
stätten des Glykogens seien und sich gezeigt hat, dass bei Entleberung von Thieren weder
Zucker im Harn auftrete (Minkowski), noch auch der Glykogengehalt der Muskel zunehme
(Lawes), was man folgerichtig erwarten müsste, wenn das Fehlen der Zuckerausscheidung
von der Umwandlung des Zuckers in Glykogen abhängen würde.
Noch schwieriger ist die Erklärung der Experimente W. Marcuse's, nach welchen
die Zuckerausscheidung ausbleibt, wenn man gleichzeitig mit dem Pancreas auch
die Leber exstirpirt. Die einfachste Erklärung für dieses experimentelle Ergebnis wäre
nach Marcuse die, dass durch die Exstirpation der Leber die Zuckerproduction in
den Geweben in Folge Fehlens eines dieselben fördernden von der Leber erzeugten
Fermentes abnehme und hiedurch ein Ausgleich gegenüber den Folgen der Pancreas-
exstirpation (Abnahme der Zuckerzerstörung in den Geweben) stattfinde.
Wenn bei einer Affection des Pancreas keine Glycosurie gefunden wird'
so tritt dieselbe oft erst ein, nachdem man dem Kranken reichlich Zucker
(Dextrose) oder Kohlenhydrate (Reis) zugeführt hat. Diese wichtige Er-
scheinung der alimentären Glycosurie i. e. der Herabsetzung der
Assimilationsgrenze für Kohlehydrate haben Kraus und Ludwig
bei einem Falle von Pancreascyste mitgetheilt.
Eine besondere Stellung in der Pathologie der Bauchspeicheldrüse nehmen
die Hämorrhagien des Pancreas ein. Kleinere Blutungen finden sich
im Gefolge von Herz-, Lungen-, Lebererkrankungen und hämorrhagischer
Diathese. Klinisch wichtiger sind umfangreiche Blutungen, welche eigen-
thümlich verlaufende, schwere Krankheitsbilder bedingen. Die vorkommende
Combination von Blutergüssen mit entzündlichen und gangränösen Processen
schaffen Befunde, die oft selbst der pathologische Anatom nur schwer zu deu-
ten vermag.
„Welch buntes Durcheinander von Leichenbefunden und Vorgängen im Leben", ruft
JoH. Seitz in seiner ausführlichen Monographie über diesen Gegenstand aus. . . . „Der eine
wird todt aufgefunden, friedlich in seinem Bette oder unter Umständen, welche die gericht-
liche Medicin herausfordern, der andere verscheidet unter den Augen des Arztes in wenig
Viertelstunden oder nach halbjährigem Lager. Puathlos sieht der zur Hilfe Berufene das
Leben verrinnen, oder er findet Anlass zu eingreifendstem, operativem Vorgehen. In blü-
hendster Gesundheit fällt unvermuthet jugendliche Kraft; rüstiges Greisenthum findet
ein jähes Ende; langes Siechthum kommt zum ersehnten Abschluss. Hirnleiden, Typhus,
Herz- und Lungenübel, durchbrechende Magen- und Darmgeschwüre, Bauchfellentzün-
dung, Darmverschluss, Gallensteinstörungen, Geschwulstbildungen verschiedener Organe
werden als Krankheitsvorgang angenommen, mit dem stillen oder lauten Geständnis
vollständiger Unsicherheit . . . ."
Als Ursachen von Pancreasblutungen werden Gefässver-
änderungen, wie sie durch das Senium, Syphilis, chronische Bleivergiftung
und Urämie zu Stande kommen, angesehen. Das Pancreas hat diesbezüglich
eine ähnliche Disposition zu Hämorrhagien wie das Gehirn. Fettentartung
der Drüsenzellen, übermässige Fettablagerung und Fettnecrose bilden weitere
Momente für den Eintritt umfangreicher Apoplexien (v. Ziemssen, Zenker,
Balser u. A.). Auch die Entzündung des Pancreas kann Blutungen im Ge-
folge haben.
Die Symptome der Pancreasblutungen sind nicht immer gleichartig,
auch da ist eine gewisse Analogie mit den Gehirnblutungen zu finden.
Apoplectiform tritt der Krankheitszustand auf: die Betroffenen klagen plötzlich
über furchtbare Schmerzen dicht oberhalb des Labels, hochgradiger Kräfte-
verfall tritt ein, Puls wird klein, Athmung dyspnoisch, zuweilen stellt sich
118 PANCREASKRANKHEITEN.
Erbrechen mit oder ohne gleichzeitigen Stuhldrang, nach kurzem Collaps, oft
in 72 Stunde, oft 1—2 Tagen, tritt der letale Exitus ein. In anderen Fällen
legen sich die ersten, stürmischen Erscheinungen bald, dagegen treten Er-
scheinungen von Peritonitis auf, es ist zur Gangränescirung einzelner Drü-
senpartien gekommen, jauchige Massen brechen in den Darm durch, erzeu-
gen Darmverschluss oder werden durch den After entleert; ein brandiger
Eiterherd hat sich in der Bauchhöhle etablirt, die umliegenden Gefässe wer-
den thrombosirt, es kommt zur allgemeinen Sepsis.
Es sind Fälle bekannt, in denen selbst umfangreiche Pancreasblutungen
Symptomenlos verliefen. So wurden solche gefanden in einem Falle von tödtlicher
Morphinvergiftung, bei einem Erhenkten, bei einem Verblutungstod nach einem Schenkel-
stich. Reübold, der diese drei Fälle mittheilt, hält die gefundenen Pancreasblutungen
zwar nicht für die Ursachen des letalen Exitus, anderseits aber auch nicht für etwas
rein Zufälliges und meint, dass neben der Disposition des Organes auch noch die Todes-
art zu Hämorrhagien Veranlassung biete. In einem Falle Rehms bestand zwischen den Ge-
richtsärzten ein Zwiespalt, ob die stattgefundene Würgung oder die vorgefundene Pan-
creasblutung den Tod veranlasst habe.
Sehr häufig finden sich Blutungen in Pancreascysten (Hagenbach,
Thiersch, Gussenbauer u. A.) In den Fällen von Parsons und Pepper
erfolgte der Tod durch Berstung der mit Blut gefüllten Cysten gegen das
Darmlumen.
Der rasche Eintritt des Exitus letalis nach Pancreasblutungen
ist nur in der Minderzahl der Fälle durch Verblutung zu erklären (namentlich
in jenen, wo grosse Blutmengen im Bauchfellsack gefunden werden). Der
plötzliche Blutaustritt scheint hauptsächlich auf das sympathische Nerven-
geflecht in der Umgebung des Pancreas einzuwirken und von hier aus als
Bauch-Chok (GoLTz'scAer Klopfversuch) die lebenswichtigen Functionen ge-
waltsam zu unterbrechen.
In anderen Fällen ist die Peritonitis die Ursache des Todes. Durch
die hämorrhagische Infarcirung des Pancreasgewebes kommt es zum Austritte
von Pancreassaft in die Bauchhöhle. Der ätzende Einfluss dieses Secretes
verletzt die Darmwand, ermöglicht das Durchdringen von Mikroorganismen
durch dieselbe und erzeugt derart Peritonitis. (Safert). Fälle dieser Art
verlaufen nicht so rapid wie die erstgenannten.
Die Diagnose gehört zu den schwierigsten der ganzen Pathologie.
Die Beobachtungszeit ist meist nur eine kurze, man trifft die Kranken sehr
häufig schon sterbend und ist dann nur auf die ungenauen, laienhaften An-
gaben der Umgebung angewiesen. Fehldiagnosen können vorkommen mit
innerer Incarceration, Perforationsperitonitis, Rupturen anderer Unterleibs-
organe, Gallensteinkolik und — Vergiftungen. In einem von Harris mit-
getheilten Falle wurde die Kranke als „betrunken" in den Polizeiarrest ge-
bracht, starb bald nach der Ankunft. Die Section ergab nebst sonst ganz
normalem Befunde umfangreiche Pancreasblutung.
Die Therapie der Pancreasblutungen ist machtlos; Pancreascysten
sollen zur Verhütung von Verblutungen rechtzeitig operirt werden.
Die acute, parenchymatöse Entzündung des Pancreas ist äusserst
selten. Parenchymatöse Entzündungen kommen im Gefolge von Infections-
krankheiten (Typhus, Pneumonie, Puerperalprocess etc.) vor. Es ist jener
Vorgang, den wir als trübe Schwellung auch anderer Unterleibsdrüsen nach
langandauernden Fieberzuständen beobachten können. Viel häufiger sind
eitrige Pancreasentzündungen. Durch die Blutbahn oder durch den
Ductus Wirsungianus werden Eiterorganismen zugeführt und erzeugen Absce-
dirung. Die Form und der Grad der Abscessbildung ist den einzelnen Fällen
sehr verschieden (Friedreich, Moore, Dräsche, Bamberger u. A.). Die
Erkrankung dauert meist einige Wochen und bietet das Bild eines pyämischen
Processes (Fröste und Fieber) mit gleichzeitigen Magen-Darmsymptomen
(Schmerzen in der „Magengegend", Erbrechen, Durchfälle, Meteorismus); findet
PANCREASKRANKHEITEN. 119
ein Durchbruch in den Darm statt, so zeigen sich eitrige, sehr fötide Ent-
leerungen.
Die chronische, interstitielle Pancreasentzündung tritt im
Gefolge von Alkoholismus, Syphilis und Pancreassteinen auf. Ihr Sitz ist
das interstitielle Gewebe, das an Umfang zunimmt, das Drüsengewebe zur Atro-
phie bringt und so eine allgemeine Schrumpfung des Organes herbeiführt.
Besonders scheint die Syphilis interstitielle Pancreatitis zur Entwicklung
zu bringen. Birch - Hieschfeld fand unter 13 lebend geborenen, bald nach
der Geburt verstorbenen, syphilitischen Früchten 11 mal interstitielle In-
duration des Pancreas. Biedert sah Fälle von Fettdiarrhoe bei Säuglingen,
die auf atrophisch-indurative Pancreaserkrankung zurückzuführen war. Das
Vorkommen von chronisch-interstitieller Pancreatitis nach luetischen Infectionen
bei Erwachsenen beweisen die Fälle von Bamberger, Friedreich, Chvos-
TEK u, A.
Nebst der Syphilis ist es in zweiter Linie der Alkoholismus, welcher
die Entwicklungsbasis der Pancreatitis interstitialis chronica bildet. (Fried-
reich's Säuferpancreas).
H. Stieda beschreibt interstitielle Pancreatitis bei einem Falle von tro-
pischer Malaria. In den Gefässen der Drüse fanden sich eisenhaltige
Körnchen abgelagert.
Auf eine interstitielle Entzündung zurückzuführen ist jene Pancreas-
atrophie, die bei Diabetikern gefunden wird. Die Pancreasveränderungen
bei Diabetes stellen nach Hansemann das Bild einer gemeinen Granular-
atrophie des Pancreas vor, ähnlich dem Bilde der gemeinen Granularatrophie
der Niere. Dagegen zeigen die ohne Diabetes constatirten Pancreasver-
änderungen nach Rasahara ein anatomisches Bild, welches dem einer inter-
stitiellen Nephritis ähnlich sieht.
Auf eine besondere Form von Pancreasentzündung hat Riedel
aufmerksam gemacht. Sie betrifft nur den Kopf der Drüse, verän-
dert denselben zu einer eisenharten, palpablen Geschwulst und findet sich
im Gefolge von Gallensteinleiden.
In einem Falle fühlte Rirdel medianwärts von der Leber „eine faustgrosse, eisen-
harte, rundliche Geschwulst", die er für die mit Steinen gefüllte 'Gallenblase hielt. Die
Operation ergab, dass der erwähnte Tumor der entzündlich vergrösserte Pancreaskopf war,
während die Gallenblase, zwar mit Steinen gefüllt, aber tief unter der Leber verborgen
war. Die Steine wurden aus der Gallenblase entfernt, und durch diese Operation die Be-
schwerden des Kranken vollständig behoben. Der Pankreastumor war nachher noch immer
deutlich zu fühlen, ohne besondere Erscheinungen zu machen, nach ^/g Jahr war er schon
bedeutend kleiner, nach l^/g Jahre überhaupt nicht mehr der Palpation zugänglich.
Die Mittheilung dieses Falles bezeugt die entzündliche Natur der Pan-
creaskopfvergrösserung und führt gleichzeitig die diagnostischen Schwierig-
keiten vor Augen, die eventuell bei der Frage eines Pancreascarcinoms auf-
tauchen.
Amyloidentartung des Pancreas wurde bei allgemeiner Amyloi-
dose beobachtet. (Kyber). — Fett-Degeneration nimmt entweder von
den Drüsenzellen ihren Ausgangspunkt, was bei cachektischen Zuständen der
Fall ist, oder vom Bindegewebe (Fett Infiltration), wodurch secundär die
Acini atrophiren, wie dies bei allgemeiner Lipomatose geschieht, die fettige
Entartung der Drüse gibt häufige Veranlassung zu Blutungen, {v. o.) Bei
Fettleibigen kann die Pancreasapoplexie Ursache plötzlichen Todes sein.
(Balser, G. Sticker). — Necrosen des Pancreasgewebes werden an
der Leiche in einem gewissen Percentsatz aller Sectionsfälle getroffen. So con-
statirte Chiari unter 75 diesbezüglich histologisch untersuchten Pancreas-
drüsen 11 mal das Bild einer totalen oder fast totalen Necrose der Acini,
29mal eine „herdweise" circurascripte Necrose, während nur 35mal das Pan-
creasgewebe vollkommen intact war. Auf Grund dieses Materiales spricht
120 PANCREASKRANKHEITEN.
Chiaei die Ansicht aus, dass das Pancreas etwa in der Hälfte aller Todes-
fälle die Fälligkeit besitzt, sich selbst, sei es in toto oder in
Herden zu verdauen {Autodigestion).
Pancreassteine kommen in der Form grosser Concremente vor,
welche den Ductus Wirsungianus verstopfen, oder in Form kleinerer oft auch
nur griesartiger Niederschläge, welche auch die feineren Verzweigungen des
Hauptausführungsganges erfüllen. Beim Aufschneiden der Drüse am Sections-
tisch kreischt oft das Messer laut, weil es überall auf zerstreut liegende Con-
cremente stosst. Ihrer chemischen Constitution bestehen dieselben vorwiegend
aus Kalksalzen (kohlensaurer und phosphorsaurer Kalk) und haben entsprechend
eine weissgraue Farbe und geringe Härte.
Die Folge der Steinablagerung ist eine chronisch interstitielle Entzün-
dung, Wucherung des fibrösen Bindegewebes mit Atrophie der Drüsensubstanz
(Pancreascirrhose). Das gleichzeitige Vorkommen von Nieren- und Gallensteinen
an denselben Fällen weist auf eine gewisse Diathese hin. Fraglich ist es
auch, ob nicht Pancreas-Entzündungen, wie sie z. B. als durch Arteriosclerose
bedingt, von Fleiner und Nonne beschrieben wurden, secundär zu Steinbil-
dungen Veranlassung bieten können.
Das Vorhandensein von Pancreassteinen bleibt intra vitam occult, so-
ferne nicht heftige „cardialgische" Schmerzen {Pancreassteinkolik) und das
Auftreten von Zucker im Harn in Folge der secundären Gewebsveränderungen
eine Vermuthungsdiagnose stellen lassen. In einem von Fleiner beschriebenen
Falle traten die Symptome der Functionsstörung der Drüse erst 7 Jahre nach
dem ersten Kolikanfalle ein.
Ausser Pancreassteine hat man in dem Ductus Wirsungianus secundär
eingewanderte Gallensteine und Ascariden gefunden.
Cy stenbildung kann durch Erweiterung der Ausführungsgänge ent-
stehen, w^enn an einer Stelle ein obturirendes Hindernis sitzt. Pancreascysten
kommen aber auch ohne Bestand eines derartigen Hindernisses zur Entwick-
lung. Nach Tilger's Untersuchungen sind alle Pancreascysten als Reten-
tionscysten zu betrachten. Ihr Gehalt stimmt chemisch nicht vollständig
mit jenem des Pancreassecretes überein, sondern stellt meist eine seröse,
eiweisshältige Flüssigkeit dar. Hoppe-Seyler fand in einem Falle Harnstoff,
in einem Falle von Krauss und Ludwig zeigte der Cystengehalt stark dia-
statisches, aber kein tryptisches Vermögen.
Eiterige Umwandlung des Cysteninh altes und Blutungen in dieselbe sind
ein nicht seltenes Vorkommnis. Letztere können lebensgefährlich werden {v. o.).
Die Diagnose der Pancreascysten ward hauptsächlich durch das Vor-
handensein eines Tumors, der links vom Nabel seinen Sitz hat und in
der Mehrzahl der Fälle derart gelagert ist, dass der Magen über ihn, das Colon
unter ihn verläuft. In einzelnen Fällen wurde die Leber nach aufwärts und der
Magen nach abwärts gedrängt. (Ochsner, Bieger, Karewski). Bei starkem
Wachsthum der Cyste, kann dieselbe das „ganze Abdomen erfüllen" (Riedel)
und selbst bis nahe zur Symphyse reichen (Salzer). Kommt eine Pancreascyste
in Frage, so soll man sich immer von dem Verhältnis ihre Lage zum Magen
und Colon überzeugen, was durch Beachtung des Plätschergeräusches und der
Kohlensäureaufblähung für das erste Organ, durch Füllung des Darmes mit
Luft für das zweite Organ möglich ist. Ein wesentliches diagnostisches Mo-
ment ist das Vorhandensein von Zucker im Harn ohne oder erst nach vor-
ausgegangener Fütterung mit Dextrose oder Kohlehydrate. (Kraus u. Ludwig.)
Mit der Ausbildung der operativen Technik der Abdominaltumoren wer-
den die meisten Pancreascysten der chirurgischen Behandlung zugeführt.
Nach Hersche sind bis zum Jahre 1892 im ganzen 36 Fälle von Pancreas-
cysten operirt worden. Seitdem sind wohl eine Reihe weiterer Fälle hinzu-
gekommen.
PARALYSIS AGITANS. 121
Von den Neoplasmen des Pancreas") kommt in klinischer Be-
ziehung nur das Pancreascarcinom in Betracht. Nach Mirallie's bis 1893
reichender, statistischer Zusammenstellung sind 113 Fälle von primärem Krebs
der Bauchspeicheldrüse bekannt, wovon 69 das männliche und 37 das weib-
liche Geschlecht betrafen. Die wichtigsten Symptome sind Boulimie, Poly-
dipsie und Polyurie bei gleichzeitiger starker Abmagerung, um die Nabel-
gegend localisirte Schmerzen. Icterus bedingt durch Stricturirung oder Com-
pression der Galle abführenden Wege oder auch durch secundäre Metastasen
in der Leber; im Stuhle findet sich Fett; im Harn wird zuweilen Zucker
gefunden. Ein directes Zeichen eines neoplastischen Tumors ist das Fühl-
bar wer den desselben. Dann tritt freilich erst die Schwierigkeit der
Entscheidung ein, ob ein Tumor des Magens, des Darmes, der Leber, der
Lymphdrüsen oder des Pancreas vorliege. Zur Differentialdiagnose die-
ser Bauchtumoren halte man sich an die in der MiNKOWSKi-BoAs'schen Ta-
belle'"'") angeführten Kennzeichen, die bei Magen- resp. Darmaufblähung
sichtbar werden, jül. weiss.
ParalysiS agitanS. {Parkinson' sehe Krankheit, Schüttellähmung). Das
uns bäschäftigende Krankheitsbild wurde zuerst im Jahre 1817 von Parkin-
son unter dem Namen shaking palsij in scharfen Umrissen gezeichnet. Jedoch
wurde in der Folge die Krankheit öfters mit anderen, mehr minder ähn-
lichen zusammengeworfen. Eine genaue Abgrenzung verdanken wir erst den
Arbeiten von Charcot und seines Schülers Ordenstein (1867).
Aetiologie. Die Paralysis agitans gehört nicht zu den gerade häu-
figen Krankheiten. Die Angaben über die Betheiligung der Geschlechter
wechseln; während eine Anzahl von Autoren ein Ueberwiegen des männlichen
Geschlechtes angibt (Gowers 5 : 3), läugnen andere Autoren eine solche Prä-
ponderanz des männlichen Geschlechtes. Die Paralysis agit. ist eine Krank-
heit des späteren Alters; die Mehrzahl der Fälle beginnt etwa vom 45 — 55
Jahre. Doch sind auch Fälle bekannt, die früher begannen, selbst in den
30er Jahren. Es werden sogar Fälle in noch früherem Alter (15 — 20 Jahre)
beschrieben; jedoch ist deren Zugehörigkeit zur Paralysis agitans eine zwei-
felhafte. Andererseits kann die typische Paralysis agitans in seltenen Fällen
auch im späten Alter auftreten, selbst in den 70er Jahren.
Ob der Heredität eine Rolle in der Aetiologie der Paralysis agitans zu-
kommt, erscheint nicht sicher. Manche Autoren z. B. Berger, Borgherini,
französische Autoren behaupten einen solchen Zusammenhang. Dagegen
kommt sicher einer Reihe von nunmehr zu erwähnenden Momenten eine ätio-
logische Bedeutung für das Auftreten der Paralysis agitans zu, wenn auch
die Art ihrer Wirkung noch nicht bekannt ist. In erster Linie sind hier zu
nennen Gemüthsaffecte, Schreck, Zorn, Kummer, Sorge, länger anhaltende
psychische Alterationen u. s. w. In manchen Fällen scheinen sich die Symp-
tome direct im Anschluss an einen acuten Affect z. B. Schreck entwickelt zu
haben. Auch Traumen, sowohl localer als allgemeinerer Natur, spielen eine
Rolle. So sah man nach einem Trauma, das einen Arm betraf. Zittern in dem-
selben auftreten, woran sich in der Folge das regelrechte Symptomenbild der
Paralysis agitans anschloss. Von sonstigen ätiologischen Momenten wären
noch zu nennen: vorausgegangene acute und chronische Krankheiten, rheu-
matische Affectionen u. s. w. Jedoch bleiben Fälle genug übrig, die ätiologisch
unklar sind.
Symptome u. Verlauf. In dem Symptomenbilde der Paralysis agi-
tans spielen 2 Erscheinungen eine dominirende Rolle, d. i. Tremor und eine
*) Vergl. Artikel ,,Neubildungen innerer Organe'^, Bd. III, pag. 35.
**) V. Artikel „Magencarcinom^' , Bd. II, pag. 572.
122 PARALYSIS AGITANS.
permanente Contractur und Steifigkeit der Gliedmassen und des
Stammes.
Was den Tremor betrifft, so sind es mehrere Momente, die denselben
in ziemlieh scharfer Weise charakterisiren. Zunächst gehört er unter die
wenig frequenten Tremorarten, etwa 3 — 5mal in der Secunde. Die Ampli-
tude der Zitterbewegungen ist eine geringe. Als besonders charakteristisch
für den Tremor der Paralysis agitans kann der Umstand gelten, dass der-
selbe ein continuirl icher ist d. h. sowohl in der Ruhe als bei Bewegungen
anhält. Im Beginn der Krankheit kann der Tremor zwar zeitweilig während
der Ruhe sistiren, in der weiteren Folge ist er aber auch in der Ruhe stets
vorhanden. Active Bewegungen steigern meist denselben, vor Allem in der
Excursionsweite; der Tremor kann sich dann zu einem förmlichen Schütteln
steigern.
Auch in der Schrift macht sich das Zittern deutlich merklich. Anderer-
seits gelingt es manchmal, insbesonders in frühen Stadien, dem Kranken, durch
energische intendirte Bewegungen ein vorübergehendes Nachlassen des Tre-
mors zu erwirken. Aehnliches gelingt bisweilen durch brüske, passive Bewegun-
gen. Psychische Erregung steigert stets den Tremor. Als Regel kann es
gelten, dass im tiefen Schlafe das Zittern fehlt; im Halbschlafe oder beim
Erwecken ist aber der Tremor vorhanden.
Am ausgeprägtesten ist der Tremor meist an den oberen Extremitäten,
speciell den Händen. Im Handgelenke handelt es sich um leichte Beugung
und Streckung, combinirt mit Supination, resp. Pronation. Der Daumen ist
mehr minder adducirt und opponirt, und zwischen ihm und den übrigen Fingern
erfolgen in stereotyper Weise Bewegungen, die man mit jenen beim Pillen-
drehen verglichen hat. Während in leichten beginnenden Fällen die unteren
Extremitäten frei bleiben können, sind sie in weiter vorgeschrittenen Fällen
auch betheiligt u. zw. zeigen sich im Fuss- und den Zehengelenken, allenfalls
auch im Knie und der Hüfte Zitterbewegungen. Der Stamm zeigt beim
Stehen und Gehen ebenfalls Tremor, in schweren Fällen zittert der Körper
auch in der Ruhe, selbst im Bette. Dann ist auch der Kopf mit einbezogen.
Chaecot gab an, dass der Unterkiefer im Gegensatze zum eigentlichen se-
nilen Tremor frei von Tremor sei. Diese Angabe hat sich als irrig heraus-
gestellt; es ist nicht schwer bei typischen Fällen von Paralysis agitans sich
davon zu überzeugen, dass auch der Unterkiefer in lebhafter Weise sich an
dem allgemeinen Tremor betheiligt.
So charakteristisch der Tremor als eines der cardinalen Symptome für die
Paralysis agitans ist, so gibt es doch eine Reihe von Fällen, in denen er
ganz oder wenigstens für längere Zeit fehlt. Man spricht dann von Paraly-
sis agitans sine fremore. Dann muss aber stets das zweite, für die Paralysis
agitans vielleicht wichtigste Symptom vorhanden sein, nämlich die allgemeine
Steifigkeit und Rigidität. Diese Steifigkeit, die anfangs ein wenig der
Flexibilitas cerea gleicht, betrifft die Extremitäten, den Kopf, die Hals- und
Stammmusculatur. Es resultirt daraus zunächst eine eigenthümliche Haltung
des Kranken, sowie gewisse Stellungsveränderungen der Extremitäten, In der
Mehrzahl der Fälle {Flexionstypus) ist der Kopf gegen die Brust geneigt, der
Körper nach vorne gebeugt, in sich zusammengesunken, die Gelenke der un-
teren Extremitäten in massiger Beugestellung. Die oberen Extremitäten sind
an den Leib adducirt, im Ellbogengelenke gebeugt, das Handgelenk gestreckt,
die Fingergelenke entweder durchwegs gestreckt oder noch häufiger im Meta-
carpo-Phalangealgelenke gebeugt, in den übrigen Gelenken gestreckt. Mit-
unter kommt es zu Stellungsveränderungen der Finger, die an jene bei Ar-
thritis chronica erinnern.
In selteneren Fällen {Extensionstypus) ist der Kopf etwas nach hinten
gebeugt, der Stamm und die unteren Extremitäten gestreckt; bisweilen beob-
PARALYSIS AGITANS. 123
achtet man einen Wechsel der Haltung, indem zuerst der Flexionstypus, dann
der Extensionstypus besteht. Auch sonst kommen noch mannigfache Varia-
tionen vor. Die in der genannten Weise fixirten Stellungen lassen sich mehr
minder, unter Ueberwindung eines ziemlich beträchtlichen Widerstandes be-
heben. Sehr charakteristisch ist auch das Aussehen des Gesichtes, indem durch
einen gesteigerten Tonus der Gesichtsmuskulatur die Miene des Kranken etwas
Starres, wie man sich ausdrückt, Maskenartiges bekommt; vor Allem ist das
lebhafte Mienenspiel verloren gegangen.
Eine weitere Folge der bestehenden Rigidität ist eine deutliche Ver-
langsamung der activen Bewegungen. Es dauert immer eine, wenn auch kurze
Zeit, ehe eine intendirte Bewegung zur Ausführung gelangt, dabei ist sie
langsam, schleppend. Gestört ist auch die Sprache. Sie ist monoton, langsam,
abgehackt. Zum Theil hängt dies vielleicht mit einer gewissen erhöhten
Spannung der Articulationsmusculatur zusammen, andererseits ist auch Zittern
der Larynxmusculatur, der Musculatur des Velums und der Epiglottis be-
schrieben worden (Rosenberg). Manche Autoren glauben auch an der Augen-
musculatur eine Verlangsamung der Bewegungen beobachtet zu haben.
Sehr charakteristisch ist der Gang der Patienten. Sie beginnen
langsam, mit kurzen schleifenden Schritten sich in Gang zu setzen. Meist
wird allmälig der Gang immer schneller, die Kranken kommen bisweilen in
ein förmliches Laufen nach vorne, ohne rechtzeitig einhalten zu können {Pro-
imlsion). Seltener ist es, dass Kranken ein ähnliches Laufen nach rückwärts
zeigen (Retropiilsion).
Die Ursache dieser Phänomene ist noch nicht genügend klar. Man
hat eine Zeit lang angenommen, dass die Propulsoin rein mechanisch
bedingt sei. Durch die eigenthümliche Stellung des Kranken sei der
Schwerpunkt des Körpers nach vorne verschoben; bei Bewegungen nach vorne
komme der Körper aus der Gleichgewichtsstellung heraus und sei durch Laufen
gezwungen, seine labile Stellung zu corrigiren; der Kranke laufe sozusagen
seinem Schwerpunkte nach. Diese Erklärung ist schon deswegen nicht richtig,
weil man auch beim Flexionstypus, wenn man dem Kranken z. B. einen Stoss
nach hinten versetzt, Retropulsion sieht. Wahrscheinlich kommt die Pro- oder
Retropulsion dadurch zu Stande, dass die prompte und rasche Innervation dem
Kranken mangelt, vor Allem eine genügend rasche Innervirung der Antago-
nisten fehlt. In den Endstadien, wo die Kranken bereits an's Bett gefes-
selt sind, fehlen natürlich diese Erscheinungen, dagegen ist noch immer die
charakteristische Steifigkeit und die Verlangsamung der Bewegungen vorhanden.
Gegenüber den genannten Symptomen stehen die sonst bei Paralysis agit.
beobachteten an Bedeutung nach. Das elektrische Verhalten der Ner-
ven und Muskeln bietet wenig von der Norm Abweichendes. Die Patellarre-
flexe sind in den Anfangsstadien meist gesteigert; später bei zunehmender
Contractur ist diese Steigerung der Reflexe öfters nicht mehr nachweisbar.
Wirkliches Fehlen der Patellarreflexe dürfte in uncomplicirten Fällen kaum
beobachtet werden. Objective Sensibilitätsstörungen fehlen. Dagegen spielen
subjective Sensibilitätsstörungen eine ziemlich beträchtliche Rolle. So wird viel
über Schmerzen in den unteren und oberen Extremitäten geklagt, theils in
Form neuralgischer, sogenannter rheumatischer Schmerzen, theils über Schmerzen
in den Gelenken. Auch Paraesthesien verschiedenen Charakters kommen vor.
Ein Symptom, auf das Charcot zuerst hingewiesen hat und über das in vielen
Fällen geklagt wird, ist ein sehr lästiges Hitze ge fühl, meist über der
Brust oder über dem Rücken ; bisweilen ist es mehr ein innerliches Hitze-
getühl. Interessant ist, dass manchmal auch objectiv eine locale Steigerung
der Hauttemperatur über der Brust sich nachweisen lässt, während allge-
meine Temperatursteigerungen fehlen. Auch erhöhte Schweissecretion ist
beobachtet worden. Von Berger und anderen Autoren ist das Vorkommen
124 PAEALYSIS AGITANS.
von apoplectischen Anfällen bei der Paralys. agit'. beobachtet worden.
Jedoch erscheint es fraglich, ob hier ein wirklicher Zusammenhang besteht.
Da es sich meist um ältere Individuen handelt, öfters deutlich Zeichen all-
gemeiner Atheromatose des Gefässystems nachweisbar sind, kann das Auf-
treten apoplect. Insulte nicht Verwunderung erwecken. Die Intelligenz
der Kranken braucht in keiner Weise gestört zu sein.
Im Harne wollte man Veränderungen in Form eines vermehrten Auftretens von
Phosphorsäure beobachtet haben; jedoch lassen spätere Untersuchungen diese Angaben als
bedeutungslos erscheinen. Vereinzelt wird eine vermehrte Stickstoffausscheidung angegeben.
Combination der Paralys. agit. mit anderen Krankheiten ist mehrfach
beschrieben worden z. B. mit Tabes dors., mit Hysterie, mit Morb. Basedow.,
mit geistigen Störungen, meist depressiver Natur u. s. w.
Der Verlauf der Paralys. agit. ist meist ein protrahirter, über viele
Jahre hinaus sich erstreckend. Jedoch ist mehrfach ein mehr acutes Einsetzen
der Krankheit beschrieben worden, insbesondere bei Fällen, wo Schreck, Trauma
u. s. w. aetiologisch einwirkten. Auch sonst scheint unter Umständen ein
etwas beschleunigter Verlauf sich einzustellen. Von den Symptomen tritt in
der Mehrzahl der Fälle zuerst das Zittern auf; am häufigsten wird zunächst
eine Hand, spec. die linke befallen. Dann beginnt entweder auch der andere
Arm zu zittern oder es tritt das Zittern im gleichseitigen Fusse auf (hemipleg.
Form.), bisweilen bleibt das Zittern lange Zeit auf einen Arm beschränkt
(monoplegische Form). Schliesslich werden alle vier Extremitäten ergriffen,
wobei aber das Zittern in den Armen meist stärker ist. In der Mehrzahl der
Fälle stellt sich nun bald die charakteristische Steifigkeit ein, zunächst
meist in den vom Tremor befallenen Gliedmassen. Es ist aber bereits erwähnt
worden, dass mitunter die Rigidität das erste Symptom ist, ja selbst der
Tremor dauernd fehlen kann. In abwechselnder Pieihenfolge treten mit zu-
nehmender Verschlimmerung die anderen, oben geschilderten Symptome auf.
Allmälig, meist nach jahrelangem Verlauf werden die Kranken immer unbe-
holfener, erst vorübergehend, dann dauernd bettlägerig. Die motorische Kraft
wird immer geringer, was sich bis zu lähmungsartiger Schwäche der Glied-
maassen steigern kann. Intercurrent, in Folge des Atheroms können sich
Apoplexien mit folgender Lähmung einstellen; interessant ist es, dass manch-
mal in solchen Fällen der Tremor in den gelähmten Gliedmassen sistirt. An
zunehmender Schwäche, Decubitus oder Complicationen erfolgt endlich der
Exitus letalis.
Pathologische Anatomie und Pathologie. Erörterungen über
die pathologische Anatomie der Par. agit. fanden lange Zeit an dem Um-
stände Schwierigkeiten, dass die klinische Diagnose der Krankheit keine
genügend sichere war und die Krankheit mehrfach mit multipler Sklerose,
symptomatischen Tremor bei Hemiplegien, Tumoren u. s. w. verwechselt wurde.
So erklären sich die Angaben früherer Autoren über das Vorhandensein von
sklerotischen Herden, Tumoren, apoplectischen Cysten, bei der Paralys. agit.
Erst durch Charcot's Untersuchungen ist hier Wandel geschaffen worden und
so erklärt es sich, dass bei dem Mangel besonders auffälliger Befunde die
Paralys. agit. als eine Krankheit ohne anatomischen Befunde, als Neurose auf-
gefasst wurde. Neuere Untersuchungen von Borgherini, Koller, Ketscher,
von mir u. A. haben gezeigt, dass sich denn doch anatomische Veränderungen
und zwar wie es scheint, regelmässig finden. Dieselben sitzen vornehmlich im
Piückenmarke, speciell den Hinter- und Seitensträngen der Lenden- und Hals-
anschwellung und bestehen in erster Linie in perivasculären Sklerosen, die
von den verdickten, veränderten Gefässen ausgehend zu einer in distincten
Herden auftretenden Verdichtung des Zwischengewebes führen. Das Nerven-
gewebe wird erst secundär in Mitleidenschaft gezogen. Es haben diese Ver-
änderungen eine grosse Aehnlichkeit mit den bei anderen Nervenkrankheiten
PARALYSIS AGITANS. 125
des späteren Alters vorkommenden, wie sie von Demange, von mir u. A.
beschrieben wurden.
Bei der Paralysis agit, ist weiter in ähnlicher Weise wie das Rücken-
mark, nur in bedeutend minderem Grade auch die MeduUa oblongate ergriffen.
Auch in den peripheren Nerven und Muskeln sind Veränderungen beschrieben
worden, die sich aber nur graduell von gewöhnlichen senilen Degenerationen
unterscheiden.
Es lassen sich die genannten pathologischen Veränderungen im Allge-
meinen dahin deuten, dass die für die Paralysis agit. so charakteristischen Con-
tracturen und die Steifigkeit durch dieselben bedingt werden, während der Tre-
mor, der sich in seiner klinischen Erscheinungsweise kaum scharf genug vom
senilen Tremor scheiden lässt, wie dieser ein rein functionelles Symptom
darstellt. Von sonstigen Ansichten über die Pathologie der Paralysis agitans
seien erwähnt: Die Annahme Jackson's, der das Kleinhirn als den Ausgangs-
punkt der Krankheit anschuldigt; von anderen wurden Pons und Medulla
oblongate, die Grosshirnrinde (Gowers), die Muskeln (Blocq) genannt.
Diagnose. Die Diagnose der Paralys. agit. ist in ausgesprochenen Fällen
eine leichte. Der Tremor mit den oben erwähnten Merkmalen, die charak-
teristische Steifigkeit, die Haltung der Kranken, die Langsamkeit der Bewe-
gungen, die maskenartige Miene u. s. w. lassen in solchen Fällen keine ernsten
Zweifel aufkommen. Zunächst auszuschliessen wäre seniler Tremor, Hier kommt
vor Allem in Betracht der Mangel der Pdgidität, die eigenthümliche Haltung der
Kranken, sowie die übrigen genannten Symptome. Auch der Umstand, dass
die Paralys. agit. unter Umständen jüngere Individuen betrifft, wäre zu ver-
werthen. Der Tremor an sich ist wenig verwerthbar; höchstens dass beim
gewöhnlichen senilen Tremor stets auch der Unterkiefer betheiligt ist.
Gegenüber der multiplen Sklerose wäre zu nennen: das meist spätere Alter
bei Kranken mit Par. agit.; der Tremor ist kein eigentlicher Intentionstre-
mor, es fehlen Nystagmus, skandirende Sprache, eigentliche Lähmungen u. s.
w. Sonst kämen allenfalls noch in Betracht Hysterie, traumatische Neurose,
alkoholischer Tremor u. s. w.
Grössere Schwierigkeiten hat natürlich die Diagnose in beginnenden
Fällen, insbesondere jenen, in denen die Erscheinungen blos in einem Arme vor-
handen sind, oder in der sogenannten hemipl. Form aufgetreten sind. Hier sind
vor Allem zu beachten die nach Apoplexien auftretenden Fälle von Hemiplegie
mit posthemiplegischen Tremor. Gegen Paralys. agit, sprechen in solchen
Fällen das plötzliche Einsetzen der Erscheinungen vor Allem mit Lähmungs-
erscheinungen, zu denen sich erst allmälig Contractur und Tremor gesellen.
Weiters das orhandensein von wirklichen Lähmungen, auch in entwickelten
Stadien, die Betheiligung von Hirnnerven; auch die Form der Contractur ist
bei Hemiplegien eine andere als bei Paralys. agit. Sehr schwer kann unter
Umständen die Diagnose in jenen Fällen sein, in denen vorübergehend oder
dauernd der Tremor fehlt. Hier wird die charakteristische Haltung der
Kranken, die eigenthümliche Form der Rigidität, ihr langsames, schrittweises
Einsetzen, die starre Miene, das Symptom der Propulsion u. A, zu berück-
sichtigen sein gegenüber der Contractur bei beiderseitigen Hirnherden, dann
bei der sogenannten spastischen Spinalparalyse und anderen Rückenmarkspro-
cessen. Jenen Fällen gegenüber, die bei senilen Individuen vorkommen und
als deren Prototyp die von Demange in freilich unpassender Weise so ge-
nannte Contractur tahetique erwähnt sei, erscheint uns eine dififerentielle
Diagnose der Paralys. agit. sine tremore kaum möglich, da es sich im We-
sentlichen um denselben Process handelt.
Die Prognose ist quoad vitam im Allgemeinen eine günstige, insoferne
die Fälle meist einen sehr protrahirten Verlauf nehmen. Dagegen kommen
126 PARALYSIS ASCENDENS ACUTA.
Heilungen von Paralys. agit. nicht vor; in einzelnen Fällen ist ein gewisses
Stationärbleiben der Symptome für mehr minder lange Zeit beobachtet worden.
Die Behandlung der Paralys. agit. hat wenig Chancen. Auf eine
Heilung ist von vornherein zu verzichten; aber nicht einmal das Bestreben,
einzelne besonders quälende Symptome der Krankheit zu beseitigen oder
wenigstens zu mildern, ist immer von Erfolg begleitet. Einige ältere Verfahren
wie z. B. die Nervendehnung haben heute mit Recht jeden Credit verloren.
Man kann zunächst eine allgemeine Behandlung, wie leichte Hydrotherapie,
sowie die üblichen Nervina, Brorn^ Cannahis indica versuchen. Sehr wichtig
ist die Vermeidung körperlicher und geistiger Ueberanstrengungen, psychischer
Emotionen u. s. w. Von sonstigen Medicam enten seien erwähnt Arsen
(GüWERs), Tind. Veratri (3 — 5 Tropfen mehrmals des Tages) und Tind. Gel-
semii (Oppenheim). Vorübergehend wurde Hi/soscin empfohlen, neuerdings
von Mendel Duhoisin (0*0002, 2X3 mal tgl. subcutan).
Natürlich ist auch die Elektricität in mehrfacher Form versucht worden,
aber ohne je wirklichen Effect erzielt zu haben. In der letzten Zeit hat
Charcot angegeben, dass Kranke mit Par. agit. nach längeren Wagenfahr-
ten, insbesondere w^enn sie ordentlich durchschüttelt wurden, sich eine Zeit
lang auffällig wohl fühlten. Gille de la Toueette hat einen eigenen Stuhl
construiren lassen {fauteuil trqndant), der künstlich eine solche Durchschütt-
lung der Kranken ermöglicht. Ein abschliessendes Urtheil über diese Behand-
lungmethode ist noch ausständig. Vor Suspension der Kranken muss drin-
gend gewarnt werden.
REDLICH.
ParalysiS ascendens acuta. (LANDRv'sche Paralyse). Diese Krankheit
ist seit dem Jahre 1857 bekannt. Damals erschien in der Gazette hebdom.
ein Aufsatz des Dr. Landry „Note sur la Paralysie ascsndante aigu." Landry
berichtete über einen Fall, in dem ein 43-jähriger unter den Erscheinungen
einer acut von unten nach aufwärts fortschreitenden Lähmung zu Grunde
ging, ohne dass die Autopsie einen positiven Befund im Bereiche des Nerven-
systems ergeben hatte. Ausser diesen Fall hat Landry vier andere, analoge
Fälle beobachtet und konnte noch 5 Fälle in der Literatur finden, die das
gleiche Symptombild dargeboten hatten. Nach Landry publicirte Kussmaul
ähnliche Fälle — daher auch der Name ^/KussMAUL-Z/ANDRY^sc/ze Lahmung"
für diese acut aufsteigenden Paralysen gebräuchlich ist. C. Westphal hat die
in Rede stehende Krankheit gekennzeichnet mit den drei Hauptmerkmalen:
erstens, acut und progressiv aufsteigender, schliesslich tödtlicher Verlauf,
zweitens, Intactbleiben der electrischen Erregbarkeit der gelähmten Muskeln,
drittens, negativer Autopsiebefund.
An dieser von Westphal gegebenen Charakteristik wurde in neuester
Zeit von verschiedenen Seiten gerüttelt. Schültz-Schultze und v. d. Velden
konnten in ihren Fällen bedeutende electrodiagnostische Störungen constatiren,
während Chalvet, Dejerine, Petitfils, E. Klebs, Leyden anatomische Be-
funde im Rückenmark bei acut aufsteigenden Paralysefällen mittheilten. Da
dieselben untereinander wesentlich differiren, so kann es erspart bleiben, die-
selben genauer zu beschreiben.
Die CHARCOT-DucHENN'sche Schule, zu welcher die obgenannten fran-
zösischen Autoren gehören, deuteten die Krankheit als eine Poliomyelitis
anterior acutissima, während Westphal und Leyden die Beweiskraft der in
diesem Sinne ausgelegten anatomischen Befunde in Abrede stellen.
Eine neue Wandlung in der Lehre von der LANDRY'schen Paralyse trat
ein, als Fälle von sogenannter Neuritis acutissima progressiva beschrieben
wurden. Eine Reihe von Autoren neigten sich der Anschauung zu, dass die
LANDRY'sche Paralyse eine acut verlaufende, multiple Neuritis sei. (M. Bern-
PARALYSIS LABIO-GLOSSO-PHARYNGEA. 127
HARDT, 0. Kahler, Eisenlohr, Nauwerk und Barth, Jam. Ross, Miles
u. A.)
Auf Grund dieser Thatsachen ist man heutzutage wohl so ziemlich da-
rüber einig, dass die acut aufsteigende Paralyse, welche klinisch ein g e-
wisses selbständiges, typisches Bild bietet, anatomisch keine
einheitliche Erkrankung darstelle. Man weiss ferner, dass die
Lähmung nicht immer eine aufsteigende zu sein braucht, sondern
zuweilen auch in der Medulla oblongata ihren Ursprung nimmt (Beginn mit
Schlundlähmung) und von da aus nach abwärts steigt.
Man muss also zum mindesten drei Formen unterscheiden a) eine me-
dulläre h) eine bulbäre und c) eine neuritische Form. Bei der medullären
steigt der Process von myelitischen Herden gegen die Medulla oblongata auf.
Das Krankheitsbild beginnt mit Extremitätenlähmungen und schliesst mit
Schlund- und Respirationslähmung ab. Bei der bulbären Form ist der kleine
primäre Herd in der Medulla oblongata und steigt die Erkrankung von hier
ins Rückenmark hinab. Bei der neuritischen Form beginnt die Erkrankung
mit einer acuten Entzündung der peripheren Nerven, an welche sich „ein
parenchymatöser, ödematös-entzündlicher Process imRücken-
mark" anschliesst, der bis zur Medulla oblongata aufsteigt und in die Nähe
der vitalen Centren angelangt den Exitus letalis herbeiführt, wie dies in einer
Reihe von Fällen von Leyden beschrieben wurde.
Die Symptomatologie der Erkrankung ist in der vorliegenden Schil-
derung ihrer Pathogenese mitenthalten, die Prognose ist unter allen
Umständen ernst, selbstverständlich besser bei der neuritischen, als bei der
medullären und bulbären Form, die Therapie ist die einer didViim. Myelitis
(s. f/.), resp. acuten Polyneuritis (s. d.). j. w.
ParalysiS labio-glOSSO-pharyngea. Die Krankheit wurde zuerst von
Duchenne beschrieben, von Wachsmuth erhielt sie den heute noch geläu-
figeren Namen der „Biübärparalyse". Häufig ist sie combinirt mit progressiver
Muskelatrophie oder amyotrophischer Lateralsklerose. Mit diesen beiden Krank-
heiten hängt sie so zusammen, dass entweder die bulbären Symptome die
ersten oder die letzten Glieder in der Reihe der klinischen Erscheinungen
bilden, die chronische progressive Bulbärparalyse als reines, uncomplicirtes
Leiden ist ziemlich selten. Sie ist ihrem Wesen nach zu trennen von acut
einsetzenden Affectionen des Bulbus der Medulla, die, wenn länger mit dem
Leben vereinbar, ganz äquivalente Symptome setzen können, wie z. B. Hämor-
rhagie oder Erweichung in dieser Gegend, ferner von grob anatomischen
Läsionen, die hier durch Druck von der Nachbarschaft, Geschwülsten u.
s. w. bewirkt werden können.
Für die typische, chronische, progressive Bulbärparalyse ist die Aetio-
logie noch sehr wenig bekannt. Am meisten hat wohl die Ansicht Steins
für sich, dass wenigstens in einzelnen Fällen chronische Ueberanstrengung
bestimmter Nervenbahnen und Muskelgruppen einen schädlichen Einfluss aus-
übt wie dies beispielsweise beim berufsmässigen Spielen gewisser Blasin-
strumente zutrifft. Auch dass ein Trauma, Syphilis, Erkältungen, heftige
Gemüthsbewegungen hier eine Rolle spielen, ist behauptet worden. Die
Mehrzahl der Fälle betrifft das männliche Geschlecht und zwar meist in den
fünfziger Jahren, aber auch im hohen Greisenalter und auch viel früher,
selbst bei Kindern kommt die Krankheit ausnahmsweise vor.
Pathologisch anatomisch ist die Krankheit characterisirt durch
eine Atrophie der multipolaren Ganglienzellen, die sich in den Kernen der
motorischen Nerven am Boden des IV. Ventrikels finden. Sehr bemerkens-
werth befällt diese Atrophie die Kerne des Hypoglossus, Facialis, Vago-
Accessorius wohl auch des Glossopharyngeus und den motorischen Kern des
128 PARALYSIS LABIO-GLOSSO-PHARYNGEA.
Trigeminus, während sehr nah gelegene, wie der des Acusticus in den typischen
Fällen ausnahmslos verschont bleiben. Es bezeichnet dies den Process schon
als einen, der functionell zusammenhängende Bahnen ergreift, nicht aber als
ein entzündlicher promiscue auf alles in seiner Nachbarschaft Gelegene sich
erstreckender angesehen werden darf. Die Veränderungen im interstitiellen
Bindegewebe (Körnchenzellen, Spinnenzellen, Bindegewebswucherung und
Einschrumpfung) sind als secundär anzusehen.
Was sonst noch häufig beobachtet wird, — Veränderungen in der grauen
und weissen Substanz der Medulla oblongata, besonders Degeneration der
Pyramidenbahnen — betrifft entweder Fälle, die principiell von der typischen
Bulbärparalyse zu trennen sind (Tumoren, Erweichung, Entzündung der Me-
dulla oblongata) oder Fälle, die schon nicht mehr rein, speciell mit amyotro-
phischer Lateralsklerose complicirt sind.
Vollends eine „Pseudo-Bulbärparalyse" aufzustellen, wie dies von vielen
Seiten geschieht, und wo die Läsion gar nicht in der Medulla oblongata
sondern weiter oben im Gehirn sitzt, sehe ich mich ausser Stand. Wenn
Anarthrie, Dysphagie bei einer Erkrankung, bei einem wachsenden Tumor
beispielsweise in der Gegend der Stammganglien, der inneren Kapsel, klinisch
in den Vordergrund treten, können sie doch nur bei sehr oberflächlicher Be-
obachtung die Diagnose irreführen und viel richtiger ist es dann, beispiels-
weise eine Herderkrankung des Grosshirns mit „bulbären Symptomen" zu
diagnosticiren.
Die anatomischen Veränderungen in den gelähmten und atrophischen
Muskeln sind die nämlichen wie sie bei Läsion peripherer Nerven oder Atro-
phie der Vorderhörner an den Muskeln der Extremitäten und des Rumpfes
bekannt sind :*) Einfache Atrophie der Muskelfasern, Kernwucherung, Wucher-
ung des interstitiellen Bindegewebs, Neigung zu wachsartiger, nicht aber zu
fettiger Degeneration. Wohl aber kann sich im interstitiellen Bindegewebe
viel Fett anhäufen und so das Volumen der schwer atrophischen Muskeln
makroskopisch normal oder sogar vermehrt erscheinen.
Die Symptome bestehen in Atrophie und gleichzeitig zunehmender
Lähmung von Muskeln der Lippe, der Wange, des Kinns, der Zunge, des
Schlunds und Kehlkopfs. Sie melden sich allmälig und meist so, dass zuerst
an der Zunge und den Lippen eine Schwerbeweglichkeit sich einstellt, so dass
die Aussprache von gewissen Vocalen und Consonanten Schwierigkeiten macht
und schliesslich unmöglich wird, so bei der Intonation von I, B, Seh, S, L,
K, G, T, N, E, 0, U, P, T, K, M, W. — A ist der letzte Laut, den die
Kranken noch deutlich hervorzubringen vermögen, bis auch das mit zuneh-
mender Lähmung der Kehlkopfmuskeln aufhört. Zugleich macht sich auch
wachsende Schwierigkeit geltend, den Bissen im Munde zu formiren und
hinunterzuschlucken, häufig helfen dabei die Patienten mit dem Finger oder
dem Löffel nach, bis bei hinzutretender Lähmung der Schlund- und Kehl-
kopfmuskeln öfteres Fehlschlucken mit heftigen Erstickungsanfällen oder
Steckenbleiben der Speisen im Schlund oder im Oesophagus sich hinzugesellt.
Oft werden feste Speisen besser geschluckt als flüssige, mitunter ist's aber
auch umgekehrt.
Aus dem nicht mehr ordentlich schliessenden Munde fliesst der Speichel,
den die Kranken nicht mehr ohne quälendes Fehlschlucken hinunterschlingen
können, beständig ab und verursacht Eczem der Lippen und des Kinns. Auch
absolut vermehrte Absonderung des Speichels ist beobachtet worden. Lähmung
und Atrophie sind fast stets doppelseitig vorhanden, selten ist einseitige Er-
krankung (Scheiber) beobachtet worden.
*) Vergl. auch Artikel ^Muskelatrophie'^ , Bd. II, pag. 75L
PARALYSIS LABIO-GLOSSO-PHARYNGEA. 129
Bei voll entwickelter Krankheit ist das Bild ein sehr characteristisches
und zugleich im höchsten Grade trauriges. Das Gesicht ist des miraischen
Muskelspieles beraubt („Maskengesicht^^} nur die Stirne ist verschont, deren
Muskeln in ihrer Contraction den Ausdruck des Erstaunens vermitteln, die
Zunge ist fast unbeweglich, nur das Zurückziehen derselben ist ungestört, wie
beim Laryngoskopiren besonders auffällig wird. Ihre Atrophie ist mitunter
wegen der Zunahme des interstitiellen Fettes nicht deutlich, mitunter aber
liegt das Organ nur noch als ein dünner Streifen am Grund der Mundhöhle;
active Bewegungen desselben. Heben, Wölben, können kaum mehr oder gar
nicht vom Kranken ausgeführt werden. Das Gaumensegel hängt schlaff herab,
der Schlund ist erweitert, die Stimme ist für die erhaltenen Theile des
Alphabets, auch für das A schliesslich schwach wiegen des mangelhaften
Schlusses der Glottis. Letzteres Moment lässt auch den Husten kraftlos werden,
so dass bei dem häufigen Fehlschlucken die Gefahr der Aspiration von Speise-
theilen in die unteren Luftw^ege und damit einer Schluckjpneumojiie immi-
nent wird. In seltenen Fällen kann an den Augen Insufficienz der Conver-
gentes auftreten. (Möbius). Es kann sich aber selbst progressive Ophthalmo-
plegie, Lähmung aller 3 Augennerven entwickeln, so dass Ptosis und abso-
lute Unbeweglichkeit des ganzen Auges eintritt. Diese Ophthalmoplegie kann
erst im weiteren Fortschreiten des Leidens allmälig sich einstellen, aber auch
als erstes Symptom der Krankheit auftreten. Ferner findet sich zuw^eilen
Erhöhung des intraoculären Druckes, Glaukom, Sklerose des Sehnerven.
An den gelähmten Muskeln der Zunge und der Lippen können fibrilläre
Zuckungen auftreten, die Reflexe sind herabgesetzt oder vernichtet (ausgenommen
bei amyotrophischer Lateralsklerose mit Betheiligung des Bulbus, wo selbst
Reflexsteigerung vorkommen kann), die elektrische Untersuchung ergibt wenig-
stens da und dort Entartungsreaction, meist freilich nur partielle, um sie
zu finden ist es wichtig, nur mit ganz feiner Elektrode möglichst kleine
Muskelbündel isolirt zu prüfen. Die Sensibilität ist vollkommen intact,
Schmerzen bestehen nicht. An der Psyche macht sich in der Regel die
Xeigung bemerklich, von der w-einerlichen, deprimirten Stimmung die — recht
begreiflich — für gewöhnlich vorherrscht, ins Gegentheil umzuschlagen, so
dass die unglücklichen Kranken bei geringfügigen äusseren Anlässen zu lachen
vermögen. Der Intellect bleibt bis zum Ende ungestört, was wesentlich dazu
beiträgt, dem Kranken, der sein unvermeidliches Schicksal herannahen sieht,
die Qualen seines grausamen Zustandes voll kosten zu lassen. Der Verlauf
der Krankheit ist, wenn auch ab und zu zeitweilige Besserungen und Stillstände
vorkommen können, im Ganzen ein progressiver und wenigstens in den spä-
teren Stadien, die sich auf Monate und darüber erstrecken können, ein raf-
finirt qualvoller.
Die Erstickungsgefahr, in welche die Unglücklichen bei jedem Schlingact
gerathen, lässt sie lieber hungern und die immer mehr zunehmende Inanition
rafft einen Theil derselben dahin, bei anderen — und sie sind noch nicht die
beklagenswerthesten — tritt acute Erstickung an einem fehlgeschluckten Bissen
oder letale Schluckpneumonie hinzu; glücklich die, bei denen eine ganz
acute Paralyse der Herz- oder Athmungsnerven den plötzlichen Todesfall be-
wirkt. Bleibt die Bulbärparalyse nicht rein, sondern ist sie mit Atrophie der
Muskeln des Rumpfes, des Zwerchfells verknüpft, so kann ganz allmälig stei-
gende Athmungsinsufficienz, also eine ausgesuchte Form langsamer Erstickung
das Ende herbeiführen. Dabei sind die Kranken schon lang in ihren Mit-
theilungen an die Umgebung fast ganz auf die Zeichensprache angewiesen,
weil sie fast nur noch unarticulirte, schwache Laute hervorzubringen vermögen.
Die Krankheit verläuft in der Regel nach 1 bis 2 ja 3 Jahren tödtlich,
längere Frist und Qual ist selten gesteckt, doch hat man sie auch schon be-
deutend länger (bis zu 7 Jahren) währen sehen.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Eandeikrankheiten, Bd. m. "
130 PARAMYOCLONÜS MULTIPLEX.
Die Diagnose ist nach dem Gesagten im Ganzen leicht. Acute
Affectionen der Medulla oblongata, (Blutung^ Erweichung durch
Thrombose oder Emholie) unterscheidet sich durch den plötzlichen Beginn der
Symptome, letztere sind in der Regel nicht beiderseits gleichmässig entwickelt
und nicht rein, mit Sensibilitätsstörungen etc. verknüpft. Tumoren des Hals-
marks sind ebenfalls dadurch ausgezeichnet, dass sie buntere Symptomen-
complexe, Affectionen aller dort liegenden Theile, der langen Bahnen, Paraplegie
mit Steigerung der Reflexe, Störungen des Acusticus, Trigeminus etc. herbei-
führen, dass Stauungspapille sich entwickeln und schwere allgemeine cerebrale
Erscheinungen: Schwindel, Erbrechen, Convulsionen auftreten können. Mul-
tiple Sklerose des Hirns und Marks ist nie mit absoluter Sicherheit auszu-
schliessen, wie ja diese Krankheit schliesslich symptomatisch alle Möglich-
keiten erschöpfen kann.
Die Prognose ist sehr ungünstig, ob sichere Heilungsfälle, von denen
berichtet wird, für die reine Form der progressiven Bulbärparalyse überhaupt
anzuerkennen sind, steht noch dahin.
Die Therapie findet ihre Hauptaufgabe darin, die Patienten möglichst
lang ausreichend und gut zu ernähren, was schliesslich nur mittelst der
Schlundsonde möglich ist. Empfohlen werden für den Beginn des Leidens ein
ableitendes Verfahren, leichte Abführmittel, Derivantien am Nacken. Neben
Soolbädern, Kaltwasserbehandlung spielt bei weitem die wichtigste Rolle die
Application des galvanischen Stroms. Dieser ist mehrmals wöchentlich anzuwen-
den, entweder entlang der Wirbelsäule (aufsteigend) oder quer durch die
Processus mastoidei. Der Strom ist schwach zu wählen, ein- und auszuschlei-
chen, die Sitzung darf nur kurz dauern, höchstens 2 bis 3 Minuten. Die An-
wendung der innerlichen Mittel, Jodkali, Strychnin, Argentum nitricum, Ergotin
etc. verdient w^enig Vertrauen. Gegen Speichelfluss kann symptomatisch und
palliativ Atropin mit gutem Erfolg angewendet werden, gegen den Grund-
process ist es natürlich wirkungslos. e. geigel.
ParamyOCionUS multiplex (Friedeeich), Myodonus multiplex, Myo-
clonie.
Als Paramyoclonus multiplex beschrieb Friedreich im Jahre 1881 (Vir-
CHOw, Archiv, Band 86) eine eigenthümliche Neurose, welche bei einem ÖOjähri-
gen, tuberkulösen Manne nach Schreck entstanden war. Dieselbe äusserte sich
darin, dass an symmetrischen Muskeln der oberen und unteren
Extremitäten (die Rumpf- und Gesichtsmuskulatur blieb frei) clonische
Krämpfe auftraten, die die Muskeln in ihrer Totalität er-
griffen, jedoch nicht immer zu einer sichtbaren Bewegung
führten, sondern oft nur beim Zufühlen zu merken waren. Die
Zuckungen erfolgten in den symmetrischen Muskeln nicht immer gleich-
zeitig, sondern oft hintereinander, traten zu Zeiten der Erregung bis zu 40
und 50 mal in der Minute, zu Zeiten grösserer Ruhe bloss 10 — 20 mal in
der Minute auf. Im Schlafe und während der willkürlichen Bewegungen ces-
sirten sie, so dass der Kranke in der Arbeit nicht gestört war. Die grobe
motorische Kraft der Muskeln, sowie ihre Coordination waren nicht beein-
trächtigt, ebenso ihre trophischen und elektrischen Verhältnisse; die Sensibilität
war intact. Die Patellarreflexe waren hochgradig gesteigert, auch die Re-
flexerregbarkeit auf sensible Hautreize war erhöht. Nach mehrmaliger Galva-
nisirung verschwanden die Zuckungen ziemlich plötzlich. Friedreich fasste
den Fall als eine eigenthümliche Neurose auf, die sich in Folge eines
Schreckens, aber bei neuropathischer Disposition entwickelt hatte. Bezüglich
der Pathologie des Leidens ist er geneigt, einen Zustand erhöhter Er-
regbarkeit in den motorischen Ganglienzellen der Rücken-
marksvorderhörner anzunehmen.
PARAMYOCLONUS MULTIPLEX. 131
ScHULTZE, der den Fall Fkiedkeicii's später wieder zur Beobachtung
bekam, berichtet, dass sich die Zuckungen wieder in typischer Weise ein-
gestellt hatten und bis wenige Tage vor dem an Tuberkulose erfolgten Tode
andauerten. Eine mikroskopische Untersuchung einzelner Muskeln ergab ein
negatives Kesultat.
Seit Fmedreich's Publication ist eine ganze Reihe von Fällen als Para-
myoclonus beschrieben worden (nach einer Zusammenstellung von Weiss aus
dem Jahre 1893: 51), die aber unter einander und von dem Falle Fkiedreich's
oft sehr differiren, so dass die Frage des Paramyoclonus statt klargestellt
zu werden, eher nur verwirrt wurde, ja die Stellung des Paramyoclonus als
nosographische Species überhaupt von einzelnen Autoren angezweifelt werden
konnte. Ein Theil der beschriebenen Fälle ist nun auszuscheiden, weil es
sich um Hysterie handelt. Bei der Hysterie kommen Zuckungen vor, die den
Charakter des FRiEDREicn'schen Paramyoclonus mehr minder genau nach-
ahmen. Hier wird man, von paramyoclonischen Zuckungen bei Hysterie, nicht
aber von Paramyoclonus schlechtweg sprechen. Ein anderer Theil der Fälle
gehört in das Gebiet des Tic convulsif, resp. zu der von Charcot und Marie
beschriebenen, ausgebreiteteren Form desselben, der Maladie des tics/") Obwohl
ScHULTZE den FRiEDREicn'schen Fall als ausgebreiteten Tic ansah und auch
andere Autoren den Paramyoclonus überhaupt zum Tic rechnen, so glauben
wir doch, dass eine Sonderung möglich ist, wenigstens insoferne, als das Bild
des Tic ein wohl gekennzeichnetes ist. Als charakteristisch für den Tic con-
vulsif gegenüber dem Paramyoclonus wäre hervorzuheben, dass während bei
letzterem nur ganz einfache Muskelzuckungen auftreten, beim Tic meist
mehrere Muskelgruppen in Zuckung gerathen und so coordinirte Bewegungen
entstehen (dies gilt vornehmlich für die Extremitäten). Weiters sind bei
halbwegs ausgebreitetem Tic die Gesichts-, Zungen und Schlundmuskulatur
mitbetheiligt, während bei Friedreich's Falle die Gesichtsmuskulatur frei
blieb (in anderen scheinbar reinen Fällen von Paramyoclonus bestanden doch
auch leichte Zuckungen im Gesichte). Bei Friedreich's Falle cessirten die
Zuckungen bei intendirten Bewegungen gänzlich, was beim Tic nicht der Fall
ist. Leichte tonische Contractionen nebst den gewöhnlichen clonischen scheinen
bei beiden Neurosen vorkommen zu können. Für die Maladie des tics im
Sinne Marie's wäre endlich die Betheiligung der Psyche, Koprolalie, Echo-
lalie u. s. w. zu erwähnen. Die Differentialdiagnose des Paramyoclonus von
der gewöhnlichen Chorea minor bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung.
Dagegen ist die Stellung desselben gegenüber der chronischen Chorea und
der sogenannten Chorea electrica (Henoch) noch zweifelhaft. Ebenso zweifelhaft ist
die Auffassung der hereditären Fälle von Unverricht, die mit Epilepsie com-
binirt waren; — ähnliches gilt von den Fällen Weiss's. Nach alledem muss
es also vorläufig dahingestellt bleiben, ob es einen Paramyoclonus als selbst-
ständige Neurose gibt; immerhin ist es möglich, dass es gelingen wird, den
FRiEDEEiCH'schen Symptomencomplex, wenn auch mit gewissen Modificationen,
als nosographische Species abzugrenzen. Bei dem Chaos, in dem sich die Lehre
von den motorischen Reizerscheinungen und Neurosen noch befindet, wäre
dies als Fortschritt zu begrüssen.
Bezüglich der Pathologie der eigenthümlichen Zuckungen ist Fried-
eeich's Ansicht vielleicht dahin zu ergänzen, dass nebst den Reizzuständen des
Rückenmarkes auch solche des Grosshirnes in Betracht kommen.
Therapeutisch wird sich in hierhergehörigen Fällen nebst allgemei-
nen Maassregeln Galvanisirung empfehlen, wiewohl man nicht immer auf
denselben prompten Effect wie in Friedreich's Falle zu rechnen hat.
REDLICH.
*) Vergl. die Artikel „Tic coviilsif" und ,^Zwangsheivegungen''^.
9*
-132 PARANOIA.
Paranoia. (VerrücktJieü, Wahnsinn^ Monomanie), wohl die häufigste
aller Geistesstörungen, stellt sich dar als eine primäre Störung des Vor-
stellungslebens mit directer Wahnbildung in Form von Hemmung oder För-
derung der geistigen Persönlichkeit, welche sich theils auf primordiale De-
lirien, theils auf mächtige Sinnestäuschungen aufbaut.
Geschichtliches: Die Paranoia ist zwar schon lange bekannt und von einzelnen Autoren
richtig geschildert worden, eine einheitliche, klare Auffassung derselben ist aber erst seit
wenigen Jahrzehnten erreicht worden. Namentlich waren es die verschiedenartigen, von
den Autoren in verschiedenem Sinne gebrauchte Bezeichnungen, welche lange Zeit der
correcten Auffassung dieser Zustände hinderlich im Wege standen. Die Deutschen nannten
sie bald Verrücktheit, bald Wahnsinn, während die Franzosen sie mit dem wenig glücklich
gewählten Namen Monomanie bezeichneten. Da war es ein entschieden guter Griff von
Mendel, dass er, um eine einheitliche Bezeichnung anzubahnen, das alte, gut griechische
Wort Paranoia (Widersinnigkeit, Verkehrtheit), das bereits von Plato und Aristoteles ge-
braucht, dann lang vergessen und erst wieder 1764 von Vogel und 1818 von Heinroth
angewandt war, in neuester Zeit zur vollen Anerkennung gebracht hat. Er hat damit
der modernen psychiatrischen Nomenclatur einen wichtigen Dienst erwiesen.
Nachdem der Begriff der Paranoia in sachlich richtiger Darstellung des vollent-
wickelten, klinischen Bildes allgemeine Anerkennung gefunden, befand man sich noch lange
Zeit über die Art der Entwicklung der Störung auf Irrwegen, indem man dieselbe als
eine in der Regel secundäre Störung auffasste, welche Ansicht noch im Jahre 1861 in
Griesbmger's klassischer „Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten" vertreten
ist. Hatten die Franzosen schon früher gelehrt, dass ihre Monomanie häufig in primärer
Weise entstehe, so war es in Deutschland zuerst Snell, der im Jahre 1865 die primäre
Ausbildung des Wahnsinns hervorhob. 1868 schilderte Sander die primäre originäre
Verrücktheit. Nasse, Herz, Westphal und Schäfer bildeten die Lehre vom primären
Wahnsinn weiter aus. Heut wissen wir nun, dass die Paranoia in der Regel eine
primäre Psychose darstellt, und dass ihr secundäres Auftreten ein verhältnismässig
nur seltenes ist.
Aetiologie. Die Paranoia ist eine so häufige Störung, dass fast die
Hälfte (40 — 507o) der in Anstalten neu Aufgenommenen diese Diagnose ergibt.
Nach der Mehrzahl der Autoren überwiegen die Frauen. Beruf und
Bildungsgrad sind ohne Einfluss. Der Beginn fällt am häufigsten in das
20. — 30. Lebensjahr. Die Erkrankung wird von da ab bei den Männern mit
zunehmenden Jahren seltener, während sie bei den Frauen zwischen dem 30.
und 50. Jahre (infolge des Klimacteriums) noch relativ häufig beginnt und
erst nach dieser Altersgrenze erheblich abnimmt. Im Kindesalter ist aus-
gebildete Paranoia sehr selten.
Erbliche Uebertragung und veranlagende Organisation
spielen eine grössere Rolle als bei den meisten anderen Psychosen. Die bela-
stenden Momente bilden öfters Neurasthenie, Hysterie und Epilepsie der
Eltern und Voreltern, als ausgesprochene Psychosen. Eine Anzahl der an der
späteren sogenannten originären Verrücktheit Erkrankenden ist von Jugend
an abnorm, eigenthümlich reizbar, ungleich geistig veranlagt, von absonder-
lichen Neigungen und Stimmungen beherrscht. Eine verkehrte Erziehung
fördert bei diesen Veranlagten sehr häufig die Entwicklung der Störung.
Erst in zweiter Linie kommen psychische Einflüsse, wie heftige
Gemüthsbewegungen, Sorgen und Kummer, unglückliche Lebensverhältnisse,
geistige Ueberanstrengungen. Auch diese werden am meisten bei Veranlag-
ten wirksam, Einzelhaft erzeugt nicht selten die acute Form, während
Vagabondage sich mitunter im Beginn der chronischen Form einstellt
und sie befördert. Masturbation vermag die Paranoia zu erzeugen, hat
aber auch öfters nur eine symptomatische Bedeutung. Weiter kommen ätiolo-
gisch in Betracht Hysterie und Chorea, seltener Trauma capitis, Insolation und
Beschäftigung in strahlender Wärme. Alkoholismus erzeugt namentlich den
Eifersuchts- Wahnsinn mit lebhaften Delirien des Gehörs. Minder häufig wird
Paranoia durch Morphinismus und andere Intoxikationen erzeugt. Das Gleiche
gilt von der Syphilis.
Im Puerperium entsteht nicht ganz selten die Paranoia acuta. Auch
nach acuten Erkrankungen, am meisten nach Typhus abdominalis, tritt
PARANOIA. 133
diese Form zuweilen auf und zwar in der Regel im Stadium der Recon-
valescenz.
Die Paranoia kann sich im Gefolge von Anämie und Inanitions-Zu-
ständen einstellen, auch bei Tuberculose der Lungen, namentlich mit Vergiftungs-
ideen und Nahrungsverweigerung, selten bei Morbus Basedowii und Myxoedem
(wohl durch vasomotorische Störungen), ferner bei Tabes dorsalis.
Chronische Magen- und Darm-Erkrankungen können unter Vermittlung
der Hypochondrie zur Paranoia führen, auch Nieren- und Herzleiden, des-
gleichen auch körperliche TJeberanstrengungen. Diese Factoren bilden aber
zumeist nur die letzten Ursachen bei vorhandener Prädisposition.
Die Symptomatologie gestaltet sich bei der acuten und chronischen
Form so verschieden, dass jede derselben eine gesonderte Besprechung er-
heischt.
Paranoia acuta.
Die acute Paranoia bietet in Entstehung, klinischem Bilde, Verlauf und
Ausgängen eine sehr grosse Mannigfaltigkeit. Zuweilen, aber keinesw^egs
immer, tritt sie mit einem längeren oder kürzeren Prodromalstadium auf
unter der Form eines Status nervosus mit Kopfschmerzen, Congestionen nach
dem Kopfe, Schlaf- und Appetitlosigkeit. Hiezu gesellt sich nur grillenhaftes,
gereiztes Wesen oder Praecordial-Druck mit Angstgefühlen.
Der plötzliche Beginn setzt entweder mit Angst oder Verkennen der
Umgebung ein, oder mit massenhaften Sinnestäuschungen feindlichen oder
fördernden Inhalts, welche zu rasch ansteigenden Reflexen in Stimmung und
Handeln führen, oder zu visionären Dämmerzuständen. Das Bewusstsein ist
stets gestört. Die Stimmung ist bald heiter expansiv, bald ecstatisch verzückt,
bald depressiv, bald endlich träumerisch ruhig. Stets aber tritt diese
Stimmungsanomalie — das ist charakteristisch — erst secundärein.
Der Verlauf ist acut in Wochen, selbst peracut in Tagen (in den
Menstrualphasen), in anderen Fällen auf Monate protrahirt, oft mit vielen Nach-
schüben. Stets stellen sich ausgesprochene trophische und circulatorische
Symptome ein, wie Abnahme der Ernährung mit Störung der Verdauung
und Assimilation, ungleiche Blut verth eilung, menstruale Anomalien.
Die Ausgänge sind verschieden. In der Regel tritt Genesung ein
und zwar gleichzeitig mit dem Rückgange der Wahnideen. Die Erinnerung
kann nach der Genesung wohl erhalten, oder nur summarisch sein, endlich
auch ganz fehlen. Recidive sind häufig. Seltener geht die acute in chro-
nische Paranoia über oder in zunehmende geistige Schwäche bis zum apathi-
schen Blödsinn.
Die acute einfache Paranoia, bei der keine Hallucinationen auf-
treten, die sich nur durch die primäre Entstehung von Wahnideen kennzeich-
net, ist eine verhältnismässig seltene Krankheitsform, Sie tritt plötzlich ein
mit Unstetigkeit, Unbehagen und Reizbarkeit sowie mit Schlaf- und Appetit-
losigkeit. Nun steigen fremdartige Vorstellungen zwangsweise auf und beein-
flussen das logische Denken, um schliesslich jede gesunde Kritik zu unter-
drücken. Die Vorstellungen, „verfolgt und beeinträchtigt zu werden" be-
herrschen bald vollkommen das Bewusstsein und erfüllen dasselbe mit grenzen-
losem Misstrauen. Zur Abwehr werden nunmehr die unsinnigsten und ver-
rücktesten Handlungen ausgeführt. Patient glaubt sich überall beobachtet,
von Geheimpolizisten überwacht, um schliesslich ruinirt zu werden und rea-
girt dagegen nicht selten mit heftigen Aufwallungen.
Bei der kleineren Zahl der Kranken gesellen sich zu den Verfolgungs-
auch Ueberschätzungs-Ideen. Die bis dahin Unterdrückten wähnen
nunmehr in Bälde die ihnen gebührende Anerkennung zu finden, unfehlbar
zu Macht und Grösse anzusteigen. Nachdem dieser Zustand Wochen bis Mo-
nate gedauert, beginnen die Patienten an ihren Wahngebilden zu zweifeln.
134 PARANOIA.
Es folgt Krankheitsbewusstsein und Einsicht und schliesslich die Ueberzeu-
gung, dass sie von vollkommen irrigen Vorstellungen beherrscht gewesen
seien. Die Genesung kann alsdann rapide eintreten.
In anderen Fällen geht die acute in die chronische Paranoia über, indem
die krankhaften Vorstellungen und Wahrnehmungen nicht allein festgehalten,
sondern auch reichlich weiter producirt und zu einem förmlichen Wahnsystem
ausgearbeitet werden.
Die acute hallucinatorische Paranoia charakterisirt sich da-
durch, dass das Bewusstsein des Kranken mit Halluciuationen erfüllt ist,
welche zu wahnhaften Conceptionen führen, wobei das Denken noch so weit
klar ist, dass die Beziehungen der Sinnestäuschungen oder illusorisch ver-
änderten Wahrnehmungen zur Persönlichkeit erhalten bleiben, so dass sich
dieselbe gefördert oder beeinträchtigt wähnt.
Die Erkrankung entwickelt sich, mit oder ohne Vorboten, in über-
raschender Schnelligkeit. In rapidem Tempo stellt sich eine hochgradige Er-
regung mit zahlreichen Sinnestäuschungen ein, nicht selten gleichzeitig in
verschiedenen Sinnesgebieten, welche den ahnungslosen Kranken geradezu
überwältigen. Er hört plötzlich ihn bedrohende Zurufe, sieht grauenerregende
Gestalten, fühlt erlittene körperliche Unbilde. Er vernimmt den Hilferuf
eines Ertrinkenden und erblickt seine Kinder in einer Wasserfluth unter-
tauchen.
Durch diese gewaltigen Eindrücke wird der Patient in angstvolle Auf-
regung versetzt, in welcher er blind fortzustürmen sucht und vielleicht den
Eindruck eines Verworrenen macht. Bald aber hat sich ein neuer Gedanken-
kreis ausgebildet, der sich nach dem Inhalt der Hallucinationen richtet; diese
bilden das bestimmende Element für den auftretenden Wahn, der sich entweder
als solcher der Beeinträchtigung oder der Erhebung darstellen kann. Der
Kranke lebt nun ganz seinem Wahngebilde und den stets neu zuströmenden
Sinnestäuschungen, von welchen er sich durch Nichts ablenken lässt. Er
wird z. B. bei hallucinatorischem Giftwahn die Nahrung verweigern, bei
Grössenwahn sich fürstlich zu schmücken suchen u. dgl. m.
In der Kegel tritt bald wieder ein Nachlass der Erscheinungen aus. Die
Hallucinationen werden seltener und schwächer, um endlich wieder ganz zu
schweigen. Erst später folgt Correctur und Krankheitseinsicht, nachdem sich
die gesunkene Körperernährung wieder gehoben und vorhandene somatische
Störungen wieder ausgeglichen haben. Weit seltener geht der acute halluci-
natorische in chronischen Wahnsinn oder in Schwachsinn über.
Von Unterarten dieser Krankheitsform sind hervorzuheben: der acute
menstruale Wahnsinn mit erotischer Färbung, der acute und subacute manische
Grössenwahnsinn und Verfolgungswahnsinn (zu letzteren gehört der acute
Trinker- und der acute Gefangenwahnsinn), der acute depressiv-expansive Wahn-
sinn, endlich der acute hypochondrische und spinale Wahnsinn.
Paranoia chronica.
Die chronische Paranoia entwickelt sich in der Regel primär direct aus
dem Vorstellungscentrum, nicht aus Stimmungs-Anomalien oder Affecten, wie
die Melancholie und Manie. Die gebildeten Wahnideen zeigen eine grosse
Beständigkeit und Neigung zu systematischer Verknüpfung und führen all-
mählig zu völlig veränderten Beziehungen der Persönlichkeit zur Aussenwelt
bis zur Umwandlung derselben zu einem neuen wahnhaften ;;Ich." Dadurch
wird der Standpunkt, von welchem derartige Menschen die Aussenwelt be-
urtheilen ein „verrückter."
Ungleich seltener sind die Fälle, in denen sich die Paranoia nicht primär,
vielmehr secundär aus einer nicht zur Genesung gekommene Manie oder
Melancholie entwickelt. Wir sprechen dann von einer secundär en Ver-
PARANOIA. 135
rücktheit, welche je nach der vorhergegangenen Krankheitsform einen mehr
manischen oder melancholischen Charakter zeigt. Sie kann inhaltlich der
l)riraären Paranoia gleichen, unterscheidet sich aber von ihr von Anfang an
durch eine nie fehlende geistige Schwäche, sowie durch eine weniger syste-
matische Ausbildung der Wahn-Entwicklung. Ferner pflegt auch in diesen
Fällen viel rascher Verworrenheit einzutreten.
Die Wahnvorstellungen entstehen entweder direct durch krank-
hafte Störungen in den Vorstellungs-Centren und werden dann als
„primordiale Delirien" bezeichnet, oder als Folge von im Bewusstsein
fixirten Sinnestäuschungen. Die letzteren können sich in allen Sinnes-
bahnen abspielen, der Häufigkeit nach zunächst im Gehör und Gemeingefühl,
weiter im Gesicht, endlich im Geruch und Geschmack. Bald sind nur die
einen oder anderen, bald alle Sinnesbahnen betroffen. Wir beobachten Fälle
mit ausschliesslichem Vorstellungswahn und andere mit alleinigem Sinnes-
Wahne. Bei den meisten Kranken sind aber die Wahnideen gleichzeitig aus
beiden Quellen geschöpft. Es lässt sich eine scharfe Abgrenzung der nicht
hallucinatorischen von der hallucinatorischen Paranoia in der Praxis nur schwer
durchführen, weil die mannigfaltigsten Uebergänge hier beobachtet werden.
Auch die nicht gerade seltene Dissimulation der Hallucinationen erschwert
sehr eine solche Eintheilung.
Die chronische kann aus der nicht zurückgebildeten acuten Paranoia her-
vorgehen. Zumeist aber entwickelt sie sich sehr langsam und allmählig.
Nicht gerade selten ist der Ursprung der Erkrankung auf eine schon seit
frühester Jugend bestehende geistige Abnormität zurückzuführen (San-
dee's originäre Verrücktheit). Schon alsKnaben zeigen in diesem Falle
die späteren Kranken eine abnorme Gemüthsrichtung. Sie sind still, träume-
risch, ziehen sich von ihren Altersgenossen zurück; sie sind empfindlich und
verschlossen, aber nicht unintelligent. Andere zeigen von Kindesbeinen an Ab-
sonderheiten und Excentricitäten ganz auffälliger Art. In der Entwicklungs-
periode macht dann diese abnorme geistige Richtung verhängnisvolle Fort-
schritte. Die unklaren, schon seit Jahren bestehenden Vorstellungen werden
immer zahlreicher und gewinnen schliesslich die alleinige Herrschaft, um dann
die directe Grundlage zur Ausbildung von Wahnideen abzugeben. Oft wird
die frühere Charaktereigenthümlichkeit mitbestimmend für die spätere Rich-
tung des Wahnes; indem der Misstrauische an Verfolgungswahn, der Frömmler
an religiösem Wahnsinn, der Hochmüthige an Grössenwahn erkrankt.
In den nicht originären Fällen wird die Erkrankung oft lange Zeit ver-
kannt. Der Patient fällt oft zuerst durch Missmuth oder durch Zerstreutheit
und Unentschlossenheit auf. Er gibt über sein verändertes Wesen zunächst
keine Auskunft, bemüht sich vielmehr, sich möglichst correct zu benehmen
und seinen Wahn sorgfältig zu verbergen; handelt es sich doch zunächst nur
um „Ahnungen.'' Bald wird aber Alles für den Kranken zu „bedeutungsvollen
Symbolen." Alles äussere Geschehene hat Beziehungen zu seiner Person.
Er wird von allen Seiten beobachtet (Beachtimgswahn). Wenn die lange ver-
haltenen Wahnideen endlich hervorbrechen, so pflegt dies mit grosser Inten-
sität zu geschehen, nicht selten unter hochgradiger Aufregung. Oft wie-
derholen sich dann in der Folge von Zeit zu Zeit mehr oder minder lebhafte
Affectzustände.
Das Verhalten der Aussenwelt gegenüber gestaltet sich verschieden, je
nach dem Inhalt des Wahnes und je nach der Intensität der Hallucinationen.
In einem Fall können äussere Verkehrtheiten sehr stark hervortreten, in an-
deren gar nicht. Manche im mündlichen Verkehr sehr zurückhaltende Kranke
verrathen sich oft durch charakteristische Schriftstücke.
136 PAKANOIÄ.
Die Intelligenz leidet ausser dem Wahnkreise anfangs gar nicht (daher
der frühere Namen „partielle Verrücktheit). Auffassungsvermögen und Ge-
dächtnis können überraschend gut sein, das Urtheil klar und intact.
Was die körperlichen Erscheinungen betrifft, so sind weder Puls
noch Temperatur direct beeinflusst. Anästhesien und namentlich Parästhe-
sien sind nicht selten zugegen und werden dann zum Ausgangspunkte von
Wahnvorstellungen; auch andere somatische Beschwerden können zu solchen
führen.
D er V erlauf vollzieht sich in der Regel mit Remissionen und folgenden
mehr oder minder hochgradigen Erregungszuständen. Wirkliche Genesung wird
nur selten beobachtet. Jahre lang kann der Zustand äusserlich kaum ver-
ändert scheinen. Eine Abschwächung der Intelligenz kann zwar zeitig auf-
treten, aber auch lang auf sich warten lassen. Die Affecte treten dann mehr
zurück. In der Folge kann dann ein lebhafter Contrast bestehen zwischen
dem affectlos geäusserten Wahne und dem ihm vollkommen widersprechenden
Handeln. In einer gewissen Zahl von Fällen kommt es zu völliger Ver-
blödung oder zu grosser Verworrenheit, in welcher die früheren Wahnideen
nur noch unzusammenhängend und in Bruchstücken geäussert werden.
Die wichtigsten Formen unter welchen sich die chronische Paranoia
äussert, sind: die Paranoia persecutoria, die Paranoia expansiva
und die Paranoia hypochondriaca,
a) Paranoia persecutoria. Verfolgungswahn.
Die Störung entwickelt sich in der Regel allmälig. Der Kranke fühlt
selbst eine ihm unerklärliche Veränderung seiner geistigen Persönlichkeit.
Er wird unsicher und rathlos und ergibt sich dem Grübeln. Von Misstrauen
erfüllt, zieht er sich von der Umgebung zurück. Er verliert den Schlaf und
die Esslust und magert dadurch ab. Nach langer qualvoller Ungewissheit
glaubt er endlich die Lösung des Räthsels gefunden zu haben. Ein leb-
hafter Affect oder eine peinliche Erinnerung bringt ihm die Aufklärung,
lernt ihn den gesuchten Verfolger kennen. Träume und Eingebungen, Illu-
sionen und Hallucinationen fördern ihm diese Aufklärung. Er macht jetzt
alltäglich die Wahrnehmung, dass man sich über ihn lustig macht, dass man
ihn auf Schritt und Tritt beobachtet, dass man ihn zu kränken sucht. Die
mit ihm Verkehrenden geben sich geheime Zeichen, oder drücken in ihrer
Miene Hohn und Verachtung aus. Er hört Stimmen, die ihn bald beschimpfen,
bald necken. Er wähnt in den Speisen Gift zu schmecken, oder in der Athmo-
sphäre schädliche Gerüche wahrzunehmen. In der Regel ist es zu Anfang
nur ein Sinnesgebiet, welches mit seinen Täuschungen die schreckliche
„Ahnung" aufklärt. Später pflegen Delirien in anderen Sinnen nachzufolgen.
Jetzt ist der fixe Wahn ausgebildet. Der Kranke hält sich für
das Opfer einer Intrigue, er ist fest überzeugt, dass man ihn aus dem Wege
räumen will. Zunächst verschliesst er aber die schreckliche Entdeckung in
sich und forscht nach neuen Beweisen. Diese lassen nicht lang auf sich
warten. Mehr und mehr macht er die Wahrnehmung, das Alles um ihn ge-
ändert sei. Thatsache um Thatsache beweist, dass man ihn schädigen will.
Er steht im Mittelpunkte eines Complottes, dessen Ziel und
Opfer er ist. Das ihm feindliche Gebahren wird in jeder denkbaren Weise
in Scene gesetzt.
So geht es nun Wochen, Monate, Jahre lang fort. Der Zwang im Denken
und Fühlen erreicht bald eine höhere, bald eine niedere Stufe; damit wechselt
auch der Grad der geistigen Klarheit vielfach, sowie eine zeitweilig Beherr-
schung mit widerstandsloser Hingabe an den Wahn.
Bei Versetzung in neue Verhältnisse pflegt der Wahn zurückzutreten,
meist aber nur auf kurze Zeit. Zuweilen treten auch längere Intermissionen
PARANOIA. 137
ein mit der Möglichkeit, wieder beruflich thätig zu sein, aber ohne wirkliche
Correctur. Krankheitseinsicht stellt sich nur selten ein und dauert noch
seltener an. Vielmehr bricht in der Regel früher oder später die alte Wunde
wieder auf, oft schon nach sehr geringfügigen äusseren Anlässen.
Zuweilen kapselt sich der Wahn später gleichsam ab, während die bis
dahin geschont gebliebenen Theile des Geistes wieder eine grössere Beweg-
lichkeit zeigen.
Andere Kranke verfallen im Laufe der Jahre in allmälig zunehmenden
Schwachsinn mit Verwirrtheit und unregelmässigen Paroxysmen von Auf-
regung. Die Aeusserungen werden dann immer mehr unvernünftig, die Form
der Sprache stets mehr pathologisch, namentlich werden Silben und Worte
versetzt. Interesse und Theilnahme für die Aussenwelt schwindet zusehends.
In einer Anzahl von Fällen tritt aber, verschieden von dem geschilderten
Verlaufe, eine klinische Weiterentwicklung des Verfolgungswahns
dadurch ein, dass sich zu dem depressiven ein expansives Moment gesellt,
indem sich das Gefühl der Beeinträchtigung in ein Gefühl der Erhöhung,
der Wahn der Unterdrückung in Grössen w ahn umsetzt. Dies kann auf dop-
peltem Wege geschehen. 1. Der Grössenwahn tritt früher oder später als Corapen-
sation des Verfolgungswahns ein. Der bis dahin unterdrückte Kranke fühlt sich
durch göttliche Eingebung plötzlich erhoben und belohnt, oder für die Jahre
lang getragener Pein erwächst ihm jetzt als Gegenwicht die Ueberzeugung, dass
er von hoher Abkunft sei. Der Verfolgungswahn kann jetzt völlig zurücktreten,
oder neben dem Grössenwahn bestehen bleiben. 2. Der Grössenwahn entsteht
nicht unbewusst, sondern vielmehr als logischer Schluss des seitherigen Wahns
der Art, dass die Reflexion des Kranken über sein langjähriges Dulden zu
dem Schlüsse führt, „dass er kein gewöhnlicher Mensch sein könne, dass
vielmehr Mächtigen an seinem Untergange viel gelegen sein müsse."
Mit Zunahme der geistigen Schwäche kann weiter der expansive Wahn
mehr und mehr die Herrschaft gewinnen. Der bis dahin Verfolgte hält sich
nunmehr für einen unterdrückten Märtyrer einer guten Sache, für welche er
freudig weiter dulden will. Viel verheissende Stimmen und himmlische Ge-
sichter stellen sich ein. Diese Umwandlung bedeutet stets einen Wende-
punkt zum Schlimmen.
Der physikalische Verfolgungswahnsinn, eine besondere Unter-
form der Paranoia persecutoria, erhält sein charakteristisches Gepräge durch
Mittheilnahme der spinalen Bahnen.
Die Erkrankung, welche ursächlich oft auf sexuellen Excessen, besonders
auf Masturbation beruht, beginnt zumeist nach einem hypochondrischen Sta-
dium mit cardialen Innervationsstörungen (Herzklopfen, Beklemmung); dann
folgen Parästhesien, welche allegorisirt auf physikalische Einwirkungen be-
zogen und in der beredtesten Weise geschildert werden: Die Gedanken werden
„gestellt", die Glieder immobilisirt, die Augen erstarrt oder verdreht, die
Muskeln durchschnitten u. dgl. Bald findet der Kranke die Erklärung. Ein
Vorübergehender hat ihn scharf fixirt, alsbald fuhr ihm eine heftige Erschütte-
rung durch den ganzen Rücken und die Glieder. Jener hat ihn zweifellos
elektrisirt. Ueberall sind galvanische Batterien aufgestellt, deren Drähte
durch seinen Körper geleitet werden, selbst wenn er zu Bette liegt.
Man erzeugt ihm nachts Empfindungen an seinen Genitalien (Coitus-
Gefühle), oder Teufels-Gefühle im Leibe. Der Teufel presst ihm die Brust
zusammen, schnürt ihm den Hals zu, hemmt ihm die Gedanken. Schon bei
lebhaftem Gedankengange sieht er elektrische Funken und fühlt magnetische
Ströme.
Allmälig werden alle Sensationen immer ausgedehnter auf äussere Per-
sonen bezogen, bald in freundlichem, bald in feindlichem Sinne, je nach der
Qualität dieser Gefühle. Sie beeinflussen in reflectorischer Weise die Stimmug
138 PARANOIA.
und führen zu Zorn-Paroxsmyen, sowie zu triebartigen, gewaltthätigen Hand-
lungen. Widrige Empfindungen werden auf Verfolgung durch böse Geister,
Pollutionen auf im Essen gereichte Zuthaten zurückgeführt. Stinkender Geruch
nach Schwefel und Pech kommt von dem im Epigastrium sitzenden Teufel, Die
gehörten Scheltworte kommen aus hyperästhetischen Körpertheilen, nament-
•lich aus dem Unterleib e.
Die Erkrankung kann — unter Abblassung des Wahnes — allmälig zur
Genesung führen, oder es entwickelt sich eine eigenartige psychische Schwäche
oder eine psychische Degeneration. Bei den masturbatorischen Fällen kann
Uebergang in hypochondrischen Wahnsinn erfolgen. Bei chronischem uncom-
plicirtem Verlauf kann der spinale Wahnsinn auch Jahre lang stationär blei-
ben, oder nur sehr langsam mit zeitweiligen Exacerbationen fortschreiten.
Von weiterenUnter formen sind noch zu erwähnen der Verfolgungs-
tvaJin der Tahetiker, bei welchem die tabischen Spinalsensationen ganz parallel
mit den physikalischen Verfolgungswahnideen verlaufen, der Etfersuchtswahn
der Frauen im, Klimaderium, welcher sieh auf wahnhaft umgedeutete, locale
Parästhesien in den Genitalien aufbaut, der zumeist alkohoUstische Eifersuchts-
wahn der Männer mit sexuellen Parästhesien und verfrühter Impotenz, sowie
der Schwangerschaftsivahn der zumeist uteruskranken Frauen.
b) Paranoia hypochondriaca.
Der hypochondrische Wahnsinn kann sich aus der masturbatorischen
Form des spinalen Wahnsinns herausbilden, oder er entwickelt sich aus der
hypochondrischen Neurose.
Während die krankhaften Ideen des hypochondrischen Melancholikers
die Grenzen des Möglichen nicht überschreiten, stellen die Wahnideen des
hypochondrischen Paranoikers Ungeheuerlichkeiten dar, welche das Gepräge
des Unsinnigen auf der Stirne tragen. Sie beruhen in der Regel nicht ein-
fach auf Allegorisirung krankhafter Gefühle, sondern auf primordialen Deli-
rien, welche sich mit diesen verbinden. Es handelt sich für die Betroffenen
nicht um Erkrankungen, sondern um vermeintlich gewaltthätige Eingriffe ihrer
Feinde. „Die Knochen werden verkürzt, das Mark aus denselben gezogen, der
Kopf misstaltet, Wirbel aus dem Rückgrat herausgenommen. Die Eingeweide
verfaulen, im Gehirn plätschert Wasser. Der Hodensack ist mit Holzklötzen
ausgefüllt" u. dgl. m.
Manche Kranken versuchen allerlei Gegenmittel. Sie waschen sich mit
Chemikalien, ätzen sich die Körper-Foramina. Andere trachten, sich von
der Wahrheit ihrer Organgefühle zu überzeugen; sie malträtiren deshalb ihre
Körpertheile, verletzen sich sogar lebensgefährlich, um zu beweisen, dass sie
keine Hoden, keine Lungen etc. mehr haben.
Dieser Wahnsinnszustand kann sich Jahre lang auf der gleichen Höhe
halten; meist engt sich aber der Kreis der beeinträchtigten Organe mehr ein,
concentrirt sich in stereotyper Weise etwa auf das Fehlen des Magens, auf
den Stillstand des Herzens, das Gerinnen des Blutes u. dgl. mehr. Auch hier
kann es in der Folge zu fortschreitender psychischer Schwäche kommen.
c) Paranoia expansiva.
Der chronische Grössenwahnsinn kann mit und ohne Hallucinationen
verlaufen und stellt sich seinem Inhalte nach dar als Paranoia religiosa,
erotica oder philanthropica, öfters auch als gemischte Form.
Er kann in allen Lebensaltern auftreten, am häufigsten während der
Pubertät und im Klimacterium. Er zeigt einen exacerbirend-remittirenden
Verlauf. Er führt selten zu dauernder Genesung, öfters zu mehr oder minder
langen Intermissionen, am häufigsten zu stationärer Chronicität mit Unheil-
barkeit.
PARANOIA. 139
Bei den mehr originären Fällen geht ein nervöses Temperament voraus,
oder eine Neigung zu Hypochondrie. Die Erkrankung beginnt mit Grübeleien.
Dann folgt bei der religiösen Form eine Ueberspannung, ein Drang zu Buss-
Uebungen. Religiöse Zweifel allegorisiren sich als gute und böse Geister
mit dem Siege der guten. Nun kommt Menschenscheu und Abneigung gegen
die Umgebung, sowie hallucinatorischer Verkehr mit dem Gegenstand der
Sehnsucht und Gnade; zuerst stellen sich Hallucinationen des Gehörs und
Gesichtes ein, dann des Geruchs und des Tastsinnes. Es können sich auch
nächtlicher Weile ganze hallucinirte Romane und Legenden-Erlebnisse ab-
spielen.
Der Kranke wird immer mehr der Wirklichkeit entrückt; er ist mit-
unter kataleptischen oder ekstatischen Episoden mit „Verzückung" unter-
worfen, durch welche der religiöse oder erotische Wahnzustand gesteigert
wird. Auch directe „Verheissungen" können eine plötzliche Umwandlung
der Persönlichkeit vermitteln und zwar zu einer gewaltigen, übernatürlichen
Stellung. Auf dem Wege einer „geheimen Geistessprache" ist es ihm ver-
liehen, überall Gnade zu spenden. Der Kranke muss jetzt die Sünder be-
kehren, die Freimaurer und Besessenen zum Glauben zurückführen. Der
Erotomane huldiget in poetisch schwärmender Weise einem hochgestellten,
idealen Weibe, das ihm auf hallucinatorischem Wege reichliche Beweise seiner
Huld gegeben hat. Der Grössenwahnsinnige ist von seiner neuen Persönlichkeit
so durchdrungen, dass die Anforderungen des alltäglichen Lebens für ihn
nicht mehr bestehen.
Hat die Krankheit einmal diese Höhe erreicht, so bildet sie sich selten
mehr zurück, nimmt vielmehr in der Regel einen fortschreitenden Verlauf.
Bald stellen sich acut-hallucinatorische Paroxysmen ein mit Neigung zur
Ecstase, bald Episoden von Nahrungsverweigerung mit Mutacismus, Selbst-
kasteiung und Büssung, bald endlich Gewaltdrohungen und selbst tödtliche
Angriffe — „Alles zur grösseren Ehre Gottes!"
Es gibt keine sich selbst- und gemeingefährlicheren Kranken, als die
religiös Wahnsinnigen auf der Höhe ihrer Erkrankung. Sie üben Selbst-
verstümmelung bis Selbstmord, Mord Anderer, sie zeigen Paroxysmen
sexueller Ueberreizung mit thierisch rücksichtslosem Vorgehen gegen die
Umgebung. In anderen Fällen tritt allmählich Beruhigung ein, mitunter mit
kataleptischen Stellungen und Mutacismus.
Der Wahn blasst allmählich ab oder sinkt sogar bis zu formalen Aeusser-
lichkeiten herab. Es kann schliesslich der grösste Contrast zwischen den
gewaltigen Wahnideen und dem alltäglichen harmlosen Leben des Erkrankten
bestehen. So kommt es langsam zur Entwicklung der Demenz.
Die Diagnose der voll entwickelten chronischen Paranoia ist für den
Kundigen in der Regel leicht zu stellen. Das völlige Beherrschtsein des
Bewusstseins von fixen Wahnvorstellungen (seien sie nun auf primordialem
Wege oder durch vermittelnde Hallucinationen entstanden), welche eine ein-
heitliche Umwandlung der geistigen Persönlichkeit geschaffen haben, sowie
das dem Wahne adäquate Auftreten und Handeln stellt das Krankheitsbild
der Paranoia vollkommen klar. Nur die bestehende Neigung zur Dissimulation
des Wahnes kann die Stellung der richtigen Diagnose erheblich erschweren
und verzögern. Zeigen solche Kranke, welche irgend ein Interesse haben,
ihre Wahnideen geheim zu halten, eine im Uebrigen ungetrübte Intelligenz
sowie geistige Gewandtheit, so kann sich der Untersucher leicht täuschen
lassen und wird oft nur nach langer und wiederholter Prüfung den Kern des
Wahnes zu entdecken vermögen. In diesen zweifelhaften Fällen geben nicht
ganz selten die schriftlichen Mittheilungen der Kranken bessere Aufschlüsse
als die mündlichen.
140 PARANOIA.
Bei bereits im Stadium vorgeschrittener Verworrenheit befindlichen
Kranken kann unter Umständen die Anamnese allein die Entscheidung
bringen, ob es sich hier um abgelaufene Melancholie, Manie oder Paranoia
handle.
Die specielle, diagnostische Abgrenzung der Paranoia von anderen
psychischen Störungen hat sich wesentlich auf folgende Gesichtspunkte zu
stützen:
Schwierig gestaltet sich vielfach die Diagnose der acuten Paranoia,
namentlich ihre Unterscheidung von der acuten hallucinatorischen Ver-
wirrtheit (Amentia). Mancherlei Uebergangsformen lassen hier eine
scharfe Abgrenzung nicht in allen Fällen durchführen.
Die acute hallucinatorische Paranoia kann gerade wie die acute hallu-
cinatorische Verwirrtheit bei brüskem Einbrüche mit mehrtägiger ausgeprägter
Verwirrtheit beginnen. Während aber bei jener bald ein gemesseneres Tempo
folgt, in dem die Wahnelemente ruhiger aufsteigen und mit dem „Ich"
Fühlung gewinnen und die anfänglich reinen Sinnestäuschungen sich zu
einem gewissen Systeme ordnen, bleiben bei der Verwirrtheit die
Associationen zerfahren und die Vorstellungen in ihrem Ablauf fragmentär.
Das Bewusstsein bleibt hier betäubt; die Stimmungsphasen wechseln in abrupter
Weise, die motorischen Entladungen erfolgen, vom Inhalt der Vorstellungen
abgelöst, auf reflectorischem Wege. Bei der acuten Paranoia bildet die Wahn-
bildung, bei der Amentia die Incohärenz den Kern-Punkt der Erkrankung.
Bei der acuten hallucinatorischen Paranoia geht die Reconvalescenz mit der
Abnahme der Sinnestäuschungen Hand in Hand, die acute Verwirrtheit
schliesst dagegen in der Regel mit einem geistigen Schwächezustande ab.
Bezüglich der Differential-Diagnose von der Manie ist hervorzuheben,
dass die Wahnbiidung des Maniacus, hauptsächlich auf momentanen Sinnes-
Eindrücken beruhend, äusserst flüchtig und wechselnd sich gestaltet, während
bei der acuten Paranoia ein bestimmter Wahnkern inmitten der deliranten
Ideenflucht besteht in der Form von Beziehungen auf ein unterdrücktes oder
gehobenes „Ich". Gleiche Beziehungen bestehen bei den Sinnestäuschungen.
Bei der Melancholie mit Wahnbildung besteht stets eine schmerz-
liche Verstimmung. Die mit ihr verbundenen krankhaften Gefühle werden
durch Allegorisirung der Ausgangspunkt von Wahnideen. So entsteht aus
lebhaften Angstempfindungen der Verschuldungswahn. Weil der Kranke so
grosse Angst hat, muss er ein Verbrechen begangen haben; er erwartet
deshalb seine Abführung ins Zuchthaus, wohin er gehört. Der Wahn des
Paranoikers ist durch primordiale Delirien oder durch Sinnestäuschungen
erzeugt. Er kann gleichfalls den Wahn äussern, ins Zuchthaus zu kommen,
aber nicht, weil er es verdient, sondern weil die Macht »seiner Verfolger so
weit reicht. Dies haben ihm seine Gedanken eingegeben oder Stimmen
haben ihm dies mitgetheilt. So bestehen bei den Wahngedanken des Para-
noikers stets Beziehungen zur Aussenwelt im Sinne der Beeinträchtigung
(respective Erhöhung), während der Melancholische Alles in sich selbst sucht.
Uebrigens ist nicht in allen Fällen die Unterscheidung zwischen Melancholie
und Paranoia ganz leicht; denn es gibt auch Melancholien mit paranoischen
Elementen, während sich umgekehrt in den Verlauf der Paranoia melan-
cholische Phasen einschieben können.
Die hypochondrische Melancholie unterscheidet sich von der
hypochondrischen Paranoia theils durch den Inhalt des Wahnes, theils durch
die an denselben geknüpften Beziehungen. Der Melancholische allegorisirt
seine körperlichen Missgefühle infolge von psychischer Hyperästhesie im Sinne
bekannter Krankheitszustände, denen er mit grosser Angst gegenüber steht
(er wähnt an Schwindsucht, Piückenmarksdarrre, Krebs etc. zu leiden). Beim
Paranoiker gesellen sich zu den Parästhesien primordiale Delirien, welche
PARANOIA. 141
ungeheuerliche und vollkommen unsinnige Wahnideen bezüglich des eigenen
Körpers produciren. (Der Kranke hat keinen Magen mehr, statt des Herzens
rollt ein Stein in seiner Brust, sein Schädel ist mit Quecksilber angefüllt).
Sein Gemüth ist aber durch diese schrecklichen Entdeckungen nicht von
Angst, sondern von Unmuth und Groll erfüllt, denn „seine geheimen Feinde
haben ihm dies Alles „angethan", sie wollen ihn völlig vernichten."
Zuweilen können wir auch bei der Dementia paralytica"^) neben dem
Grössenwahne Verfolgungs- und hypochondrischen Wahn beobachten. Hier
besteht aber kein Wahnkern, vielmehr bunter Wechsel der Vorstellungen.
Stets ist zugleich eine gewisse psychische Schwäche zugegen, sowie der Anfang
der bekannten motorischen Störungen.
Auch vor einer irrthümlichen Auffassung der beginnenden Dementia
senilis'""") als Paranoia wird uns die rasch fortschreitende Demenz, sowie die
Beobachtung anderweitiger cerebraler Störungen leicht schützen.
Die Prognose der Paranoia gestaltet sich ganz wesentlich verschieden
bei der acuten und chronischen Form.
Die acute Paranoia bietet eine relativ günstige Vorhersage und zwar
die hallucinatorische wieder eine wesentlich bessere als die nicht hallucinato-
rische; je weniger das Bewusstsein in die Störung hereingezogen ist, um so
günstiger gestaltet sich dieselbe. Auch die ursächlichen Momente sind von
prognostischer Bedeutung. Am günstigsten sind die Fälle von acutem Gefäng-
nisswahnsinn, sowie die nach acuten erschöpfenden Krankheiten aufgetretenen zu
beurtheilen. Die acute menstruale Paranoia verläuft zumeist gut, wiederholt
sich aber leicht wieder.
Die chronische Paranoia ist im Allgemeinen nicht gut zu prognosti-
ciren. Wenn die Heredität an sich schon von sehr ernster Bedeutung ist, so
dürfte die auf ihr basirende originäre Form als absolut unheilbar bezeichnet
werden. Der erworbene chronische Wahnsinn kann in früheren Krankheits-
perioden lange Intermissionen aufweisen, in seltenen Fällen auch in dauernde
Genesung übergehen. In den meisten Fällen aber ist er unheilbar und
schreitet dann, unter Exacerbationen und Ptemissionen, langsam vorwärts zur
psychischen Schwäche. In manchen Fällen bleibt aber die Intelligenz selbst
Jahrzehnte lang wohl erhalten.
Pathologische Anatomie. Ein für die Paranoia charakteristischer
anatomischer Befund ist bis heute nicht bekannt. Wenn für die originäre
Paranoia von einer Seite Windungsanomalien im Vorderhirn geltend gemacht
wurden und von einer anderen Seite (Arndt) Entwicklungshemmungen des
Nervensystems (namentlich dünne, häufig von dunklen Kügelchen durchsetzte
Markscheiden, Achsencylinder mit vielfach kernartigen Gebilden) als charak-
teristisch beschrieben wurden, so haben diese Befunde bis heute keine
Bestätigung gefunden. In frischen Fällen ist der anatomisehe Befund in der
Regel negativ. In alten Fällen findet man häufig chronische Leptomenin-
gitis, Ependymitis granulosa, und Atrophie der Windungen namentlich des
Vorderhirnes; ausserdem in vereinzelten Fällen Asymmetriren des Schädels.
Es sind dies Befunde, wie wir sie nach den verschiedenartigsten, chronischen
Psychosen post mortem festzustellen pflegen.
Therapie. Die Behandlung der acuten Paranoia hat, soweit
dies thunlich ist, mit der Entfernung der schädigenden Ursachen zu beginnen.
Die Isolirhaft der am acuten Gefängnisswahnsinn Erkrankten ist sofort auf-
zuheben und genügt nicht selten allein die Versetzung derselben in gute
Hospitalpflege, um in rapider Weise die Genesung anzubahnen. Ist die Er-
schöpfung und Inanition durch schwer acute fieberhafte Erkrankungen oder
*) Vergl. Artikel „Dementia paralytica", Bd. I, pag. 368.
**) Vergl. Artikel „Dementia senilis" Bd. I, pag. 386.
142 PARA-PEEINEPHRITIS.
das Puerperium anzuschuldigen, so muss eine möglichst roborirende Diät, im
weitesten Umfang angewandt, die körperliche Kräftigung anstreben. Da wo
die Quelle der Schädlichkeit im Alkoholismus, Morphinismus, in der Mastur-
bation und anderen körperlich einwirkenden Momenten liegt, sind diese zu
bekämpfen und auszuschalten. Im Uebrigen muss eine ^ symptomatische Be-
handlung nach klinischen Grundsätzen streng durchgeführt werden. Vor
Allem sind die lebhaften Erregungszustände individualisirend mit Bettruhe,
Bädern, beruhigenden Medicamenten (namentlich Bromkalium und Opiaten) zu
behandeln.
Die ausgesprochene chronische Paranoia erfordert in der Kegel die
Anstaltsbehandlung, ja diese wird vielfach geradezu dringend nöthig, um dem
unstet umhergetriebenen Kranken endlich Ruhe zu verschaffen, oder um ihn
selbst oder seine Umgebung vor seinen gefährlichen Attentaten zu schützen.
Die psychische Behandlung ist keineswegs eine leichte Aufgabe. Gilt es
doch, einerseits den Kranken durch Widerspruch nicht zu reizen und aufzu-
regen, andererseits durch Eingehen auf seinen verkehrten Gedankenkreis diesen
nicht zu befestigen. Jede directe Bekämpfung des Wahnes ist zu vermeiden.
Nur auf indirectem Wege darf hier vorgegangen werden — namentlich auf
dem Wege der Ablenkung. Diese wird am besten erreicht durch eine dem
Kranken zusagende Beschäftigung und zwar mehr mechanischer als geistiger
Art; am meisten empfiehlt sich landwirthschaftliche Thätigkeit und Garten-
arbeit. Dazwischen sollen kleine Zerstreuungen und ablenkende Unterredungen
nicht fehlen.
Den durch den Wahn bedingten Aufregungszuständen ist durch freund-
lichen Ernst unter Umständen durch vorüberdehende Isolirung und Medica-
mente entgegenzutreten. Der fehlende Schlaf soll durch hygienisches Leben,
wenn nicht zu umgehen, durch Hypnotica angestrebt werden. Man sorge für
kräftigende und reizlose Ernährung und trete der Nahrungsverweigerung in
sachgemässer Weise entgegen.
Thatsächlich gelingt es in guten Anstalten*) immer wieder, eine Anzahl
von schweren, chronischen Paranoia-Kranken so weit zu bessern, dass sie
wieder weltläufig werden und ihren Beruf wieder aufnehmen können, einzelne
so gar dauernd der Genesung zuzuführen. Aber auch die Unheilbaren können
bei ruhiger psychischer und somatischer Behandlung in der Anstalt Jahre
und Jahrzehnte lang auf einem höheren geistigen Niveau erhalten werden und
sich auch eines gewissen beschränkten Lebensgenusses erfreuen.
KIRN.
Para-PerinephritiS. Mit der Bezeichnung Perinephritis belegt
man die Entzündung der derben fibrösen Kapsel, welche fest die Niere um-
schliesst. Diese Entzündungen, welche vorwiegend einen chronischen
Verlauf haben, bewirken sehnige Trübungen und Verdickungen der Kapsel,
oder sie erzeugen Verklebungen und Verwachsungen der Nierenkapsel mit
der Nierenoberfläche, so dass die Kapsel nicht glatt von der Nierenoberfläche
abgelöst werden kann. Solche chronische Veränderungen setzen bei Lebzeiten
keine Symptome, man findet sie sowohl bei Sectionen von Leuten, welche
stets nierengesund gewesen waren, als auch bei Obductionen von Menschen,
welche an irgend einer Nierenkrankheit gelitten hatten; im Ganzen hat die
chronische Perinephritis nur ein Interesse für die pathologische Anatomie.
Die acute Entzündung der Nierenkapsel ist ausserordentlich selten,
auch sie hat keinen klinischen Werth, wenn sie auch gelegentlich selbst zu
Abhebung der Nierenkapsel von der Nierenoberfläche durch kleine Eiterheerde
führt.
*) Vergl. Artikel ^Irrenhehandhmg^ , Bd. II, pag. 353.
PAEA-PERINEPHRITIS. 143
Primäre Entzündung der Nierenkapsel gehört zu den grossen Selten-
heiten; es handelt sich bei der Perinephritis last immer um Entzündungen
secundärer Natur, welche vorwiegend durch Erkrankungen der Niere be-
dingt sind. Die Hauptrolle spielt dabei die diffuse Nephritis.
Der Paranephritis kommt ein höheres klinisches Interesse zu. Der
klinische Brauch vereinigt in der Ptegel die Perinephritis und Paranephritis
mit dem gemeinsamen Namen Perinephritis; weil die Paranephritis aber fast
stets auch eine Perinephritis bedingt und andererseits die eigentliche Peri-
nephritis gänzlich symptomenlos verläuft, so dass man die beiden Erkran-
kungen klinisch nicht von einander abtrennen kann, so ist es richtiger, ent-
weder die Peri- und Paranephritis zusammen anzuführen und als gemein-
samen Namen das Wort Para-Perinephritis zu nehmen, wenn auch
nur die Paranephritis die Symptome setzt, durch welche wir diese Entzün-
dung erkennen können.
Unter Paranephritis versteht man die Entzündung des fettreichen
Bindegewebes, welches die fibröse Nierenkapsel einbettet. Dieses lockere
Bindegewebe ist durch feine, leicht zerreissbare Adhäsionen der Arteria und
Vena suprarenalis und renalis durchzogen und steht mit dem Bindegewebe,
welches den retroperitonealen Bauchraum ausfüllt, in unmittelbarem Zusam-
menhang und dadurch auch in Verbindung mit dem Zellgewebe des Beckens .
Aetiologie. Die Paranephritis ist meistens secundärer, selten
primärer Natur, überwiegend hat sie einen acuten Verlauf, nur selten
trifft man Entzündungsvorgänge dieser Art, welche von vornherein einen
chronischen Verlauf hatten. Die Ursachen der Paranephritis sind ent-
weder locale oder allgemeine. Unter den localen Ursachen finden wir
zunächst die traumatischen verzeichnet; sie sind sehr mannigfaltig; es kann
sich dabei handeln um wirkliche Verwundungen der Niere selbst durch Stich-
oder Schussverletzungen, oder um heftige Quetschungen und Contusionen mit
Zerreissung der Nierensubstanz, wobei sich Blut und Harn in das Bindegewebe
hinein ergiesst. Man hat auch Paranephritis auftreten sehen nach Heben
und Tragen von schweren Lasten, nach forcirtem Turnen und Reiten; eine
Erklärung für die Entstehung der Paranephritis lässt sich allerdings hierbei
nicht geben.
Den Mittelpunkt der localen Ursachen bilden die Entzündungen
derjenigen Organe, von welchen aus die Paranephritis secundär sich ent-
wickelt. An erster Stelle sind hier zu erwähnen die Entzündungen der
Niere und des Nierenbeckens, seltener sieht man Paranephritis sich
entwickeln bei Tuberkulose, Cysten, Infarcten der Niere; in seltenen Fällen
bilden Erkrankungen der Blase das ursächliche Moment, indem entweder
unmittelbar die Entzündung der Harnblase auf die aufsteigenden Harnleiter
sich fortpflanzt, oder die Entzündung das Bindegewebe ergreift, welches die
Harnblase und die Ureteren einhüllt. Von dem Bindegewebe aus kann dann
die Entzündung nach oben schreitend unmittelbar eine Paranephritis ver-
ursachen. Man hat beim Manne eine Paranephritis sich entwickeln sehen im
Anschluss an Entzündungen der Hoden, des Samenstranges, wie auch
beim Weibe gerade der Genitalapparat in der Aetiologie der Paranephri-
tis einen besondern Raum beansprucht; parametritische Abscesse, Erkran-
kung des Collum uteri, operative Eingriffe, haben bisweilen den Ausbruch
einer Paranephritis im Gefolge; stets ist dann das Beckenzellgewebe der Weg,
auf welchem sich die Entzündung bis in die Umgebung der Nieren fortpflanzt.
Dieselbe Rolle spielt das Zellgewebe des Beckens, wenn, wie die Beobachtung
gelehrt hat, Paranephritis auftritt nach Amputation eines Hodens, nach Exstir-
pation des Rectums, nach Steinoperationen, nach Operationen von Harnröhren-
verengerungen und nach Abscessen im Ileopsoas; bei dem Psoasabscess findet
144 PARA-PERINEPHRITIS.
aber in der Kegel kein Durchbruch des Psoasabscesses in das Zellgewebe
statt, weil die feste Muskelscheide den Durchbruch verhindert.
Als seltenere locale Ursachen einer Paranephritis sind in der Lite-
ratur niedergelegt: der Durchbruch einer Lungencaverne durch das Zwerchfell,
Pleuritis, Entzündungen der Gallenblase, Perforationen eines Ulcus ventriculi
(Prior), Leberabscesse, Milzvereiterungen und perityphlitische Abscesse.
Unter den Ursachen allgemeiner Natur sind an erster Stelle die
Infections-Krankheiten zu erwähnen, in deren Verlauf secundäre Para-
nephritis durch Metastasenbildung vorkommen kann. Derartige Complicationen
hat man beim Abdominaltyphus, beim exanthematischen Typhus, bei Pocken,
Scharlach, Wochenbettfieber und Pyämie gesehen; von mir ist eine Paranephri-
tis bei einer Milzbrandvergiftung beschrieben worden.
Unter den allgemeinen Ursachen findet man auch die Erkältung als
ätiologisches Moment vor. Es sollen Leute plötzlich von Paranephritis befallen
werden können, welche sich unmittelbar vorher einer starken und plötzlichen
Abkühlung ausgesetzt hatten. Endlich gibt es noch eine Anzahl von Fällen,
in welchen die Ursache der Erkrankung dunkel blieb.
Die Paranephritis tritt vorwiegend einseitig auf und zwar ein wenig
häufiger rechts als links; die doppelseitige Erkrankung ist sehr selten.
Am häufigsten befällt die Paranephritis Männer im kräftigen und
reiferen Alter, wohl deshalb, weil Männer überhaupt und gerade in diesem
Alter mehr Schädlichkeiten ausgesetzt sind, als Frauen und Kinder. Unter
164 Fällen sind die Männer mit 97 Erkrankungen betheiligt, auf die Frauen
kommen 41, auf die Kinder 26 Erkrankungen. Im frühen Kindesalter
ist die Paranephritis sehr selten, unter 46 Fällen finden sich nur drei Kinder
unter zehn Jahren.
Pathologische Anatomie. Das Bild, welches die Paranephritis auf dem
Sectionstische liefert, ist sehr mannigfaltig. Anfangs Stadien kommen
sehr selten zur Beobachtung. Fast immer findet man ausgespro-
chene Veränderungen, weil der Tod nicht sehr rasch nach Ausbruch der
Erkrankung einzutreten pflegt. Im pararenalen Zellgewebe findet man in den
an und für sich seltenen Fällen von sehr langsamem, chronischem Ver-
laufe feste, fibröse, harte Schwarten und Schwielen, häufiger tritt das
Zellgewebe diffus eitrig oder serös-sulzig infiltrirt hervor, in der Regel
jedoch ist ein umschriebener Eiterheerd za finden. Ist dabei noch Zell-
gewebe erhalten, so erscheint es missfarben, gelegentlich schwärzlichgrau.
Hat die Erkrankung bis zum Abscess geführt, so ist der Eiter in der Abscess-
höhle gelb, seltener frisch-roth, häufiger schon hefefarben, je nach der Länge
der Zeit, welche zwischen einer Blutung in der Abscesshöhle und dem Tode
verflossen ist. Abgestossene Flocken, Bindegewebstrümmer und Fettklümpchen
sind in wechselnder Menge mit dem Eiter vermischt, welcher gewöhnlich
geruchlos ist, bisweilen aber auch einen faeculenten Geruch besitzt, ohne
dass eine Perforation des Darmes in die Abscesshöhle stattgefunden haben
muss. Die Grösse eines solchen paranephritischen Abscesses schwankt
zwischen nussgrossen Heerden und Eiteransammlungen, welche von der Leber
oder Milz bis herab in die Fossa iliaca reichen; nur sehr selten ist der In-
halt eines solchen Heerdes durch gangränöse Veränderungen in eine breiige,
schwärzliche Masse umgewandelt.
Von einem solchen Eiterheerde aus können nach den verschiedensten
Richtungen hin ein einziger Weg oder mehrere Wege abgehen, ge-
wöhnlich geht eine Fistel nach der Lendengegend zu, bald gradlinig,
bald gewunden, die Lendenmuskulatur durchbrechend. Es kann der Eiter
aber auch seinen Weg in die Bauchhöhle nehmen, oder in ein benach-
bartes Organ hineinperforiren, so dass man bei Sectionen Perforationen
in das Colon fand oder in ein anderes Darmstück, bei welchen Complicationen
PARA-PERINEPHRITIS. 145
der Eiter in der Abscesshöhle frei von faeculentem Geruch und von Darm-
inhalt bleiben kann, weil die enge Trichtermündung des Canales, welcher die
Abscesshöhle mit dem Darmabschnitt verbindet, den Eintritt von Eiter von
der Abscesshöhle in den Darm erlaubt, dagegen das Eindringen von Darm-
inhalt in die Abscesshöhle verhindert. Weiterhin sind bei Obductionen Durch-
briiche nach dem Magen, dem Duodenum, dem Nierenbecken gesehen worden,
Durchbrüche nach der Pleurahöhle, in die Lungen und Bronchien hinein und
in das Pericardium. In anderen Fällen folgten die paranephritischen Abscesse
den gewöhnlichen Senkungsabscessen, welche von den Wirbelkörpern
ausgehen und mit Vorliebe unterhalb des PoüPAEx'schen Bandes an die Ober-
fläche treten. Wiederholt sind auch Durchbrüche nach der Vagina, der Blase,
dem Uterus gefunden worden; in einem Falle fand man sogar eine deutliche
Arrosion der Wirbelsäule. Die Niere selbst ist häufig miterkrankt, man
findet einfache Ernährungsstörungen, aber auch alle Stufen bis zur vollkom-
menen Nekrose von Nierensubstanz. Es können nekrotische Herde sowohl
im Innern, wie an der Oberfläche der Niere sitzen, mitunter hat die Niere
jede Stütze und jeden Halt verloren, so dass sie in dem Eiterherde hin und
her flottirt. Eine Resorption des paranephritischen Abscesses kommt
nur sehr selten vor, jedenfalls handelt es sich dann um kleinere Abscesse,
es kann auch ein solcher Eiterherd vollkommen verkäsen. Kommt es zu
einer V e r n a r b u n g, so kann das schrumpfende Bindegewebe die Niere com-
primiren und sie erheblich schädigen, man hat beobachtet, dass eine vom
Narbengewebe umfasste Niere durch die Schrumpfung desselben auf ein Mini-
mum reducirt wurde. In einer anderen Beobachtung trat nachträglich der
Tod noch ein, weil ein paranephritischer Narbenzug die Pfortader gänzlich
verschloss.
Symtomatologie. Das Symptomenbild der Paranephritis gestaltet sich
verschieden, je nach der Ursache der Erkrankung, je nachdem die Entzün-
dung primär oder secundär, und localen oder allgemeinen Ursprunges ist.
Bei der secundären, acuten Paranephritis tritt meistens das Symptomenbild
der Paranephritis hinter den Erscheinungen der allgemeinen Erkrankung
zurück; es kann auch das Bild der Paranephritis nicht zur deutlichen Ent-
wicklung kommen, wenn von benachbarten Organen aus die Entzündung
auf das pararenale Bindegewebe übergreift. Das Bild der primären Para-
nephritis setzt dagegen sehr deutliche Symptome, welche im Ganzen auch
diejenigen Formen der secundären Paranephritis zeigen, welche im Anschluss
an Nierenkrankheiten, vor allem Pyelonephritis calculosa, auftreten. Das
Krankheitsbild setzt mit einem Schutt elf roste von oft mehrstündiger
Dauer ein, dem sich hohes Fieber anschliesst, welches mitunter einen inter-
mittirenden Typus aufweist. Häufiger ist das Fieber remittirend, er-
hebt sich abends auf 39*5 und höher und zeigt morgendliche geringe Re-
missionen von O'ö" C; der intermittirende Fieberverlauf legt den Gedanken
an pyämische Processe nahe. Bei rapider Entwicklung der Paranephritis
können typhöse Erscheinungen das Krankheitsbild begleiten. Unter den Ini-
tialsymptomen tritt in charakteristischer Weise der Schmerz hervor.
Plötzlich nach irgend einer Veranlassung tritt er dumpf, bohrend oder stechend
in heftiger Weise auf; er wird in der Tiefe empfunden und steigert sich
bei festem Drucke in unerträglichem Grade, meistens sitzt der Schmerz
in der befallenen Nierengegend, er kann aber auch auf die gesunde Seite
überspringen, vorwiegend bleibt er während der ganzen Erkrankungsdauer
gleich heftig oder steigert sich sogar noch von selbst, andererseits kommt
es vor, dass er für Tage und Stunden gänzlich geschwunden ist, um plötzlich
mit erneuter Heftigkeit unter dem Bilde einer intermittirenden Neu-
ralgie wieder aufzutreten; selbst wochen- und monatelange Pausen sind beob-
achtet worden. Wie der Druck von aussen den Schmerz steigert, so ver-
Bibl med. Wissenschaften. Interne Medicin und Kinderkankheiten. Bd. III. lU
146 PAEA-PERINEPHRITIS.
mehren Erschütterungen des Körpers durch Husten, Niesen, Pressen der
Bauchdecken, Bewegungen der Lendenrauskeln denselben. Von* dem Sitze
der Erkrankung gehen häufig Schmerzausstrahlungen aus nach den
Genitalien, dem Damme und den Schenkeln. In den Schenkeln können später-
hin, wenn ein paranephritischer Tumor auftritt, welcher die aus dem Rücken-
markskanal hervortretenden Nerven comprimirt. Schwächezustände und Taub-
sein sich einstellen.
In dem einen Falle rasch, in dem anderen Falle erst nach geraumer
Zeit entwickelt sich die paranephritische Geschwulst. Sie zeigt sich
zunächst dadurch an, dass die Lumbaigegend, welche dem Sitze der Er-
krankung entspricht, breiter und voller wird und eine leichte ödematöse
Anschwellung folgt, so dass die Haut glatt und glänzend erscheint, was
zumal bei aufrechter Körperhaltung hervortritt. Dieses Oedem kann bis zu
den Hüften und den Sitztheilen herabreichen, manchmal ist die Haut nicht
einfach ödematös, sondern sie wird roth und heiss, so dass man die Bezeich-
nung Pseudoerysijrielas anwendet. Untersucht man jetzt den Kranken in der
Eückenlage, indem man mit der Hand nach der Lendengegend zu eindringt,
so gelingt es meistens schon eine mehr oder weniger deutliche Hervorwöl-
bung zu fühlen; deutlicher wird das Palpationsresultat, wenn man zu gleicher
Zeit die andere Hand flach auf die Nierengegend auflegt und beide Hände
sich beim Untersuchen ergänzen. Zwar fühlt man anfangs nur eine ver-
mehrte Resistenz, bald aber einen deutlichen, umschriebenen Tumor,
welcher bald länglich, bald rundlich sich anfühlt und häufig etwas tiefer, als
die Lendengegend gelegen ist. Gelingt es, den Tumor zu palpiren, so hat
man vor allem darauf zu sehen, ob sich ein Fluctuationsgefühl bemerkbar
macht; das ist keineswegs leicht und stets möglich, wenn der Eiter tief sitzt
und die Palpation sehr schmerzt; nur da, wo der Eiter sehr oberflächlich
sitzt, oder grosse Eitermassen sich entwickelt haben, kann man das Fluc-
tuationsgefühl deutlich wahrnehmen. Die Geschwulst kann sehr ver-
schieden gross sein, sie kann eine ganze Bauchhälfte ausfüllen, sie ist ent-
w^eder gar nicht, oder doch nur sehr gering beweglich. Die Ath-
mung verschiebt die Geschwulst nicht oder nur unbedeutend.
Neben Fieber, Schmerz und Geschwulst, den Cardinalsympto-
men der Paranephritis, gibt es eine Reihe von Symptomen, welche
theils durch das Fieber, theils durch die Geschwulstmasse ver-
ursacht sind. Der Appetit liegt darnieder, die Zunge ist belegt, grosses Durst-
gefühl besteht, anfangs tritt vielfach Erbrechen ein, welches vor allem bei der
Paranephritis auf traumatischem Boden häufig sein soll. Bald auch treten
Störungen der Magenthätigkeit so sehr in den Vordergrund, dass man eine
acute Gastritis vor sich zu haben glaubt. Dauert das Fieber an, so magern
die Kranken ab und werden elend. Die Darmthätigkeit ist sistirt, der Druck
der Geschwulst kann hochgradige Verstopfung bewirken, der Harn zeigt den
Charakter des Fieberharnes, gelegentlich findet man Spuren von Eiweiss in
ihm, um so häufiger, je länger die Temperatursteigerung anhält. Die Harn-
entleerung vollzieht sich meistens ohne Beschwerden, bisweilen aber wird
Harndrang oder Harnverhalten beobachtet.
Die an Paranephritis leidenden Patienten pflegen in der Regel die
Rückenlage einzunehmen und zwar nach der leidenden Seite zu ge-
krümmt, dabei pflegen sie das Hüft- und Kniegelenk zu flectiren und den
Schenkel nach aussen zu rollen, was vor allem dann der Fall ist, wenn der
Psoas von der Erkrankung ergriffen wird, oder, was sehr häuflg der Fall ist,
nur in einen Reizzustand versetzt wird. Die Kranken bewegen sich nur sehr
ungern, weil jede Bewegung schmerzt.
Wenn die Abscedirung weiter schreitet, so sucht sich der Eiter
einen Weg dahin, wo er den geringsten Widerstand findet; vorwiegend strebt
PARA-PERINEPHRITIS. 147
er nach hinten und seitlich sich einen Weg zu bahnen, seltener nach der
vorderen Bauchfläche zu; in der Mehrzahl der I'älle sucht der Eiter in
der Lendengegend durchzubrechen; an einer umschriebenen Stelle röthet
sich die Haut, sie wird schmerzhaft und wölbt sich mehr und mehr vor.
Diese Stelle spitzt sich zu, wird weicher und dünner und plötzlich tritt der
Eiter heraus, bald langsam durchsickernd, bald in lebhaftem Strome. Oefters
bilden sich mehrere Fistelöffnungen; der Eiter selbst ist gewöhnlich
gelblich und dick, selten blutig, noch seltener putride, häufiger aber hat er
einen fäculenten Geruch, seine Menge kann bis zu mehreren Litern betragen.
Ist der Durchbruch erfolgt, so ändert sich plötzlich das Krankheitsbild, das
Fieber verschwindet, das Oedem und die Röthung der Lendengegend lässt
nach, die Schmerzen mindern sich, die Stuhlverstopftung ist oft schon von
selbst beseitigt und der Kranke fühlt sich wohler. Auf eine spontane Ee-
sorption des Eiters darf man im Allgemeinen nicht rechnen; je früher man
den Eiter des paranephritischen Tumors nachweisen kann, umso besser ist es
für den Patienten, bisweilen muss man der grossen Schmerzhaftigkeit wegen
die Narkose zu Hilfe nehmen und von einer Probepunction Gebrauch machen.
Was den Verlauf der Paranephritis anlangt, so schreitet in den
meisten Fällen die Abscessbildung rasch vor, so dass es, wenn die passende
Behandlung nicht eingreift, zum Eiterdurchbruch in kurzer Zeit kommt, es
kann aber auch die Erkrankung sich monatelang hinziehen.
Wenn der Eiter nicht in die Lendengegend durchbricht, so sucht sich
der Abscess andere Wege. Es können Senkungsabscesse nach der Hüft-
beingrube folgen; man kennt Durchbrüche in das Hüftgelenk hinein,
wenn die Bursa subiliaca mitergriffen wurde. Durch brüche nach dem
Darm zu, fördern grosse Eitermassen durch den Stuhl zu Tage; bei Durch-
brüchen in den Magen oder das Duodenum werden grosse Eitermengen
ausgebrochen, bei Perforationen in das Nierenbecken oder in die Blase
gehen grosse Eitermassen mit dem Harn ab. Wir kennen Durchbrüche nach
der Pleurahöhle mit einer eitrigen Pleuritis im Gefolge, Durchbrüche
in die Bronchien, so dass plötzlich grosse Eitermengen ausgehustet werden;
es kann aber auch die Perforation in die Lungen plötzlichen Tod
bedingen. Nicht jede Pleuritis im Verlaufe einer Paranephritis, auch
wenn sie auf derselben Seite auftritt, weist darauf hin, dass ein Durch-
bruch nach der Brusthöhle zu stattgefunden hat; es kommt nämlich vor,
dass eine einfache, seröse Pleuritis sich einstellt, für deren Erklärung
wir annehmen dürfen, dass die Fortsetzung der paranephritischen Entzündung
auf die Pleura durch die zahllosen Lymphgefässe, welche das Zwerchfell durch-
setzen, übermittelt wird. Tö dt lieh verläuft in der Regel der Durchbruch
in das Pericardium, ebenso gefährlich bleibt die, zum Glück seltene,
Perforation in die Bauchhöhle hinein. Der Durchbruch in den
Darm ist nicht so ungünstig, als der Durchbruch in die Bauchhöhle,
welcher eine rasch tödtende Peritonitis bewirkt.
Der spontane Durchbruch des paranephritischen Abscesses kann
allerdings von selbst heilen, jedenfalls aber dauert es Wochen, Monate,
oft Jahre, bevor sich die vielfach gewundenen Fistelgänge schliessen. Von
6 Perforationen in den Darm verliefen 4 günstig; von 10 Durchbrüchen in
die Lunge 5, von 2 Durchbrüchen in die Scheide 1 Fall günstig; 3 Perfora-
tionen in die Pleura und in den Bauchraum verliefen tödtlich; 2 Fälle von
Durchbruch in das Nierenbecken nahmen einen günstigen Ausgang.
In seltenen Fällen bildet sich der schon palpable paranephritische
Tumor zurück, indem alle Symptome, wie Fieber, Schmerz und Geschwulst
nachlassen und langsam verschwinden.
Diagnose. In den Anfangsstadien der Paranephritis ist das Erkennen
nicht immer leicht. Oft kommt man nicht über die Vermuthung heraus. Als
10*
148 PARA-PEPJNEPHRITIS.
Grundlage fiir die Diagnose gelten die drei Hauptsymptome: Fieber,
Schmerz und Geschwulst. Das Auftreten der Geschwulst ermöglicht
meistens erst die Stellung der Diagnose. So kommt es denn, dass in den
ersten Stadien manche Irrthümer möglich sind. Wenn man nur auf den
Schmerz achtet, so sind Verwechslungen mit Lumbago oder Neural-
gien in der Lendengegend denkbar, doch fehlen bei diesen Störungen die
Allgemeinerscheinungen, vor allem das Fieber. Sie scheinen auch mehr ober-
flächlich zu sitzen. Oberflächliche Phlegmonen in der Lendengegend,
welche die Ursache zu Verwechslungen abgeben können, verlaufen viel schneller,
liegen oberflächlicher und vereitern rascher. Bei ihnen ist auch die Nieren-
gegend bei der Palpation von den Bauchdecken her schmerzfrei. Die Diagnose
wird schwer, wenn die paranephritische Erkrankung, die sich durch Schmerz
und Fieber anzeigte, nachlässt und erst nach Wochen und Monaten sich eine
neue Fieber- und Schmerz-Attaque einstellt; hier kann nur der Nachweis der
Geschwulst die Diagnose sichern. Die differentielle Diagnose hat bei
dem Nachweis eines Tumors auf andersartige Geschwülste Rücksicht
zu nehmen.
Zunächst kommen Erkrankungen der Niere selbst in Frage, welche,
wie die Nephritis suppurativa und Pyelonephritis, mit Schmerz,
Fieber und Geschwulstbildung in der Lendengegend einhergehen; eine Unter-
scheidung dieses Krankheitsbildes von der Paranephritis, ist durch die
Untersuchung des Harnes möglich, indem der Harn der Paranephritis
einfacher Fieberharn ist, während der Harn bei Abscessbildung der Nephritis
suppurativa und Pyelonephritis Eiter, gelegentlich auch Blut enthält. Bei
der Pyelonephritis ist es trotz starker Eiterbildung möglich, dass der Harn
vollständig klar und eiweissfrei auftritt, wenn nämlich der eine Ureter gänz-
lich verstopft ist, so dass nur der Harn der g e s u n d e n Niere zu Entleerung
kommt. Es fehlt aber zum Unterschied von der Paranephritis das Oedem in
der Lendengegend. Andere Nierengeschwülste unterscheiden sich von
der Geschwulstbildung der Paranephritis im Allgemeinen dadurch, dass sie
mehr nach vorn eh in zu wachsen streben, so dass sie mehr von der
Vorderfläche, von der Bauch wand her bemerkbar sind, während die para-
nephritischen Abscesse mit Vorliebe sich an der Rückenfläche an
der Lendengegend ausbreiten. Die Hydronephrose, welche hier zu be-
rücksichtigen ist, sitzt zwar ebenfalls einseitig in der Lendengegend und
fluctuirt auch, aber ihre Fluctuation ist häufig grosswellig; sie stellt eine
höckerige Geschwulst dar, welche sich sehr langsam entwickelt und vor allem
nicht von Fieber begleitet ist und jedenfalls des grossen Schmerzes der Para-
nephritis entbehrt. Vor Verwechslungen mit Echinococcus der Nieren
schützt der Mangel an Fieber, die höckerige Oberfläche der Geschwulst; vor
L-rthümern, zu welchen das Carcinom der Niere den Anlass geben kann,
bewahrt den Untersucher die unebene, harte, höckerige Geschwulstmasse der
Krebsbildung, welche allerdings auch schmerzhaft sein kann, der Fluctuation
aber ledig ist; nur sehr selten findet sich bei ganz weichen Carcinomen eine
Art von Fluctuation. Cysten-Nieren, ebenso wie die Tuberkulose der
Niere, unterscheiden sich von der Paranephritis und ihrem Tumor stets da-
durch, dass sie immer wenigstens eins der Hauptsymptome der Paranephritis
vermissen lassen. Die eigenthümliche Lage des Patienten im Bette deckt sich
mit der Flexion und dem Auswärtsrollen des Schenkels bei einer Erkrankung
des Musculus psoas; es unterscheidet sich aber bei der Untersuchung das Bild
der Paranephritis dadurch, dass bei der Paranephritis der Druck in der
Nierengegend sehr schmerzhaft ist, und das Bein meistens ohne Schmer-
zen gerade gerichtet werden kann, wobei man allerdings nicht vergessen darf,
dass es Fälle gibt, in welchen das für die Psoitis charakteristische Zeichen
der Flexion und Auswärtsrollung des Beines fehlen kann, und Fälle von
PARA-PERINEPHRITIS. 149
paranephritischen Abscessen, bei welchen ein solch' starker Psoasreiz zustande
kommt, dass das Bein nur unter erhöhter Schmerzhaftigkeit bewegt werden
kann.
Vom Senkungsabscess infolge von Wirbelsäulencaries unterscheidet
sich die Paranephritis dadurch, dass Schmerzhaftigkeit der Wirbelsäule auf
Druck die Caries begleitet, während die Nierengegend auf Druck schmerzlos
bleibt. Bei solchen Senkungsabscessen ist oft weiterhin die Wirbelsäule un-
beweglich, die Dornfortsätze sind in ihrem Verlaufe oft unregelmässig, es
können Schmerzen auftreten, welche fern von der Lendengegend liegen, das
Fieber ist nichi so hoch, als bei der Paranephritis, so dass nur langsam ein
Kräfteverfall eintritt.
Die Stereo ralen Abscesse sind von den paranephritischen Eiter-
herden; durch ihren Sitz verschieden, welcher immer tiefer, mehr nach
abwärts gelagert ist, immer treten mehr Darmerscheinungen in den Vorder-
grund, der Harn ist sehr häufig reich an Indican, und kommt es zum
Durchbruch, so hat der Eiter einen penetranten, fötiden Geruch und ist mit
Darmgasen untermischt. Gelegentlich sind auch paranephritische Abscesse
mit Coxitis verwechselt worden, wenn ein Tumor nicht nachweisbar ist;
hier muss dann die Empfindlichkeit bei der Bewegung des Beines, der
hinkende Gang, die Ptotirung des Fusses nach aussen, der weniger stürmische
Verlauf der Coxitis die Entscheidung liefern. Verwechslungen mit Leber und
Milzgeschwülsten sind jedenfalls sehr selten, weil diese Tumoren mit
der Athmung auf- und absteigen und der Leberrand, wie der Milzrand mit
seinen Einkerbungen jeden Zweifel heben.
Ob man es mit einer primären oder secundären Paranephritis zu
thun hat, darüber entscheiden die Anamnese und die Nebenumstände der
Erkrankung.
Prognose. Die Prognose wird wesentlich davon abhängig sein, ob
der Process ein primärer oder secundärer ist, und von der raschen
Erkennung der Erkrankung, welcher eine energische Behandlung
folgen muss. Tritt nämlich die Paranephritis primär auf und wird sie
frühzeitig erkannt, so ist die Prognose, wenn der Abscess energisch
geöffnet wird, keine sehr schlechte; meistens tritt dann Heilung ein,
aber immer erst nach mehreren Wochen oder Monaten. Wird die Er-
öffnung versäumt, so ist eine Heilung möglich und kommt auch relativ
oft vor; die Voraussage wird aber getrübt dadurch, dass die Heilung
sich über viele Monate und selbst Jahre erstreckt, während hektisches Fieber
das Körpermaterial verbrauchen kann. Eine Heilung, ohne dass es zur Ver-
eiterung kommt, oder dass der gebildete Eiterherd wieder verschwindet, ist
ungemein selten. Die secundäre Paranephritis gibt im allgemeinen
eine ungünstige Prognose, vor allem dann, wenn Infectionskrankheiten
mit Metastasenbildung im pararenalen Gewebe die primäre Ursache abgeben.
Die Prognose der Durchbrüche gestaltet sich verschieden, je nach dem
Organ, in welches hinein der Druchbruch erfolgt.
Therapie. Steht man im Beginne der Erkrankung, so wird man
versuchen müssen, die Weiterentwickelung des Processes durch energische
Anwendung von Kälte und durch absolute Ruhe zu verhindern; man
legt den Patienten ins Bett und bringt einen grossen Eisbeutel auf die
Lendengegend an; bei sehr kräftigen Personen vermindern locale Blut-
entziehung durch Blutegel und blutige Schröpfköpfe oder auch trockene
Schröpfköpfe den Schmerz. Der Darm ist am besten durch grosse Einlaufe
zu entleeren; die Diät muss eine leichte sein. Vielfach fügt man zur Kälte-
behandlung noch Einreibungen mit Unguentum cinereum, ob mit Erfolg, ist
mindestens fraglich. Daneben muss man den Schmerz durch Morphium-
gebrauch zu beseitigen suchen. Gelingt es einmal, dass bei der Kälte-
150 PARA-PERITYPHLITIS.
behandlung das Fieber und der Schmerz schwindet, und die Entzündung zum
Stillstande kommt, so räth jedenfalls die Vorsicht, die Eisapplication noch
mehrere Tage fortzusetzen, weil man sich erinnern muss, dass die Para-
nephritis in ihrem Verlaufe fieber- und schmerzfreie Intervalle zeigen kann.
Erweist sich aber die Eisbehandlung als ohnmächtig, wird die
Lendengegend ödematös und geröthet und zeigt sich eine Geschwulst in der
Tiefe des Bauchraumes, so ist die Wärmeanwendung in Form von
grossen Kataplasmen nothwendig. Sobald sich dann auch nur eine
Spur von Fluctuationen zeigt, kann man nicht energisch genug
den Abscess chirurgisch behandeln. Die Entleerung des Abscesses ver-
mittelst der Aspirationsmethode führt zwar zur Beseitigung des Eiters,
aber selbst nachfolgende Umspülungen der Abscesshöhle mit desinficirenden
Substanzen führen selten zum Ziele, und man steht immer in Gefahr, dass
eine Retention des Eiters neues Fieber verursacht. Im günstigsten Falle tritt
die Heilung nicht in demselben Zeiträume ein, als wenn man den Abscess
spaltet. Am besten nämlich ist die breite Eröffnung des Abscesses
mit dem Messer. Der Eiter fliesst voll und sicher ab, die Abscesshöhle kann
antiseptisch behandelt und abgestorbene Gewebsfetzen können leicht entfernt
werden. Steht es dem Arzte frei, sich den Ort für die Operation selbst
auszuwählen, so wird die Incission am besten 2 Finger breit unterhalb der
12. Rippe an der äusseren Seite des Musculus sacrolumbalis gemacht, an der
Stelle, wo sich seine Aponeurose mit derjenigen des Musculus transversus
abdominis verbindet. Entweder legt man den Schnitt wenigstens 5 — 8 cm
lang in horizontaler oder verticaler Richtung an; der horizontale Schnitt,
welcher den Gefässen parallel läuft, vermeidet die Durchtrennung der Blut-
gefässe und den grösseren Blutverlust, die Wunde aber klafft nur wenig. Der
verticale Schnitt durchtrennt die Blutgefässe, dafür aber öffnet sich die
Schnittwunde breiter und erleichtert so den Abfluss des Eiters. Wenn es
zu spät ist, den Ort für die Operation auszuwählen, so spaltet man
den Abscess da, wo man die Fluctuation am deutlichsten fühlt. Die Er-
öffnung und die Nachbehandlung werden unter den antiseptischen und asep-
tischen Regeln der Wundbehandlung durchgeführt. Daneben aber muss man
durch Anordnung einer zweckentsprechenden Diät, Verordnung von Robo-
rantien, Regelung der Darmthätigkeit und Bekämpfung der Schmerzen den
Allgemeinzustand des Patienten zu heben nicht unterlassen. prioe.
Para-PerityphlitiS (A]}pendicitis, TyphUtis). Unter den verschiedenen
Erkrankungen des Darmkanals nehmen die Entzündungen in der rechten
Fossa iliaca eine besondere Stellung ein; das Coecum, der Wurmfortsatz und
ihre Umgebung spielen eine Hauptrolle in der Pathologie der Darmkrank-
heiten. Die Entzündungen des Coecum bezeichnet man als Typhlitis, die
Entzündungen der Wand des Wurmfortsatzes als Appendicitis; weil aber
die entzündliche Erkrankung des Coecum und des Processus vermiformis
meistens nicht von einander zu trennen sind und der klinischen Unterschei-
dungsmerkmale entbehren, so versteht man vorwiegend unter Typhlitis die
Entzündung des Coecum und des Wurmfortsatzes zusammen genommen; im
Gegensatz zu der Typhlitis versteht man unter Perityphlitis die Entzün-
dung des peritonealen Ueberzuges dieser Gebilde, also eine circumscripte
Bauchfellentzündung, während die Entzündung des retroperitonealen,
retrocoecalen Zellgewebes, welche vorwiegend von einer Typhlitis oder
Appendicitis ausgeht, die Bezeichnung Paratyphlitis trägt. Die Perity-
phlitis führt auch den Namen Typhloperitonitis, Pericoecitis und Periappen-
dicitis, die Paratyphlitis andererseits den Namen ParacoeaWs, Pat-aappen-
dicitis und Typhlocellulitis.
PARA-PERITYPHLITIS. 151
Aetiologie.
Die Entzündung des Blinddarmes, die Typhlitis im engeren Sinne,
wird entweder durch mechanische und chemische Momente oder durch infec-
tiöse Processe, welche mit Geschwürsbildungen einhergehen, bewirkt. Die
häufigste Ursache der Typhlitis ist die Koth Stauung, die Coprostasis.
Kein Darmabschnitt ist so sehr zu Kothstauungen geeignet, als die ampullen-
artige Erweiterung des Coecum. Der Dünndarm geht nämlich in der Weise
in den Dickdarm über, dass nicht die Längsachse des Dünndarmes unmittel-
bar in die Längsachse des Dickdarmes sich fortsetzt, sondern dass fast unter
einem rechten Winkel der Dünndarm in den Dickdarm einmündet; ausserdem
ist die Einmündungssteile an der medianen Fläche des Anfangstheiles des
Dickdarmes so gelagert, dass das Coecum unterhalb der Einmündungssteile
gelegen und auf diese natürliche Anordnung hin von den anderen Abschnitten
des Dickdarmes geschieden ist. Die Vorbedingungen für eine Coprostasis
werden günstiger dadurch, dass der Darminhalt in dem Dickdarme überhaupt
viel länger verweilt, als im Dünndarme, und der aus dem Dünndarme kom-
mende, mehr flüssige Speisebrei im Dickdarme mehr eingedickt wird; auch
die Lage des Colon ascendens bildet für den Transport ein Hindernis, indem
der Darminhalt von unten nach oben, bergan, getrieben werden muss. Die
Peristaltik des Dickdarmes ist zwar kräftig, aber sie erfolgt viel weniger leb-
haft, als die Peristaltik des Dünndarmes. In Folge dieser natürlichen Ver-
hältnisse sind Kothanhäufungen in dem Blinddarme recht häufig; die Koth-
stauungen reizen mechanisch die Darmwand, um so intensiver, je mehr sie
eingedickt und härter werden, und bewirken eine Entzündung analog den
Fremdkörpern, welche in den Blinddarm gelangen und dort zurückgehalten
werden. Fehler in der Diät und in der Lebensweise sind daher an erster
Stelle geeignet, eine solche Entzündung zu begünstigen, welche man als Ty-
phlitis s t er CO ralis bezeichnet. Als solche begünstigende Momente führen
wir an: grobe unverdauliche Speisen, unmässiger Genuss von Gemüse, Hülsen-
früchten, körnigen Früchten wie Stachelbeeren, Weintrauben, ferner unreifes,
schlecht gekautes Obst, Mitverspeisen der Kerngehäuse von Aepfeln und
Birnen, überhaupt alle Nahrung, welche eine voluminöse Masse einnimmt
und viel Koth liefert oder gröbere, unverdauliche Beimengungen enthält; aber
nicht nur mechanisch wirken diese festen Kothmassen auf die Darmschleim-
haut ein, sondern auch chemisch, indem durch die Fäulnis der retentirten
Massen chemische Schädlichkeiten sich auslösen. Seltener als die Eindickun-
gen der Kothmasse, welche das Material zur Kothsteinbildung und zu echten
Enterolithen abgeben, gelangen Fremdkörper in das Coecum hinein; wir
kennen als solche Fremkörper spitzige Knochenstücke, Fischgräten, Münzen,
Gallensteine. Leute mit sitzender Lebensweise, welche zu träger Stuhlthätig-
keit den Anlass gibt, sind, wenn sie nicht für regelmässige Defäcation sorgen,
zur Coprostasenbildung besonders geneigt. Unter den infectiösen Ur-
sachen der Typhlitis finden wir Geschwürsvorgänge auf der Darmschleim-
haut als Ulcus typhosum, tuberculosum, welche Processe aber im Coecum sehr
selten sind. Es kann aber auch bei vorsichtiger, zweckmässiger Ernährung der
Darminhalt sich zur schädlichen Noxe eindicken, wenn durch catarrhalische Er-
krankungen der Darmwand selbst die Muskulatur des Darmes geschwächt und
schlaff geworden ist, und es scheint, als ob solche chronische Störungen der
Darmschleimhaut des Coecum ungemein häufig sind.
Der Processus vermiformis bietet noch viel günstigere Bedin-
gungen für das Zustandekommen einer Entzündung dar; gerade bei ihm spielen
die Zurückhaltung und Verhärtung von Koth, sowie das Eindringen von Fremd-
körpern die erste Rolle. An der Einmündung des Wurmfortsatzes in den
Blinddarm befindet sich normaler Weise eine Schleimhautduplicatur, die Gek-
152 PARA-PERITYPHLITIS.
L.ACii'sche Klappe, welche die Eingangsöffnung des Processus vermiformis in
der Weise circulär umtasst, dass dem Darminhalt aus dem Coecum das Ein-
dringen in den Wurmfortsatz mehr oder weniger erschwert ist; diese Klappen-
vorrichtung verhindert aber auch zum Theil den Rücktritt der Fäcalmassen
in den Blinddarm. Eine besonders stark entwickelte Klappe wird dadurch
um so mehr geeignet sein, die Retention von Faeces zu bewirken. Anato-
mische Veränderungen befördern überhaupt das Steckenbleiben von Koth-
theilchen im Wurmfortsatz. Sehr häufig gelangen normaler Weise dünn-
flüssige und auch dickliche Kothmassen in den Processus vermiformis, die
Ringmuskulatur des Appendix ist kräftig genug, um bei normalem Verhalten
diese Massen wieder auszutreiben. Je kräftiger aber die GERLAcn'sche Klappe
entwickelt ist, um so mehr Widerstand setzt sie entgegen. Ist die Klappe
überhaupt nur rudimentär entwickelt, die Mündung des Wurmfortsatzes sehr
weit, so dringen abnorm grosse Kothmassen in den Fortsatz ein, deren der-
selbe nicht immer Herr wird, zumal wenn in Folge catarrhalischer Entzün-
dungen die Muskulatur erschlafft ist. Abnorme Lagerung, abnorme Länge,
Schlängelung, Verwachsungen und zumal winklige Knickungen des Wurmfort-
satzes, mögen sie angeboren oder die Folge abgelaufener Darm- und Peri-
tonealerkrankungen sein, sind uns als mechanische Ursachen der Retention
von Fäcalstoffen begegnet.
Die leichteste Schwellung der Schleimhaut engt das an und für sich sehr geringe
Lumen des Appendix ein und behindert den Austritt des Inhaltes des Wurmfortsatzes.
Es ist auch möglich, dass die einfache catarrhalische Schwellung der Blinddarmschleimhaut
genügt, um die Einmündungsstelle des Wurmfortsatzes in den Blinddarm zu verschliessen,
gerade wie der Verschluss des Ductus choledochus bei Duodenalcatarrh zu Stande kommt.
Bleiben Fäcalmengen im Processus vermiformis liegen, so kann die
Flüssigkeit aus ihnen resorbirt werden, sie werden zu harten, oft steinharten
Concremönten umgebildet, so dass Enter olithen Zustandekommen. Man
theilt die Enterolithen in wahre und falsche Kothsteine. Als falsche
Darmsteine bezeichnet man die einfach eingedickten harten Kothmassen, welche
eine relativ beträchtliche Grösse erlangen können. Wahre Enterolithen sind
meistens klein, besitzen einen geschichteten Bau, enthalten vielfach in ihren
Centren einen Fremdkörper, wie harte Kothpartikelchen, Obstkerne, Samen-
körner, Knochenstückchen, Barthaare, Ascarideneier und bestehen aus erdigen
Ablagerungen, welche wiederum vorwiegend aus kohlensaurem und phosphor-
saurem Kalk, phosphorsaurer Magnesia, phosphorsaurer Ammoniakmagnesia
zusammengesetzt sind. Ueberwiegend sind aber die echten Kothsteine in der
Art gebildet, dass sie nach meinen Untersuchungen als Kern Kothpartikelchen
besitzen, um welche sich eingedickter Schleim als äussere Schichten lagert.
Dieser Schleim der äusseren Kothsteinschichten, welcher fortwährend den
Umfang des Enterolithen vergrössert, wird von der Schleimhaut des Appen-
dix unmittelbar geliefert; es ist durch Schnitte durch den gehärteten Appen-
dix und den in ihm enthaltenen Kothstein nachgewiesen worden, dass der
Schleim der äusseren Kothsteinschichten unmittelbar mit dem die Drüsen-
schläuche ausfüllenden zusammenhängt. Die echten Kothsteine sind meistens
rundlich oder länglich-rund, so dass man früher solche Steine vielfach für
verschluckte Kirschensteine hielt; abgesehen davon, dass es wohl möglich ist,
dass unter besonderen Umständen ein Kirschenkern in den Processus vermi-
formis hinein gelangen kann, ist im allgemeinen die Sachlage doch so, dass
es meistens überhaupt nicht gelingt, einen Kirschenkern in den Wurmfort-
satz hineinzutreiben und wenn es in dem Versuche an der Leiche gelingt,
so bedarf es stets einer sehr grossen Kraftanstrengung. Aus demselben Grunde
glauben wir auch; dass die im Appendix gefundenen Kothsteine stets in ihm
selbst gebildet werden und nicht, wie noch vielfach angenommen wird, aus
dem Blinddarme in ihn hinein gelangen. Die wahren Enterolithen im Pro-
cessus vermiformis sind bisweilen recht eigenthümlich zusammengesetzt; so
PARA-PERITYPHLITIÖ. 153
hat man wahre Enterolithen als Ursache der Appendicitis gesehen, welche
aus einer unverdaulichen, verfilzten Masse zusammengesetzt waren, in deren
Maschen fäcale und kalkige Stoöe lagerten, als Hafersteine bekannt, weil sie
vor allem bei ärmeren Leuten, die viel Hafer geniessen, gefunden werden.
Andere wahre Darmsteine bestanden fast ausschliesslich aus kohlensaurem
Kalke, wenn die Leute Jahre lang viel Kreide genossen hatten; unter ähn-
lichen Verhältnissen entstehen Magnesiasteine, Benzoesteine und, wie ich als
die Ursache einer suppurativen Appendicitis gefunden habe, Schellacksteine.
Viel weniger häufig als diese Enterolithen, welche sich im Wurmfortsatz selbst
gebildet haben, sind Fremdkörper, welche in den Appendix hinein gerathen und
unmittelbar zu der Entzündung den Anlass geben. Gallensteine sind mehrfach
als die Ursache der Appendicitis gefunden worden. Nadeln, Fischgräte, Schrot-
körner vermehren die Reihe; einen kupfernen Hemdenknopf fand ich bei der
Section eines an Appendicitis suppurativa ohne Durchbruch rasch verstorbenen
Mannes als Ursache der bis zur Serosa reichenden Verschwärung.
Tuberculöse, typhöse Geschwüre, actinomycotische Infec-
tionen finden sich auch im Processus vermiformis als ursächliche Momente
der Entzündung; man hat weiterhin Geschwüre gefunden, welche von der-
selben charakteristischen Beschaffenheit waren wie das Ulcus pepticum ven-
triculi oder duodeni und deshalb als peptische bezeichnet werden. Man fin-
det auch glaubwürdige Beispiele verzeichnet, dass nach einem Stoss in die
Regio iliaca oder nach einem Falle auf die Fossa eine Typhlitis oder ande-
rerseits eine Appendicitis entstand, wahrscheinlich dadurch, dass die Darm-
wand eine Quetschung erlitt, in Folge deren kleine Partien abstarben oder
die Darmmuskulatur in einen lähmungsartigen Zustand versetzt wurde, so
dass sie den Darminhalt nicht weiter transportirte.
Die Paratyphlitis ist nur ausnahmsweise ein primäres Leiden, fast
ausschliesslich ist sie eine secundäre Erkrankung. Für die primären Formen
findet man als ätiologische Factoren Erkältungen angeführt, ebenso starke
körperliche Anstrengungen, wie Tragen schwerer Lasten, anstrengendes Waschen,
Seilspringen, Ringen; es ist möglich, dass bei körperlicher Ueberanstrengung
das Coecum ungewöhnlich stark an dem retrocöcalen Zellgewebe zerrt (Eich-
hoest) ; eine durchaus befriedigende Erklärung fehlt uns aber, und es scheint
mir, dass die schon an und für sich seltene primäre Paratyphlitis in Wirk-
lichkeit noch viel seltener ist, als angegeben wird, indem manche Formen
nur mit Unrecht als primäre bezeichnet werden. Die secundäre Paratyphlitis
geht fast vorwiegend vom Coecum oder dem Wurmfortsatze aus, so dass in
solchen Fällen die Aetiologie die nämliche ist, welche für die Typhlitis im
weiteren Sinne gilt. Es kann aber auch die secundäre Paratyphlitis einen
anderen, entfernten Ursprung haben, indem das Bindegewebe, welches den
hinteren Theil des Blinddarmes an die Fascia iliaca heftet, unmittelbar im
Zusammenhange steht mit dem Bindegewebe, welches sich nach den Nieren,
dem Becken und den Schenkelringen hin erstreckt. In Folge dessen können
Paranephritis, Pararaetritis, Caries der Beckenknochen oder der Rückenwirbel
eine Paratyphlitis im Gefolge haben, ebenso die Entzündung des Ileopsoas,
welcher Muskel mit der unteren Seite der Fascia iliaca durch das ihn um-
hüllende Bindegewebe verbunden ist. Weiterhin kommt die secundäre Para-
typhlitis im Verlaufe von Masern, Typhus, Variola, Pyämie, Puerperalfieber,
Karbunkeln, Gelenkrheumatismus und Osteomyelitis metastatisch zu Stande;
als Ursache einer Paratyphlitis metastatica habe ich je einmal Milzbrand mi-
kroskopisch und bacteriologisch nachweisen können und Erysipelas faciei mit
mehreren metastatischen Herden in anderen Organen, in beiden Fällen führte
die Paratyphlitis in stürmischer Weise zu rascher Vereiterung; bei der letzten
Erkrankung wies ich die Erysipelcoccen bacteriologisch nach.
154 PÄRA-PERITYPHLITIS.
Die Perityphlitis ist jedenfalls nur in sehr seltenen Fällen primärer
Natur, fast ausschliesslich stellt sie einen secundären Process dar. Als Ur-
sachen der primären Perityphlitis gelten die Erkältungen, das Trauma und
übermässige körperliche Anstrengungen. Die secundäre Form der Perityphlitis
nimmt ihren Ausgang vom Coecum oder Processus vermiformis, in den
schwereren Fällen jedenfalls überwiegend vom Wurmfortsatze, sei es, indem
die Entzündung einfach die Darmwand in ihrer ganzen Ausdehnung durchsetzt
und unmittelbar auf den peritonealen CJeberzug übergreift, sei es dadurch,
dass Geschwürsbildungen in der Darmwand nach der Tiefe zu fortschreiten
und schliesslich zu einer Perforation führen. Secundäre Perityphlitis kann
auch folgen, wenn Typhus-, Tuberkulose- oder Actinomycosis-Geschwüre im
Coecum oder Appendix setzen. Auch ohne primäre Betheiligung der Darmwand
kommt bisweilen eine Perityphlitis zu Stande, wenn Entzündungen benach-
barter Organe, wie Psoasabscesse, Paranephritis, Oophoritis, Abscesse in Folge
von Caries der Wirbel oder Beckenknochen sich ausbreiten, metastatische
Formen der Perityphlitis sind im Verlauf von Infectionskrankheiten bisweilen
gefunden worden.
Als seltenere Ursachen der Perityphlitis kennt man Carcinom des
Coecum oder des Wurmfortsatzes und incarcerirte Hernien,
welche den Processus vermiformis betreffen. In einem Falle meiner Beobach-
tung verursachte eine Actinomycesinfection die Perityphlitis.
Die Typhlitis und Appendicitis, sowie die von ihnen ausgehende Para-
und Perityphlitis befallen weit häufiger das männliche, als das weibliche Ge-
schlecht; hiebei handelt es sich vorwiegend um Personen, welche zwischen
dem 15. und 35. Lebensjahre stehen, bei alten Leuten ist die Erkrankung
viel seltener, ebenso auch bei kleinen Kindern, aber bei den Kindern macht
sich ebenfalls schon ein Prävaliren des männlichen Geschlechtes geltend. An
1030 Fällen von Perityphlitis, welche Mattersock sammelte, sind die Männer
mit 733, die Frauen mit 297 Fällen, also mit 71,1 und 28,87o betheiligt;
72 Beobachtungen im Kindesalter zeigen den Antheil der Knaben mit 70,8%,
den Antheil der Mädchen mit 29,1%, so dass das gleiche Verhältniss im Ge-
schlecht sowohl bei Kindern wie erwachsenen Personen besteht. Je älter die
Kinder werden, umsomehr wächst die Gefahr für diese Erkrankung. Warum
mehr Männer als Frauen erkranken, ist nicht durch anatomische Unterschiede
bedingt, wahrscheinlich ist die unregelmässige und unzweckmässigere Ernäh-
rung der Männer, die unvorsichtigere Lebensweise, die stärkere Betheiligung
an traumatischen Einflüssen zu beschuldigen. Bei jungen Kindern und im
höheren Alter spielt wohl auch die GERLAcn'sche Klappe eine Rolle. Die
GERLACH'sche Klappe ist nämlich in den ersten Lebensjahren sehr schwach
entwickelt, im höheren Alter bildet sie sich zurück, so dass sie rudimentär
wird; hierdurch fällt das Hindernis fort, welches diese im erwachsenen Alter
stark entwickelte Schleimhautduplicatur dem Wiederaustritt von Kothbestand-
theilen aus dem Wurmfortsatze entgegensetzt; die Klappe ist öfters so stark
entwickelt, dass sie mehr als % des Lumen des Processus vermiformis verlegt.
Mit zunehmendem Alter bietet aber auch der Wurmfortsatz regelmässig atro-
phische Veränderungen, welche in einer Verkleinerung und einem Auseinan-
derrücken der vorher dicht gedrängten Schleimhautfollikel, häufig in einer bis
zur Obliteration sich steigernden Atrophie der Schleimhaut bestehen. An
Stelle der Schleimhaut kann ein zartes Bindegewebe treten, während die
Muskellage keine nennenswerthe Veränderung erfährt. Dieser Involutionsvor-
gang ist vollständig unabhängig von einer Entzündung.
Beim jugendlichen Individuum spielt für das Zustandekommen einer Appendicitis der
ausserordentlich grosse Reichthum an adenoidem Gewebe eine besondere Rolle; denn das
adenoide Gewebe der Schleimhaut ist nach Ribbekt und Stöhr Infectionen von der Schleim-
hautseite her besonders zugänglich, weil die physiologische Durchwanderung von Leuco-
cythen, welche bekanntlich nach der freien Oberfläche dieser Theile stattfindet, nicht ohne
PAEA-PERITYPHLITIS. 155
Continuitätsläsionen der bedeckenden Epithelschichten denkbar ist. Da nun der Darm-
inhalt ungemein reich an den verschiedensten Bacterien ist, so ist eine Infection sehr leicht
möglich.
Pathologische Anatomie.
Die einfachste Form der Typhlitis, die Typhlitis stercoralis,
kommt selten zur Beobachtung auf dem Sectionstische, man findet in solchen
Fällen die Schleimhaut im Zustande des acuten Katarrhes, sie ist mehr oder
weniger geröthet, geschwollen; die Hyperämie ist bald diffus, bald nur auf die
Stelle, wo die schädliche Noxe einwirkte, beschränkt. Kleine Blutaustritte
begleiten die heftigeren Formen. In anderen Fällen fehlt die Hyperämie
vollständig, die Schleimhaut sieht trübe, grauweiss aus. Die Epithelien stossen
sich massenhaft ab, sie sind stark getrübt und gekörnt, vergrössert, verfettet;
die Mucosa wird ihres zarten Epithelschutzes beraubt. Eine dicke, graue
Schicht liegt auf ihr, welche vorwiegend aus zähem, dickem Schleim besteht,
in welchem Epithelien und weisse Blutkörperchen eingebettet sind. Oefters
auch sind die Epithelzellen verkleinert, geschrumpft, mattglänzend, kernlos,
verschollt, wie Nothnagel solchen Zustand nennt, bei welchem die Wasser-
entziehung wahrscheinlich diese Metamorphose bewirkt. Je heftiger die Ent-
zündung ist und je länger sie andauert, um so stärker wird die wässerige
Exsudation auf die freie Darmfläche, um so reichlicher der Gehalt an Eiter-
körperchen in der Exsudationsschicht. Alle diese Veränderungen können sich
vollkommen zurückbilden, selbst dann, wenn nicht nur die Mucosa, sondern
auch die Submucosa und Muscularis in den Entzündungsbezirk hinein gezogen
waren. Wiederholen sich solche Entzündungen häufiger, so bildet sich relativ
nur selten die hypertrophische, hyperplastische Form der Entzündung aus,
sondern mit einer gewissen Vorliebe gerade im Coecum das atrophische Bild,
bei welchem nicht nur die Mucosa atrophisch sich darbietet, sondern auch die
Muscularis in den Zustand der Atrophie übergeht. Während aber die ein-
fachen Formen der Typhlitis stercoralis glatt abzuheilen pflegen, entwickelt
sich im anderen Falle gleich von vornherein der Process zu einer schweren
Störung, weil der Druck des harten Concrementes oder des Fremdkörpers
energisch und mehr dauernd einwirkt. Der starke Druck, den das eingekeilte
Concrement auf die Schleimhaut ausübt, bringt ihre Oberfläche leicht zur
Nekrotisirung. Diese Verschwärung in Folge der Drucknekrose kann heilen,
so dass man in der Leiche eine Narbe findet, welche die Mucosa, die Muscu-
laris, selbst die ganze Darm wand durchsetzen kann. Am Wurmfortsatze
machen sich die pathologisch-anatomischen Veränderungen am deutlichsten
geltend, hier ist die Möglichkeit eines permanenten Druckes auf die Schleim-
haut viel grösser, so dass es im allgemeinen im Processus vermiformis viel
leichter und häufiger zur Verschwärung kommt. Selbst die einfache entzünd-
liche Schwellung der Schleimhaut macht sich im Wurmfortsatze mehr als im
Blinddarm bemerklich, weil die Auflockerung und Schwellung der Schleimhaut
das Lumen so sehr verengt, dass nun ein Fremdkörper erst recht fest einge-
klemmt ist, und dieselbe Schwellung an der Mündung des Wurmfortsatzes,
wo das Organ gerade am engsten ist, eine relative Stenose (Rosenheim) her-
vorruft; durch diese Stenose ist die Entleerung des durch die Entzündung
pathologisch vermehrten Secretes in das Coecum behindert oder unmöglich.
Da nun diese retentirte Flüssigkeit stets Fäulnisskeime enthält, so ist hier-
durch der schweren Form der Entzündung, der lebhaften Abstossung der
Epithelien, der Geschwürsbildung, dem Eindringen von Bacterien in die Darm-
wand Thür und Thor geöffnet.
In solch retentirtem Inhalte findet sich vorwiegend das Bacterium coli commune,
das vom Magen nach dem Blinddarme zu in immer grösserer Menge im Darminhalte lebt,
das allein schon für sich Eiterung zu erzeugen vermag und äusserst pathogene Eigen-
schaften besitzt.
156 PARA-PERITYPHLITIS.
Heilen im Wurmfortsatze die Verschwärungen ab, so können die
Narbenbildungen an dem Fortsatze selbst chronische Veränderungen und Ver-
lagerungen im Gefolge haben, welche ihrerseits neue günstige Bedingungen
für die Ketention von Kothmassen, Fremdkörpern, für Secretverhaltung schaffen.
Bei Obductionen findet man in Folge solcher Vernarbungen Abknickungen des
Processus vermiformis, Lumenverengerungen, selbst vollständigen Verschluss
an der Mündung oder unterhalb derselben, so dass das schleimige Secret,
welches der Processus vermiformis producirt, nicht mehr in das Coecum ab-
fliessen kann. Das Secret häuft sich mehr und mehr an, der anfangs zähe
Schleim wird wässerig-serös, die Schleimhaut des Appendix verliert mehr und
mehr ihren specifischen Charakter, es entwickelt sich ein vollständiger Hydrops
IJrocessus vermiformis, welcher eine cystenartige, blasenförmige Vergrösserung
dieses Darmstückes von enormer Grösse bewirken kann; die Darmwand selbst
degenerii't zu einem dichten, schwieligen Gewebe, Man hat solche Säcke von
mehr als Faustgrösse angetroffen.
Es braucht aber nicht unter allen Umständen hinter einer solchen Strictur zu einer
hydropischen oder Schleimansammlung zu kommen, indem das Epithel durch den vorher-
gehenden, entzündlichen Process oder durch eine starke Dilatation so verändert und sogar
völlig zerstört sein kann, dass die Secretion aufhört; dadurch kann eine Art Spontan-
heilung eintreten, selbst dann noch, wenn der catarrhalische Process zu grösserer Ver-
änderung der Schleimhaut geführt hatte.
In der Leiche findet man äusserst selten, dass eine Entzündung sich in
reiner Form ausschliesslich auf das Coecum oder ausschliesslich auf den Pro-
cessus vermiformis beschränkt, in der Regel betheiligen sich beide Abschnitte
zugleich an dem entzündlichen Processe,
Wesentlich verschieden sind die Sectionsbefunde, wenn die Entzündung
nicht zum Stillstande kommt oder die Geschwürsbildungen unaufhaltsam nach
der Tiefe zu vordringen, wenn also die Appendicitis catarrhalis fortschreitet.
Es entwickelt sich dann das anatomische Bild der Perityphlitis. Das
günstigste Bild kommt dann zu Stande, wenn die einfache Entzündung die
Darmwände durchsetzt und die Serosa, den peritonealen üeberzug in den
Entzündungsbereich zieht. In den leichten Formen finden wir ein s er o fibri-
nöses Exsudat, welches zwar auch beträchtlich sein, aber doch sich voll-
ständig zurückbilden kann. Gestaltet sich das Exsudat vorwiegend fibrinös,
so verklebt sehr leicht das Coecum oder der Processus vermiformis mit der
Nachbarschaft, mit benachbarten Darmschlingen, so dass oft grosse Convolute
von Darmschlingen zusammengebacken vorliegen; es handelt sieh also hierbei
um eine circumscripte, einfache Peritonitis. Auch diese Formen gehören noch
in das Gebiet der Appendicitis simplex hinein. Wenn aber die Entzündung
der Appendixwand stürmisch und lebhaft eiterig ist, oder die Geschwürsbildung
in der Darmwand die Ursache der Perityphlitis abgibt — und das ist, wie die
Obductionen lehren, fast stets der Fall — so öffnen sich zwei Möglichkeiten
für den Verlauf: entweder hat die Serosa Gelegenheit gefunden, mit Nachbar-
organen zu verwachsen, ehe die Perforation der Darm wand eine vollständige
wurde, — und die sich bildenden Adhäsionen schaffen nach der Seite des Peri-
toneums hin einen starken Wall selbst dann, wenn die Eiterung schon ausser-
halb des Appendix sitzt, — oder die Perforation trifft das Peritoneum der freien
Bauchhöhle unmittelbar. In letzterem Falle kommt es sofort nach der Arro-
sion der Serosa zum Austritt von Darminhalt in die Bauchhöhle, so dass wir
das Bild von lethal endigender Peritonitis vor uns sehen. Durch die Adhäsion
mit der Nachbarschaft wird eine allgemeine Peritonitis aber meistens ver-
hindert, indem der austretende Darminhalt und Eiter zwischen den verklebten
Darmschlingen aufgehalten wird. In Folge dessen finden wir in solchen Fällen
eine circumscripte Peritonitis mit eiterigem oder eiterig-jauchigem Exsudate, je
nachdem die Darmwand mehr oder weniger gross durchbohrt ist, oder keine
Perforation sich entwickelt. Diese Art der schwereren Entzündung wird als
PARA-PERITYPHLITIS. 157
Appendicitis suppurativa und perforativa bezeichnet. Das Geschick solcher
Eiterherde ist ein sehr mannigfaltiges. Es ist möglich, dass eine solche
eiterige, abgeschlossene Peritonitis vollständig wieder resorbirt wird, sowie
auch das f]mpyem der Brusthöhle resorbirt werden kann. Solche perito-
nitischen Abscesse gelangen in der Weise zur Resorption, dass sie wahrschein-
lich zuerst steril werden und dann langsam verschwinden, was umso leichter
möglich ist, je kleiner der Abscess und je gutartiger die Entzündung war.
Selbstverständlich muss die Ursache der Eiterung beseitigt sein, ehe eine
Resorption des Eiterherdes stattfinden kann. Wenn eine Aufsaugung des
Eiters nicht erfolgt, so kann der Eiter in seiner narbig abgekapselten Um-
gebung eingedickt werden und in Form kleiner, fetter Bröckel zurückbleiben.
Solche Eindickungen kann man aber nicht als wirkliche Heilungen ansehen,
weil in diesen Fällen die Grundlage für Recidive der Perityphlitis geschaffen
ist, indem derartige eingedickte Eiterheerde nicht immer ihre virulenten
Eigenschaften verlieren und so nach langer Zeit ohne äussere Ursache wieder
autleben können. Verschwindet der Abscess nicht, so sucht er in der ver-
schiedensten Weise sich zu entleeren: entweder sucht er seinen Weg durch
die Bauchdecken durch nach aussen, indem die Abscedirung gegen die äussere
Haut zu fortschreitet, die Muskelgefässe durchwühlt und die Haut perforirt,
oder er strebt in ein anderes Organ hinein. Man findet bei Obductionen
deshalb im betreffenden Falle, dass ein solcher peritonitischer Abscess in ein
Darmstück perforirt hat, ja selbst in das Coecum hinein; ich habe einen
solchen Durchbruch in das Duodenum beobachtet; man kann solchen Durch-
bruch des Abscesses in das Darmrohr mit Sahli als eine Selbstdrainirung
durch die vis medicatrix naturae bezeichnen; in anderen Fällen finden Durch-
brüche nach dem Uterus, der Harnblase, dem Rectum, der Vagina statt. Alle
möglichen Wege kann der perityphlitische Abscess einschlagen; er kann die
Scheide des Musculus Ileopsoas durchbohren, den Muskel selbst durchsetzen
und durch den Quadratus lumborum in die Lendengegend gelangen; er kann
auch noch nachträglich in die freie Bauchhöhle hinein perforiren und eine
tödtliche Bauchfellentzündung hervorrufen. Versetzt er das retrocoecale, re-
troperitoneale Bindegewebe in Entzündung oder erfolgt von vornherein der
Durchbruch des Blinddarmes in das retrocoecale Bindegewebe, so dass ein
paratyphlitischer Abscess entsteht, so öffnen sich alle möglichen Wege nach
oben und unten hin. Durchbrüche durch das Zwerchfell in die Pleurahöhle,
in die Lungen, Pyopneumothorax, Perforation in den Herzbeutel, in das Xieren-
becken, Senkungsabscesse an der rechten unteren Extremität sind beschriebene
Sections- und Krankheitsbefunde, selbst aus der rechten Bauchhöhle kann der
Abscess in die linke Bauchhälfte gelangen, so dass z. B. in der Regio linealis
Geschwulstbildungen zur Beobachtung kommen, welche bei der Entleerung
sich als peri- respective paratyphlitische Abscesse herausstellten. Solche
Abscesse enthalten nicht selten nicht nur Darmfetzen und Darminhalt, son-
dern selbst Kothsteine als Fremdkörper, welche den ganzen Process bewirkt
haben.
Recht häufig im Verhältniss setzt sich der perityphlitische Abscess auf eine der
Venenwurzeln aus dem Gebiete der Pfortader (Vena ileocoecalis) fort; diese Pylephlebitis
ist deshalb besonders gefährlich, weil sie durch Metastasenbildung in der Leber den Tod
herbeiführt. Plötzliche Todesfälle klären sich bei den Sectionen gelegentlich dadurch auf,
dass Arrosionen kleinerer oder grösserer Blutgefässe den Verblutungstod herbeigeführt
hatten. So kennt man nicht nur tödtliche Blutungen aus kleineren und grösseren Arterien,
sondern man hat auch den Durchbruch eines perityphlitischen Abscesses in die Vena cava
inferior in der Leiche gefunden.
Die Obductionen klären auch darüber auf, wie häufig das Coecum oder
der Appendix die secundäre Perityphlitis oder Paratyphlitis veranlasst. Sehen
wir ab von den seltenen Fällen, in welchen sich eine primäre Peri- oder
Paratyphlitis entwickelt oder eine solche secundäre Erkrankung durch Ueber-
tragung von benachbarten Organen oder durch Metastasenbildung, wie wir
158 PARA-PERITYPHLITIS.
dieses in der Aetiologie erwähnt haben, zu Stande kommt, in welchen Fällen
die Darmwand von aussen nach innen durchbohrt werden kann, indem sich
die Abscedirung einen Weg in den Darm öffnet, so lehren die Sections-
befunde, dass in neun Zehntel aller Fälle vonPeri-, respective Paratyphlitis
mit tödtlichem Ausgange Perforationen des Coecum, respective des Processus
vermiformis die Ursache abgeben und zwar sind die Perforationen des Appendix
achtmal häufiger als der Durchbruch des Blinddarmes. Bei 275 tödtlichen
Fällen kam die Perforation 245mal auf den Processus vermiformis (Matter-
stock und Fenwick). Die Zahl der Kothsteine als Ursachen der Ver-
schwärung ist vielfach grösser, als die Zahl der Fremdkörper, welche zufällig
in das Coecum oder den Wurmfortsatz hineingelangen; im Durchschnitt kommt
ein Fremdkörper auf 9 oder 10 Kothconcremente; in 23 von uns beobachteten
und obducirten Personen, welche in Folge von perityphlitischen Abscessen
gestorben waren, fanden sich 21mal Perforationen im Processus vermiformis,
2mal im Coecum, 22mal fand sich ein Kothstein und nur einmal ein Fremd-
körper (eine Münze, ein amerikanisches one Dime Stück). In einer ziemlich
grossen Zahl von Obductionen findet man weder harte Kothconcremente noch
Kothsteine, es lässt sich überhaupt keine Ursache für die Perforation finden,
man darf aber als möglich annehmen, dass der Kothstein durch die Perfo-
rationsöffnung in den Abscess gelangte und dort aufgelöst wurde oder zer-
fiel. Es kann aber auch in der Darmwand die Oeffnung dadurch entstanden
sein, dass der ausserhalb des Appendix liegeende Eiterherd die Darmwand
von aussen her durchbohrte, man muss also in solchen anatomischen Befun-
den diese Möglichkeit nicht übersehen. Findet man weiterhin eine eiterige
Perityphlitis, ohne dass die Appendixwand durchbohrt ist, so liegt meist ein
schwerer infectiöser Process vor, ohne dass aber bis jetzt der wirk-
liche Träger der Infection bekannt ist.
In den aus dem Eiter gewonnenen Culturen findet sich vorwiegend der CoUbacillus,
öfters gar in Reincultur, oft auch mit Streptococcen gemischt; im mikroskopischen Bilde
treten aber auch noch andere Bacillen auf, meistens treffen wir verschiedene Formen der
Bacterien an. Am reichlichsten an Bacterien habe ich den Inhalt gefunden, wenn bei
Verschluss der Einmündungssteile des Appendix in das Coecum der gebildete Eiter in dem
Appendixrohre stagnirte und ein wirkliches Empyem des Wurmfortsatzes bildete. Ein
solches Empyem kann den Wurmfortsatz ausserordentlich stark dehnen und wird wohl
schliesslich zu einer Durchbohrung der Darmwand fähren. Mit welcher Leichtigkeit
Bacterien in die Darmwand eindringen, lehrt die Thatsache, dass selbst in der Wand eines
nur catarrhalisch erkrankten Processus vermiformis in den Lymphbahnen auf Schnitten
zahlreiche stäbchenförmige Bacillen nachzuweisen sind. Es erklärt sich daher, dass bei
einer infectiösen Appendicitis nicht nur der Peritonealüberzug rasch in den Kreis der Er-
krankung hineingezogen wird, sondern dass auch die abführenden Lymphgefässe und die
längs den Vasa ileo-colica liegenden Lymphdrüsen sich sehr leicht entzünden.
Als gültigen, für die Prognose und Therapie besonders werthvollen Satz
lässt sich aus dem Obductionsmaterial folgern, dass in den schweren, mit
Eiterung einhergehenden Fällen von Peri- oder Paratyphlitis die Perforation
des Processus vermiformis in Folge von Drucknekrose durch einen Kothstein
die wahrscheinlichste Ursache des Krankheitsbildes darstellt. Der Lieblingssitz
der Ulcerationen bildet das untere Ende des Appendix; in ihm können sich
Oeffnungen von der verschiedensten Grösse und an mehreren Stellen zugleich
bilden, es kann sich ein vollständiges, ringförmiges Geschwür ausbilden, so
dass das untere Stück des Processus vermiformis einfach abfällt; die totale,
ringförmige Necrose kann so dicht an der Einmündung in das Coecum ge-
lagert sein, dass überhaupt der ganze Appendix losgelöst wird und in dem
peritonitischen Abscesse liegt. Im Coecum kommt es in den betreffenden
Fällen als Hegel nur zu einer einzigen Geschwürsbildung.
Von anderweitigen Geschwüren als Ursachen der Perityphlitis finden sich am
häufigsten noch tuberculöse Geschwüre, seltener typhöse Processe und Infectionskrank-
heiten, wie Puerperalfieber; auf 20 tuberculöse Geschwüre als Ursachen einer secundären
Perityphlitis kommen 5 diphtheritische, 4 typhöse Processe, 3mal Puerperalfieber, 3mal
Carcinom des Coecum, je 2mal Caries der benachbarten Knochen und incarcerirte Hernien.
PARÄ-PERITYPHLITIS. 159
Symptome.
Die Symptome der Typhlitis, der Peri- und Paratyphlitis greifen so viel-
fach in einander über, dass meistens eine strenge Absonderung der einzelnen
Entzündungsstellen unmöglich ist, da die einzelnen Entzündungsgrade in ein-
ander übergehen oder schon frühzeitig neben einander bestehen. Gemeinsam
ist allen drei Arten der Erkrankung: der Schmerz, das Fieber und die Intu-
mescenz in der rechten Ileo-coeliaca, zu welchen Verdauungsstörungen als
weiteres Symptom treten.
Die einfachste Form ist die Typhlitis stercoralis; sie beginnt ent-
weder plötzlich oder schleichend. In letzterem Falle gehen dem Ausbruch
tage- und selbst wochenlang schon Zeichen von Verdauungsstörungen voraus;
meistens bestehen diese Vorboten in Verstopfung, welche von Diarrhöen zeit-
weise unterbrochen sein kann, Appetitmangel, Aufstossen, Brechneigung, Er-
brechen, alles Zeichen einer mehr oder weniger schweren Dyspepsie; daneben
bestehen dumpfe Schmerzempfindungen in der lleocoecalgegend, weiche kneifend,
ziehend, bisweilen selbst kolikartig auftreten. Allmählich steigern sich diese
Symptome, bis das volle Krankheitsbild sich entwickelt. Setzt die Stercoral-
typhlitis plötzlich ein, so steigert sich die etwa schon vorhandene Schmerz-
empfindung rasch bis zum unerträglichen, oder wenn keine Vorboten bestanden
haben, tritt überraschend schnell ein äusserst heftiger Schmerz in der rechten
Darmbeingrube auf; jede Bewegung, jeder Druck, jede Berührung des Kranken
steigert den Schmerz, so dass die Kranken eine passive Körperlage im Bette
einnehmen; sie legen sich auf die rechte Seite, beugen den Körper nach vorn
über und ziehen den rechten Oberschenkel nach aufwärts, um die Bauchdecken
zu entspannen und den Druck der Bauchdecken auf den Entzündungsheerd
zu vermeiden. In besonders heftigen Schmerzausbrüchen steigert selbst der
Druck der Bettdecke die Pein; es gibt andererseits aber auch Fälle, in welchen
der Schmerz so gering ist, dass die Patienten sich bewegen und selbst herum-
gehen können; das ist gelegentlich zutreffend, wenn die Stercoraltyphlitis
allmählich und langsam sich entwickelt. Im allgemeinen aber ist der Schmerz
gross und machen die Kranken gleich frühzeitig den Eindruck Leidender.
Bei der Untersuchung des Abdomen findet man ein vermehrtes, stets schmerz-
haftes Resistenzgefühl in der rechten lleocoecalgegend oberhalb des Poupart'-
schen Bandes; die Resistenz ist oft einfach diffus, oft aber grenzt sie sich
schon frühzeitig zu einem Tumor ab. Die Geschwulst ist gewöhnlich länglich-
wurstförmig, meist glatt, fast stets von derber Consistenz ; häufig erscheint sie
auch höckerig, mitunter lässt sie sich eindrücken, sie ist aber immer ungemein
empfindlich; sie erreicht in der Regel nicht ganz das Ligamentum Poupartii,
über welchem sie schräg nach aufwärts, gewöhnlich bis zur Höhe der Spina
anterior superior, 4 — 5 cm von der Mittellinie des Bauches entfernt, aufsteigt.
Dieser Tumor, das wichtigste, objective Symptom der Typhilitis, besteht zum
Theil aus den stagnirenden Kothmassen, zum Theil aus der erheblich ver-
dickten Darmwand, welche in ihren Schichten entzündlich ödematös durchtränkt
ist. Es können aber auch Verklebungen der Darmwand mit den Xachbar-
darmschlingen, selbst ödematöse Durchtränkungen der Bauchwand an der
Tumorbildung sich betheiligen. Die Geschwulst macht sich häufig schon bei
der Betrachtung bemerkbar, indem die rechte lleocoecalgegend stärker vorge-
wölbt ist, als die linke; bisweilen sogar hebt sich die Geschwulst deutlich
unter den Bauchdecken ab. Die Bauchdecke über dem Tumor ist frei ver-
schiebbar. Die Percussion über der Geschwulst gibt einen gedämpft-tympa-
nitischen Schall. Oberhalb des Blinddarmes, welcher durch die stagnirenden
Kothknollen stets verengt ist, im Ileum und später im Jejunum finden be-
trächtliche Gasansammlungen statt, so dass der Bauch stark gespannt erscheint;
der Meteorismus ist häufig so stark, dass das Zwerchfell hochsteht, das Herz
und die Leber nach oben gedrängt sind und die Thätigkeit der Lungen
160 PARA-PERITYPHLITIS.
behindert wird. Die Undurcligängigkeit des Darmes, welcher durch die die
Entzündung begleitende Muskularisparese noch gesteigert wird, hat vielfach
Erbrechen im Gefolge. Das Erbrochene ist anfangs einfacher Mageninhalt,
bald folgen gallige, schleimige Massen und später, wenn die Darmstenose
in Folge der Retention von Fäcalmassen vollständig wird, fäculente Bestand-
theile, so dass sich das volle Bild des Ileus mit Kotherbrechen entwickelt,
ein im Ganzen immerhin sehr seltener Vorgang bei der Stercoraltyphlitis.
Besonders quälend kann für die Kranken der häufige Singultus sein, welcher
Tag und Nacht die Leidenden peinigt und durch die ruckweise, plötzliche
Spannung der Bauchdecken die Schmerzen vermehrt. Die Entwickelung der
Erkrankung wird von schweren, allgemeinen Erscheinungen als Regel begleitet.
Häufig mit einem Schüttelfroste setzt die Fieberbewegung ein, die Tem-
peratur steigt auf 38,5 bis 39, 8*^ C, ohne aber einen eigenthümlichen Typus
zu bieten. Der Puls ist beschleunigt, meistens klein und hart, 100 — 110 an
Zahl, bei starkem Meteorismus irregulär. Die Haut ist trocken, der Gesichts-
ausdruck ängstlich; besteht die Erkrankung mit Fieber mehrere Tage, so sind
die Augen eingefallen, die Zunge, schon vorher belegt, wird trocken, die
Sprache hoch, heiser und flüsternd, ähnlich wie bei der Peritonitis. Der
Appetit ruht gänzlich, dagegen besteht lebhaftes Durstgefühl. Durch reich-
liches Trinken wird das Erbrechen vermehrt. Die Stuhlentleerung ist ange-
halten, zwar werden anfangs noch Kothmassen entleert, welche schon im
Dickdarm unterhalb des Blinddarmes sassen, bald aber ist das Darmrohr
stenosirt, so dass die Kothsäule nicht über das Coecum hinaus kann; die hart-
näckige Obstipation ist daher die Regel; kommen späterhin noch geringfügige
Entleerungen vor, so handelt es sich um schleimige, dünne Massen, welche
im unteren Dickdarm ihren Ursprung haben.
Der Harn wird spärlich entleert, ist stark concentrirt und sehr reich an
Indican; die Indicanprobe nach Japfe (lässt man in ein Reagensgläschen,
welches Harn und reine Salzsäure zu gleichen Theilen enthält, langsam 1 — 3
Tropfen einer frisch concentrirten Chlorkalklösung träufeln, so tritt eine röth-
lichblaue oder tiefblaue Färbung der Harnmischung auf) gibt genaue Auskunft;
der Indicangehalt des Harnes ist aber nur dann für die Diagnose von Belang,
wenn keine künstliche Ernährung per clysma vorgenommen wird, weil die Er-
nährungsklystiere als solche, zumal wenn sie peptonhaltig sind, in Folge ihrer
theilweisen Zersetzung im Darme einen hohen Gehalt an Indican verursachen.
Wenn die Erkrankung einen guten Verlauf nimmt, so fällt rasch das Fieber
in den ersten Tagen ab, der Schmerz verschwindet schnell, Stuhlentleerungen
folgen, der Tumor wird in kurzer Zeit verkleinert, soweit er aus retentirten
Fäcalmassen bestand, und allmählich geht auch die Resistenz zurück, welche
auf der entzündlichen Schwellung und Infiltration der Darmwand beruhte.
Es tritt völlige Genesung, welche häufig auffallend schnell ist, meistens
aber 1 V2 — 3 Wochen Reconvalescenzzeit erfordert, in den meisten Fällen von
Typhlitis stercoralis ein. Kommt aber die Entzündung nicht zum Stillstande,
so halten die Allgemeinerscheinungen und der Schmerz an, die Verschwärungs-
processe verursachen Peri- oder Paratyphlitis oder allgemeine Peritonitis, es
kann hierdurch der Tod eintreten, welcher aber auch schon unter den Er-
scheinungen des Ileus mit allgemeinem Collaps erfolgen kann; in einzelnen
Fällen soll der Tod durch Darmruptur, indem die Dünndarmwand den grossen
Koth- und Gasmassen nicht widerstand, eingetreten sein. Es ist uns aber
mit Recht fraglich, ob solche ernste Störungen durch die einfache Stercoral-
typhlitis bewirkt werden können, ob nicht vielmehr von vornherein eine schwere
Typhlitis vorliegt.
Recidive der Typhlitis stercoralis sind nicht selten und Personen,
welche einmal an einer Typhlitis gelitten haben, erkranken später öfters
wiederum an derselben Störung.
PARA-PERITYPHLITIS. 161
Die Entzündung des Processus vermiformis, die Appeii-
(licitis, ist fast von den nämlichen Symptomen begleitet, >Yelclie die Typhlitis
stercoralis charakterisiren ; ilir Auftreten ist jedocli meistens Iieftiger, plötz-
liclier, acuter. Es felilen aber diejenigen Erscheinungen, welche bei der Blind-
darmentzündung in Folge der Stenose sich entwickeln, also frühzeitiger Meteo-
rismus, hartnäckige Stuhlverstopfung und Kotherbrechen. Gewöhnliches Er-
brechen, Appetitlosigkeit sind mit der Appendicitis verbunden. Eine Geschwulst,
welche der Entzündung des Wurmfortsatzes allein zukommt, ist selten nach-
weisbar, meistens handelt es sich um eine schmerzhafte Druckempfindlich-
keit parallel dem PouPAET'schen Bande oder um eine wenig umfangreiche
Geschwulst.
Als typischer Schmerzpunkt gilt der Mc. BuRNAY'sc/^e Punkt, welcher 2 Zoll einwärts
von der Spina superior anterior auf der Verbindungslinie zwischen ihr und dem Nabel
gelegen ist. Dieser Punkt entspricht ungefähr dem Ansatz des Appendix; ist der Druck
mit der Fingerspitze genau auf diesen Punkt sehr schmerzhaft, so handelt es sich um eine
Appendicitis; da aber die Lage des Processus vermiformis zum Coecum und Blinddarme
nicht constant ist, so lässt dieses Symptom häufig im Stiche. So ergeht es auch mit der
Angabe von Roux, dass bei reiner Appendicitis, also bei leerem Coecum mit tympanitischem
Schall, die Wand des Coecum und des Colon ascendens stark infiltrirt ist und sich wie
eine an feuchten Pappendeckel erinnernde Ptesistenz anfühlt.
Der Percussionsschall in der Fossa iliaca dextra bleibt tympanitisch.
Der Sitz der gesammten Druckempfindlichkeit wechselt gelegentlich in der
rechten Fossa iliaca seine Stelle, je nachdem der Appendix lang ist und seine
Lage ändert. Auch die einfache Appendicitis kann vollständig abheilen, sie
kann aber, wie die Typhlitis, zu secundären, entzündlichen Störungen führen,
oder für dauernde, anatomische Veränderungen wie Stenose, Abknickungen,
Verlagerungen die Ursache abgeben und dadurch für Kecidive den Boden
ebnen, oder sie kann frühzeitig oder später den Tod bedingen.
Das vorher geschilderte Krankheitsbild bezog sich auf diejenigen Fälle,
in welchen Kothmassen die Entzündung verursachten; wenn Fremdkörper das
ursächliche Moment abgeben, so ist das klinische Bild das allernämliche.
Bilden aber typhöse oder tuberculöse oder überhaupt infectiöse Geschwüre
auf der Schleimhaut des Coecum oder Appendix die Veranlassung der Ent-
zündung, so ist es durchaus nicht immer die Regel, dass heftige Schmerzen
in der Fossa iliaca dextra bestehen, eine Druckempfindlichkeit lässt sich
jedoch stets constatiren; eine Geschwulst kommt nur nachträglich zu Stande,
wenn die entzündlich durchtränkte Darmwand selbst verdickt ist und durch
die hierdurch bewirkte Lähmung der Muscularis die Kothmassen anstaut.
Bei der Darmtuberculosis wiederholen sich solche Anfälle gerne, bei den
typhösen und diphtheritisch-dysenterischen Geschwüren sind solche Processe
kaum jemals nur allein auf das Coecum und den Processus vermiformis
beschränkt, sondern auch die anderen Darmabschnitte sind ergriffen und
setzen ihre besonderen Erscheinungen.
Bei der Paratyphlitis fühlt man in der Tiefe eine sehr schmerzhafte,
rundliche Geschwulst, welche ihre Grenzen meistens nur undeutlich erkennen
lässt; bei der Athmung bewegt sie sich nicht, sie ist vom Colon und Darm-
schlingen überlagert; in Folge dessen ist bei leiser Percussion der Schall
tympanitisch, erst bei stärkerem Eindrücken, bei tiefer Percussion wird der
Schall gedämpft. Gerade durch den extraperitonealen Sitz der Geschwulst
treten auffällige Symptome hervor, welche sich durch den Druck des para-
typhlitischen Exsudates auf die aus dem Wirbelcanal austretenden Nerven
erklären: die Patienten klagen über grosse Schwäche im rechten Bein, über
Kältegefühl, Stechen und Ameisenkriechen in ihm, es können sogar sehr
starke neuralgische Schmerzen im Gebiet des Nervus ischiadicus dexter auf-
treten. Durch Druck auf die venösen Stämme ist die rechte Extremität öfters
ödematös. Der rechte Hoden ist zuweilen krampfhaft nach oben gezogen,
manchmal besteht starker Harndrang, Dysurie; gelegentlich auch treten hart-
Bibl. med. Wissenscliaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 11
162 PARA-PERITYPHLITIS.
nackige Erectionen des Penis auf. Die vorliandenen Schmerzen strahlen
sehr gerne nach dem Rücken, der rechten Schulter und der rechten Hand
hin aus. Wenn der paratyphlitische Abscess auf den Musculus Psoas drückt,
so flectiren die Patienten zur Entlastung dieses Muskels das rechte Bein in
der Hüfte und rotiren es nach auswärts. Im günstigsten Falle kommt es zu
einer Resorption des Exsudates, es kann sich aber auch die Entzündung auf
das benachbarte Bindegewebe erstrecken und alle möglichen Wege einschlagen,
welche wir bei der Besprechung der pathologischen Anatomie bereits erwähnt
haben. Bricht der paratyphlitische Abscess in die Harnblase durch, so ent-
leeren sich plötzlich grosse Eitermassen im Harne, bricht er in ein Darmstück
durch, so gehen mit dem Stuhle eiterige, oft rein eiterige Massen ab, während
die Geschwulst sich rasch verkleinert, oder oft plötzlich ganz verschwunden ist.
Man darf aber nicht denken, dass nun jeder Fall von Selbstdrainirung des
Abscesses bei Para- und Perityphlitis durch Durchbruch in den Darm klinisch ohne
weiteres nachweisbar ist; zunächst braucht ein solcher Abscess trotz grosser Schwellung
nicht sehr viel Eiter zu enthalten, wir kennen Fälle, in denen trotz mehr als faustgrosser
Geschwulst, doch nur wenige Cubikcentimeter Eiter den Kern des Tumors bildeten, hier
wird die Eitermenge zu gering sein, als dass man sie ohne weiteres in den Darmentleerungen
nachweisen könnte; es ist auch weiterhin möglich, dass nur eine sehr feine Perforations-
öffnung durch die Darmwand sich bildet, und so langsam in sehr dünnem Strahle aus dem
Abscesse in den Darm der Eiter gelangt, welcher nicht mehr in den Fäces auffindbar
ist; selbst grosse Eiteraustritte können vollständig sogar fiir die mikroskopische Unter-
suchung verloren gehen, wenn der Eiter mit den Stuhlmassen noch tagelang im Darmrohr
verharrt.
Durchbrüche in die Vagina verrathen sich durch starken eiterigen
Ausfluss von oft fäculentem Geruch. Paranephritische, subphrenische Abscesse,
Durchbrüche in die Brusthöhle oder den Hei'zbeutel haben ihre besonderen
Symptome (v. „Para- Perinephritis^' und „Suhphrenischer Abscess"). Der para-
typhlitische Heerd kann auch einfach nach aussen perforiren nach der Bauch-
decke oder dem Ptücken zu oder er kommt unter dem PouPART'schen Bande
zum Vorschein, er kann aber auch in die freie Bauchhöhle eindringen und
eine diffuse Bauchfellentzündung bedingen. Wenn die Appendicitis als Ursache
der Paratyphlitis auftritt, so muss man annehmen, dass die Infectionsbahn
von der Wandung des Appendix an der Ansatzstelle seines Mesenteriolum
in das retrocoecale Bindegewebe führte; der Versuch Körte's beweist diese
Möglichkeit, oder man muss zur Erklärung anführen, dass der Appendix mehr
oder weniger extraperitoneal gelegen sei, was jedenfalls ausserordentlich sel-
ten ist; denn normaler Weise liegt der Wurmfortsatz, welcher von der
inneren Seite des Blinddarmes abgeht, 8 — 10 cm, in Ausnahmefällen selbst
bis zu 20 cm lang ist und mehr weniger gekrümmt erscheint, frei innerhalb
der Bauchhöhle, von seinem Mesenteriolum fixirt; bauchfellfrei ist nur die
Stelle, welche dem Ansatz des Mesenterium entspricht.
Die Perityphlitis zeichnet sich durch sehr heftigen Schmerz aus,
mit Erbrechen, das oft gallig gefärbt ist, verbunden; die Geschwulst liegt sehr
oberflächlich in der rechten Fossa iliaca und gibt schon bei leiser Percussion
einen gedämpften Schall, welcher tympanitisch ist. Wenn das Exsudat vor-
wiegend sero-fibrinös ist, was eine häufige Begleiterscheinung der Typhlitis
ist, so ist die Geschwulst hart, oft bretthart, ihre Begrenzungen ziemlich
unregelmässig; sie hat wenig Neigung, sich zu einer diffusen Peritonitis um-
zuwandeln, lieber ihr kann peritonitisches Reiben fühl- und hörbar sein;
die Geschwulst kann erheblich gross sein, weil nicht nur die Darmw^and,
sondern auch das viscerale und parietale Blatt des Peritoneum sich verdickt,
selbst Verdickungen der Fascia transversa sind bekannt. Zur Bildung eines
fühlbaren Tumor trägt bisweilen sehr viel bei das schürzenförmig sich von
vorne über die Blinddarmgegend ausbreitende grosse Netz, welches dabei in
hohem Maasse verdickt und in eine kuchenförmige Platte, wie Roux es be-
zeichnet, umgewandelt sein kann. Auch der Umstand, dass in Folge der
fibrinösen Verklebung der Theile zu einer compacten Masse dieselben der
PARA-PERITYPHLITIS. 163
Palpation weniger leicht ausweichen können, selbst bei dünner Verklebung,
verdient nach Sahli Beachtung für das Zustandekoöimen einer perityphli-
tischen Resistenz.
Durch Compression der Nerven und Gefässe können auch perityphli-
tische, serotibrinöse Herde Parästhesien, neuralgische Schmerzen und Oedeme
der rechten, unteren Extremität bewirken. Die reine perityphlitische Ent-
zündung folgt der Athmung auf- und abwärts. Wird die Perityphlitis eiterig,
was meistens der Fall ist und sodann fast ausschliesslich auf einer Perforation
des Appendix beruht, so leitet sehr hohes Fieber bis zu 40", mit einem
Schüttelfrost meistens beginnend, das Krankheitsbild ein; die Schüttelfröste
können sich wiederholen, das Fieber bleibt acht und mehr Tage lang an-
haltend hoch, der Puls ist elend, 120 — 140 an Zahl, das Gesicht zeigt das
fatale ominöse Bild der Facies aMominalis, die Athmung ist beschleunigt,
die Zunge trocken, was übrigens auch durch das Opium bewirkt werden kann,
der Harn enthält viel Indican und oft Eiweiss. In Folge der peritonitischen
Reizung tritt rasch eine Aufblähung der Darmschlingen und Ausdehnung des
Bauches ein, deren Zunahme man oft mit dem Centimetermaasse vom Morgen
bis zum Abend nachweisen kann. Erbrechen gesellt sich hinzu und ge-
wöhnlich schon nach wenigen Stunden ist in der rechten Darmbeingegend
eine tauben- bis hühnereigrosse, äusserst schmerzhafte, ziemlich scharf be-
grenzte Resistenz palpabel, welche sich wenigstens in den ersten Tagen nur
sehr langsam vergrössert. Solche Abscesse können verschiedene Ausgänge
erleiden. Entweder bleiben sie lange, oft selbst Monate, selbst Jahre lang ab-
gekapselt in der Darmbeingrube zurück und können bei geringen Anlässen
exacerbiren, oder sie werden resorbirt, oder endlich sie nehmen an Grösse zu
und suchen sich nach aussen oder in andere Organe zu entleeren. Durch-
brüche nach aussen, mit Vorliebe nach vorn durch die Bauchdecken mit Bei-
seiteschiebung der Dünndärme, sind relativ günstig; ungünstiger sind Durch-
brüche in den Darm selbst; sehr gefährlich sind Perforationen in andere innere
Organe, wie Pleurahöhle und Pericard; tödtlich verläuft die Perforation in
die freie Bauchhöhle, die Arrosion von Blutgefässen mit nachfolgender innerer
Verblutung, die Thrombosis von Mesenterialvenen mit secundärer Pylephle-
bitis und consecutiver Leberabscedirung und Pyämie.
Diagnose.
Das in den meisten Punkten den Erkrankungen an Typhlitis, Para- und
Perityphlitis gemeinsame Krankheitsbild erschwert die klinische Trennung der
vorliegenden Störungen; im Ganzen kommt man sehr selten in die Lage, die
Typhlitis im einfachen Sinne von der Appendicitis unterscheiden zu können,
da beide Erkrankungen gewöhnlich zusammen auftreten, so dass die meisten
Autoren unter Typhlitis die Entzündung des Coecum und des Appendix ge-
meinsam verstehen. Aehnlich verhält es sich mit der Para- und Perityphlitis,
welche ebenfalls gewöhnlich combinirt vorkommen, da selbst in den seltenen
Fällen der Paratyphlitis die Infectionskeime mit Leichtigkeit zwischen die
Blätter des Mesenterium gelangen, wo ein reich entwickelter Lymphdrüsen-
apparat ihrer harrt und den Weg auf das Peritoneum ermöglicht; das umge-
kehrte Verhalten ist ebenso leicht. Erinnert man sich weiterhin daran, dass
überhaupt fast ausschliesslich die Para- und Perityphlitis sich einer beste-
henden Erkrankung des Coecum und Appendix zugesellen und aus ihr ent-
wickeln, so schrumpft die Zahl der Krankheitsbilder, in denen die eine oder
andere Form der Erkrankung überwiegend vorherrscht, noch mehr zusammen.
Mit der Diagnosis Perityphlitis ist fast immer eine Typhlitis und Appen-
dicitis zugleich constatirt und in dem grössten Bruchtheile der eiterigen,
schweren Form eine Perforation des Processus vermiformis als Ursache der
Erkrankung.
11*
164 PARA-PERITYPHLITIS.
Die Diagnose der Typhlitis, Appendicitis, Para- und Perityphlitis baut
sich gemeinsam auf deli drei Cardinalsymptomen: localisirter Schmerz in der
rechten Fossa iliaca, Geschwulst und functionelle Störungen des Verdauungs-
apparates (Erbrechen, Obstipation, Meteorismus) auf. Am deutlichsten finden
sich diese Symptome bei der Typhlitis; ob aber neben ihr der Wurmfortsatz
auch noch erkrankt ist, bleibt klinisch nicht nachweisbar; pathologisch-anato-
misch wissen wir, dass es gewöhnlich der Fall ist. Ebensowenig können wir
nachweisen, wenn sich zu der Typhlitis eine nur geringe Perityphlitis gesellt.
Die Appendicitis macht für sich allein wenig charakteristische Symptome,
Druckschmerz und Kesistenz sind in der Piegio iliaca dextra vorhanden, Me-
teorismus und Kothbrechen fehlen.
Für die Perityphlitis spricht die Heftigkeit des Schmerzes, die Schwere
des Krankheitsfalles, die Druckerscheinungen auf Nerven, Blutgefässe und
Muskeln, der Harndrang und das Erbrechen; die Geschwulst liegt vor dem
Colon und den Darmschlingen, sie ist sehr lange Zeit in der Kegio iliaca
dextra fühlbar und oft steinhart. Ob die Exsudation sero-fibrinös ist oder
mehr eiterig, das zu unterscheiden, gelingt meistens an der Hand der Fieber-
bewegung, indem hohes Fieber, welches anhaltend besteht und durch Schüttel-
fröste zeitweilig unterbrochen wird, für den eiterigen Charakter spricht; als
diagnostisches Hülfsmittel kommt auch die Probepunction in Betracht. Gelingt
es bei der Probepunction nicht, Eiter zu entleeren, so spricht dieses nicht
gegen eine eiterige Entzündung, weil in dem Abscess der Eiter geschichtet
sein kann, so dass die Punctionsnadel vielleicht nur die obere seröse Flüssig-
keit zu Tage fördert. Ein rein eiteriges, nicht riechendes Exsudat bei der
Function entleert, beweist, dass eine Darmperforation nicht als ursächliches
Moment der Perityphlitis vorliegt oder doch nur eine minimale Perforations-
öffnung, welche sich vielleicht schon wieder bald geschlossen hat; ist der
Abscesseiter jauchig, fäculent riechend, so besteht eine Durchbohrung der
Darmwand. In solchen Fällen fühlt man häufig bei der Palpation ein quatschen-
des Geräusch durch Mischung von Gas und Flüssigkeit im Abscesse bedingt.
Der paratyphlitische Tumor liegt hinter dem Colon oder den Dünndarmschlingen;
ist er aber sehr gross, so comprimirt er das Colon, in welchem sich der Koth
staut, so dass selbst bei leiser Percussion der Schall gedämpft wird und alle
Erscheinungen der Darmstenose folgen können, welche sonst der Paraty-
phlitis fehlen. Wir sehen also, dass es im allgemeinen sehr leicht ist, eine
Typhlitis und Para- wie Perityphlitis gemeinsam zu diagnosticiren, aber den
eigentlichen Ausgangspunkt der Erkrankung können wir nur selten am Leben-
den erkennen; klinisch ist es auch werthlos, da wir durch die Sectionen und
die neuere Chirurgie wissen, dass die echte, schwere Perityphlitis fast stets
durch eine Perforation des Wurmfortsatzes bedingt ist.
Differentiell diagnostisch müssen wir auf einige Krankheits-
bilder, zum Theil gleicher Art, eingehen. Den Anlass zu Verwechslungen kann
die einfache Kothanhäufung, die Coprostasis im Coecum geben, die Geschwulst
ist aber gar nicht oder nur sehr gering schmerzhaft auf Druck. Die Con-
sistenz, die active und passive Beweglichkeit der Knollen bei Verschiebungs-
versuchen oder Darmanregungen, bei Massage oder leichten Abführmitteln,
das Fehlen von Fieber und allen entzündlichen Erscheinungen klären baldigst
und leicht die einfache Kothanhäufung auf. Den Anlass zu Verwechselungen
kann das Carcinom des Coecum abgeben. Die Carcinome aber kommen vor-
zugsweise erst im höheren Lebensalter vor, während die Typhlitis und Peri-
typhlitis das jugendliche und kräftige Alter befällt; die Neubildungen ver-
laufen weiterhin sehr langsam; der Kräfte verfall, die Krebscachexie schreiten
stetig aber langsam voran, der Tumor ist später uneben, höckerig; Metastasen
sind nicht selten. Dennoch kommt es vor, dass alte perityphlitische Eiter-
herde mit unebenen, harten Wandungen Carcinomen so täuschend ähnlich
PARA-PERITYPHLITIS. 165
sind, dass selbst sehr erfahrene Aerzte erst bei der Operation ihren Irrthum
erkannten. Die Invagination des Ileum in den Blinddarm, welche auch den
Darm imdurchgängig macht, gibt ebenfalls den Anlass zu Verwechselungen;
sie liefert aber eine für die Palpation elastisch erscheinende glattcylindrige,
länglich-wurstförmige Geschwulst, welche meistens einen absolut dumpfen
Schall gibt; der Intussusception gehen in der Regel anhaltende Diarrhöen
vorher, schleimigeiterige, blutige Darmentleerungen folgen der Geschwulst-
bildung, die Ileussymptome entwickeln sich frühzeitiger und stürmischer; die
Diagnose ist durchaus sicher, wenn das invaginirte Dünndarmstück schliesslich
vom Rectum aus zu fühlen ist, oder nach einigen Wochen brandig geworden,
mit dem Stuhle entleert wird. Die heftigen Schmerzausbrüche, welche die
acut einsetzende Typhlitis und Perityphlitis begleiten, haben eine grosse
Aehnlichkeit mit Gallenstein- oder Nierensteinkoliken; indessen ist bei der
Gallensteinkolik der Sitz der Schmerzhaftigkeit stets höher als bei dem
Coecumschmerz, auch enthält der Harn frühzeitig Gallenfarbstoffe oder es ent-
wickelt sich Icterus, während die Nierensteinkolik, abgesehen von dem ver-
schiedenen Sitze des Schmerzes, von Haematurie ausgezeichnet wird. Entwickelt
sich die typhlitische oder para-, resp. perityphlitische Geschwulst sehr langsam,
so hat man sich zu schützen vor Verw^echselungen mit anderen Unterleibs-
tumoren, welche unterhalb des Nabels sitzen. Zunächst ist hier die Wander-
niere zu erwähnen, welche bis in die rechte Fossa iliaca hinuntersteigen kann:
die bohnenförmige glatte Gestalt, der Mangel von Darmerscheinungen, die
grosse Beweglichkeit der Wanderniere, so dass sie oft vorhanden, oft für lange
Zeit verschwunden ist, oder bei Lagewechsel rasch in den Bauchraum ent-
schlüpft, die gelegentlich fühlbare Pulsation der Nierenarterie sichert vor
Verwechselungen; schwieriger ist es schon, wenn die in die reche Fossa iliaca
gewanderte Niere fixirt wurde, doch kann man nur kurze Zeit schwanken,
der Verlauf wird sehr bald die Diagnose klären. Nierentumoren liegen gleich
den Ovarialtumoren und Retroperitonealtumoren, von welchen die Para- und
Perinephritis speciell zu erwähnen sind, stets hinter den Darmschlingen, das
Colon ascendens überlagert sie seitlich und hebt sich durch seinen lauten
tympanitischen Schall ab, die Aufblähung des Colon mit Luft lehrt dieses auf
das schlagendste, es können kleine Geschwülste gänzlich bei der Aufblähung
des Colon verschwinden, während bei grossen Geschwülsten ein Theil der Ge-
schwulst nach rechts, also nach innen vom Colon, palpabel bleiben und ge-
dämpften Percussionsschall geben kann. Bei Nierentumoren gibt auch die
chemische und mikroskopische Harnuntersuchung wichtige Unterscheidungs-
merkmale, während Ovarialtumoren und parametrische Abscesse bei der
combinirten Untersuchung von der Vagina und den Bauchdecken, eventuell
auch vom Mastdarme aus, im Verein mit der Anamnese sicher erkannt werden
können. Kommt es bei solchen Tumoren durch Druck auf das Colon zu einer
Kothansammlung in das Colon ascendens, so sind in der Regel die knollen-
artigen, eindrückbaren Scybala leicht von dem unter dem Colon liegenden
Tumor zu unterscheiden. Die Tuberculosis und der Krebs der mesenterialen
Lymphdrüsen liefern stets zahlreiche, verschiebbare Knoten, welche auch
meistens höher hinauf nach dem Nabel zu sich finden; die retroperitonealen
tuberculösen und carcinomatösen Knoten sind ebenfalls multipel, aber unbe-
weglich und meistens bis zur Wirbelsäule hin nachweisbar. Senkung sabscesse
von der Wirbelsäule oder dem Beckenknochen her, setzen Veränderungen an
diesen Knochen voraus, sie haben nur höchst selten einen Einfluss auf die
Darmthätigkeit. Endlich kommen noch für uns die Entzündung und Abscess-
bildung des Musculus Psoas in Betracht; bei der Psoitis, bei welcher ebenfalls
die Darmerscheinungen und die peritonealen Reizerscheiuungen fehlen, treten
frühzeitig die Flection und Rotation des rechten Oberschenkels hervor und
die ausserordentliche Schmerzhaftisrkeit bei Beweffun^en des rechten Beines.
166 PARA-PERITYPHLITIS.
Der Psoasabscess strebt ausserdem fast stets nach unten zu der vorderen oder
inneren Schenkelfläche. Man soll es sich zur Regel machen, bei jeder Art
der perityphlitischen Erkrankung beim Manne vom Mastdarme aus, bei
der Frau von der Vagina her die Untersuchung zu vervollständigen;
unsere Erfahrung lehrt, dass wir bei dieser bimanuellen Untersuchung selbst
dann schon perityphlitische Tumoren oder eine vorher zweifelhafte Resistenz
mit Sicherheit nachweisen und so den Modus der Behandlung einrichten
konnten, wenn wir vorher keinen Tumor festzustellen in der Lage waren.
Prognosis.
Jede Blinddarmentzündung ist eine schwere Erkrankung, da ihr Verlauf
gänzlich unberechenbar ist; am günstigsten ist die Prognosis bei der Typhli-
tis stercoralis. Die Appendicitis simplex catarrhalis gibt eine wesentlich un-
günstigere Voraussage, die Genesung ist bei beiden Formen möglich, bei der
einfachen Typhlitis stercoralis sogar die Regel, aber gerade bei der Entzün-
dung des Wurmfortsatzes bilden sich ausserordentlich häufig Verschwärung
und Perforationen aus und selbst bei der Heilung bedingen die häufigen Ver-
lagerungen, Verwachsungen, Abknickungen eine stetige Gefahr für Recidive.
Die Para- und Perityphlitis bieten gleich wie die Appendicitis suppurativa
eine sehr ernste Prognose, im günstigsten Falle ist der Verlauf sehr lang-
wierig, Monate lang dauernd, die Durchbrüche nach aussen sind relativ
günstiger als die Durchbrüche nach inneren Organen; die allgemeine Perito-
nitis, pyämische Metastasen, Durchbrüche in den Herzbeutel geben die un-
günstigste Prognosis, jede Hoffnung ist hier ausgeschlossen. Noch nach Jahren
kann ein abgekapselter peri- oder paratyphlitischer Eiterherd wieder auf-
leben oder plötzlich irgendwo durchbrechen. Im allgemeinen schwankt die
Mortalität bei Peri- und Paratyphlitis zwischen 25 — 80*^/0, bei Kindern steigt
gar die Sterblichkeitsziffer nach der MATTERSTOCK'schen Tabelle auf 707o5
in den ersten fünf Lebensjahren ist die Perityphlitis fast absolut lethal.
Diese Statistiken sind aber wesentlich auf den Erfahrungen im Krankenhan.se auf-
gebaut, sie leiden daran, dass die leichten Fälle überhaupt nicht in das Hospital kommen,
sondern in der Hand des Hausarztes bleiben; dieses beweist so recht die Statistik von
Sahli, welcher die Erfahrungen Yon 466 praktischen Aerzten der Schweiz durch Frage-
bogen ^sammelte und dadurch ein Material von 7213 Fällen von Perityphlitis erhielt; von
diesen Erkrankten wurden operirt 473 Personen mit 101 Todesfällen oder 21%; nicht
operirt wurden 6740 Fälle mit 591 oder 8'8°/o tödtlichen Ausgängen, während von den
Operirten 78'7"/„ genasen und von den Nichtoperirten 91'2% heilten. Bei 4593 Personen
kamen 3635 mal oder in 792% die Heilungen ohne Recidive vor, mit Recidiven in 20'8''/o.
Von 2000 innerhalb der letzten 6 Jahre in der deutschen Armee beobachteten Erkrankungen
an Perityphlitis gingen ohne Operation 96% in Heilung über.
Therapie.
Die prophylactischen Bestrebungen verfolgen den Zweck, vor allem
bei Leuten mit sitzender Lebensweise und habitueller Darmträgheit, für eine
vorsichtige Ernährung und geregelte Stuhlentleerung zu sorgen. Die Er-
nährung solcher Leute muss alle Stoffe bei Seite lassen, welche wenig
verdaut werden, deren unverdaute Bestandtheilö die Darmwand mechanisch reizen
und voluminöse Kothmassen bilden. Hülsenfrüchte, vor allem mit den Hülsen
verzehrt, Kartoffeln in grosser Menge und in grossen Stücken, grosse Mengen
von Kohlgemüsen, hartes, sehniges Fleisch, reichliche Brodnahrung, viele
Kerne enthaltendes Obst, wie Stachelbeeren, sind deshalb vorwiegend zu
meiden; die Stuhlentleerung ist durch leichte Abführmittel anzuregen, Maass-
halten in körperlichen Anstrengungen vorzuschreiben und alle Erkältungs-
gelegenheiten sind zu meiden. Auf diese Punkte ist speciell bei Kindern zu
achten, es scheint auch, dass in einzelnen Familien eine gewisse Disposition
für die Perityphlitis besteht, auch hier ist jede Unregelmässigkeit der Darm-
thätigkeit zu überwachen. Um so dringender erfordert die Prophylaxis, vor-
PÄRA-PEEITYPHLITIS. 167
sichtige Diät und geregelte Darmthätigkeit, wenn schon einmal eine Typhlitis
oder Perityphlitis bestanden hat; selbst die einlache Typhlitis stercoralis lässt
sehr gerne eine Schwäche der Blinddarmmuscularis zurück, so dass die Gefahr
eines Recidives schon bei ihr sehr gross ist.
Die eigentliche Therapie der Entzündung des Blinddarmes und seiner
Umgebung strebt nach der Erfüllung der beiden Indicationen: Entfernung
der stagnirenden Kothmassen, welche in den meisten Fällen die Entzündung
verursacht haben und unterhalten, und Verhinderung der Ausbreitung der
entstandenen Entzündung. Am meisten kann man diesen beiden Principien
nachkommen, wenn man eine einfache Typhlitis stercoralis vor sich hat. In
ganz frischen Fällen von Typhlitis stercoralis, welche mit deutlichem Koth-
tumor in der rechten Ileocoecalgegend einhergehen, macht man zweckmässig
von milden Abführmitteln Gebrauch; als solche empfehlen sich das Rheum
infus. (lO'O : löO), Oleum Ricini entweder esslöfielweise (2 — 3) unverändert
oder emulgirt (Ol. Ricini 45'0. Gi. arah. o'O Aqu, destillat. loO'O. Syr. menth.
20' 0. MDS.: Esslöffelweise); man kann auch mit gutem Erfolge Calomel 0'5
bei Erwachsenen anwenden.
Von der Anwendung kräftiger Abführmittel ist unter allen Umständen
abzurathen, weil sie durch die energische Darmbewegung Verklebungen zer-
reissen oder Durchbrüche beschleunigen können. Ist die Typhlitis stercoralis
schon einige Tage alt oder liegt der Verdacht einer Mitbetheiligung des peri-
tonealen Ueberzuges vor oder besteht heftiges Erbrechen, so sind die Abführ-
mittel, auch die sanft wirkenden gänzlich zu meiden. Man soll aber auch
dann noch die stagnirenden Kothmassen zu entfernen streben, und dieses
geschieht am besten durch reichliche, grosse Eingiessung von kaltem Wasser
oder Oel; besteht nur geringer Schmerz, so kann man Eiswasser irrigiren.
Die Darminfusionen, womöglich mit einem weichen Darmrohr eingebracht,
muss man mehrmals am Tage wiederholen, bis wiederholte, reiche Stuhlent-
leerung erfolgt ist; die Infusionen sind auch aus dem Grunde zu erneuern,
weil häufig das untere Ende der stagnirenden Kothsäule sich sehr erhärtet
hat und erst allmählich aufgeweicht werden muss. Die Irrigation, wenigstens
1 — 2 Liter reich, lässt man am besten in Knieellenbogenlage oder in Rücken-
lage mit erhöhtem Becken, unter ziemlich hohem Druck vornehmen. Wenn
reichliche Stuhlentleerung erfolgt ist, so gilt es, den Darm möglichst ruhig
zu stellen und hier tritt das Opium in sein Recht. Wenn man nicht der
Diagnose Typhlitis stercoralis ganz sicher ist, so ist auf jeden Fall der einzig
richtige Weg derjenige, auf alle, selbst die harmlosesten Abführmittel und
Darmeinläufe zu verzichten und sofort zur Opiumbehandlung überzugehen.
Im Ganzen ist es gleichgiltig, welches Präparat man gibt; im allgemeinen
wenden wir Opium purum 0-03 — 0"05 viermal täglich beim Erwachsenen an
oder die einfache Tindura opii simplex 4mal täglich 15 — 20 Tropfen; zu
warnen ist vor der übermässigen Anwendung des Opium, die Dosen müssen
nur so gross sein, dass die Darmbewegungen aufhören und der Schmerz nach-
lässt. Ist der Schmerz auch bei ruhender Peristaltik sehr heftig, so darf
man eine Morphiumeinspritzung (O'Ol pro dosi) am Sitze des Schmerzes aus-
führen, auch bevor man den Versuch der Entfernung der Kothmassen ver-
mittelst der Einlaufe gemacht hat. Bei hartnäckigem Erbrechen gibt man
das Opium purum als Stuhlzäpfchen. Die Entzündung wird v^^eiterhin bekämpft
durch Application von Eis oder halten Compressen ; allerdings wird diese oft
nicht von den Patienten vertragen, es steigert vielmehr den Schmerz durch
die Schwere des Eisbeutels oder der nassen Compressen, oder regt trotz Opium
die Peristaltik an. In solchen Fällen beseitigen oft warme Aufschläge oder
Cataplasmen den Schmerz. Eine Regel, wann der Eisbeutel, wann die Wärme
am Platze ist, gibt es nicht, es entscheidet hier das Empfinden des
Patienten selbst. Der locale Schmerz wird auch durch örtliche Blutent-
168 PARA-PEßlTYPHLITIS.
Ziehung in Form von Blutegeln (8—10 Stück) günstig beeinflusst. Die Pa-
tienten gehören natürlich in das Bett, ihre Ernährung darf nur flüssig sein,
also wesentlich nur aus Milch, Bouillon mit Ei, Fleischsaft, Peptonen, Somatose
bestehen. Ist es gelungen, die harten Kothmassen zu entfernen, so lassen
das Fieber, der Schmerz und die Stenosenerscheinungen des Darmes rasch
nach, und man darf nach 8—12 Tagen annehmen, dass die Haupterscheinungen
der Entzündung vorüber sind; man muss aber trotzdem noch auf Bettruhe
und absolut flüssige Diät dringen; so lange noch eine Druckempfindlichkeit
der Ileocoecalgegend, vor allem an dem Mc. BuENEY'schen Schmerzpunkte,
vorhanden ist, muss die Diät leicht verdaulich bleiben und jede brüske Be-
wegung vermieden werden.
Handelt es sich nach der Untersuchung um eine wirkliche Appendicitis,
sei es die einfache catarrhalische, sei es die suppurative, so ist dringend vor
der Anwendung von Abführmitteln zu warnen; man gebe vielmehr frühzeitig
Opiate, denn wegen der gerade hier drohenden Perforation ist die Euhig-
stellung des Darmes die erste und wichtigste Pflicht. Absolute Ruhe, absolut
flüssige Ernährung sind hier erst recht am Platze. In ausgesprochenen Fällen
sehe ich selbst von der Ernährung in flüssiger Form per os ab, indem ich,
bis die stürmischen Erscheinungen schweigen, nur per anum Nahrung und
Wasser zuführe. Antipyretische Verordnungen sind gänzlich zwecklos, sie
können vielmehr schaden, weil sie ein falsches Bild des Fieberverlaufes geben
und die Bedingungen für eine Operation verdunkeln. Der Versuch, ver-
mittelst eines leichten Eisbeutels die Entzündung zu hemmen, ist nicht zu
unterlassen. Auch bei der Paratyph litis sind Abführmittel contraindicirt,
während die Anwendung des Opium zu Recht besteht. Irrigationen sind bei
ihr nur dann am Platze, wenn man Kothmassen fühlt oder Erscheinungen
der Darmstenosis bestehen; es empfiehlt sich aber, anstatt des kalten Wassers
lauwarmes Wasser zu nehmen, welches die Darmperistaltik weniger energisch
anregt, aber doch die Kothmassen erweicht und weiter befördert. Die An-
wendung der Opiate wird durch diese Einlaufe nicht aufgehoben. Man sieht
oft schon beim einfachen Gebrauch des Opium eine vordem bestehende
Stuhlverstopfung schwinden, wie ich vermuthe deshalb, weil durch das Opium
ein krampfartiger Zustand der Darmwand, welcher am Sitze der Koth-
concremente in Folge der durch diese ausgelösten Entzündung die Kothballen
noch fester umklammert, aufgehoben wird und diese Krampfstenosis der nach-
rückenden Kothsäule kein Hindernis mehr entgegensetzt. Die Einführung
des Opiums in die Therapie der Peri- und Paratyphlitis ist ungemein segen-
spendend gewesen; vor diesem Zeitpunkte betrug die Sterblichkeit 79"57o-
Der Verlauf derPara-, respective Perityphlitis bestimmt die folgende Art der
Behandlung. Lässt das acute Stadium der Entzündung nach, was sich durch
Abnahme der Schmerzhaftigkeit, Verminderung der Geschwulst, Nachlass des
Fiebers und Steigen des Allgemeinbefindens zeigt, wobei es sich wohl über-
wiegend um eine seröse, oder sero-fibrinöse Peritonitis ohne Perforation der
Darmwand handelt, so wendet man zur Beschleunigung der Resorption warme
Cataplasmen an; demselben Zwecke dienen die Einreibungen mit TJnguentum
hydrargyri cinereum, TJnguentum Kalii jodati, Jodoformsalbe (Jodoform 5"0,
Vaselin 100*0), Sajyo viridis, die Pinselungen mit Tinctura Jodi und Jodoform-
collodium (Jodoform 2-0 Collodium elasticum oO'O) und die Einbringung von
Vesicatoren. Die flüssige Diät und die Bettruhe müssen streng wochenlang
durchgeführt werden; erst wenn der Tumor fast verschwunden ist und keine
Schmerzhaftigkeit mehr besteht, darf man an eine breiige Ernährung sich
wagen und der flüssigen Ernährung ein wenig Zwieback, Cakes, geschabtes
Fleisch, feingehackten Schinken, weichgekochte Eier zusetzen. Unausgesetzt
ist die Darmthätigkeit zu controlliren, jeden zweiten Tag muss ein Einlauf
gemacht werden, um jeden Druck auf die noch empfindlichen Stellen im Darm
PARA -PERITYPHLITIS. 169
ZU vermeiden. Erst sehr spät darf man zu milden Al)fiihrmitteln übergelien,
die Kranken dürfen erst dann aufstehen, nachdem die Schmerzhaftigkeit
gänzlich aus der Blinddarmgegend geschwunden ist. Bleiben Verdickungen
zurück, so sucht man durch warme Bilder^ Soolhäder, Moorhäder, Sahtvasser-
umschläge die Aufsaugung anzustreben; auch vorsichtige Massage bezweckt,
die Verdickung und die Exsudatreste zur llesorption zu bringen. Die Massar/e
ist für mich aber bei den Residuen der Perityphlitis stets ein zweischneidiges
Schwert. So wie aber späterhin aus irgend einem Grunde sich wieder
Schmerzen einstellen, lege man sofort den Patienten in das Bett und be-
handele ihn grade, als ob eine neue Entzündung entstanden wäre. Während
der ganzen lleconvalescentenzeit darf man die symptomatische Therapie, An-
regung des Appetites und Hebung der Körperkraft nicht aus den Augen
lassen. Nimmt die peri- oder paratyphlitische Entzündung den Charakter
eines Eiterherdes, eines Abscesses an, ist also eine circum Scripte, fluctuirende
Geschwulst vorhanden, so ist die Eröffnung dieses Herdes sofort und dringend
geboten; man braucht nur an alle die bösen Folgezustände zu denken, welche
ein solches Exsudat, nach einem Durchbruch irgendwo strebend, nahe rückt,
um mit einem chirurgischen Eingriffe der breiten Eröffnung nicht zu zögern ;
so lange ein Herd besteht, ist die Gefahr eines Recidives alltäglich vor-
handen.
In den letzten Jahren spielt die Chirurgie überhaupt eine grössere
Rolle auf dem Gebiete der Behandlung der Peri- und Paratyphlitis. Sicher
ist die Eröffnung mit dem Messer da am Platze, wo ein vorhandener Abscess
zu spalten ist.' Die begeisterten Anhänger der Chirurgie verweisen aber
überhaupt jede Perityphlitis auf den Operationstisch, weil nur die Chirurgie
im Stande sei, eine sichere Heilung zu erzielen, ohne dass Recidive zu be-
fürchten seien; selbst wenn sich bei der Operation kein Eiter finde, so sei
die Operation gänzlich ungefährlich und gerade von dieser Operationsfläche
her könne später sehr bequem der kommende Eiterherd aufgefunden werden
(zweizeitige Operation Sonnenburg's); die Operation sei möglichst frühzeitig,
in den ersten Krankheitstagen vorzunehmen, da die gefährliche Perforations-
peritonitis häufig schon zwischen dem 2. und 4. Krankheitstage auftrete.
Diesen Ausführungen ist entgegen zu halten, dass eine sehr grosse Zahl von
Spontanheilungen gesehen wird und dass gerade durch eine Operation bereits
gebildete Verwachsungen gelöst werden können, wodurch sehr leicht Darm-
inhalt in die Bauchhöhle sich ergiesst und dass oft genug selbst die bedroh-
lichsten Erscheinungen bei interner Therapie rasch zurückgehen und eine
Perforationsperitonitis durchaus nicht immer zu erwarten steht. Es ist aber
andererseits zu eng gedacht, wenn man nur dort eine Operation zulassen
will, wo man eine deutliche Fluctuation fühlt; wenn man vermittelst der
Probepunction Eiter nachweist, so soll der Abscess eröffnet werden, aber
selbst wenn dieses nicht möglich ist, so muss nach unserer Meinung die
Operation ausgeführt werden, wenn durch die Länge der Krankheit Collaps
sich einzustellen beginnt, die drohende Perforation in die Bauchhöhle sich
anzeigt und der Beus den absoluten Darmverschluss bekundet; ebenso sind
chirurgisch zu behandeln die Fälle, wo hartnäckige Fieberbewegung mit
Schüttelfrösten und Cyanosis auftreten und den schwer infectiösen Charakter
verrathen. Was die chirurgische Behandlung der Recidive anlangt, so ist die
Operation zu empfehlen, wenn selbst gutartige Rückfälle sehr oft vorkommen,
vor allem, wenn die letzten Recidive schwerer verlaufen als die vorher-
gegangenen; findet man bei der Eröffnung, dass Abknickungen, Stenosen-
bildung des Appendix, Verwachsungen mit der Nachbarschaft den Grund der
Recidive abgeben, so löst man die Verwachsungen oder entfernt überhaupt
den ganzen Appendix, welcher ja die hauptsächlichste Ursache der Perforations-
Peri- und Paratyphlitis ist. Die gewöhnlich ungefährliche Operation lässt
170 PAVOR NOCTURNÜS.
unter Umständen einen chirurgischen Eingriff auch dann zu, wenn eine
Resistenz längere Zeit bestehen bleibt und der Druck schmerzhaft ist.
Die secundären Abscessbildungen in entfernten Körpertheilen erfordern
eine chirurgische Behandlung; Durchbriiche nach der Pleura, dem Herzbeutel,
der freien Peritonealhöhle, der Blase oder der Vagina verlangen ihre eigene
Therapie, peioe.
PaVOr nOCturnUS (Nächtliches Aufschrecken, Night terrors). Auf diesen
Complex von Symptomen wurde die pädiatrische Welt 1845 aufmerksam
gemacht durch C. H. Hesse, dessen Beschreibung sich die Mittheilungen und
Studien über denselben von Charles West, Bouchut, Sydney, Piingee, Steinee,
SiLBEEMANN, A. Weetheimhee u. A. auschlosscn. Die Krankheit bildet heute
ein ständiges Capitel aller pädiatrischen Lehr- und Handbücher.
Man begegnet derselben fast ausschliesslich bei Kindern im Alter
zwischen der ersten und zweiten Dentition, selten werden ältere Kinder von
ihr befallen. — ■ Sie ist nicht gerade sehr häufig. Gewöhnlich beobachtet
man das nächtliche Aufschrecken bei solchen Kindern, die sich schon normaler
Weise auszeichnen durch eine besonders lebhafte geistige Regsamkeit und
blühende Phantasie. Oefter sind solche Individuen anämisch, und je nachdem
man bei ihnen ein begleitendes Leiden gefunden hat, dem man eine Beziehung
zu dem Pavor nocturnus zuschreiben zu dürfen glaubte (Otitis media, Coryza,
Pharyngitis et Hypertrophia tonsillarum, Oxyuren, Masturbation etc.), hat man
eine symptomatische, wenn solche Erkrankungen fehlten, eine idio-
pathische Form des Pavor nocturnus beschrieben.
Im Wesentlichen handelt es sich um folgende Erscheinung. Gewöhnlich
nach 2 — Sstündigem Schlafe, also mitten in der grössten Schlaftiefe (und
dieses kann selbstverständlich gelegentlich auch während Schlafens bei Tage
geschehen) fahren die Kinder entsetzt auf, reden irre und gebärden sich, wie
von Hallucinationen befangen, erkennen ihre Umgebung nicht. Ihr ganzes
Gebahren weist ohne Zweifel darauf hin, dass ihr jetziger Wachzustand die
directe Fortsetzung eines unmittelbar vorausgehenden, schreckhaften Traumes
ist. Der Angstschweiss auf der Stirne, die irren Reden, die weiten Pupillen,
lassen den Gedanken an eine eventuelle Simulation nicht aufkommen. —
Die Dauer eines solchen Zustandes kann mitunter bloss einige Minuten
währen, kann jedoch ^2 Stunde überschreiten. — Es kann geschehen, dass
sich in der gleichen Nacht die Scene wiederholt, es können Tage, Wochen
Monate vergehen, bis es gelegentlich wieder zu einer solchen kommt. Es
kann geschehen, dass bei einem und demselben Kinde bloss einmal im Leben
ein solches Ereignis eintritt, es kann sein, dass sich derartige Nächte im
Verlaufe von mehreren Jahren hie und da einmal einstellen.
Haben sich die Kinder wieder beruhigt, pflegt sich regelmässig tiefer
Schlaf wieder einzustellen, und Unkenntnis des in der Nacht vorgefallenen
pflegt bei den Kindern die Regel zu sein. Convulsionen, irgend welche andere
Krankheitszeichen, sind nicht zu finden; auch mit den nicht seltenen Delirien
fiebernder grösserer Kinder ist der hier geschilderte Zustand nicht zu ver-
wechseln.
Folgen haben solche Ereignisse wohl nie, weder vorübergehende noch
bleibende.
Was die Aetiologie betrifft, so scheint es, dass es sich fast aus-
nahmslos um von Natur aus leicht erregbare und beeinflussbare Menschen-
kinder handelt, die vielleicht jetzt schon und auf diese Weise die zukünftigen
Neurastheniker oder Hysteriker verrathen. Henoch sah einmal einen Epileptiker
gelegentlich mit derartigen Zuständen behaftet. Als auslösende Momente
werden nebst den bereits mitgetheilten organischen Affectionen aufgeführt
wohl mit vollem Rechte der Dämon (auch des Kindesalters) Alkohol, das
PELLAGRA. 171
ZU frühe Schlafengehen nach reichlichen Abendmahlzeiten, besonders nicht
reizloser Art, und als wichtigstes, die verschiedenen Geister-, Spuk- und
Schreckensgeschichten, denen sich unvernünftige Erzieher und Eltern in un-
pädagogischer Weise gelegentlich bedienen zu müssen glauben. Wer sich
noch der geträumten Indianerschlachten und Märchenbilder seiner Kindheit
erinnert, dem wird die Berechtigung dieser letztgenannten Ursachen ohne
Weiteres klar sein.
Aus dem Gesagten ergibt sich auch theilweise, was der Arzt, der selten
die Scene selbst erleben wird, sondern sie sich meist von den Beobachtern
in der Schlafstube schildern lassen muss, gegen diese Vorkommnisse unter-
nehmen kann. Die rationelle Erziehung bleibt die Hauptsache. Zur Ver-
meidung von Wiederholungen ist es unter allen Umständen zweckmässig, die
Kinder für 3 — 4 Tage 0-3 — 1-0 gr Natrium bromat. (= Kalium hromat.)
1 — 2 Stunden vor dem Schlafengehen nehmen zu lassen. Eventuell Chloral-
hydrat in gleicher Dosis in Milch gegeben. Auch dem Chinin, muriat, in
Dosen von 0-15 — 0'25 gr, 2—3 Stunden vor der Nachtruhe genommen, wird
eine zweifellose sedative Wirkung nachgesagt. Zu Morphium wird man wohl
nie seine Zuflucht nehmen müssen.
Was die hydriatischen Proceduren betrifft, so rathen wir lieber zu den
milden, zu lauwarmen Bädern, als zu kalten Waschungen bei solchen Kindern.
Eventuell lasse man die Kinder in nicht vollkommen dunkler Stube schlafen.
Wir führen der Vollständigkeit halber noch an, dass es selbstverständlich
ist, dass dort, wo Anämie, Scrophulose, Oxyuren, Masturbation oder die oben
aufgezählten, organischen Veränderungen als Ursache mit mehr weniger Be-
rechtigung vermuthet werden, gegen dieselben das entsprechende unternommen
werden muss, damit „die Nacht, die erst den Menschen entwaffnet, ihn dann
nicht mit nichtigem Gebilde bekämpfe."
LOOS.
PBlIäQrSL mal de la Rosa, (spanisch) lebra o rosa delle Ästurie, mal
rosso, mal del soJe, mal del padrone, cattivo male, callore del fegato, mal della
vipera^ mal della spienza, elephantiasis italica, mal de la miseria^ scorbutus al-
pinus (Odvardi), mallatia delV insolato di primavera (Albero), lepra italica^ risi-
pola lombarda, raphania maisitica (Querreschi) etc.
Geschichte und Verbreitimg. Seit dem Beginne der dreissiger Jahre
des verflossenen Jahrhundertes finden wir erst in der spanischen, später in
der italienischen und französischen und endlich dann auch in den anderen
Literaturen Beschreibungen einer Krankheitsform, die zwar mit den ver-
schiedensten Namen bezeichnet und verschiedenartig gedeutet wurde, je nach-
dem der Autor dem einen oder dem anderen Symptome mehr Beachtung
schenkte oder eine grössere Bedeutung zuschrieb, in den Hauptmerkmalen
jedoch, trotz der differenten Details eine auffallende Uebereinstimmung zeigen
und uns eine neue, bisher nicht gekannte Krankheit erkennen lassen.
Der jetzt allgemein gebrauchte Name Pellagra lässt sich wohl am un-
gezwungendsten von pel agra (rauhe Haut) ableiten und scheint von dem am
meisten hervorstechenden Symptome, nämlich von der Veränderung an der
Haut herzurühren.
Die frühesten Berichte über Pellagra stammen aus Spanien, wo die
Krankheit, dem Berichte von Casal und Thiery zufolge, unter dem Namen
.,mal de la rosa", seit dem Jahre 1735 in Asturien und speciell nur im Di-
stricte Ovideo endemisch beobachtet wurde, während die Provinz anfangs ver-
schont war. Ueber die weitere Verbreitungsgeschichte der Krankheit liegen
nach Hirsch nur unvollständige Berichte vor, doch hat die Krankheit seit der
Zeit bedeutend an Verbreitung zugenommen. Auch jetzt bildet wohl Asturien
den Hauptherd der Erkrankung, doch findet sich dieselbe in bedeutender Aus-
172 PELLAGRA.
breitung in Nieder- Aragonien, in Burgos und in der Provinz Quadalajara, wo
sie stellenweise so verbreitet sein soll, dass die Zahl der Erkrankten circa
27o der Bevölkerung beträgt. — Gleichlautende Berichte liegen auch aus
der Provinz Cuenca, aus dem Districte Novara, Zaragoza, aus den Fluss-
niederungen des Duero und Tormes in der Provinz Zamora und aus Galizien
vor. Uebrigens kommt die Krankheit auch in vielen anderen Gegenden Spa-
niens, so in der Provinz Madrid, Toledo, Valadolid, wenn auch vielleicht
weniger häufig vor, doch soll die Krankheit in letzter Zeit, wenn auch nicht
an Extensität, so doch an Intensität der Affection erheblich abgenommen
haben.
Etwas später als in Spanien zeigte sich die Krankheit in Italien und
zwar in der Lombardei und Venetien; in Italien hat die Krankheit überhaupt
die grösste Ausbreitung und die grösste Bedeutung in volkswirthschaftlicher
und hygienischer Beziehung bekommen und hat daher auch die grösste Auf-
merksamkeit und Beachtung gefunden. Nach den Berichten sind die ersten
vereinzelten Erkrankungen noch vor dem Jahre 1750 am Lago maggiore und
zwar in Sesto Calende beobachtet worden. Später begegnen wir einer sehr
ausgebreiteten Literatur über Pellagra in Italien und zwar beschreiben die
Krankheit Fkapoli, Zanbtti, Gherardini, Albera, Strambio, Balardini u. a. in
der Lombardei; Pojati, Odvardi, Zachineli, Liberali u. a. im Venetianischen;
RoLANDis, Boerio, Fontana u. a. in Piemont und Ligurien; Vinogli, Chiarugi,
CiPRiANi, MoRELi, Batolozi iu Toscaua; Calori, Querreschi, Tomasini in Emilia
und liegen sonst auch von allen Theilen bis auf den südlichsten Theil von
Italien zahlreiche Berichte über die Krankheit vor. Nur die südlichen Pro-
vinzen, die Landschaft der Abruzzen, Campanien, Apulien, Basilicata und
Calabrien, sowie die Inseln Sizilien und Sardinien, scheinen bis jetzt von der
Krankheit verschont zu sein. Italien erscheint demnach als Hauptherd der
Erkrankung und ist speciell die Landbevölkerung sowohl in Italien wie auch
überall unvergleichlich mehr als die Stadtbevölkerung von der Krankheit
betroffen.
Nach der amtliclien Tabelle vom Jahre 1879 stellt sich das Verhältnis der Pella-
grösen auf 1000 der Bevölkerung folgendermassen :
Gesammtbevölkerung Landbevölkerung
Lombardei 11-2 31'7
Venetien 10-5 30-52
Piemont 0-6 1-47
Ligurien 0-14 0-47
Emilia 8-53 236
Toscana 217 6-33
Umbrien 1-44 3-47
Roma 0-09 0-25
Am schwersten ist die Lombardei, Venetien und Emilia betheiligt, wo
in der erstgenannten Provinz, und zwar in Brescia, sogar die erschreckende
Ziffer von 80'03 pro mille der Landbevölkerung verzeichnet erscheint.
Die ersten Nachrichten über Pellagra in Frankreich datiren aus dem
Jahre 1829 und zwar berichtet Hameau, dass er einzelne Fälle noch im Jahre
1818 in Teste-de-Bache und in der Ebene von Arcachon beobachtet hat. Eine
vollständige Geschichte über Pellagra in Frankreich bis zum Jahre 1845 hat
PoussEL geschrieben, welcher auch sonst sehr verdienstvolle Anhaltspunkte
und eine hervorragende Bearbeitung des Stoffes geliefert hat. Die Krankheit
ist am meisten im südöstlichen Theile Frankreichs und zwar in den Depar-
tements Gironde und Landes verbreitet, kleinere Herde kommen jedoch auch
in Hautes- und Basses-Pyrenees, in Pyrenees Orientes, Haute Garonne, Ande
und auch sonst sporadisch in anderen Theilen Frankreichs vor, doch nimmt
dieselbe an Ausbreitung bedeutend ab und wie ich aus dem Berichte des
Dr. Neagoe entnehme, scheint dieselbe stellenweise, besonders in Landes zu
erlöschen.
PELLAGRA. 173
Mcbst Italien scheint das Königreicli Rumänien das am meisten von
Pellagra lieimgesuchteste Land zu sein. Die ersten diesbezüglichen Berichte
von Caillat und TuEODOm aus dem Jahre 1854 und 1856 melden, dass
die Krankheit seit den Jahren 184G — 1847 in der Moldau und Walachei (jetzt
Königreich Rumänien) endemisch ist.
Seitdem sind zahlreiche Arbeiten über die Krankheit daselbst veröffentlicht worden,
insbesondere wäre die Arbeit von Felix, welche ein Verzeichnis sämmtlicher, die Pellagra
in Rumänien betreffenden Schriften enthält und eine sehr verdienstliche Arbeit von Dr.
Neago^, welche in Form eines Rapportes an das Ministerium des Innern abgefasst ist.
Die Krankheit ist meist im nördlichen Theile Rumäniens verbreitet und
zwar meistens in den Districten, Neamtiu, Bottosani, Dorohoi, Ott, Arges,
Dembovita, doch kommt sie auch im Süden des Landes, wenn auch sel-
tener vor.
In Oest erreich ist die Krankheit in Friaul besonders stark ver-
breitet; nach Neusser weisen die Ortschaften Cervignano, Fiumicello, Mus-
coli einen Percentsatz von 25 Pellagrösen auf, während aus den anderen Pro-
vinzen Oesterreichs bis in die neueste Zeit fast nichts über die Krankheit
veröffentlicht wurde. Im Jahre 1888 berichtete ich über die ersten Fälle in
der Bukowina, ein Jahr später veröffentlichte Dr. Kluczenko einige Fälle
und wird die Krankheit daselbst jetzt nicht selten beobachtet. Die Angaben
über Pellagra in Ungarn und im Banate beruhen nach Hirsch auf unzu-
verlässlichen Mittheilungen. Hingegen entnehme ich einer mündlichen Mit-
theilung von Dr. Solov^ski in Zaleszczyki in Galizien, dass er mehrere
Pellagrafälle in den an Bukowina anstossenden Theilen Galiziens beobachtet
habe. —
In Corfu ist die Pellagra seit langer Zeit bekannt und hat seit dem
Jahre 1856 einen endemischen Charakter angenommen.
Ueber das Vorkommen von Pellagra in Russland und speciell im
Soroker Bezirk in Bessarabien, in welcher Provinz sehr viel Mais gebaut wird,
liegt eine Mittheilung von Roszczkowski vor (Gazeta lekarska 1888 Nr. 48),
doch soll die Krankheit auch in den anderen Districten Bessarabiens nicht
selten endemisch vorkommen.
Endlich kommt Pellagra vereinzelt auch in Mexiko, dem eigentlichen
Heimatslande des Maises, sowie auch in Algier und nach Dr. Krautz An-
deutungen selbst bei den Zulukaffern vor.
Wenn wir nun das endemische Vorkommen von Pellagra nochmals über-
blicken, so sehen wir, dass dieselbe in Italien, Spanien, Frankreich, Rumänien,
Bukowina und im südlichen Theile Bessarabiens vorkommt, also innerhalb
einer Zone von 42 — 46 Grad N. B. und besonders in den Ländern, wo der Mais viel
gebaut und stellenweise sogar das Hauptnahrungsmittel der Landbevölkerung
bildet und so kommen wir auch gleich zur Aetiologie, dieser Krankheit.
Aetiologie. Der Umstand einerseits, dass das endemische Vorkommen
der Pellagra auf die Maiskultur betreibenden Länder beschränkt ist, an-
dererseits, dass die Krankheit neueren Datums ist, und erst nach Einführung
der Maiskultur aufgetreten ist, hat die meisten Autoren von den allgemein
als krankheitserregend geltenden Einflüssen, wie tellurischen und klimatischen
Verhältnissen, socialem Elend, Hungersnoth, Alkoholismus etc. abgebracht und
die Forschung nach dem Entstehen der Krankheit von vorne herein in eine
bestimmte Richtung gelenkt, und wird jetzt allgemein von der überwiegenden
Majorität, ,;den Zeisten" die Krankheit mit dem Genüsse des Maises, respective
krankhaft veränderten Maises in Zusammenhang gebracht, während eine ver-
schwindende Minorität der ,,Antizeisten" mehr entferntere, schon früher an-
gedeutete Ursachen für die Krankheit verantwortlich machen; ja es existiren
sogar Behauptungen von Winternitz und anderen, welche den Bestand der
Pellagra als einer selbstständigen Krankheit gänzlich negiren und dieselbe
bloss für ein zufälliges Zusammentreffen von Symptomen der verschiedensten
174 PELLAGRA.
Erkrankungen bezeichnen; auf den letzten Umstand werden wir noch bei Be-
sprechung der Diagnose, resp. Differentialdiagnose zu sprechen kommen.
Für die Annahme des ursächlichen Zusammenhanges des Genusses ver-
dorbenen Maises mit der Pellagra sprechen folgende Gründe:
1. Das schon früher erwähnte endemische Auftreten der Krankheit in
den Landstrichen, in welchen Mais cultivirt wird.
2. Das Auftreten der Krankheit erst nach dem Einführen der Mais-
kultur.
Der Mais soll noch von Columbus nach Spanien gebracht worden sein,
doch ist derselbe daselbst erst im 3. Decennium des 16. Jahrhunderte« im
grossen Umfange angebaut worden. Die Krankheit ist daselbst im Jahre 1735
endemisch aufgetreten. Das gleiche Verhalten beobachten wir auch in den
anderen Ländern.
3. Die Besserung, mitunter sogar die völlige Heilung der Krankheit
durch das Aussetzen des Maisgenusses. — Wir beobachten die günstige Ein-
wirkung, wenn der Mais inhibirt wird, nicht nur beim erkrankten Individuum,
sondern auch eine Abnahme der Endemie im Allgemeinen, wenn der Mais
durch andere Getreidesorten in der Cultur ersetzt wird. — Dagegen wird
vor Allem eingewendet, dass die Maiskultur über viel grössere Striche der
westlichen wie auch der östlichen Hemisphäre als das endemische Vorkom-
men der Pellagra sich erstreckt und dass gerade in Amerika, dem eigentlichen
Heimatslande des Maises, die Krankheit nur sehr selten vorkommt.
Die Einwendung widerlegt nur die jetzt nur von einzelnen Autoren
getheilte Ansicht, dass der ausschliesslich oder vorwiegende Maisgenuss an
sich, wegen seines geringen Nährwerthes, besonders wegen seines geringen
Stickstoffgehaltes, die Ursache der Erkrankung abgäbe. Diese Ansicht ist
jedoch nicht zutreffend, weil auch oft wohlgenährte Personen von Pellagra'
befallen werden, und auch der Umstand, dass andere Nahrungsmittel, wie
Reis und Kartoffel, dem Mais weit an Nährwerth nachstehen, ohne dass die
davon lebenden Völkerschaften von der Pellagra ergriffen sein würden.
Also nicht der Mais an sich, sondern ein unter dem Einflüsse von Epiphyten,
resp. Pilzen verdorbener, gewisse giftige Stoffe oder ihre Vorstufen enthalten-
der Mais dürfte die Ursache der Krankheit abgeben. Der Mais benöthigt zu
seiner vollkommenen Reife eines tropischen oder subtropischen Klimas. Wenn
er nur ganz reif und trocken gesammelt und aufbewahrt wird, so gibt er
ein vorzügliches Nahrungsmittel und erscheint völlig unschädlich; daraus
erklärt sich auch ungezwungen die früher erwähnte Thatsache des sel-
teneren Auftretens der Krankheit in Amerika, ebenso dass in Indien und
Vorderasien die Krankheit ganz unbekannt ist. — Wenn jedoch der Mais
in den früher erwähnten Breitegraden gebaut wird, wo die Bedingungen zu
Gedeihen und Reife der Frucht oft nicht die günstigsten sind, wo die zeit-
weilig schon Anfangs September auftretenden Fröste das noch nicht ganz
reife Korn treffen und in seiner Entwickelung stark behindern, das Korn
wegen der im Herbste auftretenden Niederschläge niemals ganz austrocknet,
feucht eingeführt und dann nicht ganz zweckmässig autbewahrt wird, so er-
scheinen wohl alle Bedingungen zur Verderbnis desselben gegeben und stimmt
damit auch die Thatsache, dass die Krankheit gerade in diesen Ländern en-
demisch auftritt.
Die Ansicht, dass verdorbener Mais die Ursache der Krankheit bildet,
und dass es sich dabei um einen chronischen Vergiftungszustand handelt,
wurde schon sehr frühzeitig ausgesprochen, so von Tomasini, Assandri, Libe-
rali und anderen.
Am meisten Anklang fand die Ansicht von Balardini, dass ähnlich wie
bei Mutterkorn auch da ein giftiger Pilz das Maiskorn zersetze und giftig
wirke. — Er fand auch auf verdorbenem Mais einen grünlichen Pilz, welchen
PELLAGRA. 175
er Verderame nannte. Der Pilz ist später von Cesati als Sporisorimn maidis
bezeichnet worden. — Seine Ansicht" stützte er durch Thier-Experimente, in-
dem die mit solchem Mais gefütterten Hühner die Federn verloren, paretisch
wurden, abmagerten und zu Grunde gingen.
Beim Menschen stellten sich Brennen im Halse, Verdauungsstörungen
und Durchfall ein. Die Frage nahm wieder Lombroso auf, der jedenfalls als
der verdienstvollste Forscher in der Pellagrafrage genannt werden muss. Vor
allem bestätigt er die Versuche Balardini's, indem er durch das Verfüttern mit
verdorbenem Mais sowohl bei Tauben, als auch bei Ratten, Abmagerung, Con-
tracturen, choreaartige Erscheinungen und schliesslich letalen Ausgang er-
zeugte, beim Menschen aber die der Pellagra eigenthümlichen Veränderungen
der Haut und des Nervensystemes hervorrief.
Nachdem jedoch die Verderame sehr selten vorkommt, so dass Lom-
broso auf seiner Keise durch die ganze Lombardei nicht im Stande war, diesen
Pilz zu Gesichte zu bekommen und auch italienische Botaniker die Selten-
heit dieses Pilzes bestätigen, so meinte Lombroso, dass das giftige Princip
nicht in Form eines Pilzes dem Maiskorne anhafte, sondern dass sich mit
der Verderbnis des Kornes in seinem Innern das specifische Gift entwickele.
Weitere von ihm mit anderen Forschern im Vereine angestellte Ver-
suche haben ergeben, dass es sich dabei um das Auftreten eines Oeles,
{Maisöl) und eines Extractivstoffes {Pellagrosein) handelt, welche Stoffe sich
niemals im gesunden Korne finden, dass man jedoch das Entstehen dieser
Stoffe im Korne künstlich durch eine eingeleitete Fermentation erzeugen kann.
Diese Stoffe erwiesen sich als höchst giftig, indem sie zu schweren cerebro-
spinalen und Verdauungsstörungen führten.
HusEMANN wiederholte die Versuche mit den Extractiv Stoffen Lombroso's
und fand dabei 2 Gifte, ein strychninhaltiges Alkaloid und ein Gift, das auf
das Gehirn und Ptückenmark, sowie auf die Herzthätigkeit ähnlich wie das
Nicotin wirkte.
Hofmeister in Prag hat im verdorbenen Mais, direct ohne dass Gährungs-
vorgänge vorangegangen wären, 2 toxische Substanzen gefunden, eine in
Wasser unlösliche, von den Eigenschaften einer Harzsäure und einen in Wasser
löslichen, Alkaloidreaction darbietenden Körper, welcher ähnliche toxische Er-
scheinungen, wie das Picrotoxin bietet, ohne jedoch mit demselben identisch
zu sein.
Selmi glaubt, dass sich im verdorbenen Mais Acrolein und Ammoniak
befinde, dass sich daraus Acroleinammoniak bilde und die Pellagra in Folge
directer Einwirkung von Acroleinammoniak oder von daraus entstandenem
Cyan- oder Nitrilverbindungen entstehe.
Nebst diesen geäusserten Ansichten gibt es noch zahlreiche andere,
welche die Pellagra als eine chronische Intoxication in Folge krankhaften
oder verdorbenen Maises auffassen.
Nachdem das Sporisorium maidis {Verderame Balardini) in Italien sich
sehr selten findet, dagegen in Gegenden, wo Pellagra gar nicht vorkommt,
öfters anzutreffen ist, das Sclerotium maidis in Italien gar nicht vorkommt,
der mit Ustilago maidis behaftete Mais sehr auffallend ist und schon am
Felde weggeworfen wird, das Penicilium glaucum und Aspergillus im All-
gemeinen sehr verbreitet ist, ohne dass daselbst Pellagra zu constatiren wäre,
so käme noch das von Cuboni beschriebene Bacterium maidis in Betracht.
Dass Pellagra eine Mycose mit Invasion der Bacterien in die Lymph-
und Blut-Bahnen wäre, ist nicht wahrscheinlich, da die Krankheit gewöhnlich
fieberlos verläuft, man weder Entzündungserscheinungen oder Knötchenbildung
in den Organen, noch auch die Bacterien im Blute oder in den Haut-Erup-
tionen nachweisen konnte. Man könnte nur denken an eine Darmmycose. Die
Bacterien führen in Folge ihrer Anwesenheit und Vermehrung im Darme zur
176 PELLAGRA.
Bildung toxischer Stoffe und zur chronischen Intoxication. Doch auch ist das
gar nicht wahrscheinlich, bei der Inconstanz der Diarrhoen, beim Fortbe-
stand schwerer pellagröser Erscheinungen auch nach Sistirung der Diar-
rhoe, bei der relativen Toleranz des sonst gegen Parasiten sehr empfindlichen
Darmes der Kinder und endlich bei dem oft negativen bacteriologischen
Befunde in den Darmentleerungen.
Baruge fand das Bacterium maidis nur in den Stuhlgängen Pellagröser,
die an Enteritis litten, andererseits fand er es auch in den Stühlen von nicht
Pellagra-Kranken, die mit Enterocolitis behaftet waren (Neusser). Ueberdies
ist CuBONi selbst der Ansicht, dass unter Verabreichung von gesunder Mais-
polenta eine Heilung der Pellagra im Anfangsstadium vorkommt, was gewiss
mit der Ansicht der Darmmycose schwer in Einklang zu bringen wäre, nach-
dem das Bacterium in dieser gesunden Maispolenta den besten Nährboden
für sich fände.
Nach allem dem könnten wir nur glauben, dass dieses Bacterium durch
sein Vorkommen im Maiskorne dasselbe toxisch verändert, oder wie Neusser
sich ausdrückt, dass demselben die Rolle eines Giftmischers im Mais ausser-
halb und nicht innerhalb des Organismus zukomme.
Hervorzuheben wäre noch schliesslich die sehr wichtige und klinisch
sowohl als auch theoretisch sehr gut gestützte Ansicht Neusser's, nach welcher
Pellagra eine intestinale Autointoxication wäre. Neusser meint: „Die Pella-
gra sei ein Resultat zweier Factoren, von denen einer in der Polenta
selbst, der zweite im Darme des Polentaessers gesucht werden muss. Der
verdorbene Mais enthält in sich keine pellagrogene Gifte, wohl aber Vor»
stufen, respect. Muttersubstanzen derselben. Bei normal functionirendem Darme
werden dieselben verdaut oder ausgeschieden, ohne dem Organismus Schaden
zu bringen. Ist jedoch die Digestion — primär oder secundär — durch Dys-
pepsien oder Katarrhe, welche vielleicht bei kräftigen Individuen, wenn sie
verdorbene Polenta gemessen, erst nach und nach sich entwickeln mögen,
während sie bei Individuen, die durch Armuth, Elend, Inanition, Lactation,
Blutungen, schwere Krankheiten entkräftet sind, leicht und manchmal acut
zu Stande kommen, in der Weise gestört, dass die Verdauungssäfte quanti-
tativ oder qualitativ verändert werden, oder dass abnorme Gährungsvorgänge
im Darme Platz greifen, dann werden solche im verdorbenen Maise enthal-
tene ungiftige oder wenig schädliche Vorstufen zu wahren und heftigen Giften
umgestaltet. Es träte somit in diesen Fällen eine intestinale Selbstver-
giftung ein.
Neusser stützt seine Ansicht auf die Immunität fast aller Hausthiere
gegen das vermeinte Kukurutzgift, auf die relative Toleranz der Kinder gegen
dasselbe auf den Umstand, dass viele Leute Jahre hindurch den Genuss ver-
dorbener Polenta ertragen und erst im späten Alter pellagrös werden, endlich
auf den Umstand, dass in einer zahlreichen Familie, in welcher alle dieselbe
Kost geniessen, oft nur ein einziges Mitglied an Pellagra erkrankt und die
anderen davon verschont bleiben, was doch gewiss nicht zu Gunsten der rein
toxischen Theorie spreche.
Der zweite Einwand gegen die pellagrogene Wirkung des verdorbenen
Maises beruht darin, dass die Krankheit, wenn auch nur vereinzelt an Orten
gefunden wurde, wo Mais nie gebaut wurde und bei Individuen constatirt
wurde, die niemals Polenta oder überhaupt eine Maisnahrung genossen haben.
Vor allem wäre da auf das wirklich seltene Auftreten der Krankheit in
solchen Fällen aufmerksam zu machen, so dass diese Fälle gezählt werden
könnten. Ob die Krankheit auch stets richtig diagnosticirt wurde, wäre auch
zu prüfen.
So erzählt Neusser von einem Irrsinigen, der ihm als ein typischer
Fall von Pellagra gezeigt wurde, der sich jedoch bei näherer Betrachtung als
PELLAGRA. 177
Herpes tonsurans des Handrückens mit Onychogryphosis parasitaria erwies;
ebenso meint Neusser, dass Bazin und Bouchard versichern, einige Fälle
von Herpes tonsurans auf der Klinik Billod wären als Pellagra demonstrirt
worden. Dennoch scheinen auch ganz zweifellose Fälle, wenn auch kaum
ausserhalb Frankreichs beobachtet worden zu sein, ohne dass die Kranken
jemals Mais genossen hätten. Für solche Fälle schlug Roussel den Namen
Pseudo-Pellagra vor, indem er die Fälle für nicht ganz identisch mit Pellagra
bezeichnet, sondern nur auf ihre ausserordentliche Aehnlichkeit mit Pellagra
aufmerksam macht, obwohl wieder andere Autoren keinen Unterschied zwischen
der wahren Pellagra constatiren konnten.
Vor allem wäre diesbezüglich wohl zu bemerken, dass vielleicht gele-
gentlich auch in anderen Cerealien Veränderungen stattfinden, welche im Stande
sind, pellagraähnliche Erscheinungen zu erzeugen. Eine andere Erklärung
gab hiefür Neusser, indem er den aus verdorbenem Mais erzeugten Alkohol
hiefür verantwortlich macht. Da in Rumänien Alkohol fast auschliesslich aus
dem Mais schlechterer Qualität producirt wird und dieser Alkohol fast nach
allen europäischen Staaten exportirt wird, so erscheint diese Annahme sehr
beachten swerth und wäre es da sehr angezeigt, diesem Umstände eine beson-
dere Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn diese Annahme richtig wäre, so
müsste man sich vorstellen, dass die pellagrogene Substanz des Maises ent-
weder direct flüchtig oder mit den Alkoholdämpfen destillirbar wäre und
scheinen wenigstens Thierversuche, die auf Anregung Neusser's von Schrom
in Wien mit derartigen Destillaten gemacht wurden, hiefür zu sprechen, in-
dem das toxikologische Bild, welches der Vergiftung mit Solanin ähnlich
war, an die von Lombröso und Husemann mit Extracten aus verdorbenem
Maise gemachten Experimente erinnerte.
Pathologische Anatomie. Es muss von vornherein erwähnt werden,
dass der pathologisch-anatomische Befund sehr verschiedenartig ausfällt, je
nachdem ein mehr acut oder mehr chronisch verlaufender Fall zur Obduction
kommt, je nachdem das eine oder das andere Organsystem mehr ergriffen
war, schliesslich je nachdem der Fall etwa mit einer anderen Erkrankung
complicirt war, dass wir jedoch in keinem Falle eine ausschliesslich der Pel-
lagra zukommende, für die letztere charakteristische Veränderung finden
können.
Nach den Yerschiedenen französischen und italienischen Berichten, besonders Lom-
BROSo's, wäre folgendes zu erwähnen:
Die Hirnhäute, besonders die weichen, erscheinen öfters getrübt und verdickt, die
Dura besonders an ihrer inneren Fläche zeitweilig geröthet. Das Gehirn erscheint öfters
anaemisch, in manchen Fällen finden sich im Gehirn wie auch im Rückenmarke regelmässige
Spuren der vorausgegangenen chronischen endzündlichen Processe, endlich mitunter Atro-
phie der Corticalsubstanz.
TuczEK fasst seine bei 8 Obductionen gemachten Beobachtungen am Rückenmark da-
hin zusammen, dass in allen Fällen der Centralkanal seiner Länge nach obliterirt war, die
Rückenmarkshäute, die vorderen und hinteren Wurzeln intact waren. In allen Fällen waren
die Hinterstränge jedoch beiderseits symmetrisch erkrankt, sclerosirt; in 6 Fällen fand sich
neben der Hinterstrang-Aflfection eine beiderseitige symmetrische Erkrankung in den Hinter-
seitensträngen. Histologisch bezeichnet er die Verbreitung der Corpora amylacea als un-
wesentlich, obwohl dieselben besonders reichlich in den Hintersträngen waren, Körnchenzellen
fand er fast ausschliesslich in den erkrankten Hinterseitensträngen, ausserdem constatirte
er Ausfall oder Atrophie von Nervenfasern mehr oder weniger intensiv und Verbreitung der
Interstitien, des gliösen Balkennetzes in den erkrankten Strängen.
Andere Beobachter geben noch eine starke Pigmentirnng her Ganglienzellen im Sym-
pathicus an. Dejeri:me fand Neuritis, resp. Atrophie in den Haut-Nerven des Handrückens.
An den Lungen ist gewöhnlich nichts abnormes, ausser dass sie mitunter etwas substanz-
ärmer sind, zu constatiren. — Das Herz ist gewöhnlich klein, atrophisch, gelbbraun,
leichter zerreisslich. Am constantesten und auffälligsten sind noch die Befunde im Magen
und Darmkanal, woselbst meistentheils Erscheinungen eines chronischen Catarrhs zu finden
sind. Die Muskulatur des Darmes ist oft atrophisch und verdünnt, die Schleimhaut theils
anaemisch, sehr oft jedoch hyperämisch, die Zotten atrophisch, ausserdem finden sich sehr
häufig frische oder veraltete Geschwüre, welche meistentheils von den PEYER'schen Plaques
ausgehen, doch erreichen diese Geschwüre keine bedeutende Grösse. Nur im Dickdarme,
Bibl. med. W^issenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 12
178 PELLAGEA.
besonders im Colon descendens bis hinab in das Rectum fand ich zuweilen ausgedehnte,
Geschwüre auf der Höhe der Schleimhautfalten, welche das Aussehen der dysenterischen
Geschwüre darboten. — Die Leber oft verfettet, bald atrophisch, bald hypertrophisch.
Die Milz ist gewönlich klein und atrophisch, ebenso die Nieren. Die Knochen, besonders
die Rippen sollen brüchig sein. Die Haut zeigt oft eine Verdickung der Papillär- und
Cutisgefässe und Atrophie derHornsubstanz. — Hirsch resumirt die pathologisch-anatomischen
Befunde :
1. Hyperämie und Entzündung in den Hirnhäuten, in der Leber, Milz, in den Nieren
und dem unteren Theile des Darmkanales;
2. Atrophie und Marasmus besonders in den vom Vagus und Sympathicus versorgten
Bauch- und Brustorganen.
3. Fettige Degeneration der verschiedensten Organe.
4. Als besonders auffallend: Pigmentmetamorphosen.
Symptomatologie. Dem eigentlichen Ausbruch der Krankheit geht in
der Regel ein Prodromalstadium voran, welches bald kürzer, bald länger ist,
ja selbst Monate vorher auftreten kann.
Die Kranken klagen über allerlei, kaum definirbare Unannehmlichkeiten;
sie fühlen sich oft leicht ermüdet, gleichgiltig, klagen öfters über Kopf-
schmerzen, Abgeschlagenheit der Glieder, über ein eigenthümliches Ziehen im
Rückgrat und in den Unterextremitäten. Die Untersuchung ergibt da oft eine
eigenthümliche fahle Hautfarbe, Steigerung der Sehnenreflexe, Facialis-phae-
nomen. Doch pflegen diese Erscheinungen oft im Frühjahre zurückzutreten,
und es tritt wenn auch kein normaler, so doch ein leidlicher Zustand wieder ein.
Unter solchen Schwankungen können mehrere Jahre vergehen, bis
schliesslich, meist nach einem schlecht durchlebten Winter, mit dem Hervor-
brechen der Frühlingssonne die Krankheit deutlich ausgesprochen auftritt.
Seit jeher pflegte man die Erscheinungen der Krankheit in 3 Gruppen
einzutheilen, von denen man sich vorstellte, dass sie in gewissen Zeitabständen
auf einander folgen und zwar: in die der Haut, des Verdauungstractus
und des Central-Nervensystemes und so wollen wir auch der leich-
teren Uebersichtlichkeit wegen diese Eintheilung beibehalten, obwohl wir von
vornherein bemerken müssen, dass sehr oft eines dieser Stadien entweder
ganz fehlen oder nur sehr schwach entwickelt sein kann, bezüglich der Rei-
henfolge aber derselben noch grosse Uneinigkeit herrscht und wahrscheinlich
bald das eine, bald das andere früher auftreten kann.
Die erkrankten Hautstellen erscheinen erythematös geröthet, heiss an-
zufühlen, öfters über das Niveau überragend, haben grosse Aehnlichkeit mit
torpiden, indolenten Erysipelen und klagen die Kranken daselbst über einen
brennenden, durch die Sonnenhitze gesteigerten Schmerz. Diese Erytheme
schuppen gewöhnlich nach 2—3 Wochen ab und hinterlassen entweder eine
pigmentirte oder eine glänzend atrophische Haut zurück. Oefters greift der
Process jedoch mehr in die Tiefe, es bilden sich pemphigusartige Blasen,
welche bald springen und das Rete bioslegen.
Die Haut erscheint dann mit aus ausgetrockneten Secreten gebildeten
Krusten bedeckt und besonders schmerzhaft. Als Prädilectionsstellen wären
wohl diejenigen Hautpartien zu nennen, die gewöhnlich entblösst und der
Einwirkung der Sonnenstrahlen ausgesetzt sind; also vor Allem die Hand-
rücken, die Fussrücken, das Gesicht, der Hals und Nacken und seltener auch
die vorderen Partien der Brust. Diese Localisation der Erytheme hat schon
frühzeitig bei vielen Autoren den Verdacht erregt, dass diese Hautverände-
rungen lediglich nur auf die Einwirkung der Sonnenstrahlen zurückzuführen
wären.
Wenn wir jedoch berücksichtigen, dass solche Hautausschläge mitunter
erst dann zum Ausbruche kommen, wenn die Kranken schon monatelang bett-
lägerig waren und das Zimmer nicht verliessen, wenn wir ferner den Aus-
schlag an den Fussrücken von Personen zuweilen treffen, die nie ohne
Beschuhung ausgehen, so müssen wir entschieden behaupten, dass hier neuro-
PELLAGRA. 179
trophische Störungen vorliegen und müssen der Sonne nur die liolle der
Causa provocatoria, wie Neusser sich ausdrückt, einräumen.
Was die gastrointestiimleii Erscheinungen anbehmgt, so äussern sich
dieselben in Sodbrennen, Appetitlosigkeit — seltener Boulimie, Schmerzen im
Unterleib, und meistentheils Diarrhoe, seltener Stuhlverstopfung. Die Zunge
ist oft belegt, zeigt eigenthümliche tiefe, mitunter regelmässige Einkerbungen
zwischen den Papillen, welche wie die Felder eines Schachbrettes vertheilt
sind; dieses Aussehen der Zunge soll eine diagnostische Bedeutung haben.
Das Zahnfleisch ist oft aufgelockert, leichter blutend und belegt. In Folge
bestehender Appetitlosigkeit und einem eigenthümlichen Unbehagen nach dem
Essen verweigern sehr viele Kranke die Nahrung und kommen rasch herab,
während manche ausnahmsweise im Ernährungszustande nicht besonders herab-
gehen, so dass man zuweilen auch fettleibige Pellagröse zu sehen bekommt.
Weder im Mageninhalte noch in den Stuhlgängen lässt sich etwas charak-
teristisches nachweisen.
CuBONi macht auf das massenhafte Vorkommen von Bacterium maidis im
Stuhlgange aufmerksam, welches Bacterium er für die Ursache der Diarrhoen
und der Pellagra überhaupt hält; andere Forscher wie Paltauf konnten es
nur ausnahmsweise in den Entleerungen Pellagröser finden: so dass wir höch-
stens annehmen müssten, dass das Erscheinen dieser Bacterien im Stuhlgange
mehr in den Anfangsformen der Pellagra im Frühjahre stattfindet.
Das Blut zeigt sich sowohl bei mikroscopischer als auch spectroscopischer
Untersuchung normal, ebenso ist das Vorkommen der Mikroorganismen im
Blute nicht mit Sicherheit nachgewiesen worden.
Im Urin kann man ebenfalls nichts Abnormes nachweisen, ausnahmsweise
kommen Spuren von Albumen und Verminderung der Sulfate vor.
Die Erscheinungen seitens des cerebrospinalen Systemes sind sehr mannig-
faltig. Vor allem wäre der Gesichtsausdruck zu erwähnen, die Kranken bieten
einen eigenthümlich trägen, melancholischen Gesichtsausdruck dar. Von Seite
der Sinne wäre Ohrensausen, mehrfach vorgefundene Hemeralopie, Diplopie,
Herabsetzung des Sehvermögens, Trägheit der Pupillenreflexe anzuführen.
Die ophthalmoscopische Untersuchung des Augenhintergrundes hat öfters
rauchige oder grauliche Verfärbung der Retina und Atrophie der Ptetinal-
gefässe ergeben. Von den psychischen Erscheinungen"") wäre die melancholische
Verstimmung in erster Linie zu nennen, die schliesslich zur melancholischen
Geistesstörung mit Ausgang in Blödsinn führen kann; oft schlägt die Melan-
cholie in INIanie um. Ausserdem wären noch die Angstgefühle und Selbst-
mordgedanken zu erwähnen, als besonders häufig wird die Hydromanie erwähnt.
Bemerkenswerth ist für alle Fälle die Thatsache, dass circa 10 7o sämmtlicher
Pellagröser Geistesstörungen darbieten. Die SehnenreÜexe sind in den meisten
Fällen gesteigert; erwähnenswert wäre auch der öfters paretische Zustand der
Extensoren. so dass in Folge des Uebergewichtes der Flexoren die Extremitäten
halbflectirt und bei Bewegungsversuchen starr erscheinen.
Zum Schlüsse muss noch die Ansicht der italienischen Aerzte angeführt
werden, welche eine besondere unter typhösen Erscheinungea zum Tode
führende Form von Pellagra erwähnen und als Pellagratyphns bezeichnen.
Neusser führt folgende Hauptt}TDen von Pellagra an, und meint die Krankheit
kann verlaufen:
1. Unter dem Bilde einer functionellen Geistesstörung.
2. Unter dem Bilde einer amyotrophischen Seitenstrang-
sclerose.
3. Unter dem Bilde der Tetanie.
4. Unter dem Bilde einer Meningitis (1 Fall in Rumänien),
*) VergL auch Artikel .Jntoxicationsspychosen^' Bd. II. pag. 340.
12=*
180 PELLAGRA.
5. Unter dem Bilde einer Gastroenteritis.
6. Unter dem Bilde einer chronischen Degeneration der Organe
mit consecutiver Atrophie derselben.
7. Unter dem Bilde einer essentiellen Cachexie, resp. Anämie.
8. Unter dem Bilde eines Morbus Adissonii.
9. Unter dem Bilde einer reinen Dermatose.
10. Schliesslich eine Form als Pellagra sinePellagra, indem andere,
pellagröse Symptome lange den Haupterscheinungen vorauseilen.
Als Complicationen wären Malaria, Alkoholismus, Typhus, Pneumonie,
Tuberculose, Syphilis zu erwähnen.
Unter diesen mannigfaltigen Bildern kann die Krankheit auch Jahre lang
hinziehen. Im Sommer kann sehr oft ein Nachlass und Besserung der Er-
scheinungen eintreten, welche aber wieder, wenn der Kranke in seiner ge-
wohnten Lebensweise bleibt, im nächsten Frühjahre hervorzubrechen pflegen.
Das Eintreten von Remissionen möchte ich geradezu als charakteristisch für
Pellagra bezeichnen; ich habe einen Fall beobachtet, wo nach einer 8-jährigen
Pause dieselbe sich erneuerte und ähnliche Beobachtungen liegen auch von
anderen vor.
Nachzutragen wäre noch, dass auch Kinder, selbst unter 1 Jahr, wenn
auch relativ sehr selten von der Krankheit ergriffen werden. Ueber die
erbliche Uebertragbarkeit der Krankheit gehen die Ansichten auseinander,
indem die einen die hereditäre Uebertragbarkeit der Krankheit selbst, während
die anderen die ererbte Disposition annehmen. Im Uebrigen muss aber
bemerkt werden, dass sehr oft auch Säuglinge mit Polenta gefüttert werden,
welcher Umstand wohl am ungezwungendsten die Entstehung der Krankheit
bei den Kindern erklären dürfte.
Diagnose und Differentialdiagnose. Die Diagnose stützt sich wie
schon erwähnt, auf die 3 Hauptsymptome nämlich auf das Erythem der
Haut, auf die gastrointestinalen Störungen und auf die Erscheinungen seitens
des Centralnervensystemes.
Wie wir sowohl in der pathologischen Anatomie als in der Symptoma-
tologie gesehen haben, gibt es wohl kein der Pellagra ausschliesslich zukom-
mendes, pathognomonisches Symptom; wir können die Krankheit nur aus dem
Zusammenhange, aus dem gleichzeitigen Auftreten der erwähnten Symptome
diagnosticiren; es kann freilich in einem Fall das eine oder das andere Symptom
prävaliren, in einem 2. Falle das eine oder das andere Symptom nur ange-
deutet sein; ein geübter klinischer Blick kann jedoch schon oft aus dem Ge-
sichtsausdruck allein die Diagnose machen.
Das Fehlen eines pathognomonischen Symptoms gab Winternitz und
vielen andern Autoren Veranlassung, die Existenz der Pellagra als eine eigene
Krankheit überhaupt zu negiren.
Die Erytheme wurden meist als Insolationen, die gastrointestinalen und
nervösen Erscheinungen oft als Folgen von Alkoholismus, oft als Folgen einer
unzureichenden Ernährung überhaupt, als Inanition aufgefasst.
Das öftere Auftreten der Erytheme an Hautstellen, welche von der Sonne,
sei es in Folge der Bekleidung, sei es in Folge dessen, dass die Kranken
monatelang das Zimmer nicht verliessen, gar nicht tangirt wurden, die vom
Delirium alkoholicum ganz verschieden beschaifenen psychischen Störungen,
das endemische Auftreten der Krankheit erst nach der Einführung des Maises
und nur an den Orten, wo Mais genossen wird, das Fehlen der Krankheit an
Orten, wo seit Jahrhunderten die Bevölkerung im grössten Elende und Armuth
lebt, wo die Ernährung in jeder Beziehung unzulänglich ist, endlich die Com-
bination der beschriebenen Symptome lassen wohl mit Sicherheit jeden Zufall
ausschliessen und die Pellagra als eine selbständige Krankheit auffassen.
PELLAGRA. 181
In ditierentialdiagnostischor Beziehung Märe der Ergotismus und die
Acrodynie anzuluhren.
Vom Ergotismus, mit welchem die Pellagra von einigen Autoren für
identisch gehalten wurde, unterscheidet sie sich durch einen mehr chronischen
Verlauf, durch den Mangel an cousecutiven Gangraenen an den Extremitäten
und am Gesichte; durch das Fehlen der Uteruscontractionen, indem bei Pellagra
nur höchst selten Abortus eintritt, schliesslich durch das Fehlen des beim
Ergotismus spasmodicus öfters auftretenden, tetanusähnlichen Zustandes.
Die Acrodynie zeigt einen sehr acuten, oft schon in einigen Wochen
zum Tode führenden Verlauf; verläuft meistentheils unter dem Bilde acuter
Diarrhoen, Geistesstörungen fehlen stets.
Die Erytheme kommen wohl auch auf Händen und Füssen vor, doch
führen dieselben zur Ablagerung eines bräunlichen oder schwärzlichen Pig-
mentes, namentlich in der Gegend der Brustwarzen, am Unterleibe, am Halse
und in den Falten an den grossen Gelenken.
Prognose. Was die Prognose anbelangt, so ist dieselbe stets als ernst,
in den schweren Fällen geradezu als schlecht zu stellen.
Wenn noch keine tiefer greifenden Veränderungen seitens der Ver-
dauungsorgane und des Nervensystems sich entwickelt haben, so kann die
Krankheit bei entsprechender Lebensweise noch in Heilung übergehen oder
wenigstens einen Stillstand aufweisen, der selbst Jahre lang andauern kann.
Wenn sich jedoch der Kranke wieder der Schädlichkeit aussetzt, so kehrt die
Krankheit auch bald wieder zurück. War das Individuum einmal von der
Krankheit befallen, so neigt es in hohem Maasse zu Recidiven.
Nachdem die Aenderung der Lebensweise der Landbevölkerung, die doch
das grösste Contingent der Krankheit liefert, nur durch einen Umschwung in
cultureller und socialer Beziehung möglich wäre, das Individuum, wenn es
auch genesen ist, meistens wieder den Schädlichkeiten sich aussetzt und daher
wieder von der Krankheit befallen wird, so muss die Prognose auch in den
leichten Fällen im Allgemeinen als ernst bezeichnet werden.
Wenn schon tiefer greifende Veränderungen, ausgebildete Geistesstörungen,
allgemeiner Marasmus etc. vorliegen, so ist eine Besserung nur höchst aus-
nahmsweise zu erwarten, und gehen die Individuen in der Regel entweder in-
folge Selbstmord oder intercurrenter Erkrankung recht bald zu Grunde, oder
verfallen einem oft jahrelangen zum Tode führenden Siechthume.
Prophylaxis und Therapie. Nachdem wir den verdorbenen Mais als
Krankheitsursache kennen gelernt haben, so wäre wohl theoretisch die Prophylaxis
vorgezeichnet, wenn sich in der Praxis nicht oft unüberwindliche Schwierig-
keiten entgegenstellen würden. Die Versuche, den Mais durch Kartoffelbau
zu verdrängen, führten an einigen Orten Italiens zu sehr guten Resultaten,
indem eine erhebliche Abnahme der Krankheit bald eintrat. Den Maisbau
jedoch ganz aufzugeben, würde nach dem jetzigen Stande in den Mais cul-
üvirenden Ländern einen grossen culturellen Umschwung bedingen, den bald
auszuführen weder möglich, noch schliesslich auch nothwendig wäre, nachdem
der unverdorbene Mais einen hohen Nährwerth besitzt und ein sehr gutes
Nahrungsmittel abgibt. Es würde sich in erster Linie empfehlen, nur solche
Maissorten zu cultiviren, welche zur vollkommenen Reife gelangen können.
Welche Maisgattung die geeigneteste wäre, darüber sind wohl die Meinungen
getheilt, es hängt auch Vieles von dem Boden — und climatischen Verhält-
nissen ab. In Italien wird der Cinquantino am meisten beschuldigt, was wohl
darin liegen dürfte, dass derselbe sehr verspätet angebaut wrd. Das Land-
volk rechnet nämlich auf die durchschnittliche Reifung in .50 Tagen und baut
daher denselben erst nach der Abnahme der Weissfrucht, so dass er sich dann
oft in seiner Reifung verspätet; bei rechtzeitigem Anbaue wäre vielleicht gerade
182 [.PERCÜSSION.
diese Maisgattuug die beste, in Folge der dünnen Beschaifenheit der Frucht-
kolbenspindel und daher der leichteren Möglichkeit der Trocknung.
Ein grosses Gewicht wäre ferner auf eine gute Trocknung und entspre-
chende Aufbewahrung des getrockneten Maises in unter behördliche Aufsicht
stehenden Magazinen nach dem mexikanischen Muster zu legen.
Ein von grossen Erfolgen begleiteten Schritt hat Italien durch die Auf-
stellung des Forno rurale gemacht. In diesen Oefen wird nicht nur der Mais
getrocknet, sondern auch ein sehr gutes und billiges Brot, aus andern Cerea-
lien hergestellt und dem Landvolke um den Selbstkostenpreis verkauft. Ebenso
erscheint das Beispiel der ,^Cucina economica,'' sogenannter Volksküchen, sehr
nachahmenswerth. Um 10 Centime bekommen die Leute 1 Liter einer recht
guten aus Bohnen, Gerstengraupen, Speck, Kraut etc., hergestellten Speise,
welche nebst dem grossen Nährwerth auch den Vorzug der Billigkeit geniesst.
Diese in Italien bestehenden Institutionen sind von den besten Erfolgen
begleitet, indem dieselben eine merkliche Abnahme der Krankheit zur Folge
haben; die Propagirung dieser Institutionen wäre sowohl bei uns in Oester-
reich als auch anderwärts sehr erwünscht.
Sehr empfehlenswerth wären auch die Versuche, die Polenta derart zu
bereiten, dass der Mais vorher mit Asche oder Kalk gekocht werden würde,
wie diese Methode in Mexico allgemein verbreitet und auch in der Armee
eingeführt ist. Zur Bereitung des Schnapses und des Bieres wäre nur unver-
dorbener gesunder Mais, respect. unverdorbene andere Cerealien zu verwenden;
es müssten daher diese Unternehmungen strengstens beaufsichtigt werden.
Schliesslich wäre wohl auch die Propagirung anderer Cerealien, namentlich
der Hülsenfrüchte, beim. Anbaue sehr zu empfehlen.
Wegen der grossen Neigung zu Recidiven wären wohl die geheilten oder
gebesserten Pellagröse in solche Verhältnisse zu bringen, wo ein Rückfall in
Folge der früheren unzweckmässigen Lebensweise ausgeschlossen wäre. Auch
in dieser Richtung hat Italien durch die Errichtung von Pellagraasylen,
recht Rühmenswerthes geleistet. Die Reconvalescenten und leicht Kranken
werden daselbst zu leichteren Feldarbeiten angehalten, wodurch ein grosser
Theil der Regie-Auslagen gedeckt wird. Die Pfleglinge bekommen eine gute,
kräftige Nahrung, erholen sich bald sichtlich und gedeihen sehr gut.
Die Krankheit selbst wäre, durch sofortiges Aussetzen des Maisgenusses,
durch Verabreichung einer reichlichen, nahrhaften, gesunden Kost, etwas Wein,
lauwarme Bäder, überhaupt durch ein tonisirendes Verfahren zu behandeln.
Von der medicamentösen Behandlung wäre wohl in den meisten Fällen
ausser symptomatischer Verabreichung von Mitteln: bei Diarrhöen kleine Dosen
von Laudanum entsprechender Behandlung der Hauterkrankung und psychia-
trischen Maassnahmen, abzusehen, obwohl auch vielfach Chinin, Eisen und
Arsenik, jedenfalls wohl auch als Tonica empfohlen werden.
PHILIPOWICZ.
PerCUSSion. Die Percussion als diagnostische Untersuchungsmethode
liefert einmal tastbare, dann aber auch, was wesentlicher ist, hörbare Phä-
nomene. Die tastbaren bestehen: 1. aus molecularen Vibrationen der per-
cutirten Rippen, die zugleich auch als Schall percipirt werden können. Die
Vibrationen sind ein Ausdruck der Knochenelasticität, werden ganz oder theil-
weise aufgehoben, wenn die Rippen an ihrer inneren Fläche von nicht elas-
tischen Medien, flüssigen oder festweichen begrenzt sind, in welchem Falle auch
der Schall entsprechend modificirt erscheint, so dass es genügt letzteren, der
viel sicherer und allgemeiner der Beurtheilung zugänglich ist, als Symptom
zu verwerthen. Zu den tastbaren durch Percussion erregten Phänomenen ge-
hören: 2. auch gewisse gross- und kleinwellige, nicht moleculare, sondern
PERCUSSION. 183
Massenbewegungen, die unter dem Xamen Fluctuation zusammengefasst werden.
Näheres über diese s. unter Artikel ..Untersuchung'-' .
Viel wichtiger sind die a c u s t i s c h e n P e r c u s s i o n s s y m p t o m e. Nur
sonorer Schall liefert auch auf Distanz leicht unterscheidbare Differenzen, die
analogen Differenzen der schallenden Medien entsprechen. Nicht sonorer,
matter Schall ist nur durch Auscultation, nicht aber bei freiem Anhören auf
Distanz in ähnlicher Weise differenzirbar. Es können sonach nur solche
Körpertheile zur Percussion sich eignen, die normaliter wenigstens ihrem
grösseren Theil nach sonoren Schall liefern, und das sind die Luft- oder Gas-
hältigen: Thorax (inclusive der Supraclavicularraum des Halsesj und Unter-
leib, ausnahmsweise alle anderen Körperstellen, an denen Verdacht, eines so-
genannten Hautemphysems oder dislocirter gashaltiger Eingew^eidetheile besteht.
In beiden Fällen genügt ein einziger Percussionsstoss zur sicheren Orien-
tirung.
Die Untersuchung mittelst Percussion setzt sich wie die Mehrzahl aller
objectiven Untersuchungen aus 3 verschiedenen Thätigkeiten zusammen: 1. aus
der technischen, 2. aus der perceptiven und 3. der eigentlich diagnostischen.
A. Was den Technicismus des Percutirens anbelangt, so gebraucht
man entweder einen Finger einer Hand oder einen Hammer dazu, um einen
Stoss gegen die zu percutirende Körperstelle zu führen. Dieser Stoss wird
heutzutage nie mehr direct auf die Körperoberfläche, sondern auf ein unter-
gelegtes Plessimeter oder einen untergelegten Finger der freien Hand geführt.
Nach der Kraft des Stosses unterscheidet man eine starke und eine schwache
Percussion, letztere ist die häutiger angewandte, wichtigere.
Zu der Fingerpercussion eignet sich am besten der Mittelfinger,
dessen 2 letzte Glieder leicht gebogen, isolirt von den anderen Fingern ge-
halten und mittelst Bewegung der ganzen Hand im Handgelenk bei voller Piuhe
des eigenen Fingerbeugers so wäe sämmtlicher Armmuskeln derart in Bewegung
gesetzt werden, dass die Fingerspitze möglichst senkrecht gegen das Plessi-
meter stösst. Der Stoss soll elastisch, also ein wirklicher Stoss, nicht aber
ein wenn auch nur kurz dauernder Druck sein.
Wird ein Hammer benützt, so empfiehlt sich ein etwas schwererer,
dessen Knopf ende mit einer ca IY2 — 2 mm dicken stark gespannten
Kautschukmembran überzogen ist. Man hält den Griff zwischen Daumen und
Zeigefinger derart, dass das freie Ende lose in der Hohlhand zu liegen kommt.
Bei schwacher Percussion wird der Griff näher zum Hammer, bei starker
etw^as ferner von demselben gefasst, und darauf geachtet, dass der Knopf
immer senkrecht auf die Unterlage stosse. Bei schwacher Percussion ist nicht
bloss die Kraft des Stosses, sondern auch die Dauer der Berührung zwischen
Hammerknopf und Plessimeter zu beachten, je schwächer die Percussion in-
tendirt wird, um so kürzer muss auch jene Berührungsdauer sein, so dass
der Stoss gewissermaassen schnellend ausfällt. Was die Kraft des Stosses an-
belangt, so schwächt man dieselbe, indem man den Hammerknopf nur von
minimaler Distanz auf das Plessimeter fallen lässt, und entweder nur vermöge
seiner Schwere allein, oder mit nur minimaler Schwung- oder Wurfki-aft.
Beim Anlegen des Plessimeters ist darauf zu achten, dass dasselbe
bei starker Muskel- oder Fettschichte massig gegen die Skelettheile angedrückt
wird. Wo Knochenvorsprünge an der Körperoberfläche sich befinden, muss
vermieden werden, dass das Plessimeter nicht etwa mit 2 gegenüberstehenden
Punkten seiner Peripherie sich auf solche Knochenvorsprünge stützt und in
der Mitte mehr weniger hohl liegt, wie das z. B. in der Claviculargegend,
über der Scapula und ihren Piändern, am unteren Ende des Sternums etc.
oft leicht möglich ist. Im Supraclavicularraum kann zumeist nur ein Fin-
ger als Unterlage dienen.
184 PERCüSSION.
B. Was die Perceptioii und Diöerenziruiig des Percussionsschalles an-
belangt, so gelten für dieselbe folgende allgemeine physikalische Bemer-
kungen'^") :
I. Aller Schall ist entweder ein klopfender (bei festen Körpern), ein
knallender bei Gasen, wenn seine Erregungsursache eine momentane; oder
ein D a u e r s c h a 1 1, wenn die Erregungsursache eine mehr als einen Moment
dauernde ist. Der Dauerschall ist entweder für musikalische Zwecke geeignet
oder nicht, in letzterem Falle, heisst er Geräusch. Klopfender Schall und
Geräusche können als gemeiner Schall bezeichnet werden gegenüber dem
musikalischen. Klopfender Schall kann unter geeigneten Verhältnissen
sowohl geräuschartige als auch musikalische Kesonanz erregen, welche letztere
den ursprünglichen Schall nicht selten ganz deckt
Zwei oder mehrere Schallwahrnehmungen beliebiger Art können sich von
einander gleichzeitig nach mehreren Principien unterscheiden:
1. nach der Sonorität, diese ist das wichtigste Princip. Es ist im
Wesentlichen jener Unterschied, der zwischen dem klopfenden Schalle weicher
und harter Stoffmassen z. B. zweier Kautschuk- und gleich grosser Holzkugeln
besteht. Dieser Unterschied ist nicht bloss in der stärkeren Erregung des
Hörnerven durch den Schall des Holzes ceteris paribus zu suchen; mindestens
ist diese stärkere Erregung nicht als quantitative, objectiv messbare zu er-
kennen. Der einzige objective Maassstab für die Stärke der Erregung könnte
doch nur in der Hörbarkeit des Schalles auf verschiedene Distanzen oder
bei gleicher Distanz durch verschieden dichte Medien hindurch gefunden
werden. Nun kann man aber den Schall der Holzkugeln durch schwaches
Zusammenstossen so schwach herstellen, dass derselbe nicht so weit gehört
wird, als der Schall der kräftiger zusammenstossenden Kautschukkugeln, und
doch wird bei aufmerksamer Beobachtung beider in der Nähe genau dieselbe
charakteristische Differenz zwischen beiden erkannt werden, als wenn der Holz-
schall auch auf grosse Distanzen hörbar hergestellt wird. Wollte man diese
charakteristische Differenz doch als Intensität bezeichnen, so müsste man sie
zum Unterschiede von der thatsächlich auch bestehenden, objectiv messbaren
Intensität als subjective bezeichnen. Zweckmässiger ist es nun zur Vermei-
dung von Confusionen die subjective Intensität als Sonorität zu bezeichnen,
wie das allgemein geschieht. Die Sonorität variirt nun bei verschiedenen
Schallwahmehmungen dem Grade nach d. i. nach einem Plus oder Minus, der
Schall ist einmal mehr, das anderemal weniger sonor. Für die allgemeine
Bezeichnung des Plus oder Minus an Sonorität sind die Ausdrücke hell für
das Plus und dumpf für das Minus im Gebrauch. Eine Art Scala für diese
Sonoritätsgradationen kann man sich willkürlieh herstellen, wenn man ^etwa
Kugeln aus verschieden harten Stoffen z. B. Kautschuk, Kork, Holz, Stein,
Metall etc. in 2 gleichen und ungleichen Stoffen combinirt schallen macht.
Den Nullpunkt der Scala wird Kautschuk allein, den Maximalpunkt Stein oder
Metall repräsentiren, d. h. Kautschuk allein schallt in maximo dumpf, was
wir der Kürze halber matt nennen wollen. Stein oder Eisen hingegen in ma-
ximo hell.
Die Ursache der Sonorität bei cubischen, festen Massen ist in
der That nur in der Härte der Stoffe gelegen.
2. Ein 2. Unterscheidungsprincip für mehrere Schall Wahrnehmungen ist
dessen objective Intensität, die ebenfalls in Gradationen auftritt. Die
Definition der object. Intensität ist schon sub 1, enthalten. Als allgemeine
Bezeichnungen des Plus oder Minus an Intensität gelten die Worte: laut
oder stark für das Plus, gedämpft für das Minus.
*) Bezüglich eingehender Daten vergleiche mein Lehrbuch „Diagnostik der Brust-
krankheiten", W. Braumüller, 1877.
PERCÜSSION. 185
Die objective Intensität hängt beim klopfenden Schall im Wesentlichen
von der Grösse der Stosskratt (=Product aus der Masse und der Be-
Avegungsgeschwindigkeit) ab, beim Dauerschall von der Grösse der zur Schall-
erregung verwendeten Kraft. Zu beachten ist jedoch, dass die Stosskraft nur
dann in ihrer Totalität zur Schallbildung beiträgt, wenn die beiden Schall-
gebenden Massen beim Stoss in unmittelbaren Contact mit einander kommen.
Ist das nicht der Fall, liegt z. B. zwischen beiden eine Schichte gar nicht
oder nur wenig schallender Stoftmassen, so hebt diese die Schall erregende
Wirkung des Stosses je nach der Dicke der Schichte theilweise oder auch
ganz auf, oder sie dämpft den Schall in einem bestimmten Grade ab. Je
grösser nun die Schall gebenden Medien bis zu einer gewissen Grenze, um
so dicker muss die dämpfende Schichte werden bis zur vollen Aufhebung des
sonoren Schalles, d. h. um so geringer wird die Schall dämpfende Wirkung
des Zwischenmediums.
3. Ein weiteres Princip für Schalldifferenzirung ist die Höhe oder
Tiefe des Schalles. Die Definition dieses Princips ist allgemein bekannt.
Der gemeine Schall kann bezüglich seiner Höhe allerdings nicht so leicht
beurtheilt werden, wie der musikalische. Eine absolute Bestimmung der Höhe
ist hier überhaupt kaum möglich, man kann höchstens die Höhendifferenz zweier
Wahrnehmungen, wenn selbe mindestens mehrere Tonintervalle beträgt, erkennen.
Die Ursache der Höhendifferenz liegt bei gleicher Körperform in dem
Volumen und in der Härte der schallenden Stoffmassen; und zwar nimmt
die Höhe mit der Härte zu, mit dem Volumen ab.
4. Ein Unterscheidungsprincip rein acustischer Natur wäre die S c h a 1 1-
oder Klangfarbe, die sich eben nur auf zusammengesetzten Schall bezieht,
und für die Percussionssemiotik dermalen noch ganz entbehrlich ist.
5. Ein nur für klopfenden Schall geltendes Princip geht aus der Ver-
schmelzung der rein acustischen Wahrnehmung mit jener der Zeit, während
welcher selbe andauert also mit der Dauer des Schalles hervor. Diese ist,
wenn auch nicht mit der Uhr messbar, so doch subjectiv bei einiger Uebung
leicht als verschieden zu erkennen, so dass die Benennung langer und
kurzer Schall vollkommen berechtigt ist.
Die Ursache der Schalldauer liegt bei gewöhnlichen Stoffen in erster
Linie wohl in der Form derselben, worauf näher einzugehen hier überflüssig
wäre. Ausser der Form sind es das Volumen und die Härte, die die
Schalldauer beeinflussen. Je voluminöser die Masse um so länger, und je wei-
cher dieselbe bis zu einer gewissen Grenze, um so länger ebenfalls der Schall.
Bei der Ueberschreitung gewisser Grenzen in der Abnahme der Härte, wird der
Schall um so kürzer, je weicher.
6. Ein ferneres Princip geht ebenfalls aus einer Verschmelzung zweier hete-
rogener Wahrnehmungen nämlich der rein acustischen mit einer räumlichen
hervor. Man kann an verschiedenen Schallwahrnehmungen mehr weniger sicher
unterscheiden, welche von einem grösseren und welche von einem kleineren
Schallraum herrühren. Die Gradationen dieses Unterscheidungsprincipes wur-
den von Skoda mit den Ausdrücken voll für das Plus, leer für das Minus
bezeichnet, während sie logischer und verständlicher als gross und klein
bezeichnet werden sollten.
Die Ursache der Schallgrösse liegt allerdings zunächst im Volumen
der primär schallenden Medien, je grösser dieses Volumen, um so grösser der
Schall. Allein Form und Härte der Medien beeinflussen auch die Grösse
des Schalles in ganz analoger Weise wie dessen Dauer (s. oben sub 5.).
7. Nebst dem primären klopfenden Schall ist die durch denselben etwa
angeregte Piesonanz zu beachten. Am auffälligsten und deutlichsten tritt
Resonanz hervor, wenn die primär schallenden Massen sich in der Nähe der
186 PERCüSSION.
Mündung eines lufthaltigen Hohlraumes befinden und die Stossrichtung zwi-
schen den ersteren senkrecht auf die Mündung steht. Die Kesonanz deckt oft
den primären Schall vollständig. Sie wird in der Diagnostik als tympani-
tischer Schall bezeichnet. Der Begriff Tympanitismus wird nun auch
unter die Schallunterscheidungs-Principien aufgenommen. Der Tympanitismus
zeigt ähnliche Gradationen wie die früher genannten Principien, insoferne als
derselbe in verschiedenem Grade deutlich und leicht erkennbar ist. Man
kann diese Gradationen im Allgemeinen mit den Ausdrücken exquisit, und
annähernd bezeichnen. Exquisit tympaniti.scher Schall ist rein musi-
kalisch, d. h. hochgradig sonor nicht bloss auf einen Theil des schallenden
Mediums localisirbar und von gleichmässiger Dauer durch so lange Zeit,
dass seine Höhe leicht bestimmbar ist. In dem Grade als die Sonorität und
Dauer des Schalles abnimmt, oder eine gewisse Localisation des Schalles er-
kennbar ist (oder Sonorität und Höhe einem raschen Wechsel unterliegen)
wird auch der Tympanitismus weniger deutlich also höchstens als an-
nähernder zu bezeichnen sein, und endlich ganz schwinden.
So wie begrenzte Lufträume geben aber auch beliebige, feste schall-
fähige Massen, die mit den primär schallenden in unmittelbarem Contact sind,
selbstständige Resonanz, d. h. sie lassen ihren Eigenschall hören gerade so,
als würden sie direct dem Stoss ausgesetzt sein. Nur ist in diesem Falle die
Resonanz eben nicht musikalisch, wenn nicht etwa der Eigenton der resoniren-
den Masse an und für sich ein musikalischer ist. In beiden Fällen kann der
Resonanzschall mit dem primären vollständig zur Einheit verschmolzen zur
Perception gelangen, oder sie können für den aufmerksamen Horcher in der
Nähe beide neben einander mit bestimmten Aenderungen wahrgenommen wer-
den. Die Qualitäten des zur Einheit verschmolzenen, resultirenden Schalles
werden von beiden Factoren beeinflusst sein proportional ihrer Sonorität, und
Grösse, so dass der resultirende Schall jenem der beiden Factoren näher ste-
hen wird, der sonorer und grösser ist. Hieraus folgt, dass die Ursachen
der Gradationen des Tympanitismus in folgendem liegen:
a) in der Entfernung der primär schallenden Massen von der Mün-
dung des Luftraumes, je grösser die Entfernung um so undeutlicher, weil
schwächer und kürzer der Tympanitismus; 6) indem Verhältnis des Volu-
mens der primär schallenden Massen zu den Volumen der resoniren-
den Luft. Nennen wir das Volumen der ersteren a, das der anderen &, so
ist-r die Verhältniszahl zwischen beiden. Nur bei einem bestimmten Werthe
0
dieser Verhältniszahl ist der Tympanitismus exquisit, je grösser oder je
kleiner die Verhältniszahl als dieser bestimmte Werth derselben um so
weniger deutlich der Tympanitismus; c) in dem Verhältnis zwischen der
Grösse der Mündung und dem Volumen der Luft. Auch in dieser Bezie-
hung wird nur eine Verhältniszahl von bestimmter Grösse das Maximum an
Tympanitismus zur Folge haben. Je grösser die Mündung bei Aenderung der
Verhältniszahl, um so höher aber auch um so kürzer und schwächer wird die
Resonanz; je kleiner die Mündung um so tiefer, dumpfer und schwächer wird
dieselbe; d) In dem Härtegrade beider primär schallenden Massen. Jener
Theil, der dem Resonanzraum näher ist, wird nur bei mittlerem Härtegrad
den Tympanitismus exquisit erscheinen lassen; z. B. geben die Stoffe der oben
angeführten Sonoritätsscala dann die deutlichste Resonanz, wenn Holz in der
Nähe des Resonanzraumes ist; sowohl Kork und Kautschuk als auch Stein
und Metall machen die Resonanz minder deutlich. Der andere Theil der pri-
mär schallenden Massen wirkt um so günstiger auf den Tympanitismus der
Resonanz, je härter und dichter derselbe. Demnach liefern Stein und Metall
als obere, Holz als untere der Mündung zugekehrte Massen den exquisitesten
Tympanitismus.
PERCüSSION. 187
In ganz analoger Weise wird auch der nicht tympanitische Resonanzschall
fester Massen bezüglich seiner Qualitäten von jenem der beiden Factoren mehr
beeinflusst sein, der sonorer und grösser ist. (Vgl. weiter unten C, II, a, 5.)
8. Ist der Luft-Resonanzraum sehr gross, hat derselbe insbesondere
eine mehr längliche Form, so hängt dem tympanitischen ein metallischer
Nach- oder Beiklang an.
9. Erwähnt sei schliesslich auch noch das so genannte Geräusch des
gesprungenen Topfes oder des Münzenklirrens. Man hört dasselbe,
wenn man bei einem Thon- oder Metallgefäss, dessen Wand irgendwo einen
längeren Sprung zeigt, an den Boden desselben klopft. Augenscheinlich ent-
steht das dem klopfenden Schall anhängende Geräusch durch das Gegenein-
anderstossen oder sich Gegeneinanderreiben der Spaltränder bei der momen-
tanen Erschütterung, Aehnliches entsteht auch, wenn in dem Gefässhohlraum
eine grössere Zahl Metallmünzen sich befinden, und dasselbe kräftig aber nur
momentan erschüttert wird.
n. Will man die oben angeführten allgemein physikalischen Gesetze
der Schall Variationen auch auf jene Stoffe und Gebilde, die den
menschlichen Organismus zusammensetzen, übertragen, so ist vor Allem
zu beachten, dass die sonor schallenden Körpertheile nur vermöge ihrer Luft-
oder Gashaltigen membranöse Hohlräume j^ repräsentirenden Organe sonor
schallen.
1. Will man nun diese auf ihre Schallfähigkeit näher prüfen, so em-
pfiehlt es sich dem Cadaver entnommene, leere nur Luft enthaltende Darm-
stücke dazu zu verwenden. Hat man ein cca. 20 — 30 cm langes leeres Darm-
stück, so binde man das eine Schnittende einfach fest zu, und in das zweite
binde man einen mit einem Hahn versehenen Tubus ein. Durch den Tubus
blase man zunächst nur so viel Luft in das Darmrohr, dass seine Wände eben
nur auseinander gehalten, aber absolut nicht gespannt sind. Percutirt man
das Darmstück nun an beliebigen Stellen, so hört man immer exquisit
tympanitischen Schall. Die Höhe dieses Schalles hängt theils von der
Rohrweite, theils von der Dicke und Steifheit der Rohrwand ab. Mit
der Zunahme der Weite, Dicke und Steifheit — letztere schon durch das allmälige
Austrocknen an der Luft — nimmt auch die Tiefe zu. Dicke und Steifheit
beeinflussen bei stärkerer Zunahme auch die Sonor ität und Dauer des
Schalles, beide nehmen in umgekehrtem Verhältnis zu jenen ab.
Ist das Darmstück lang und weit genug, so hört man an verschiedenen
Punkten, besonders beim Percutiren mit harten Körpern mehr weniger deut-
lichen Metallklang, am deutlichsten z. B. am Magen, aber auch am Dick-
darm selbst am Dünndarm, wo er etwas weiter ist.
Augenscheinlich stehen nun diese membranösen Hohlräume den mit einer
Mündung versehenen starrwandigen Hohlräumen parallel. Der Unterschied
besteht nur darin, dass bei diesen Membranen, trotzdem sie allenthalben ge-
schlossen sind, die Molekularbewegungen an jedem Punkte der weichen jede
Molekularverschiebung gestattenden Membran ein- und austreten können. Sie
treten an der Percussionstelle ein, breiten sich im Innern wellenförmig aus,
und werden an den verschiedenen Punkten der Innenfläche je nach dem Ein-
fallswinkel retiectirt oder durchgelassen. Der durchgelassene, also wieder nach
aussen tretende Theil wird als tympanitischer Schall percipirt.
Bläst man in das Darmrohr mehr Luft ein, so dass dessen Wände ge-
spannt zu werden beginnen, so wird zunächst der tympanitische Schall höher
kürzer und zwar in dem Grade als die Spannung zunimmt. Bei einem ge-
wissen Grade der Spannung verliert sich der tympanitische Schall vollständig,
und es bleibt nur ein schwacher, dumpfer, nicht tympanitischer Schall hörbar.
Dieser nicht tympanitische Schall wird mit der noch weiter zunehmen-
den Spannung immer sonorer und höher. Beachtenswerth ist, dass der-
188 PEßCüSSION.
selbe nur dann wesentlich lauter wird, wenn man das Plessimeter stärker in
das Lumen der Röhren hineindrückt. Dieses Verhältnis hat seinen Grund
nicht bloss darin, dass durch das Eindrücken der Wand der Innenraum etwas
verkleinert, mithin die Spannung etwas gesteigert wird, sondern auch darin,
dass bei blosser Berührung oder nur geringem Druck die convexe Wand beim
Percutiren eben nur ihre Convexität, damit aber auch einen Theil ihrer ur-
sprünglichen Spannung örtlich einbüsst, und dadurch auch die Fähigkeit, an-
geregte Vibrationen der ganzen übrigen Wand mitzutheilen verliert.
Was die Bedingungen der Sonor ität, Höhe, Dauer und Grösse
des nicht tympanitischen Darmschalles anbelangt, so sind es ganz dieselben
die oben als allgemein physikalische angeführt wurden, nur muss statt der
Härte der Stoffe hier die Spannung der Membranen substituirt werden.
Diese Substitution wird sofort einleuchtend, wenn man bedenkt, dass Härte
und Spannung insoferne identische Begriffe sind, als beide den Grad der
Molekularverschiebbarkeit der Stoffe bedeuten.
2. Percutirt man aus dem Cadaver herausgenommene Lungen, so hört
man bei normalem Bau derselben allenthalben nur einen annähernd tym-
panitischen Schall, trotz des totalen Mangels aller Spannung der Alveolar-
membranen. Nur an infiltrirten, namentlich an tuberkulösen Lungen findet
man stellenweise exquisit tympanitischen Schall, wobei man denselben constant
auf lufthaltige Lungeninseln mitten zwischen infiltrirten Massen beziehen
kann. Es ist demnach der Mangel des exquisit-tympanitischen Schalles an
normalen vollkommen schlaffen Lungen auf die mangelhafte Reflexion der
Wellenbewegung, — in analoger Weise, wie bei starrwandigen Hohlräumen
mit zu weiter Mündung, — zu beziehen.
Bläst man aus dem Cadaver herausgenommene Lungen bis zur voll-
ständigen Spannung auf, so schallt selbe beim Percutiren allenthalben nicht
tympanitisch.
C. Bei der diagnostischen Beurtheilung des Percussionsschalles ist
in erster Linie der Thorax zu beachten. An diesem rührt der sonore Schall
allenthalben von der Lunge her, deren sämmtliche Alveolen im gesunden Zu-
stande hochgradig gespannt sind. Da aber die Lunge von der Thoraxwand
gedeckt ist, so muss der Schall der ersteren durch letztere mehr weniger modi-
ficirt werden.
Man muss sonach vor Allem den Einfluss der Thoraxwand nach allen
Richtungen klar übersehen, bevor man den Percussionsschall diagnostisch
richtig deuten kann.
L Die Thoraxwand besteht aus Weichtheilen, (Muskeln, Bindegewebe
und Fett) und aus den Rippen und sonstigen Knochen, die von ersteren ein-
gehüllt sind. Die Weichtheile wirken als Schalldämpfende Medien und
zwar Bindegewebe und Fett proportional ihrer Dicke, Muskeln hingegen über-
dies auch noch proportional dem Grade ihrer Contraction.
Die Rippen hingegen wirken einerseits wohl auch als dämpfende Me-
dien auf den Lungenschall, andererseits aber liefern sie beim Percutiren doch
auch mehr weniger Eigenschall, der auf die unterliegende Lunge ähnlich
wirkt, wie der Eigenschall eines Plessimeters. Ganz besonders wichtig ist aber
der Einfluss der Rippen auf den Lungenschall in Folge der verschiedenartigen
Beweglichkeit der Rippen. Durch den Percussionsstoss, der regelmässig die
Obei-fläche der Rippen senkrecht trifft, können dieselben in vielen Fällen
ihrer ganzen Länge nach eine Locomotion, oder mindestens eine Drehbewe-
gung ausführen. Dies wird von allen jenen Punkten aus geschehen, an
denen die äussere Rippenfläche mit der Längenachse des Thorax einen mehr
weniger spitzen Winkel einschliesst. Für gewöhnlich z. B. vorne an den obe-
ren 5 — 6 Rippen; seitlich und rückwärts häufig an den unteren. Diese Ge-
sammtbewegung der Rippen wird beeinflusst: in erster Linie von der Stel-
PERCUSSION. 189
lung der Rippen. Je stärker sie in der Richtung der Inspirationsbewegung
emporgehoben sind, umso grösser ihr Widerstand gegen die locomotorische
Verschiebung. Je mehr sie herabgesunken sind in die exspiratorische oder
sogenannte paralytische Stellung, umso leichter die locomotorische Verschie-
bung. — Ausserdem wird aber letztere auch noch durch die Contraction aller
Muskeln, speciell aber der intercostalen beeintiusst. Je kräftiger die Mus-
keln, umso schwächer die Locomotion, und umgekehrt, je schwächer die
^luskeln, umso ausgiebiger die Locomotion.
In allen jenen Fällen aber, wo die Rippen in Folge des Percussions-
stosses keine Locomotion in ihrer Totalität ausführen können, werden sie
immerhin mindestens örtlich an der Stosstelle eine concave Einbiegung er-
leiden. Die Länge und Tiefe dieser Einbiegung hängt ab: in erster Linie
von der Biegsamkeit der Rippen; ist also bei jüngeren Individuen meist grösser
als bei älteren, — am grössten bei Kindern.
In zweiter Linie hängen die Dimensionen der Einbiegung davon ab, ob
das percutirte Stück plan oder mehr weniger convex ist. Je convexer, umso
schwächer die Einbiegung; deshalb ist auch an Stellen grösster Convexität,
etwa rückwärts in der Nähe der Wirbelsäule an den oberen Rippen die Ein-
biegung zumeist gleich 0.
Sowohl bei der totalen Locomotion der Rippen, als auch bei der Einbie-
gung eines Theiles derselben müssen sie in die hinter ihnen liegende Lunge
mehr weniger tief eindringen. — Die Schallvibrationen können nun von der
durch die Rippen eingedrückten Lungenoberfläche aus dem übrigen Lungen-
parenchym am besten mitgetheilt werden. — Je grösser also das in die Lunge
eindringende Rippenstück, umso grösser muss auch der Lungenschall werden.
Deshalb ist denn auch in der That der Percussionsschall vorne oben bis zur
5 — 6 Rippe, seitlich und rückwärts hingegen nach unten zumeist grösser als
seitlich und rückwärts oben.
n. Während die ThoraxAvand den schon in der Lungenmasse gebildeten
Schall bloss bezüglich seiner Stärke und Grösse beeinflusst, sind die Lungen
die eigentliche und wesentliche Bildungsstätte dieses Schalles. Im Allgemeinen
werden nun die Rippen unmittelbar an der Percussionsstelle zumeist auch die
ausgiebigste Locomotion ausführen, mithin den Schall am stärksten beein-
flussen, so dass man annehmen kann, es werde der Schall eben nur von der
Stosstelle aus gebildet. Doch muss man einzelne Thoraxstellen beachten, an
denen die Dicke der Lungenschichte eine geringfügige, aber nach den Seiten
hin sehr rasch in hohem Grade zunehmende ist. Am auffälligsten sind in
dieser Beziehung manchmal die den Sternalrändern nächsten Stellen soAvohl
rechts als besonders links zwischen der 2. — 5. Rippe. An diesen Stellen kann
es nun geschehen, dass beim Percutiren in unmittelbarer Nähe des Sternal-
randes der Schall doch von den nach den Seiten hin angrenzenden Partien,
wo die unterliegende Lunge weitaus dickere Schichten bildet als an der Stoss-
stelle mehr beeinflusst wird, als von der Stosstelle selbst, wodurch Irrthümer
in der Deutung entstehen. Solche Irrthümer kann man in der Regel durch
möglichst schwache correcte Percussion eliminiren.
Unter der Voraussetzung also, dass der gehörte Percussionsschall sich
unmittelbar auf die Stosstelle selbst bezieht, gelten folgende Bemerkungen:
Wie jeder klopfende also von festen Körpern ausgehende Schall, ganz
wesentlich von der die festen Körper umgebenden Luft ausgeht, als tympani-
tischer Schall sogar nur von geschlossenen Lufträumen in der Nähe der
festen Körper abhängt, so ist auch der Lungenschall in erster Linie von der
die Lungen erfüllenden athmosphärischen Luft abhängig, und sind die mehr
weniger gespannten, zarten Alveolarmembranen nur insofern e von Einfluss auf
den Schall, als sie dessen besondere Qualitäten bedingen.
190 . PERCÜSSION.
Die Gesetze des etwa am Thorax hörbaren, tympanitischen Schalles
ergeben sich aus den bereits oben angeführten Experimenten mit Luft haltigen
Darmstücken und dem Cadaver entnommenen Lungen zur Genüge.
Für den gewöhnlich zu hörenden, nicht tympanitischen Schall bei
normaler Spannung der Alveolarmembranen sind die allgemeinen Gesetze
auch bereits oben namhaft gemacht. Als specielle, den concreten Stoffen
und Gebilden der Thoraxhöhle angepasste Detail-Normen dieses Schalles können
folgende gelten:
a) bezüglich des Einflusses der Stoffmassen auf die Schallqualität.
1. Die Quantität der in einem bestimmten Lungenstück vorhandenen
Luft beeinflusst die Sonor ität des Schalles; je mehr Luft, umso sonorer
ceteris paribus der Schall.
2) Die Grösse des durch einen Percussionsstoss schallend gewordenen
Lungenstückes beeinflusst die Grösse, Dauer und Höhe des Schalles, und
zwar Grösse und Dauer in geradem, die Höhe in umgekehrtem Verhältnis.
3. Der Grad der Spannung Luft einschliessender Membranen beeinflusst
die Sonorität des Schalles. Je grösser die Spannung, umso sonorer der
Schall. Ebenso beeinflusst der Grad der Spannung die Höhe in gerader Pro-
portion. Und zwar muss bemerkt werden, dass Höhendifferenzen am Schalle
schon bei geringeren Spannungsdifferenzen bemerkbar werden, als Sonoritäts-
differenzen. — Schliesslich beeinflusst der Grad der Spannung auch noch die
Dauer des Schalles, jedoch in etwas complicirterer Weise. Nur mittlere
Grade der Spannung beeinflussen nämlich die Dauer des Schalles in um-
gekehrter Proportion, geringere Grade in gerader Proportion.
4. Nicht schallende oder nur weuig schallende Medien, die sei es nor-
maler oder pathologischer Weise zwischen die schallgebende Lunge und das
Plessimeter treten, dämpfen oder schwächen die Stärke des sonoren Schalles
proportional der Dicke der Schichte, und dem Steifheitsgrade jener nicht
schallenden Medien.
5. Der primäre Percussionsschall der vom Hammer und Plessimeter ausgeht,
beeinflusst durch seine Sonorität auch die Sonorität des Lungenschalles, deshalb
geben harte Hammerknöpfe, ebenso harte Plessimeter im Gegensatz zum als
Plessimeter benützten Finger sonoreren Lungenschall als weiche Hammerknöpfe
und Fingerplessimeter. — Aber auch die Grösse des Plessimeters und des in Lo-
comotion versetzten Pdppenstückes haben insoferne Einfluss auf die Sonorität
des Lungenschalles, als der Luftgehalt des schallenden Lungenstückes umso
grösser sein muss, je grösser das Plessimeter und das genannte Kippenstück,
wenn der Lungenschall nicht von jenem des Hammers, Plessimeters eventuell
jenem des percutirenden und untergelegten Fingers vollständig gedeckt, folglich
in letzterem Falle d. i. bei reiner Fingerpercussion dumpfer, in ersterem d.
i. bei Hammer- u. Plessimeter Verwendung heller sein soll, als dem Luftge-
halt und der Spannung der Lunge wirklich entspricht.
h) bezüglich der diagnostischen Bedeutung der einzelnen Schallqualitäten.
1. Verschiedene Sonoritätsgrade bedeuten verschiedene Spannungsgrade
der Alveolarmembranen, oder verschiedenen Luftgehalt der Alveolen; beides in
gerader Proportion.
2. Verschiedene Grade der objectiven Schallstärke bedeuten verschiedene
Dicke, oder verschiedene Grade von Steifheit auch Kesistenz der sogenannten
dämpfenden Medien ebenfalls in gerader Proportion.
3. Verschiedene Schallhöhe bedeutet verschiedene Grösse des Schallraumes
in umgekehrter und verschiedene Spannungsgrade der Alveolarmembranen
in gerader Proportion.
PERCUSSION. 191
4. Verschiedene .ScliuUdauer bedeutet ebeulalls verschiedene Grösse des
Schallrauraes in gerader Proportion; und verschiedene Spannung der Alveolar-
merabranen in umgekehrter Proportion; letzteres jedoch nur bei mittleren
Sonoritätsgraden des Schalles.
5. Verschiedene Schallgrösse bedeutet wohl direct nur verschiedene
Grösse der Schallräume in gerader Proportion, am Thorax aber auch indirect
verschiedene Beweglichkeitsgrade der Pappen ebenfalls in gerader Proportion.
in. Während l)isher der auf je eine Percussionsstelle bezügliche Schall
für sich allein gewürdigt wurde, ist auch das Verhältnis des Schalles mehrerer
benachbarter Stellen zu einander von hoher diagnostischer Wichtigkeit, ^lan
findet nämlich stellenweise an mehreren benachbarten Stellen gleichen oder
nahezu gleichen Schall, stellenweise hingegen wechselt die Qualität des Schalles
schon an benachbarten Stellen und geben nur wenige solcher Stellen ganz
gleichen Schall. Wenn man nun jene benachbarten Stellen an der Körper-
obertiäche, die gleichen Schall geben, mit Linien umgrenzt, so erhält man eine
Anzahl von Schallregionen, die besonders am Thorax schon im normalen Zu-
stande von besonderer Wichtigkeit sind. — Da nämlich im normalen Zustande
weder die Membranspannung, noch die Piippenbeweglichkeit wesentlich vari-
iren dürfen, so können sich Schalldifferenzen nur darauf beziehen, dass an
bestimmten Stellen Lungenmasse, an anderen wieder andere gashaltige Organe
(Magen, Darm etc.), schliesslich an noch andern Stellen nur solide Massen den
Schall liefern.
Wo man notorisch Lungenschall hat, kann die Lungenschichte an
der Percussionsstelle eine dickere oder auch dünnere sein. Ist die Lungen-
schichte dünner, so muss der Kaum hinter ihr durch nicht schallende Medien
ausgefüllt sein z. B. Herz, Leber etc.
Derselbe Schall also, der uns anzeigt, dass die Lungenschichte dünner
geworden, zeigt uns auch an, dass irgend eine hinter der Lunge liegende
solide Masse sich der Oberfläche genähert hat. — So wie die Dicke der
Lungenschichte, kann auch die Entfernung der schallenden Lungenoberfläahe
von dem Plessimeter eine grössere oder geringere sein, d. h. es können
dickere, respective resistentere oder dünnere, respective weniger resistente
dämpfende Medien über der Lunge oder anderen Gashaltigen Organen liegen.
So wie nun der Percussionsschall einerseits anzeigt, dass die Lungenober-
fläche gegen die Tiefe zurückgetreten ist, so zeigt er auch schon an, dass das
dämpfende Medium an Dicke zugenommen hat. Wenn man nun den Beginn
der Veränderung in der Dicke der Lungenschichte, oder den Beginn der
Dämpfungszunahme möglichst exact constatirt, die allmälige Zunahme beider
Veränderungen nach allen Pachtungen so wie auch die endliche Begrenzung
derselben ebenfalls constatirt und durch sichtbare Zeichen an der Körperober-
fläche kenntlich macht, so wird man mit Hilfe bekannter anatomischer Daten
Grösse, Form, Lage der innerhalb der Lufthaltigen Gebilde gelegenen soliden
Organe zu beurtheilen im Stande sein. Denn es bedeuten dann jene zumeist
unregelmässigen krummen Linien, die durch die lineare Verbindung der oben
genannten Zeichen an der Körperoberfläche entstehen, und bestimmte Flächen
umschliessen, diese krummlinig umgrenzten Flächen wie gesagt, bedeuten die
Projection der Contouren der soliden Gebilde im Innern an die Körperober-
fläche.
Aehnlich verhält es sich bezüglich solcher Stellen, die nicht normalen
Lungenschall, sondern etwa tympanitischen hören lassen. Auch bei
diesem letzteren werden Variationen der Schallgrösse, etwaiger Dämpfung und
Reinheit des tympanitischen Charakters Piückschlüsse auf Grösse, Form, Lage
der Schallräume, so wie auch der zwischen ihnen liegenden soliden Medien
zulassen. Derartige Verhältnisse haben ihre besondere Wichtigkeit für den
192 PERCUSSION.
Unterleib, wo es sich um die mögliche Abgrenzung des Magens, Dick- und
Dünndarmes, so etwaiger nicht schallender Medien handelt.
Die pathologische Anatomie hat es bereits in unumstösslicher Weise
festgestellt, dass alle pathologischen Veränderungen an den Organen und Ge-
weben des Thorax und Unterleibes neben anderen auch in Veränderungen
solcher Eigenschaften derselben bestehen, von denen wir oben bereits gesehen,
dass sie die Qualitäten des Percussionsschalles wesentlich beeinflussen.
Solche Eigenschaften sind z. B. bei lufthaltigen Gebilden, Spannung der
Lufthüllen, Quantum der Luft, bei lufthaltigen sowohl wie bei flüssigen und
soliden Gebilden auch Grösse, Form und Lage derselben. Eben so hat die
pathologische Anatomie bereits festgestellt, dass durch pathologische Processe
neue Stoffmassen feste, flüssige und gasförmige zwischen den normalen Or-
ganen und Geweben sich entwickeln können, die sich der Percussion gegen-
über eben so verhalten, wie die normalen Gewebe und Stoffe. Folglich sind
auch alle pathologischen Gebilde im Thorax und Unterleib der Untersuchung
mittelst Percussion ebenso zugänglich, wie die physiologischen.
Im Ganzen werden sonach am Thorax ausser den Lungen im normalen
Zustande auch noch das Herz, am Unterleib ausser dem Magen, und dem
Darmtractus noch die Leber, Milz, Harnblase eventuell die Nieren der Percus-
sion zugänglich sein. Von abnormen Gebilden alle Veränderungen der genann-
ten normalen Gebilde in Bezug auf Grösse, Form und Lage, so auch alle ab-
normen Gasansammlungen alle Exsudate und Transsudate, schliesslich alle
festen und festflüssigen Neubildungen.
IV. Soll nun der Untersuchende in einem concreten Falle bestimmen
können, ob der Percussionsbefund auf normale oder pathologische Verhältnisse
hinweise, so muss er unbedingt schon vor der Vornahme der Untersuchung
alle Normen des Percussionsschalles am ganzen gesunden Menschenleib auf
das exacteste kennen. Er muss nämlich im Stande sein im gegebenen Falle
die Grade der einzelnen Qualitäten des gehörten Schalles mit irgend
einem Maasstab messen zu können. So lange keine derartigen, objectiven
Maasstäbe vorliegen, muss man die im Gedächtnis vorhandenen Vorstellungen
der durchschnittlichen Qualitäten des normalen Percussionsschalles als solchen
Maasstab benützen, und daran jeden neuen Schall subjectiv messen. Diese
subjectiven Messungen sind allerdings für subtilere Differenzen, auf die es
mitunter ankommt, selbst für den geübtesten Untersucher nicht ganz ver-
lässlich. In solchen Fällen empfiehlt es sich den gehörten Schall mit dem
Schalle einer zweckmässig gewählten, zweiten Körperstelle desselben Individuums
zu vergleichen, z. B. den Schall irgend einer Thoraxstelle mit dem Schalle
der genau correspondirenden Stelle der zweiten Thoraxhälfte, wenn voraus-
gesetzt werden kann, dass normal an beiden Stellen gleicher Schall sich
bilden müsse. Wo dies nicht der Fall ist, kann man den neu gehörten Schall
mit jenem einer beliebigen Nachbarstelle vergleichen, wenn man an letzterer
normalen Schall voraussetzen kann. Bei diesem Vergleichen muss man die
im normalen Zustande zwischen dem Schalle beider Stellen vorhandenen Diffe-
renzen genau kennen, und den fraglichen Schall nach der zwischen beiden
factisch gefundenen Differenz beui'theilen. Diese Methode kann insbesondere
für alle jene Fälle, wo die Contouren massiger Gebilde möglichst exact be-
stimmt werden sollen, auf das nachdrücklichste empfohlen werden.
Bei der Untersuchung des Thorax mittelst Percussion muss die Thorax-
oberfläche an möglichst vielen Stellen percutirt werden, um eventuell auch
solche Anomalien, die sich nur auf ganz minimale Ausdehnungen erstrecken,
aufzufinden. Man theilt sich deshalb zweckmässigerweise die ganze Thorax-
oberfläche in beliebig viele kleine Flächenstücke, indem man sich über die-
selbe nach zwei auf einander senkrechten Pachtungen eine beliebige Anzahl
paralleler Hilfslinien gezogen denkt, wodurch kleine quadratische Flächen ge-
PERCüSSION. 193
bildet werden. Diese kleinen Flächenstücke, die etwa der Fläche eines ge-
wöhnlichen Plessimeters entsprechen mögen, werden nun in bestimmter wo-
möglich immer sich gleich bleibender Reihenfolge nach einander percutirt,
und die dabei auftretenden Schallvariationen festgestellt. Aus letzteren er-
geben sich dann die bereits oben (C, II und III) aufgezählten, theils ana-
tomischen, theils physiologisch-pathologischen Daten über alle bezüglichen
Organe und Gewebe.
Die wichtigsten Variationen weist nun die vordere Thoraxoberiiäche auf,
wie das ja aus den bekannten anatomischen Verhältnissen im vorhinein er-
schlossen werden kann. An dieser vorderen Fläche müssen demnach auch
die zu percutirenden Flächen am kleinsten, d. h. die Zahl der Hilfslinien die
grösste sein, während man an den Seiten und Ptückentlächen sich mit nur
wenigen solcher Hilfslinien begnügen kann. Conventioneller Weise werden an
der vorderen Thoraxfläche an jeder Hälfte vier solcher Hilfslinien der Längen-
achse parallel gezogen: eine am Sternalrande, eine durch die Brustwarze, eine
mitten zwischen beiden, und schliesslich eine durch die Insertionsstelle der
vorderen Achselfalte, diese Linien heissen Sternal-, Mamillar-, oder Pa-
pillär-, P a r a s t e r n a 1- und Axillar linien. Senki'echt auf diese denkt man
sich die Hilfslinien durch die Ansatzstellen der Eippenknorpel an das Sternum
gezogen, und bezeichnet dieselben mit den Zahlen der bezüglichen Rippen als
1., 2., 3. etc. Seitlich genügt wohl im Allgemeinen eine einzige longitudinale
Hilfslinie, in der Mitte der Fläche, während die transversalen wieder durch
die Rippen bezeichnet werden können. Rückwärts kann man in jedem spe-
ciellen Fall beliebige Hilfslinien namhaft machen, z. B. in longitudinaler
Richtung in bestimmten Entfernungen von der Wirbelsäule, in transversaler
meder durch die Rippen. Zweckmässiger ist es aber rückwärts die einzelnen
Percussionsstellen mit Hilfe der Scapula (Ränder, Winkel, die Spina derselben)
ferner der Wirbelsäule, des unteren Rippenbogens etc. zu bezeichnen.
V. Man percutire im Allgemeinen überall, wo man nur den Luftgehalt und
die Spannung der Lunge erkennen will, mit massiger Stärke, aber um so
stärker, je dicker und resistenter die Thoraxwand ist, am stärksten somit rück-
wärts oben. Wo man hingegen verschiedene Organe begrenzen will, percutire
man, um so schwächer, je näher die Percussionsstelle der muthmaasslichen
Grenze ist.
Als Normen für den Percussionsbefund am gesunden
Thorax können folgende Angaben gelten:
Im Allgemeinen lässt sich der Schall am Thorax mit dem eines Kaut-
schuk-Hohlballes annähernd vergleichen. An der Vorderfläche ist der Schall
vom Supraclavicularraum bis unter die 2. Rippe an beiden Thoraxhälften bei-
nahe gleich, von da ab differirt die rechte von der linken Hälfte auffällig, so
dass beide mit einander nicht mehr verglichen werden können. Innerhalb
der Zone des gleichen Schalles ist derselbe im Supraclavicularraum wesentlich
kleiner als intraclavicular, hier auch nach abwärts meist an Grösse zunehmend;
von aussen der Axillarlinie nach einwärts zur Sternallinie meist an Sonorität
etwas zunehmend.
Unter der 2. Rippe rechts bleibt der Schall entweder unverändert bis
unter die 4. oder ^\drd an dieser letzteren oft etwas dumpfer, von aussen
nach innen allenthalben etwas heller und lauter. An oder unter der 5. Rippe
beginnt der Schall merklich abzunehmen bald mehr an Sonorität, bald mehr
an Grösse, nicht selten wird er eben nur höher und kürzer; unter der 6. Rippe
wird er ganz matt mindestens bis zum Rippenbogen zumeist aber auch noch
eine Strecke weit über der Bauchwand. x\lle diese Variationen sind im Para-
sternalraum am deutlichsten zu erkennen. Man bezeichnet die Schall-
abnahme allenthalben kurzweg als Dämpfung, und zwar, da sie sich über
der Leber entwickelt als L e b e r d ä m p f u n g. Die Gradationen der Dämpfung
Bibl. med. Wissenschaften. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. Ilt. -1-"
i94 PERCUSSION.
können als partielle und totale oder als relative und absolute be-
zeichnet werden.
Von diesen Schallva riatonen deuten die GrössenzuD ahme unter der
2. Rippe auf grössere Beweglichkeit der Rippen; das Dumpferwerden gegen die
Axillarlinie auf die stärkere Convexitat der Rippen in Verbindung mit einer
dickeren Muskelschichte. Die Abnahme des Schalles unter der 5. Rippe, auf
Abnahme der Dicke der Lungenschichte gegen deren Rand hin, der Uebergang
in ganz matten Schall bedeutet das Ueberschreiten des Lungenrandes.
Unter der 2. Rippe vorne links zeigen sich die wichtigeren Schall-
differenzen am deutlichsten im Sternalraum. An oder unter der 3. Rippe be-
ginnt hier nämlich eine ähnliche Schallabnahme, wie sie rechts an der 5.
Rippe als Leberdämpfung begann, die Abnahme wächst abwärts, so dass an
oder unter der 4. Rippe bereits matter Schall besteht, der sich in gerader
Linie abwärts bis zur 6. Rippe oder auch noch tiefer erstreckt, um dann in
einen mehr weniger sonoren tympanitischen Schall überzugehen, der bis zum
Rippenbogen reicht. Die Schallabnahme wird auch hier als Dämpfung und zwar
als Herz dämpf ung bezeichnet, der obere Theil dieser Dämpfung ist par-
tiell oder relativ, der untere total oder absolut. Die Herzdämpfung
verschmilzt mit der linken Leberdämpfung, die erstere nach unten begrenzt
und auf die Leberdämpfung folgt der Magenton.
Percutirt man von der 2. Rippe im Parasternalraum in ähnlicher Weise
abwärts, so beginnt die Schallabnahme etwa um eine Rippenbreite tiefer als
im Sternalraum, erstreckt sich in unverändertem oder nur unbedeutend ge-
steigertem Grade, ohne in Mattheit überzugehen in gerader Linie abwärts bis
zur 6. Rippe circa, von wo abermals ein in der Regel exquisit tympanitischer
Schall bis zum Rippenbogen sich erstreckt. Auch diese Schallabnahme ist
noch als partielle oder relative Herzdämpfung zu bezeichnen. Percutirt man
schliesslich von der 2. Rippe abwärts im Mamillarraum, so sind die Verhält-
nisse im Allgemeinen dieselben wie rechts, nur dass auch hier abwärts in der
Höhe der 7. Rippe circa ebenfalls der exquisit tympanitische Schall gehört wird.
Die Bedeutung der partiellen Dämpfung ist: Dünnerwerden des allmälig
sich zuschärfenden das Herz deckenden Lungenrandes; die der totalen Dämp-
fung: unmittelbares Anliegen des Herzens an der Thoraxwand in der oberen
Hälfte, in der unteren Anliegen des linken Leberlappens mit sammt dem
Zwerchfell.
Ueber dem Sternum ist ein die Lage des Herzens verlässlich andeu-
tender Schall nicht zu erhalten im gesunden Zustande, und es kann die nor-
male Grösse des Herzens schon aus den wenigen angegebenen Daten mit
Sicherheit erschlossen werden, vorausgesetzt, dass auch im rechten Sternal-
raum der normale Befund vorliegt.
An der rechten Seitenwand nimmt der Schall in der Mittellinie von
dem höchsten Punkte der Achselhöhle bis zur Höhe der 5. Transversallinie
ein wenig an Grösse zu, um von dort ab weiter abwärts ähnlich wie vorne
in die Leberdämpfung überzugehen. Allenthalben bleibt aber der Schall seit-
lich merklich kleiner, ist aber dabei heller und höher als vorne. Die Deutung
der Variationen analog jenen vorne. An der linken Seitenwand sind die Ver-
hältnisse wie an der rechten, nur dass im untersten Theil derselben an-
schliessend an den noch im Axillarraum gehörten tympanitischen Schall noch
immer ein ähnlicher, wenn auch bereits minder deutlicher gehört wird. Aller
tympanitischer Schall am linken vorderen und seitlichen Thorax bedeutet die
Lage des Magens. (Näheres über Leber, Magen, überhaupt alle Unterleibs-
organe im Artikel ^.Untersuchung'' .)
Rückwärts ist zwischen rechts und links kein wesentlicher Unter-
schied. Der Schall ist im Suprascapularraum in der Fossa supra- und in-
traspinata bis zum Schulterblattwinkel auffallend klein, schwach, hoch, selbst
PERCÜSSION. 195
bei kräftigem Percutiren, neben dem inneren und äusseren Scapularrand im
Allgemeinen etwas grösser, sonorer. Vom Schulterblattwinkel abwärts an
Grösse zunehmend, um erst in der Nähe des unteren Rippenbogens rasch bis
zur Mattheit abzunehmen. Eine der vordem und seitlichen Leberdämpfung
analoge Dämpfung ist rückwärts nicht zu constatiren.
All diese Schallvariationen deuten auf die sehr dicke, dämpfende Schichte
und starke Convexität, absolute Unbeweglichkeit der Rippen in der Scapular-
und Suprascapulargegend und das fast entgegengesetzte Verhältnis ab-
wärts, speciell auf die viel dickere Schichte der der hinteren Leberfiäche auf-
liegenden Lungen.
VL Als abnorm erscheint der Percussionsbefund, wenn der Schall
einer beliebigen Körperstelle in grösserem oder kleinerem Umfange höhere
oder tiefere Grade an einzelnen seiner Qualitäten aufweist als im normalen
Zustande, wenn z. B. die Sonorität oder die Grösse u. s. w. ein Plus oder
Minus aufweisen. Da wir nun am Thorax neben dem sonoren Schall auch
normale, sogenannte Dämpfungsregionen finden, an denen nicht bloss die Qua-
litäten des Schalles, sondern hauptsächlich Umfang, Form und Lage der
Dämpfungsregion zu variiren pflegen, so bekommen wir am ganzen Percussions-
befund 2 Gruppen von Anomalien nämlich solche a) des sonoren Schalles und
h) der Dämpfungsregionen.
a) Die Anomalien des sonoren Schalles lassen sich nach den verschiedenen
Schall-Qualitäten unterscheiden in Anomalien: 1. der Sonorität, 2. der objec-
tiven Schallstärke, 3. der Höhe, 4. der Grösse, 5. der Dauer und 6. des Tym-
panitismus.
ad 1. Die Sonorität ist hie und da höheren Grades als normal, bald
an kleineren Stellen z. B. dem Supraclavicular- dem Suprascapularraum
bald nur einerseits, bald beiderseits; oft auch in grösserem Umfange z. B.
vorne oben bis zur 4. — 5. Rippe herab, bald einer- bald beiderseits, oder auch
seitlich oder rückwärts unten. In der Regel ist das Phänomen mit allgemeiner
Abmagerung, Muskelschwund combinirt, in den obersten Räumen überdies
auch mit länger dauerndem starken Husten, in den unteren besonders seitlich
und rückwärts zumeist bei alten Leuten mit breiten, dünnen Rippen. Das
Symptom bedeutet vermehrten Luftgehalt in Folge von emphysematischer
Blähung oder senilem Emphysem, bei sonst normalen Luftwegen; theils ver-
minderte Resistenz der weichen Gewebsmassen in Folge von Schwund, und in
Folge von Erschlaffung.
Die Sonorität ist aber auch viel häufiger minderen Grades, der Schall
ist dumpfer als normal. Auch dieser Befund ist mitunter auf kleinere, öfter
aber auf grössere Stellen ausgedehnt. Er bedeutet immer verminderten Luft-
gehalt in bestimmten Räumen, und Erschlaffung der gespannten Gewebstheile
theils in Folge des verminderten Luftgehaltes, theils in Folge von Ex- oder
Transsudation in die Gewebe. Demnach findet man dieses Symptom bei allen
Formen der Pneumonie, bevor die Lunge total luftleer geworden, bei allen Ex-
sudationen, wenn die Lungen in Folge grösserer Exsudatansammlungen sich
retrahiren oder comprimirt werden (Pleuritis, Pericarditis).
ad 2. Man findet allerdings nur selten, einen abnorm lauten Schall,
der normal sonor ist, sowohl vorne oben, als rückwärts unten. Die Thatsache
weist immer auf eine Verdünnung der dämpfenden Thoraxwand, verbunden
mit einer ungewöhnlich günstigen Beweglichkeit der Rippen, theils in Folge
von Muskelschwäche, theils in Folge günstiger Formen derselben an der Per-
cussionsstelle hin.
Wichtiger ist der abnorm schwache oder gedämpfte Schall. Dieser
kann allenthalben und in verschiedenstem Umfange oft über eine ganze Thorax-
hälfte, ja selbst am ganzen Thorax auftreten. Der gedämpfte Schall
weist immer darauf hin, dass der Percussionsstoss nicht in seiner vollen Inten-
13*
196 PERCUSSION.
sität an das schallende Medium gelangt. Dies kann schon bei abnorm ver-
minderter Beweglichkeit und Biegsamkeit der Kippen, bei dicker Muskel- oder
Fettlage über denselben geschehen. Es kann aber auch durch Trennung der
schallenden Lungenmasse von der Thoraxwand bald durch luftleere Lungen-
schichten an der Oberfläche, bald durch angesammelte Flüssigkeiten zu Stande
kommen. Zu unterscheiden ist noch, ob Dämpfungen in ihrem ganzen Umfang
von gleicher Intensität sind, oder ob sie mindestens nach einzelnen Richtungen
ganz allmälig mit grosser Regelmässigkeit abnehmen und in den normalen
Schall übergehen. Letzteres findet man sehr oft an Dämpfungen rückwärts
unten, die mindestens nach aufwärts, oft aber auch nach vorne in auffallender
Regelmässigkeit gradatim abnehmen.
Dämpfungen grösseren Umfanges bedeuten mithin, wenn sie nur in leich-
terem Grade und gleichmässig verbreitet gefunden werden, stärkeren Widerstand
von Seiten der Thoraxwand oder mindestens der Rippen, wenn z. B. letztere
andauernd in forcirter Inspirationslage verharren bei dyspnoischen Zuständen.
Ferner bedeuten grössere Dämpfungen, wenn sie bis zur Mattheit gediehen
sind, luftleere Lungen in Folge von Infiltrationen aller Art, oder auch in
Folge von Compression durch grosse Ex- oder Transsudate. Letztere lassen
sich in der Regel leicht erkennen an dem Sitz und der regelmässig gleich-
massigen Abnahme der Dämpfung von den untersten Abschnitten der Rücken-
tiäche nach auf- und seitwärts. Dämpfungen kleineren Umfanges bedeuten je
nach ihrem Grade dickere oder dünnere Schichten luftleerer Massen, Infiltrate,
Neubildungen aller Art über der schallenden Lunge.
ad 3, 4, 5. Da die Tiefe, Grösse und Dauer des Schalles beinahe
gleiche Bedeutung haben, so mögen sie unter einem besprochen werden.
Abnorm tiefer Schall findet sich wohl hie und da allein auf kleinere Stellen
begrenzt in der Regel nur für kurze Zeit dem Dumpfwerden vorausgehend,
und deutet dann auf beginnende Infiltration oder Exsudation. Hingegen ist
der abnorm grosse Schall, wenn er sich auf grössere Stellen erstreckt in der
Regel auch tiefer und länger. Er kann einseitig oder auch beiderseits beson-
ders vorne oben oder rückwärts unten gefunden werden und deutet auf grosse
Beweglichkeit der Rippen bei emphysematischen catarrhalischen Lungen.
Ein abnorm grosser mehr weniger weit an beliebigen Thoraxstellen
ausgebreiteter Schall kann auf Cavernen hinweisen, wenn seine Ausbreitung
eine nur mässsige, seine Sonorität eine bedeutende ist. Ist die Ausbreitung
sehr bedeutend, der Schall auffallend laut und dabei doch dumpf, mehr
weniger annähernd tympanitisch, so kann er auf Pneumothorax hinweisen.
Da hier die Thoraxwand selbst zugleich die Wand des Luftraumes bildet, die-
selbe aber in der Regel einen leichten Grad von Spannung aufweist, so
kann der Tympanitismus kein exquisiter, sondern eben nur ein annähernder
dumpfer sein.
Der abnorm hohe, kleine und kurze Schall bedeutet einen kleinen
Schallraum in Folge von zerstreuten Infiltrationsherden, Bindegewebswucher-
ungen theils über, theils in der Lunge, erstere nach Pleuritis, letztere bei
chronischer, interstitieller Pneumonie.
ad 6. Der Tympanitismus tritt am Thorax nur abnormer Weise auf,.
bald in exquisitem, bald nur in annäherndem Grade, der letztere bald auf
massige, bald auf grosse Strecken ausgedehnt, der erstere in der Regel nur auf
massige. Die Bedeutung des exquisiten Tympanitismus ist Luft in spannungs-
losen, aber doch gut reflectirenden Wandungen nahe der Oberfläche. Es können
sonach aus exquisit tympanitischem Schall erschlossen werden: oberflächliche
Cavernen, oder vollkommen spannungsloses Lungenparenchym zwischen luft-
leere, starre oder flüssige Massen inselförmig eingebettet, wie das an den,
Rändern oder auch sonstiger Oberfläche pneumonischer oder tuberculöser Infil-
trationen oder an der Oberfläche von Ex- und Transsudaten sich oft vorflndet.
PERCÜSSION. 197
Die Bedeutung des annähernd tympanitischen Schalles ist an kleineren
Stellen: tiefliegende Cavernen, hochgradige, aber doch nicht absolute Erschlaf-
fung des Lungenparenchyms für sich allein, oder in ^'erbindung mit mangel-
hafter Reflexion, wie solche bei allmäligem Uebergang von totaler Infiltration
in partielle und weiterhin in normale Verhältnisse zu Stande kommt. Die Be-
deutung des ül)er grosse Stellen oft über eine ganze Thoraxhälfte, hie und da
sogar über beide ausgebreiteten, annähernd tympanitischen Schalles, der in der
Regel auch mehr weniger dumpf zu sein pflegt, ist dieselbe wie die des aus-
gebreiteten dumpfen Schalles (s. oben VI ad 1), so dass ersterer eben nur als
der höhere Grad des letzteren zu betrachten ist. Man kann sonach im allge-
meinen auf ausgebreitete, minder intensive entzündliche Processe, Bronchitis,
Peribronchitis, catarrhalische Pneumonie, Miliartuberculose der Lungen, py-
ämische Metastasen, massige Ansammlung von Ex- oder Transsudaten, leichtes
Lungenödem u. s. w. schliessen.
Die Anomalien des normal tympanitischen Schalles, wie er sich in
der Magengegend findet, werden ebenso wie die Anomalien der auf Leber und
Milz bezüglichen Dämpfungsregionen zweckmässiger im Zusammenhange mit
der Untersuchung des Unterleibs besprochen (s. Artikel ^^Untersuchung).
h) Anomalien der Herz-Dämpfunr/sreqion.
Diese Anomalien beziehen sich 1. auf den Umfang der Dämpfung der
bald zu gross, bald zu klein erscheinen kann, 2. auf das Verhältnis zwi-
schen partieller oder relativer und totaler oder absoluter Dämpfung,
und 3. auf die Lage und Form der Dämpfungs-Contouren.
ad l. Die partielle Dämpfung beginnt nicht selten links am Ster-
num an der 2. Rippe, ja mitunter schon an der ersten, geht auch der Breite
nach allenthalben weiter hinaus als normal, dabei kann die totale Dämpfung
die normale Grösse zeigen, oder auch etwas vergrössert sein. Am rechten
Sternalrande ist mitunter keinerlei Dämpfung zu finden. Ein solcher Befund
deutet auf Vergrösserung des linken Ventrikels, eventuell auch des
linken Vorhofes.
Aehnliches bedeutet aber auch die ungewöhnliche Ausbreitung der Däm-
pfung unterhalb der 4. bis 5. Rippe und nach der Seite hin so dass sie mitunter
die 6. bis 7. Rippe abwärts erreicht, und nach der Seite hin die Axillarlinie be-
trächtlich überschreitet, während sie oben entweder ganz oder beinahe normal
erscheint. In beiden Fällen müssen Lungeninfiltrationen als Ursache der Däm-
pfung ausgeschlossen werden können.
Ist aber auch am rechten Sternalrande in der Höhe des 3. und 4. Inter-
costalraumes eine nicht sehr intensive, höchstens bis zur ParaSternallinie
reichende Dämpfung; so bezieht sich selbe auf eine Verbreiterung des
rechten Ventrikels.
Ist die linksseitige Dämpfung in den oben angegebenen Grenzen mit der
rechtsseitigen combinirt, so kann eine Vergrösserung des ganzen Her-
zens, aber auch ein massiges Pericardialexsudat als Ursache angenommen
werden.
Ist die Dämpfung links so sehr vergrössert, dass selbe schon im ersten
und zweiten Intercostalraum nahezu als totale erscheint und der Breite nach
abwärts im 4. Intercostalraum meist über die Mamillar- oder gar Axillarlinie
hinausragt, während sich auch rechts schon von der 2. Rippe ab, eine nach
abwärts immer breiter werdende, nahe an die Mamillarlinie heranreichende
Dämpfung findet, so deutet der Befund wohl zumeist auf ein grosses Pericar-
dialexsudat.
Die Herzdämpfung kann aber auch verkleinert sein, derart, dass man
überhaupt keine Totaldämpfung findet, und die partielle selbst links nur auf
einen kleinen Raum in der Nähe des Sternalrandes sich beschränkt, wobei
198 PERICAEDITIS.
auch rechts keinerlei Dämpfung zu finden ist. Ein solcher Befund deutet auf
linksseitiges Lungenemphysem.
ad 2. Verkleinerung der partiellen Dämpfung oder gänzliches
Fehlen derselben bei normaler oder gar etwas vergrösserter Totaldämpfung
bedeutet ebenfalls leichte emphysematische Blähung der Lungenränder bei
massiger Hypertrophie des linken Ventrikels.
ad 3. Breitet sich die Dämpfung links oben viel rascher nach der Seite
hin aus, so dass man z. B. schon an der 3. Rippe einen ähnlichen Befund hat
wie sonst an der 4., wobei aber die Totaldämpfung nicht vergrössert, eher
vielleicht verkleinert ist, und selbst die partielle Dämpfung zwischen Para-
sternal- und Mamillarlinie unter der 4. Pdppe bald aufhört, so deutet der
Befund mindestens mit grosser Wahrscheinlichkeit auf eine Verdrängung des
Herzens nach links dui'ch pleuritisches rechtsseitiges Exsudat oder rechts-
seitigen Pneumothorax.
Ist hingegen rechts vom Sternum von der 3. Rippe abwärts eine bis über
die ParaSternallinie reichende intensive Dämpfung bei nachweisbarem links-
seitigen grossen pleuritischen Exsudat oder Pneumothorax, so bedeutet die
rechtsseitige Dämpfung Verdrängung des Herzens nach rechts.
S. STEEN.
PericarditiS. Die Entzündung des Herzbeutels ist eine der
häufigen Erkrankungsformen des Circulationsapparates. Sie tritt sowohl für
sich allein, als auch in Verbindung mit Erkrankungen des Herzens selbst,
des Endo- und Myocards, auf.
Aetiologie. Als primäre Erkrankung wird sie nur selten beobachtet.
Hieher gehören die Entzündungen des Herzbeutels nach Traumen — Stoss,
Quetschung, penetrirenden Verletzungen, welche die Herzgegend treffen. Auch
die sogenannten rheumatischen Pericarditiden sind hier einzureihen, wo-
bei der Erkältung jedoch nur eine Rolle als prädisponirendem Momente zu-
zuschreiben ist. In seltenen Fällen tritt die tuber culöse Pericarditis an-
scheinend primär, ohne anderweitige nachweisbare tuberculöse Erkrankung auL
In der Regel hat man es bei der Pericarditis mit einer secundären
Affection oder einer Theilerscheinung im Verlaufe gewisser Infections-
krankheiten zu thun. Unter diesen ist der acute Gelenksrheumatis-
mus die häufigste. Besonders oft entwickelt sich Pericarditis dann, wenn
gleichzeitig viele Gelenke befallen sind, oder wenn die Affection rasch von
einem Gelenke auf das andere überspringt, während sie bei den monarthri-
tischen Formen selten ist (Bamberger). Sehr selten tritt Herzbeutelentzün-
dung bei chronischem Gelenksrheumatismus auf und hier meist während
einer acuten Exacerbation des Leidens. Ein sehr häufiges Vorkommnis bildet
die Pericarditis auch bei pyämischen und septischen Processen. Sie tritt
ferner mitunter auf im Verlaufe von Pneumonie, Scarlatina, Variola,
Morbilli, Osteomyelitis, Erysipelas, Diphtherie, Influenza, Ty-
phus exanthematicus, Ileotyphus, Dysenterie, Scorbut, Morbus
maculosus. Bei Gonorrhoe sind Affectionen des Endocards häufiger als
jene des Pericards, doch wird auch hier Pericarditis beobachtet (Morel, Glu-
cinsky) und zwar sowohl mit als ohne gleichzeitige Betheiligung der Gelenke.
Eine sehr häufige Veranlassung für das Auftreten einer Herzbeutelentzündung
bildet die Tuberculöse. "Wie bereits erwähnt, kann die tuberculöse Pericar-
ditis auch selbstständig auftreten. Viel häufiger jedoch findet sie sich neben
klinisch und anatomisch feststellbaren anderweitigen Erscheinungsformen der
Tuberculöse, so neben Lungentuberculose, Drüsentuberculose etc. Besonders oft
wird das Pericard bei der Tuberculosis serosarum (s. d.) befallen.
In manchen Fällen entsteht Pericarditis in Folge der Erkrankung eines.
Nachbarorganes. So führen Pleuritis und Pneumonie mitunter durch
PERICARDITIS. 199
Fortpflanzung der Entzündung zur Miterkrankung des Pericards. Nicht selten
wird Pericarditis durch krankhalte Veränderungen der Mediastinalorgane
bewirkt (Krebs, Ulcerationen des Oesophagus, Neubildungen der grossen Luft-
wege, Aneurysmen der Aorta, Erkrankungen der mediastinalen Lymphdrüsen
und des mediastinalen Zellgewebes etc.). Auch von der Thorax wand aus-
gehende Processe z. B. Caries der Wirbel, Puppen, des Sternums können zur
entzündlichen Mitbetheiligung des Pericards führen. Seltener wird Pericar-
ditis durch Aftectionen des Peritoneums und der angrenzenden Abdomi-
nalorgane veranlasst. In allen diesen Fcällen handelt es sich entweder um
Propagation der Entzündung auf dem Wege der Lymphbahnen oder um Durch-
bruch von Entzündungsproducten und Entzündungserregern in den Pericar-
dialsack und directe Infection desselben.
Sehr häufig wird Pericarditis zugleich mit entzündlichen Affectionen des
Endo- und Myocards gefunden. In vielen Fällen hat man es hiebei mit
einander coordinirten, durch dieselbe Noxe hervorgerufenen, aber verschieden
localisirten Erkrankungen des Herzens zu thun. In anderen liegt vielleicht eine
Fortpflanzung der Entzündung auf das Pericard vor. So meint Strümpell,
dass bei der nach seiner Erfahrung besonders bei Aortenfehlern häufig zu
beobachtenden Pericarditis eine directe Fortleitung der Entzündung durch die
Aortenwand auf das Pericard vermuthet werden darf. Sicherlich ist ein ana-
loger Vorgang auch bei primären Erkrankungen des Myocards möglich, doch
kann bei gleichzeitiger Myocarditis das Verhältnis auch ein umgekehrtes
sein, indem sich zu primärer Pericarditis secundäre myocarditische Verän-
derungen gesellen.
Auch im Verlaufe chronischer Nephritis, besonders bei Schrumpf-
niere, wird Pericarditis nicht selten angetroffen und gehört hier oft zu den
terminalen Erscheinungen.
Als Erreger der Pericarditis wurden verschiedene Mikroorganismen nachgewiesen.
Vom Tuberkelbacillus abgesehen, handelte es sich meist um den Fränkel-Weichselbaum-
schen Diplococcus -pneumoniae, den Streptococcus pyogenes, den Staphylococcus fyogenes
aureus albus, jedoch können noch zahlreiche andere pathogene Mikroben (z. B. Bacterium
coli, V. Eiselsberg) gelegentlich Pericarditis veranlassen. Diese Fähigkeit müssen wir auch
den bisher noch unbekannten Erregern mancher Infectionskrankheiten, in deren Verlauf
Pericarditis auftritt, zuschreiben. Ueberdies kann die Herzbeutelentzündung im Verlaufe einer
Infectionskrankheit auch durch Mischinfection hervorgerufen werden. Zu dem Pericard
gelangen die Infectionsträger entweder aus der Blutbahn oder bei Erkrankung eines
Nachbarorganes durch die Lymphgefässe oder direct, wenn ein Entzündungsprocess in der
unmittelbaren Umgebung des Pericards zum Durchbruche in dasselbe geführt hat. Bei
der Pericarditis Nierenkranker konnten in einigen Beobachtungen (Mercklen, Banti)
Bacterien nicht nachgewiesen werden {Pericarditis uraemica).
Herzbeutelentzündung kommt in jedem Alter vor, wird jedoch vorwiegend
in den jüngeren und mittleren Lebensjahren beobachtet.
Anatomische Formen der Pericarditis. Unter der Bezeichnung Pericarditis schlecht-
hin versteht man die Entzündung der Herzbeutel serosa, während die entzündliche Affec-
tion der äusseren, fibrösen Schicht des Pericards, welche immer mit entzündlichen
Veränderungen des angrenzenden mediastinalen Zellgewebes und oft auch der Pleura peri-
cardiaca einhergeht, mit dem besonderen Namen Pericarditis externa (Fibroperi-
carditis Gendrin) belegt wird. ^Ueber diese vgl. Art. „Mediastinitis,"' IL Bd., pag, ßTä.)
In manchen Fällen sind nur beschränkte Antheile des Pericards — gewöhnlich die
der Herzbasis entsprechenden — von der Entzündung befallen — Pericarditis circum-
scripta. In der Regel jedoch ist die Affection auf das ganze Pericard ausgebreitet, wenn
auch zumeist auf dem visceralen Blatte stärker ausgebildet — Pericarditis diffusa.
Nach der Beschaffenheit der Entzündungsproducte unterscheidet man eine Reihe
verschiedener Formen der Herzbeutelentzündung. Kommt es, nachdem das erste Stadium,
die Hyperämie und Auflockerung des Pericards sowie die Abstossung des Endothels ab-
gelaufen ist, nur oder doch fast ausschliesslich zur Bildung eines fibrinösen Exsudates, so
spricht man von Pericarditis fibrinosa. Die Mächtigkeit der Fibrinauflagerung ist
hiebei sehr verschieden. Im Beginn handelt es sich meist nur um einen zarten, dem un-
bewaffneten Auge kaum sichtbaren Exsudatanflug, durch welchen das Pericard den nor-
malen Glanz verliert und matt wird, in älteren Fällen erreicht das Fibrinlager oft eine
200 PEEICARDITIS.
Dicke von mehreren Millimetern. Nicht selten zeigen die Fibrinmassen eine deutHche
Schichtnng, schnbweisem Recrudesciren des Processes entsprechend.
Die Oberfläche der Exsudatmassen ist meist rauh und zottig (Cor hirsutum, villosum) ;
mitunter zeigen die durch das Fibrin geformten Zotten und Leisten eine gewisse gesetz-
mässige Anordnung. Fast immer ist neben dem fibrinösen auch flüssiges Exsudat vor-
handen. Ist dasselbe serös, so wird die Pericarditis als sero-fibrinosa bezeichnet. Der
seröse Erguss, in welchem Fibringerinnsel suspendirt sind, ist in der Pericardialhöhle bald
frei beweglich, bald durch partielle Verklebungen der Pericardialblätter und durch ein von
dem faserstoffigen Exsudate gebildetes Maschen werk mehr oder weniger abgesackt. Im
ersteren Falle sammelt sich die Flüssigkeit zunächst in den Sinus des Pericards und zwar
ihrer im Vergleich zum Herzmuskel geringeren Schwere entsprechend, vorwiegend im
oberen Pericardialsinus an.*) Hat sich seröser Erguss in grösserer Menge gebildet, (dieselbe
kann über zwei Liter betragen), so erfährt das Pericard eine oft höchst ansehnliche Aus-
dehnung. Das Herz liegt in dem so erweiterten Pericardialsacke nach hinten und unten.
Die fibrinöse, noch mehr aber die sero-fibrinöse Pericarditis stellen die häufigsten Formen
der Herzbeutelentzündung vor. Die Pericarditis bei Gelenkrheumatismus, Nephritis, Herz-
fehlern, Pleuritis (serofibrinosa) gehört hieher. Sehr häufig ist auch bei tuberculöser Peri-
carditis das Exsudat sero-fibrinös.
Ist dem pericarditischen Exsudate Blut in reichlicherer Menge beigemischt, so entsteht
die haemorrhagische Form der Herzbeutelentzündung. Ursache ist abnorme Brüchig-
keit kleinster, vorwiegend neugebildeter Gefässe. Meist handelt es sich um sero-fibrinöses
Exsudat, das durch Blutbeimengung mehr oder weniger roth gefärbt ist, oft ist der Blut-
gehalt des Exsudates aber auch stärker, wodurch dasselbe intensiv blutige Beschaffenheit
annimmt. Aeltere Ergüsse sind von braunrother Farbe. Auch fibrinöse und eitrige Exsu-
date können haemorrhagisch werden. Haemorrhagische Pericarditis entwickelt sich meist
in Folge von tuberculöser Entzündung des Herzbeutels. Ausserdem findet sie sich bei
jenen Erkrankungen, welche mit haemorrhagischer Diathese einhergehen, Scorbut, Morbus
maculosus, den haemorrhagischen Formen der acuten Exantheme. Auch jene Pericarditis,
welche mitunter in Folge von Carcinomatose auftritt, führt oft zur Bildung blutiger Ex-
sudatflüssigkeit.
Mehr oder weniger eiterähnliche Beschaffenheit des Exsudates charakterisirt die
suppurative Pericarditis. Auch hier ist zumeist gleichzeitig fibrinöses Exsudat vor-
handen. Eitrig ist die Pericarditis fast immer bei den pyämischen und septischen Pro-
cessen, zumeist bei Scarlatina, Erysipel, Variola; ferner tritt eitrige Pericarditis mitunter
bei croupöser Pneumonie und Meningitis auf. Eitrige Entzündungen der Nachbarorgane,
die sich auf das Pericard ausdehnen oder zu Perforation in dasselbe führen, können gleich-
falls purulente Herzbeutelentzündung veranlassen. Die seltene jauchige Form stellt sich
mitunter bei septischen Processen, ferner besonders bei offener Communication des Peri-
cards mit benachbarten Hohlorganen (Oesophagus, Magen) oder Lungencavernen ein, aus
welchen jauchige Zersetzung erregende Stoffe in die Herzbeutelhöhle eindringen können.
Dabei kann das Exsudat von vorne herein putriden Charakter haben oder erst nachträglich
aus einem serösen oder eitrigen jauchig werden. In manchen Fällen jauchiger Pericarditis
kommt es zu Gasentwicklung im Herzbeutel.
Bei der tuberculösen Entzündung des Pericards findet man neben den Verän-
derungen, welche einer sero-fibrinösen oder haemorrhagischen Exsudation entsprechen, das
Pericard bald von miliaren Tuberkelknötchen besetzt, bald, wie bei älteren Affectionen,
grössere, verkäste Knoten in den pericarditischen Schwielen eingelagert. In sehr seltenen
Fällen kommt es zur Ausbildung tuberculöser Geschwüre am Pericard. Bei der carci-
nomatösen Pericarditis handelt es sich entweder um das Vorhandensein metastatischer
Krebsgeschwülste oder um aus der Nachbarschaft in das Pericard hineindringende Krebs-
massen.
Die Herzbeutelentzündung kann ohne Hinterlassung bedenklicher Residuen heilen,
ein Ausgang, welcher am ehesten bei nicht zu lange andauernder, sero-fibrinöser Pericar-
ditis zu erwarten ist. Nur selten jedoch erfolgt in solchen Fällen eine vollständige Resti-
tution des normalen Zustandes, meist bleiben gewisse, wenn auch unschädliche Reste der
abgelaufenen Entzündung zurück. Als solche sind mitunter bald mehr umschriebene, bald
mehr diffuse Trübungen und bindegewebige Verdickungen des Pericards (Sehnenflecke ent-
zündlichen Ursprungs) anzutreffen. In anderen Fällen entwickeln sich im Ausgange einer
Pericarditis in Folge der productiven Entzündung partielle bindegewebige Adhäsionen (P.
adhaesiva), welche durch die Locomotion des Herzens zu membranösen oder fädigen
Strängen (pericardiale Sehnenfäden) ausgezogen werden können. Die Stränge bleiben
entweder in dieser Form bestehen oder zerreissen im weiteren Verlaufe in Folge der fort-
währenden Zerrung, stellen polypöse Anhänge der Pericardialblätter dar und können
weiterhin wieder fast vollständig zurückgebildet werden. Sind die Adhäsionen auf grös-
*) Abweichend von dieser seit Skoda allgemein giltigen Ansicht, gibt Ebstein an,
dass beginnende pericardiale Flüssigkeitsansammlungen zuerst im unteren Theile des Herz-
beutels, wo derselbe dem Zwerchfell aufliegt, auftreten.
PERICARDITIS. 201
sere Flächen des Pericards ausgedehnt, so resultirt eine theilweise, betreffen sie das ganze
Pericard, so entsteht eine totale Obhteration der Pericardialhöhle — partielle oder
totale pericardiale Synechie, Concretio cordis cum pericardio. Auch in die-
sem Falle ist bei nicht zu straffen Verwachsungen noch theilweise Lösung und Dehnung
der Adhäsionen durch die mit der Herzaction verbundenen Bewegungen und Volumsschwan-
kungen des Herzens, besonders in der ersten Zeit, möglich.
Mitunter nimmt die Herzbeutelentzündung, welche sonst zumeist eine acut oder sub-
acut ablaufende Erkrankung darstellt, chronischen Verlauf, wobei sich häufig acute
Nachschübe einstellen. Bei diesen Formen der Pericarditis kommt es gewöhnlich zur Oblitera-
tion des Pericards, zur Bildung dicker, pericarditischer Schwarten, mit welchen der Herz-
muskel theilweise oder in seiner ganzen Ausdehnung innig verwachsen ist, und welche
hie und da noch Reste von flüssigem Exsudat oder auch verkäste Massen einschliessen.
Nicht selten findet man stellenweise Verkalkung der Exsudatreste und des neugebildeten
Bindegewebes.
Eitrige Exsudate können zur völligen Resorption gelangen. Andererseits kommt
hier auch der Ausgang in käsige Eindickung des Eiters zur Beobachtung. In seltenen Fäl-
len gelangt der Eiter zum Durchbruche in benachbarte Organe oder nach aussen {Pericar-
dialfisteln) .
Grosse Wichtigkeit haben die krankhaften Veränderungen, welche der Herzmuskel
durch die Pericarditis und ihre Folgezustände zu erleiden pflegt. Derselbe erweist sich
oft als schlaff und dilatirt, seine Farbe ins fahlgelbliche erbleicht. Die mikroskopische
Untersuchung ergibt degenerative Veränderungen der Muskelfasern von trüber Schwellung
bis zur ausgesprochenen fettigen Degeneration. Am stärksten betroffen sind immer die
dem Epicard anliegenden Schichten der Herzmusculatur. Sie zeigen ausser höheren Graden
von Fettdegeneration interstitielle Entzündung mit Bindegewebsneubildung und gleich-
zeitigem Schwunde der Muskelfasern. Besonders schwere Schädigungen erfährt das Myo-
card bei den chronischen Formen der Herzbeutelentzündung, einerseits durch den Druck
lange bestehender Exsudate, andererseits durch die fortdauernde vom Epicard immer tiefer
in den Muskel eindringende interstitielle Entzündung. Hat sich im Anschlüsse an Peri-
carditis Obliteration der Herzbeutelhöhle ausgebildet, so wird das Herz stets mehr
oder weniger stark dilatirt, jedoch in manchen Fällen auch neben der Dilatation in mas-
sigem Grade hypertrophisch gefunden. Dafür, ob Hypertrophie eintritt oder nicht, und welche
Herzabschnitte hypertrophiren, sind, von dem allgemeinen Ernährungszustande abgesehen,
die in den einzelnen Fällen verschiedenen, durch die pericarditischen Residuen gesetzten,
mechanischen Bedingungen vor Allem maassgebend. Dieselben sind auch bestimmend für
den Grad der Dilatation der einzelnen Herzhöhlen.
Das mediastinale Zellgewebe ist auch bei den ganz acuten Herzbeutelentzün-
dungen insoferne in Mitleidenschaft gezogen, als es Hyperämie und leichtes Oedem erkennen
lässt. Bei länger währenden und chronischen Pericarditiden finden sich sehr häufig schwie-
lige Verdichtungen des mediastinalen Zellgewebes vor Allem im vorderen Mittelfellraume
(schwielige Mediastino-pericarditis).
Klinische Erscheinungen. Subjective Beschwerden sowohl als
auch irgend erhebliche Allgemeinsymptome können bei Pericarditis voll-
kommen fehlen. Auch bei schweren, anderweitigen Erkrankungen, bei welchen
die Pericarditis secundär auftritt und nur einen Theil der krankhaften Ver-
änderungen ausmacht, treten die derselben zukommenden Krankheitszeichen
oft so sehr in den Hintergrund, dass sie leicht übersehen werden können. In
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aber und zumal bei den höheren Graden
des Leidens macht sich dasselbe den Kranken durch eine Pieihe subjectiver
Symptome bemerkbar. Unter diesen steht obenan die Dyspnoe. Dieselbe
stellt sich in manchen Fällen schon frühzeitig ein, besonders bei rascher Ent-
wicklung des Entzündungsprocesses, in anderen wird sie erst bei beträcht-
licher Ansammlung von Exsudat bemerkbar. Sie steigert sich in besonders
schweren Erkrankungsfällen bis zur Orthopnoe. Die Ursache der Athemnoth
liegt vor Allem in Circulationsstörungen, welche einerseits durch den auf dem
Herzen lastenden Druck des Exsudates, andrerseits durch entzündliche und
degenerative Veränderungen des Herzmuskels erzeugt werden. Durch den
ersteren wird eine Compression der intrapericardialen Antheile der Venen-
stämme und eine Erschwerung der Diastole des Herzens, zumal der Vorhöfe
bewirkt. Folge hievon ist Stauung im Lungenkreislauf, Stauung im Hohlvenen-
gebiete und mangelhafte Füllung des Aortensystemes (experimenteller Nachweis
dieser Wirkung intrapericardialer Drucksteigerung von Francois Feank, Knoll,
Riegel). Aber auch die Systole erfährt bei stärkerer Miterkrankung des
202 PERICARDITIS.
Herzmuskels oder Ausbildung von pericardialen und extrapericardialen Ver-
wachsungen schwere Beeinträchtigung, wodurch eine weitere, schwere Störung
des Kreislaufes hervorgebracht wird. Nicht unwesentlich erhöht wird die durch
die Circulationsstörung bewirkte Athemnoth durch die Compression, welche die
Lungen, besonders die linke, durch grosse Pericardialexsudate erleiden (s. u.).
Ferner trägt auch die durch Pericarditis bewirkte Behinderung der Zwerch-
fellsaction zur Steigerung derselben bei.
Zugleich mit der Athemnoth haben die Kranken meist über Beklem-
mungs- und Angstgefühle sowie häufig über Schmerz, welcher bald
in der Herzgegend und an der Stelle des unteren Sternums, bald im Epiga-
strium empfunden wird, zu klagen. Der Schmerz ist drückend oder stechend,
er tritt mitunter nur bei tiefem Athmen oder körperlicher Bewegung auf, bis-
weilen wird er durch Druck auf die Herzgegend oder das Epigastrium gestei-
gert, oftmals fehlt er gänzlich oder besteht nur vorübergehend zu Beginn der
Affection. In manchen Fällen strahlt der Schmerz gegen den Rücken, die
linke Schultergegend und den linken Oberarm aus. Eine besondere Druck-
empfindlichkeit zwischen den unteren Ansätzen des Kopfnickers, die man in
manchen Fällen getroffen hat, wird auf Ausbreitung der Entzündung vom Peri-
card auf den Phrenicus bezogen {douleur phrenique französischer Autoren).
Gleichfalls durch Mitleidenschaft des N. phrenicus zu erklären ist der oft sehr
hartnäckige Singultus, doch kommt hier auch die directe Einwirkung auf
das Diaphragma in Betracht (vgl. den Singultus bei Pleuritis diaphragmatica).
Mitunter kommt es im Verlaufe einer Pericarditis zu Schlingbeschwerden.
Dieselben können von directem Druck grosser Exsudate auf den Oesophagus
oder entzündlicher Mitbetheiligung der Musculatur desselben herrühren oder in
Folge irradiirter, schmerzhafter Sensationen (Rosenbach) auch bei geringer Ex-
sudation auftreten. Erbrechen wird nicht selten beobachtet. Hier ist ferner
auch die in einigen Fällen wahrgenommene, durch ein- oder doppelseitige Stimm-
bandlähmung (Bäumlek, Riegel, Landgraf, v. Schroettek) bewirkte Heiser-
keit anzuführen. In einem Beobachtungsfalle Riegel's, in welchem linkssei-
tige complete Stimmbandlähmung bestand, ergab die Section das Pericard so
weit ausgehnt, dass dasselbe dem linken N. recurrens an der Stelle, wo sich
derselbe um den Aortenbogen herumschlingt, fest anlag.
In schweren Fällen, besonders solchen, welche zu Herzmuskelerkrankungen
geführt haben, werden cerebrale Störungen, als Kopfschmerz, Ohnmachts-
anfälle, Delirien, Benommenheit, beobachtet. Dieselben sind als der Ausdruck
der Circulationsstörung im Gehirne anzusehen.
Das Fieber zeigt bei Pericarditis keinerlei regelmässiges Verhalten. Zu
Beginn acuter Herzbeutelentzündung tritt mitunter wiederholtes Frösteln, selten
eigentlicher Schüttelfrost auf, dem mehr oder weniger hohe Temperaturstei-
gerung folgt. Im weiteren Verlaufe zeigt das Fieber unregelmässige Schwan-
kungen bei durchschnittlich massiger Höhe, die Entfieberung erfolgt lytisch
und nicht selten noch vor Ablauf der localen Erscheinungen. Chronische Peri-
carditis kann während der ganzen Dauer ohne jede Temperaturerhöhung be-
stehen oder es stellt sich nur leichtes, abendliches Fieber ein. Gesellt sich
Pericarditis als secundäre Krankheit zu anderweitigen, mit Fieber einhergehen-
den Aöectionen, so bewirkt der Eintritt derselben bisweilen eine Zunahme der
Temperatursteigerung.
Der Harn besitzt entweder normale Beschaffenheit oder die Eigen-
schaften des Fieber- oder Stauungsharnes.
Das Aussehen der Kranken zeigt in vielen Fällen gar nichts charak-
teristisches und ist bei secundärer Pericarditis durch die Grundkrankheit
bestimmt. Häufig ist die Hautfarbe auffällig b 1 a s s, bei grösseren Exsudaten,
sowie bei consecutiven myocardialen Veränderungen wird auch oft Cyanose
gefunden. Bei langwierigen Erkrankungen stellen sich allmälig jene Ver-
PERICÄRDITIS. 203
änderungen des Ernährungszustandes ein, welche auch sonst bei chro-
nischen, zugleich mit schwerer Alteration der KreislautVerhältnisse einher-
gehenden Krankheiten angetroffen werden.
Die Halsvenen zeigen sehr oft eine stärkere Füllung und sehr deut-
lichen, präsystolischen Puls. Ist aber in Folge zunehmender Exsudation der
auf dem rechten Vorhofe lastende Druck ein allzubedeutender geworden, so
schwindet nach Riegel bei andauernd beträchtlicher Ausdehnung der Venen
deren Pulsation,
Betrachtet man die Vorderfläche des Thorax, so fällt mitunter bei reich-
licher Ansammlung pericarditischen Exsudates eine stärkereAusdehnung
der linken Brusthälfte und eine leichte Vorwölbung der Herzgegend auf, auch
das Epigastrium erscheint manchmal etwas vorgewölbt. In manchen Fällen
besteht ein leichtes Oedem der Haut in der Herzgegend. Bei der Athmung
bleibt die linke Thoraxhälfte in der Regel etwas zurück. Der sieht- und fühl-
bare Herzstoss erleidet bei trockener Pericarditis oder nur sehr geringer
flüssiger Exsudation keine Veränderung. Sobald es aber zur Bildung grösserer
Mengen flüssigen Exsudates gekommen ist, nimmt derselbe in dem Maasse, als
sich die wachsende Flüssigkeitsschichte zwischen das Herz und die Brustwand
einschiebt, an Intensität ab, verschwindet endlich gänzlich oder Ist auf eine leichte
wellenförmige Bewegung in einzelnen Intercostalräumen reducirt. Einen ge-
wissen Antheil an der Abschwächung des Herzstosses, kann auch eine die
Pericarditis begleitende erheblichere Mitbetheiligung des Herzmuskels haben.
Besonders werthvoll für die Diagnose ist das unter den Augen des Beobach-
ters sich vollziehende Verschwinden des Spitzen- und diffusen Herzstosses,
das manchmal sehr rasch zustande kommt. Der in Rückenlage bereits un-
sichtbar und unfühlbar gewordene Spitzenstoss kann in Seitenlage wieder
nachweisbar werden. Manchmal lässt er sich in aufrechter Stellung oder
bei nach vorne geneigtem Oberkörper wieder zum Vorscheine bringen.
Ist der Spitzenstoss noch fühlbar, so findet er sich oft etwas tiefer und weiter
nach links gerückt. Die stärkere Ausdehnung des Pericards bewirkt eine
grössere seitliche Dislocirbarkeit des Spitzenstosses bei Lagewechsel,
doch darf auf dieses Symptom, da auch unter ganz normalen Verhältnissen
die seitliche Verschieblichkeit desselben mitunter sehr beträchtlich ist, kein
allzugrosses Gewicht gelegt werden. Nicht eben häufig wird das später zu
beschreibende pericardiale Reiben der aufgelegten Hand als leichtes
Kratzen und Schaben fühlbar.
Die Herzdämpfung zeigt bei genügender Exsudatmenge charakteri-
stische Veränderungen. Man nimmt gewöhnlich an, dass für den sicheren
percussorischen Nachweis eine Menge von mindestens 120 — 1 50 ccm Flüssigkeit
nothwendig sei. Die Grösse der Herzdämpfung geht dabei im Allgemeinen der
angesammelten Flüssigkeitsmenge parallel. Da wie bereits angegeben, der
Flüssigkeitserguss sich frühzeitig in der oberen, an der Wurzel der grossen
Gefässe gelegenen Ausbuchtung des Pericards ansammelt, tritt als eines der
ersten mittels Percussion nachweisbaren Symptome eine erst relative, später
absolute Dämpfung über dem obersten Theile des Corpus sterni, dem Ma-
nubrium sterni und den angrenzenden Theilen der obersten Intercostalräume
auf. Nimmt die Flüssigkeitsmenge weiter zu, so erfolgt auch eine der zuneh-
menden, allseitigen Ausdehnung des Pericards entsprechende Verbreiterung der
Herzdämpfung in ihren unteren Antheilen, so dass eine für pericardiale Flüs-
sigkeitsansammlungen sehr bezeichnende Dämpfungsfigur entsteht. Dieselbe
stellt ein ungleichschenkliges, am Scheitel abgestumpftes Dreieck dar, dessen
horizontal verlaufende Basis bei grösseren Exsudaten sich in der Höhe der
6.-7. Rippe befindet, dessen stark abgestumpfte Spitze etwa bis zu der zwei-
ten, linken Rippe hinaufreicht, mitunter aber sogar die Höhe des Sternocla-
viculargelenkes erreicht. Der rechte Schenkel des Dreieckes zieht rechts vom
204 PERICAEDITIS.
Sternum, mit dessen Rand nach unten etwas divergirend abwärts; bei grossen
Exsudaten ist diese Divergenz stärker, so dass der rechte Schenkel die Basis
etwa in der Mamillarlinie erreicht. Die linke Dreieckseite verläuft mehr schief
und schneidet die Basis zwischen linker Mamillar- und vorderer Axillarlinie.
Die beiden Seiten des Dreieckes sind nach aussen leicht convex. Das Ster-
num fällt bei grossen pericardialen Ergüssen ganz, bei massigen grösstentheils
in die Dämpfung. Die Intensität der Dämpfung und das bei der Percussion
wahrnehmbare Resistenzgefühl sind in der Regel sehr bedeutend. Die Abgren-
zung der Dämpfung nach oben und den Seiten unterliegt meist keiner Schwie-
rigkeit, an der Basis ist dieselbe nur im linken Antheile gegen den Magen
möglich, während die Dämpfung rechts mit der Leberdämpfung zusammen-
fliesst. Ist trotz der Flüssigkeitsansammlung der Spitzenstoss fühlbar, so wird
derselbe nach links noch von der Dämpfung überragt. In aufrechter
Stellung nimmt die Dämpfung im Höhendurchmesser zu (Gerhardt),
doch wird diese Erscheinung bei maximaler Ausdehnung des Herzbeutels auch
oft vermisst. In beiden Seitenlagen erfährt die Dämpfung eine ansehnliche
Yerschiel)ung nach der betreffenden Seite, erheblicher, als dies bei normalem
oder vergrössertem Herzen der Fall zu sein pflegt. Die respiratorische Be-
weglichkeit der zurückgewichenen vorderen Lungenränder (soweit sich die-
selbe durch Percussion erheben lässt) ist, falls nicht pleuritische Verklebungen
der Lungenränder bestehen, erhalten, doch häufig etwas vermindert. Die im
Vorstehenden gemachten Angaben über Grösse und Form der Herzdämpfung
bei pericarditischen Exsudaten erleiden unter verschiedenen Verhältnissen
mannigfache Ausnahmen, auf welche bei Besprechung der Diagnose der Peri-
carditis näher eingegangen werden muss.
Das wichtigste Symptom der Herzbeutelentzündung ist das pericar-
ditische Reibegeräusch. Dasselbe geht sehr häufig allen anderen Zei-
chen der Herzbeutelentzündung voraus, überdauert dieselben oft und bildet
nicht selten, das einzige, zweifellose Anzeichen der Affection. Das Geräusch,
welches durch Reibung der rauh gewordenen Pericardialblätter aneinander ent-
steht, ist meist durch einen schabenden, kratzenden oder knarrenden Charakter
sehr ausgezeichnet und schon dadurch oft von endocardialen Geräuschen zu
unterscheiden. Seltener ist das Geräusch weicher, hauchend oder blasend und
damit endocardialen Geräuschen ähnlich. Es ist nur ausnahmsweise in einer
einzigen Herzphase zu hören oder nach Art der Herztöne und endocardialen
Geräusche genau an die Herzphasen gebunden, es schiebt sich vielmehr
gewissermaassen zwischen die Herztöne ein und macht meist den Eindruck des
völlig Regellosen und Verworrenen, oft ist es mehrfach unterbrochen, saccadirt.
Mitunter ist man im Stande ein dreitheiliges Geräusch zu hören, dessen
erster Theil praesystolisch (entsprechend der Vorhof scontraction), dessen zwei-
ter Theil systolisch und dessen dritter Theil diastolisch (entsprechend der
Ventrikelsystole und Diastole) ist (Teaube). Das pericardiale Reibegeräusch
ist meist über der ganzen Herzgegend zu hören, bisweilen tritt es aber
nur über bestimmten Stellen derselben auf, so vornehmlich über der Herz-
basis, woselbst es auch oft zuerst wahrnehmbar wird. Das Geräusch zeigt
in den meisten Fällen eine ausgesprochene Zunahme während der In-
spiration, viel seltener tritt in der Exspiration eine Verstärkung des-
selben ein. Eine diagnostisch sehr wichtige Eigenschaft des pericardialen
Reibegeräusches ist die Abhängigkeit desselben von der Kör-
perlage. Es ist mitunter nur in einer bestimmten Stellung zu hören
oder zeigt doch in einer solchen eine auffallend grössere Intensität. So wird
es sehr oft in sitzender oder nach vorne übergeneigter Haltung viel besser
als in Rückenlage vernommen. Druck mit dem Hörrohre während des Aus-
cultirens ausgeübt, verstärkt, falls die Brustwandung nachgiebig ist, das Ge-
räusch (Stokes), übermässiger Druck jedoch soll dasselbe wieder abschwächen
PERICARDITIS. 205
{Friedreich). Da die Entstehungsbedingimgen des Reibens bei einer gerin-
gen Menge Üüssigen Exsudates bessere sind, als wenn die Herzbeutelblätter
durch eine grosse Flüssigkeitsmenge von einander entfernt gehalten werden,
wird das Geräusch vor Allem zu Beginn der Herzbeutelentzündung und zur
Zeit der Ilesorption gehört. Ausser reichlicher Ansammlung flüssigen Exsu-
dates hat auch umfangreichere Verwachsung des Pericards und allmälige
Glättung der rauhen Pericardflächen Schwinden des Geräusches zur Folge.
Ist das pericardiale Pteibegeräusch nicht allzu laut, so kann man die
Herztöne daneben wahrnehmen. In vielen Fällen gelingt dies jedoch nicht,
umsomehr als das pericarditische Exsudat an sich die Hörbarkeit der Herz-
töne verringert, so dass dieselben auch bei fehlendem Pteibegeräusche nur
dumpf und undeutlich vernehmbar sind. Bestehen neben pericardialen Ge-
räuschen noch endocardiale, so ist es nur in besonders günstigen Fällen
möglich, die letzteren von den ersteren scharf zu trennen.
Der Arterienpuls zeigt oft gar kein abnormes Verhalten. Bei grossen
Exsudaten nimmt Spannung und Wellenhöhe desselben ab. Die Frequenz ist
fast immer erhöht, nicht selten besteht eine mehr oder minder ausgeprägte
Pthythmusstöruug. Mitunter findet man den Pulsus paradoxus. Schwerere
Veränderungen des arteriellen Pulses sind bei gleichzeitigen Alterationen des
Herzmuskels zu erwarten.
Nicht unwichtige objective Symptome liefert die Untersuchung der Lunge.
Bei jedem grösseren pericardialen Exsudate ergibt die Lungenpercussion über
der linken Vorderfläche des Thorax, besonders in der Umgebung der peri-
carditischen Dämpfung Lungenschall mit tympanitischem Beiklang oder ge-
dämpft-tympanitischem Schall. Seltener, bei ganz grossen Flüssigkeitsansamm-
lungen, ist diese Erscheinung auch rechterseits zu finden. Viel ausgesprochener
sind die in Folge von Raumbeschränkung der Lunge auftretenden Symptome
in der linken, mittleren und unteren Seiten- und Rückengegend. Hier kommt
bei grösseren Exsudaten durch Compression der Lunge eine mehr oder weniger
intensive Dämpfung mit verstärktem Stimmfremitus, Bronchialathmen und
bei gleichzeitig bestehender Bronchitis, auch mit consonirenden Rasselgeräuschen
zu Stande. Durch diese Erscheinungen kann eine Pneumonie oder Pleuritis
vorgetäuscht werden. Gegen die Annahme der ersteren wird das Fehlen ander-
weitiger pneumonischer Symptome, der letzteren gegenüber aber oft nur die
Probepunction entscheiden. In manchen Fällen kann man eine Verminderung
oder ein völliges Verschwinden der Compressionserscheinungen bei Vorneüber-
neigen oder in Knieellenbogenlage des Kranken beobachten (Pins).
Grosse pericardiale Exsudate haben fast stets eine mehr oder weniger
erhebliche Herabdrängung des Zwerchfelles und damit auch der Leber zur
Folge, welch' letztere sich besonders am linken Leberlappen percussorisch nach-
weisen lässt. Auch der halbmondförmige Raum erfährt hiebei eine
entsprechende Verkleinerung.
Die Pericarditis kann durch besondere Massigkeit des Exsudates und
dadurch erzeugte Behinderung der Herzthätigkeit (s. o.) zu dem Auftreten von
Stauungserscheinungen (vgl. Art. „HerzUappenfeUer" , Bd. H, pag. 28)
führen. Viel häufiger aber sind diese, besonders bei chronischen Herzbeutel-
entzündungen, durch Miterkrankung des Herzmuskels bewirkt.
Verlauf, Ausgaug, Prognose. Im günstigsten Falle tritt der Ausgang
in völlige Heilung ein, ja in leichten Fällen kann der Process in wenigen
Tagen ablaufen. Die durchschnittliche Dauer mittelschwerer acuter Erkran-
kungen anzugeben, ist bei dem sehr wechselnden Verlaufe schwer möglich,
doch wird hiefür im Allgemeinen ein Zeitraum von einer bis zwei Wochen
angenommen. Die beginnende Rückbildung des Processes zeigt sich durch
Nachlassen des Fiebers, Verringerung der Dyspnoe, Besserung des Pulses
und allmäligen Rückgang der vergrösserten Herzdämpfung an. In man-
206 PERICARDITIS.
chen Fällen kehrt diese letztere vollkommen zur normalen Grösse zurück,
mitunter bleibt eine massige Vergrösserung (Dilatation des Herzens, Retraction
und nachträgliche Fixation der Lungenränder) zurück. In dem Maasse als
das gebildete fibrinöse Exsudat resorbirt wird und sich die Pericardflächen
glätten, nimmt auch das Reibegeräusch ab und hört endlich gänzlich auf. Mit
der fortschreitenden Heilung schwinden auch die subjectiven Beschwerden, doch
bleibt oft durch längere Zeit noch eine gewisse Leistungsschwäche des Herzens
zurück, die sich in Herzklopfen und Kurzathmigkeit bei selbst massiger körper-
licher Bewegung äussert.
Als bedenklich ist es anzusehen, wenn der Verlauf sich verzögert und
die Heilung durch fortwährende Nachschübe hinausgezogen wird. In solchen
Fällen ist eine stärkere Betheiligung des Herzmuskels und das Zustandekommen
partieller oder totaler Verwachsungen zu befürchten. Geradezu ungünstig ist
das Uebergehen einer acuten Pericarditis in die chronische Form, sowie
auch die Prognose bei der von Anfang chronisch verlaufenden Herzbeutel-
entzündung fast immer schlecht ist. In diesen Fällen sind schwere Schädigun-
gen des Herzfleisches, Obliteration der Pericardhöhle und Anlöthungen an die
Nachbarorgane mit den sich hieraus ergebenden Kreislaufstörungen die Regel.
Ein lethaler Ausgang wird nicht selten auch bei acuter Pericarditis be-
obachtet. In Fällen primärer Herzbeutelentzündung kann derselbe durch grosse
Intensität des Processes und insbesonders durch die Anhäufung grosser Exsudat-
massen, welche die Herzaction allzusehr beeinträchtigen oder durch Compli-
eationen herbeigeführt werden. Schwächliche, herabgekommene Personen er-
liegen unter solchen Umständen besonders leicht. Acute secundäre Pericar-
ditis, welche zu anderen schweren Erkrankungen hinzutritt, wird oft zur
directen Todesursache.
In einer grossen Anzahl von Fällen wird der Ausgang durch die Grund-
krankheit bestimmt. So ist die Prognose bei tuberculöser Pericarditis im
Ganzen schlecht, doch kommen auch hier relative Heilungen oder wenigstens
sehr langsamer Verlauf vor. Fast immer ungünstig ist die Vorhersage bei
der pyämischen Form der Erkrankung, selbstverständlich absolut schlecht bei
der carcinomatösen.
Eine besondere Besprechung erfordert noch das bereits mehrfach erwähnte
Ausgehen der Pericarditis in
Her^heutelverwachsung.
Partielle Verwachsungen der beiden Pericardblätter, bestehen meist
völlig symptomlos. In selteneren Fällen bedingt die Lage der Adhäsionen,
wenn dieselben auch nur umschriebene Theile des Pericards betreffen, Loco-
motionsstörungen des Herzens, welche zu analogen Symptomen Veranlassung
geben, wie die totale Concretio cordis cum pericardio. Andrerseits kann aber
auch vollständige Obliteration des Pericardialsackes vorhanden sein, ohne
irgend welche bemerkbare Symptome zu erzeugen. Dies wird insbesonders
dann beobachtet, wenn die Verwachsungen zwar allseitig, aber nur locker
sind und wenn es sich blos um eine Vereinigung der beiden Blätter des Herz-
beutels ohne gleichzeitige extrapericardiale Verwachsungen handelt. Doch
bleibt auch totale straffe Synechie, wenn zugleich andere Herzaffectionen
(besonders Klappenfehler) vorliegen, sehr häufig vollkommen latent.
Die physikalischen Symptome, welche durch die totale Herzbeutel-
verwachsung hervorgerufen werden können, bestehen zunächst in Veränderun-
gen, welche der Herzspitzenstoss erleidet. Derselbe kann dem normalen
gegenüber abgeschwächt sein, er kann vollständig fehlen oder es kann sich
an seiner Stelle eine systolischeEinziehung finden. Diese Abweichungen
von der normalen Beschaffenheit des Herzspitzenstosses werden vor Allem dann
beobachtet, wenn nicht nur Verwachsung der beiden Pericardblätter mitein-
PERICARDITIS. 207
ander, sondern auch. Anwachsung des äusseren Blattes an die Thoraxwand und
die umgebenden Organe stattgefunden hat. Die Art der Abweichung vom
normalen Verhalten in jedem einzelnen Falle ist wesentlich abhängig einer-
seits von der Festigkeit und Straft'heit der Adhäsionen, andererseits von
der Kraft der Herzaction. Ausgebreitete straffe Verwachsungen führen bei
verringerter Herzkraft durch Behinderung der Bewegung des Herzens in der
Regel zu Ab Schwächung des Herzstosses, eventuell zum Fehlen des-
selben. Bei wohlerhaltener oder durch massige Hypertrophie erhöhter Herz-
kraft wird in einer Reihe von Fällen eine systolische Einziehung
anstatt des Spitzenstosses gefunden. Diese betrifft entweder nur die Inter-
costalräume an der Stelle der sonst vorhandenen, normalen, durch die Herz-
spitze erzeugten systolischen Vorwölbung, oder auch die anliegenden Rippen.
Die mechanischen Bedingungen, welche zu dem Auftreten der systolischen
Einziehung führen, sind offenbar in den einzelnen Fällen verschieden, jedoch
scheint es sowohl auf Grund theoretischer Ueberlegung als auch der vor-
liegenden Beobachtungen, dass sie dann am häutigsten zustande kommt,
wenn das systolische Herabtreten der Herzbasis durch die Adhä-
sionen gehemmt ist, indem so durch das abnorm starke Hinaufrücken der
Herzspitze insbesonders die Möglichkeit für eine systolische Aspiration oder
ein directes Einwärtsgezogenwerden der Thoraxwand gegeben ist. So wurden
auch wiederholt bei partiellen Verwachsungen, welche nur die Gegend der
Herzbasis betrafen, systolische Einziehungen beobachtet. Besonders intensive
Einziehungen werden ferner angetroffen, wenn neben den intrapericardialen
Adhäsionen zugleich in Folge chronischer Mediastinitis Fixirung des
Herzens an die Wirbelsäule und die vordere Thoraxwand besteht. In diesem
Falle übt das sich contrahirende, in mediastinitische Schwielen eingebettete
Herz während der Systole einen kräftigen Zug auf die vordere Brustwand
aus, wodurch dieselbe der Wirbelsäule genähert und eine Einwärtsbewegung
der Herzgegend und der angrenzenden Abschnitte des Brustkorbes im Momente
der Systole erzeugt wird. Unter solchen Umständen kann durch die zur Zeit
der Diastole in ihre frühere Lage zurückschnellende Thoraxwand ein scheinbar
diastolischer Herzstoss hervorgebracht werden. Da zur Erzeugung einer
systolischen Einziehung immer eine gewisse, bald grössere bald geringere
Kraftleistung des Herzmuskels nothwendig ist, wird dieselbe mit sinkender
Herzkraft schwächer und kann endlich vollständig verschwinden, so dass an
ihre Stelle das Fehlen des Herzstosses tritt. Unnachgiebigkeit der Brustwand,
sowie grosse Dicke derselben, sind dem Auftreten systolischer Einziehungen
nachtheilig. Lässt man den Kranken seine Lage wechseln, so ändern die
Einziehungen ihren Ort wenig oder gar nicht, wohl aber nicht
selten ihre Intensität. Sie zeigen oft eine gewisse Abhängigkeit von der Ath-
mung, indem sie während der Inspiration stärker werden.
Systolische Einziehungen in der Herzgegend werden ausser bei der Synechia
pericardii unter sehr verschiedenartigen Verhältnissen angetroffen und sind daher für diese
an und für sich nicht charakteristisch. Bei ganz normaler Beschaffenheit des Her-
zens und der Nachbarorgane, noch mehr aber bei (z. B. durch Ascites) hinaufgedrängtem
Herzen und bei Vergrösserung des Herzens aus beliebiger Ursache, findet man sehr häu-
fig nach innen oben vom deutlich ausgeprägten Spitzenstosse, im 3. und 4. Intercostal-
raume, sehr ausgesprochene systolische Einziehungen, welche bei hypertrophischem und
dilatirtem Herzen und sehr nachgiebiger Thoraxwand (z. B. bei Kindern) auch an den an-
grenzenden Rippen und dem unteren Sternum wahrgenommen werden können. Systolische
Einziehungen anstatt des Spitzenstosses wurden ferner mitunter bei Atherom der Aorta,
bei Aneurysma der Aorta ascendens, bei Aortenstenose, bei abnormer Lage des Herzens,
bei regelwidriger Faltenbildung des Pericards (Traube), bei ünbeweglichkeit des linken
vorderen Lungenrandes beobachtet. Andrerseits kann trotz totaler Verwachsung der
Pericardblätter, wenn z. B. in Folge eines Herzklappenfehlers erhebliche * Dilatation und
Hypertrophie des Herzens besteht, der Spitzenstoss sogar verstärkt sein.
Die Herzdämpfung ist in der Regel mehr oder weniger vergrössert,
was durch die fast immer vorhandene Dilatation des Herzens, pericarditische
208 PERICARDITIS
und extrapericardiale Schwarten, Retraction der Lungenränder mit folgender
Fixation derselben verursacht wird. Die seitliche Verschieblichkeit
der Herz dämpf ung bei Lagewechsel ist entweder verringert oder fehlt (bei
Anwachsung des Herzens) vollkommen. Die respiratorische Beweglichkeit der
Lungenränder in der Umgebung der Herzdämpfung ist bei der Häufigkeit
gleichzeitiger extrapericardialer und pleuraler Verwachsungen sehr oft aufge-
hoben.
Der Auscultationsbefund kann ein völlig normaler sein. Mitunter
sind die Herztöne etwas dumpfer, der zweite Pulmonalton leicht accentuirt.
Systolische Geräusche treten, von Complicationen abgesehen, in manchen
Fällen in Folge von relativer, durch erhebliche Dilatation der Ventrikel ent-
standener Insufficienz der Zipfelklappen auf.
In seltenen Fällen entsteht durch das diastolische Zurückschnellen der während der
Systole kräftig einwärts gezogenen Thoraxwand (s. o.) ein dumpfer diastolischer Schall, welcher
zu einer Art von Verdoppelung des diastolischen Herztones Anlass gibt (Friedreich).
Metallische Magenconsonanz der Herztöne und systolische Plätschergeräusche des
Magens, von Riess als Symptome der Herzbeutelverwachsung bezeichnet, können ausser
bei dieser unter normalen und den verschiedensten pathologischen Verhältnissen gefunden
werden.
Ein seltenes Symptom der Herzbeutelverwachsung ist der Friedeeich-
sche diastolische Venencollaps. Er besteht in einer sehr raschen
Entleerung der Halsvenen während der Diastole, nachdem sich dieselben
während der Systole allmälig gefüllt hatten. Das Zeichen wird aus der
plötzlichen Aspiration des Venenblutes nach dem Thorax durch das, einer sehr
ausgiebigen systolischen Einziehung folgende, diastolische Vorspringen der
Brustwand erklärt.
Der diastolische Venencollaps Friedreich's ist in vieler Beziehung dem echten systo-
lischen Venen pulse, welcher bei Concretio cordis cum pericardio in Folge starker Dilatation
des rechten Ventrikels und aus dieser hervorgehender, relativer Tricuspidalinsufficienz
vorkommen kann, sehr ähnlich. Die Entscheidung, welches der beiden Venenphäno-
mene vorliegt, müsste nach dem Vorhandensein oder Fehlen der übrigen Erscheinungen
der Tricuspidalinsufficienz getroffen werden. Diastohscher Venencollaps wurde auch bei
offenem Foramen ovale beobachtet (Riegel).
Der Arterienpuls kann völlig normale Beschaffenheit zeigen. Häufiger
ist er von vermindeter Spannung, klein, seine Frequenz nicht selten vermehrt,
mitunter besteht Arhythmie. In manchen Fällen, besonders solchen, die mit
Mediastinitis combinirt sind, besteht Pulsus paradoxus. (S. Art. .^Mediastinitis'-'- .)
Die Obliteration des Pericardialsackes kann nicht nur ohne physikalische
Symptome, sondern auch ohne jede functionelle Störung bestehen. In
sehr vielen Fällen jedoch stellen sich im Verlaufe der Erkrankung Kreislaufs-
störungen ein, die ihren Grund theils in der directen mechanischen Behin-
derung der Herzaction, theils in einer meist schweren Erkrankung des Herz-
muskels haben, welche sich an den (oft chronischen) pericarditischen Process
anschliesst (s. o.). Die HerzbeutelverAvachsung muss deshalb im Allgemeinen
als ein ungünstiger Ausgang der Pericarditis bezeichnet werden. Die Folgen
der allmälig zunehmenden Circulationsstörung manifestiren sich in der
Form der bekannten Stauungssymptome. Von mehreren Autoren wird
das isolirte Vorkommen von Leber seh wellung und Ascites, das durch
lange Zeit ohne anderweitige Erscheinungen der Stauung bestehen kann, hervor-
gehoben.
Diagnose. Dieselbe unterliegt in typischen Fällen keinerlei Zweifel. In anderen, bei
welchen einzelne Hauptsymptome der Pericarditis unvollständig ausgebildet sind, fehlen
oder durch complicirende Momente beeinflusst werden, kann die Diagnose sehr schwierig
sein. Umgekehrt ist es möglich, dass durch anderweitige Affectionen ein oder gar mehrere
Symptome einer Pericarditis vorgetäuscht werden. Hier seien nur einige der wichtigsten
Punkte hervorgehoben.
Der Herzstoss kann trotz reichlichen pericarditischen Exsudates bei hypertrophi-
schem Herzen, ferner bei Vorhandensein älterer partieller Verwachsungen zwischen der
vorderen Fläche des Herzens und dem Pericard erhalten bleiben. Andrerseits kann er schon
in der Norm fehlen. Er ist sehr schwach auch bei Zuständen hochgradiger Herzschwäche,
PERICARDITIS. 209
doch ist bei diesen der Puls im Gegensatze zu den meisten Fällen von Pericarditis auch
entsprechend klein und von höchst geringer Spannung. Auch die Intensität der Herztöne,
welche bei Pericarditis doch stärker abgeschwächt zu sein pflegen, wird zur Unterscheidung
beitragen. Bei sehr beträchtlichen Dilatationen des Herzens kann ähnlich wie bei Pericar-
ditis der Spitzenstoss von der Herzdämpfung nach links überschritten werden.
Abweichungen von der beschriebenen Form der pericarditischen Dämpfung
können durch vorausgegangene ältere Entzündungen des Herzbeutels, welche zu theilweiser
Obliteration desselben geführt haben, ferner durch stellenweise Adhärenz oder partielle
Retraction der vorderen Lungenränder bewirkt werden. Ein Missverhältnis zwischen der
Grösse der Dämpfung und der Menge des vorhandenen Exsudates wird mitunter durch
Anheftung der Lungenränder in der Umgebung des Herzens hervorgerufen. In derselben
Weise wirkt ein gleichzeitig bestehendes Lungenemphysem. In beiden letztgenannten Fäl-
len wird nur eine grosse relative Herzdämpfung bei normaler oder gar fehlender abso-
luter zu finden sein.
Die Entscheidung, ob in einem gegebenen Falle die Vergrösserung der Herzdämpfung
von einem pericarditischen Exsudate oder von einer Vergrösserung des Herzens
selbst herrührt, muss bei fehlendem pericarditischem Reibegeräusch nach der Form der
Dämpfung (erhebliche Vergrösserung nach oben bei Pericarditis), nach dem Verhalten des
Herzstosses, der Intensität der Herztöne, dem Grade der seitlichen Beweglichkeit der
Dämpfung bei Lagewechsel, nach dem Vorhandensein oder Fehlen einer erheblichen Zu-
nahme derselben beim Sitzen oder Stehen, getroffen werden. Insbesonders Dilatation
des Herzens kann unter Umständen eine in Folge von Exsudatansammlung vergrösserte
Herzdämpfung vortäuschen; hier werden die Anamnese, das Fehlen anderer Zeichen
der Pericarditis (besonders des Reibens) bei ausgesprochenen Erscheinungen höhergradiger
Herzschwäche (Verhalten des Pulses!), der Erfolg der Körperruhe und des Digitalis-
gebrauches, die Diagnose meist ermöglichen. Die von Schott zur Differentialdiagnose
zwischen Herzdilatation und Pericardialexsudat empfohlene, unter entsprechenden Cautelen
angewendete Widerstandsgymnastik, durch welche bei der ersteren eine Verkleinerung der
Herzdämpfung und ein Hereinrücken des Spitzenstosses bewirkt wird, während die
Dämpfungsgrenzen bei dem letzteren unverändert bleiben, kann wohl nur ganz aus-
nahmsweise Verwendung finden. Sehr bedeutenden Schwierigkeiten unterliegt auch der
Nachweis einer Herz vergrösserung neben Pericarditis.
Dem Hydropericard gegenüber muss auf das Fehlen sonstiger hydropischer Er-
scheinungen Gewicht gelegt werden. Um Pericarditis neben Hydropericard oder bei all-
gemeinem Hydrops überhaupt (z. B. bei Nephritis) zu erkennen, ist auf das Bestehen
schmerzhafter Empfindungen in der Herzgegend, Temperatursteigerung, das Auftreten von
Reibegeräuschen, welche vielleicht nur bei Druck auf die Herzgegend oder in gewissen
Lagen des Kranken wahrnehmbar sind, zu achten.
Verwechslungen von Aneurysmen oder Mediastinaltumoren mit Pericarditis
werden bei Berücksichtigung des ganzen Krankheitsbildes nur in besonders compUcirten
Fällen vorkommen, dagegen kann die Diagnose dieser Erkrankungsformen bei gleichzeitiger
exsudativer Herzbeutelentzündung sehr schwierig werden.
In seltenen Fällen lagert sich ein abgegrenztes pleuritisches Exsudat dergestalt
dem Herzen an, dass eine der Dämpfung bei Pericardialexsudat ähnliche Dämpfungsfigur
entsteht. Hier entscheidet das Verhalten des Herzstosses, der Herztöne, das Fehlen des
pericarditischen Reibens, die Prüfung der Beweglichkeit der Lungenränder; auch sind die
Compressionserscheinungen der angrenzenden Lungenpartien bei dem pleuritischen Exsu-
date gewöhnlich stärker ausgeprägt, als dies bei einem der Grösse der Dämpfung entspre-
chenden, pericarditischen Exsudate zu sein pflegt. In ähnlicher Weise kann umschriebene
Infiltration des Lungenparenchyms in der Umgebung des Herzens eine pericar-
ditische Dämpfung nachahmen. Das Fehlen anderer pericarditischer Zeichen und vor Allem
der Auscultationsbefund über den betreffenden Lungenpartien sichern die Diagnose. Zur
Entscheidung der Frage, ob neben einer exsudativen Pleuritis auch ein pericarditisches
Exsudat oder nur Dislocation des Herzens vorhanden sei, ist das Verhalten des Herz-
stosses, der Dämpfungsfigur, die Intensität der Herztöne, der Nachweis oder das Fehlen
echten pericarditischen Reibegeräusches zu benützen.
Das Reibegeräusch fehlt mitunter vollständig und ist auch durch Druck und
Lageveränderung nicht zum Vorschein zu bringen. Ein solches Verhalten ist besonders
bei theilweisen Verklebungen der Pericardblätter zu erwarten. In derartigen Fällen, welche
diagnostisch sehr schwierig sind, gestattet mitunter die Gestalt der Herzdämpfung, das
Fehlen des Herzstosses, die Schwäche der Herztöne bei sorgfältiger Erwägung aller übrigen
Umstände die Diagnose zu stellen. Ist kein Reibegeräusch vorhanden und zugleich auch
die Exsudatmenge für den Nachweis zu gering, so ist eine (sichere) Diagnose der Pericar-
ditis überhaupt unmöglich. In sehr seltenen Fällen kommen pericardiale Reibegeräusche
ohne Entzündung des Herzbeutels zur Beobachtung. Man hat sie bei Tuberkel- und
Krebsknötchen am Pericard, bei Sehnenflecken, multiplen Ecchymosen und abnormer
Trockenheit desselben (z. B. bei Cholera) gefunden.
Bibl. med. WisBenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. l*
210 PERICARDITIS.
Von grosser Wichtigkeit ist das Vorkommen von Serosareibegeräuschen entzünd-
lichen Ursprunges, die in der Herzgegend gehört werden und mit der Herzaction synchron
sind, ohne dass jedoch das Pericard Sitz der Affection wäre. Nur ganz ausnahmsweise
entsteht ein solches Geräusch in Folge von Peritonitis (Emminghaus), indem durch
die Herzaction ein Aneinanderreihen der rauh gewordenen serösen Ueberzüge des Dia-
phragmas und der Leber hervorgerufen wird. Fast immer verdanken derartige ßeibe-
geräusche ihre Entstehung einer (meist linksseitigen) Pleuritis. Sie kommen hiebei zu
Stande theils durch die der erkrankten Pleura pericardiaca direct mitgetheilte Bewegung
des Herzens, theils in Folge der rhythmischen, durch die Volumschwankungen des Herzens
hervorgerufenen Bewegungen der anliegenden Lungenpartien (bes. des Processus lingualis),
deren Pleuraüberzug mit Fibrinauflagerungen besetzt ist. Diese Reibegeräusche werden als
extrapericardiale oder pleuropericardiale bezeichnet. Sie sind immer am stärk-
sten in der Gegend der Herzlungengrenze oder überhaupt nur hier zu hören, selten rechts
(bei rechtsseitiger Pleuritis), viel häufiger links und hier wieder besonders in der Gegend
der Herzspitze. Immer ist daneben pleurales Reiben vernehmbar. Demnach kann man an
derselben Stelle Reibegeräusche, die mit der Respiration und solche die mit der Herzaction
synchron sind, hören. Bei angehaltener Athmung sind nur die letzteren vorhanden, wer-
den aber gewöhnlich nach wenigen Herzcontractionen immer schwächer und hören endlich
ganz auf; wird die Respiration wieder aufgenommen, so treten auch die pleuropericardialen
Reibegeräusche wieder auf. An dieser hohen Abhängigkeit von der Athmung, ihrer Locali-
sation, dem Fehlen anderer Erscheinungen der Pericarditis bei nachweisbarer Pleuritis
(Schmerz beim Athmen, anderwärts hörbares pleuritisches Reiben, Exsudatdämpfung), ist
es meist mit Sicherheit möglich, diese Geräusche als extrapericardiale zu erkennen.
Mitunter werden die pericardialen Geräusche endocardialen dadurch ähnlich,
dass sie, streng an einzelne Herzphasen gebunden, an bestimmten Stellen der Herzgegend
localisirt sind, den betreffenden Ton mehr oder weniger verdecken und auch ihre sonst
charakteristische Klangfarbe nicht zeigen. In manchen derartigen Fällen ist eine Ver-
wechslung mit endocardialen Geräuschen unvermeidlich. Zur Unterscheidung kann jedoch
im Allgemeinen Folgendes dienen: Pericardiale Geräusche sind viel weniger constant (es
kann während der Beobachtung ein wiederholter Wechsel der Phase vorkommen oder das
Geräusch schwindet zeitweilig), sie sind von der Lage des Kranken sehr abhängig, werden
von der Athmung in der Regel viel stärker beeinflusst als endocardiale, sie pflanzen sich
endlich, selbst wenn sie laut sind, weniger weit in die Umgebung fort als letztere. Nebst-
dem sind natürlich alle übrigen Symptome zu berücksichtigen, welche entweder für Peri-
carditis oder für recente Endocarditis oder für einen älteren Klappenfehler sprechen.
Die Beschaffenheit des pericarditischen Exsudates kann mit Bestimmt-
heit nur durch die Probepunction, welche man aber nur bei sicher vorauszusetzendem flüs-
sigem Ergüsse vornehmen wird, festgestellt werden. Bei secundärer Pericarditis lässt die
Grundkrankheit in vielen Fällen auf die Art des Exsudates schliessen (s. o.).
Eine sichere Diagnose der Herzbeutelverwachsung, welche, wie aus der
Darstellung ihrer Symptome hervorgeht, kein unbedingt vevlässliches, charakteristisches
Zeichen besitzt, wird nur unter besonders günstigen Umständen möglich sein. In solchen
Fällen wird es gelingen, auf Grund einer Anzahl der früher geschilderten, gleichzeitig vor-
handenen, positiven Symptome und der Anamnese die Diagnose zu stellen. Sehr oft wird
man aber zu der Annahme der Affection nur auf dem Wege der Ausschliessung anderer
Erkrankungen des Herzens gelangen und das Vorhandensein derselben nur in mehr minder
hohem Grade wahrscheinlich machen können. Am schwierigsten ist die Differentialdiagnose
den chronischen Herzmuskelaifectionen gegenüber. Besteht die Concretio cordis cum peri-
cardio neben anderen Herzerkrankungen, so ist ihre Erkennung meist unmöglich.
Therapie. In \'ielen Fällen von leichter, im Verlaufe anderer Krank-
heiten aufgetretener Pericarditis, bedarf diese ausser der Beobachtung von
Körperruhe und localer Kälteapplication kaum einer besonderen Behandlung.
Hat sich Herzbeutelentzündung während eines Gelenksrheumatismus entwickelt,
so sehen wir die übliche specifische Therapie desselben gewöhnlich auf den
Verlauf der ersteren keinen bemerkbaren Einfluss nehmen. Ja mitunter stellt
sich die Pericarditis erst ein, nachdem es durch die Salicylbehandlung bereits
gelungen ist, die Gelenkserscheinungen zum Schwinden zu bringen. Dennoch
besitzt der Salicylgebrauch in Bezug auf das Auftreten der Pericarditis ebenso
wie der Endocarditis durch Abkürzung der Dauer des ursprünglichen Krank- "
heitsprocesses einen gewissen prophylactischen Werth (vgl. „Therapie der Herz-
klappenfehler "^.
Die Behandlung acuter Pericarditis erfordert zunächst absolute
Bettruhe und Fernhaltung aller körperlichen und psychischen Emotionen.
Meist erheischen das bestehende Oppressionsgefühl und die Kurzathmigkeit
erhöhte Rückenlage. Der' Kranke wird auf leicht verdauliche Diät gesetzt,
PERICARDITIS. 21 1
man Wcählt in der ersten Zeit der Erkrankung flüssige oder breiige Nahrungs-
mittel. Es ist zweckmässig häufig, aber immer nur geringe Mengen Nahrung
zu reichen. Leichtere alkoholische Getränke können Kranken, die daran ge-
wöhnt sind, in kleinen Quantitäten zugestanden werden. Erst mit zunehmen-
der Besserung wird dann leicht verdauliche feste Nahrung gegeben und all-
mälig zur normalen Diät zurückgekehrt. Sorgfältig ist zu beachten, dass die
Stuhlentleerung im Gange erhalten wird, es soll der Stuhl breiig sein und ein-
bis zweimal täglich erfolgen, was man durch geeignete Nahrungsmittel (Frucht-
saft, gekochtes Obst) oder durch milde Abführmittel zu erreichen trachtet.
Besteht andauernde Obstipation, so muss dieselbe mit energischen Laxan-
tien oder Klysmen beseitigt werden.
Von erfahrungsgemäss grossem Nutzen sowohl hinsichtlich der subjectiven
Beschwerden als des Krankheitsverlaufes selbst, ist die consequent durchge-
führte örtliche Kälteanwendung. Sie geschieht in der Weise, dass in der
Herzgegend ein (an einem passenden Gestell, einem über das Bett gespannten
Fassreifen u. dgl. aufgehängter) leichter Eisbeutel, der auf einem zusammen-
gelegten leinenen Tuche ruht oder ein mit Eiswasser gespeister LEiTEE'scher
Kühlapparat aufgelegt wird. Bei starkem Schmerz können zweckmässig
trockene oder blutige Schröpfköpfe oder Blutegel angewendet werden. Auch
Sinapismen pflegt man in solchen Fällen mit Vortheil zu benützen. Eine
antipyretische Behandlung ist bei dem meist nur massigen Fieber ge-
wöhnlich unnöthig; sollten ausnahmsweise hohe Temperaturen und die damit
verbundenen subjectiven Beschwerden ein specielles Eingreifen nothwendig
machen, so käme die Anwendung von Chinin^ Antipyrin, Phenacetin etc. in
Betracht. Gegen stärkere Dyspnoe erweist sich Morphium (innerlich oder
subcutan) als das verlässlichste Mittel.
Stellen sich Anzeichen von Störung der Herzthätigkeit, Veränderungen
des Rhythmus, beträchtliche Steigerung der Pulsfrequenz, Abnahme der Puls-
spannung ein, so ist die Verordnung von Digitalis (Infus aus 0-5— 1-0 g auf
150 — 200 Aq. fönt, ein- bis zweistündlich ein Esslöfel oder Pulv. O'Oö—O'lOg
fünf bis sechs Pulver täglich durch mehrere Tage) unter denselben Cautelen,
welche bei der Therapie der Herzklappenfehler angegeben wurden, am Platze.'
Anstatt der Digitalis können auch hier Strophanthus oder die Coffein-
doppelsalze verordnet werden. Höheren Graden von Herzschwäche, Ohnmachts-
anwandlungen, Collaps sucht man durch die Darreichung von grösseren Gaben
der genannten Cardiaca, ausserdem aber durch stärkere alkoholische Getränke,
Sherry, Champagner, Cognac, Thee mit Pium, durch internen Gebrauch von
Campher, Moschus (Camphorae trit. O'Oö—O'lO g. Sacck. alb. 0'5 g, 2 — 3 stündl.
1 Pulver; Moschi, Sacch. lact. m O'S g, 3 — 4 Pulver täglich) oder Liquor
ammon. anisat, Aether aceticus, Spiritus aethereus (mehrmals täglich 15 Tropfen)^
wenn möglichst rasche Excitation nothwendig ist, durch subcutane Injec-
t i 0 n e n von Kampherlösungen oder Aether sulfuricus (Ol. camphoratum oder
Camphor. ras. l'Og, Aether. sulfuric. lO'Og, 1 — 2 Pravaz'sche Spitzen) zu be-
gegnen.
Verzögert sich die Ptesorption des Exsudates, so ist die Beförderung
derselben durch diu retische Mittel zu versuchen. Von diesen muss vor
Allem das Diuretin (4-0—5-0g pro die) genannt werden. Weniger zu erwar-
ten ist von Liquor kali acetici (100 — 30-0g pro die) und den harntreibenden
Theearten, die früher hauptsächlich zu diesem Zwecke gebräuchlich waren.
Auch ein Versuch mit Calomel (0-8g pro die, durch 4 — 5 Tage bei gleich-
zeitigem Gebrauche von Kali chloricum-Lösung als Mundwasser) kann gemacht
werden. Eine diaphoretische Behandlung durch warme Bäder u. dgl.
ist gewöhnlich unthunlich; von dem Gebrauche von Pilocarpin ist — zumal
bei Schwächezuständen des Herzens — abzurathen. Auch von der Anwendung
von Drasticis zu gedachtem Zwecke wird gegenwärtig wohl nur selten mehr
14*
212 PERICARDITIS.
Gebrauch gemacht. Die resorbirende Wirkung der häufig äusserlich zu Ein-
reibungen und Einpinselungen verwendeten Jodprä;parate (Jodoform 3-Og
TJngt. simpl. 20' Og, Salbe; Tctr. Jodi, Tctr. Gallarum m zur Einpinselung)
ist zum mindesten sehr zweifelhaft. Ist man berechtigt, die haemorrhagische
Natur einer Pericarditis anzunehmen, oder hat man sich von derselben durch
Probepunction überzeugt, so ist der Gebrauch von Seealepräparaten angezeigt.
Erreichen die Erscheinungen der durch ein überreichliches Exsudat her-
vorgerufenen Circulationsstörungen und die damit verbundene Dyspnoe eine
das Leben bedrohende Höhe, oder zeigt ein grösseres pericardiales Exsudat
nach längerem Bestände und trotz Anwendung der angegebenen therapeutischen
Maassnahmen keine Neigung zur Abnahme, so ergibt sich die Indication zur
operativen Entleerung des Exsudates. Dieselbe erweist sich bei
Beobachtung der nöthigen Vorsicht als ungefährlich, ihr augenblicklicher Er-
folg ist unter den angegebenen Umständen ein meist sehr guter, auch der
Einfluss auf den weiteren Verlauf günstig. Bei neuerlicher Ansammlung er-
heblicher Exsudatmengen, kann der Eingriff selbst mehrmals wiederholt
werden.
Die Paracentese des Pericards wird in leicht erhöhter Rücken-
lage ausgeführt. Es ist sehr zweckmässig, derselben immer eine Probepunc-
tion mit einer PßAVAz'schen Spritze, welche eine etwas längere Hohlnadel
trägt, vorauszuschicken. Die antiseptischen Cautelen sind jenen bei Punction
der Pleurahöhle vollkommen gleich. Sowohl für die Probepunction als für
die Paracentese selbst ist die geeignetste Stelle der 4. oder 5. linke Inter-
costalraum, hart am Sternalrande. Man sticht auch bei der Probepunction
nur sehr langsam vordringend ein und zieht die Nadel, sobald man Anstreifen
an dieselbe oder vom Herzen mitgetheilte Bewegung fühlt, wieder ein wenig
zurück, um ein Anstechen des Herzens zu vermeiden*). Ergibt die Probe-
punction ein positives Resultat, so wird an derselben Stelle die Paracentese
gemacht. Man wählt hiezu einen möglichst dünnen Troicart oder die von
Fiedler für die Punction der Pleurahöhle und des Herzbeutels angegebene
Doppelhohlnadel, bei welcher die Spitze der in den Pericardialsack ein-
geführten Hohlnadel durch eine in dieser verschiebbare Canüle gedeckt
werden kann. Die Entleerung des Exsudates geschieht mit Hilfe eines Aspi-
rationsapparates (von DiEULAPOY, Potain u. A.) und wird langsam und nur
mit Anwendung schwacher Aspiration ausgeführt. Für die Menge, welche
entleert werden soll, lässt sich eine allgemein giltige Regel ebensowenig wie
für die Paracentese der Pleura aufstellen — man hat bis weit über 1000 com
entleert, doch wird es zweckmässig sein, nicht zu grosse Quantitäten auf ein-
mal zu aspiriren. Zum Verschlusse der Punctionswunde wird Heftpflaster,
Jodoformcollodium u. dgl. verwendet, ein Verband ist überflüssig.
Die in der angeführten Weise vorgenommene Paracentese ist in jedem
Falle, wo es sich um directe Bedrohung des Lebens handelt, ferner bei all-
zulangsamer oder ausbleibender Resorption grösserer seröser Exsudate,
unter Umständen wohl auch bei haemorr hagischen Exsudaten angezeigt.
Bei eitrigem und jauchigem Exsudate, von dessen Vorhandensein man
sich durch die Probepunction überzeugt hat, die Incision mit folgender
Drainage vorzuziehen.
Nach den bisher vorliegenden Erfahrungen wird die Incision in leichter
Narcose oder unter localer Anaesthesie am besten im 4. (oder 5.) linken
Intercostalraume einige Centimeter nach aussen vom linken Sternalrande (um
sowohl der Art. mammaria int. als der linken Pleura auszuweichen) vorge-
nommen, indem man schichtweise bis zum Pericard vordringt und dieses dann
*) Das Aüstechen des Herzens soll übrigens, wie Fürbringer (Verhandlungen d. Congr.
für mn. Med. 1891) angibt, unbedenklich sein.
PERIHEPATITIS. 213
vorsichtig mit dem Messer oder mit Pincette und Scheere eröltnet. Durch den
eingeführten Finger verhindert man allzuraschen Austluss des Eiters. Nach-
trägliche Spülung des Pericardialsackes scheint besser unterlassen zu werden
(Sievers), jedenfalls fordert aber der Fall Parker's, bei welchem während
der Irrigation plötzlicher Herzstillstand eintrat, dazu auf, sie, wenn überhaupt,
nur mit grosser Vorsicht auszuführen.
Von 12 von Sievers im Jahre 1892 zusammengestellten Fällen von Pyopericard. in
welchen die Incision ansgeführt wurde, erfolgte in 5 Heilung, wobei der ungünstige Aus-
gang in den übrigen meist durch der Erkrankung zu Grunde liegende Septicopyaemie oder
andere schwere complicirende Momente bedingt war.
In der ßeconvalescenz nach acuter Pericarditis sollen die Kranken noch
durch längere Zeit körperliche und geistige Ptuhe beobachten. Zugleich sucht
man den Kräftezustand durch roborirende Diät möglichst zu heben. Bestehen
noch Zeichen der Herzschwäche, so ist der zeitweilige Gebrauch von Digitalis
und anderen Herzmitteln umsomehr zweckmässig, als durch Kräftigung der
Herzthätigkeit Lösung oder doch Lockerung vorhandener Adhäsionen be-
günstigt wird.
Die Behandlung chronischer entzündlicher Processe des Pericards,
fällt zum Theil mit jener der acuten Pericarditis, theils mit jener der chro-
nischen Muskelerkrankungen des Herzens zusammen. Auch der Herzbeutel-
verwachsung kommt eine specifische Therapie nicht zu. Man wird den
Kranken in jenem Stadium, in welchem die Herzkraft noch zur Hintanhaltung
von Circulationsstörungen ausreicht, dieselben Verhaltungsmaassregeln an die
Hand geben, me solchen mit compensirten Klappenfehlern. Hat sich Insuffi-
cienz der Herzthätigkeit eingestellt, so ist die Behandlung jener der Erkran-
kung des Myocards im gleichen Stadium und der Klappenfehler bei eingetre-
tener Compensationsstörung gleich. f. kovacs.
Perihepatitis ist die Entzündung der peritonealen Bekleidung der
Leber. Sie findet sich zunächst als Theilerscheinung einer allgemeinen Peri-
tonitis, ferner als Begleiterin chronisch-entzündlicher Erkrankungen des Leber-
parenchyms, selten als Piesultat äusserer Gewalten, welche die Lebergegend
trafen und so direct zu entzündlichen Vorgängen Veranlassung boten. Die
Perihepatis kann aber auch einen „fortgepflanzten Process" darstellen, sei es
dass eine Pleuritis dextra die primäre Ursache bildet, sei es, dass peritoneale
Entzündungsprocesse, welche Magenaffectionen begleiten (Perigastritis bei Ulcus
und Carcinoma ventriculi) auf dem Wege des Ligamentum hepato-duodenale
oder von der kleinen Curvatur des Magens längs des Ligamentum coronarium
hepatis auf die Kapsel des Leber überzugreifen. Die erstere Form dringt
nach Frerichs mit der Capsula Glissonii tief ins Leberparenchym ein, wäh-
rend die andere auf die Wandungen der Vena cava übergreifen.
Syphilitische Erkrankungen der Leber gehen häufig mit Perihepatitis
einher und letztere bildet geradezu ein pathognomonisches Merkmal der
Leberlues.
Als Perihepatitis chronica hat Cueschmann einen chronisch entzünd-
lichen Zustand der Leberkapsel beschrieben, welcher zur Verkleinerung und
Induration der Leber führt, einen typischen Pfortaderascites veranlasst und
somit der Lebercirrhose ähnliche Krankheitserscheinungen darbietet, ohne
dass makro- oder mikroskopisch interstitielle Bindegewebswucherungen nachzu-
weisen wären. In einem von Curschmann beobachteten Falle war die ganze
Leber in eine dicke, schwielige Masse eingehüllt, weshalb C. die Bezeichnung
„ Zuckergussleber ''^ für diese pathologische Veränderung vorschlägt.
Einen ähnlichen Fall von Zuckergussleber hat H. PiUMpf mitgetheilt. Hievon wohl
zu unterscheiden wären Fälle von echter Lebercirrhose mit gleichzeitiger Perihepatitis, wie
einen solchen Fall PiUMPEl in seinen pathologisch-anatomischen Tafeln beschrieben und
auch daselbst abgebildet hat. F. Pick hat ferner neuestens darauf aufmerksam gemacht,
dass Leberaffectionen vorkommen, welche klinisch wegen der vorhandenen Symptome
214 PERIHEPATITIS.
Lebervergrösserung, starker Ascites, kein Icterus) als Cirrhosis hepatis diagnosticirt werden,
während der autoptische Befund ergibt, dass eine Stauungsinduration der Leber ohne oder
zuweilen auch mit ausgesprochener Perihepatitis vorliege, deren Ursache Circulationsstörungen
bilde, die durch eine latente Pericarditis (Concretio cordis) zu Stande kamen. (Pericardi-
tiscJie Pseiidolebercirrhose) . F. Pick geht aber vielleicht etwas zu weit, wenn er meint, dass
alle Fälle von Zuckergussleber ja jede „analoge Peritonealverdickung" als Folge einer
primären Herzbeutelerkrankung angesehen werden müsse. Denn hiemit wäre das Vor-
kommen einer selbständigen, primären Perihepatitis chronica hyperplastica überhaupt ge-
leugnet. Einen etwas zurückhaltenderen Standpunkt in dieser Frage nimmt Rosenbach
ein, indem er auch darauf hinweist, das ausgebreitete, bindegewebige Perihepatitis in ein-
zelnen Fällen von diffuser, sklerosirender Pericarditis angetroffen wird, aber ausdrücklich
erklärt, dass es sich nicht entscheiden lässt, ob die Erkrankung von der Leber auf das
Pericard überkriecht oder umgekehrt.
Nach FßERiCHS kommen selbstständige, chronisch- entzündliche Processe
im Bereiche jener Bindegewebshülle vor, welche die in die Leber eindringen-
den Gefässe und Nerven umgeben, und GussoN'sche Capsel genannt wird.
Bei dieser „Glissonüis" — der Ausdruck ist ebenso erlaubt, wie die Bezeich-
nung Rosenbach's ,,Serositis hepatica simplex'-^ für Perihepatitis — findet man
Pfortader, Leberarterie und Nerven in eine derbe Scheide eingehüllt, welche
bis in die feinsten Verzweigungen ihre Fortsätze liefert, ohne, wie Frerichs
besonders hervorhebt, das Lumen der Gefässe oder des Parenchym der Drüse
zu alteriren.
PtOSENBACH hat neuester Zeit die Selbstständigkeit des klinischen
Bildes der Perihepatitis betont und seien im Nachfolgenden wesentlich
dessen Ausführungen referirt.
Die Kranken, die mit Perihepatitis behaftet sind, klagen über Schmerzen
in der Lebergegend oder in der rechten Brust und Unterleibshälfte. Diese
Klagen werden entweder als Darmkolik^ als Cholelithiasis, als Pleuritis diaphrag-
matica oder gar als ParatyphliUs gedeutet, während sie thatsächlich einer
Perihepatitis entsprechen. Tastet man mit den Fingern den unteren Leber-
rand ab, so findet man nicht selten Prominenzen, die allmälig und ohne
scharfen Piand in das Niveau des Parenchyms übergehen, dieselben sind manch-
mal nur linsengross, so dass man das Gefühl der Granulirung erhält.
Die Palpation soll nach Eosejnbach immer so vorgenommen werden, dass man sich
hinter der rechten Schulter des Kranken stellt und mit gebeugten Fingern den unteren Le-
berrand einzuhaken versucht. Diese Untersuchungsmethode der Leberpalpa-
ti on ist viel mehr zu empfehlen, als jene, bei der man als Untersucher dem Kranken
das Gesicht zuwendet und mit gestreckten Fingern unter den Leberrand einzudringen sucht.
In anderen Fällen von Perihepatitis ist nur Druckschmerzhaftigkeit zu
constatiren.
Bei der Auscultation der Lebergegend hört man bei vorhandener
Perihepatitis häufig ausgeprägtes, peritoneales Reiben. Dasselbe darf aber nicht
mit jenen kleinblasigen Rasselgeräuschen verwechselt werden, die im Colon
transversum und oberen Antheil des Colon descendens entstehen und durch
Compression circumscripter Darmpartieen oder durch Adhäsion derselben von
Seiten der geschwellten Leber bedingt sind.
Fieber findet sich bei acut einsetzender Perihepatitis regelmässig, es
erreicht jedoch keine besonders hohen Grade und verläuft intermittirend.
Den Temperaturanstiegen gehen keine Schüttelfröste voraus, zur Differential-
diagnose gegenüber Cholelithiasis wichtig.
Perihepatitis findet sich hauptsächlich bei Frauen, was Rosenbach damit
erklärt, dass Frauen mehr Bedingungen zur Leberhyperämie bieten, als Männer.
Die Hyperämie der Leber {active und passive Hyperaemie) wäre überhaupt als
eines der wichtigsten ätiologischen Momente für Perihepatitis anzusehen. Die
Blutüberfüllung des Leberparenchyms führt zur starken Spannung der Se-
rosa, die noch durch die Congestionirung ihrer eigenen Gewebssubstanz bedeu-
tend gesteigert wird.
Nicht immer ist eine Entzündung im anatomischen Sinne, sondern oft
auch nur eine functionelle, wesentlich fluctuirende Hyperämie des Leberüber-
PERITONITIS. 215
zuges die Ursache heftigster Schmerzen, die von der Leber aus in das übrige
Abdomen ausstrahlen. Das ist das Bild der Leberkolik''-").
Entsprechend dieser Ansicht wäre nach Rosenbach die Behandlung
der Perihepatitis hauptsächlich dahin zu richten, alle Anlässe zur acuten Con-
gestion nach der Leber zu verhindern. Diesbezüglich müssen Beschäftigung,
Kleidung und Ernährung regulirt werden. Local wären warme Umschläge zu
appliciren, welche die Schmerzen zu lindern pliegen. Die Ableitung auf den
Darm erzielt man durch eine vorsichtige Anregung des Stuhlganges und nicht
durch forcirte Darreichung von Abführmitteln. J. W.
Peritonitis. Wir besprechen hier die acute und chronische Peritonitis
mit Ausschluss der tuberculösen. (Bezüglich der letzteren vergleiche den
Artikel „Tuberculosis serosarum^^ .)
1. Acute Peritonitis.
Aetiologie. In der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist acute
Bauchfellentzündung eine secundäre Erkrankung.
Die Fälle von sogenannter idiopathischer (primärer, spontaner)
acuter Peritonitis sind im Ganzen selten und werden um so seltener, je sorg-
fältiger man sich bemüht, die Aetiologie aufzuklären. Dass die Erkältung,
die in manchen Fällen als ätiologisches Moment bezeichnet wird, nur insofern
eine Rolle spielen kann, als sie die Infection des Peritoneums begünstigt
oder erleichtert, braucht heute kaum mehr betont zu werden; denn, wie sich
König drastisch ausdrückt, „Niemand wird noch zugeben wollen, dass Jemand
den Bauch voll Eiter und Coccen bekommt, wenn er sich denselben etwa durch
Zugluft oder kaltes Wasser erkältet."
Einzelne Fälle von Peritonitis entstehen in unmittelbarem Anschluss an
die Menstruation. In einem tödlich endenden Falle dieser Art, den ich
beobachten konnte, und bei dem die Section ausser einem Status menstrualis
der Genitalien keinen Ausgangspunkt der diffusen eitrigen Peritonitis ergab,
fand ich in dem Eiter sehr virulente, pathogene Mikroorganismen. Hier be-
günstigt also offenbar der Eintritt der Menstruation die Infection mit pathogenen
Bacterien, die bis in die Tuben und von da in den geplatzten Follikel gelangt
sein müssen.
Auch die traumatische Peritonitis wird von manchen Autoren zur
primären gerechnet. Aber hier handelt es sich entweder um eine perforirende
Verletzung, um eine Wundinfection — bei Neugeborenen kann Infection der
Nabelwunde zu Peritonitis führen — oder um traumatische Schädigung eines
der vom Peritoneum überzogenen oder ihm benachbarten Organe, so dass
von diesen aus Infectionserreger in die Peritonealhöhle eindringen können.
In manchen Fällen kommt übrigens durch Bauchcontusionen nur eine circum-
scripte, trockene Entzündung ohne irgend welche Zeichen einer Infection zu
Stande. Man beobachtet dies namentlich dann, wenn die Contusion ein nor-
maler Weise nicht bacterienhaltiges Organ der Peritonealhöhle z. B. die
Leber, trifft. (Einfache traumatische Peritonitis, heziehmigsvieisQ Perihepatitis
u. s. w.)
So ist der Ausdruck: y,primäre^^ oder „idiopathische Peritonitis" heute nur
noch eine vorläufige Bezeichnung für diejenigen Fälle, in denen sich der
Ausgangspunkt der Krankheit nicht feststellen lässt; er sollte daher richtiger
durch den Namen kryptogenetische Peritonitis ersetzt werden. Weitere Unter-
suchungen, namentlich bacteriologische, werden die Zahl dieser Fälle immer
mehr verkleinern.
'') Vergl. auch Artikel „Leherneuralgie^^ Bd. 11, pag. 506.
216 PERITONITIS.
Die secundäre Peritonitis entsteht: a) in der grossen Mehrzahl
der Fälle durch Uebergreifen der Entzündung von einem der vom
Peritoneum überzogenen oder ihm benachbarten Organe oder
durch Perforation eines solchen in die Peritonealhöhle.
Hier kommen namentlich in Betracht:
Magen {Ulcus, Carcinom, Verätzungen u. s. w.).
BsLrm (Geschwüre [Typhus, Tuberculose, Dysenterie] und andere infectiöse
Processe in der Darmwandung, am häufigsten Perityphlitis, maligne Tumoren,
Einklemmung u. s. w.)
Leber {Ähscess, Echinococcus, Carcinom), Gallenblase und Gallen-
wege.
Pancreas {acute Entzündung).
Milz {Ahscess, infectiöser Infarct).
Weibliche Genitalien (namentlich imerperale und gonorrhoische
Infectionen, Extrauterin- Gravidität).
Seltener geben Entzündungs- und Eiterungsprocesse im prae- oder
retroperitonealen Gewebe (z. B. Äbscesse der Bectusscheide, Perinephritis),
der Nieren, Blase, Prostata, des Samenstranges zu Peritonitis Ver-
anlassung, Noch seltener entsteht letztere in Folge von Zerreis sung grosser
Blut- oder Lymph-Gefässe, oder von vereiterten, mesenterialen oder retro-
peritonealen Lymphdrüsen aus. Auch Durchbruch eitriger Ergüsse aus
der Pleura- oder Pericardialhöhle in das Peritoneum ist beobachtet worden.
b) Viel seltener ist die metastatische Entstehung der Peritonitis. So
ist bei acutem Gelenkrheumatismus acute (meist seröse) Peritonitis
beobachtet worden ; auch bei Scharlach, Pocken, Erysipel, Pyämie und
anderen Infectionskrankheiten hat man metastatische Bauchfellentzündungen
auftreten sehen.
Wir wissen jetzt, dass die überwiegende Mehrzahl der acuten Peritoniti-
den durch Mikroorganismen hervorgerufen werden. Nur bei einem Theil
der durch Contusionen entstehenden Bauchfellenentzündungen handelt es sich
wahrscheinlich um einfache mechanische Reizung. Ob beim Menschen auch
durch chemische Reize Peritonitis entsteht, ist zweifelhaft. Man hat die Fälle
von Peritonitis, die sich zuweilen bei chronischer Nephritis entwickeln, in dieser
Weise erklären wollen. Doch müssen uns erst bacteriologische Untersuchungen
darüber Aufschluss geben, ob es sich nicht auch hier um eine — durch die
veränderteBeschaffenheit der Gewebe begünstigte — Infection handelt. Bei Thieren
gelingt es, durch Injection reizender Substanzen, z. B. von Orotonöl, eine acute
hämorrhagische Peritonitis zu erzeugen.
Bacteriologisches. Acute Peritonitis kann durch sehr verschiedene
Infectionserreger verursacht werden. In Fällen, bei denen es sich um eine
Wundinfection handelt (Eröffnung der Bauchhöhle von aussen und puerperale
Sepsis), findet man einen der gewöhnlichen Eitererreger, am häufigsten,
namentlich in den schweren Fällen puerperaler Sepsis, den Streptococcus
pgogenes. In den Fällen intestinalen Ursprunges, insbesondere bei der
Perforativ-Peritonitis, ergeben sich am häufigsten Bacillen aus der Gruppe des
Bacterium coli commune als Erreger.
Nach neueren Untersuchungen stellt das Bacterium coli commune nickt eine Art dar,
sondern eine grosse Gruppe von Bacterien, deren einzelne Arten und Varietäten
hinsichtlich ihrer morphologischen Beschaffenheit, ihrer chemischen Wirkungen und nament-
lich auch hinsichtlich ihrer Pathogenität erhebliche Unterschiede zeigen. Im Darm gesunder
Menschen und Thiere finden sich stets verschiedene Arten von Bacterium coli commune, von
denen manche pathogene Wirkung im Thierexperiment zeigen. Es scheint, dass auch
weniger virulente Bacterien unter pathologischen Verhältnissen (z. B. beim Eintritt von
Darminhalt in das Peritoneum) eine rasche Steigerung ihrer Virulenz erfahren können.
Seltener als die eben genannten Bacterienarten finden sich Pneumococcen,
Proteus-AvtQii u. a. Die durch Tuherkelhacillen hervorgerufene — meist chronisch
verlaufende — Peritonitis wird an anderer Stelle besprochen. In der Aetiologie
PERITONITIS. 217
der circumscripten, von den weiblichen Genitalien ausgehenden Peritonitis
(l'erimetritis) kommt dem Gonococcus eine wichtige IioUe zu.
Bei bacteriologischen Untersuchungen, die erst nach dem Tode angestellt werden
können, ist es durchaus nothwendig, dieselben möglichst rasch vorzunehmen, da schon
wenige Stunden p. m. die aus dem Darm in die Peritonealhöhle eindringenden Sapro-
phyten — meist aus der Gruppe des Bacterium coli — die eigentlichen Erreger der Perito-
nitis (z. B. Pneumococcen) überwuchert haben können.
Pathologische Aiifitomie. In manchen, sehr rasch lethal verlaufenden
Fällen ist das Peritoneum makroskopisch völlig intact oder nur leicht ge-
röthet, während die mikroskopische Untersuchung und das Kulturverfahrcn
zeigen, dass dasselbe massenhaft pathogene Mikroorganismen enthält. In anderen
Fällen, die weniger acut zum Tode geführt haben, besteht eine Injection der
feineren Gefässe, das Bauchfell erscheint strichförmig oder fleckig geröthet,
seine Oberfläche hat den spiegelnden Glanz verloren, und hier und da
zeigen sich kleine, dünne, fibrinöse Fetzen, die sich leicht abspülen oder
wegwischen lassen. In den meisten Fällen sind diese fibrinösen Exsudat-
massen ausgedehnter und voluminöser und haften dann auch fester an. So
kommt es zu Verklebungen der Bauchorgane untereinander und mit dem
Peritoneum parietale. Wird die Peritonitis chronisch oder geht sie in Heilung
über, dann organisiren sich diese fibrinösen Verklebungen — soweit sie nicht
resorbirt w^erden — zu bindegewebigen Adhäsionen, welche sehr be-
trächtliche Ausdehnung und Dicke erreichen können. Auch Kalkablagerung
kommt in ihnen vor.
In den meisten Fällen ist die Peritonitis nicht rein fibrinös, sondern es
bildet sich ein mehr minder reichliches, seröses oder häufiger eitriges
Exsudat aus. Während sich manchmal nur einige ccm einer trüb-serösen oder
serös-eitrigen Flüssigkeit im kleinen Becken vorfinden, enthält die Bauchhöhle
mitunter mehrere Liter (20 und darüber) Eiter. Rein seröses Exsudat ist
dagegen bei acuter Peritonitis selten. Hat eine Perforation des Magendarm-
canals stattgefunden, so enthält die Bauchhöhle gewöhnlich auch Nahrungs-
reste, beziehungsweise Darminhalt. In solchen Fällen entweicht meist beim
Aufschneiden der Bauchdecken übelriechendes Gas (Pneumoperitonitis).
Putride Beschaffenheit des Exsudates, entstanden durch Eindringen von
Fäulniserregern, findet sich am häufigsten bei Perforations-Peritonitis und in
manchen Fällen puerperaler Peritonitis. Doch peritonitischer Eiter zeigt nicht
selten auch dann fäculenten Geruch, wenn eine Perforation des Darmes nicht
nachweisbar ist — offenbar, weil Darmbacterien durch die entzündlich ver-
änderte Darmwand hindurchgedrungen sind.
Hämorrhagischer Erguss findet sich in manchen Fällen traumatischen
Ursprunges, ist femer bei Scorbut beobachtet und kommt relativ häufig bei
tuberculöser und carcinomatöser Peritonitis vor.
Die Därme sind meist stark aufgebläht, die Darmwandung oft verdickt
und so morsch, dass bei der Section sehr leicht Zerreissungen eintreten.
Verlauf und Symptome zeigen sehr erhebliche Abw^eichungen. Oefters
beginnt die Krankheit mit einem oder mehreren Schüttelfrösten. Bald stellen
sich heftige Schmerzen im Abdomen, die durch jede Bewegung gesteigert
werden, und erhebliche Druckempfindlichkeit ein. Meist beschränkt sich
der Schmerz zunächst auf die Gegend desjenigen Organes, von dem die Peri-
tonitis ihren Ausgang nimmt, (vgl. oben Aetiologie) -- ein Umstand, der
selbstverständlich für die Erkennung des Ursprungs der Peritonitis von gros-
ser Bedeutung ist — bald aber breitet er sich über das ganze Abdomen aus.
Der Kranke nimmt gewöhnlich Rückenlage ein, oft mit etwas angezoge-
nen Oberschenkeln, um die Bauchmuskeln möglichst zu entspannen. Selbst die
leiseste Berührung, der Druck der Bettdecke wird in vielen Fällen schmerzhaft
empfunden. Husten, Niesen, Brechbewegungen, selbst lautes Sprechen steigern
den Schmerz. Letzterer ist nicht selten so stark, dass selbst willenskräftige und
218 PERITONITIS.
wenig empfindliche Menschen stöhnen und wimmern. Zuweilen steigern sich
die Schmerzen anfallsweise — wahrscheinlich abhängig von stärkeren Darm-
bewegungen.
Bildet so in der grossen Mehrzahl der Fälle der Schmerz das hauptsächlichste
und quälendste Symptom, so rauss doch hervorgehoben werden, dass er zu-
weilen gering sein und selbst fehlen kann. Man beobachtet dies einmal bei
den schwersten Fällen peritonealer Sepsis, die zum Tode führen, ehe sich
stärkere, anatomische Veränderungen ausbilden; doch ist auch in manchen,
langsamer verlaufenden Fällen von eitriger, namentlich in solchen puerperalen
Ursprungs, die Schmerzhaftigkeit des Abdomens — trotz erhaltenen Be-
wusstseins — sehr gering.
Gewöhnlich stellt sich sehr bald starker Meteorismus ein (Folge von
Darmparalyse). Das Abdomen ist stark aufgetrieben, das Zwerchfell in die
Höhe gedrängt, die Milzdämpfung verschwunden, die Leberdämpfung stark
verkleinert (vergl. auch unten: Pneumoperitonitis).
In Folge des Hochstandes des Zwerchfells, und weil letzteres möglichst
wenig bewegt wird, ist die Athmung oberflächlich, beschleunigt, von costalem
Typus.
Der Percussionsschall über dem Abdomen ist laut tympanitisch;
haben sich grössere Exsudatmengen gebildet, so wird über den abhängigen
Partien Dämpfung nachweisbar. Bei freiem Erguss sollte man, wie beim
Ascites, Schallwechsel bei Lageveränderungen erwarten; doch wird der Arzt in
den meisten Fällen von einer Untersuchung nach dieser Richtung Abstand
nehmen, um dem Kranken Schmerzen zu ersparen. Vielfach fehlt übrigens
dieser Schallwechsel, weil sich rasch Verklebungen zwischen den Darmschlingen
bilden und die freie Beweglichkeit der Flüssigkeit hindern. Aus demselben
Grunde wird auch das Fluctuationsgefühl trotz reichlicher Eiter- An-
sammlung häufig vermisst. Zuweilen fühlt oder hört man peritoneales
Reiben — ein von Bright beschriebenes Zeichen, das jedoch weit häufiger
und ausgedehnter bei chronischer Peritonitis angetroffen wird. Doch hörte
es z. B. Gerhardt bereits 4 Stunden nach einem Kaiserschnitt.
Ausser diesen localen Zeichen bildet sich in den schweren Fällen rasch
einsehr charakteristisches, allgemeines Krankheitsbild aus. Das Gesicht
des Kranken sieht verfallen und ängstlich aus, die Nase spitz, die Augen
eingesunken, von grauen Rändern umschattet {facks hippocrafica). Ist der
Verlauf, wie meist, ein ungünstiger, so treten alle Zeichen ausgesprochenen
Collapses ein; die anfangs heisse, trockene Haut wird kühl, von kaltem,
klebrigem Schweiss bedeckt.
Der Puls ist sehr beschleunigt, 120—140 und mehr, wenig gefüllt,
leicht zu unterdrücken; er kann schliesslich fadenförmig und unzählbar werden.
Dabei bleibt das Bewusstsein oft bis zum Lebensende erhalten,
während allerdings in einem Theil der Fälle sich zuletzt ein comatöser Zu-
stand einstellt.
Die Temperatur zeigt ein sehr verschiedenes Yerhalten. In manchen
Fällen besteht continuirliches oder remittirendes Fieber; doch sind im Ganzen
anhaltende, hohe Temperaturen bei Peritonitis nicht häufig. Zeitweise
stärkere Temperaturerhebungen (über 40°) — gewöhnlich unter Schüttel-
frost— kommen dagegen bei septischer Peritonitis oft vor. Auch excessive
präagonale Steigerungen (bis 44^ C) werden beobachtet, während in anderen
Fällen die Agonie mit abnorm niedrigen Temperaturen einhergeht. Manchmal
ist das Fieber während des ganzen Verlaufes sehr gering oder fehlt selbst
ganz, so z. B. nicht selten in den schwersten, binnea ganz kurzer Zeit zum
Tode führenden Fällen von septischer oder Perfoiations-Peritonitis. Puls
und Athmung sind gewöhnlich weit stärker beschleunigt, als es der Höhe des
Fiebers entspricht.
I
PERITONITIS. 219
Die Zunge pflegt anfangs feucht und weisslich belegt zu sein, später
meist trocken, oft roth und rissig.
Eines der häufigsten, frühesten und qualvollsten Symptome der Bauch-
fellentzündung stellt das Erbrechen dar. Anfangs wird gewöhnlicher
Mageninhalt, später gelbliche oder grünliche (gallige) Massen entleert. In
vielen Fällen wird jede eingeführte Flüssigkeit sehr rasch wieder ausge-
brochen. Zuweilen werden bräunliche, scjiwach fäculent riechende Massen
entleert, während eigentliches Kotherbrechen selten ist.
Ein ebenfalls häufiges und sehr quälendes Symptom ist anhaltender
Singultus; derselbe tritt nach den Angaben mancher Autoren besonders
heftig dann auf, wenn der Peritonealüberzug des Zwerchfells an der Entzündung
stark betheiligt ist.
Oft ist die Urinentleerung schmerzhaft und erschwert. Es kann
sich ein sehr qualvoller Tenesmus entwickeln. Seltener tritt Retentio urinae
ein. Die Harnmenge ist vermindert, der Harn dunkel gefärbt, stark sauer,
zeigt hohes specifisches Gewicht, enthält häufig geringe Mengen von Eiweiss,
hyaline Cylinder und meist sehr reichliche Mengen von Indican.
In einzelnen Fällen hat man einen in Folge starken Indigogehaltes blau-violett ge-
färbten Harn mit starkem, blauem Sediment beobachtet.
Der Stuhlgang ist meist angehalten; zu Beginn der Krankheit werden
manchmal einige diarrhoische Stuhlgänge entleert. Bei der puerperalen Perito-
nitis, bei der gewöhnlich bald auch septischer Allgemein-Infection vorhanden
ist, treten öfters profuse Diarrhöen auf.
In der grossen Mehrzahl der Fälle endet die diffuse, fibrinös- eitrige
Peritonitis tödlich, während die seltenen Fälle von acuter, seröser Peritonitis
eine bessere Prognose geben. Der Tod erfolgt häufig innerhalb der ersten
1—2 Wochen, zuweilen aber schon am ersten oder in den ersten Tagen (s. u.);
doch kann sich die Krankheit andererseits auch unter zeitweiligen Ptemissionen
viel länger hinziehen. Xoch nach mehreren Monaten tritt mitunter der Tod
ein, oder der Zustand bessert sich allmälig und geht nach einer gewöhnlich
sehr langsamen Reconvalescenz in Heilung über. Häufig ist die letztere
insofern keine vollständige, als die entstandenen peritonitischen Adhäsionen
zu dauernden Schmerzen und Störungen der Darmfunctionen (Behinderung der
Peristaltik, Stenosirung, Abknickung) führen können.
In manchen Fällen bilden sich abgesackte peritonitische Eiter-
herde, die in eines der Bauchorgane — am häufigsten in den Darm oder
in die Blase — oder durch die Bauchwand durchbrechen können, (vergl. unten:
chronische Peritonitis).
besondere Verlatifs formen,
1. Acute peritoneale Sepsis.
So wollen wir kurz die schon oben erwähnten Fälle von raschestem
Verlauf bezeichnen, in denen es gar nicht zur Ausbildung einer Bauchfellent-
zündung im pathologisch-anatomischen Sinne kommt, wo vielmehr die massen-
hafte Wucherung virulenter Bacterien in der Peritonealhöhle — offenbar durch
acute Vergiftung des Organismus — in kürzester Zeit, zuweilen in einigen
Stunden und meist innerhalb von 2—3 Tagen — zum Tode führt. Schmerz-
haftigkeit und Auftreibung des Leibes, Erbrechen und Fieber können hier ganz
fehlen. Das klinische Bild ist das des tiefsten Collapses: Sehr rascher, kleiner
Puls, verfallenes Aussehen, Kühle der Extremitäten u. s. w. Solche Todes-
fälle werden, w^enn sie nach Laparatomien eintreten, häufig genug durch sog.
„Herzschtväche'' erklärt. Nur die bacteriologische Untersuchung, die, wie
schon früher betont, möglichst rasch nach dem Tode ausgeführt werden mass,
vermag hier Aufklärung zu bringen.
220 PERITONITIS.
2. Piieumo-Peritouitis.
Tritt Perforation eines lufthaltigen Organs der Bauchhöhle ein, z. B.
Perforation des Magens bei Ulcus rotundum, des Darmes im Verlaufe
eines Abdominaltyphus, oder findet ein Durchbruch des Zwerchfells von
der Lunge oder von einem Pneumothorax her statt, so entwickelt sich meist
im Laufe weniger Stunden ein äusserst schweres Krankheitsbild, das einmal
durch den höchsten Grad des oben geschilderten peritonitischen Symptome —
plötzlicher, äusserst heftiger Schmerz, rapide Entwicklung schwersten Collapses,
starke Auftreibung des Leibes — andererseits aber noch durch besondere
physikalische Erscheinungen charakteristisch wird.
An dem gleichmässig „ballonartig" aufgetriebenen, stark gespannten, sehr
druckempfindlichen Abdomen sind peristaltische Darmbewegungen in der Re-
gel nicht zu sehen (Unterschied vom Meteorismus). Das ausgetretene Gas
nimmt die höchsten Stellen der Peritonealhöhle ein. (Ausnahmen ergeben sich
da, wo vorher bereits ausgedehnte Verwachsungen der Peritonealblätter statt-
gefunden haben).
Leber- und Milzdämpfung verschwinden, das Zwerchfell ist
sehr stark in die Höhe gedrängt (Herzstoss oft im IIL Intercostalraum).
Das Fehlen der Leberdämpfung ist an und für sich nicht absolut
beweisend für das Vorhandensein freien Grases in der Peritonealhöhle,
da auch bei hochgradigem Meteorismus durch Zwischentreten von Därmen (am häufig-
sten des Colon transversum) zwischen Leber und vordere Bauchwand die Leberdämpfung
vollkommen verschwinden kann. Zur Unterscheidung dient die Percussion bei
Lagewechsel, falls der Zustand des Kranken letzteren gestattet. In der rechten Axillar-
linie findet sich bei Rückenlage in beiden Fällen meist noch ein Rest der Leberdämpfung.
Dieser verschwindet bei Lagerung auf die linke Seite, falls es sich um Pneumo-Peritonitis
handelt, weil die leicht bewegliche Luftblase immer den höchsten Ort einzunehmen strebt.
Liegt dagegen hochgradiger Meteorismus vor, so wird der Lagewechsel keine Aenderung des
Percussionsergebnisses zur Folge haben.
Der Percussionsschall ist über dem ganzen Abdomen gleichmässig laut
und tief, bei sehr starker Spannung nicht tympanitisch, sondern hypersonor.
Erst, wenn sich ein grösseres Exsudat entwickelt, tritt an den abhängigsten
Partien Dämpfung auf. Zuweilen ist der Schall metallisch und bei gleich-
zeitiger Anwesenheit von Flüssigkeit kann man bei Bewegungen des Kranken
metallische Plätschergeräusche wahrnehmen.
Die Auscultation ergibt zuweilen metallisch resonirendes Athmungs-
geräusch. Auch die Herztöne können metallischen Klang zeigen, — was indes
auch bei starker Auftreibung des Magens durch Gas vorkommt.
Die Angabe von Traube, Ebstein u. A., dass bei Perforationen des Magens Erbrechen
zu fehlen pflege, weil der Mageninhalt durch die Brechbewegungen in die Bauchhöhle be-
fördert werde, trifft nicht ausnahmslos zu.
Pneumo-Peritonitis verläuft meist tödlich. In letzter Zeit sind durch
frühzeitige operative Behandlung einige günstige Resultate erzielt worden
(vgl. „Therajne^^).
In einzelnen Fällen ist Gasentwicklung bei Peritonitis ohne Perforation
eines lufthaltigen Organs beobachtet worden. Hier muss es sich um die
Wirkung eines gasbildenden Mikroorganismus gehandelt haben.
3. Acute circumscripte Peritonitis.
Sehr häufig führen Erkrankungen der vom Bauchfell überzogenen Organe
zu circumscripten Peritonitiden, so z. B. ein Ulcus oder Carcinom des Magens
zu Perigastritis oder zu einem suhphrenischen Ähscess, eine Entzündung des
Wurmfortsatzes, bezw. der Gallenblase zur Perityphlitis, bezw. Pericholecystitis,
Erkrankungen des Uterus und seiner Adnexe zur Perimetritis u. s. w.' Die
Besprechung dieser Krankheitszustände lässt sich von derjenigen der ihnen
zu Grunde liegenden Organerkrankungen nicht trennen; es muss daher hier
auf die betreffenden Artikel verwiesen werden.
PERITONITIS. 221
Die praktisch wichtigsten Formen circumscripter Peritonitis und ihre
Folgezustände werden in besonderen Aufsätzen behandelt. Vergl. „Fara- und
PeriUjphlitis'-^ „ Subphrenischer Abscess^^ und „Feriinetritis^^ (im Bande ,, Geburts-
hilfe und Gynäkologie^^).
Von der traumatischen Peritonitis wurde schon früher erwähnt, dass
sie häufig circumscript, entsprechend dem Orte des mechanischen Insultes, auf-
tritt. Bei den leichtesten, otienbar nicht-infectiösen Entzündungen — wie sie
z. B. nach manchen Leber-Contusionen beobachtet werden — bilden localer
Schmerz und circumscriptes, peritonitisches Reibegeräusch die einzigen,
meist rasch wieder verschwindenden Symptome. Infolge von Darm-Contusionen
kann sich ein fühlbares, circumscriptes, schmerzhaftes Exsudat ausbilden.
Auch hier ist der Verlauf häufig ein günstiger. Doch können nach Ablauf
solcher circumscripter Entzündungen Adhäsionen zurückbleiben, die nicht selten
zu heftigen Schmerzen und dadurch zu erheblicher Herabsetzung der Arbeits-
fähigkeit führen — wie dies neuerdings z. B. bei Unfallverletzten wiederholt
beobachtet wurde. In den schweren Fällen traumatischer Peritonitis fperfori-
rende Wunden, Darmzerreissungen, erhebliche Darmquetschungenj kommt es
dagegen zu einer diffusen, eitrigen Entzündung.
Diagnose. Es gibt wenige so charakteristische Krankheitsbilder, wie das
oben geschilderte einer acuten, diffusen Peritonitis. Der Arzt darf sich aber
nicht bei dieser — meist leicht zu stellenden — Diagnose beruhigen, sondern
muss, da die Peritonitis gewöhnlich nur eine secundäre Erkrankung ist,
den Ausgangspunkt derselben, das primäre Leiden festzustellen suchen.
Entwickelt sich die Krankheit unter seiner Beobachtung oder lässt sich eine
genaue Anamnese erheben, so gelingt das meist. Namentlich bei jüngeren
Patienten ist Ferityphlitis einer der häufigsten Ausgangspunkte allgemeiner Bauch-
fellentzündung. Bei Frauen ist stets an eine Erkrankung der Sexualorgane zu
denken und eine diesbezügliche Untersuchung vorzunehmen. Ausserdem muss
in jedem Falle, der hinsichtlich seines Ursprungs unklar ist, eine genaue In-
spection und Palpation der Bruchpforten erfolgen. Im übrigen sind je nach
der Anamnese die verschiedenen, möglichen, unter Aetiologie erörterten Aus-
gangspunkte in Erwägung zu ziehen. Lässt sich aus dem physikalischen
Befunde eine Pneumo-Peritonitis diagnosticiren, so ist damit die Zahl der in
Betracht kommenden Möglichkeiten von vornherein beschränkt.
Acute, diffuse Peritonitis kann der Diagnose entgehen, Avenn die localen
Symptome (Schmerz, Meteorismus) fehlen, wie das besonders bei peritonealer
Sepsis (vergl. oben) nicht selten vorkommt. Bei schwerbesinnlichen Typhus-
kranken macht selbst der Eintritt einer Darmperforation zuweilen keine auf-
fallenden Erscheinungen.
Heftiger Schmerz, Erbrechen und Collaps kommen ausser bei Peritonitis
bei den verschiedenen „Koliken" (Cardialgie, Darm-, Gallenstein-, Nierenkolik)
vor. Doch ist hier der Schmerz mehr anfallsweise, meist auf bestimmte Ab-
schnitte des Unterleibes beschränkt, und wird gewöhnlich nicht so sehr durch
Bewegungen des Kranken verstärkt. Auch besteht zwar häufig eine locale
Druckempfindlichkeit, — je nach der Natur des zu Grunde liegenden Leidens
— aber dieselbe breitet sich fast niemals so weit aus, wie dies bei allgemeiner
Peritonitis die Pegel ist.
Bei Hysterischen besteht allerdings manchmal während echter
oder „nervöser" Koliken eine sehr erhebliche und verbreitete Hyperästhesie
der Bauchdecken. Solche Patienten sind gegenüber der leisesten Berührung
des Abdomens empfindlich, während tieferer Druck den Schmerz nicht steigert,
ja sogar bei manchen Cardialgien und Enteralgien als wohlthätig empfunden
wird. In einzelneu Fällen kann sich jedoch bei Hysterischen das ausgespro-
chene Bild einer Peritonitis mit Erbrechen, Meteorismus, Beschwerden beim
222 PERITONITIS.
Harnlassen, kleinen, frequenten Puls entwickeln. Selbst Fieber soll dabei
beobachtet sein. Hier kann nur das gleichzeitige Auftreten zweifellos hyste-
rischer Symptome vor Verwechslungen schützen.
Bkistowe berichtet einen Fall, in dem vier solche Anfälle innerhalb eines Jahres
auftraten. Die wahre Natur der Krankheit wurde erst erkannt, als sich charakteri-
stische hysterische Symptome einstellten.
Ruptur eines grösseren Aneurysmas in die Bauchhöhle, Embolie
der Art. meseraica superior, acute Entzündung des Pankreas
und — häufiger als die eben genannten — Ruptur einer Ex traut er in-
Schwangerschaft können ein der acuten Peritonitis gleichendes Krank-
heitsbild erzeugen. Bezüglich der äusserst wichtigen Diagnose der letzteren
kann hier auf den Band ^^Geburtshilfe und Gynäkologie''' verwiesen werden.
In einem Falle, den ich auf der BiERMER'schen Klinik beobachtet habe, setzte ein
Abdominaltyphus mit so starken Symptomen peritonealer Eeizung ein, dass zunächst
acute Bauchfellentzündung angenommen wurde; das Auftreten von Roseola uud Diazo-
reaction, anhaltendes hohes Fieber u. a. m. machten nach einigen Tagen die Diagnose
Typhus wahrscheinlich, die bald durch den Nachweis von Typhusbacillen im Blute
(Culturverfahren) gesichert und später auch durch die Obductiou bestätigt wurde.
Acute Magendilatation kann in ihren Symptomen der Pneumoperi-
tonitis sehr ähnlich sein; doch zeigt sich bei genauer Untersuchung, dass das
Succussions-Geräusch, das auch hier metallischen Klang haben kann, nicht
so grosse Ausdehnung hat, wie bei der Pneumoperitonitis, insbesondere in
der rechten Seitengegend nicht nachweisbar ist. Auch die Auftreibung des
Leibes ist bei der acuten Magenerweiterung gewöhnlich keine so gleich-
massige wie bei Peritonitis.
Von praktischer Wichtigkeit, aber zuweilen recht schwierig ist die
Differentialdiagnose zwischen primärem Ileus und acuter Peritonitis mit Ileus-
Symptomen (dauernde Verstopfung, Erbrechen, das schliesslich fäculent werden
kann). Namentlich, wenn der Arzt den Kranken erst in einem vorgeschrit-
teneren Stadium zu sehen bekommt, wird zuweilen primärer Ileus diagnosticirt,
während Peritonitis vorliegt. Auch hier ist für die Diagnose der Peritonitis
die Entwicklung der Krankheit von grösster Bedeutung, indem sie den Aus-
gangspunkt derselben erkennen lässt. Für primären Ileus spricht das Vor-
handensein starker Peristaltik, besonders, wenn man energische Contractionen
einer ausgedehnten Darmschlinge sehen oder fühlen kann. Bei diffuser Peri-
tonitis besteht von vornherein Darmlähmung, und von Peristaltik ist meist
wenig oder nichts zu bemerken. Verläuft die Krankheit von Anfang an fieber-
haft, so spricht dies für Peritonitis. Doch kann, wie schon erwähnt, einerseits
bei Peritonitis jede Temperatursteigerung fehlen, andererseits wird zuweilen
auch beim primären Ileus früh beginnendes Fieber beobachtet.
Die Indican-Vermehrung im Urin ist beiden Zusiänden gemeinsam und kann bei
Peritonitis ebenso hochgradig werden wie bei primärem Ileus.
Madelung und Lennander fanden bei vergleichenden Temperaturmessungen in der
Achsel und im Rectum, dass die Differenz bei Peritonitis grösser sei, als in der Norm und
als beim reinen Ileus. Doch konnte dies Naunyn in einigen Fällen von Peritonitis nicht
bestätigen.
Die Beschaffenheit des Exsudats kann durch Probepunction erkannt
werden, doch wird letztere im Ganzen bei acuter Peritonitis nicht häufig an-
gewandt. Für manche Fälle kann sie jedoch von Wichtigkeit werden, ins-
besondere, um eine plötzlich auftretende Blutung in die Abdominalhöhle
(Trauma, Ruptur eines Aneurysmas, geplatzte Extrauterin-Schwangerschaft) zu
erkennen.
Die Prognose ist, wie aus dem über den Verlauf Gesagten hervorgeht,
bei der acuten, diffusen Peritonitis stets eine sehr zweifelhafte, meist eine
ungünstige; letzteres namentlich bei der acuten, peritonealen Sepsis und bei
der Pneumoperitonitis. Bezüglich des Nutzens operativer Behandlung siehe
Therapie.
PERITONITIS. 223
Viel günstiger ist die Prognose der acuten circumscripten Peritonitis.
In dieser Beziehung muss hier auf die entsprechenden Artikel (vgl. oben)
verwiesen werden.
Dass auch die Residuen acuter Bauchfellentzündung {veritonitisclie Ad-
häsionen) zu schweren, selbst lebensgefährlichen Folgen (Darm-Abknickung)
führen können, wurde bereits früher erwähnt.
Prophylaxe. Wie aus dem unter Aetiologie Gesagten hervorgeht, kann
Peritonitis in vielen Fällen verhütet werden: Antisepsis, bezw, Asepsis bei
Bauchoperationen und bei der Behandlung von perforirenden Bauchwunden,
Geburten, Aborten und operativen Eingriffen an den weiblichen Sexualorganen
u. s. w.).
Therapie. Wie für die Diagnose, so ist auch für die Behandlung
die Feststellung der Aetiologie von grosser Bedeutung, namentlich, seitdem
die Peritonitis Gegenstand chirurgischer Behandlung geworden ist. Letz-
teres gilt besonders von der Perforativ-Peritonitis. Da die Chancen
eines operativen Eingriffes um so günstiger sind, je früher derselbe vor-
genommen wird, — Körte z. B. verlor alle Kranken, welche später als am
4. Krankheitstage operirt wurden — so ist es von praktischer Wichtigkeit,
die Diagnose möglichst früh zu stellen. Bei Perforation des Magens (Ulcus),
des Darmes (Processus vermiformis, Typhusgeschwüre) ist bereits von einer
grösseren Anzahl von Chirurgen — zuerst wohl von Mikulicz und Krönlein
— zum Theil mit günstigem Resultat operirt worden.
Körte hatte unter 19 Fällen 6 Heilungen. Krecke berichtet in einer grösseren
Zusammenstellung, dass unter 12 operativ behandelten Perforationen von Typhus -Ge-
schwüren 5 Heilungen erzielt wurden; das gleiche Verhältnis ergab sich bei 12 Operationen
wegen Darmperforation aus anderen Ursachen. Freilich haben solche statistische Angaben
— aus den Mittheilungen verschiedener Autoren gesammelt — aus bekannten Gründen
keinen grossen Werth.
Die Eröffnung der Bauchhöhle erfolgt in derartigen Fällen meist, zumal
wenn der Sitz der Perforation nicht genauer diagnosticirt werden kann, durch
einen grossen Schnitt; zuweilen sind mehrere Incisionen, bezw. Gegenöffnungen
nothw^endig. Der vorhandene Erguss wird entleert, dann folgt meist eine Aus-
waschung, am besten mit steriler 0,7 ^/g Kochsalzlösung, oder auch nur Ab-
tupfen mit Gazetupfern, eventuell Drainage. Hinsichtlich der Details, über
die bei den Chirurgen noch viele Meinungsverschiedenheiten bestehen, muss
auf die Disciplin „Chirurgie^' dieses Sammelwerkes verwiesen werden. Wird bei
der Operation das Loch im Magen oder Darm gefunden, so wird es genäht.
Auch Excision eines (Magen- oder Darm-) Geschwürs und darauf folgende
Naht ist wiederholt ausgeführt worden. Selbstverständlich ist möglichste Be-
schleunigung der Operation bei den gewöhnlich stark collabirten Kranken drin-
gend geboten.
Bei abgesackten, peritonitischen Abscessen (in Folge circumscripter, eitriger
Peritonitis oder als Ausgang einer diffusen Entzündung) ist ebenfalls die
Operation indicirt und gibt hier in der Mehrzahl der Fälle günstige Resultate.
Auch die übrigen Fälle von eitriger Bauchfellentzündung, wie z. B. die
nach Laparotomien auftretende, die puerperale und die kryptogenetische
(sogen, primäre) Peritonitis werden gegenwärtig von vielen hervorragenden
Chirurgen als günstige Objecte für einen operativen Eingriff angesehen. Doch
stehen wir hier erst am Beginn unserer Erfahrungen. Angesichts der sehr
schlechten Prognose, welche schwere derartige Fälle bei interner Behandlung
geben, müssen solche Versuche, falls sie von umsichtigen und erfahrenen
Chirurgen unternommen werden, als der einzige Weg angesehen werden, auf
dem wenigstens manchmal noch Rettung möglich ist. Thatsächlich sind auch
hier bereits einige ermunternde Erfolge erzielt w^orden.
Die übrige Behandlung der acuten Peritonitis erfordert vor allein
vollständige Ruhe. Zur Ruhigstellung des Darmes wird Opium (bei Er-
224 PERITONITIS.
wachsenen 2—4 stündlich 0,02 — 0,05 g) gegeben, bis der Scbnierz aufhört
oder doch erheblich nachlässt. Ist dies der Fall, so schränkt man die Darrei-
chung des Opiums ein; (die Enge der Pupillen wird gewöhnlich als Maass-
stab der Opiumwirkung angesehen.) Eine leichte Narkose — aber nur eine
solche — ist in den Fällen, in denen die Schmerzen sehr heftig sind, für die
Kranken wohlthätig. Morphium (subcutan) zeigt sich in manchen Fällen,
namentlich bei heftigem Erbrechen und Singultus, wirksamer als Opium.
Manche Aerzte, besonders Gynäkologen wenden dagegen bei der septischen (puer-
peralen oder nach Operationen entstandenen) Peritonitis Abführmittel, meist salinische,
an und erzielen damit ihrer Angabe nach gute Erfolge. Ich habe über diese Behandlungs-
methode keine eigenen Erfahrungen. Jedenfalls ist dieselbe in allen den Fällen contra-
indicirt, in denen die Peritonitis von einer Erkrankung des Magen-Darmcanals ihren Aus-
gang nimmt.
Der Kranke darf nur flüssige Kost (Milch, Brühe, Kindermehle, Wein
u. s. w.) in kleinen Mengen (Esslöffelweise) erhalten. Gegen den häufig sehr
quälenden Durst und bei Erbrechen lässt man kleine Eisstückchen schlucken.
Wird dauernd jede per os eingeführte Flüssigkeit alsbald erbrochen, so sind
Nährklystiere angezeigt. Kleine, öfters wiederholte Wasserklystiere
(3 bis 4 mal täglich 100 — 1 50 ccw laues Wasser) können auch zur Be-
kämpfung des Durstes dienen. Auf den Unterleib lässt man eine nicht zu
schwere Eisblase legen, am besten nicht direct auf die Haut, sondern auf
ein dünnes, leinenes Tuch. (Ist die Druckempfindlichkeit sehr erheblich, so
muss die Eisblase an ein passendes, unter die Bettdecke geschobenes Gestell
befestigt werden.) Die Eisblase wirkt häufig schmerzlindernd, während aller-
dings andere Kranke sich bei warmen Umschlägen besser befinden.
Ausserdem werden Einreibungen mit Terpentinöl, mit grauer Salbe und bei sehr
heftigen Schmerzen die Application von (10—20) Blutegeln empfohlen.
Den starken Meteorismus kann man in manchen Fällen dadurch ver-
ringern, dass man ein etwas steifwandiges Gummirohr hoch in den Mastdarm
einführt und dadurch die Darmgase zu entleeren sucht. Besteht gleichzeitig
Stuhlverstopfung, so kann man Wasser- oder Oelklystiere versuchen. Doch
ist bei Peritonitis-Kranken von mehrtägiger Obstipation — bei der geringen
Nahrungsaufnahme — kein wesentlicher Nachtheil zu fürchten. Bei sehr hoch-
gradigem Meteorismus wird von manchen Aerzten eine Function der Därme
mit einem feinen Troicart vorgenommen. Diese gewagte Maassregel ist hier
weniger bedenklich, als bei primärem Ileus.
Bei drohendem Collaps muss die Behandlung eine excitirende
sein (Campher oder Aether subcutan u. s. w).
I[. Chronische Peritonitis.
1. Circum Scripte chronische Peritonitis ist ein sehr häufiger acciden-
teller Sectionsbefund: Man findet chronische Perisplenitis, Perihepatitis'"), auch
Verwachsungen der Därme mit dem Peritoneum parietale und circumscripte
weissliche Verdickungen des letzteren oft genug, ohne dass klinische Symp-
tome vorhanden waren. In anderen Fällen zeigen sich solche Schmerzen,
durch Zerrung der Adhäsionen bedingt und daher, wenn die Adhäsionen den
Magen oder Darm betreffen, von der Peristaltik abhängig. Diese Schmerzen,
die zuweilen einen kolikartigen Charakter annehmen, können sehr andauernd
und heftig sein. Meist besteht Obstipation oder unregelmässiger Stuhlgang.
Die Diagnose ist in denjenigen Fällen sicher zu stellen, in welchen man
circumscriptes peritonitisches Pteiben hört; sonst handelt es sich nur um eine
Vermuthung, die aber wahrscheinlich wird, wenn ein ätiologisches Moment nach-
■*) CuRSCHMANN beschrieb unter dem Namen „Zuckergussleber" eine chronische, hy-
perplastische Perihepatitis, die zu einer Verkleinerung der Leber und zu Ascites führt und
somit hinsichtlich der klinischen Symptome grosse Aehulichkeit mit der atrophischen Le-
bercirrhose hat. (Vergl. Artikel „Perihepatitis''-.)
PERITONITIS. 225
weisbar ist. (Chronische Entzündung eines der vom Peritoneum überzogenen
Organe, vorausgegangene acute Peritonitis, Trauma.)
Bei der chronischen, circumscripten, eitrigen Peritonitis besteht gewöhn-
lich remittirendes Fieber, locale Schmerzhaftigkeit und eine fühlbare Ptesistenz.
Hinsichtlich der praktisch wichtigsten Formen dieser Krankheit sei auf die
früher angeführten Artikel verwiesen.
2. Diffuse chronische Peritonitis. Wenn eine acute, diffuse, fibrinöse
oder eitrige Peritonitis nicht mit dem Tode endet, so findet gewöhnlich nur
eine unvollständige Resorption des Exsudats statt; oft bleibt für Monate und
selbst für Jahre ein chronischer Entzündungszustand zurück, der auch noch
zu acuten Nachschüben führen kann. Es bilden sich dann Adhäsionen,
Schwarten und geschwulstartige Verdickungen (Pseudotumoren) aus, letztere
besonders am Netz. Häufig ist die Peritonealhöhle durch ausgedehnte Ver-
wachsungen in verschiedene Abtheilungen getrennt, in grösseren Bezirken
auch obliterirt; ihre Organe sind untereinander und mit den neu gebildeten
Entzündungsproducten zu unförmigen, auch bei der Section schwer zu entwir-
renden Massen verwachsen. {.^Peritonitis deformans^^.)
Besteht die Eiterung noch fort, so kann es, wie schon erwähnt, zu Per-
forationen nach aussen (Fisteln) oder in eines der Organe der Bauchhöhle
(am häufigsten in den Darm oder in die Blase) kommen. Abknickung des
Darmes durch Adhäsionen kann zu acutem Ileus, Compression des Darms
durch Exsudatmassen zu chronischer Darmstenose führen. Meist bestehen
Unregelmässigkeiten des Stuhlganges, zeitweiliges Erbrechen. Fieber ist nur
in einem Theil der Fälle vorhanden, namentlich bei den erwähnten acuten
Nachschüben. Die Schmerzhaftigkeit des Abdomens ist im Allgemeinen mas-
sig oder gering; häufig hört und fühlt man in grosser Ausdehnung peritoni-
tische Reibegeräusche.
Entwickelt sich ein derartiger Zustand im Anschluss an eine acute, dif-
fuse Peritonitis, so hat seine Deutung keine Schwierigkeiten. In manchen
Fällen entsteht jedoch ein ähnliches Krankheitsbild ohne acutes Anfangssta-
dium; schleichend und langsam: Idioimthische, chronische Peritionitis. Diese
Fälle haben in klinischer Beziehung die grösste Aehnlichkeit mit der weit
häufigeren, chronischen, tuberculösen Peritonitis. Wie bei dieser, kann man
auch hier zwei Hauptformen unterscheiden, zwischen denen freilich Uebergänge
vorkommen :
a) Fälle mit starkem Ascites (chronische seröse P.), relativ am
häufigsten im jugendlichen Alter vorkommend, bei Mädchen häufiger als bei
Knaben. Ausser Ascites besteht oft eine geringe Druckempfindlichkeit des
Abdomens, die jedoch auch ganz fehlen kann. Dagegen klagen die Kranken
gewöhnlich über spontane Schmerzen und über Spannungsgefühl im Leibe.
b) Fälle mit starker Verdickung des Peritoneums und Neubildung fester
Exsudatmassen. Daneben besteht gewöhnlich auch ein seröser, meist abgekap-
selter Erguss (chronische „trockene" [proliferative] P.). Das Netz ist gewöhn-
lich zusammengerollt, stark verdickt und bildet oft einen grossen, unebenen
Tumor zwischen Magen und Colon (vgl. die Beschreibung des ganz ähn-
lichen Befundes bei Peritonitis tuberculosa im Artikel Tuberculosis serosa-
rum). Leber und Milz können von dicken Bindegewebsschalen umgeben sein;
erstere ist dann nicht selten beträchtlich verkleinert.
In manchen Fällen finden sich knötchenförmige Verdickungen am Bauch-
fell, die makroskopisch Tuberkeln sehr ähnlich sein können. Erst die histo-
logische, bez. bacteriologische Untersuchung ermöglicht es, solche Fälle von
tuberculöser P. zu unterscheiden.
Bezüglich der klinischen Symptome gilt i. G. dasselbe, was über die aus
acuter P. hervorgegangene chronische Bauchfellentzündung gesagt wurde.
Die Aetiologie der chronischen P. ist noch sehr unklar. Man hat Al-
Bibl. med. Wissenechaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten, Bd. III, 15
226 PERITONITIS.
koholismus, chronische Nieren- und Herzkrankheiten als prädisponirende Mo-
mente angeführt. In anderen Fällen scheint die Krankheit von einer circum-
scripten chronischen P. ihren Ausgang zu nehmen. Chronische Entzün-
dungen einzelner Theile des Magen-Darmtractus und der weiblichen Genitalien
werden als ätiologisch bedeutsam angesehen.
So hat man das relativ häufige Auftreten der chronischen idiopathischen P.
bei jungen Mädchen (,^Äscite des jeunes ßlles^^) mit einer ascendirenden Entzün-
dung der Sexualorgane (von einer Vulvovaginitis aus(?)) in Yerbindung bringen
wollen.
Der Verlauf ist wechselnd, mit zeitweisen Remissionen und Exacerba-
tionen. Oefters tritt spontan oder nach operativer Entleerung des Ergusses (vgl.
„Therapie") Besserung und selbst vollständige Heilung ein; zuweilen führt
die Krankheit unter zunehmender Entkräftung zum Tode; doch ist letzteres
weitaus seltener, als bei der chronischen, tuberculösen Peritonitis.
Diagnose: Die chronische seröse P. ist naturgemäss schwer vom ein-
fachen Ascites zu unterscheiden. Es kommt darauf an, andere ätiologische
Momente für Ascites (vor allem Lebercirrhose) auszuschliessen. Die Beschaffen-
heit der durch Punction gewonnenen Flüssigkeit ist von diagnostischer Be-
deutung. Trübes Aussehen und ein specifisches Gewicht, das höher als 1014
ist, sprechen gegen einfachen Ascites. Nicht selten ist jedoch auch das Ex-
sudat bei seröser P. klar. Hämorrhagische Beschaffenheit desselben deutet
meist auf Tuberculo&e oder Carcinose des Peritoneum, findet sich jedoch
vereinzelt auch bei einfacher, chronischer P., namentlich nach wiederholten
Punctionen.
Die „trockene" Form der chronischen Peritonitis kann zu Verwechslun-
gen mit verschiedenen Untedeihstumoren Anlass geben; doch wird eine sorg-
fältige Untersuchung, zuweilen allerdings erst nach längerer Beobachtung, meist
vor Irrtümern schützen.
Dagegen ist eine sichere Unterscheidung zwischen einfacher und tuher-
culöser chronischer P. äusserst schwierig, ausser wenn eine Operation bereits
intra vitam eine Besichtigung der Peritonealhöhle möglich macht. Dass in
manchen Fällen sogar der makroskopische Befund nicht ausreicht, um die
Differentialdiagnose zu stellen, sondern eine mikroskopische, bezw. bacterio-
logische Untersuchung nothwendig ist, wurde bereits oben erwähnt. Gleich-
zeitiges Bestehen einer Tuberculose anderer seröser Häute oder der Lungen,
des Urogenital-Apparats u, s. w., hämorrhagische Beschaffenheit des Exsudats,
Nachweis von Tuberkelbacillen in letzterem — der am besten durch Injection
mehrerer ccm in das Peritoneum von Meerschweinchen versucht wird — be-
weisen allerdings die tuberculose Natur der P. Allein das Fehlen dieser
Kriterien spricht keineswegs gegen tuberculose P. Gonstante Unterschiede be-
züglich des klinischen Verlaufes lassen sich nicht aufstellen. Gewöhnlich lei-
det die Ernährung bei der einfachen P. weniger als bei der tuberculösen.
Auch Tuberculin-Injectionen werden von Manchen zur Differential-Diagnose angewandt.
Therapie: Bildet sich im Laufe einer chronischen (circumscripten oder
diffusen) Peritonitis ein abgesackter Eiterherd aus, so muss dieser operativ
behandelt werden. Auch circumscripte Adhäsionen sind bereits einige Male,
weil sie zu dauernden, heftigen Schmerzen und schwerer Beeinträchtigung der
Magen- und Darm-Thätigkeit Veranlassung gaben, Gegenstand chirurgischer
Behandlung geworden. Letztere ist auch dann indicirt, wnnn es zu den Er-
scheinungen acuter oder erheblicher chronischer Darm-Stenose kommt.
In den Fällen, in denen ein grösserer Flüssigkeitserguss nachweisbar
ist, führt (event. wiederholte) Punction zuweilen zur Besserung und zu de-
finitiver Heilung. Noch wirksamer hat sich die Eröffnung der Bauch-
höhle durch Schnitt mit Ablassen des Exsudats erwiesen. Solche Fälle
sind meist auf Grund der Diagnose: „tuberculose P." operirt worden, während
I
PEST. 227
der Operations-Befund oder erst die histologische Untersuchung zeigten, dass
es sich um einfache P. handelte.
Die innere Behandlung der chronischen P. ist nicht sehr aussichts-
voll. Man versucht durch Bettruhe, warme oder Priessnitz'sche Umschläge,
durch Moorbäder, Diaphoretica, Diuretica, Abführmittel oder sogenannte Pie-
sorbentien, Einreibungen mit grüner Seife oder Unguentum cinereum eine
Aufsaugung des Exsudats zu begünstigen. Alle diese Maassregeln haben natürlich
dann keinen Zweck mehr, wenn man nach Verlauf und Symptomen annehmen
muss, dass es sich nur noch um bindegewebige Entzündungsreste handelt,
dann kann die Therapie, soweit nicht ein operativer Eingriff in Frage
kommt, lediglich eine symptomatische sein.
K. STERN.
Pest. Die Pest oder Bubonenpest, YonRovx smchßevre du Levant
und Typhus d' Orient genannt, eine Krankheit, bei welcher auf dem ersten
Anblick, neben grosser Prostration, Athmungsbeschwerden uud Fieber, die
Entwicklung von entzündlichen Drüsengeschwülsten, in die Augen fällt, ver-
breitete sich bisher in allen, klimatisch noch so verschiedenen, Ländern.
Koüx, AuBERT, BuLARD uud Andere zeigten, dass die Ursprungs-
stätte der Pest zwischen dem 31. und 32. n. Breitegrade gelegen ist. Nach
den Angaben der Franzosen ist so recht das alte Mesopotamien der Griechen
das Ursprungsland der Pest. Wir wissen aber schon aus älteren Mittheilungen,
dass nicht allein dieses Land den Herd und Ausgangspunkt dieser schreck-
lichen Krankheit darstellt. In Mesopotamien, in der Stadt Xedjef herrscht
die Pest andauernd, von Zeit zu Zeit exacerbirt sie, nie ist die Krankheit
ganz erloschen.
Bereits vom Ende des 2. Jahrhunderts, vorchristlicher Zeit, besitzen
wir durch Oribasius Beschreibungen von dem Auftreten der Beulenpest und
schon im Alterthum, bezeichnete man als Ursprungsstätte der Pest das
Wunderland Chitai oder China. Von hier aus verbreitete sie sich nach Vorder-
asien und Nordafrika. Bei dem heutigen regen Verkehr mit Indien ist Ge-
legenheit zur Verschleppung der Seuche von China nach Indien vorhanden
und eben so sehr in umgekehrter Richtung. Hirsch in seiner „geographischen
Pathologie" macht darauf aufmerksam, dass durch die in Arabien und Indien,
während der Pestepidemien in diesen Ländern, besonders zu Anfang dieses
Jahrhunderts gesammelten Erfahrungen, die frühere Ansicht, als sei die eigent-
liche Tropenzone die natürliche Grenze des Verbreitungsgebietes der Pest,
hinfällig wird. Verfasser kann hinzufügen, dass das Auftreten der Pest in
Indien nichts seltenes ist. In Arabien tritt die Krankheit ganz in den feucht-
heissen Flussniederungen auf. In Indien bemerkt man als Complication oft
Pneumonien, welche sonst fehlen. Nicht allein herrschte die Pest in Indien
1815, 1821, 1851 in verheerendem Masse, es geschieht auch, dass sich Mas-
senerkrankungen der Eingebornen, welche als Bubonenpest angesehen werden
können, zuerst der ärztlichen Beurtheilung entziehen und erst später als Pest
gedeutet wurden. Solche Vorkommnisse hatten statt in Bengalen und Hinter-
indien. Für den Tropenarzt ist daher die Kenntnis dieser Krankheit auch
in Bezug auf Hygiene durchaus nothwendig. Von Aeg}-pten aus, welches
für Europa zunächst als Ausgangspunkt der Pest in Betracht kommt, ver-
breitete sich die Krankheit über Syrien und Palästina im 6. Jahrhundert nach
Europa, sie wurde eine Pandemie, überzog ganz Europa und dauerte 50 Jahre.
Europa wurde so entvölkert, dass wie Warnefried erzählt, die Länder eine
Einöde darstellten. Von den folgenden Pestepidemien hat besonders die im
14. Jahrhundert sich fast über die ganze damals bekannte Erdobeiüäche ver-
breitet und bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, tritt die Beulenpest in Eu-
ropa als Pandemie von Zeit zu Zeit wieder auf. Mit Ausnahme der Türkei,
15*
228 ' PEST.
ist das übrige Europa seitdem von der Pest verschont geblieben. Nur eine
kleinere Epidemie im Gouvernement Astrachan im Winter 1878/79, wobei
600 Menschen starben, ist zu verzeichnen.
Die Pest verschontkeinAlterundGeschlecht, ihr Auftreten
an dichtbewohnten Orten ist explosiv und ihre Verbreitung ist ausgedehn-
ter und geht schneller vor sich, als die der Cholera. Wie die Cholera trat
sie, von Asien kommend ihre Verheerungszüge über die Erde an, wie die
Cholera ist auch die Pest übertragbar von Individuum zu Individuum, denn
InoCulationsversuche mit Buboneneiter erzeugte stets wieder Pest, wie bei der
Cholera haftet das Pestvirus wahrscheinlich an dem einen oder anderen Ve-
hikel, besonders dem Trinkwasser.
Die Erfahrung lehrt und alle Autoren stimmen damit überein, dass
schlechte hygienische Verhältnisse die Ursache der Entstehung der Beulen-
pest bilden. Schmutz, Unrath, Stagnation der Auswurfstoffe, Fäulnis orga-
nischer Substanzen, welche der Luft den prägnanten Pestgeruch verleihen,
waren an den Ausgangspunkten der Pest ihre Vorboten und Begleiter.
Die Epidemie von 1894 zu Hong-Kong, Canton und Kouang-Si boten
dem bekannten Bacteriologen Professor Kitasato, sowie Dr. Aotma und
M. Yeesin Gelegenheit, einen specifischen Bacillus im Bubonen-
eiter, im Blut, in der Milz und allen anderen Organen der
Kranken, als constant bei Pesterkrankungen vorkommend, aufzufinden. Dieser
Bacillus, von stäbchenförmiger Gestalt, ist an den Enden abgerundet. Die
Enden färben sich besser als die Mitte mit Anilin, besonders bei den im Blut
vorkommenden Bacillen. Die in der Milz gefundenen Stäbchen färben sich
sehr gut mit Methyllösung. „Dieser Bacillus, sagt Kitasato, findet sich bei
keiner anderen Krankheit, er vermehrt sich bei 36" und 39" C. uncl es treten
bei Uebertragung seiner Reinculturen auf Thiere, dieselben Erscheinungen
als beim pestkranken Menschen auf." Der Pestbacillus Kitasato's ist neben
dem Milzbrandbacillus und dem Spirillum Obermeierei bisher das dritte pa-
thogene Mikrobion, welches im Blut von Kranken vorgefunden wurde.
Hiernach würde man der Krankheit nur durch öffentliche und private
Hygiene vorbeugen können. Welchen Einfluss hygienische Verhältnisse bei
dem Auftreten der Pest haben, zeigte sich in Canton, während der Epidemie
1894. Hier starben in 6 Monaten 174.000 Menschen an der Pest in der
Chinesenstadt, in schmutzigen Quartieren, bei elender Ernährungsweise. Durch
eine nur 17 bis 18 Meter breite Bucht davon getrennt, wohnt die 300 Köpfe
zählende europäische Bevölkerung auf der Insel Shamien in gut ventilirten,
reinlich gehaltenen Häusern. Der Boden der Insel ist drainirt. Unter dieser
Bevölkerung und unter ihrer eingebornen Dienerschaft kam nicht ein ein-
ziger Krankheitsfall von Bedeutung vor.
Betreffs der pathologischen Anatomie der Pest, wies Rigaüd dar-
auf hin, dass sehr rasch und ausgesprochen Todtenstarre eintritt und die Petechien-
bildung in der Haut erst im vorgerückterem Krankheitsstadium vor sich geht.
Entzündungsherde im Respirationsapparat finden sich selten, nur in Ita-
lien wurden sie beobachtet.
Im Abdomen trifit man Blutextravasate und oft sanguinolentes Serum
im Peritoneum, häufig Ulcerationen im Magen, fast nie im Darm, die Leber
ist normal, die Milz vergrössert. Das Herz ist gewöhnlich von dicken Blut-
klumpen erfüllt, das Pericard zeigt Ecchymosen, die Herzmuskulatur ist blass,
schlaff, von weicher Consistenz. Das Serum ist roth gefärbt. Alle Drüsen
schwellen allmälig an, sind serös und eitrig infiltrirt und abscediren oft, be-
sonders die Parotis und die Inguinaldrüsen.
Auf einmal werden die Drüsen jedoch nicht von der Entzündung mit
nachfolgender Abscedirung betroffen, vielmehr geht dieser Process mehr schritt
weise vor sich.
J
PEST. 229
Die Pest hat nach Aubert Roche ein Incubationsstadium von 8 Tagen,
Griesinger stimmt diesem /u, Andere, auch Verfasser, nehmen ein solches von
5 bis 12 Tagen an. Es gibt schwere und leichtere Fälle von Bubonenpest.
Zunächst treten, meistens unter hohem Fieber, welches in einzelnen
Fällen, aber sehr selten fehlen kann, bei Kopfschmerzen, grosser Mattigkeit,
Blutungen in den verschiedensten Organen auf, so ist Nasenbluten sehr
häufig; Blutungen aus der Lunge, vom Bluthusten an bis zum Hervorquellen
schaumigen Blutes aus Mund und Nase kommen vor, Nieren- und Dai'mblu-
tungen sind häufiger, fast immer tritt Bluterbrechen ein. Der Urin ist spär-
lich, blutig, dunkel oder schwarz gefärbt, ähnlich, wie bei dem von Englän-
dern sogenannten Schwarzwasserfieber, richtiger hämoglobinurischem Malaria-
fieber, auch wie bei Gelbfieber. Die bösartigsten Epidemien waren solche,
wo Lungenblutungen überwiegend sich zeigten. Da wo Blutungen nach kurzen
Prodromen der Krankheit in Erscheinung traten, sind die Drüsenschwellungen
geringer und es kommt nicht zur Abscessbildung. Zugleich bilden sich bei Fäl-
len mit eben beschriebenen Blutungen, Petechien, in der Haut des ganzen
Körpers. Das Blut tritt aus den Haargefässen unter die Haut in kleinen
Tropfen, gerinnt und macht einen Farbenwechsel durch, so dass die Haut,
nachdem sie im Verlaufe von ein bis zwei Tagen durch stete Blutflecken-
nachschübe völlig davon bedeckt ist, dunkelblau erscheint, woher auch wohl
der Ausdruck „schwarzer Tod" entstanden sein dürfte, denn vor dem Ver-
scheiden sieht ein solcher Pestkranker wie blauschwarz gesprenkelt aus.
Die Kranken klagen zuerst über grosse Hitze, über Brust- und Gliederschmer-
zen, am 2. Tage wird die Athmung sehr erschwert, der Tod tritt oft wie bei
Lungenlähmung ein, der Patient ist meistens bewusstlos. Kommt es von An-
fang an zu Drüsenabscessen, so ist der Verlauf meistens günstig.")
Das Pestgift wirkt somit auf den Blutsaft zersetzend ein. Die Blut-
vergiftung ist nicht so intensiv, wenn die Drüsen, welche wir als Depots und
Filter für Toxine ansehen können, das Gift mehr in sich aufhalten und local
wirken lassen. Dabei wird nicht auf einmal so viel Giftstoff in das Blut
geschickt und diese Fälle haben grösstentheils einen günstigen Ausgang.
Die Mortalität bei der Bubonenpest ist höher als bei Cholera sie beträgt
nach Liebermeister 80 7o-
Eine bestimmte Therapie kann wenig Nutzen schaffen. Kochsalzinfu-
sionen in die morschen und leicht zerreissbaren Blutgefässe der Pestkranken
schaden eher, denn das Pestvirus zersetzt nicht allein das Blut, sondern arro-
dirt auch die Blutgefässwandungen und erweicht die Herzmuskulatur. Man
behandelt daher Pestkranke symptomatisch. Dass bei unseren heutigen An-
schauungen über Wachsthum und über den Lebensprocess pathogener Bacterien
in menschlichen Geweben und damit auch im Blut, eine causale Behandlungs-
methode oder prophylactisch die Serumtherapie auch bei der Bubonenpest Raum
gewinnt, ist nicht ausgeschlossen.
Der ärgste Feind der Pest ist die Reinlichkeit und die Hygiene. Es ist
bisher nicht festgestellt, dass in den Ländern, von denen die Pest ausgeht,
ausser in Nedjef, beständige Krankheitsquellen existiren, welche nur vernich-
tet zu werden brauchen, um so die Menschheit von der Pest zu befreien.
Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass das Pestgift sich bei dem eigenartigen
Leben der ärmeren Orientalen, ihrer Indolenz gegenüber dem entsetzlichen
*) Bezüglicli eingehenderer Schilderung der speciellen Symptomatologie der Pest-
erkrankung vergleiche das deutsch geschriebene Buch Prof. Aoyama's „Mittheilungen über
die Pest-Epidemie im Jahre 1894 in Hongkong {Separatabdruck der medicinischen Facultät
der Kaiserlich Japanischen Universität zu Tokio Bd. III. Nr. 2, 1895). Dasselbe enthält
nebst einer grossen Anzahl sorgfältig geführter Krankengeschichten und Sectionsprotokollen
eine Reihe von Farbentafeln mit der Abbildung der KiTASATO-YERSiN'schen Bacillen in ana-
tomischen Präparaten.
230 PFORTADERKRANKHEITEN.
Scilmutz, sowie bei ihrem ungenügenden und meistens stinkenden Trink-
wasser und nicht durch klimatische Einflüsse sich bildet. Der hieraus resul-
tirende cachectische Zustand ganzer Volksschichten, noch vermehrt durch
die weit verbreitete Manie des Opiumrauchens, begünstigt nur noch die
Weiterverbreitung der Pest.
Würden diese Völker in Europa gewohnheitsgemäss leben, so dürften
dieselben Folgen sich einstellen wie im Orient und es würde dann ebenso-
wohl hier als dort die Pest heimisch sein. kael däubler.
Pfortaderkrankheiten. Die Thrombose der Pfortader und der Pfort-
aderverschluss, decken sich keineswegs anatomisch, sondern nur physiologisch,
insofern als es sich um eine Unwegsamkeit der Pfortader mit Behinderung
der Circulation handelt. Wir haben bei der Betrachtung der Pfortadererkran-
kungen die drei Gebiete des Gefässes gesondert zu betrachten: die Wurzeln
der Pfortader, den Stamm derselben und ihre Ausbreitung und Verästelung
innerhalb der Leber. Die Wurzeln sammeln das venöse Blut der Verdauungs-
organe, um dasselbe durch den Stamm der Leber zur weiteren Verarbeitung
zuzuführen. Sie bestehen aus der Ven. lienalis, der mesaraica sup. und inf.,
der ven. pancreatico-duodenalis und der gastrica sup. Der Stamm steigt, ein-
geschlossen zwischen den beiden Blättern des Ligamentum hepatico-duodenale,
zwischen Leberarterie und dem gemeinsamen Gallengang zur Transversalfurche
der Leber empor und theilt sich vor dem Hilus hepatis in zwei Hauptäste für
den rechten und linken Leberlappen. Unter fortgesetzter dichotomischer Ver-
zweigung lösen sich dieselben schliesslich bis in die letzten nachweisbaren
Aestchen auf, welche man als ven. interstitiales bezeichnet. Aus diesen geht
das Capillarsystem der Leberläppchen hervor. Wir beschäftigen uns im vor-
liegenden Abschnitt nur mit denjenigen pathologischen Zuständen, welche den
Stamm betreffen, indem die Erkrankungen der Wurzeln und der Pfortaderver-
ästelungen innerhalb der Leber bei den betreffenden Organ-Erkrankungen
besprochen werden.
Der essentielle Unterschied zwischen der Thrombose und dem Verschluss
der Pfortader besteht darin, dass im ersteren Fall die Pfortader unwegsam
wird durch einen Thrombus, welcher das Lumen des Gefässes verschliesst, und
im letzteren die Pfortader verengt oder verschlossen wird, ohne dass es zu
einer Thrombusbildung zu kommen braucht.
Die Thrombose der Pfortader (Pylethrombosis) ist in den aller-
seltensten Fällen marantischen Ursprungs. Wir werden sie dann anzunehmen
haben, wenn bei gesunder Venenwand jede andere Ursache für die Gerinnung
des Blutes fehlt, und Abschwächung der Herzthätigkeit nachweisbar ist, daneben
auch ausgedehnte Blutgerinnungen in anderen Venengebieten angetroffen werden.
Da dieselbe meistens sub finem vitae, namentlich bei langdauernder Agonie
sich entwickelt, so hat der Thrombus ein verhältnismäsig frisches Ansehen
und dehnt sich meist nicht nur nach der peripheren Seite d. h. in die Leber-
äste der Pfortader, sondern auch in die Wurzeln derselben weit hinein aus.
Wahrscheinlich sind ausserdem noch Verfettungen der Gefässendothelien oder
Unebenheiten der Intima nothwendig, welche die Gerinnung des circulirenden
Blutes unterstützen.
Ungleich häufiger beruhen die Blutgerinnungen im Stamm der Pfortader
auf Compressionsthrombose und entwickeln sich ganz allmälig. Wir
finden in Folge dessen den Thrombus meistens schon völlig entfärbt und
brüchig; er verschliesst aber das Gefäss nicht in allen Fällen vollständig,
sondern bisweilen nur unvollständig (wandständig), so dass zwischen ihm und
der Gefässwand noch eine schmale Rinne für das strömende Blut frei bleibt.
Mit der Zeit wird auch diese verschlossen, so dass dann die Obturation eine
vollständige ist. Eine nicht seltene Ursache der Pylethrombosis ist die atro-
PFORTADERKRANKHEITEN. 231
phische Lebercirrhose Laennec's. Der Verschluss der Gefässe beginnt hier in
den intrahepatischen Verästelungen der Pfortader und dehnt sich weiter auf
den Stamm aus, wobei derselbe partiell verkalken kann. Die Ursache für die
beginnende Thrombose in den kleineren Aesten der Pfortader ist die Ver-
engerung derselben, welche durch den Zug des schrumpfenden Bindegewebes
bedingt wird. Die Thrombusbildung kann sich hierbei noch über den Stamm
der Pfortader hinaus bis in die Wurzeln derselben fortsetzen. Viel seltener
begegnet man Pfortaderthrombose bei krebsigen Geschwülsten der Leber, wo
die Thrombusbildung auch meistens local beschränkt auf diejenigen Leberäste
bleibt, welche von der Geschwulst comprimirt werden, und bei idiopathischen
Leberabscessen, wobei der Thrombus meist eitrig schmilzt, so dass das Bild
der eitrigen Pylephlebitis entsteht.
Häufiger sehen wir Thrombose des Stammes sich entwickeln in Folge von
directer Compression desselben durch Geschwülste benachbarter Organe, welche
auf die Porta hepatis einen Druck ausüben. Ausser Schwellungen der por-
talen Lymphdrüsen, führen wir Krebs des Magens, Duodenums, Pancreas,
Omentums, der Retroperitonealdrüsen an, wobei die Ausdehnung der Throm-
bose lediglich von dem Sitz und der Ausdehnung der Geschwulst abhängt.
Ausserhalb der Leber kann der Stamm der Pfortader auch in Folge chronischer
Peritonitis entweder durch die Schrumpfung entzündlich gewucherten Binde-
gewebes oder durch Narbenbildung verengt oder gänzlich verschlossen werden.
Dieser Verschluss der Pfortader kann ohne Thrombusbildung verlaufen; meistens
indess kommt es schliesslich doch noch zur Gerinnung des Blutes, so dass
zum Verschluss noch eine Thrombose der Pfortader hinzukommt.
Wo es zur Organisation eines Thrombus in der Pfortader und damit zum
organischen Verschluss derselben kommt, bezeichnen wir den Vorgang als
Pylephlebitis chronica oder adhäsiva.
Zu erwähnen wäre noch, dass grössere Gebiete der Pfortader verlegt,
verengt oder verschlossen werden können durch die Einschleppung embolischen
Materials vermittels des Blutstroms. Auf diese Weise können sogar Geschwulst-
partikel durch die Pfortader in die Leber eingeschwemmt werden, welche bis
in die Capillaren der Leber vordringen und hier zur Entwickelung von neuen
Krebsknoten (sog. Metastasen) Veranlassung geben.
Zwei eigene derartige Beobachtungen von embolischem Pfortaderverschluss will ich
hier kurz erwähnen:
Im ersten Fall war ein Ulcus simplex des Magens in den Stamm der Milzvene durch-
gebrochen. Der Tod erfolgte 5 Tage später. Man fand in der ven. lienalis einen die ganze
Vene ausfüllenden, schon entfärbten, lockeren Thrombus. Die grösseren Aeste der Pfort-
ader waren fast durchweg mit dunkelrothen, weichen Thromben erfüllt, die sich ohne Ver-
letzung der Venenwand leicht aus den Gefässen herausheben Hessen.
Im andern Fall handelte es sich um einen primären Krebs des Pancreas, welcher in
die ven. pancreatico-duodenalis durchgebrochen war. Bei der Autopsie fand sich das ganze
Verästelungsgebiet der Pfortader von den grösseren Aesten an bis in die Capillaren hinein
erfüllt mit umfangreichen thrombotischen Massen, die fast ganz aus Krebszellen bestanden.
Von diesen in den Pfortaderästen befindlichen Krebszellen aus, hatten sich zahllose Krebs-
herdchen entwickelt, so dass das ganze Organ krebsig infiltrirt war.
Viel häufiger kommt es vor, dass von einem carcinomatösen Herd aus
ein Durchbruch in den Stamm oder einen grösseren Ast der Ven. port. er-
folgt, und dass von hier aus die carcinomatösen Massen dem Blutstrom
folgend oder auch in entgegengesetzter Richtung fortwuchern und zur Ver-
breitung des Neoplasma beitragen. Auf diesem Wege kommt es zur Meta-
stasenbildung vereinzelter Knoten, aber nicht zu der eben beschriebenen dif-
fusen Infiltration der Capillaren. Letztere kommt übrigens auch in den
Capillaren der Lymphgefässe zur Beobachtung.
Die anatomischen Verhältnisse bieten in den meisten Fällen keine
Schwierigkeiten für die Erkenntnis des pathologischen Processes. Frische
Thromben haften der Gefässwand nicht fest an, sondern sind ohne Verletzung
232 PFORTADERKRANKHEITEN.
derselben leicht zu entfernen; sie sind braunroth und locker, von weicher Con-
sistenz, können aber nicht, wie die Leichengerinnsel in grossen, zusammen-
hängenden Massen aus den Gefässen entfernt werden. Die älteren Thromben
sind ihrem Alter entsprechend mehr oder gänzlich entfärbt, von derbem Ge-
liige, zerreiblich, krümelig, zuweilen käsig-gelb. Bei der Pylethrombosis ad-
haesiva ist der Thrombus vollständig organisirt, in einen soliden Bindegewebs-
strang umgewandelt und mit der Intima der Venenwand organisch verschmol-
zen. Veränderungen der Letzteren werden nicht selten gefunden; die Intima
erscheint glanzlos, uneben, getrübt, die ganze Wand verfettet, verdickt, und
verkalkt.
Die Leber selbst findet man bei Obturation des Stammes oder eines
Hauptastes im Ganzen oder im Bereich des undurchgängigen Lebergebietes
mehr oder weniger verkleinert, blutarm, schlaff, sonst ohne wesentliche Ver-
änderung. Induration, Lappungen und granulirte Beschaffenheit, welche man
nicht selten neben Pfortaderthrombose antrifft, halte ich nicht für die Folge
der Letzteren, sondern für einen concurrirenden Process. Wie schon oben an-
geführt, findet man nicht selten neben atrophischer Lebercirrhose Thrombose
der Pfortaderäste oder ihres Stammes. Dass einfache Thrombose der Pfort-
ader keine ausgesprochenen anatomischen Veränderungen der Leber hervor-
zurufen braucht, lehren die physiologischen Injectionen an lebenden Thieren,
welche Cohnheim und Litten nach Unterbindung der Art. hepatica einerseits
und der Ven. port. andererseits vornahmen. Aus diesen geht hervor, dass die
interlobulären Endäste der Leberarterie sich nur zu einem sehr kleinen Theil
in das Capillarnetz der Acini ergiessen. Die Leberarterie versorgt vielmehr
alle diejenigen Gebilde, welche in den interlobulären Zwischenräumen liegen,
und die kleinen Venen, welche das Blut aus dem Capillargebiet dieser Räume
sammeln, ergiessen sich in die interlobulären Pfortader äste. Daher empfängt
das Lebergewebe bei Verschluss grösserer Aeste oder selbst des Stammes der
Pfortader durch Vermittlung der offenen Venae interlobulares aus der oft er-
weiterten Art. hepatica noch Blut genug, um erhalten zu bleiben, obschon
natürlich die Functionen der Leber unter solchen Umständen entsprechend
leiden und vermindert sein werden. Nur wenn die Interlobularvenen undurch-
gängig sind, wie bei der Cirrhose, ist die Blutzufuhr zu dem Capillarsystem
der Leberläppchen abgeschnitten, und alsdann kommt es zur Atrophie zahl-
reicher Acini, weil die Leberarterie eben nach Verschluss der Interlobular-
venen den Capillaren der Acini kein Blut mehr zuführen kann.
Einen anderen directeren Beweis liefern die Verödungsversuche des Pfort-
aderstammes, welche ich (LrrTEN) in grösserer Zahl an Hunden ausführte. Ich
spritzte in grösseren Zwischenräumen Aufschwemmungen von chromsaurem
Bleioxyd in Mesenterialvenen ein u. zw. in der Richtung des Blutstromes. Die
kleinen Wunden, welche nöthig waren, um eine Darmschlinge aus dem Ab-
domen hervorzuziehen, heilten jedesmal ohne Anstoss. Auf diese Weise wurde
das Pfortadersystem in umfangreichem Maasse unwegsam, während die Hunde
leben blieben. So gelang es, Versuchsthiere herzustellen, bei welchen u. A.
selbst die grössten Aeste der Venen durch das Bleisalz verödet waren. Bei
der Section der nach vielen Wochen getödteten Thiere ergab es sich, dass
die Leber sehr blutarm und schlaff war, sonst aber keine wesentlichen Ver-
änderungen darbot. Einige Male erschien das Organ atrophisch und von
geringerem Gewicht, als der Grösse des Thieres entsprach. Granulationen und
Indurationen aber habe ich niemals beobachtet.
Die Fälle von Pylephlebitis adhaesiva zeigen nach ScHtiPPEL fol-
gendes Bild: die Leber ist wenig verkleinert, aber von difformer Gestalt.
An verschiedenen Stellen ihrer Oberfläche bemerkt man tiefe, furchenähnliche
Einziehungen der Serosa, wodurch das Organ ein grobgelapptes Aussehen er-
hält. Auf Durchschnitten sieht man vom Grunde jener Furchen aus weisse
PFORTADERKRANKHEITEN. 233
Faserzüge gegen die Fossa transversa hinziehen, Avelche den total verödeten
rfortaderästen entsprechen. Auch die Schnitttläche des Organs bekommt durcli
diese Faserzüge ein gekipptes Aussehen. Das Leberparenchym ist bald intact,
bald indurirt und atrophisch. Zum Theil liegen bei den Beschreibungen \ev-
wechslungen mit Syphilis vor.
Die Symptomatologie des Pfortaderverschlusses ergibt sich
lediglich aus den anatomischen Verhältnissen. Verstopfungen oder Unweg-
samkeit kleinerer Aeste innerhalb der Leber machen keine erkennbaren Er-
scheinungen, oder gehören bei sehr ditfuser Ausbreitung des Processes in das
Gebiet der Lebercirrhose. Bei Lnpermeabilität des Stammes werden Stauungs-
erscheinungen in denjenigen Organen .auftreten, deren abführende Venenstämme
die Wurzeln der Pfortader bilden. Die wichtigsten und schon äusserlich er-
kennbaren Veränderungen spielen sich am Abdomen ab, wobei es sich um die
Stauung im Gebiet der Peritonealvenen handelt. Die Folge dieser Stauung
ist Ascites, ein fast regelmässiger Befund, der meist sehr beträchtlich ist und
sich um so schneller entwickelt, je schneller der Verschluss des Pfortader-
stammes zu Stande gekommen ist. Die Flüssigkeit ist sehr eiweissreich und
ersetzt sich nach Punctionen ausserordentlich rasch. Da nur ein Theil des
Venenblutes aus dem Peritoneum durch die Pfortader, ein anderer durch das
Gebiet der unteren Hohlvene direct abfliesst, so ist es erklärlich, dass bei lang-
samer Entwicklung des Pfortaderverschlusses gelegentlich der Ascites ausbleibt
oder nur geringe Grade erreicht. Charakteristisch für den Ascites unter den
genannten Verhältnissen ist sein ausschliessliches Auftreten und das Fehlen
von Oedemen der Unterextremitäten, welche bei Impermeabilität der ven. cava
inf. stets zusammen mit Ascites vorkommen. — Auf den Bauchdecken sieht
man genau wie bei der Lebercirrhose eine starke Entwicklung der subcutanen
Venen, sowie eine charakteristische Anordnung sehr verzweigter und erwei-
terter Venen, welche man als „Medusenhaupt'' bezeichnet. Ist nämlich der
Abfiuss des Pfortaderblutes durch Unwegsamkeit des Stammes aufgehoben, so
kann ein Theil des Pfortaderblutes durch die eröffnete Nabelvene strömen,
welche in der Mitte des Nabels nach Aussen tritt und hier durch Verzwei-
gungen mit den benachbarten epigastrischen Venen in Verbindung tritt. —
Fernere wichtige Symptome beruhen auf Stauungen des Blutes in der Milz-
und den mesaraischen, resp. hämorrhoidalen Venen. In Folge davon kommt
es fast ausnahmslos zu Schwellungen der Milz, deren unterer Abschnitt im
linken H}^ochondrium meist leicht zu fühlen ist. Daneben treten Verdauungs-
störungen in den Vordergrund: Appetitlosigkeit, belegte Zunge, pappiger
Geschmack, Aufstossen, Brechneigung, Erbrechen, Flatulenz, Durchfall. Nimmt
die venöse Stauung überhand, so kann es sogar zu den Erscheinungen der
Melaena kommen. Da ein Theil des Hämorrhoidealvenenblutes ebenfalls in
das Gebiet der Pfortader abfliesst, so können sich hier Varicen (Hämorrhoiden)
entwickeln, welche ebenfalls gelegentlich zu Blutungen Veranlassung geben.
Viel umfangreicher und gefährlicher in ihren Folgezuständen sind aber die-
jenigen varicösen Entwicklungen, welche an den Oesophagealvenen im unteren
Abschnitt der Speiseröhre zu Stande kommen. Da ein grosser Theil dieser
Venen, nähmlich die Venengefiechte des dicht über dem Magenmund gelegenen
Abschnittes des Oesophagus in die Ven. gastrica sup. einmünden und somit
ebenfalls sich in die Pfortader ergiessen, so kommt es bei schneller Entwick-
lung des Pfortaderverschlusses zu enormen Stauungen in den Oesophageal-
venen, welche sogar zu tödtlichen Blutungen Veranlassung geben, welche meist
als Magenblutungen angesprochen werden. Der Urin püegt in der Mehrzahl
der Fälle keine Veränderungen darzubieten, namentlich eiweissfrei zu sein.
In ganz seltenen Fällen, die dann auch auf Complicationen beruhten, hat man
leichten Icterus beobachtet.
234 PFORTADERKRANKHEITEN.
Die Dauer der Krankheit kann sich über viele Monate hinziehen,
obschon in anderen Fällen der Tod in viel kürzerer Zeit, nach wenigen
Wochen erfolgt.
Bei der Differentialdiagnose kommen wesentlich die Lebercirrhose
und Entartungen des Bauchfells, nämlich die Tuberculose desselben und die
Peritonitis fibrosa in Betracht.
Die Lebercirrhose entwickelt sich im Allgemeinen viel langsamer; häufig
ist auch ein Alkoholmissbrauch nachweisbar. Die Leber ist in den meisten
Fällen, fast ausnahmslos unmittelbar nach der Function des Ascites deutlich
zu fühlen und abzutasten, wobei sich alsdann die charakteristischen Verände-
rungen, namentlich die granulirte Beschaffenheit und die vermehrte Consistenz
(Induration) prägnant erkennen lassen, welche bei der uncomplicirten Pyle-
thrombosis regelmässig fehlen.
Auch tritt die Milzschwellung bei der Cirrhose durchaus nicht mit der-
selben Constanz auf, wie bei der letzteren. Auch pflegt hier meist der grelle
Contrast zwischen dem gelblichen, runzelig-abgemagerten Gesicht, welches den
ausgesprochenen Stempel der Cachexie aufgeprägt enthält, und dem dicken,
vorgewölbten Unterleib zu fehlen, welcher den Cirrhotikern so eigenthümlich
und charakteristisch ist. — Bei vorliegendem Verdacht auf chronische
Miliartuberculos e des Bauchfells sind vor Allem die Lungen aufs
genaueste zu untersuchen. Auch pflegen hier neben Ascites noch Oedeme der
unteren Extremitäten und der Geschlechtstheile vorhanden zu sein, welche bei
der Pylethrombosis fehlen. Die Untersuchung der ascitischen Flüssigkeit
ergibt bei allen genannten Krankheiten wesentlich dieselben Verhältnisse. Die
Angabe, dass bei Tuberculose des Bauchfells die ascitische Flüssigkeit stets
hämorrhagisch gefärbt oder purulent sei, beruht auf Untersuchungsfehlern.
Die Prognose ist absolut ungünstig; die Krankheit endet immer letal.
Auch die Therapie kann das ungünstige Ende nicht abwenden, nicht
einmal hinausschieben. Sie wird lediglich die einzelnen Symptome, namentlich
die Verdauungsstörungen und die Blutungen zu bekämpfen und die Kräfte
möglichst lange zu erhalten haben. Da der Ascites die Kranken sehr be-
lästigt, die Athmung und die Circulation beschränkt, auch die psychische
Stimmung der Patienten in hohem Grade deprimirt, so werden wir durch aus-
giebige Punctionen erhebliche Erleichterungen schaffen und diese so oft als
nöthig wiederholen, da mit ihnen bei vorsichtiger Ausführung absolut keine
Gefahren verbunden sind. Der Eiweissverlust, der natürlich jedesmal einsehr
bedeutender ist, da die Menge der ascitischen Flüssigkeit sowohl als auch der
procentische Gehalt an Serumeiweiss sehr hochgradig sind, kann natürlich bei
den Punctionen nicht vermieden werden, wird aber reichlich aufgewogen durch
die wesentlichen Erleichterungen, welche die Kranken nach den Punctionen
empfinden.
Eitrige Pfortaderentzündung {Pylephlehitis suppurativa) kommt in jedem
Lebensalter, von der Geburt an bis in das Greisenalter hinauf vor. Sie stellt
fast stets eine secundäre Erkrankung vor, welche sich an Eiterungsprocesse
derjenigen Organe anschliesst, aus welchen die Wurzeln der Pfortader ihren
Ursprung nehmen. Nur ganz ausnahmsweise tritt sie als primäre, idiopathische
Erkrankung auf. Niemals erstreckt sie sich über das ganze System des Pfort-
adergebietes, vielmehr sind immer nur einzelne Venenwurzeln nebst dem
Stamm oder einem Theil der intrahepatischen Aeste betroffen.
Der Process kann entweder als Phlebitis eines bis dahin intacten Ab-
schnittes der Pfortader beginnen, wobei eine intensive, bis zur Eiterung ge-
steigerte Entzündung der Venenwand auftritt, welche von einem Entzündungs-
vorgang in der Nähe der Pfortader aus fortgeleitet wurde. Im Bereich dieser
eitrigen Phlebitis wird eine Gerinnung des Blutes eintreten, wobei der Throm-
bus der puriformen Schmelzung unterliegt und das Venenlumen mit Eiter oder
i
PFORTADERKKANKHEITEN. 235
einer schmierigen, eitrig-jauchigen Flüssigkeit erfüllt ist. Von hier aus kann
sich der Process weit hinein in die Leber und auf die Leberäste der Pfort-
ader fortsetzen. — Geht dagegen die Krankheit von einer Pfortaderwurzel
aus, beispielsweise von einem Abscess der Milz, welcher in die Ven. lienalis
durchgebrochen ist, so wird der eitrige, mit Staphylo- und Streptococcen ver-
mischte Inhalt der Vene in den Stamm der Pfortader und darüber hinaus
fortgeschwemmt werden und zu einer eitrigen Infiltration und eventuell zu
ulcerösem Zerfall der Venenwand führen. Aus dem puriform erweichten
Thrombus werden Bruchstücke losgelöst und als Emboli in die Leberäste ein-
geführt werden, wo sie Veranlassung zu multiplen Leberabscessen geben.
Aetiologie. Die eitrige Pfortaderentzündung entsteht nur ausnahms-
weise in Folge einer directen Läsion der Gefässwand durch Fischgräten oder
andere verschluckte Fremdköi'per. In anderen Fällen, namentlich bei Neu-
geborenen wird die Erkrankung im Anschluss an Entzündung und Unter-
bindung des Nabels gefunden; jedoch scheint es sich dabei nicht immer um
eine fortgesetzte, einfach traumatische Venenentzündung zu handeln, sondern
um eine auf septischer Infection beruhende Erkrankung der Pfortader. Am
häufigsten schliesst sich die letztere als secundäre Form an Entzündungs- und
Verschwärungsvorgänge des Verdauungsapparates an. Hier steht Perityphlitis
obenan. Aber auch bei Darmgeschwüren, namentlich bei Dysenterie, Ver-
schwärung der varicösen Hämorrhoidealvenen, Operationen am Mastdarm, bei
Magen- und Duodenalgeschwüren, bei ulcerirtem Carcinom des Magens, des
Darms und Mastdarms hat man eitrige Pylephlebitis entstehen sehen. Von
anderen Wurzelgebieten der Pfortader kommt namentlich die Milz in Betracht,
wo Abscesse, verjauchte Infarcte und Echinococcen, welche in die Milzvene
perforiren, Veranlassung zu der Krankheit geben. Seltener führen krebsige
Verschwärungen des Oesophagus, Entzündungen und krebsige Verjauchungen
des Pancreas, pathologische Processe des Peritoneum, Omentum und Mesen-
terium, sowie endlich perforirende Ptetroperitonealdrüsen, sei es, dass die-
selben vereitert oder verkäst waren, zu eitriger Pfortaderentzündung. Das-
selbe ist der Fall, wenn Leberabscesse, die meist in Folge von Gallensteinen
entstanden sind, oder vereiterte, resp. verjauchte Echinococcen in Pfortader-
äste durchbrechen.
Die anatomischen Veränderungen gestalten sich verschieden-
artig, je nachdem die eitrige Entzündung vereinzelte Wurzelgebiete und den
Stamm oder die Leberäste der Pfortader in das Bereich der Erkrankung mit
hineinzieht. Die letztere ist umso deletärer, je ausgedehnter und umfang-
reicher das Gebiet des ergriffenen Gefässbezirkes ist. Die anatomischen Ver-
änderungen lassen sich leicht erkennen. Das erkrankte Gefäss erscheint dicker,
als normal, fühlt sich wie ein harter Strang an und lässt beim Einschneiden
eitrige oder graurothe, schmierige, jauchige, dickbreiige Massen ausfliessen.
Die Gefässwand ist verdickt, blutreich und eitrig infiltrirt; die Intima speciell
getrübt, aufgelockert, runzelig und ulcerirt. In der Leber trifft man, ent-
sprechend der Betheiligung der intrahepatischen Pfortaderäste an dem Process,
kleinere umschriebene Abscesse an, welche man immer auf erkrankte Aestchen
der Pfortader (sog. ven. interstitiales) zurückführen kann. Dieselben sind mit
puriformen Massen oder jauchig zerfallenen Krümeln erfüllt. Die Milz pflegt
ausnahmsweise in einen w^eichen, zerfliessenden Tumor verwandelt zu sein.
Daneben finden sich eventuell diejenigen pathologischen Veränderungen in
den verschiedensten Organen, welche zu der Pylephlebitis Veranlassung ge-
geben haben; bald eine PeritjiDhlitis, bald eine umschriebene Verschwärung
des Peritoneum u. a. Sind vereiterte oder verjauchte Thrombusmassen aus
dem Gebiet der Pfortader in das Stromgebiet der unteren Hohlvene ein-
geschwemmt, so entwickeln sich Lungenabscesse und weiter die Symptome
236 PLEURITIS.
allgemeiner Sepsis mit Abscessen in den Organen des grossen Kreislaufes und
eitrige, resp. jauchige Entzündungen der serösen Höhlen und Gelenke.
Die Symptome werden sich lediglich nach den Ursachen und der Ver-
breitung der Pfortaderentzündung gestalten. Constant pflegt eine schmerz-
hafte Empfindung im Epigastrium und rechten Hj^pochondrium zu sein, welche
durch Druck gesteigert wird. Zuweilen fühlt man daselbst einen härtlichen
Tumor, welcher dem verdickten Stamm der Pfortader entspricht. (Schönlein).
Die Leber erscheint ebenfalls vergrössert und ist in den meisten Fällen
schmerzhaft. Der Schmerz ist durch die Spannung der GLissoN'schen Kapsel
verursacht. Da die Abscesse meist klein sind und in der Tiefe des Organs
ihren Sitz haben, können sie nicht durchgefühlt werden. Auch gelingt es
nur in den seltensten Fällen, durch die Punction Eiter zum Vorschein zu
bringen. Fast immer besteht Icterus, welcher zuweilen recht intensiv ist.
Dieses Symptom ist von ganz besonders wichtiger Bedeutung, da er
haematogener Natur ist und durch die Haemoglobinämie bedingt ist, wobei
sich der Blutfarbstoff in Gallenfarbstoff umsetzt. Wir werden dementsprechend
auch weder Gallenfarbstoff im Urin finden, noch denselben in den Faeces ver-
missen. Die Milz ist constant recht erheblich geschwollen, als ein Zeichen
der allgemeinen Infection. In einzelnen Fällen ist dieselbe mit Abscessen
durchsetzt. — Die Temperatur ist regelmässig erhöht; meist aber handelt es
sich um ganz unregelmässige Fiebertypen, wie sie bei Leberabscessen und
Endocarditis ulcerosa vorkommen und mit sogenannten erratischen Schüttel-
frösten einhergehen. Bei der gleichzeitig vorhandenen Milzschwellung kann
der Verdacht einer Malaria irregularis oder maligna bestehen. Die Kranken
liegen apathisch, somnolent oder comatös, selbst delirirend da; sie verfallen
schnell und machen den Eindruck von Typhösen. Dazu kommen schwere Ano-
rexie, Flatulenz mit starken Gährungsvorgängen im Magen und Darm, Er-
brechen und Meläna-artige Zustände, wodurch die Kräfteabnahme stark be-
günstigt wird. Zuweilen treten dazu die Erscheinungen von schnell sich ent-
wickelnder Blutdissolution, gekennzeichnet durch umfangreiche Hämorrhagien
der Haut und Schleimhäute. — Gelangt Eiter oder Jauche durch die intra-
hepatischen Aeste der Pfortader in die Ven. cava inf. und durch diese in das
rechte Herz, so entwickeln sich Abscesse und Brandherde in den Lungen,
eventuell complicirt mit jauchiger Pleuritis, und weiter in der Milz, den Meren,
den Gelenken, d. h. es kommt zur allgemeinen Sepsis. Ich habe in derartigen
Fällen nicht nur die bekannten, von mir beschriebenen Retinalblutungen mit
weissen Plaques, sondern auch ein- und doppelseitige PanOphthalmitis auf-
treten sehen.
Die Diagnose ist keineswegs leicht, obschon die Aetiologie, die Schmerz-
haftigkeit, der hämatogene Icterus, die Milzschwellung, die erratischen Schüttel-
fröste und das unregelmässige Fieber charakteristisch genug sind.
Für die Differentialdiagnose kommen in Betracht: Leber abscesse
aus anderen Ursachen, namentlich in Folge von Gallensteinen, Typhus abdo-
minalis, unregelmässige und perniciöse Malaria, Endocarditis
ulcerosa, Septicämie. Die Prognose ist absolut ungünstig, und endet
die Krankheit stets lethal. Die Behandlung ist ausschliesslich eine sympto-
matische und hat lediglich darauf hin zu zielen, die Kräfte zu erhalten.
M. LITTEN.
Pleuritis. Brustfellentzündung gehört nach den auf dem Sectionstische
gemachten Erfahrungen zu den verbreitetsten Krankheiten. Während des
Lebens wird sie seltener erkannt, da sie mitunter geringfügige, gegen das
Grundleiden zurücktretende Symptome hervorruft. Sie verschont kein Lebens-
alter, wenn sie auch in den Jünglings- und mittleren Jahren häufiger auftritt
PLEURITIS. 237
als im Kindes- und Greisenalter; Männer werden in grösserer Anzahl be-
fallen als Frauen; rauhe und feuchte Witterung begünstigt ihr Auftreten; sie
gewinnt daher besonders während der nasskalten Uebergangszeit im Frühjahr
an Ausbreitung.
Als Ursachen der Pleuritis sind zunächst Traumen anzuführen. Durch-
bohrung der Brustwand ermöglicht den Eintritt in die Pleura Infectionskeimen,
welche hier je nach ihren Eigenschaften eine seröse, eitrige, jauchige Ent-
zündung hervorrufen. Auch ohne penetrirende Wunde, allein infolge Con-
tusion des Thorax und der dadurch erzeugten mechanischen Schädigung des
Brustfells kann Pleuritis auftreten. In einer Reihe von I'ällen wird von den
Kranken ein- oder mehrmalige Erkältung, Durchnässung angeschuldigt
und diese Behauptung durch so präcise Angaben gestützt, dass ein primäres
Auftreten der Krankheit auf Grund von Erkältung trotz pein-
lichster Kritik nicht in Abrede zu stellen ist. Sehr viel häufiger ist sie jedoch
ein secundäres Leiden, welches sich mit besonderer Vorliebe der Lungen-
tuberculose hinzugesellt. In allen Stadien des Verlaufs dieser weitver-
breiteten Seuche kann sie auftreten, oft sind die Veränderungen von Seiten
der Lungen noch vollkommen latente, so dass die Brustfellentzündung schein-
bar primär ist und ihr wahrer Charakter erst durch die mikroskopische Unter-
suchung des spärlichen, schleimigen Auswurfs, oder, wenn dieser fehlt, durch
das nachträgliche Auftreten von Hämoptoe, von Spitzenkatarrh klargestellt
wird.
Secundär tritt Pleuritis ferner nicht selten zu anderen Lungen-
krankheiten, Entzündung, hämorrhagischem Infarct, Abscess, Gangrän,
malignen Geschwülsten der Lunge; auch bei Erkrankung der Nachbar-
schaft, des Oesophagus, Mediastinum, bei cariösen Processen der Rippen und
Wirbelkörper, puerperaler Eiterung in der Abdominalhöhle, Blinddarmentzün-
dung, sowie einigen Infectionskrankheiten, Masern, Scharlach, Typhus
wird sie beobachtet; beim acuten Gelenkrheumatismus kommt sie ebenfalls
vor, da diese Krankheit eine Disposition zu Affectionen der serösen Häute mit
sich bringt.
Der anatomische Befund zu Beginn besteht in einer Injection der
Gefässe, welche ungleichmässig vertheilt ist, so dass die Pleura punktförmige
geröthete Stellen aufweist. Sehr bald bildet sich ein fibrinöser Beschlag auf
den entzündeten Stellen, welcher den spiegelnden Glanz des intacten Brust-
fells vernichtet und an die Stelle desselben ein mattes, sammtartiges Aussehen
setzt. Auf diesem Zustande, welchen man als Pleuritis sicca bezeichnet,
kann die Entzündung verharren und von hier aus eine Rückbildung erfolgen,
welche nach Resorption der fibrinösen Auflagerungen zu einer vollständigen
Restitutio ad integrum, oder zu einer Verklebung und später Verwachsung der
beiden Pleurablätter durch neugebildetes Bindegewebe — sogenannte pleu-
ritische Adhäsionen — führt.
Meistens bleibt der Process nicht bei der trockenen Brustfellentzündung
stehen, es tritt eine Ausscheidung von Flüssigkeit in die Thoraxhöhle ein —
Pleuritis exsudativa. Die Menge derselben schwankt zwischen V2 bis 2 Litern,
in extremen Fällen kann sie noch mehr, bis zu 5 Liter betragen. Ihre Be-
schaffenheit ist entweder die eines gelblich grünlichen, mit einzelnen Fibrin-
flocken untermischten Serums, welches beim Stehen in Zimmertemperatur
theilweise coagulirt, PL serosa s. seroßbrinosa — ; oder sie gleicht dünnem Abs-
cesseiter, in welchem kleinere und grössere Membranfetzen herumschwimmen
— PL purulenta s. Empyema — ; oder sie ist jauchig zersetzt, wenn Gangrän-
herde der Lunge in die Pleura durchgebrochen, resp. von aussen her Zer-
setzungserreger eingedrungen sind. Mitunter ist ein seröses Exsudat durch
Blutbeimengung rötlich gefärbt. — PL haemorrhagica In einem Falle meiner
Beobachtung, welcher einen an Morbus maculosus Werlhofii leidenden Knaben
238 PLEURITIS.
betraf, war die Blutbeimengung so bedeutend, dass das Exsudat fast aus
unverdünntem Blute zu bestehen schien.
Durch den Druck der Flüssigkeitsansammlung wird die Lunge eventuell
bis zur Luftleerheit zusammengepresst und nach dem Hilus zu gedrängt.
Auch die benachbarten Organe, besonders Herz, Zwerchfell, Leber, Milz er-
fahren wesentliche Dislocationen.
Nach Resorption des Exsudates bleiben oft über 1 cm starke Verdickun-
gen des Brustfells (Pleuraschwarten) und ausgedehnte Verwachsungen der
Lunge mit der Thoraxwand zurück, in Folge deren erhebliche Verunstaltungen
sich ausbilden (retrecissement thoracique). Gelegentlich werden Reste des Er-
gusses von den Schwarten abgekapselt und bleiben so lange Zeit unverändert
bestehen. Auch mehrfache Abkapselung und damit Kammerbildung
ist beobachtet.
Symptome: Eine strenge klinische Scheidung von Pleuritis sicca und
exsudativa ist nicht gerechtfertigt, weil die erstere oft das Anfangs- und End-
stadium der letzteren bildet und somit die mannigfaltigsten Uebergänge
zwischen beiden Formen vorkommen. Doch tritt PI. sicca auch als selbstän-
diges Leiden auf, sie bietet ausserdem in ihren physikalischen Symptomen ein
so wesentlich anderes Bild, dass eine gesonderte Besprechung geboten erscheint.
Pleuritis sicca besteht in vielen Fällen vollkommen symptomlos; in
anderen äussert sie sich durch sehr heftige Schmerzen in der erkrankten Seite.
Dieselben werden durch tiefe Athemzüge gesteigert, die Athmung der Kranken
ist mithin oberflächlich, kurz, stöhnend. Da Druck den Schmerz vermehrt,
wird die Lage auf der gesunden Seite eingenommen. Nach einigen Tagen
lassen die Beschwerden nach, die Patienten sind wieder in den Stand gesetzt,
tiefe Inspirationen zu vollführen und fühlen dabei nicht selten ein deutliches
Reiben in der Brust.
Die objective Untersuchung ergibt im Beginn ausser Empfindlich-
keit bei Betastung schwaches, mitunter saccadirtes Vesiculärathmen, da die
Energie der Athembewegungen in Folge der Schmerzen verringert ist. Sehr
bald vernimmt man mit Hilfe des Stethoskops pleuritisches Reiben, ein
kratzendes, schabendes, knarrendes Geräusch, welches in den ausgeprägtesten
Fällen während der ganzen Dauer beider Respirationsphasen besteht, gewöhn-
lich gegen Ende des In- und zu Anfang des Exspiriums oder nur auf der
Höhe des ersteren gehört wird. Bisweilen ist es continuirlich, der Gehörs-
eindruck gleicht dann dem Knarren neuer Lederstiefel, meist erfolgt es in
mehreren Absätzen und hat dann einen mehr schabenden, kratzenden Charakter.
Das Auftreten dieses Phänomens ist beweisend für das Bestehen einer trockenen
Brustfellentzündung. Es wird am häufigsten und deutlichsten an den unteren
Partien der Lungen vorne und hinten wahrgenommen und entsteht dadurch,
dass die durch die entzündlichen Auflagerungen rauh gewordenen Pleurablätter
während der Athmung aneinander hin- und herschaben. Sind die Verände-
rungen derselben sehr hochgradig, so wird es für die aufgelegte Hand als
Pleurafremitus fühlbar.
Die Percussion ergibt bei uncomplicirter, trockener Brustfellentzündung
stets normalen Lungenschall.
Pleuritis exsudativa beginnt zuweilen plötzlich mit Schüttelfrost und
hoher Temperatursteigerung; in der überwiegenden Mehrzahl erfolgt die Ent-
wickelung all nählich und wird von geringen Fieberbewegungen begleitet. Der
Sitz der Krankheit ist häufiger links als rechts. Zu Anfang kann sie genau die
oben geschilderten Zeichen darbieten; meistens entsteht aber sogleich einErguss
oder die Kranken kommen erst mit einem solchen zur Beobachtung.
Kleine Exsudate: die ausgeschiedene Flüssigkeit sammelt sich an
den abhängigsten Stellen an und erfüllt demgemäss zunächst die Complementär-
PLEURITIS. 239
räume des Brustfells an der hinteren Thoraxfläche. Hier entzieht sie sich dem
Nachweis durch die Percussion, da die erwähnten Gegenden normaler Weise
dumpfen Schall (durch Leber resp. Milz bedingt) liefern. Das Bestehen eines
so geringen Ergusses ist nur mit einiger Wahrscheinlichkeit zu vermuthen.
wenn die active Beweglichkeit des hinteren unteren Lungenrandes auf der er-
krankten Seite erheblich geringer ist als auf der gesunden. Erst wenn die Menge
des Exsudates ca. 400 ccm erreicht, ist eine ungefähr 2 Finger breite Däm-
pfung hinten unten nachzuweisen.
Mittelgrosse Exsudate von V2 ^is 2 Litern, welche entstanden
sind, während die Kranken ausser Bett waren, geben eine Dämpfung, welche
hinten bis zur Mitte der Scapula, vorne bis zur 4. Ptippe reicht. An der
Seitenfläche steht sie mitunter etwas höher, ihre obere Grenze bildet keine
horizontale Linie, sondern eine parabolische Curve. Der dumpfe Schall
schneidet nie scharf gegen den normalen Lungenschall ab, es findet ein
allmählicher Uebergang von dem hellen durch relativ gedämpften zum dum-
pfen Schall statt, entsprechend der Abnahme des Luftgehaltes in den unteren.
mehr weniger comprimirten Lungenparthien. An der vorderen Thoraxfläche
oberhalb des Exsudates in der regio supra- und infraclavicularis findet man
einen abnorm lauten, tiefen, oder einen ausgesprochen tympanitischen Ton,
welcher von dem auf der Flüssigkeit schwimmenden, entspannten Lungen-
gewebe herrührt.
Haben die Kranken während der Entwicklung des Exsudates andauernd
das Bett gehütet und somit Rückenlage eingenommen, so reicht die Dämpfung
hinten höher hinauf, während sie vorne tiefer unten i)eginnt oder kaum nach-
zuweisen ist. In manchen Fällen tritt bei Lagewechsel eine Verschiebung der
oberen Dämpfungsgrenze ein derart, dass dieselbe der horizontalen sich zu
nähern bestrebt ist; meistens ist jedoch eine Verschieblichkeit nicht anzu-
treffen, da die Pleurablätter oberhalb des Exsudates durch die entzündlichen
Auflagerungen mit einander verklebt sind.
Ein Erguss der genannten Grösse bewirkt Dyspnoe massigen Grades,
umso stärkere, je schneller die Ausschwitzung ertolgt ist; die kranke Brust-
hälfte bleibt bei der Athmung zurück, während die gesunde mit grösserer
Energie sich ausdehnt; die Patienten nehmen, um die Thätigkeit der letzteren
zu erleichtern, die Lage auf der afficirten Seite ein.
Grosse Exsudate: Wächst die Menge des Exsudates, so steigt die
Dämpfung höher, gleichzeitig wird der Piaum zur Aufnahme desselben durch
Verdrängung der Nachbarorgane geschaflen. Diese betrifft in erster Linie das
Herz; Dislocation desselben nach links bsi rechtsseitiger Pleuritis macht sich
durch Einrücken des Spitzenstosses und der Herzdämpfung in die Mamillarlinie
und darüber hinaus geltend, Verdrängung nach rechts durch Auftreten dum-
pfen Schalles auf den unteren Theilen des Brustbeins, resp. weiter nach rechts
und durch Sichtbarwerden der Pulsationen des rechten Ventrikels in der
rechten Thoraxhälfte. Gleichzeitig wird das Mediastinum nach der gesunden
Seite vorgewölbt, die Kuppe des Zwerchfells abgeflacht und damit Leber und
Milz tiefer gedrängt. In den hochgradigsten Fällen wird das Zwerchfell nach
unten convex ausgebuckelt, so dass es unterhalb des Pdppenrandes als rund-
licher fluctuirender Tumor gefühlt werden kann. Bei linksseitiger Erkrankung
reicht dann die Dämpfung bis unter den Rippenbogen nach abwärts und die
Milz wird unter demselben fühlbar, bei rechtsseitiger tritt die Leber tief herab
und an ihrer oberen Grenze erscheint eine seichte, horizontal verlaufende
Furche, welche von den convexen Flächen des Zwerchfells und der Leber
gebildet wird. Vollzieht die Ausbuckelung des Zwerchfells sich plötzlich und wird
dieselbe von einer für den Patienten deutlich sich markirenden Empfindung
begleitet, dann sinkt die obere Dämpfungsgrenze, so dass dadurch eine Ab-
nahme des Exsudates vorgetäuscht wird.
240 PLEURITIS.
Bei Kindern und Individuen mit nachgiebigem Thorax, welche mit grossen
Exsudaten behaftet sind, findet man ausser der ausgebreiteten Dämpfung und
den Verdrängungserscheinungen am Herzen u. s. w. erhebliche Erweiterung
der erkrankten Brusthälfte in allen Durchmessern, welche durch Inspection
leicht erkannt wird und auch an Cyrtometercurven deutlich ausgeprägt ist.
Die Rippen sind auseinandergetreten, haben einen mehr horizontalen Verlauf,
die Intercostalräume sind verbreitert und vorgewölbt, die Schulter steht höher.
Aeltere Menschen mit starren Thoraxwandungen tragen diese Erscheinungen
gar nicht oder nur in geringem Maasse angedeutet zur Schau.
Nächst der Percussion liefert die Auscultation wichtige Merkmale
zur Erkennung pleuritischer Ergüsse. Das Athmungsgeräusch ist an den er-
kranliten Stellen zunächst abgeschwächt im Vergleich zur gesunden Seite und
verliert dabei seinen ausgesprochen schlürfenden Charakter im Inspirium, so
dass es „schwach unbestimmt" erscheint. Bei mittelgrossen Exsudaten, welche
den unteren Lungenlappen bis zur Luftleerheit comprimirt haben, ohne das
Lumen der Bronchien zu verkleinern, wird das in diesen bestehende bron-
chiale Athmungsgeräusch abgeschwächt; aber in seinem Charakter unverändert
zur Brustwand fortgeleitet; man hört daher besonders deutlich in der Nähe
ihrer oberen Begrenzung weiches Bronchialathmen im In- und Exspirium. Bei
sehr grossen Ergüssen ist jedes Athmungsgeräusch vollkommen verschwunden.
Die Prüfung des Pectoralfremitus verdient ebenfalls volle Beachtung.
Derselbe ist an den Stellen, wo der Erguss sich befindet, abgeschwächt, resp.
aufgehoben, oberhalb, wo durch Compression die Lunge luftleer geworden,
verstärkt. Um Täuschungen zu vermeiden ist es daher rathsam, die Unter-
suchung desselben nicht mit der ganzen Hohlhand, sondern nur mit dem
Ulnarrande auszuführen und stets die tiefsten, bei der Percussion absolut ge-
dämpften (dumpfen) Schall liefernden Stellen zum Vergleich heranzuziehen.
Nachdem durch die genannten Methoden die Diagnose eines Exsudates
gesichert ist, bleibt noch eine Entscheidung von grosser Wichtigkeit, nämlich
welcher Beschaffenheit dasselbe ist. Für die Praxis interessirt vornehmlich
die Frage, ob ein seröser oder ein eitriger Erguss vorliegt, da die therapeu-
tischen Maassnahmen wesentlich verschieden in den beiden Fällen sind. Im
allgemeinen haben die Emphyeme eine schnellere Entwickelung; die Dämpfung
steigt rasch an und erfüllt besonders bei Kindern nicht selten in wenigen
Tagen die ganze Brusthälfte bis oben hinauf; das Fieber ist bedeutender, die
Dyspnoe stärker, das Allgemeinbefinden mehr in Mitleidenschaft gezogen.
Aber alle diese Zeichen sind nicht ausschlaggebend, da auch das umgekehrte
Verhalten nicht selten beobachtet wird. Wir müssen daher nach objectiven
Zeichen zur Entscheidung dieser wichtigen Frage suchen.
Als ein solches ist von Bacelli die Auscultation der Flüster-
stimme empfohlen, welche durch zellarme Exsudate gut fortgeleitet, in zell-
reichen i. e. eitrigen bis zum Verschwinden abgeschwächt wird. Die Unter-
suchung ist in der Weise auszuführen, dass man an der Rückenfläche des
Kranken auscultirt, während er den Kopf nach der entgegensetzten Richtung
dreht und mit flüsternder Stimme scharf markirte Worte, z. B. 33, langsam
wiederholt. Meistens ergibt diese Methode durchaus richtige Resultate. Der
Einwurf, dass dasselbe Phänomen auch bei Pneumonie und anderen Zuständen
zuweilen beobachtet wird, ist meiner Ansicht nach nicht von Bedeutung. Da-
gegen können die Ergebnisse dadurch unbrauchbar werden, dass seröses Ex-
sudat durch Blutbeimengung eine reichliche Menge zelliger Elemente erhält
oder dass die Fortleitungsfähigkeit der Brustwand durch Ausbildung pleuri-
tischer Schwarten wesentlich modificirt wird.
Thatsächlich hat die Methode keine Bedeutung, weil wir in der Probe-
punction ein absolut sicheres und dabei durchaus unschädliches Mittel be-
sitzen, um uns über die Qualität des Ergusses auf das genaueste zu unter-
PLEURITIS. 241
richten. Sie wird mit einer gewöhnlichen, gut desinficirten und gut ziehen-
den PEAVAz'schen Spritze ausgeführt, welche zweckmässig mit einer längeren
und stärkeren Nadel als der zu Injectionen benutzten versehen ist. Als Ein-
stichstelle benützt man den 6. bis 8. Intercostalraum an der hinteren, resp.
seitlichen Thoraxwand. Man drückt denselben mit dem Zeigefinger der linken
Hand stark ein und sticht dann die Nadel bei eingeschobenem Stempel der
Spritze und zur Vermeidung der Intercostalarterie möglichst am oberen Eande
der Rippe sich haltend, mit einem kurzen Stoss senkrecht in die Brust. Vor-
herige, sorgfältige Desinfection der Hände und des Operationsterrains ist selbst-
verständlich. Durch Ausziehen des Stempels erlangt man eine Probe des Ex-
sudates und entfernt dann mit raschem Zuge die Nadel aus dem Thorax,
während gleichzeitig die Haut in der Umgebung derselben mit Zeigefinger
und Daumen der linken Hand fixirt wird. Ist die erste Probepunktion ohne
Erfolg, was übrigens nur ausnahmsweise unter besonderen Verhältnissen, bei
Abkapselung des Exsudates oder Bestehen von Adhäsionen passirt, so kann
sie in derselben Sitzung wiederholt werden. Der Eingriff verursacht nicht
mehr Schmerzen als ein Nadelstich und erfordert daher nur bei empfindlichen
Personen eine vorhergehende, locale Anästhäsirung mittelst Aethylchlorid. Er
bringt die sichere Entscheidung, ob das Exsudat serös, sanguinolent oder
eitrig ist und liefert eine Probe desselben zur mikroskopischen und bacterio-
logischen Durchforschung. Eine Täuschung ist nur bei zellarmen eitrigen
Ergüssen möglich, bei welchen unter Umständen die Eiterkörperchen sich zu
Boden gesetzt haben und oberhalb ein verhältnismässig klares Serum vor-
handen ist, oder bei mehrkammerigen Exsudaten, deren einzelne Abschnitte
verschiedenen Inhalt haben.
Die mikroskopische Untersuchung hat auf die Gegenwart von
Blut- und Eiterkörperchen sowie von Gewebstrümmern zu achten; sanguino-
lente Beschaffenheit erweckt den Verdacht ursächlicher Tuberculose oder ma-
ligner Geschwülste der Lunge, Conglomerate zum Theil entarteter Epithel-
zellen weisen auf Carcinom der Pleura hin. — Pneumococcen sind in serö-
sen Ergüssen spärlich anzutreffen; nach Centrifugiren grösserer Mengen findet
man gelegentlich Tuberkelbacillen im Sediment. Anwesenheit von Strepto-
coccen verräth baldiges Eitrigwerden des Exsudates. Bei Empyemen sind die-
selben in 50^0 vorhanden, ausserdem FEÄNKEL'sche Pneumococcen, Tubercel-
bacillen, gelegentlich auch Typhusbacillen,
Die subjectiven Symptome, welche durch mittelgrosse und grosse
Exsudate bedingt werden, sind sehr wechselnd. Schmerzen, welche anfangs
in grosser Heftigkeit bestehen, werden im weiteren Verlaufe gemindert.
Husten ist bei uncomplicirter Pleuritis oft nicht vorhanden; ist er heftig, so
rührt er von einer Lungenaffection her. Dyspnoe pflegt immer zu bestehen
und ist theils durch die Schmerzen bei der Ptespiration, theils durch die Raum-
beschränkung im Thorax hervorgerufen. Die Gesichtsfarbe ist blass, leicht
cyanotisch; Fieber ist bei serösen Ergüssen gewöhnlich in geringem Grade
vorhanden, bei eitrigen hat es oft remittirenden Charakter. Das Allgemein-
befinden ist mitunter so wenig beeinträchtigt, dass die Kranken andauernd
ausser Bett sind; meistens bestehen jedoch schwerere Störungen desselben,
welche absolute Ruhe erheischen.
Die Diagnose ist bei genauer physikalischer Untersuchung leicht.
Verwechselungen könnten stattfinden zunächst mit Infiltraten der un-
teren Lungenabschnitte. Beide Zustände ergeben bei der Percussion
gedämpften Schall. Bei linksseitiger Erkrankung ergibt die Percussion des
Traube' sehen (sog. halbmondförmigen) Raumes Anhaltspunkte für
die Unterscheidung. Dieser Raum ist nichts anderes als der Sinus comple-
mentariüs pleurae an der linken vorderen Brusthälfte, welcher bei Gesunden
den hell tympanitischen Ton des hinter ihm liegenden Fundus ventriculi
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. iö
242 PLEURITIS.
besitzt. Ein Infiltrat der Lunge links unten verändert diesen Ton nicht, da
die durch dasselbe bedingte Dämpfung nur bis zur Grenze der Lunge reicht,
also oberhalb abschneidet, ein Exsudat dagegen bewirkt eine Dämpfung an
dieser Stelle, welche schon frühzeitig auftritt, weil Flüssigkeit sich zunächst
an den tiefsten Stellen der Pleurahöhle, d. h. in den Complementärräumen
ansammelt. Nur, wo infolge vorangegangener Entzündung eine Verwachsung
beider Pleurablätter besteht, lässt das Zeichen im Stich. Wir haben dann
die Prüfung des Pectoralfremitus und die Auscultation vorzunehmen, welche
bei rechtsseitiger Pleuritis stets nothwendig ist. Pneumonie liefert verstärktes
Stimm schwirren, scharfes Bronchialathmen und Knisterrasseln, Pleuritis ab-
geschwächten Fremitus und abgeschwächtes, unbestimmtes oder schwach bron-
chiales Athmen ohne Kasselgeräusche. Wenn bei einem Infiltrat die Haupt-
bronchien durch Schleim oder fibrinöse Ausgüsse verstopft sind, treten vor-
übergehend gleiche physikalische Erscheinungen auf wie bei Exsudaten; nach
mehrmaligen, kräftigen Hustenstössen werden die Ansammlungen aus den
Bronchien herausbefördert und damit die typischen Symptome wieder her-
gestellt. Für die Erkennung der Lungenentzündung ist ferner das Verhalten
der Körpertemperatur, besonders der rapide Anstieg und der kritische Abfall
nach mehrtägiger Continua und die Beschaffenheit des Auswurfes zu ver-
werthen.
Ausgedehnte Lungen- und Pleuratumoren^) rufen ähnliche percus-
sorische und auscultatorische Zeichen hervor wie Pleuritis. Abgesehen von
ihrer Seltenheit unterscheiden sie sich durch unregelmässige Umgrenzung
der Dämpfungsfigur und Anwesenheit metastatischer Drüsen am Halse, in
der Achsel etc. Besteht gleichzeitig mit ihnen ein Erguss, so kann die Dia-
gnose erst nach Entleerung desselben gestellt werden.
Schliesslich bleibt noch die Unterscheidung pleuritischen Ex-
sudates vom Transsudate, dem sogenannten Hydrothorax übrig. Er-
steres ist gewöhnlich einseitig, letzterer doppelseitig, entweder beiderseits
gleich hoch, oder auf der Seite, auf welcher der Kranke liegt, stärker ent-
wickelt. Zugleich mit ihm bestehen andere Stauungserscheinungen, Anasarka,
Ascites, Hydropericardium. Die seröse Flüssigkeit des Hydrothorax hat ein
geringes specifisches Gewicht, höchstens l-015bis 1-018 und enthält 1 bis S^o
Eiweiss, der entzündliche Erguss ist schwerer, über r018 bis 1-040 und ent-
hält 4 bis 87o Eiweiss.
Verlauf, Dauer, Ausgänge. Verlauf und Dauer der Erkrankung ge-
staltet sich in den einzelnen Fällen sehr verschieden und ist in hohem Grade
von dem Verhalten der Patienten und der eingeleiteten Behandlung abhängig.
Manche Pleuritis sicca verläuft, wie schon erwähnt, völlig symptom-
los, manche hat nur ein vorübergehendes Uebelbefinden im Gefolge, andere
dauern Jahre lang an, bis zu 4 Jahren ist das Bestehen von Reibegeräuschen
an derselben Stelle von Winteich bei einem Patienten constatirt.
Ebenso grosse Verschiedenheiten bietet der Verlauf der serösen Brust-
fellentzündungen dar. Ausnahmsweise kann dieselbe ganz abortiv ver-
laufen. Ich habe erst kürzlich eine derartige Beobachtung zu machen Ge-
legenheit gehabt. Ca. 1 2 Stunden nach einem plötzlichen Beginn mit Frost,
Temperatursteigerung über 39*^ und heftigem Seitenstechen war eine Ab-
schwächung des Schalles links hinten unten mit abgeschwächtem Athmungs-
geräusch daselbst und Reiben an der seitlichen vorderen Brustwand festzu-
stellen. Nach weiteren 24 Stunden war der Kranke fieberlos und alle physi-
kalischen Zeichen verschwunden. Ein derartig rapider Verlauf ist aber durch-
aus exceptionell, häufiger kommt schon eine Dauer von 2 bis 4 Wochen vor,
wobei der Erguss nur eine massige Ausdehnung erlangt. Der Eintritt der
*) Vergl. Artikel ,,Neuhildimgen innerer Organe" Bd. II.
PLEURITIS. 243
Resorption ist durch Herabrücken der oberen Dämpfungsgreuze, Deutlicher-
werden des Athmungsgeräusches, Auftreten von Reiben und von Knisterrassehi
gekennzeichnet. Als Regel ist zu betrachten, dass mehrere Monate vergehen
bis der Kranke völlig wiederhergestellt ist, doch kann der Verlauf auch über
Jahre hin sich erstrecken.
Plötzliche Todesfälle kommen hei grossen Exsudaten durch Ab-
knickung der Gefässe infolge Verdrängung des Herzens, oder nach der Ent-
leerung durch Lungen- resp. Gehirnembolie zu Stande.
Empyeme gelangen ziemlich rasch zur Entwickelung und verursachen
bald so hochgradige Beschwerden, dass operative Beseitigung geboten ist.
Wenn diese nicht stattfindet oder verweigert wird, kommt es entweder zu
Eindickung und theilweiser Resorption des Eiters, wobei der Rest zwischen
dicken Schwarten abgekapselt wird, oder — das häufigere Ereignis, — es be-
reitet sich ein Durchbruch des Eiters vor. Dieser kann durch die Brustwand
erfolgen, wobei zunächst die Intercostalmuskeln eingeschmolzen werden und
der Eiter unter der Haut erscheint, eine fluctuirende Geschwulst bildend {Em-
injema necessitatis), welche, wenn linksseitig, bisweilen vom Herzen mitgetheilte
Pulsationen zeigt {Emijyema pulscms). Das letztere wird jedoch auch ohne
Durchbrechung der Intercostalmuskulatur beobachtet. Die Perforation erfolgt
mit Vorliebe an der vorderen, seitlichen Brustwand, der Canal ist vielfach
gewunden, es gelangt deshalb durch ihn keine Luft in den Pleuraraum. Chro-
nische Eiterung aus der Fistel, von amyloider Degeneration der inneren Or-
gane begleitet, ist das Los dieser Kranken.
Günstiger ist die Perforation in die Lungen, welche nach Zerstörung der
Pulmonalpleura zuweilen ganz allmälig stattfindet, indem der Eiter in das Lun-
gengewebe wie in einen Schwamm sich einsaugt und durch Hustenstösse
allmälig nach aussen befördert wird. Auf diese Weise kann vollkommene
Entleerung des Exsudates und Heilung erfolgen, was bei metapneumonischen
Empyemen verhältnismässig am häufigsten vorkommen soll. Durchbruch in
die Bronchien direct bedingt massenhafte Expectoration reinen Eiters, dessen
Menge innerhalb 24 Stunden mehrere Liter beträgt. Erfolgt die Perforation
in der Xacht, so kann durch plötzliche Ueberschwemmung der Luftwege Er-
stickung eintreten.
Durch druch von Empyemen in die Abdominalhöhle und deren Organe
ist ebenfalls, wenn auch spärlich, beobachtet.
Sehr selten sind Fälle sogenannter Pleuritis acutissima, welche
durch rapide Entwickelung eines eitrigen Exsudates unter schweren typhösen
Erscheinungen charakterisirt sind und in kurzer Zeit letal verlaufen.
Der Ausgang der trockenen und der serösen Brustfellentzündung ist
entweder vollständige Heilung oder die Bildung von Adhäsionen und pleu-
ritischen Schwarten. Hat der Erguss zu lange bestanden, bevor er resorbirt
resp. durch Punktion entleert ist, so entsteht Schrumpfung der betreffen-
den Thoraxseite, retredssement thoracique. Derselbe Zustand bildet sich
auch nach Empyemoperationen aus. Er beruht darauf, dass die Lunge an
Ausdehnungsfähigkeit einbüsst oder sie ganz verliert, wenn der Exsudatdruck
zu lange auf ihr gelastet hat. Der überschüssige Raum wird ausgefüllt theils
durch Hineinziehen des Herzens in die erkrankte Brustseite und durch Höher-
treten des Zwerchfells, theils dadurch, dass die Thoraxwand dem auf ihr
lastenden Druck nachgibt und einsinkt. Die Entwickelung der Thoraxdefor-
mität erfolgt allmälig, in ausgeprägten Fällen ist die betreffende Hälfte in
allen Durchmessern verkleinert, die Rippen einander genähert, die Wirbel-
säule couvex nach der gesunden Seite ausgebogen, die Scapula steht flügei-
förmig ab. Bei der Athmung finden geringe oder gar keine Excursionen statt.
16*
244
PLEURITIS.
^x
'^/
^=:^5>,^
/ /
^^^
//
^^v
/ /
^^
/ /
1
f
)
»
\ \
l
//
V \
/j
V \
ji^^
\ \
^r^
\ \
^/^''
\ \
^^^ ^
\ \
^^^ ^
V V
^^^„■^^ "^
"sN^
. — ■'
^C- ^
Die beigedruckten Abbildungen A und B sind Cyrtometercurven von
einem Falle linksseitiger Thoraxschrumpfung. Sie stellen horizontale Durch-
schnitte durch den Thorax dar, A in der Höhe des 7. Brustwirbels und des
Ansatzes des 3. Rippenknorpels am Sternum, B in der Höhe zwischen 9. und
10. Brustwirbel und der Basis des processus xiphoideus. Die schwarze Linie
bedeutet den Umfang des Thorax bei ruhiger Athmung, die gestrichelte bei
tiefster Inspiration. Die Kranke, zur Zeit 47 Jahre alt, ist vor 9 Jahren von
einem linksseitigen Empyem durch Rippenresection geheilt.
Der Schall auf der geschrumpf-
ten Seite ist abgeschwächt, woran
der geringere Luftgehalt der Lunge
und Schwartenbildung in der Pleura
die Schuld trägt, das Athmungsge-
räusch, wenn keine Bronchitis oder
sonstige Complication besteht, eben-
falls schwächer als auf der gesunden
Seite. Bei längerem Bestände des Lei-
dens pflegen cirrhotische Proces sein
der Lunge und Bronchiectasienbil-
dung nicht auszubleiben.
Die Prognose ist für die leich-
ten Fälle günstig zu stellen, für
Fig. A. die schweren mit grossem Exsudat
ebenfalls nicht ungünstig, wenn eine
sachgemässe Behandlung rechtzeitig
eingeleitet wird. In noch höherem Maasse sind hievon die Aussichten der
Empyeme abhängig, welche früher sehr oft letal endigten, während es jetzt
in der Mehrzahl gelingt, den üblen Ausgang abzuwenden und Heilungen zu
erzielen. Pleuritis acutissima gibt eine ungünstige Vorhersage.
Therapie: Allen an Brustfell-
entzündung Erkrankten ist zunächst
strenge Bettruhe anzuempfehlen,
welche möglichst lange ausgedehnt
wird, mindestens aber bis zum Ver-
' schwinden des Fiebers einzuhalten
ist. Starke Schmerzen zu Beginn sind
durch Senfteige, trockene oder bei
kräftigen Individuen blutige Schröpf-
köpfe, Einreibungen mit Chloroform-
öl, Eisblase, hydropathische Um-
schläge und innerliche Darreichung
von Morphium in kleinen Dosen [Mor-
'phin^ hydrochloric. 0.1, Aqua amyg-
dalar. amarar. 20'0 D. S. 3mal täg-
lich 10 his 15 Tropfen) zu bekämpfen.
Bei längerem Bestände einer trocke-
nen Pleuritis können Jodeinpinselungen oder Einwickelung der unteren Ab-
schnitte des Thorax durch straff angelegte Bindentouren versucht werden.
Nach Ansammlung von Exsudat ist Natrium salicylicum in Dosen von
3 bis hg pro die angezeigt. Es leistet in Fällen, deren Aetiologie mit acutem
Gelenkrheumatismus zusammenfällt, staunenswerthes, indem es grosse Ergüsse
in w^enigen Tagen zum Schwinden bringt. Aber auch, wo die Ursache nicht
klar zu Tage liegt und selbst bei auf Tuberculose beruhenden serösen Brust-
PLEURITIS. 245
fellentzündungen ist der Erfolg oft ein eclatanter, so dass seine Anwendung
stets anzurathen ist. Kommt man damit nicht zum Ziele, so versuche man
durch Vermehrung der Se- und Excretionen eine Aufsaugung anzu-
bahnen, erzeuge reichliche Schweisse durch warme Bäder oder Filocarpin-
injedionen (O-Ql bis 0'02), vermehre die Diurese durch Diuretin (G'O pro die),
Cojfeinum natrio-salicylicum (O'l bis 0'2 pro dosi 3 bis 4mal täglich^ Calomel,
Digitalis, Species diureticae und sorge für leichten Stuhlgang. Jedenfalls ist
es geboten, sobald ein Erguss sich als stabil oder weiterschreitend erweist,
frühzeitig die Probepunktion zur Feststellung seiner Beschaffenheit vor-
zunehmen, um so mehr, als seröse Exsudate mitunter nach diesem einfachen
Eingriff rasche Rückbildung erfahren haben. Das Ergebnis entscheidet über
die ferneren therapeutischen Maassnahmen.
Seröse Exsudate werden durch Punktion entleert. Die Punktion
wird ausgeführt:
1. ex indicatione vitali, wenn der Erguss eine solche Grösse erlangt hat,
dass das Leben der Kranken bedroht ist. Die Grösse desselben wird nicht
nach der Höhe der Dämpfung, sondern nach dem Grade der Verdrängung der
Nachbarorgane beurtheilt ;
2. zur Anbahnung der Resorption. Wenn ein Erguss 3 Wochen besteht,
ohne deutliche Zeichen der Rückbildung erkennen zu lassen, warte man nicht
länger zu, sondern punktire ihn.
Die Thoracocentese wird mit einer Hohlnadel oder mit einem Troi-
kart ausgeführt. Der letztere ist vorzuziehen, weil durch seine Kanüle Ver-
letzungen der Lunge nach Abfliessen des Exsudates weniger leicht entstehen
als durch die spitze Kadel. Unter den Troikarten sind solche mit dünnem
Lumen von 2 bis 3 mm Durchmesser und mit seitlich angesetztem Abfluss-
rohr, wie die Apparate von Potain und Fräntzel zu empfehlen.
Der Druck, unter welchem Pleuraergüsse stehen, schwankt zwischen
— 20 und -|- 20 mm Hg und zeigt bei In- und Exspiration erhebliche Diffe-
renzen. Es kann daher passieren, wenn die Punktion mit einem einfachen
Troikart ausgeführt wird, dass durch Aspiration Luft in den Brustraum eintritt,
mithin Pneumothorax entsteht. Um dies unliebsame Ereignis zu vermeiden,
befestige man an der seitlichen Ausflussöffnung des Instruments einen 1 Meter
langen Gummischlauch, welcher vor der Operation mit einer antiseptischen
Flüssigkeit angefüllt wird und nach Einführung des Troikarts in den Thorax
senkrecht herabhängt. Der Druck dieser Flüssigkeitssäule genügt, um den even-
tuellen negativen Druck aufzuwiegen, gleichzeitig findet durch Heberwirkung eine
gleichmässige, äusserst sanfte Aspiration statt. Für die Mehrzahl der Fälle
reicht diese einfache Einrichtung vollkommen aus, zumal es gewöhnlich durchaus
nicht darauf ankommt, die Flüssigkeit bis zum letzten Tropfen zu entleeren.
Erscheint eine vollständige Evakuierung wünsch enswerth, z. B. bei alten, ab-
gekapselten Exsudaten, so muss eine energische Ansaugung mittelst eines
Aspirationsapparates vorgenommen werden. Von Dieülafoy ist zu diesem
Behufe eine Aspirationsspritze construirt, deren Inneres durch Drehung
eines Hahns bald mit dem im Thorax befindlichen Troikart, bald mit der
Aussenwelt in Verbindung gesetzt werden kann. Der durch das Instrument
ausgeübte Zug ist sehr kräftig, er führt daher gelegentlich zu Verletzung des
Lungengewebes. Eine sanftere und gleichmässigere Aspiration T\ard durch
den PoTAix'schen Apparat erzielt. Dieser besteht aus einer Flasche,
welche durch einen von 2 verschliessbaren Röhren durchbohrten Gummi-
pfropfen luftdicht verschlossen ist. Vermittelst Gummischlauches ist die eine
Röhre mit dem Troikart, die andere mit einer als Luftpumpe wirkenden
Spritze verbunden. Die Anwendung geschieht in der AVeise, dass zunächst
nach Abschluss der zum Troikart führenden Röhre die Luft in der Flasche
durch mehrfaches Aufziehen der Spritze verdünnt, dann der zur Spritze füh-
246 PLEURITIS.
rende Hahn geschlossen und die Verbindung zwischen Troikart und Flasche
hergestellt wird, worauf Ansaugung des Exsudates aus dem Thorax erfolgt.
Ist ihre Kraft erschöpft, so wiederholt man den geschilderten Vorgang von
neuem, bis alles entleert ist oder die Punktion aus anderen Gründen unter-
brochen werden muss.
Eine Menge ähnlicher im wesentlichen auf denselben Principien beru-
hender Apparate ist empfohlen, von denen ich nur den Unvereicht' sehen
mit 2 Ventilen versehenen Gummiballon erwähnen möchte, welcher zusammen-
gedrückt und mit dem Troikart in Verbindung gesetzt, ebenfalls eine sanfte
Aspiration auszuüben im Stande ist.
Zur Ausführung der Punktion setzt man den Patienten am besten
auf einen Stuhl mit leicht vorne über gebeugtem Oberkörper und lässt die
der erkrankten Seite entsprechende Hand auf die gesunde Schulter legen.
Der Eumpf erfährt dadurch eine leichte Beugung nach der gesunden Seite,
wodurch die Intercostalräume erweitert werden. Nach nochmaliger Unter-
suchung wird eine sorgfältige Desinfection des Operationsfeldes, der Hände
und Instrumente vorgenommen, sodann eine Probepunktion vorausgeschickt
und bei positivem Ergebnis derselben der zwischen den 3 ersten Fingern ge-
fasste und mit dem Knopf des Stilets gegen den Daumenballen gestützte
Troikart mit einem kurzen Stoss senkrecht in den Intercostalraum eingestochen.
Er wird soweit vorgeführt, bis seine Spitze frei beweglich erscheint, sodann
das Stilet langsam zurückgezogen, jedoch nicht eher entfernt, als bis der am
Ende des Troikarts befindliche Hahn behufs Vermeidung von Lufteintritt ge-
schlossen und das Abfliessen der Flüssigkeit constatirt ist.
Als Ort für die Punktion ist der sechste bis achte Intercostalraum
in der mittleren resp. hinteren Axillarlinie zu empfehlen.
Kleinere Exsudate von 1 bis IV2 Litern können auf einmal entleert
werden, bei grösseren ist es rathsam, nicht mehr als höchstens 2 Liter in
einer Sitzung ablaufen zu lassen. Oft wird dadurch die Resorption angeregt,
so dass eine weitere Punktion nicht mehr nöthig ist. Anderenfalls ist die-
selbe nach 8 bis 14 Tagen nachzuschicken und, wenn wiederum Flüssigkeits-
ansammlung eintritt, auch noch eine dritte und vierte in entsprechenden Zeit-
räumen anzuschliessen. Die Entleerung grösserer Mengen auf einmal wird
zwar oft gut vertragen, doch ist gelegentlich die Lunge nicht im Stande, so
schnell sich wieder auszudehnen, es entsteht heftiger Hustenreiz, Ex-
pektoration reichlichen serösen Sputums, mitunter bedrohliches
Lungenödem. Man beugt diesen Zuständen am besten vor, wenn man nie
zu viel entleert, und sobald die Kranken über heftige Schmerzen klagen oder
zu husten beginnen, die Punktion unterbricht. Bei fortbestehendem Husten
gibt man Morphium, dem drohenden Lungenödem sucht man durch Excitan-
tien, eventuell einen Aderlass entgegen zu arbeiten. Wenn keine dieser In-
dicationen zu erfüllen ist, verordnet man ein Diureticum, welches nach
Punktionen oft besonders wirksam sich erweist.
Bei Empyemen tritt Spontanheilung so selten ein, dass mit dieser
Möglichkeit kaum zu rechnen ist. Die einfache Punktion ist nur dann ge-
rechtfertigt, wenn die Kräfte des Kranken durch das bestehende Grundleiden
(Tuberculose) derart geschwächt sind, dass eine eingreifende Operation un-
thunlich ist. In allen anderen, besonders in frischen Fällen ist die breite
Eröffnung des Thorax durch Schnitt indicirt. Da eine Oeffnung im In-
tercostalraum schwer dauernd offen gehalten werden kann und infolge dessen
leicht Stagnation des Eiters mit Zersetzung eintritt, ist mit dem Schnitt stets
die Resection eines 4 — 6cm langen Stückes Rippe nach vorheriger
Ablösung des Periostes (nach König) zu verbinden. Die Wunde wird an der
seitlichen hinteren Thoraxwand auf der 5. bis 8. Rippe angelegt, der Eiter
möglichst vollständig entleert, Membranfetzen durch Ausspülen mit einer Bor-
PLEXUS-LÄHMUNGEN. 247
oder Salicylsäurelösimg entfernt und ein langer, dicker Drain eingeführt. Ver-
bandwechsel täglich, Ausspülung nur, wenn Secretretention eintritt. Die Secre-
tion lässt bald nach und der Drain kann verkürzt werden. Ist er nur noch
4 cm lang, so wird er fortgelassen, worauf die zurückbleibende Fistel sich
allmälig schliesst. Durch diese Methode ist in der Mehrzahl der Fälle Hei-
lung erzielt. Für jauchige Empyeme ist sie die einzig zulässige.
Immerhin ist der Eingrilf ein bedeutender, stets dringt Luft in den
Pleuraraum, die Ausdehnung der kranken Lunge wird dadurch sehr erschwert,
die Heilung erfolgt durch Granulationsbildung, wobei die Pleurablätter voll-
ständig mit einander verwachsen. Unausbleibliche Folge ist daher Behin-
derung der Athmung der Lunge und mehr weniger hochgradiges Einsinken
der Brust. Um diesen Uebelständen zu begegnen, hat Bülau seine permanente
Asj)irationsdrainage ersonnen. Ein breiter, kurzer Troikart von 6 — 10 mm
Durchmesser wird in den Intercostalraum eingestossen und nach Entfernung
des Stilets ein weicher Katheter oder ein dicker Drain durch die Canüle in den
Brustraum eingeschoben. Die Kanüle wird nun entfernt und an dem Katheter
aussen ein Gummischlauch befestigt, welcher in ein Gefäss mit antiseptischer
Flüssigkeit taucht. Nach Abfliessen des Eiters kann durch Heben und Senken
des Gefässes eine Ausspülung der Thoraxhöhle vorgenommen werden. Durch
einen fixirenden Verband wird das Hinausgleiten des Katheters aus dem
Thorax verhindert, es ist also ein ständiger Abfluss des Eiters unter Luft-
abschluss ermöglicht. Die Vortheile der BüLAu'schen Methode bestehen in
ihrer leichten Ausführbarkeit ohne Narkose und ohne Assistenz, ferner in der
Verhinderung des Lufteintritts, die Nachtheile in der Möglichkeit schwer zu
beseitigender Verstopfung des Drains durch Gerinsel u. s. w. In einigen
grösseren Krankenhäusern sind ausgedehnte Versuche mit ihr unternommen,
welche nach den vorliegenden Berichten sehr befriedigende Resultate ergaben.
Nachbehandlung: Nach überstandener Pleuritis bleiben die Patienten
noch längere Zeit Gegenstand sorgfältiger ärztlicher Ueberwachung und Pflege.
Zurückbleibende Lungencatarrhe verdienen dabei besondere Beachtung. Bei
Verdacht auf Tuberculose ist die Verabreichung von Creosot in grossen Dosen
neben kräftigenden diätetischen Curen (Milch, Kefir u. s. w.) am Platz.
Ein längerer Aufenthalt in mittleren Gebirgshöhen oder an der See ist an-
zurathen. Stellen sich Zeichen verminderter Athmungsthätigkeit auf der
kranken Lunge ein, so ist dieselbe durch Compression der gesunden
Seite nach Schreiber anzuregen, da nur auf diese Weise der Ausbildung
eines Retrecissement thoracique mit Erfolg entgegengetreten wird. Die Details
der ScHREiBER'schen Methode, deren frühzeitige Anwendung nicht dringend
genug empfohlen werden kann, siehe unter dem Artikel „Lungencirrhose.^^
PAUL HILBERT.
PlexUS-Lähmungen. Unter Plexus-Lähmungen versteht man die Läh-
mungen, Avelche einen ganzen Plexus treffen. So können beispielsweise Ge-
schwülste im kleinen Becken den Plexus sacralis durch Druck paralysiren.
Ein Säbelhieb kann den Plexus brachialis in der Achselhöhle durch-
schneiden, oder die Lähmung kann durch Druck über dem Schlüsselbein oder
durch rheumatische Einflüsse entstanden sein. Ueber die pathologische Ana-
tomie, Symptomatologie und Therapie dieser Lähmungen vergleiche man die
Artikel: „Nervenlähmungen," „Badialis-Lahmung," „TJhiaris-" und Medianus-
Lähmimg" u. s. w.
An dieser Stelle soll nur zweier besonderer Arten von Plexus-Lähmung
gedacht werden, nämlich der sogenannten Eiitbindimgslälimuiig und 2. der
sogenannten ERB'sclieii Lähmung.
248 PNEUMATOSK
Mit dem Namen „Entbindungslähmung" bezeichnet man alle Formen
von Lähmungen, welche das Kind bei der Entbindung erleiden kann*) die-
selben können cerebralen, spinalen, (Quetschungen der Schädel-Knochen durch
zu enges Becken, Zangendruck etc.) und peripheren Ursprunges sein. Letztere
werden fast nur an den oberen Extremitäten beobachtet und zwar dann, wenn
bei Wendungen und namentlich bei Beckenendlagen der die Arme lösende
Finger des Geburtshelfers den zarten kindlichen Nerven-Plexus einem zu
starken Druck aussetzen muss. Auch die durch Zangendruck verursachten
Facialis-Lähmungen sind wohl immer peripherer Natur.
Was die Therapie dieser Lähmungen anlangt, so macht Seeligmüller
darauf aufmerksam, dass die immer eintretende Innen-Rotation des kranken
Armes die Gebrauchsfähigkeit desselben stark behindert, und dass dieser
Deformität durch fleissige passive Bewegungen abzuhelfen sei.
Im übrieen räth er, bereits 4 Wochen nach der Geburt mit einer vor-
sichtigen galvanischen Behandlung zu beginnen, ein Rath, dem ich mich un-
bedingt anschliessen muss. Bei Rotationsstellung des Humerus soll der Infra-
spinatus besonders berücksichtigt werden.
Die EßB'sche Lähmung, so genannt, weil sie zuerst von Erb be-
schrieben wurde ( Verhdl. d. Naturhist. Med. Vereins zu Heidelberg Nr. 5. 1. 2.
S. 130 — 136 — 1875) , zeichnet sich durch die Beschränkung auf eine b e-
stimmte Muskelgruppe im Bereiche des Plexus brachialis aus, nämlich
M. deltoideus, Biceps, Brachialis internus und Supinator. longus. Diese Läh-
mung ist zurückzuführen auf eine Läsion des 5. und 6. Halsnerven.
Ihr gemeinsamer Austritt durch die beiden scaleni macht sie für ge-
meinschaftliche Verletzung an dieser Stelle besonders empfänglich. (ERB^scÄer
Punkt). Reizt man die Nerven an diesem Austrittspunkt, welcher zwei Finger
breit über dem oberen Schlüsselbein-Rand und um eines Fingers Breite vom
hinteren Rand des Sternocleido-mastoideus entfernt liegt, mtttels einer Knopf-
elektrode durch den faradischen Strom, so sieht man eine gemeinsame Con-
traktion der genannten Muskelgruppe.
Ueber die näheren aetiologischen Bedingungen gerade dieser Form der
Lähmung ist noch wenig bekannt.
SPERLING.
PneumatOSe {Trommelsucht). Man versteht unter Pneumatose einen
Zustand, bei dem eine Retention von Luft stattfindet, welche weder durch
die Cardia, noch durch die Därme entweichen kann. Hierdurch wird eine
mehr oder weniger starke Ausdehnung der Magengegend hervorgerufen, die
sich durch das Gefühl unangenehmer Spannung, Athemnoth, {Asthma dys-
pepticum Henoch) Praecordialangst äussert.
Objectiv findet man, dass die Contouren des Magens, besonders der Fun-
dusgegend, scharf hervortreten und dass über demselben exquisit tympanitischer
Schall herrscht. Zugleich lässt sich Hochstand des Zwerchfells nachweisen.
Mit dem Entweichen von Luft nach oben oder unten hört der qualvolle Zu-
stand sehr bald auf. Die Anfälle können entweder dauernd oder periodisch
auftreten.
Aetiologie. Das wesentlichste Contingent für diese Neurose stellt
die Hysterie und Neurasthenie, nur in selteneren Fällen kommt das Leiden
bei sonst gesunden Individuen zur Beobachtung.
Die Frage, ob die Pneumatose durch einen Krampf der Cardia oder einen
solchen des Pylorus bedingt wird, ist nicht mit Sicherheit zu beantworten, da
indessen nach den Untersuchungen von Openchowski der Schluss des Pylorus
*) Vergl. auch Artikel „ Verletzungen des Kindes'^ im Bd. „Gebiirtshilfe-Gynaekologie'
pag. 833.
PNEUMONIA CROÜPOSA. 249
mit Oeffnung der Cardia zusammenfällt, ist es walirscheinlicher, dass ein spa-
stischer Abschluss der Cardia gegen den Oesophagus zu, als eigentliche
Ursache des Leidens anzusehen ist. Auch hier dürfte das bekannte Luft-
schlucken bei Hysterischen mit die Veranlassung zur Entwicklung der Magen-
pneumatose geben.
Diagnose und Differentialdiagnose. Durch den oben bezeich-
neten Symptomencomplex in Verbindung mit der hysterischen Grundlage wird
der Charakter des Leidens als Neurose unschwer erkannt werden. Von Wich-
tigkeit hierbei ist, dass sonstige dyspeptische Erscheinungen völlig abgehen
können. Auch der Wechsel guter und schlechter Tage und Wochen weist
deutlich auf den nervösen Character des Leidens hin. Trotzdem kann in
einzelnen Fällen eine Verwechselung mit Atonie, besonders aber mit Ectasie
des Magens, falls deren Symptome nicht scharf hervortreten, stattfinden.
Namentlich können bei Gasgährung im Magen, durch Stenose des Pylorus oder
Myasthenie des Magens bedingt, das Organ zeitweilig so aufgetrieben werden,
wie es in den klassischen Fällen von Pneumatose nicht besser der Fall ist.
Hier kann nur durch eine sorgfältige Mageninhaltsuntersuchung der Zweifel
beseitigt werden.
Therapie. Die Therapie hat auch hierbei besonders die nervöse Dis-
position zu berücksichtigen.
Man suche ferner soweit als möglich den Patienten das Luftschlucken
zu untersagen. Von inneren Mitteln haben sich in einzelnen Fällen die
Brom Präparate, das Morphium (Ewald), das Extractum fahae calabaricae in
Verbindung mit Extract. Stryclini und Extract. Belladonnae (Boas) bew^ährt.
BOAS.
Pneumonia CrOUpOScl. Unter croupöser Pneumonie verstehen wir eine
acut verlaufende Infectionskrankheit, welche sich in der Lunge localisirt. Mit
einer congestiven Hyperämie setzt die Entzündung plötzlich in einem Lappen
ein; dann füllen sich die Alveolen des Bezirkes mit einem fibrinösen Exsudat,
und dieses verflüssigt sich schliesslich und wird resorbirt. Mit diesem ana-
tomischen Processe gehen bestimmte in der Regel typische klinische Erschei-
nungen von gewöhnlich ausgeprägt cyklischem Verlauf einher.
Aetiologie.
Es sind zwei specifische Krankheitserreger bekannt, welche
die Pneumonie verursachen. Der eine ist der Diplococcus pneumoniae
(A. Fränkel). Die gewöhnlich zu zweien auftretenden Individuen sind meist
etwas in die Länge gezogen, an den Enden oft lanzettförmig zugespitzt, zu-
weilen findet man sie aber auch in Kugelform. Der Diplococcus ist unbe-
weglich. Im Gewebe ist er von einer deutlichen Kapsel umgeben, während
er dies Verhalten in der Cultur nicht zeigt. Er färbt sich mit den gewöhn-
lichen Farblösungen und mit der GRAM'schen Methode. Der Coccus wächst
nur bei Bruttemperatur und bei genügender Alkalescenz der üblichen Nähr-
böden. Die Agar und Blutserumculturen erscheinen als feine „wie aus ein-
zelnen Thautröpfchen zusammengesetzte" (GtiNTHEß) Ueberzüge. Die Culturen
sind äusserst pathogen für Kaninchen, weniger für Meerschweinchen und
Mäuse, verlieren aber ihre Virulenz sehr bald. Dagegen erhält sich der Diplo-
coccus im eingetrockneten Sputum des Pneumonikers ziemlich lange virulent.
Zu bemerken ist noch, dass sich der Diplococcus pneumoniae nicht blos im
pneumonischen Sputum und Lungensaft oder bei Affectionen, welche sich an
eine bestehende Pneumonie anschliessen, wie Pleuritis, Pericarditis, Endocar-
ditis, Peritonitis, Meningitis, Otitis media findet, sondern, dass er auch im
normalen Bronchialsecret und Sputum gesunder Menschen in virulenter Form
vorkommt.
250 PNEÜMONIA CROÜPOSA.
Der andere bei der Pneumonie gefundene Mikroorganismus ist der
Bacillus pneumoniae (Feiedländer). Er ist grösser, als der FEÄNKEL'sche
Coccus, tritt in Form von Stäbchen oder ovalen Zellen auf und bildet manch-
mal kurze Ketten. Auch er hat nur innerhalb des Organismus eine Kapsel.
Er färbt sich mit den gewöhnlichen Methoden, wird aber nach Gram entfärbt.
Auf den üblichen Nährböden wächst er schon bei Zimmertemperatur. Die
Gelatineplatte zeigt nicht verflüssigende Colonien, welche an der Oberfläche
halbkugelige, porcellanartige, weisse Köpfchen hervortreiben. Die Stichcultur
zeigt typische Nagelform. Der Bacillus hat die Eigenschaft, Traubenzucker-
lösungen zu vergähren. Die Culturen sind im Gegensatz zum vorigen sehr
dauerhaft und für Kaninchen nicht, dagegen für Hunde und Mäuse pathogen.
Ausser bei der Pneumonie ist der Bacillus auch noch beim Schnupfen im
Nasensecret und bei Otitis media gefunden worden.
Was die Häufigkeit des Vorkommens betrifft, so ist zu bemerken, dass
der FRÄNKEL'sche Diplococcus sehr viel öfter gefunden wird, als der Fried-
LÄNDER'sche Bacillus. Des Weiteren wurden bei der Pneumonie auch Strep-
tococcen (Weichselbaum) theils in Gesellschaft mit den beiden vorigen, theils
allein getroffen. Im letzteren Falle war die Pneumonie vielleicht secundärer
Natur, wie sie im Verlaufe von acutem Gelenkrheumatismus, Typhus abdomi-
nalis, Erysipel, Osteomyelitis, acuter Nephritis u. A. beobachtet wird. Sicher
secundärer Art ist das Vorkommen von Staphylococcus pyo genes aureus
und albus bei der Pneumonie.
Die Art der Verbreitung der Lungenentzündung entspricht
sehr häufig ihrem Charakter als Infectionskrankheit, Sehr oft ist ein ende-
misches Auftreten der Pneumonie constatirt; sei es, dass ganze Ort-
schaften oder nur einzelne Gebäude oder Gebäudecomplexe, wie Schulen,
Kasernen, Strafanstalten, Klöster heimgesucht wurden. Hervorzuheben ist,
dass in den Fehlböden solcher durchseuchter Häuser die specifischen Mikroben
gefunden worden sind. Auch ziemlich ausgebreitete Epidemien kommen
vor. Eine leichte directe Uebertragbarkeit von Kranken auf Gesunde
in der Weise, dass ein einmaliges Zusammensein zur Ansteckung genügt,
besteht sicher nicht. Sonst würde sich bei den Aerzten sowohl, wie im Volke
schon längst die Ueberzeugung von der Contagiosität der Krankheit ent-
wickelt haben. Dagegen werden in neuerer Zeit immer mehr Beobachtungen
angeführt, welche eine indicirte Uebertragung (z. B. durch Kleidungsstücke,
Betten etc.), sowie eine Ansteckung bei längerem, nahen Zusammensein
(z. B. im Krankenhaus) möglich erscheinen lassen.
Das Vorkommen der hauptsächlich bei der Pneumonie gefundenen Krank-
heitserregers auch ausserhalb dieser Krankheit (bei Gesunden, anderen Krank-
heiten) nöthigt uns für das Zustandekommen der Krankheit die Mitwirkung
der Hilfs- und Gelegenheitsursachen, sowie eine jeweilige Disposition des
Individums anzunehmen. Von diesen Momenten kennen wir eine ganze Reihe.
So hat z. B. die Jahreszeit einen gewissen Einfluss: im Winter und Früh-
ling haben wir um zwei Drittel Erkrankungen mehr, als im Sommer und
Herbst. Ferner besteht eine gewisse Abhängigkeit von den meteorolo-
gischen Verhältnissen: kleine Regenmengen, ebenso das längere Be-
stehen von zugleich feuchter und kalter Luft begünstigen das Auftreten der
Krankheit. Starke Winde, insbesondere Ost- und Südwinde scheinen bei uns
dasselbe zu thun.
Bezüglich des Geschlechts ist statistisch nachgewiesen, dass Männer
wesentlich häufiger erkranken, als Frauen. Ferner ist das Lebensalter von
Einfluss: Sehr stark ist die Disposition bis zum 10. Jahre; dann nimmt die-
selbe ab bis zum 30. Jahr. Mit zunehmendem Alter finden wir auch ein
Wachsen der Disposition, namentlich ist dies der Fall vom 50. Lebensjahre
PNEUMONIA CßOUPOSA. 251
an. Nach dem 70- ist die Empfänglichkeit etwa so gross, wie in den ersten
5 Jahren.
Eine kräftige Constitution bietet keinen Schutz, ja es will mir, wie
anderen Beobachtern scheinen, als ob gerade besonders robuste Men-
schen ein recht erhebliches Contingent zur Krankheit stellen. Doch ist
andererseits auch nicht zu verkennen, dass durch Krankheit und Mangel ge-
schwächte Personen leichter erkranken, als durchaus gesunde. Statistisch
sind diese Anschauungen wegen der Schwierigkeit der Beurtheilung der ein-
zelnen Fälle noch nicht sicher zu belegen. Mehr der Erkrankung ausgesetzt
sind die ärmeren C lassen der Bevölkerung, namentlich die in geschlos-
senen Räumen beschäftigten Arbeiter. Doch auch sonst werden, wie z. B.
beim Militär die Gemeinen gegenüber den OfTicieren, die weniger gut Situirten
leichter befallen. Es mag dies den schlechteren sanitären Verhältnissen, dem
Mangel an Reinlichkeit, insbesondere der Vernachlässigung des Auswurfes
zuzuschreiben sein. Sicher ist, dass das Ueberstehen der Krankheit
nicht vor neuer Erkrankung schützt, sondern im Gegentheil eine erhöhte
Disposition zurücklässt.
Einen breiten Raum in der Aetiologie der Lungenentzündung hat von
jeher die Erkältung eingenommen. Mit der Erkenntnis, dass die Lungen-
entzündung eine Infectionskrankheit ist, musste die „Erkältung" als eigent-
liche Krankheitsursache fallen und es konnte die Abkühlung nur noch als
Hilfsursache gelten. Als solche wird sie auch von vielen betrachtet. Bekannt-
lich führt ein grosser Theil der Patienten die Lungenentzündung auf eine
bestimmte Erkältung zurück. Wer aber bürgt dafür, dass das Frösteln des
noch scheinbar Gesunden nicht schon das erste Symptom der sich ent-
wickelnden Krankheit war V Ja, der initiale Schüttelfrost wird nicht selten mit
der Krankheitsursache verwechselt. Wenn andererseits die jeder Unbill der
Witterung ausgesetzten Menschen erfahrungsgemäss weniger leicht erkranken,
so spricht dies nicht direct gegen den Einfluss der Erkältung, da eines-
theils die Abhärtung anderen theils die geringere Infectionsgefahr Schutz
gewähren. Das lässt sich aber wohl kaum leugnen, dass ein schon beste-
hender Catarrh der Luftwege die Infectionsgefahr vergrössern und dadurch
zur Pneumonie disponiren kann.
Die Ansicht von dem begünstigenden Einfluss der Abkühlung bestätigen auch die
Experimente Lipari's. Thiere, welche nach einer endotrachealen Injection von pneumoni-
schem Sputum gesund geblieben waren, erkrankten an Pneumonie, wenn sie vor oder nach
der Injection einer Abkühlung ausgesetzt wurden. Die Kälte soll bei diesen Versuchen
das Flimmerepithel der Bronchien gelähmt und die Schleimhaut zur Schwellung gebracht
haben, was, wie beim Catarrh, die Infectionsgefahr vergrösserte.
Alles in allem genommen dürfte der Erkältung, soweit es sich wirklich
um eine stärkere Abkühlung, insbesondere bei schwitzendem Körper handelt,
als Gelegenheitsursache immerhin ein Platz einzuräumen sein.
Des ferneren ist Pneumonie in seltenen Fällen im Anschluss an ein
Trauma beobachtet, an eine Contusion des Thorax. Auch hier haben wir
uns das Zustandekommen der Pneumonie durch das erleichterte Einwandern
der Mikroben, vielleicht auch durch directe Infection zu erklären. Je plausibler
diese Erklärung erscheint, um so mehr muss man sich freilich wundern, dass
bei der Häufigkeit der Brustkorbverletzungen einer- und der Pneumonie an-
dererseits, falls wirklich ein ersichtlicher Zusammenhang besteht, die Coninci-
denz Beider nicht viel häufiger ist. Jürgensen sah z. B. unter 768 Fällen
nur einen von traumatischer Pneumonie. Wenn man sich also vom streng
kritischen Standpunkte einer gewissen Skepsis nicht erwehren kann, so wird
man doch in der Praxis, z. B. in Fällen der Unfallsversicherung, die Wahr-
scheinlichkeit, dass Trauma des Thorax die Entstehung einer Pneu-
monie begünstigen kann, zugeben müssen.
252 PNEUMONIÄ CROÜPOSA.
Eines sonderbaren Umstandes muss noch Erwähnung gethan werden,
dass nämlich Eingeborene an einem Orte leichter von Pneumonie befallen
werden, als Zugezogene.
Beobachten wir das Verhältnis der Pneumonie zu den anderen Krank-
heiten, so finden wir dass sie circa 37« aller Krankheiten und circa öVo der
inneren Krankheiten in Mitteleuropa ausmacht; dass sie ferner circa ß-eVo der
sämmtlichen Todesfälle und circa 12-77o der Todesfälle durch innere Krank-
heiten bewirkt (Ziemssen).
Pathologische Anatomie.
Der anatomische Befund ist bei der Pneumonie gewöhnlich einsehr
typischer. Am häufigsten ist ein ganzer Lappen von der Entzündung befallen.
Der Process beginnt mit einer congestiven Hyperämie, der blutigen An-
schoppung. Nach kurzer Zeit tritt ein Exsudat aus, welches die Alveolen,
Alveolengänge und Bronchiolen erfüllt; zugleich findet eine Desquamation der
Epithelien statt. Die exsudirte Flüssigkeit gerinnt bald und die Alveolen
sind mit einem festen Inhalt erfüllt, welcher aus weissen und rothen Blut-
körperchen, Lungenepithelien und körnigen Fibrinfäden besteht. Die Lunge
ist vergrössert, schwer, luftleer und fest, die Schnittfläche ist roth und hat
durch das Hervortreten der Exsudatpfröpfe ein gekörntes Aussehen. Die Ca-
pillaren sind stark bluthaltig. Es ist dies das Stadium der rothen Hepa-
tisation. In der Nachbarschaft des ergriffenen Bezirkes findet sich Oedem
der Lunge oder ein trüb weisses Leucocyten haltendes Exsudat. Die Pleura
ist ebenfalls in dem an die afficierte Lunge grenzenden Bezirke ergriffen. Es
findet sich hier Trübung oder feine Fibrinauflagerung; es kann jedoch auch
zur Ausscheidung von serösen Ergüssen in die Brusthöhle kommen. Die
Bronchialdrüsen sind fast immer geschwellt. Nach und nach entfärbt sich
das Exsudat in den Alveolen, die vorher stark gefüllten Capillaren werden
anaemisch, die Lunge wird blässer, schliesslich graugelb und grau: es ist dies
das Stadium der grauen Hepatisation. Nun sterben die Zellen des Exsu-
dates ab, sie zerfallen, verfetten, werden körnig und schollig. Zugleich findet
eine Auswanderung von Leucocyten aus den Gefässen statt, das bisher feste
Exsudat verflüssigt sich und der Process tritt in das Stadium der Lösung.
Das gelöste Exsudat wird zum grössten Theil resorbirt, nur ein kleiner Theil wird
expectorirt. Auch der Entzündungsprocess der Bronchien geht nun zurück
und nach der Resorption haben wir in den meisten Fällen eine völlige Wieder-
herstellung.
Zuweilen zeigen sich Verschiedenheiten im Verlauf. Es kommt
manchmal nur zum Stadium der Ausschoppung, welches längere Zeit anhält;
manchmal findet sich schon am ersten Tage eine starre Hepatisation. Die
Zeit der Entwicklung ist ebenfalls verschieden. Gewöhnlich ist die rothe
Hepatisation nach 1—2 Tagen vollendet; die Rückbildung dauert im Mittel
1—2 Wochen, kann sich aber einerseits in wenigen Tagen vollziehen, anderer-
seits über einen Monat beanspruchen. Am häufigsten ist ein ganzer Lappen
ergriffen, seltener sind mehrere zugleich erkrankt, öfter beschränkt sich der
Process nur auf einen Theil eines Lobus. Die Unterlappen sind am häufigsten
Sitz der Erkrankung. Die Pneumonie der Greise und schwächlicher Personen
zeigt häufig insofern eine Abweichung, als die ausgeschiedene Fibrinmenge
gering und dadurch die Hepatisation eine schlaffe ist.
Ausnahmsweise tritt eine dauernde Gewebsstörung auf. Es kann nach
Resorption des Exsudates bei coUabirtem Lungengewebe eine Verwachsung
und Verdickung der Alveolenwände eintreten oder es hält bei verlangsamter
Resorption ein leicht entzündlicher Zustand an. Immer neue Zellen treten
in die Alveolen ein und es kommt zu Wucherungsvorgängen im Lungen-
parenchym mit späterer Bindegewebsentwicklung, Schrumpfung und In-
PNEUMONIA CROÜPOSA. 253
durationin wechselnder Ausdehnung. Der schlimme Ausgang in Gangrän,
wobei ein grösserer oder kleinerer Abschnitt in eine zunderartige, pulpöse,
übelriechende Masse zerfällt, ist selten. Ebenso die Lungenvereiterung
Sowohl der gangränöse Herd, wie der Lungenabscess kann sich durch
granulirende Membran abgrenzen, in Bronchien oder Pleura durchbrechen und
' schliesslich zur Heilung gelangen.
Die Incubationszeit der Pneumonie wird sehr verschieden veran-
schlagt. Am häufigsten wird ein Zeitraum von 8 — 14 Tagen angegeben, doch
finden sich auch Angaben von kürzerer oder längerer Zeit (bis zu 3 Wochen).
Es erscheint fraglich, ob wirklich eine bestimmte Incubationszeit existirt.
Symptomatologie und Verlauf.
Der allgemeine Verlauf der Krankheit ist für die Mehrzahl der
Fälle recht typisch. Der Beginn ist gewöhnlich ein ganz plötzlicher.
Mit heftigem, etwa 72 — 1 stündigem Schüttelfrost setzt ein hohes, continuirliches
Fieber ein. Der Patient hat sogleich schweres Krankheitsgefühl. Seltener
geht der Erkrankung eine Zeit von unbestimmten Prodromalerscheinungen,
wie Mattigkeit, Kopfschmerzen, Frösteln, Appetitlosigkeit u. dergl. vorher. Kurze
Zeit nach Beginn der Erkrankung zeigen sich localisirte Beschwerden. Die
Athmung wird beschleunigter, oberflächlicher, schmerzhaft. Seitenstechen und
Husten treten auf, welcher später zähen, citronengelben bis rostbraunen Aus-
wurf herautbef ordert. Die Haut ist heiss und trocken; meist findet sich Herpes
an den Lippen. Der Appetit fehlt völlig; ebenso im Beginne der Schlaf. Es
bestehen Kopfschmerzen, zuweilen Delirien. Die Dyspnoe steigert sich, das
Fieber steht mit geringen Remissionen auf derselben Höhe, der Puls ist stark
beschleunigt. Nachdem die Krankheitserscheinungen in gleicher, zu- oder
abnehmender Intensität etwa 1 Woche gedauert kaben, tritt ein kritischer mit
starkem Schweissausbruch verbundener Abfall des Fiebers ein, welcher eine
überraschend schnelle Besserung des subjectiven Wohlbefindens und der
Krankheitssymptome zur Folge hat. Nach kurzer Zeit folgt die gänzliche
Genesung. Die zahlreichen Abweichungen von diesem schulmässigen Ver-
lauf, die ungünstigen Ausgänge sollen später Besprechung finden; zunächst
sollen die einzelnen Symptome einer Betrachtung unterzogen werden.
Die einzelnen Erscheinungen. Das Fieber steigt in den meisten
Fällen innerhalb weniger Stunden auf 40 "^ und darüber und zwar unter einem
heftigen Schüttelfrost. Der letztere ist fast constant. Zuweilen wird
er durch länger andauerndes Frieren und Frösteln ersetzt und auch dieses
kann bei Cachectischen manchmal gänzlich fehlen. Auch ein allmähliger
Beginn mit Steigerung der Prodrome zu Krankheitserscheinungen mit
langsamem Steigen der Temperatur kann vorkommen. Auf den Schüttel-
frost folgt gewöhnlich starkes Hitzegefühl. Eine Wiederkehr des Frösteins
findet fast nur bei schwächlichen Individuen, sowie bei Abkühlungen der
Haut und bei raschem Wiederansteigen der künstlich erniedrigten Temperatur
statt. Nach der jähen Erhebung ist das Fieber in der Ptegel ein continuir-
liches, mit Temperaturen zwischen 39'5 und 40"5 und darüber und, meist
morgendlichen, Remissionen von 0*5 — 1"0''. Das Maximum des Fiebers wird
gewöhnlich am 1. oder 2. Tage mit Werthen zwischen 40 und 41'' erreicht;
doch findet sich nicht selten auch gerade kurz vor der Krise eine stärkere
Exacerbation mit Steigerung der übrigen Krankheitserscheinungen (pertur-
batio critica), wenn auch gewöhnlich das Ende der Krankheit durch das Auf-
treten stärkerer Remissionen gekennzeichnet ist. Der endgiltige Temperatur-
abfall erfolgt meistens in der Nacht oder den frühen Morgenstunden in Form
einer Krise. Dieselbe führt in der Regel in mehreren Stunden bis zu einem
Tage die Temperatur zur Norm oder richtiger gesagt unter die Norm (unter
37*^ in ano) zurück. Dauert der Temperaturabfall länger oder ist er durch
254 PNEUMONIA CROUPOSA.
kleine Erhebungen unterbrochen, so hat man so mit einer Lysis zu thun,
was in einer Minderzahl der Fälle stattfindet. Diese nachträglichen Erhebun-
gen der Körperwärme beobachtet man namentlich bei ausgedehnten Exsudaten
und ist geneigt sie als Resorptionsfieber zu erklären. Geht die Temperatur
unter den übrigen Erscheinungen der Krisis bedeutend, aber nicht zur Norm
bezw. nicht unter die Norm herab, um sich dann wieder zur oder bis nahe '
zur früheren Höhe zu erheben und erst am folgenden Tage oder noch später
endgiltig abzufallen, so spricht man von einer Pseudokrise. Auf das
Sinken unter die Norm ist daher bei der Beurtheilung, ob die wirkliche
kritische Entscheidung eingetreten ist, grosses Gericht zu legen. Die sub-
normale Temperatur braucht häufig einige Tage, um die normale Höhe wieder
zu erreichen.
Bei tödtlichem Ausgang wird zuweilen eine proagonale Steigerung des
Fiebers auf 42 und 43*^, häufiger eine langsame Temperaturerniedrigung be-
obachet. Der Eintritt der Krise fällt gewöhnlich zwischen dem 5. und 9. Tage
am häufigsten auf dem 7. Krankheitstag. Doch sind viel frühere und spätere
Krisen häufige Ausnahmen. Eine Bevorzugung der ungeraden Tage vor den
geraden findet nach ausgedehnten Erhebungen nicht statt. (Jüegensen).
Die Erscheinungen von Seiten der Lunge sind naturgemäss
sehr erhebliche. Gewöhnlich hat der Patient schon von Beginn an ein Gefühl
von Beengung und Druck auf der Brust. Brust schmerz insbesondere beim
Athmen, Husten, Druck etc., ist ein sehr frühes und äusserst häufiges Zeichen
der Pneumonie. Als Ursache desselben ist in erster Linie die Betheiligung
der Pleura an der Entzündung und zwar insbesondere der Beginn dieser Ent-
zündung anzusehen. Dementsprechend nimmt das Stechen gegen Ende der
Krankheit regelmässig ab und findet sich selten bei centralen Pneumonien.
Im Allgemeinen ist die erkrankte Seite der Sitz des Schmerzes. Bei Unter-
lappenpneumonien pflegt der Schmerz heftiger zu sein, als bei Spitzenpneu-
monien. Doch wird derselbe in der Regel auch bei Befallensein der hinteren
Parthieen hauptsächlich vorn oder in der Seite angegeben.
Eine Folge des Oppressionsgefühls und des Seitenstechens ist die fla-
chere und frequentere A t hm ung, bei welcher die kranke Seite sichtlich
zurückbleibt. Die Steigerung der Frequenz hängt aber natürlich auch von
der Verminderung der respiratorischen Oberfläche und der Erhöhung der Tem-
peratur und des Stoffwechsels ab. Die Frequenz der Athmung nimmt sehr
viel schneller zu, als die des Pulses.
Eines der regelmässigsten Symptome ist der Husten, meist schon im
Beginn, seltener erst nach 1 — 2 Tagen, Er fehlt öfter bei sehr cachectischen
Patienten und Greisen, doch habe ich ihn, und ebenso den Auswurf, in sel-
tenen Fällen auch bei ganz kräftigen Menschen bis zur Krise vermisst. In
der ersten Zeit ist der Husten trocken und erfolgt wegen des Schmerzes ge-
wöhnlich nur in kurzen Stössen, zuweilen anfallsweise. Später wird er immer
schmerzloser, feuchter und lockerer.
Der mit dem Husten entleerte Auswurf ist in der Regel äusserst cha-
rakteristisch. Nachdem einige Zeit trockener Husten mit wenig ausgespro-
chenem, vielleicht etwas catarrhalischem oder gar keinem Auswurf bestand,
wird das Sputum später mit fein vertheilten Blutkörperchen gemischt, welche
ihm ein citronen- safran-, oder orangegelbes bis rostfarbenes Aussehen geben.
Es kann auch streifig oder punktförmig beigemengtes Blut enthalten. Dabei
ist es infolge seines starken Mucingehaltes und seiner Wasserarmuth sehr
zähe und klebrig, so dass es beim Umkehren des Speisegefässes fest am Boden
haftet, und schliesst stets kleinere oder grössere Luftblasen ein. Wichtig sind
die Fibringerinnsel der Bronchien, av eiche ziemlich regelmässig aus-
gehustet werden und im Sputum meist als feine Ballen erscheinen. Nach
Ausbreitung in Wasser findet man zuweilen die schönsten, dichotomisch ver-
PNEUMONIA CROUPOSA. 255
ästelten Fibrinausgüsse des Broncliialbaumes, welche bei ausgebreiteter fibrinöser
Bronchitis bis zu 5 cm lang werden können. Die mikroskopische Untersuchung
ergibt, theils frische, theils entfärbte, gequollene oder geschrumpfte rothe Blut-
körperchen, Leukocyten, Schleimkörperchen, Bronchial- und Alveolarepithelien
und die Eingangs näher beschriebenen Mikroben. Nach der Krise verliert
das Sputum seine charakteristische Beschaffenheit, es entfärbt sich, wird reich-
lich, schleimig-eitrig. Regelmässig fehlt der Auswurf bei Kindern, häufig bei
anämischen, schwächlichen Personen, bei Potatoren und Greisen. Wenn er
vorhanden ist, ermöglicht er in der Regel die allgemeine Dia-
gnose auf Croup Öse Pneumonie mit hinreichen der Sicherheit.
Die örtliche Diagnose ergibt sich hauptsächlich aus der physi-
kalischen Untersuchung der Lungen. Die Inspection zeigt häufig
ein deutliches Zurückbleiben der kranken Seite beim Athmen. Bei sehr starker
Infiltration kann auch die kranke Thoraxseite mehr ausgedehnt sein, als die
gesunde. Sehr auffällig ist die gesteigerte Respirationsfrequenz;
ferner namentlich die fast stets vorhandene Anspannung der inspiratorischen
Hilfsmuskeln des Halses. Die Wangen und Lippen des meist mit erhöhtem
Oberkörper liegenden Patienten sind anfangs echauffirt, später dunkelroth,
cyanotisch. Oft besteht praeinspiratorisches Nasenflügelathmen.
Perciission. Die Ergebnisse der Percussion wechseln mit den Ver-
änderungen in der Lunge. Bedingung für ein positives Resultat ist vor
allem, dass sich der Process in genügender Ausdehnung und in der Nähe der
Thoraxwand abspielt. Im Stadium der Anschoppung haben wir noch keine
percutorische Veränderung oder in Folge der Erschlaffung des Lungengewebes
mehr oder minder ausgesprochen tympanitischen Schall. Mit der fortschrei-
tenden Exsudation in die Alveolen wird der Schall höher und vor allen Dingen
dumpfer. Die Dämpfung erreicht ihren stärksten Grad, wenn die Hepatisation
vollständig ist und in grösserem Umfange die Thoraxwand erreicht hat. Auch
die völlige Dämpfung hat in der Regel, zumal bei starker Percussion, noch
tympanitischen Beiklang, da bei der guten Leitung des infiltrirten Gewebes
auch die lufthaltigen Bronchialröhren noch mitschwingen. Sehr deutlich ist
dies der Fall bei Oberlappenpneumonien und bei Kindern, überhaupt bei
weniger voluminösen Infiltraten. Vollkommen absolute Dämpfung deutet ent-
weder, auf sehr massiges Infiltrat oder, wenn dieselbe, wie in der Regel nur
auf den hintersten untersten Theil der Unterlappen beschränkt ist, auf be-
gleitendes Pleuraexsudat. Mit beginnender Resolution nimmt die Intensität
der Dämpfung ab; der Schall wird immer heller und tympanitischer — deut-
licher als im 1. Stadium — und hellt sich nach und nach ganz auf. Die Zeit
des Auftretens der Dämpfung kann recht verschieden sein. Zuweilen hat man
nach 1 — 2 Tagen ausgebildete Dämpfung, zuweilen tritt dieselbe — namentlich
bei Kindern — spät erst, zuweilen nach der Entfieberung auf. Ebenso geht es
mit der Rückbildung; in einem Falle ist 1 — 2 Tage nach der Krise keine
percutorische Veränderung mehr nachzuweisen, im anderen Falle persistirt
die Dämpfung durch Wochen. Kleinere oder central gelegene Infiltrate ent-
gehen der percutorischen Untersuchung vollständig. Zuweilen findet man, ge-
rade bei sehr ausgedehnten Unterlappeninfiltraten bei der Untersuchung vorn auf
der kranken Seite sehr hellen Percussionsschall mit tympanitischem Beiklang,
so dass man zuweilen geneigt ist, die gesunde Seite für die kranke zu halten.
Genaues Achten auf den tympanischen Klang, der wohl von einer Relaxation
des gesunden Lappens der kranken Seite herrührt, schützt vor Irrthum.
Parallel mit der Dämpfung geht eine Verstärkung des Pectoralfre-
mitus. Bedingung für das Zustandekommen desselben ist abgesehen von lau-
ter, tiefer Stimme, das Freisein des zuführenden Bronchus. Man vergesse daher
nie vor der Palpation des Stimmfremitus gründlich expectoriren zu lassen.
256 PNEÜMONIA CROÜPOSA.
ÄuscuUation. Im ersten Anfang sind die Erscheinungen nicht charak-
teristisch, das Athmen wird an der erkrankten Stelle etwas schärfer und
rauher, oft auch abgeschwächt gehört und ist bei gleichzeitigem Catarrh der
Luftwege von accesorischen Geräuschen, begleitet. Bei beginnender Exsudation
vernimmt man neben einer deutlichen Verlängerung des Exspiriums ein sehr
feines, gleichmässiges, kleinblasiges, mehr trockenes Knisterrasseln und zwar
ausschliesslich bei der Inspiration, weil es durch das plötzliche Auseinander-
reissen der verklebten Alveolen- und Bronchiolen- Wände entsteht. Mit fort-
schreitender Hepatisation nimmt das Athemgeräusch immer mehr den hauchenden
Charakter an, um schliesslich in helles, lautes Bronchialathmen überzugehen.
Bedingung für das Zustandekommen des Bronchialathmens ist ebenfalls, dass
das zuleitende Bronchialrohr nicht verlegt ist; denn in diesem Falle würde
man abgeschwächtes Vesiculärathmen hören. Es ist deshalb unbedingt noth-
wendig, in verdächtigen Fällen bei Fehlen des Bronchialathmens die Auscul-
tation nach kräftiger Expectoration zu wiederholen. Das bronchiale Geräusch
ist in ganz uncomplicirten Fällen vollkommen rein. Begleitender Catarrh
zeigt sich durch catarrhalische Geräusche an, welche besonders im Lösungsstadium
reichlich und häufig sind. Charakteristisch für die Resolution ist das massen-
hafte, feine Knister rasseln, welches viel constanter und reichlicher zu sein
pflegt als das Initialknistern. Ist es bei gewöhnlichem tiefen Athmen un-
deutlich, so wird es beim Husten deutlich. Zu bemerken ist noch, dass an
allen Stellen, wo Bronchialathmen besteht, auch deutliche Bronch op ho nie
wahrnehmbar ist. Manche meinen sogar, dass die Bronchophonie zuweilen
früher ausgesprochen sei, als das Bronchialathmen, was nach meiner Erfahrung
mindestens nicht sehr häufig der Fall ist.
Wie schon hervorgehoben, treten sämmtliche physikalischen Erscheinungen
nur bei einer gewissen Ausbreitung des Processes und genügender Nähe der-
selben an der Thoraxwand deutlich auf und es ist deshalb bei Verdacht auf
Pneumonie das geringste Zeichen zu berücksichtigen. Namentlich sind auch
die Seitentheile des Thorax und die Achselhöhlen genau zu untersuchen, da
man hier oft die ersten charakteristischen Zeichen sowohl bei Oberlappen- wie
bei Unterlappenpneumonie wahrnimmt.
Erscheinungen von Seiten der Pleura machen sich neben dem Seiten-
stechen zuweilen als pleuritisches Pteiben bemerklich. Kommt es zu einem
pleuritischen Exsudat, so ist dasselbe gewöhnlich klein, serös und wird rasch
resorbirt. Bei Unterlappenpneumonie deutet gewöhnlich eine sehr intensive
Dämpfung der untersten Partieen mit Abschwächung des Athmungsgeräusch
und Stimmfremitus auf diese häufige Begleiterkrankung. Die Dauer der
Krankheit wird dadurch nicht oder nur wenig verlängert. Anders ist dies bei
eitrigen oder haemorrhagischen Exsudaten, welche eine ernste Complication
darstellen.
Circulation. Von hervorragender Bedeutung sind die Erscheinungen von
Seiten des Circulationsapparates. Der Puls ist von Anfang an be-
hchleunigt, in gutartigen Fällen pflegt er im Allgemeinen nicht über 110 Schläge
beim Erwachsenen zu steigen. Kinder haben selbstverständlich eine sehr viel
höhere Frequenz, ebenso findet man auch bei schwächlichen Kranken oder bei
längerem Verlauf der Krankheit höhere, bei Greisen oft geringere Pulszahlen.
Mit Sinken der Temperatur sinkt auch der Puls; nach der Krisis geht die
Pulszahl oft auf 40 — 50 Schläge herab. Im Beginn der Erkrankung ist der
Puls voll, gross, hart. Bei ausgedehnter Infiltration, also bei Behinderung des
Lungenkreislaufes kann der Puls klein, weich und leer werden. Dieselben
Qualitäten finden sich auch bei Sinken der Herzkraft aus anderen Gründen.
Irregularität gibt eine ernste Prognose. Von sehr übler Vorbedeutung sind auch
die Collapszufälle mit kleinem und sehr frequentem Puls, kühlen Extremitäten
und Cyanose. Die Beobachtung der Herzthätigkeit gibt also für die Prognose
I
PNEÜMONIA CROUPOSA. 257
und Therapie sehr wichtige Anhaltspunkte. Die Herzschwäche kann
während der ganzen Krankheit eintreten. Namentlich ist dies der Fall bei
plötzlichem Ansteigen der Temperatur, bei starker Ausbreitung der Entzündung,
bei stärkeren Körperbewegungen (Aufstehen), bei der Krise mit ihrem raschen
Fieberabfall. Bei an sich Herzschwachen genügt schon die längere Dauer der
Krankheit zu einem Collaps. Als weitere Coraplication seitens des Herzens hat
man beobachtet: eine Verstärkung des zweiten Pulmonaltones infolge des
grösseren Druckes in den Lungenarterien; zuweilen eine Dilatation des Her-
zens bei starkem Fieber, ausgebreiteter Infiltration, Fettleibigkeit und der-
gleichen; ferner die von der Pleura fortgeleitete fibrinöse oder serös-fibrinöse
Pericarditis; endlich frische acute Endocarditis.
Verdauimgsorgane. Der Appetit ist, namentlich im Beginn der Erkrankung,
gleich Null. Die Zunge ist belegt, in schweren Fällen trocken und rissig. Der
Durst ist stark vermehrt. Anfangs ist Erbrechen häufig, bei Kindern fast
regelmässig an Stelle des Schüttelfrostes. Der Stuhlgang ist gewöhnlich an-
gehalten. Neben diesen bei einer fieberhaften Krankheit gewöhnlichen Symptomen
finden sich aber auch zuweilen Erscheinungen von Seiten des Magendarmcanals,
welche wohl auf eine specifische Infection zurückzuführen sind. Es sind Fälle
von gewöhnlich protrahirter Pneumonie beobachtet, welche mit sehr schweren
Magendarmsymptomen, wie Erbrechen, profusem Durchfall, Meteorismus und
sehr starkem Icterus einhergingen. Ausserdem ist es mir öfters, besonders
bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen, vorgekommen, dass die Darm-
erscheinungen, insbesondere auch lebhafte Schmerzen im Leib im Anfang
tagelang das diagnostische Augenmerk auf das Abdomen gerichtet erhielten,
bis der deutliche Lungenbefund mit gleichzeitigem Schwinden der Bauch-
symptome die Situation aufklärten. Icterus kann auch bei regelmässig ver-
laufender Pneumonie durch eine venöse Hyperämie der Leber, welche letztere
zuweilen vergrössert gefühlt wird, oder durch einen Duodenalcatarrh bedingt
sein. In vielen Fällen ist auch die Milz vergrössert gefunden worden.
Harnorgane. Zuweilen werden bei schwerer Infection auch die Nieren
alterirt; es kommt zu einer acuten Nephritis und im Harn finden sich Ei weiss,
Cylinder und Blut. Nur selten geht diese Nephritis in eine chronische über,
fast immer heilt sie vollständig. Kleine Mengen Eiweiss sind sehr häufig und
werden gewöhnlich als febrile Albuminurie bezeichnet. Eine vorübergehende
Reizung des Nierenparenchyms durch Krankheitsproducte ist höchstwahrschein-
lich die Ursache. Stets ist die Quantität des Urins vermindert, namentlich
zur Zeit des Schweissausbruches bei der Krise; er ist stark sauer, hochgestellt,
sedimentirend, hat vermehrten Gehalt an Harnstoff, verminderten Gehalt an
Chloriden, alles Eigenschaften, welche jedem Harne bei einer acuten fieber-
haften Erkrankung mehr oder weniger zukommen.
Dass die Krankheit mit Gewichtsverlust, namentlich zur Zeit der Krise,
verbunden ist, ist selbstverständlich.
Haut. An der Haut haben wir ein charakteristisches und zuweilen auch
diagnostisch wichtiges Zeichen, nämlich den Herpes, der gewöhnlich an den
Lippen, den Mundwinkeln, ferner an der Nase, seltener an den Ohren und
Wangen oder an der Haut des übrigen Körpers auftritt. Meist zeigt er sich
am zweiten oder dritten Krankheitstage, doch ist er auch nach erfolgter Krise
noch beobachtet. Er tritt M^ohl in der Hälfte sämmtlicher Pneumoniefälle auf.
Im Allgemeinen ist die Haut trocken, geröthet und heiss. Nach deni S chw eiss-
au sbruc he bei der Entfieberung kommt häufig Miliaria zur Beobachtung.
Nervens^jstem. Störungen von Seiten des Gehirns und des übrigen
Nervensystems sind bei der Lungenentzündung nicht selten. Namentlich
das rasche Ansteigen des Fiebers zu beträchtlicher Höhe, ferner die Localisation
der Pneumonie in der Spitze erzeugen leicht Erbrechen, Unbesinnlichkeit und
Krämpfe, besonders bei kleinen Kindern. Ebenso finden sich beim raschen
Abfall der Körperwärme gewöhnlich mit Insufficienz des Herzens verbundene
Bibl. med. Wissenschaften. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd III. 17
258 PNEÜMONIA CROÜPOSA.
anämisclie Delirien, welche dem Delirium potatorum ähnlich sehen können.
Des Weiteren kann sich aber auch eine echte eitrige Meningitis, bedingt
durch die Diplococcen mit Nackenstarre, intensiven Kopfschmerzen und Be-
nommenheit, respective Coma entwickeln, welche fast stets zum Tode führt.
Diese Complication zeigt gern ein epidemisches Auftreten.
Selten wird im Anschluss an die pneumonische Infection eine Otitis
media acuta, noch seltener werden seröse oder eitrige Gelenkent-
zündungen beobachtet.
Abweichungen vom durchschnittlichen Verlauf. Bei den zahlreichen
Symptomen von Seiten der verschiedenen Organe, bei der Möglichkeit von
allerlei Complicationen, bei der Verschiedenheit der befallenen Individuen, ist
es selbstverständlich, dass sich das Krankheitsbild der Pneumonie im einzelnen
Falle ganz anders gestalten kann, als dies Eingangs geschildert wurde.
Bei einem kräftigen Manne mit normalem Herzen wird eine ausgebreitete Infiltration
fast nur Erscheinungen von Seiten der Lunge machen ; bei einem älteren oder schwächlichen
Individuum mit einer Insuffi.cienz des Herzens braucht weder das Fieber hoch, noch die
Infiltration gross zu sein, um die bedrohlichen Collapszustände des Herzens herbeizuführen.
Wieder in einem anderen Falle z. B. bei einem Alkoholiker können die Hirnsymptome das
ganze Krankheitsbild allein beherrschen, oder es steht die Schwere der Allgemeininfection,
der „Status typhosus" der Alten im Vordergrund. So kann sich das Bild der Pneumonie
zu einem äusserst abwechslungsreichen gestalten und es sollen im Folgenden verschiedene
Formen eine kurze Beleuchtung finden. Diese Abarten sind allerdings nur Verschiedenheiten
im Verlauf einer und derselben Krankheit; doch sind ausser der verschiedenen Virulenz
der Infectionserreger wohl auch die verschiedenen Arten derselben, sowie die sogenannten
Mischinfectionen vor allen Schuld an den mannigfaltigen Abweichungen.
1. Abweichungen nach der Localisation. Dass die Oberlappen-
pneumonien Neigung zum Hervorbringen schwerer Cerebral ersch einungen
haben, ist schon oben gesagt worden. Sie gehen aber auch häufig mit höherem
Fieber einher und zeigen einen schleppenden, protrahirten Verlauf, langsame
Eeconvalescenz und grössere Neigung zu Rückfällen.
Centrale Pneumonien, bei denen das Infiltrat nicht bis zur Ober-
fläche der Lunge reicht, entsprechen in Bezug auf Beginn, Verlauf und
subjective Symptome vollständig dem allgemeinen Bild einer Pneumonie, aber
der objective Nachweis des Herdes gelingt nicht. Das charakteristische Sputum
ist in einem solchen Falle von grosser diagnostischer Wichtigkeit. Manchmal
gelangt der im Innern beginnende Process noch später, oft erst mit der Krise,
nach aussen und erzeugt an einer kleinen Stelle Bronchialathmen oder Knister-
rasseln. Was die Diagnose der centralen Pneumonie noch weiter erschwert,
ist das gewöhnliche Fehlen des Seitenstechens, der geringere Hustenreiz und
damit auch die geringere Production von Sputum; ja bei älteren Leuten kann
Husten und Auswurf ganz fehlen.
Mehrere Krankheitsherde gleichzeitig kommen ebenfalls vor.
Dieselben können entweder mehrere Lappen derselben Seite, oder die gleich-
namigen oder ungleichnamigen Lappen beider Seiten befallen, am häufigsten
wohl beide Unterlappen. Das Krankheitsbild ist naturgemäss ein schweres. In
diagnostischer Beziehung hat man zu beachten, dass Auscultationserscheinun-
gen von der kranken auf die gesunde Seite fortgeleitet eine multiple Pneu-
monie vortäuschen können.
2. Abweichungen nach dem Verlaufe. R e c i di v e der Pneumonie sind
nicht selten. Man darf von Recidiv sprechen, wenn nach völligem Ablauf
der ersten Erkrankung innerhalb weniger Wochen oder wenigstens nach aus-
gesprochener Krise und Resolution des Infiltrates, mindestens nach mehreren
Tagen eine erneute Erkrankung entweder in demselben Gebiet oder in einem
anderen Lappen auftritt. Die Rückfälle vor Beendigung der Reconvalescenz
als recurrirende Pneumonien von den echten Recidiven zu trennen, ist in Wirk-
lichkeit, da alle Uebergänge vorkommen, nicht durchführbar und auch unnö-
PNEUMONIA CROÜPOSA. 259
thig. Im Allgemeinen pflegt ein ßecidiv leichter zu verlaufen, als die erste
Erkrankung.
Eine weitere Eigenthümlichkeit bieten die Wanderpneumonien dar.
Charakteristisch für dieselben ist, dass die Entzündung während des Abheilens
in dem einen Lungenbezirk auf einen anderen, zuweilen ganz entfernt liegenden
übergreift. Von da aus kann dies Spiel von Neuem beginnen, mehrere Abschnitte
können zu gleicher Zeit befallen sein; auch zur Norm zurückgekehrte Gebiete
können wieder erkranken. Die Fiebercurve ist dementsprechend sehr unregel-
mcässig, pflegt aber doch die Lösung in dem alten, die Entwickelung in dem
neuen Lappen in Form von pseudo-kritischen Abfällen und darauf folgenden
raschen Ansteigen der Temperatur zu zeigen. Je länger die Dauer, je grösser
die ergriöenen Lungenpartien, desto ernster ist die Prognose.
3. Abweichungen nach der Schwere der Infection. Leichte abortive
Formen sind häuflg, besonders bei grösseren Epidemien und wegen der
Schwierigkeit der Erkennung häufiger als man glaubt. Gewöhnlich entwickelt
sich hiebei unter leichteren Fiebererscheinungen die Anschoppung eines Lungen-
lappens, worauf dieselbe nach 2—3 Tagen unter Defervescenz wieder ver-
schwindet. In anderen Fällen wird eine schnell auftretende, aber nach kurzer
Zeit wieder verschwindende Hepatisation beobachtet. Selbst eintägige
echte Pneumonie sind beschrieben (Leube). Das Sputum ist in der Regel das
Einzige, was die Diagnose sichert.
Im Gegensatz hiezu steht die schwere Form des Verlaufes der
Lungenentzündung. Man hat diejenigen Pneumonien, deren ungünstiger Verlauf
nicht in der Ausdehnung des örtlichen Processes begründet ist, welche sich aber
durch Schwere der Allgemeinerscheinungen, protrahirten Verlauf, Depressions-
zustände des Nervensystems, Afl^ectionen des Magendarmtractus und namentlich
grossen Körperverfall bei relativ geringen Localerscheinungen in der Lunge
auszeichnen, mit grösserer oder geringerer Schärfe als asthenische Pneu-
monien unterschieden. Wenn man aber die im Verlaufe auftretende „Schwäche"
als das Gemeinsame dieser schweren Formen hinstellt, so muss man doch aus-
einanderhalten, ob diese Schwäche des Kranken die Folge von schon vorher
bestehender Schwäche oder Krankheit des Individuums ist oder ob sie lediglich
oder hauptsächlich die Folge der aussergewöhnlich schweren Infection und
Intoxication anzusehen ist. In dem letzteren Falle thut man besser, die be-
treffenden Verlaufsweisen mit Finkler alstoxämische Formen zu bezeichnen,
während man im ersteren Falle zweckmässiger von den verschiedenen Arten
des Verlaufes bei Greisen, bei Cachektischen, bei Alkoholisten etc. spricht. ^
Zu den toxämischen Pneumonien gehört vor allen Dingen die seit
langer Zeit als biliöse Form bezeichnete. Der Beginn ist gewöhnlich ein
rascher, mit heftigem Schüttelfrost, zuweilen gehen Prodromalerscheinungen
vorher. Es kommt im weiteren Verlaufe zu hartnäckigem Erbrechen, er-
schöpfenden profusen Durchfällen, Meteorismus und starken Icterus, zuweilen
treten auch cerebrale Störungen auf. Jedenfalls ist die Prostration eine hoch-
gradige, die Prognose stets sehr ernst. In drei Viertheilen der Fälle einer
Beobachtung trat der Tod ein; die Section ergab zuweilen Schwellung der
PAYER'schen Plaques, Blutungen in Magen- und Darmschleimhaut, Pericarditis
und Nephritis.
Der biliösen Pneumonie sehr ähnlich, ja zuweilen ohne Unterscheidung
in dieselbe übergehend ist das, was man typhös e Pneumonie genannt hat.
Der Beginn ist in diesen Fällen häufig ein allmählicher mit mehr oder weniger
stark entwickelten Prodromen. Die Localisation in der Lunge vollzieht sich
gewöhnlich sehr langsam, dabei ist die Exsudation und Hepatisation oft eine
unvollständige. Um so stärker treten die übrigen Symptome in den Vordergrund.
Es kommt zu hochgradiger Abgeschlagenheit, quälendem Kopfschmerz, Delirien,
Coma, kurz zu einem Status typhosus. Daneben finden sich trockene, fuliginöse
17*
260: PNEOMONIA CROUPOSA.
Zunge, kleiner schneller Puls, Diarrhoe, Meteorismus, Milz- und Leber-
schwellung; in schweren Fällen Pleuritis, Pericarditis, Peritonitis, Meningitis.
Stets ist der Verlauf dieser Pneumonien ein langsamer, das Bild ein sehr
schweres, die im günstigen Falle eintretende Pieconvalescenz eine zögernde.
Es gibt Endemien, respective Epidemien, welche eine ausgesprochene Neigung
zeigen, solche Erkrankungen mit ungewöhnlich schwerer Allgemeininfection
hervorzubringen.
Es hat m. E. keinen Werth, die Bezeichnungen „biliöse und
typhöse Pneumonie" aufrecht zu erhalten. Bei der sogenannten biliösen
Form ist der Icterus jedenfalls nicht das Wesentliche, sondern nur eine, ja
nicht einmal die gefährlichste Erscheinung im Bilde dieser schweren Formen,
mag man die Gelbsucht nun auf den hepatogenen, wie es am wahrscheinlich- -
sten ist, oder auf den hypothetischen hämotogenen Ursprung zurückführen.
Sicher ist, dass bei ganz leichten Pneumonien Duodenalicterus bestehen kann.
Auch der Ausdruck „typhöse. Pneumonie" ist nicht glücklich, da er fälsch-
lich den Gedanken an eine Beziehung zu der specifischen Typhuserkrankung
erwecken könnte. Dem Begriff der „toxämischen Pneumonie", der diese
schwere Form und ihr Wesen treffend charakterisirt, wäre das Bürgerrecht sehr
zu wünschen, welches freilich gegenüber alt eingebürgerten Namen schwer
zu erwerben ist.
4. Abweichungen nach der individuellen Constitution. Den eben
geschilderten Formen ähnliche, unter dem Bilde der allgemeinen Schwäche
einhergehende asthenische Pneumonien finden wir als Folge von verschieden
die Constitution des Kranken ungünstig beeinflussenden Momenten, vor allen
Dingen von hohem Lebensalter und schweren acuten wie chronischen Krank-
heiten und Vergiftungen.
Namentlich die Pneumonie bei alten Leuten, jenseits der 50er Jahre
besonders, ist stets ein gefährliches Leiden. Häufig ist der Beginn schlei-
chend, mit nur langsam steigendem und überhaupt nicht hohem Fieber. Der
Husten ist fast immer gering, manchmal kann derselbe ganz fehlen; ebenso
fehlt häufig der Auswurf oder derselbe bleibt katarrhalisch, resp. wird erst
später bluthaltig. Infolge der geringen Fibrinausscheidung bleibt die Hepati-
sation häufig schlaff und ist daher objectiv schwer nachweisbar. Die Keso-
lution und die Pteconvalescenz überhaupt ist eine sehr langsame; zuweilen
kommt Ausgang in Eiterung vor.
Eine grössere Schwere des Verlaufs ist ebenfalls bedingt, wenn
die Pneumonie sich zu einer an sich schon schweren acute'n Krankheit hinzu-
gesellt, wie das bei Typhus, Variola, Erysipelas, Diphtherie,^ schweren Hirn-
apoplexien, diffuser Bronchitis etc. der Fall ist. Die complicirende Pneumonie
verschlechtert ebenso die Prognose der ursprünglichen Krankheit wie diese
die der Pneumonie. Von den chronischen Erkrankungen erhöhen die
Schwere der Pneumonie ausser der Anämie und Schwäche im Allgemeinen vor
allen Dingen die Herz- und Nierenerkrankungen, und zwar von ersteren nicht
nur die Klappenfehler, sondern auch die Muskel- und Gefässerkrankungen.
Von den Vergiftungen kommen besonders Morphinismus und Alkoholismus
in Betracht.
Die Pneumonie der Alkoholiker nimnat eine gewisse Sonderstellung ein. Sie,
wird relativ häufig bei denselben beobachtet und ist ausgezeichnet durch das rasche Auf-
treten des Delirium tremens. Die Kranken werden unruhig, die Sprache wird hastig
stammelnd, es tritt Tremor der Hände und der Zunge auf. Später gesellt sich Angstgefühl,
dann Delirien hinzu. Oft ist der Inhalt der Delirien heiterer Natur, oft werden die Kranken
aber auch von unangenehmen Hallucinationen, wie kleinen Thieren, schwarzen Männern
geplagt. Die subjectiven pneumonischen Erscheinungen treten dabei vollständig in den
Hintergrund und es ist deshalb stets genaue Untersuchung solcher Deliranten erforderlich.
Es gibt auch eine mehr depressive Form des alkoholischen Deliriums. Sie findet sich
namentlich bei allen geschwächten Trinkern; bei diesen geht die Schlaflosigkeit und Un-
ruhe sehr bald in ein Coma über, welches nur zu häufig zum Exitus letalis führt. Die
PNEÜMONIA CROUPOSA. 261
Prognose jeder Säuferpneumonie ist eine sehr ernste. Der Kräftevorrath des Patienten
wird durch die Anfülle stark verbraucht, die Constitution im allgemeinen und das Herz
insbesondere sind geschwächt, so dass die Patienten leicht unter den Zeichen des Collapses
und Lungenödems — namentlich während der Krise — sterben.
Die Kinder Pneumonie zeigt in sehr vielen Beziehungen wesentliche
Abweichungen von der Pneumonie Erwachsener. Sie ist deshalb Gegenstand
eines eigenen Artikels ,,Pneumonie)i im Kindesalter'-'' [s. d.).
Wenn sich, was übrigens nicht gerade häufig ist, sich eine Pneumonie zur
Lungentuberculose gesellt, so kann sie in schweren Fällen den Tod, bei
stationärem Lungenprocesse aber ein Wiederaufflackern derselben bewirken.
Bei Schwangeren hat eine schwere Pneumonie fast immer Abortus, zu-
weilen mit recht bedenklichen Blutungen zur Folge.
Ausgänge.
Der Ausgang der Pneumonie ist in den meisten Fällen die Resolution
mit nachfolgender Heilung, nur in einer Minderzahl von Fällen endet die
Pneumonie unter den Erscheinungen der Herzschwäche (Cyanose, Lungen-
ödem) tödtlich. Diesem raschen Ausgang stehen Pneumonien mit ver-
zögerter Resolution gegenüber. Während in der Regel die Resolution
in einer Woche beendet ist, bleibt manchmal die Dämpfung, das Bronchial-
athmen und auch das Knistern, bisweilen bei leichten Fiebererscheinungen
noch Wochenlang bestehen, um sich schliesslich nach und nach zurückzubilden.
Man trifft dies Verhalten öfters bei den Pneumonien alter oder vorher schon
kranker Leute; doch ist es unabhängig von der Schwere der eigentlichen
Erkrankung und scheint in manchen Epidemien häufiger zu sein.
Bei solch protrahirtem Verlauf kann es jedoch vorkommen, dass die
definitive Lösung ganz ausbleibt, dass ein leichter Entzündungszustand per-
sistirt, welcher die Eingangs erwähnten Veränderungen der Induration
und Lungenschrumpfung nach und nach hervorbringt. Auf diesem
Boden entwickelt sich leicht eine chronische Bronchitis, durch die Schrum-
pfung entstehen Bronchiectasien, zuletzt kommt es zur Einziehung der Inter-
Gostalräume, Verlagerung der Organe, kurz unvollständiger Heilung.
Zuweilen kommt es besonders bei schwächlichen und anderweitig kranken
Individuen zur Abscessbildung. Das Fieber nimmt an Stelle des Abfalls
«inen stark remittirenden Charakter an und am Ort der Erkrankung hört man
reichliches, feuchtes, grossblasiges Rasseln, eventuell mit stark tympanitischen,
seine Höhe bei Oeffnen und Schliessen des Mundes ändernden Schall. Der
Abscess kann sich durch eine granulirende Membran abgrenzen und der Ver-
kalkung anheimfallen. Häufig bricht er jedoch in einen Bronchus durch und
wird als eitriges, rahmartiges Sputum entleert oder er perforirt in die benach-
barte Pleurahöhle, einen Pyothorax oder Pneumopyothorax erzeugend.
Findet eine neue Infection des pneumonischen Herdes mit einem fauligen
Stoffe statt, so kann sich (besonders bei alten oder schwächlichen Individuen)
auch Lungen gangr an hinzugesellen. Charakteristisch für dieselbe ist
hauptsächlich das übelriechende, dreischichtige, reichliche, zuweilen Lungen-
fetzen enthaltende Sputum. Auch hiebei kann — ähnlich, wie beim Lungen-
abscess, aber viel seltener, — schliesslich doch noch eine Ausheilung erfolgen.
Ein Ausgang in Phthise (chronische Pneumonie, Tuberculose) wird
noch gewöhnlich in den Lehrbüchern aufgeführt. Gewiss kann eine Pneumonie
einen vorher Tuberculosen befallen und, wie jede schwere Krankheit, den
Anstoss zu einem schnellen Verlauf der Tuberculose geben. Ebenso ist es
denkbar, dass einmal eine tuberculose Infection gerade nach Ablauf einer
Pneumonie erfolgt. Aber, bei der grossen Häufigkeit der Pneumonie einer-
und der Lungentuberculose andererseits ist es zu verwundern, dass eine Com-
bination nicht schon zufällig viel häufiger vorkommt. Dieselbe ist aber geradezu
selten. Und daraus folgt, dass man keinen ursächlichen Zusammenhang,
262 PNEUMONIA CßOüPOSA.
keine Disposition der Pneumonie zur Tuberculose, ebenso wenig wie eine
solche der Tuberculose zur Pneumonie annehmen darf. Eher könnte man
daran denken, dass nicht ganz, aber bis zu einem gev/issen Grade beide Krank-
heiten sich ausschliessen.
Diagnose.
So leicht die Diagnose der Pneumonie bei ausgesprochenen typisch
verlaufenden Fällen ist, so schwierig kann dieselbe unter gewissen Umständen
werden. Die toxämischen Formen z. B. können bei Greisen und schwäch-
lichen Individuen so geringe Localerscheinungen machen, dass. die Diagnose
lange schwanken kann. Die „biliösen und typhösen" Lungenent-
zündungen können sehr wohl zur Verwechslung mit Typhus abdomi-
nalis führen und es sind in einem solchen Falle alle diagnostischen Hilfs-
mittel, wie Auftreten von Herpes einerseits, Eoseola andererseits, sowie die
zur Zeit herrschenden epidemischen Verhältnisse zu Käthe zu ziehen. Im
Kindesalter mag wohl auch die fliegende Röthe der Haut einmal eine Ver-
wechslung mit Scharlach verschulden. Dass Cerebrospinalmeningitis,
welche überdies öfters durch dieselben Bacterien bedingt ist, an Stelle der
Pneumonie diagnosticirt werden kann, wurde schon oben angedeutet. Nament-
lich bei einer schon bestehenden Epidemie von Cerebrospinalmeningitis liegt
diese Gefahr nahe. Die Symptome der Pneumonie werden sehr leicht durch
die viel auffälligeren Cerebralerscheinungen verdeckt. Dasselbe gilt auch für
das Delirium tremens der Potatoren.
Ferner kann eine acut verlaufende, tuberculose Lungenentzündung
mit ausgedehntem Befallensein eines Bezirkes zur Verwechselung mit croupöser
Pneumonie führen. Im allgemeinen wird hiebei der Fieber verlauf, welcher
bei Tuberculose deutlich remittirenden Typus zeigt, die Untersuchung des
Sputums, sowie die Anamnese den Ausschlag nach der einen oder anderen
Seite geben können. Besonders bei den Erscheinungen der „verzögerten
Resolution" muss man an diese Möglichkeit denken, da sich zuweilen die
scheinbare croupöse Pneumonie erst nach Wochen als ein tuberculöses Infiltrat
entpuppt.
Sehr schwer, zuweilen unmöglich ist die Unterscheidung zwischen
fibrinöser und katarrhalischer Pneumonie. Dies ist hauptsächlich bei
kleinen Kindern der Fall, bei denen man ja bekanntlich häutig sogar post
mortem, wenigstens makroskopisch nicht, sicher entscheiden kann, welche Form
der Pneumonie vorliegt. Gewöhnlich geht bei katarrhalischer Pneumonie
stärkere Bronchitis einige Zeit voran, das Fieber setzt nicht so plötzlich ein,
die Temperatur remittirt, man findet häufiger ein symmetrisches Befallensein
beider Lungen und mehr bronchitische Symptome, die Besserung der Er-
scheinungen erfolgt ohne Krisis. Doch können, wie aus der Schilderung der
abweichenden Formen des Verlaufes hervorgeht, auch diese Zeichen im
Stiche lassen.
Dieselbe Schwierigkeit, einer sicheren Entscheidung bietet manchmal die
Differentialdiagnose zwischen Pneumonie und Pleuritis. Im Beginn
der Erkrankung ist die Diagnose stets schwer. Wenn auch die Pleuritis
im Allgemeinen anders beginnt, als die Pneumonie: mit wiederholtem Frösteln
abwechselnd mit Hitzegefühl, mit langsamer und unregelmässiger Temperatur-
erhebung, geringem Husten und ohne charakteristisches Sputum, so kann
doch auch einmal die Pneumonie einen mehr allmäligen Anfang zeigen oder
auch die Pleuritis stürmischer einsetzen und es werden Verwechslungen
möglich sein, bis es zur Ausbildung der typischen, objectiven Zeichen kommt.
Diese haben wir ja bei der Pleuritis in dem Sitz und der Form der Dämpfung,
dem völlig dumpfen Schall derselben, der Abschwächung, respective dem Auf-
gehobeösein des Athemgeräusches und des Stimmfremitus, dem Vorhandensein
PNEÜMONIA CROüPOSA. 263
von Verdrängimgserscheinungen, während wir andererseits bei der Pneumonie
gewöhnlich einen tympanitischen Beiklang der Dämpfung, einen charak-
teristischen Auscultationsbefund, ein ebensolches Sputum und kein Verdrängungs-
erscheinungen haben. Nun kann es aber bei einer sehr ausgebreiteten und
derben Infiltration (einer „massiven" Pneumonie) zu einer solchen Ausdehnung
der Lunge kommen, dass sogar die Intercostalräume der kranken Seite etwas
verstrichen erscheinen, der Schall in der That auch bei palpatorischer Per-
cussion völlig absolute Dämpfung zeigt und eine gerade bei diesen Pneumonien
häufigere Verstopfung des grossen zuführenden Bronchus mit Gerinnseln die
Schallleitung vermindert, d. h. abgeschwächtes Vesiculärathmen und ver-
ringerten Stimmfremitus hervorbringt. Ein Hustenstoss treibt zuweilen den
Bronchialpfropf heraus, so dass man dann das Bronchialathmen hört, den
Fremitus fühlt; doch gelingt dies Experiment nicht immer. Auf den bacterio-
logischen Befund im Sputum darf man sich noch nicht recht verlassen, da
die Mikroben einerseits bei Pneumonie nicht immer zu finden sind, andererseits
aber auch im normalen Mundspeichel vorkommen. Dass die physikalischen
Verhältnisse äusserst complicirt werden, sobald es sich um eine recidivirende
Pleuritis handelt, deren Exsudat vielleicht höher oben in geringer Menge ab-
gesackt wird, während unten die Pleurablätter in Folge der früheren Ent-
zündung verwachsen sind, ist selbstverständlich. Ptecht schwierig ist auch
die Entscheidung der Frage, ob man es bei längerem Bestehen der Dämpfung
mit einer verlangsamten Resolution der Pneumonie oder mit einem be-
ginnenden complicirenden pleuritischen Exsudat zu thun hat. Ueberhaupt
steht weniger häufig in Frage, ob nur Pneumonie oder nur pleuritisches
Exsudat vorliegt, sondern es handelt sich meistens um die Entscheidung:
welche von beiden gleichzeitig bestehenden Erkrankungen ist die überwiegende
und für die Prognose, sowie für die Therapie die maassgebende ? Dies ist
z. B. häufig bei den metapneumonischen Empyemen der Fall. Wenn nach
der Krisis und einigen Tagen normaler Temperatur, sowie theilweisem
Rückgang der physikalischen Erscheinungen unregelmässiges oder starkes
Fieber einsetzt und sich die klaren Zeichen eines Ergusses ausbilden, so ist
die Entscheidung meist ohne weiteres nicht schwer. Wenn aber, wie es bei
Kindern häufig geht, die beiden Krankheiten allmählich in einander über-
gehen und die gewöhnlichen Zeichen des Exsudates, (intensive Dämpfung,
Aufhebung des Stimmfremitus und des Athmens) wie gewöhnlich bei Kindern
fehlen oder ungenügend ausgebildet sind, so gibt es nur ein Mittel um zur
sicheren Diagnose und Feststellung der Therapie zu gelangen: die Probe-
punction. Von dieser muss bei Pneumonien, welche in den an-
gedeuteten Richtungen zweifelhafte Erscheinungen und Ver-
laufsweisen zeigen, viel ausgedehnterer Gebrauch gemacht
werden. Dieselben sind auch wenn man in ein pneumonisches Infiltrat sticht,
ungefährlich, vorausgesetzt, dass man aseptisch vorgeht. Die Unterlassung
derselben in zweifelhaften Fällen der erwähnten Art, ist wegen der Ver-
säumnis der radicalen Therapie vor allem des Empyems, aber auch des se-
rösen Exudats ein grosser Fehler. Auch darf man sich bei einem negativen
Ausfall der Function — wenn die Symptome persistiren — nicht abhalten
lassen, dieselbe öfters zu versuchen, da der Ursachen, welche eine Verstopfung
der Spritzenöffnung herbeiführen, zu viele sind.
Prognose.
Diese ist für die Mehrzahl der Fälle eine günstige. An einfacher, nicht
complicirter Pneumonie hat das Kindesalter mit Ausnahme des 1. Lebens-
jahres, fast gar keine Sterblichkeit, das kräftige Alter eine nur geringe,
dagegen ist das höhere Alter, „das Alter der Abnutzung" (Jüegensen) sehr
gefährdet. Von grosser Wichtigkeit für die Prognose ist der jeweilige
264 PNEUMONIA CEOüPOSA.
Charakter der zur Zeit herrschenden Epidemie, in dem die einzelnen Fälle
innerhalb eines bestimmten Zeitabschnittes, oft eine merkwürdige Ueber-
einstimmung in der Art des Verlaufes darbieten.
Im Einzelfalle kann ein ungünstiger Ausgang durch die verschiedensten
Ursachen bedingt sein. In den ersten Tagen kann durch eine excessiv hohe
Temperatur, also die Schwere der Infection der Tod herbeigeführt werden.
Ferner liegt eine ernste Gefahr in dem Befallensein grosser Lungenabschnitte
durch die Verkleinerung der respiratorischen Fläche und Kohlensäureintoxi-
cation. Die weitaus häufigste Todesursache bei der Pneumonie ist die Herz-
schwäche. Die Gefahr ist natürlich noch grösser, wenn das Herz aus
irgend w^elchen Gründen schon vorher geschwächt ist, wie dies bei alten
Leuten, schlecht genährten Individuen, Potatoren, bei Fettleibigen mit Adipositas
cordis, bei Leuten mit Herzkrankheiten im weitesten Sinne des Wortes der
Fall ist. Ebenso bieten Complicationen mit anderen Leiden, namentlich
solchen der Lunge, wie Emphysem, chronische Bronchitis, Nephritis stets eine
ernste Prognose. Von hervorragender Bedeutung sind die Gefahren der
Allgemeininfection bei den toxämischen Pneumonien.
Die einzelnen Symptome können prognostisch sehr verschiedene
Bedeutung haben; es handelt sich hauptsächlich darum, sie im Zusammen-
hange mit dem gesammten Krankheitsbilde zu verwerthen. So sind starke
Cerebralerscheinungen bei stürmischem hohem Temperaturanstiege oder plötz-
lichem tiefem Abfall, z. B. bei Kindern nicht bedenklich, während sie sonst,
namentlich bei massigem Fieber oder bei älteren Leuten zu den bedenklichen
Zeichen gehören. Eine hohe Pulsfrequenz ist bei hohem Fieber natürlich, ebenso
findet sich bei sehr starker Ausdehnung des Exsudates, bei Wanderpneumonie
oft ein kleiner frequenter Puls, welcher — obwohl vielleicht 140 Schläge
betragend — an sich nicht prognostisch schlecht zu nennen ist, da er in der
geforderten Mehrarbeit des Herzens seine Erklärung findet. Eine üble Vor-
bedeutung bietet vielmehr besonders die Incongruenz zwischen Temperatur
und Puls, namentlich wenn die Frequenz des letzteren von Tag zu Tag
zunimmt, ohne dass Temperatur oder Infiltration diese Zunahme erklären.
Sehr wichtig für die Prognose ist die Eegelmässigkeit des Pulses; zur Zeit
der Krise tritt jedoch häufig Irregularität ein, ohne dass man diese Er-
scheinung ernst zu nehmen hätte. Kleinerwerden des Pulses bei der In-
spiration oder Unzählbarkeit desselben macht die Prognose unbedingt schlecht.
Von sehr übler Vorbedeutung ist selbstverständlich auch der Eintritt von
Lungenödem. Ein Zeichen grosser Schwäche ist mangelnder Husten bei
nachweisbarer, starker Secretabsonderung, ferner sind blutreiche, flüssige Sputa
ein ungünstiges Omen. Blässe, Cyanose, kalte Schweisse, profuse Diarrhoen,
inspiratorisches Nasenflügeleinziehen, Tracheairasseln, Coma sind Zeichen des
nahen Todes. Die Prognose der im Gefolge der Pneumonie auftretenden
Complicationen, der verschiedenen Arten des abnormen Verlaufes und der
Ausgänge ist schon in den betreffenden Abschnitten besprochen.
Therapie.
Da wir über ein Mittel, welches die Lungenentzündung selbst direct
günstig beeinflussen könnte, nicht verfügen, so muss unsere Therapie eine
rein symptomatische sein. Wenn auch die Mehrzahl der Pneumoniefälle ohne
eingreifende Behandlung günstig verläuft, so bietet sich dem behandelnden
Arzte doch eine sehr dankbare Aufgabe, wenn er durch zweckmässiges Han-
deln den Organismus gegen die Wirkungen der Krankheit widerstandsfähiger
macht, oder wenn er durch sorgfältige Beobachtung das Drohen einer Gefahr
schon frühzeitig erkennt und derselben rasch begegnet. Eine ausschliesslich
exspectative Behandlung dürfte daher nur für wenige Fälle passend sein.
PNEÜMONIA CROUPOSA. 265
Stets hat der Arzt auf Bettruhe zu dringen. In weitaus den meisten
Fällen ist ja das Krankheitsgefühl so ausgesprochen, dass sich die Patienten
von selbst legen, aber bei den Pneumonien der alten Leute, sowie den Säufer-
pneumonien ist es nicht zu selten, dass die Kranken umhergehen. Die Pa-
tienten sollen so lange das Bett hüten, bis nach der Entfieberung die ört-
lichen Erscheinungen ganz zurückgegangen sind. Eine Ausnahme kann man
eintreten lassen, wenn sich die Dämpfung nach mehreren Wochen noch nicht
zurückgebildet hat und kein Fieber besteht. Es tritt in solchen Fällen nach
dem Umhergehen zuweilen eine raschere Resorption ein. Bei starker Dyspnoe
ist namentlich auch darauf zu achten, dass beim Aufrechtsitzen der Ober-
körper und auch der Kopf des Patienten eine gute und bequeme Unter-
stützung in den Kissen finden. Selbstverständlich ist die Sorge für frische,
möglichst reine Luft durch ausgiebige Ventilation des Zimmers. Solange
der Patient fiebert, braucht man den Zug durchaus nicht zu scheuen. Erst
bei starker Schweisssecretion und nach der Entfieberung ist es wünschenswerth,
den Patienten hievor zu schützen. Womöglich soll auch eine thunlichst aus-
reichende Ernährung durch schmackhafte, kräftige Kost angestrebt werden,
um den Körper widerstandsfähig zu erhalten. Es ist selbstverständlich, dass
man sich nach dem Appetit einer- und nach der Toleranz des Magens an-
dererseits richten muss und keine schweren Speisen oder grosse Mengen ein-
verleiben wird. Doch muss man stets versuchen, unbegründeten Widerstand
gegen die Nahrungsaufnahme durch Vielgestaltigkeit des Angebotenen und
Ausdauer im Anbieten zu überwinden. Bei völliger Anorexie oder sehr schweren
Krankheitszustand ist Milch das beste Nahrungsmittel. Kinder biete man
dieselbe stets vor dem sehnlichst verlangten Wasser an und reiche letzteres
gleichsam als Belohnung. Ptcichliches Wassertrinken ist nicht nur erlaubt, son-
dern geboten. Bei starker Dyspnoe muss man Flüssigkeiten in kleinen Por-
tionen vorsichtig geben, damit sich der Kranke nicht verschluckt. Auch auf
die Mundpflege ist, wie bei jeder fieberhaften Krankheit zu achten; die-
selbe ist auch deshalb von Nutzen, weil die Kranken viel leichter Nahrung
zu sich nehmen.
Die Hauptaufmerksamkeit verdient in jedem Falle von Pneumonie die
Beschaffenheit des Herzens. Was geschehen kann, um dieses zu entlasten
oder zur Leistung seiner Mehrarbeit tauglicher zu machen, soll geschehen.
Diese Aufgabe fällt mit der Forderung einer Prophylaxis gegen Herzschwäche
zusammen. Anzeigen für die Behandlung können von Seiten des Herzens
durch anhaltendes hohes Fieber, durch die Zeichen schwerer Allgemeininfection
und durch Erkrankungen anderer Organe geliefert werden. Da hohe Tem-
peraturen das Herz ungünstig beeinflussen, so wird man gegebenen Falls Sorge
für eine Herabsetzung des Fiebers zu tragen haben. Am besten und
zweckmässigsten wird eine massige, langsame Antipyrese durch die Bäder-
behandlung hervorgebracht. Bei Kindern, deren Herz sehr leistungsfähig
ist, kommt man in normal verlaufenden Fällen mit kalten Einwicklungen aus.
Beabsichtigt man stärkere Wärmeentziehung, so muss die Einpackung alle
10 Minuten wiederholt werden. Nach Ablauf einer Stunde wird das Therfno-
meter befragt, ob aufzuhören oder noch fortzufahren ist. Geht die Körper-
wärme anhaltend über 40*^ im Rectum hinaus, so ist wie bei Kindern so auch
bei Erwachsenen, sobald die Grenze erreicht wird, das Baden dringend zu
empfehlen. In der Regel kommt man mit lauen oder langsam abgekühlten
Bädern nach meiner Erfahrung aus. Die lauen Bäder haben eine Temperatur
von 25—30"^ C (20—24° R.j und dauern am besten so viel Minuten als Re-
aumurgrade genommen werden. Noch besser sind die allmählig abge-
kühlten Bäder, bei denen man mit 30— 33° C (24—260 r) beginnen kann
und durch Zugiessen von kalten Wasser während des Badens die Temperatur
bis 20'^ C (16° R.) und darunter erniedrigt. Das Bad dauert, je nachdem so
266 PNEUMONIA CROÜPOSA.
viel Minuten als die mittlere oder End-Temperatur des Bades Keaumur-Grade
anzeigt. In letzterer Weise badet man am besten auch Greise, schwächliche
Leute, Kranke mit chronischen Affectionen der Lunge und des Herzens, na-
mentlich auch Fettleibige, welche kalte Bäder in der Kegel weniger gut, ver-
tragen. Bei diesen Patienten die nicht so hoch zu fiebern pflegen, wie kräftige
Individuen, soll man schon bei niedereren Temperaturen (etwa um 39" C)
mit Bädern beginnen. Früh Morgens erzielt man anhaltendere Remission
als später. Im allgemeinen darf man die Bäder bis zu 3 — 4 mal täglich
wiederholen. Sehr kalte Bäder bis zu 10° C und darunter von höchstens
10 Minuten Dauer thut man gut, bei Hyperpyrexie anzuwenden und
dann öfter, eventuell 5,6 und mehrmals in 24 Stunden zu wiederholen. Dieselben
Bäder oder laue Bäder mit kalten Uebergiessungen passen bei den toxae-
mischen Pneumonien. Jede rationelle Bäderbehandlung setzt eine genaue
2 stündige Bestimmung der Temperatur im Rectum und eine regelmässige
Beobachtung der Temperaturherabsetzung ^/g — 1 Stunde nach dem Bad vor-
aus. Nur so ist eine richtige Auswahl unter den Methoden
der Wasser-Antipyrese im einzelnen Falle zu treffen, üeberwa-
chung des Pulses, Verabfolgung von Alkohol während und nach dem Bade,
Abreibungen darnach sind selbstverständliche Vorsichtsmassregeln zur Verhü-
tung von Collapsen.
Ausser den Bädern verfügen wir noch über interne Mittel zur Antipyrese.
Es ist in erster Linie das Äntipyrin zu nennen, welches zweckmässig zunächst
in einer Probedosis von 0*5 zu geben ist, um zu sehen, wie es vertragen
wird. Wird es gut vertragen, so kann man 1*0 in stündlichen Intervallen
bis 3 mal hintereinander geben, eventuell auch 2-0 und eine Stunde später
1"0. Eine erneute Darreichung am selben Tag hängt von der Tempera-
tur und dem Puls ab. Bei Kindern unter 10 Jahren gibt man soviel Deci-
gramme, als dasselbe Jahre zählt. Das Phenacetin kann bei Erwachsenen
in Dosen von 0-5, nach einer Stunde wiederholt, womöglich nicht über 4*0
im Tag verwendet werden. Acetanüid wird am besten in einer Dosis von
0'25 gereicht, welche man eventuell nach der ersten und zweiten Stunde
wiederholen kann. 2-0 im Tag soll man ohne Noth nicht übersteigen. Kindern
gibt man soviel Centigramme von Acetanilid, als sie Jahre zählen. Nur wenn
der Erfolg sehr gering ist und man keine Vergiftungserscheinungen beobach-
tet, darf man um 1 cg steigen. Das Chinin, welches ein langsameres, aber
nicht so sicheres Absinken der Temperatur, wie die drei oben genannten, zur
Folge hat, wird zweckmässig Abends in Dosen von 1 — 2*0 bei Erwachsenen
gegeben; Kindern verabreicht man 1 bis 2 Decigramme für jedes Lebensjahr.
Die übrigen, neueren Fiebermittel haben vor den Genannten mindestens keine
Vorzüge.
Die Antipyretica in grossen Dosen haben die Eigenschaft, die Tempera-
tur sehr rasch herabzusetzen und können dadurch die Gefahr eines Collapses
nahe rücken. Am wenigsten wird das Chinin von diesem Vorwurf betroffen.
Sehr häufig steigt auch nach der medicamentösen Entfieberung die Tempera-
tur unter lästigem Frost wieder rascher an, als nach dem Bad. Deshalb hat
man bei der Verabreichung der Antipyretica stets eine Probedosis voran-
zuschicken, die Wirkung durch Messungen zu controliren und das Herz (Cya-
nose) genauestens zu überwachen; denn man hat zuweilen schon nach kleinen
Gaben namentlich zur Zeit der zu erwartenden Krise Herzschwäche auftreten
sehen.
Unter derartigen, bei der Verabfolgung jeden differenten
Arzneimittels eigentlich selbstverständlichen Vorsichtsmass-
regeln ist, was gegenüber mehrfach ausgesprochenen Bedenken ausdrücklich
hervorgehoben werden muss, die arzneiliche Antipyrese zumeist ohne Gefahr.
Sie ist aber auch von entschiedenem Nutzen. Derselbe besteht, abgesehen von
PNEUMONIA CROUPOSA. 267
der Herabsetzung der Temperaturerhöhung, in der Beruhigung des Nervensy-
stems und der Besserung des subjectiven Befindens. Durch Antipyrin
entfieberte Kinder mit Lungenentzündung sah ich in den fie-
berfreien Intervallen aufstehen und auf die Strasse laufen.
Die Bäderbehandlung hat aber entschiedene Vorzüge vor
der arzneilichen Antipyrese. Sie hat ausser der Temperaturerniedri-
gung eine anregende Wirkung auf die Circulation, die Kespiration und Ex-
pectoration, sowie auf das Centralnervensystem. Eine beruhigende Wirkung
auf das Gehirn (Schlaf) folgt derselben gewöhnlich nach. Besserung des Appe-
tites in der fieberfreien Zeit erleichtert die nothwendige Nahrungsaufnahme.
Der Werth der antipyretischen Behandlung überhaupt
ist ein unzweifelhafter. Dies ist seit Jükgensen's *) überzeugenden
Darlegungen wiederholt hinlänglich erwiesen worden.
Ein Nachtheil der Bäder ist — namentlich bei Erwachsenen — die Um-
ständlichkeit und das immerhin grosse Aufgebot von Pflegekräften; denn es
ist eine Hauptsache, dass die Kranken durch das Bad nicht körperlich an-
gestrengt, dass sie ins Bad gehoben und im Bad gut gestützt werden, was
namentlich für die asthenischen Pneumonien gilt. Aus diesen Gründen wird
man öfters in der Privat-Praxis von den Bädern Abstand zu nehmen genö-
thigt und sich bei sorgfältiger Individualisirung mit den gebräuchlichen An-
tipyreticis behelfen müssen. Eventuell kann man auch beide Methoden
verbinden.
Eine directe Verkürzung und günstigere Gestaltung des Krankheits-
verlaufs ist zwar im einzelnen Falle nicht sicher zu erkennen. Aber die
Besserung des subjectiven Befindens, des Appetits und Schlafs und die An-
regung der Circulation, Kespirations- und Nerventhätigkeit wirken offenbar
zusammen, um die Gesammtresultate der antipyretischen Behandlung
gegenüber der Nichtberücksichtigung des Fiebers wesentlich zu verbes-
sern. (Vgl. die statistischen Ergebnisse aus meiner Poliklinik: Münch. med.
Wochenschr. 1890. 36.)
Ein hervorragendes Mittel zur prophylactischen Bekämpfung der Herz-
schwäche bietet uns der Alkohol. Am besten gibt man denselben von
Anfang an und zwar als leichten Rothwein für Erwachsene 72 bis 1 Liter täg-
lich. So hat der Patient, was in der Privatpraxis wichtig ist, für den etwaigen
Fall von Herzschwäche das Reizmittel gleich zur Hand. Für Kinder genügen
natürlich geringere Mengen oder man kann [die regelmässige Verabfolgung
von Wein, etwa vom 5. Lebensjahre ab, wohl auch ganz entbehren. Bei
der Bäderbehandlung wird der Alkohol 1 — 2 Esslöffel Wein und mehr, vor
und nach jedem Bade direct nothwendig. Stellen sich Zeichen von Herz-
schwäche ein, so müssen schwerere Weine, wie Ungarweine, Rheinwein,
Frankenwein, dann Sherry, Portwein, Marsala oder Sect verordnet werden.
Diese Medication ist auch nöthig, wenn sehr kalte Bäder genommen werden.
Fiebernde Kranke vertragen grosse Mengen Alkohol ohne jeden Nachtheil.
Ist ein stärkeres Reizmittel am Platze, so hat man Rum oder Cognac mit
heissem, starkem Kaffee oder Thee zu gleichen Theilen (in Zwischenräumen
von 5—10 Minuten je 2— 3 Esslöffel der Mischung, bis etwa 8 Esslöffel ver-
braucht sind) empfohlen (Jüegensen). Potatoren muss man von Anfang
an grössere Mengen von stärkeren Alkoholicis geben und darf namentlich
zur Zeit der Krise nicht sparen.
Bei schnell eintretender Herzschwäche gibt man am besten
Aether oder Campheröl subcutan bis zu 5 Spritzen kurz nach einander.
*) Die neueste Arbeit dieses hervorragenden Forschers, die Behandlung der Lungen-
entzündungen in Penzoldt-Stintzing's Handb. der Therapie Bd. III. S. 397 u. ff. sei
an dieser Stelle besonders empfohlen.
268 PNEüMONIA CßOüPOSA.
In diesem Falle darf aber eine Injection vor Ablauf eines halben Tages nicht
mehr gemacht werden. Als guter Herzreiz ist auch eine kurze kräftige Abrei-
bung mit einem in sehr kaltes Wasser getauchten Frottirtuche angerathen
worden.
Sind die obigen Maassnahmen bei einer plötzlichen Störung der Herz-
thätigkeit geboten, so haben wir bei langsam beginnender Herzschwäche
oder bei Leuten, welche ein Eintreten derselben vermuthen lassen, noch andere
Mittel zur Bekämpfung derselben. Es sind dies die Digitalis- und Strophantus-
präparate. Man kann dieselben von Beginn der Erkrankung an prophylactisch
geben und wird bei vorsichtigem Vorgehen keinenfalls einen Schaden an-
richten. Gewöhnlich gebe ich Digitalis zu 0-5 bis l'O im Tag (bei früh-
zeitigen, gastrischen Symptomen als Clysma) bis entweder deutliche Wirkung
auf den Puls erzielt ist oder die beginnenden Nebenerscheinungen zum Aus-
setzen nöthigen. Die Digitalis hat einerseits die willkommene Eigenschaft
der langen Fortwirkung durch die Cumulation, andererseits die weniger an-
genehme, dass es ziemlich lange dauert, bis überhaupt eine Wirkung zu con-
statiren ist. Man kann sich eventuell dadurch helfen, dass man gleichzeitig
die rasch, aber auch nur kurze Zeit wirkende Tinctura strophanti gibt, bis
die Folgen der Digitalisdarreichung hervortreten. Von der Tinctura strophanti
allein (8 — 10 Tropfen 3mal täglich) habe ich ebenfalls gute Erfolge gesehen.
Wenn man auch auf eine sichere Wirkung dieser Herzmittel nicht rechnen darf,
so wird man sie mit Recht immer wieder und wieder versuchen. Dagegen
möchte ich von den grossen Digitalisdosen, welche einen specifischen Einfluss
auf die Krankheit selbst haben sollten, ebenso wie von Veratrin, Tartarus
stibiatus u. A. entschieden abrathen.
Der Äderlass, welcher früher allgemeine Anwendung fand, wird nur noch
sehr selten gemacht. Derselbe könnte bei Lungenödem, welches durch die
rasch wirkenden Herzreizmittel nicht mehr zu heben ist eventuell nützlich
sein. Doch ist die Wirkung immer nur eine vorübergehende, die nur end-
giltig wird, wenn gerade zufällig die Krise alsbald eintritt. Im übrigen ist
den Pneumonikern das Blut in der Ader nützlicher als ausserhalb der-
selben.
Von einzelnen Symptomen, deren Bekämpfung man anzustreben hat,
stehen im Vordergrunde die Hirnerscheinungen. Treten dieselben im
Anschlüsse an hohes stürmisches Fieber auf, so behämpft man dieselben am
besten mit kühlen Bädern, Begiessungen des Kopfes und Nackens mit möglichst
kaltem Wasser und in der Zeit zwischen den Bädern mit einem Eisbeutel.
Treten dagegen die Delirien bei gesunkener Körperwärme auf, 'oder haben
wir Unbesinnlichkeit mit Schlummersucht bei niederer Temperatur, kleinem,
frequentem oder schon irregulärem Pulse, so sind zunächst die starken Herz-
reizmittel indicirt. Sind in einem solchen Falle die Haut und die Extre-
mitäten des Kranken kühl, so kann man ein Bad von über Körperwärme mit
folgendem starkem trockenen Frottiren verordnen. Beim Delirium tremens
potatorum muss man ausser durch schwere Alcoholica auch durch Schlaf-
mittel (Chloralhydrat) Beruhigung zu schaffen suchen.
Die Schlaflosigkeit, welche die Patienten sehr quält, wird gewöhnlich
durch die antipyretische Behandlung vorübergehend beseitigt, eventuell genügt
auch ein kalter Umschlag anf den Kopf oder ein Eisbeutel. Nur im äussersten
Nothfalle greife man zu den Schlafmitteln (Morphium, Sulfonal, Chloralhydrat)
unter der Bedingung, dass die Bronchien nicht mit grösseren Mengen von
Schleim erfüllt sind und dass der Kranke unter Aufsicht bleibt.
Gegen die manchmal äusserst heftigen Seitenschmerzen, die ja auch
Schlaflosigkeit bedingen, wirken manchmal PßiESNiTz'sche Umschläge, oder
warme Kataplasmen manchmal wieder Eisumschläge gut. Auch trockene oder
blutige Schröpfköpfe werden empfohlen. Nur als Ultimum refugium bleibt
PNEIBIONIA LOBULARIS. 269
das Morphium. Das letztere ist auch bei starkem Hustenreiz, namentlich
bei Husten ohne Auswurf, zuweilen unentbehrlich. Man verwende es in kleinen
Dosen z. B. Abends 2 Gaben ä 0*005 in Zwischenräumen von einigen Stunden.
Vielfach verordnet werden auch Expectorantien, wie Ipecacacuahaninfus, Liquor
Ammonii anisatus, Flores Benzoes und dergl., sind aber bei wirklich gefähr-
licher Erschwerung der Expectoration leider ohne Wirkung.
Ausserdem hat der Arzt noch Sorge zu tragen für eine regelmässige
Stuhlentleerung; treten gleich zu Anfang profuse Diarrhoen auf, so muss man
dagegen einschreiten; massiger Durchfall namentlich gegen Ende der Er-
krankung hat nichts zu bedeuten.
Die Verhütung der croupösen Pneumonie ist schwierig, aber nichts-
destoweniger anzustreben. Da die Pneumonie eine Infectionskrankheit ist und
die Infectionserreger sich im Auswurf finden, muss man diesen in erster Linie
unschädlich zu machen suchen. Das Sputum der Pneumoniker muss, wie
jedes Sputum, in ein Gefäss mit Wasser und von da in den Abtritt ent-
leert werden. Das ist die einfachste, am leichtesten zu erreichende und daher
sicherste Massregel gegen die Weiterverbreitung der Krankheit. Der Einzelne
kann sich zu schützen suchen, indem er Pneumoniekranke sowie Wohnungen,
in denen häufig Pneumonien vorgekommen sind vermeidet, seine Mundhöhle
wegen des Vorkommens eines dem FßÄNKEL'schen gleichen Diplococcus daselbst)
möglichst rein hält und sich durch Abhärtung widerstandsfähiger zu machen
sucht. Penzoldt.
Pneumonie lobulariS {catarrhalis, Bronchopneumonie) ist charakterisirt
durch Infiltration umschriebener Theile der Lunge, deren Grösse innerhalb
weiter Grenzen, von Hirsekorn- bis zu Apfelgrösse, schwankt. Sie ist stets
ein secundäres Leiden, und schliesst sich an katarrhalische Affectionen
der Bronchien an. Aus den gröberen Verzweigungen der Luftröhre gelangen
Infectionserreger in die feinsten Aeste und von hier in die Alveolen, diese
in Entzündung versetzend. Der Process greift auf die benachbarten Lungen-
bläschen über, und gewinnt an Ausbreitung, während gleichzeitig an anderen
Stellen ähnliche Herde zur Entwicklung gelangen.
Unter den Ursachen der katarrhalischen Lungenentzündung ist zunächst
die einfache Bronchitis anzuführen. Da diese Affection hauptsächlich bei
schwäohlichen scrophulösen und rachitischen Kindern und
alten Leuten auftritt, stellen die genannten Altersstufen das grösste
Contingent für die vorliegende Krankheit. Erkältung spielt eine wichtige
Rolle in der Aetiologie der Lungenkatarrhe, ist mithin auch für die Bronch o-
pneumonie von grosser Bedeutung. In der kalten, rauhen Jahreszeit,
besonders in den Monaten December bis April ist eine Häufung der Krankheits-
fälle zu constatiren. »
Einige Infectionskrankheiten haben oft lobuläre Pneumonie im
Gefolge. Für Kinder kommen in erster Linie Masern und Keuchhusten
in Betracht, in zweiter Diphtheritis; Erwachsenen ist die seit 1889 in
einer Keihe von Epidemien über Europa hingezogene Influenza besonders
gefährlich. Nach Scharlach und Unterleibstyphus ist ebenfalls, wenn
auch relativ selten, katarrhalische Lungenentzündung beobachtet.
Ungünstige hygienische Verhältnisse, Aufenthalt in engen,
schlecht ventilirten und dumpfen Wohnräumen, sowie in staubreicher
Atmosphäre begünstigt ihr Auftreten unter den genannten Bedingungen.
Mitunter wird sie durch die Inhalation gewisser Staubarten (Metall-
Steinstaub) oder stark ätzender Gase (Chlor-, Ammoniakdämpfe)
direct hervorgerufen.
Pathologische Anatomie: Gewöhnlich werden multiple Herde von
wechselnder Grösse in einer oder beiden Lungen gefunden. Der Sitz der
270 PNEÜMONIA LOBULARIS.
Affection ist vorzugsweise, doch nicht ausschliesslich im Unterlappen, nach
Masern habe ich häufig ausgebreitete Bronchopneumonien in einem Ober-
lappen klinisch und auf den Sectionstisch gesehen, während die unteren
Theile frei waren.
Die erkrankten Lungenpartien sind luftleer, haben derbe, feste Con-
sistenz, und dunkelrothe bis graurothe Färbung. Die Schnittfläche ist glatt,
wenig prominent, und entleert auf Druck einen trüben, an gequollenen Epithe-
lien und lymphoiden Zellen reichen Saft. In ihrer Umgebung finden sich
atelectatische Stellen, welche gleichfalls dunkelrothe Färbung darbieten, aber
von bronchopneumonischen Herden dadurch unterschieden sind, dass sie ein-
gesunken erscheinen und bei Einblasen von Luft in die Bronchien sich wieder
ausdehnen, was bei letzteren nicht der Fall ist.
Die vorderen Lungenränder sind emphysematös gebläht, besonders bei
den im Anschluss an Tussis convulsiva auftretenden Bronchopneumonien.
Benachbarte lobuläre Herde können bei weiterem Wachsthum zusammen-
fliessen und dadurch grössere Infiltrate bilden. Auf diese Weise kommt es
gelegentlich zu über einen ganzen Lnngenlappen ausgebreiteten Infiltrationen.
Man spricht dann wohl von lobulärer Pneumonie „mit lohärer Ausbreitung.''
Die Schleimhaut der Bronchien ist geschwellt, ecchymosirt und im Be-
ginn der Erkrankung mit glasigem, zähem Schleim, in späteren Stadien mit
eitrigem Secrete bedeckt, welches bis in die feinsten Verzweigungen hinein
zu verfolgen ist.
Symptome: Der Anfang des Leidens ist ein allmäliger; die bestehende
Bronchitis nimmt an Heftigkeit zu, steigt in die feineren Bronchialäste herab
und gelangt so zu den Alveolen. Die Symptome des Beginnes sind daher
sehr unbestimmte. Das Fieber, welches bei schwerem Lungenkatarrh oft genug
bis zu 39 '^ beträgt, erfährt noch eine Steigerung bis 40*^ und darüber, wenn
das Lungenparenchym ergriffen wird; Husten, vorher ziemlich heftig, nimmt
wesentlich ab, dafür stellt sich eine erschwerte stöhnende Athmung ein. Die
Athmungsfrequenz, bei Bronchitis an und für sich vermehrt, erfährt eine
weitere Zunahme bis zu 60 — 70 Respirationen in der Minute; der Puls ist
schnell, bei Kindern 150 bis 200 Schläge in der Minute, kaum zählbar und
w^eich. Die Percussion ergibt zunächst gar keine Anhaltspunkte, da durch
die kleinen, in lufthaltiges Lungengewebe versprengten Infiltrationsheerde eine
Veränderung des Schalles in keiner Weise stattfindet. Ebenso weaig Auf-
klärung erlangt man durch die Auscultation; reichliche feinblasige Rassel-
geräusche im In- undExspirium, untermischt mit einzelnen, giemendenRhonchis,
welche das Athmungsgeräusch verschleiern, ist alles, was man hört, und dieser
Befund ist unter der Annahme einer capillären Bronchitis vollkommen zu er-
klären, enthält jedenfalls nichts für Infiltration des Lungengewebes charak-
teristisches. •
Wir sehen also, dass der Beginn des Leidens durch objective Symptome
fast gar nicht sich verräth; der erfahrene Arzt wird die Diagnose mehr aus
dem Gesammtbilde der Erscheinungen vermuthungsweise stellen, als mit
mathematischer Sicherheit beweisen können.
Die weitere Entwickelung hängt wesentlich von der Ausbreitung, welche
die Krankheit erlangt, ab, ist daher in einzelnen Fällen sehr verschieden.
Wenn ein schweres Grundleiden z. B. Typhus vorhanden, oder die Kranken
durch hohes Alter, langwierige chronische Erkrankungen u. s. w. von Kräften
gekommen, sind die Erscheinungen ganz zurücktretend, und nur eine ein-
gehende Untersuchung kann den Sachverhalt klar stellen.
In mittelschweren Fällen und bei Kindern pflegt dagegen das Krank-
heitsbild durchaus typisch zu sein.
Je grösser die lobulären Infiltrate in der Lunge werden, um so charak-
teristischer wird die Athmung verändert, um so mehr gleicht ihr Verhalten
PNEUMONIA LOBÜLARIS. 271
dem bei der croiipösen Pneumonie. Sie ist erschwert, die auxiliären Muskeln
treten in Thätigkeit, die Nasenüügel bewegen sich; die Zahl der Athemzüge
ist andauernd vermehrt, die Kranken sind nicht im Stande, die Respiration
auf längere Zeit zu suspendiren, sie vermögen daher auch nur kurz zu
schreien, und abgebrochen, die einzelnen Worte gleichsam mit Mühe hervor-
stossend, zu sprechen.
An der seitlichen Brustwand bemerkt man oft inspiratorische Ein-
ziehung der Intercostalräume. Sie ist verursacht dadurch, dass die
Luft in die unteren Abschnitte der Lunge nicht genügend einzudringen ver-
mag, und deshalb die Brustwand dem auf ihr lastenden Atmosphärendruck
nachgibt.
Husten ist häufig sehr quälend, er ist kurz, stöhnend, und fördert nur
ausnahmsweise etwas Secret zu Tage.
Die Gesichtsfarbe der Kranken, bei Bestehen einer fieber-
haften Bronchitis geröthet, wird nach Ausbildung von Verdichtungsherden
in der Lunge blass, wachsbleich und erhält einen cyanotischen Schimmer.
Sie ist so charakteristisch, dass man solchen Patienten die Diagnose vom
Gesicht herunterlesen kann.
Jetzt liefert die Percussion gewöhnlich auch schon positive Piesultate.
Haben die Infiltrate im Unterlappen sich etablirt, so erscheint der Schall
unten eventuell zu beiden Seiten der Wirbelsäule weniger hell, und lässt
einen tympanitischen Beiklang erkennen. Dumpfer Schall tritt erst auf, wenn
das Infiltrat eine Ausdehnung von 4 — 5 cm in allen Durchmessern erlangt hat.
Durch die Auscultation sind gleichzeitig scharfes Bronchialathmen
und spärliche klingende Rasselgeräusche zu constatiren.
Die Temperatur ist andauernd erhöht, zeigt aber kein so regel-
mässiges Verhalten wie bei der croupösen Lungenentzündung, sondern re-
mittirenden Charakter, wobei bedeutende Exacerbationen und tiefe Remissionen
ganz unregelmässig mit einander wechseln. Einer Ausbreitung des Processes
entspricht gewöhnlich eine rapide Steigerung derselben.
Verlauf, Dauer, Ausgänge: Die Krankheit dauert mindestens 2 bis 4
Wochen, kann aber auch über mehrere Monate sich hinziehen. Man hat
danach eine acute von einer subacuten, resp. chronischen Form unter-
schieden. Der Repräsentant für erstere ist die im Gefolge von Masern, für
letztere die bei Keuchhusten auftretende Bronchopneumonie.
Die acute Form ist durch höheres Fieber und stürmische Entwicke-
lung aller Merkmale ausgezeichnet, in den günstig verlaufenden Fällen endet
sie unter lytischem Abfall der Temperatur und allmählichem Erlöschen der
Lungensymptome mit völliger Genesung. Letaler Ausgang tritt auf der Höhe
der Krankheit unter zunehmender Cyanose durch Lähmung der Athmung ein,
nachdem oft Coma, Krämpfe, kurz ein an tuberculöse Gehirnhautentzündung
erinnerndes Krankheitsbild entstanden war. Auch durch Herzlähmung kann
der Exitus herbeigeführt werden. Uebergang in Tuberculöse wird ebenfalls
nicht selten beobachtet.
Die chronische Form verläuft unter geringer Temperatursteigerung.
Ihre Entstehung ist oft so wenig prägnant, dass sie von den Angehörigen gar
nicht bemerkt, und erst durch die zunehmende Abmagerung und Blässe der
Kinder die Aufmerksamkeit auf ein schweres Leiden gelenkt wird. Der Aus-
gang ist nicht selten der Tod, häufiger noch chronische Lungenkrankheiten,
so Lungenschrumpfung mit Bronchiektasienbildung und Tuberkulose.
Diagnose: Die Entscheidung, ob zu einer diffusen, capillären
Bronchitis lobuläre Pneumonie hinzugetreten ist oder nicht, be-
reitet grosse Schwierigkeiten, in vielen Fällen ist sie schlechterdings unmöglich.
Auscultation und Percussion lassen zunächst im Stich, da kleine, inmitten
normalen Lungengewebes gelegene Infiltrationen dem physikalischen Nach-
272 PNEUMONIÄ LOBULARIS.
weise sich entziehen. Hohes Fieber kann auch bei uncomplicirter Entzündung
der feinen Bronchien bestehen, und die Dyspnoe erreicht bei Anhäufung von
Secret in denselben gleichfalls bedeutende Grade. Für solche Fälle ist es
also rathsam, die Unsicherheit der Diagnose offen zuzugeben und der weiteren
Beobachtung die Entscheidung vorzubehalten.
Wo die Bronchitis weniger acut eingesetzt, mithin auch weniger beun-
ruhigende Symptome hervorgerufen hat, markirt der Eintritt von Verdichtungs-
vorgängen in der Lungensubstanz sich durch Ansteigen des Fiebers, der
Respirationsfrequenz und des Pulses. Es ist also die Diagnose mit grosser
Wahrscheinlichkeit zu stellen, wenn vom Beginn der Erkrankung eine genaue
und sorgfältige Beobachtung des Patienten stattgefunden hat.
Ist bei weiter vorgeschrittener Erkrankung der Nachweis einer Dämp-
fung gelungen, so kommt differentialdiagnostisch die Unterscheidung
von croupöser Pneumonie hauptsächlich in Betracht. Die Art und
Form der Dämpfung liefert dafür Anhaltspunkte; bei letzterer ist ausgespro-
chen dumpfer Schall vorhanden, dessen Grenzen dem Umfange eines Lungen-
lappens entsprechen, bei der lobulären Entzündung ist die Dämpfung weniger
intensiv, mitunter beiderseits nachzuweisen, ihre Umgrenzung unregelmässig,
nicht anatomisch präformirten Gebilden folgend. Noch wichtiger ist die
Berücksichtigung der Entstehung und des Verlaufes der Krankheit. Bei der
croupösen Pneumonie plötzlicher Beginn mit Schüttelfrost und hoher
Temperatursteigerung bei einem bis zu diesem Zeitpunkt gesunden Menschen,
continuirliches Fieber, kritische Beendigung nach 3 — 5 — 9 Tagen; für die
katarrhalische Lungenentzündung allmähliches Entstehen aus einer
Bronchitis, nach einer Infectionskrankheit, unregelmässige Temperaturcurve,:
lytischer Abfall.
Die Unterscheidung von ausgebreitetenLungenatele et äsen
ist nur ausnahmsweise von praktischer Wichtigkeit. Auch diese verursachen
Dämpfung des Schalles und geben Anlass zu Athembeschwerden. Dagegen
wird Fieber bei ihnen vermisst und nach forcirten, tiefen Athemzügen erfährt
der physikalische Befund eine wesentliche Aenderung.
Chronisch verlaufende Bronchopneumonie kann mit Tub er culose ver-
wechselt werden. Die Anfänge der letzteren sind gewöhnlich auf die Lungen-
spitzen beschränkt, so dass bei deren Integrität das Bestehen dieser deletären
Krankheit nicht wahrscheinlich ist. Sicherheit bietet nur die Untersuchung
des Auswurfs auf Kocn'sche Bacillen; leider ist die Erlangung von
Sputum bei Kindern mit grossen Schwierigkeiten verknüpft. — Im übrigen
muss daran erinnert werden, dass Tuberculose von chronisch verlaufenden
Lobulärpneumonien nach Masern und Keuchhusten zuweilen ihren Ausgang
nimmt.
Die Prognose ist stets ernst zu stellen; die Mortalität wird auf 15 bis
50°/o angegeben. Die Aussichten sind umso schlechter, je jünger das Indi-
viduum, je geschwächter es durch das vorausgegangene Leiden oder durch
constitutionelle Krankheiten (Scrophulose, Rachitis etc.) ist und eine je grössere
Ausdehnung die Affection angenommen hat. Kinder unter einem Jahr stellen
das grösste Contingent an Todesfällen, demnächst alte, decrepide Leute, bei
welchen nur zu oft eine finale Pneumonie die Scene beschliesst.
Der Uebergang in Tuberculose ist, wie erwähnt, häufig beobachtet und
sehr verhängnisvoll.
Therapie: Eine sachgemässe Prophylaxe vermag viel zur Vermin-
derung der vorliegenden Krankheit beizutragen. Zunächst hat dieselbe gegen
das Entstehen von Bronchitis sich zu richten. Durch Aufenthalt in
überfüllten, schlecht ventilirten Zimmern wird der Keim hierzu geschaffen,
welcher bei Bestehen krankhafter Diathesen auf fruchtbaren Boden fällt. Man
sorge daher für gute Luft in den Wohn- und Schlafstuben, lasse
PNEUMONIEN IM KINDESALTER. 273
die Kinder ins Freie oder wo letzteres, wie leider in grossen Städten häufig,
nur in beschränktem Maasse möglich ist, verschaffe man ihnen wenigstens im
Sommer den Genuss reiner Luft durch mehrmonatlichen Aufenthalt
auf dem Lande, im Walde oder an der See. Das Institut der Ferien-
kolonien, welches zur Zeit in vielen, grösseren Städten besteht und schwäch-
lichen Kindern der ärmeren Bevölkerung während der Ferienzeit eine Zuflucht
auf dem Lande gewährt, verdient in dieser Beziehung alle Anerkennung und
kann dem Wohlwollen begüterter Menschen nicht dringend genug empfohlen
werden.
Uebertriebenes Warmhalten gesunder Kinder ist verwerflich,
dagegen eine zweckmässige, vorsichtige Abhärtung anzurathen, um sie
gegen die in unseren Breiten zumal im Frühjahr und Herbst jähen Tem-
peraturdifferenzen unempfänglich zu machen.
Besteht eine fieberhafte Bronchitis, so halte man die Kinder im Bett
und sorge für gleichmässige Temperatur und gute Lüftung des Kranken-
zimmers, welches möglichst gross und den Sonnenstrahlen zugänglich sein
soll. Vorsicht ist auch bei verschleppten, fieberlosen Bronchialkatarrhen anzu-
empfehlen, da durch eine Erkältung, welcher die Träger derselben besonders
leicht zugänglich sind, Exacerbation der Krankheit und damit Gefahr des
Uebergreifens auf die Lunge auftritt.
Wenn eine Bronchopneumonie nachgewiesen oder wahrscheinlich ist,
muss strenge Bettruhe eingehalten werden. Die Luft im Zimmer ist durch
Aufstellen von Schüsseln mit warmem Wasser, durch Aufhängen von nassen
Tüchern u. s. w. feucht zu erhalten, was zur Erleichterung der Expectoration
beiträgt. Tägliche lauwarme Bäder von 15 bis 20 Minuten Dauer regen
zu kräftigen Athemzügen an, durch kurz dauernde kalte Uebergiessungen
besonders der Nackengegend während derselben können die Respirationen
krampfhaft gesteigert werden. Nach Beendigung des Bades lege man grosse,
hydropathische Umschläge um den Thorax, welche, sobald sie
trocken werden, zu erneuern sind.
Von Arzneimitteln sind Expectorantien, Inf. rad. Ipecacuanhae 0'4 : 100' 0;
Decoct. rad. Senegae 8-0: 200-0; Syrupus Älthaeae u. a. am Platze; wenn sehr
hochgradige Dyspnoe besteht, kann man durch einmalige Verabreichung eines
kräftigen, sicher wirkenden Brechmittels (Apomorphin. hijdrochloricum 0'002
bis 0-005 subcutan) eine ausgiebige Entleerung der Bronchien bewirken.
Im übrigen muss versucht werden, durch sorgfältige, reichliche Ernäh-
rung die Kräfte der Kranken zu stählen; schwere Weine (Ungar-, Portwein)
in massigen Gaben sind stets zu verabreichen, andere Excitantien (Campher)
nur, wenn Herzschwäche droht, dann aber in dreisten Dosen (0-1 bis 0-2 zwei-
bis dreistündlich oder subcutan mehrere Spritzen von Olei camphorati S'O,
Aetheris sulfurici 2-0).
Bei verzögerter Reconvalescenz erzielt man durch einen viertel- bis halb-
jährigen Aufenthalt in einem klimatischen Curort mit milder, reiner Gebirgs-
oder Seeluft die besten Erfolge.-'O Hilbert.
Pneumonien im Kindesalter. Cruveilhiers Ausspruch, dass ebenso
viele Neugeborene an Lungenerkrankungen sterben, wie Erwachsene, hat seine
volle Berechtigung. Die auffallende Häufigkeit der Lungenentzündungen in
den ersten Lebenswochen erklärt sich zum Theil wenigstens aus gewissen
anatomisch - physiologischen Eigenthümlichkeiten der Ath-
mungsorgane der Neugeborenen. (N. Müller). Anzuführen sind hier
die relative Dünnwandigkeit der Bronchien, der Mangel an elastischen Fasern
und die damit in Zusammenhang stehende Neigung der Bronchialwandungen
*) Vergl. Artikel „Klimato-Therapie^',
Bibl. med. Wisaenschaften. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. lö
274 PNEUMONIEN IM KINDESALTER.
sich aneinander zu legen. Die Entfaltung der relativ sehr kleinen Lungen-
alveolen ist hierdurch erschwert und der Atelectasenbildung wird Vorschub
geleistet; um so leichter, als die Kinder die erste Zeit ihres Lebens con-
stant die Rückenlage einnehmen, und häufig noch der Thorax durch been-
gende Wickelbänder etc. in seinem Athembewegungen beeinträchtigt wird.
Die Athmung des Neugeborenen ist eine sehr oberflächliche. Oft treten
sogar Athempausen mit völligem Stillstand der Athmung ein. Die Erwei-
terung des Thorax erfolgt anfangs nur in der Längsrichtung durch die Excur-
sionen des Zwerchfells. Die Entfaltung der unteren Lungenlappen, namentlich
des rechten geht erst dann in genügend ausgiebiger Weise vor sich, wenn
sich der Leberumfang verkleinert und das Zwerchfell die Leber nach unten
drückt (etwa nach der 3. Woche!) Da das Lungengewebe ungemein zart und
vollsaftig, die Bronchialschleimhaut sehr blutreich, die Bronchien relativ eng
sind, so ist es erklärlich, dass es sehr oft zu entzündlichen Processen der
Luftröhrenschleimhaut kommt.
Wir pflegen die Bronchitiden auf ^^Erkältungen^'- zurückzuführen. Diesen
sind aber die Kinder im zartesten Lebensalter um so mehr ausgesetzt, als die
Entwicklung der schützenden Hautdecke noch ungenügend und die Wärmere-
gulirung durch dieselbe eine mangelhafte ist. Bronchitiden bilden aber, wie wir
später sehen werden, für die eigentlichen Kinderpneumonien ein sehr begünsti-
gendes Moment. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle handelt es sich um
„Inhcdations- resp, Aspirationspneumonien d. h. die in der Luft suspendirten Staub-
theilchen mit ihren specifischen Krankheitserregern werden eingeathmet.
Sie nisten sich in dem Lungengewebe ein und führen als Fremdkörper oder
als specifische Krankheitserreger zu Entzündungen der Lunge. Dies wird
um so leichter der Fall sein, wenn bei den Kindern die Athmung durch die
Nase erschwert oder gänzlich aufgehoben ist, die Kinder also gezwungen
sind, mit offenem Munde zu athmen. In solchen Fällen gelangt die kalte,
trockene, „verunreinigte" Luft „unfiltrirt" in die Trachea resp. die feine-
ren Bronchien. Analoge Verhältnisse liegen bei tracheotomirten Kindern
vor. Nur kommt hier noch als wesentlich begünstigendes Moment für die
so häufig sich entwickelnden Lungenentzündungen die directe Infection der
Luftwege durch das Herabfliessen und das Aspiriren der Wundsecrete etc. nach
dem tieferen Theile der Lunge zu mit in Betracht. Bei der allgemeinen
Schwäche der Kinder in den ersten Lebenswochen und bei ihren mangel-
haften Exspirationsbewegungen ist die Herausbeförderung dieser mechanisch
oder specitisch wirkenden Entzündungserreger eine völlig ungenügende. Die
Erregbarkeit der Hustencentren scheint überdies bei Neugeborenen herab-
gesetzt zu sein. Ja bei zu früh geborenen oder an allgemeiner Lebensschwäche
leidenden Kindern fehlt dieselbe unter Umständen ganz. Pneumonien können
aber auch schon intrauterin ;,aspirirt" werden. Bei vorzeitigen Athem- und
Schluckbewegungen können Fruchtwasser, Schleimmassen etc. in die Trachea
und die tieferen Athmungswege gelangen und so fast immer tödtlich verlaufende
Lungenentzündungen verursachen. An Schluckpneumonien gehen mit Vorliebe
auch die elenden und dürftig entwickelten Neugeborenen zu Grunde. Bei dem
Einflössen der Nahrung gelangen durch Verschlucken nicht nur Milch u. dgl.
in die Lunge, sondern mit der Nahrung auch pathogene, sowie nicht patho-
gene (Soorpilze, Schimmelpilze u. s. w.) Mikroorganismen. Ausnahmsweise
können auch indirect durch die im Blute circulirenden Infectionserreger
Lungenentzündungen bedingt und hervorgerufen werden. Experimentell ist
der Beweis geliefert worden, dass nach subcutaner Einspritzung von Pneumo-
coccen bei Thieren specifische Lungenentzündungen künstlich erzeugt werden
können. Es liegt aber keine einzige, verbürgte klinische Beobachtung vor,
dass beim Menschen nach Eindringen von Pneumococcen in eine Wunde oder
eine der Epidermis entblösste Hautstelle eine Lungenentzündung aufgetreten
.PNEUMONIEN IM KINDESALTER. 275
wäre. Diesen Entstehungsmodus müssen wir aber für die meisten extrauterin
entstandenen septischen Lungenentzündungen acceptiren. Gewöhnlich ge-
langen von der Nabelwunde aus die Entzündungs- und Eitererreger in den
Lymph- und Blutstrom und diese bilden somit indirect die Veranlassung
schwerer, gewöhnlich tödtlich verlaufender Lungenentzündungen.
Die intrauterin entstandenen Lungenentzündungen sind mit Aus-
nahme der oben erwähnten Schluckpneumonien entweder auf eine „erbliche
Uebertragung" — Vorgänge, die noch sehr der Aufklärung bedürfen! —
zurückzuführen, oder die Erkrankung wird durch den Placentarkreislauf
von der Mutter auf das Kind übermittelt.
Früher fand die Annahme einer erblichen Uebertragung bei der Tuber-
culose und speciell bei den frühzeitig zur Entwicklung kommenden tuber-
culösen Lungenentzündungen der von phthisischen Eltern stammenden
Kinder keinen erheblichen Widerspruch. Nach der Entdeckung der Tuberkel-
bacillen durch Hob. Koch und der Feststellung, dass dieselben bei intacter Pla-
centa auf den Foetus nicht übergehen, haben sich unsere Anschauungen völlig
zu Gunsten einer erst späteren, extrauterinen Infection geändert. Vereinzelt
treffen wir aber Neugeborene mit so weit vorgeschrittenen tuberculösen Lungen-
entzündungen (Cavernenbildung!) an, dass eine intrauterine Infection nicht
absolut ausgeschlossen zu sein scheint. Für die croupöse Pneumonie liegen
einige wohlverbürgte Beispiele (Marchand, Vits, Rosenbekg) vor, welche
den Beweis liefern, dass der Pneumococcus, resp. dessen Giftstoff von der an
croupöser Pneumonie erkrankten Mutter durch den Placentarkreislauf
auf das Kind übergeht und hier die gleiche Erkrankung hervorrufen kann.
Dieser Entstehungsmodus der Lungenentzündung bei Neugeborenen bildet bei
den meisten septischen, noch mehr aber bei den syphilitischen
Lungenentzündungen die Regel.
L Die syphilitischen Lungenentzündungen. Bei der congenitalen
Syphilis constatirt man 3 verschiedene Erkrankungsformen in den Lungen.
Diese können jede für sich allein, oder mit einer der beiden
anderen vereinigt, oder auch alle drei zugleich auftreten (A.
Heller).
1. Finden sich Gummata (in 25-47o des syphilitischen Neugeborenen.
Hecker). Diese bilden isolirte Herde, die nicht selten erweichen und abscess-
ähnliche Höhlen einschliessen. Klinisch sind diese Zustände ohne Bedeutung.
2. Die sogenannte „loeisse Pneumonie."
3. Die „interstitielle Pneumonie."
Nur die beiden letzten Formen mögen hier eine kurze Besprechung
finden.
a) Bei der weissen Pneumonie sind die Lungen sehr gross und
schwer, sie zeigen Rippeneindrücke, bedecken den Herzbeutel und füllen die
ganze Brusthöhle aus. Ihre Farbe ist weiss, resp. grau- oder röthlich-weiss.
Auf dem Durchschnitt zeigt das Gewebe dieselbe Farbe, wie die Oberfläche.
Die starke Auftreibung der Lungen wird durch die Füllung der Alveolen mit
einem zelligen Material bedingt (Virchow). Dasselbe besteht zum grössten
Theil aus abgestorbenen, mehr oder weniger in fettiger Entartung und in
Zerfall begriffenen Epithelien. Die Lunge ist in ausgesprochenen Fällen völlig
luftleer und nicht aufblasbar. Nur bei geringeren Graden und unter stär-
keren Druck lassen sich einzelne Alveolen zur Entfaltung bringen. Pleura,
Pericard und Thymus zeigen bisweilen Ecchymosen. Die weisse Hepatisation
ist selten; man findet sie fast ausschliesslich (einen Fall von weisser syphili-
tischer Pneumonie bei einem 5V2 Jahre alten Knaben theilt v. Szontagh mit!)
nur bei todgeborenen oder bei zu früh, mit den unzweideutigen Zeichen der
congenitalen Syphilis geborenen Kindern. Solche Kinder sind nicht lebens-
18*
276 ^ PNEUMONIEN IM KINDESALTER.
fällig. Sie sterben kurze Zeit nach der Geburt, da keine Luft in die mit ab-
normen Material angefüllten Alveolen eindringen kann.
h) Die interstitielle Pneumonie tritt in wecbselnder Stärke und
Ausbreitung auf. Bald ist die ganze Lunge, bald sind einzelne Lappen- oder
Lappenabschnitte befallen. Sie beginnt schon während des fötalen Lebens und
kann bereits vor der Geburt einen hohen Grad erreichen. In solchen aus-
gesprochenen Fällen sind die Lungen gross, bald blass, bald dunkler, grau-
roth, sehr derb anzufühlen, trotzdem aber noch allenthalben mehr oder
weniger lufthaltig. Das int ra alveoläre Gewebe ist verbreitet. In
Folge dessen sind die Alveolen stark eingeengt und oft nur die Reste der-
selben als kleine rundliche Lücken aufzufinden. Die Verbreiterung der
Maschen wird durch Vermehrung des Bindegewebes, sowie durch eine reich-
liche, zellige Infiltration bedingt. Auffallend ist die Vermehrung der Capillaren
in dem interalveolären Gewebe. Dieselben sind erweitert und geschlängelt.
Die Epithelien der Alveolen sind gequollen, häufig mit braunen oder gelb-
lichen Pigmentkörnern durchsetzt; die eingeengten Alveolen sind oft völlig
mit solchen Pigmentmassen erfüllt. Es muss betont werden, dass es sich hier
nicht um acute Entzündungsprocesse handelt, sondern um Veränderungen,
welche bereits einen Abschluss, eine gewisse Festigkeit und Dauerhaftigkeit
erreicht haben.
Die interstitielle, syphilitische Lungenentzündung schliesst die Möglichkeit
der Fortexistenz des Individuums nicht aus. Ist der Process allerdings
schon bei der Geburt des Kindes ein sehr ausgedehnter und weit vorgeschrit-
tener, so liegen die Verhältnisse nicht günstiger, wie bei der weissen Pneu-
monie. Die Kinder können zwar lebend geboren werden und, wenn sie sonst
kräftig sind, ganz gut athmen, doch bald erlöschen die Athembewegungen
und, da sich die eingeengten Alveolen nicht in genügender Weise entfalten
können, so tritt unter Zunahme der Kohlensäurevergiftung der Erstickungs-
tod ein.
Befinden sich die Lungenveränderungen zur Zeit der Geburt in einem
geringeren Stadium ihrer Entwicklung, sind also die Lungenalveolen noch in
ausgedehnterem Maasse functionsfähig und die Kinder sonst kräftig, so bleiben
sie am Leben und können im günstigen Falle die Pubertätsjahre, selbst ein
höheres Alter erreichen. Freilich hängt die Lebensdauer solcher syphilitischer
Kinder keineswegs von den Lungenveränderungen allein ab, sondern in erster
Linie von der Schwere der syphilitischen Infection überhaupt. Gewöhnlich
lässt der allgemeine Ernährungszustand sehr viel zu wünschen übrig; ausser-
dem sind noch andere syphilitische Organerkrankungen vorhanden; doch
kommen auch wohlgenährte und gut entwickelte Kinder zur Section, bei
welchen als Todesursache die interstitielle Pneumonie gefunden wurde
(A. Heller). Solche Kinder mit interstieller Pneumonie schweben in steter
Lebensgefahr, da sie ganz besonders zu acuten entzündlichen Erkran-
kungen veranlagt sind. Eine grosse Zahl derselben stirbt an acuten Magen-
und Darmaffectionen, andere an Pleuritiden, Bronchitiden oder acuten
Bronchopneumonien. Letzterer Umstand erschwert die scharfe Trennung
der specifisch syphilitischen von den secundären septischen
oder „catarrhalischen" Lungenentzündungen syphilitischer
Kinder ungemein.
F. Balzer und A. Grandhomme unterscheiden auf Grund ihrer üntersuchangen
an syphilitischen Föten und todt-geborenen Kindern von syphilitischen Lungenentzün-
dungen.
1. Frische und wenig ausgesprochene Bronchopneumonien.
2. Bronchopneumonien mit eingesprengten Herden (pseudo-lobäre auf den hinteren
Abschnitt der Lungen beschränkte Formen).
3. Bronchopneumonien mit weisser Hepatisation ohne Erweiterung der Bronchien.
4. Bronchopneumonien mit Bronchiectasien.
PNEUMONIEN IM KINDESALTER. 277
Die beiden letzten Formen entsprechen der weissen Hepatisation und dem Schrum-
pfungsstadium der interstitiellen syphilitischen Pneumonie. In wie weit die beiden ersten
Formen als specifisch syphilitisch angesehen werden dürfen, ist schwer zu entscheiden.
Intra vitam wird die Diagnose der syphilitischen Lungenentzündungen
in vielen Fällen überhaupt nicht, in anderen nur vermuthungsweise ge-
stellt werden können. Das Vorhandensein einer nicht symmetrischen Lungen-
dämpfung bei erschwerter Athmung, Fehlen von Knisterrasseln, sowie der
Athemgeräusche überhaupt an den gedämpften Stellen würde bei zu früh ge-
borenen, syphilitisch-cachektischen Kindern namentlich solchen, bei denen sich
Pemphigus, Epiphysenlockerungen etc. zeigen, mit ziemlicher Sicher-
heit auf eine weisse Hepatisation der Lungen hindeuten. Noch geringere
diagnostische Anhaltspunkte bietet die interstitielle Pneumonie, da sie nur
ausnahmsweise deutlich abgrenzbare Dämpfungbezirke erkennen lassen wird.
Auffallen muss auch hier die sehr oberflächliche, verlangsamte, oft mühsame
Athmung und die Häufigkeit des Absetzens der Kinder beim Trinken, um
Luft zu holen. Trotzdem entbehrt dieselbe nicht einer gewissen praktischen
Wichtigkeit. Bleiben die Kinder am Leben, so gewinnen diese Athembewe-
gungen unter dem Einflüsse einer specifischen, syphilitischen Behandlung (Subli-
matbäder, Schmiercui-en, innerlich Calomel) an Tiefe und Ausdehnung. Die Kinder
nehmen zu, besonders dann, wenn ihnen Brustnahrung gereicht werden kann.
Indessen kann bei anscheinend gut gedeihenden, bereits mehrere Monate alten
Kindern, oft noch ganz plötzlich und unerwartet der Tod eintreten. — Solche
Vorkommnisse, verdienen in forensicher Beziehung behufs Feststellung des
natürlichen Todes volle Berücksichtigung. Die interstitielle Pneumonie ist in
diesen Fällen als Todesursache anzusehen !
n. Die septischen Lungenentzündungen spielen im frühen Kindes-
alter eine grosse Rolle. Sie sind zwar nur die Theilerscheinung einer all-
gemeinen septischen Infection, doch localisirt sich der Process mit Vorliebe
in den Lungen. Ihr Entstehen verdanken sie den Eindringen pathogener
Staphylococcen- und Streptococcenarten. Wir unterscheiden congenitale,
und später erworbene septische Pneumonien. Im ersten Falle erfolgt die
Infection intrauterin durch Uebertritt der Eiter- und Entzündungserreger
von der puerperal erkrankten Mutter aus auf den Foetus mittelst des Placentar-
kreislaufes; oder es gelangen die im Fruchtwasser enthaltenen, infectiösen
Keime bei vorzeitigen Athem- und Schluckbewegungen in den Respirations-
respective Verdauungstractus der Kinder. Es handelt sich dann also um
sogenannte Schluckpneumonien oder intestinale Infectionen mit vor-
wiegender Localisation der Krankheit in den Lungen. Bei den später er-
worbenen extrauterin entstandenen Pneumonien kommt in erster Linie
die Infection von der Nabelwunde aus in Betracht. In der Mehrzahl der
Fälle werden wir phlegmonöse Entzündungen und Vereiterungen der Nabel-
gegend etc. nicht vermissen, doch können dieselben auch fehlen. Ausser
der Nabelgegend bietet aber selbstverständlich auch jede andere Stelle der
lädirten Haut- oder Schleimhaut (der Nasen-Rachenraum, die Vagina etc.)
willkommene Eingangspforten für die septischen Microorganismen. Dabei
sind keineswegs Infectionen vom Magen-Darmcanal aus oder direct von
den Lungen ausgeschlossen. In den Gebäranstalten, Findelhäusern etc.
herrschen zeitweise septische Lungenentzündungen endemisch (Miller,
F. Gärtner, Epstein, Fischl.) Fischl hat nachgewiesen, dass bei den
gastrointestinalen Erkrankungen der Findelhauskinder (Brech-
durchfall!) die Lungen ein sicheres und, wie der oft an Pneumonie er-
folgte Tod beweist, ein sehr gefährliches Reservoir der eingedrungenen
septischen Infectionserreger (Staphylococcen und Streptococcen) darbieten.
Die Pneumonien, welche sich bei älteren Kindern im Verlaufe von
Diphtherie entwickeln, können septischer Natur (M. Prudden und W. P.
278 PNEUMONIEN IM KINDESALTER.
NoRTHRUP) sein, obgleich auch hier ausgesprochene croupöse Pneumonien zur
Beobachtung kommen.
Die angeborenen septischen Pneumonien werden kaum Gegenstand
klinischer Behandlung. Die Kinder werden zwar meist von den an Puerperal-
fieber erkrankten Müttern lebend geboren, bleiben aber kaum länger als
3, 4 Tage am Leben. Sie sind ungemein elend, schwach und hinfällig,
wimmern nur und machen ganz ungenügende Saugbewegungen. Bald sind
die septisch erkrankten Kinder cyanotisch, bald hochgradig icterisch oder
beides. Manchmal besteht Neigung zu Blutungen (Nabelblutungen etc.). Da
aber Dyspnoe, Husten, Temperatursteigerungen fehlen (N. Müller), werden
die Lungenaffectionen oft gar nicht diagnosticirt, oder als Atelectasen ge-
deutet. Trotzdem finden sich bei der Section ausgedehnte Verdichtungen
ganzer Lungenlapppen meist im Stadium der rothen Hepatisation,
daneben stets blutige seröse Transudate in dem Pericardialraum, in die
Pleurahöhlen etc.; ausserdem vielfache Ecchymosen und Blutsuffusionen,
apoplectische Herde im Gehirn, Erweichungen und Vergrösserungen der Milz,
parenchymatöse Erkrankungen der Niere u. s. w. Complicationen mit Pleuritis
exsudativa purulenta sind häufig.
Die erworbenen septischen Pneumonien verlaufen acut, unter
stürmischen Erscheinungen. Meist handelt es sich um Kinder mit phlegmo-
nösen Entzündungen und Vereiterungen der Nabelgegend. Die Infection
schreitet in dem perivasculären Zellgewebe der Nabelarterien weiter, gelangt
auf das retroperitoneale und periaortale Zellgewebe, geht auf das Binde-
gewebe des hinteren Mediastinums über und schliesslich auf das subpleurale
und interlobuläre Bindegewebe. Es verbreitet sich also der infectiöse, entzünd-
liche Process hauptsächlich durch die Lymphgefässe der Lungen fort (Buhl.)
Vornehmlich werden die Theile der Lungen nahe an ihren Wurzeln und
gleichmässig die beiden unteren Lungenlappen befallen. Häufig sind
diese Lungenentzündungen von doppelseitigen, eitrigen Pleuritiden complicirt.
Die klinischen Erscheinungen sind markirt durch plötzliche Athemnoth, An-
steigen der Temperatur und bald sich anschliessenden schweren Collaps mit
Auftreten von Icterus. Ausgebreitete doppelseitige Dämpfung der beiden
unteren Lungenlappen ; abgeschwächtes Athmen, Fehlen von Crepitations-
geräuschen, da der Process interstitiell und rasch tödtlich zu verlaufen pflegt.
Von einer Behandlung, abgesehen von einer strengen Prophylaxis,
die septischen Infectionen überhaupt zu verhüten, kann füglich nicht gut die
Eede sein. Am rationellsten ist die Verabreichung von Analepticis. (Cham-
pagner, theelöffelweise, — Thee mit Spir. aeth., Liquor amon. anis u. dergl.)
Sowohl die syphilitischen, wie die septischen Lungenentzündungen sind
als eine Theilerscheinung einer frühzeitigen Allgemeininf ection des kind-
lichen Gesammtorganismus aufzufassen. Eine grössere Wichtigkeit und eine
grössere Bedeutung muss ohne Zweifel allen Pneumonien im Kindesalter zu^
erkannt werden, welche sich unter den analogen Verhältnissen wie bei den
Erwachsenen, gleich von vornherein als eine primäre Localerkrankung
oder, sagen wir lieber, als eine Localinfection der Lungen entwickeln.
Klinisch unterscheiden wir 1. die croupöse oder fibrinöse Pneu-
monie und 2. die sogenannte catarrhali sehe Lungenentzündung^
die Bronchopneumonie.
ITl. Die croupöse Pneumonie wird durch den Erguss eines fibrin-'
reichen, rasch zerrinnenden Exsudates in die Lungenalveolen charakterisirt.'
Wir bezeichnen diese Pneumonie auch als lobäre Pneumonie, da mifc
einem Schlage grössere Lungenpartien, zum mindesten ein ganzer Lungen-
lappen befallen zu werden pflegt. In den typisch verlaufenden Fällen,
und das sind gewöhnlich solche, bei welchen bis dahin ganz gesunde kräftige
PNEUMONIEN IM KINDESALTER. 279
Kinder von der Erkrankung ergriffen werden, bietet die croupöse Pneumonie
auch bei kleineren Kindern ein deutlich abgrenzbares Krankheitsbild dar.
Unter stürmischen Erscheinungen, ganz acut, ohne Vorboten setzt ein
hohes Fieber (40^ — 41° C.) ein. Schüttelfrost ist selten; an Stelle desselben
treten bei zarteren Kindern Collapse, wohl auch Convulsionen. Erbrechen
gehört zu den häufigen Initialsymptomen. Grössere Kinder klagen über
Kopfweh, Schmerzen im Halse, sowie über Schmerzen auf der kranken Seite
(Pleuritis), oder auch auf der ganzen Brust und im Epigastrium. Bisweilen
bemerkt man flüchtige Erytheme am Halse am Rumpf, auch Herpes labialis.
Gleich von vornherein gewinnt man den Eindruck einer schweren Allgemein-
Erkrankung. Die Haut fühlt sich heiss und trocken an, die Wangen sind
geröthet. Die Pupillen sind weit, der Blick feucht verschwommen. Der
Gesichtsausdruck ängstlich, die Gesichtszüge schmerzlich verzogen. Nasen-
flügelathmen ist vorhanden; die Athemfrequenz ist sehr erhöht (60, 80 Athem-
züge in der Minute und mehr). Die Athmung erfolgt oberflächlich, stöhnend
ächzend, jagend, bisweilen aussetzend; oft durch trockene, kurze, anscheinend
schmerzhafte Hustenstösse unterbrochen. Die erkrankte Seite wird unwill-
kürlich geschont und bleibt sichtlich in ihren Athembewegungen zurück.
Die Herzthätigkeit ist erheblich gesteigert, die Pulsfrequenz auffallend erhöht.
Meist sind die Kinder etwas benommen und unbesinnlich. Sie liegen zu-
sammengekauert auf dem Rücken und vermeiden jede Lageveränderung,
wimmern und stöhnen, ohne durch lautes Schreien ihr Missbehagen zu äussern.
Die Zunge und die Mundschleimhaut ist trocken, der Durst auffallend vermehrt.
Der Appetit fehlt gänzlich. Bisweilen sind Durchfälle vorhanden. Der Urin
wird nur spärlich entleert (200 — 300 ccm), hat ein hohes specifisches Gewicht,
kann vorübergehend Eiweiss enthalten, zeigt Peptonurie, sowie Aceton- und
Acetessigsäurereaction (v. Jaksch, Hellström). Das Fieber steigt steil an,
erreicht innerhalb 12 Stunden seinen Höhepunkt.
Auf dieser Höhe hält es sich ohne wesentliche Remissionen längere Zeit.
(5 — 8) Tage lang). Während des Fiebers ist eine Besserung des Krankheits-
zustandes nicht zu erwarten. Im Gegentheil die Athemnoth und die Oppres-
sionszustände erfahren eine unliebsame Steigerung. Aber erst vom 2., 3.
Tage ab sichern die physikalisch nachweisbaren Veränderungen
auf den Lungen die Diagnose. Man hört an einer circumscripten Stelle,
am häufigsten hinten unterhalb der Scapula oder an den Seitentheilen des
Thorax an einem der unteren Lungenlappen mehr oder weniger deutliches
Knisterrasseln. Die Stelle selbst ergibt tympanitischen Percussionsschall,
aber schon jetzt fühlt der percutirende Finger bei kurzem, leisen Anschlag
(ein Plessimeter darf freilich nicht in Anwendung gebracht werden) eine
grössere Resistenz und am folgenden Tage lässt sich eine ausgesprochene
Dämpfung anfangs noch mit tympanitischen Beiklang, später mit völlig leeren
Percussionsschall nachweisen. Gleichzeitig schwinden die Rasselgeräusche,
man hört deutliches Bronchialathmen, Bronchophonie und verstärkten Stimm-
fremitus (beim Schreien der Kinder).
Mit dem Eintritt der Krise bildet sich die pneumonische Verdichtung
innerhalb einiger Tage vollständig zurück. Man hört wieder Knisterrasseln,
der Percussionsschall wird an der gedämpften Stelle wieder tympanitisch und
hellt sich mehr und mehr auf. — Der physikalische Befund gibt uns somit
Aufschluss über das anatomische Verhalten des entzündeten Lungenlappens.
Wir unterscheiden bekanntlich: 1. das Stadium der entzündlichen An-
schoppung (engouement) 2. das Stadium der rothen und 3. das der
grauen oder gelben Hepatisation. Knisterrasseln und tympanitischer Per-
cussionsschall deutet im Beginn der Krankheit auf das Stadium des Engou-
ements am Ende derselben auf die Lösungsvorgänge im Stadium der grauen
280 PNEUMONIEN IM KINDESALTER.
Hepatisation, während die Dämpfung mit ausgesprochenem Bronchialathmen
dem Stadium der vollendeten Hepatisation entspricht.
Die Krise erfolgt unter collapsähnlichen Erscheinungen am 5., 7., 9.,
11. Tage, ohne dass indessen die ungeraden Zahlen ganz besonders bevorzugt
zu sein brauchen. Die Temperatur sinkt meist während der Nachtstunden
innerhalb 12—24 Stunden um fast 4''C., doch geht sie nie unter 36*^ C.
zurück.
Die Kinder liegen apathisch da, sehen verfallen aus, die Haut fühlt sich
kühl an, ein starker Schweissausbruch erfolgt, doch bleibt der Puls meist
kräftig. Die kleinen Patienten verfallen in einen tiefen ruhigen Schlaf, aus
dem sie mit freier Athmung, gehobener Stimmung und frei von Schmerzen
erwachen. Der Husten wird lockerer und feucht; Appetit stellt sich ein, Urin
wird reichlich entleert. Puls und Temperatur bleibt normal und die volle
Genesung erfolgt in kurzer Zeit.
Abweichungen von diesem Typus sind im Kindesalter häufig.
Ihnen unterliegt nicht nur das Fieber, sondern auch die physikalisch nach-
weisbaren Veränderungen auf den Lungen; — also die beiden Hauptmerkmale,
auf die sich die Diagnose der croupösen Pneumonie im Kindesalter stützt.
Im allgemeinen bestimmt die Virulenz der Infection den Verlauf und die
Dauer der Krankheit. Von nicht geringen Einfluss sind aber auch die con-
stitutionellen Verhältnisse und die besonderen Eigenthümlichkeiten des Einzel-
individuums. — Der anatomische Process braucht nicht nothwendiger Weise
alle 3 Stadien zu durchlaufen. Dem zu Folge fehlen bei Kindern bisweilen
die physikalischen Symptome ganz, oder sie sind eben nur angedeutet.
Dann ermöglicht das Fieber allein in Verbindung mit gewissen luitialsymp-
tomen (plötzliches Erkranken, Erbrechen, bisweilen auch Herpes) die Diagnose.
Hieher gehören die rudimentären oder larvirten Pneumonien. (L'Espine
V. Dusch). Solche Abortivformen werden selbstverständlich oft übersehen, oder
sie unterliegen auch einer anderen Beurtheilung. Ein hohes Fieber setzt acut
ein, aber schon am 3., 4, Tage erfolgt die Krise und ein völliges Wohlbefin-
den. Diese im Kindesalter so häufigen fieberhaften Erkrankungszustände
unbestimmten Charakters werden von Anderen als ^.ephemere Fieber ^'^ „Drüsen-
ßebe7%" „Febris herpetica" etc. bezeichnet, v. Dusch ist geneigt, dieselben als
nicht zur Entwicklung gekommene Lungenentzündungen als abortive, pneu-
monische Infectionen aufzufassen.
Diesen stehen die zwar selteneren, aber sicher beobachteten fulminant
tödtlich verlaufenden Fälle gegenüber. Der Tod erfolgt unter cerebralen
Erscheinungen. Aber die Section lässt keine Localerkrankung im Gehirn,
sondern die ersten Anfänge einer meist im oberen Lungenlappen zur Ent-
wicklung kommenden Pneumonie erkennen. Beiden central an der Lungen-
wurzel gelegenen Pneumonien breitet sich der entzündliche Process nicht
immer auf die Lungenperipherie aus. Man wird daher eine ausgesprochene
Dämpfung während der ganzen Krankheit vermissen, gewöhnlich sind aber
circumscripte Rasselgeräusche event. auch Bronchophonie zu hören. Besondere
Eigenthümlichkeiten zeigen die Pneumonien in einem der oberen (rechts
häufiger) Lungenlappen. In solchen Fällen beherrschen gastrische, noch
häufiger cerebrale Erscheinungen den Krankheitsbild (cerebrale Pneumonie)
Sehr heftige Kopfschmerzen, Erbrechen, Benommenheit, selbst einige Zeit an-
haltende BewusstlosigkeJt. Plötzliches Aufschreien, Gesichtszuckungen, Un-
ruhe, Jactationen, Convulsionen, Delirien. Ja sogar Strabismus, Nackenstarre
und halbseitige Lähmung (Aufeecht) ist beobachtet worden. Die physi-
kalisch nachweisbaren Veränderungen treten erst später in einem oder auch
beiden oberen Lappen, selten vor dem 5., 6. Tage auf. Das Fieber zeigt
sehr hohe Temperaturen hat aber häufig einen ausgesprochenen re mit tir en-
den, selbst intermittirenden Charakter (Henoch). Die Krise erfolgt ge-
PNEUMONIEN IM KINDESALTER. 281
wohnlich nicht vor dem 10., 11. Tage, aber trotz dieser so beängstigenden
Symptome ist auch hier meist eine völlige restitutio ad integrum zu erwarten.
V. Jaksch bringt die nervösen Zustände mit dem Vorhandensein der Diaceturie
in Zusammenhang, andere (v. Jürgensen) führen sie auf die Giftwirkung der
Pneumonieerreger im Gehirn- und Rückenmark zurück. Hiefür spricht der
Umstand, den die specifischen Krankheitserreger (siehe weiter unten) nicht
bloss in dass Lungen, sondern auch in der Ventricular- und Subarachnoidal-
flüssigkeit, sowie im Piagewebe gefunden wurden. (Klebs, Eberth.)
Ein sprungweises Wiederaufflammen der Temperatur ganz analog den
Temperatursteigerungen eines Erysipels ist der Wanderpneumonie
{Pneumonia migrans) eigen. (In ätiologischer Beziehung ist ein Abhängig-
keitsverhältnis der Wanderpneumonie von der Erysipelasinfection nicht unwahr-
scheinlich. Klingmüller, Eberth). Ist der entzündliche Process in dem einen
Lungenlappen zum Stillstand gekommen, so greift derselbe plötzlich unter
erneuten stürmischen Erscheinungen auf einem anderen Lappen über und so
wird eventuell nach und nach die ganze Lunge ergriffen. Diese Vorkomm-
nisse ereignen sich nach meinen Erfahrungen bei Kindern relativ häufiger,
als bei Erwachsenen. Eine Wanderpneumonie kann sich Wochen, selbst
1 — 2 Monate lang (Rolander, v. Starck, Unruh u. A.) hinziehen; trotzdem
ist eine völlige Heilung auch hier nicht ausgeschlossen.
Seltener kommt es zu Recidiven. So sah z. B. Tordeus ein Recidiv
in denselben Lappen nach 4 Tagen, Hellström nach 5 Tagen, v. Dusch
nach 11 Tagen eintreten.
Mag aber das Fieber der croupösen Pneumonie in seinem Verlaufe ver-
kürzt oder über die Zeit hinaus verlängert sein, stets bewahrt es seinen
typischen Charakter wenigstens in soweit, als die Temperatur acut einsetzt
und falls keine Complicationen oder anderweitige Erkrankun-
gen mit vorliegen, ein kritischer Abfall erfolgt. Am häufigsten tritt die
Krise am 7. Tage ein. Nicht selten kommt es ein paar Tage früher zu einer
Pseudokrise, d. h. die Temperatur geht im Laufe der Nacht um 2° und
mehr, fast bis zur Norm zurück, steigt aber schon wieder in den Mittag-
stunden an und erreicht Abends die ursprüngliche Höhe. An Stelle der
Febris continua zeigt die Temperatur bisweilen auch einen deutlich remit-
tirenden, selbst intermittirenden Charakter (z. B. bei Pneumonien im oberen
Lappen). Nicht jedesmal bildet sich mit dem Abfall der Temperatur zur Norm
auch die Lungeninfiltration in wenigen Tagen zurück. Die Dämpfung kann
8, 14 Tage selbst längere Zeit fortbestehen. Um sich vor unliebsamen Ver-
wechslungen mit einem Pleuraexsudat zu schützen, unterlasse man in solchen
zweifelhaften Fällen nie die Probepunction mittelst der PRAVAz'schen Spritze.
— Ausnahmsweise bilden sich aber die physikalischen Symptome noch vor
den Eintritt der eigentlichen Krise zurück.
Complicirter werden die Verhältnisse, wenn nicht gesunde, sondern
bereits kranke Kinder von einer croupösen Pneumonie ergriffen werden,
(sogenannte secundäre Pneumonien.) So sieht man croupöse Pneumonien
im Verlaufe anderer Infectionskrankheiten (Typhus, Diphtherie, Masern, Keuch-
husten etc.) zur Entwicklung kommen. Werden Keuchhustenkinder von einer
solchen Pneumonie plötzlich befallen, so hören die charakteristischen Keuch-
hustenparoxysmen während des Bestehens der Pneumonie auf, sie setzen aber
nach Eintritt der Krise wieder mit gleicher Heftigkeit ein. Fällt die Pneu-
monie in das Floritionsstadium der Masern, so blasst das Exanthem plötzlich
ab, die Kinder sehen livid und verfallen aus, die Temperatur bleibt eine
excessiv hohe, bis die Krise erfolgt. Freilich gehört der kritische Abfall und
die normale Lösung der Lungeninfiltration bei solchen synchron mit anderen
acuten Infectionskrankheiten auftretenden Pneumonien zu den Ausnahmen.
Dass auch katarrhalische und croupöse Pneumonien bei ein
282 PNEUMONIEN IM KINDESALTER.
und demselben Individuum gleichzeitig auftreten können, erscheint
mir unzweifelhaft. Die diagnostische Beurtheilung solcher Mischformen und.
Uebergangsformen ist sehr schwierig. Wir werden noch auf diesen Punkt
zurückkommen. Der Verlauf und der Ausgang der „secundären" Pneumo-
nien wird meist ein irregulärer und atypischer sein. Ganz ausgeschlossen ist
ein normaler Verlauf bei phthisisch veranlagten oder mit latenter
Tuberculose behafteten Kindern.
Im grossen und ganzen gestaltet sich die Prognose der croupösen
Pneumonie für das Kindesalter auffallend günstig. Die Mortalität be-
trägt im I. Lebensdecennium etwa 4% — 5%. Die meisten Todesfälle fallen
auf das erste Lebensjahr, während im späteren Kindesalter (7. — 15. Jahr) ein
letaler Ausgang geradezu selten ist. Die Sterblichkeitsprocente würden sich
noch erheblich verringern, wenn wir von vornherein solche Fälle ausscheiden,
bei denen schon vor dem Ausbruch der Pneumonie ernste Erkrankungen be-
standen. Die Gefahren der croupösen Pneumonie sind bei Kindern wohl
weniger in der Insufficienz des Herzens (wie JtJßGENSEN meint), als in der
Insufficienz der Respiration selbst (Baginsky) zu suchen, hervorgerufen durch
die so plötzliche Ausschaltung einer grösseren Lungenpartie. Ein noch grösserer
Einfluss muss den relativ häufig (in 230/0 — 24% Jürgensen) auftretenden
Complicationen zuerkannt werden. Sie entwickeln sich im Verlaufe der
Pneumonie, oft aber auch erst später. (Folgekrankheiten.) An erster Stelle
verdient hier die Pleuritis genannt zu werden. Jede pneumonische Infil-
tration, welche die Lungenoberfläche erreicht, führt zu einer Entzündung der
Pleura pulmonalis (Pleuropneumonie.) Das Seitenstechen und die oft fühlbaren
und hörbaren Reibegeräusche sind hierauf zurückzuführen (Pleuritis sicca.)
Zu serösen oder serofibrinösen Ergüssen (meist einseitig links) kommt es
namentlich bei kleineren Kindern häufig (^5 ^^^^^ Fälle. Müller). Eitrig
können dieselben werden, wenn sie sehr massig sind und längere Zeit bestan-
den haben. Empyeme treten häufiger bei Bronchopneumonien und doppel-
seitig mit Vorliebe bei den septischen Lungenentzündungen auf. Mcht zu
unterschätzen in ihrer Bedeutung sind auch gleichzeitig vorhandene Bron-
chitiden (Capillarbronchitis), sowie Brechdurchfälle. Seltener sind Nephritis,
Endo- und Pericarditis, Meningitis etc.
Bestehen fieberhafte Zustände fort, hellt sich der gedämpfte Lungenschall
nur unvollkommen auf, bleibt eine grössere Resistenz der erkrankten Lungen-
lappen zurück, hört man circumscripte, zähblasige Rasselgeräusche, so deutet
dies auf Vereiterungen, Abscessbildungen phthisische Zerstörungen (Caver-
nenbildung) in den Lungen hin. Lungengangrän ist selten, ebenso chronische
Schrumpfungsprocesse (Induration) ohne eitrigen Zerfall.
IV. Die Bronchopiieumonie verdient recht eigentlich die Bezeichnung
der ffKinderptieuinouie'^^. Ihr gehören m^ehr als % aller Lungenent-
zündungen im Kindesalter an. Besonders häufig ist sie in den beiden ersten
Lebensjahren. Sie entwickelt sich im Anschluss an acute oder chrO'
nische Bronchitiden, in dem der entzündliche Process von den feineren
Bronchien auf die Alveolarwandungen übergreift. Im Gegensatz zu der crou-
pösen, lobären Pneumonie bezeichnet man die Bronchopneumonie auch als
lobuläre Pneumonie, da die Lunge von mehreren kleineren oder grösseren
entzündlichen Herden durchsetzt zu sein pflegt. Erst durch das Zusammen-
tiiessen solcher Herde kommt es zu ausgedehnteren Infiltrationen. So findet
man dann auch bei der Bronchopneumonie, seltener einseitig, häufiger doppel-
seitig in toto verdichtete Lungenlappen. Die Verdichtung kommt dadurch zu?
Stande, dass sich die Lungenalveolen mit abgestossenen Lungenepithelien und
massenhaften, lymphoiden Zellen anfüllen, denen gegenüber die Fibrinaus-
scheidungen geringfügig erscheinen.
PNEUMONIEN IM KINDESALTER. 283
Dabei sind die Alveolarwandungen, sowie das interstitielle Lungen-
gewebe verdickt und zellig infiltrirt.
Die Bronchopneumonie kann ganz acut unter stürmischen Erscheinungen
mit sehr hohem Fieber einsetzen und in wenigen Tagen ihren lobulären
Charakter einbüssen. Diese Form, welche man als „grippöse'-'- Broncho-
pneumonie (N. Müller) bezeichnet, unterscheidet sich von der croupösen
Pneumonie oft nur dadurch, dass einige Tage vorher Schnupfen, Laryngo-
pharyngitis und Tracheitis mit geringeren Fiebererscheinungen bestanden hat.
Plötzlich hört die Secretion der Nase auf; — „der Schnupfen ist zurück-
geschlagen," wie der Laie sagt. — Das Fieber steigt plötzlich an, erreicht
eine excessive Höhe, bedeutende Dyspnoe stellt sich ein, und man constatirt
ausser katarrhalischen, feinblasigen, feuchten oder trockenen Ptasselgeräuschen
gewöhnlich beiderseits an der hinteren Thoraxfläche die noch im Entstehen
begriftenen oder die bereits deutlich ausgesprochenen Infiltrationen der unteren
Lungenlappen. Complicirt wird diese Form nicht selten durch eine Otitis
media purulenta.
Häufiger sind die weniger stürmischen, allmälig oder mehr sprungweise
um sich greifenden, lobulären Lungenentzündungen; diese entwickeln sich oft
ohne merklichen Uebergang aus der längere Zeit bestehenden Bronchitis
heraus. Man könnte die ersten Anfänge dieser mehr schleichend sich ent-
wickelnden Lungenentzündungen am besten als Lungenkatarrh bezeichnen;
womit angedeutet werden soll, dass in einem jeden Falle ausgedehnter Bron-
chitis wenigstens bei kleineren Kindern schon mehr oder weniger zahl-
reiche, kleinere, bronchopneumonische Herde vorhanden sin d,
ehe sie direct nachgewiesen werden können. Sie finden sich zer-
streut auf beiden Lungen mit Vorliebe hinten, in den unteren Lungenlappen,
aber auch vorn, besonders an den Lungenrändern. Sie sind deutlich abge-
grenzt und erscheinen als inselförmige Infiltrationen von blaurother Farbe
Linsen-, 5, 10 Pfennig, bisweilen schon Markstück gross, etwas eingesunken
und von lufthaltigen, mehr hellrothen, fleischfarbenen, emphysematös auf-
geblähten Lungengewebe umgeben. Die infiltrirten Stellen bieten eine glatte
Schnittfläche dar, von der sich nur wenig röthliches Serum abstreifen
lässt, sie sind völlig luftleer, lassen sich nicht aufblasen und sinken heraus-
geschnitten im Wasser unter. Durch Grösserwerden und Confluiren der ein-
zelnen Herde entstehen dann ausgedehntere (lobäre) Infiltrationen.
Das plötzliche Ansteigen des Fiebers und die bis zur Dyspnoe sich
steigernde Zunahme der Athemfrequenz im Verlaufe der bestehenden Bronchitis
deuten auf das rapidere Fortschreiten des entzündlichen Processes auf
die Lungenalveolen hin.
Das Fieber zeigt entsprechend der schubweisen Verbreitung der broncho-
pneumonischen Herde einen sehr irregulären Verlauf. Charakterisirt
wird derselbe durch einen stark remittirenden Typus und den völligen Mangel
eines kritischen Abfalles. Erinnert sei übrigens hier daran, dass im frühesten
Kindesalter bei lebensschwachen, elenden, dürftigen und mangelhaft ent-
wickelten Kindern eine Temperatursteigerung ganz vermisst werden kann, bis-
weilen sogar subnormale Temperaturen beobachtet w^erden. Die schon vor-
handene Cyanose nimmt zu, Blutstauungen in den peripheren Venen werden
sichtbar, die Athmung ist beschleunigt, und mit den steigenden Luftmangel
werden die accessorischen Athemmuskeln bald mit in Thätigkeit versetzt. Man
beobachtet Nasentiügelathmen, deutliche Contractionen der Muse, sternoclei-
domastoidei, der scaleni, der pectorales. Die abnonn gesteigerten Zwerch-
fellscontractionen bedingen eine tiefe Furchenbildung an dem unteren Bippen-
rand, sowie inspiratorischen Einziehungen an den unteren und seitlichen Theilen
des Thorax. Besonders auffallend entwickelt sich dieser Athemtypus bei ra-
chitischen Kindern. Der Puls ist sehr frequent, dabei schwach und klein. Der
284 PNEUMONIEN IM KINDESALTER.
Druck ist vermehrt. Kleinere Kinder trinken an der Brust sehr hastig, lassen
aber die Brustwarze oft fahren; häufig erfolgt beim Trinken Hustenreiz und die
genossene Nahrung wird dann wieder herausgebrochen. Bei grösseren Kindern
ist der Husten quälend, dabei trocken, oft paroxysmenartig auftretend besonders
Nachts, so dass die Kinder unruhig werden und keinen Schlaf finden, kleinere
Kinder namentlich schwach gebaute und schlecht genährte husten dagegen
auffallend wenig.
Naturgemäss ist der physikalische Nachweis solcher disseminirter,
bronchopneumonischer Herde mit Sicherheit schwer zu führen. Die zuver-
lässigsten Resultate liefert im Anfang die Auscultation. Umschriebenes
K nister rasseln neben den auf beiden Lungen verbreiteten, bronchitischen
Geräuschen (feinblasiges oder mittelblasiges Rasseln, Giemen und Pfeifen)
dürfte in vielen Fällen allein die Diagnose eines derartigen pneumonischen
Herdes sicherstellen. Meist gelingt es dann auch an dieser Stelle eine ge-
ringere Resistenz mit tympanitischen Beiklang „herauszupercutiren." Eine
Dämpfung wird nur dann zu erwarten sein, wenn die Infiltration bereits einen
Umfang von mindestens 2 Mark-Stückgrösse erreicht hat. In solchen Fällen
wird dann unter Umständen auch bronchiales Athmen, bronchiales Rasseln,
Bronchophonie etc. wahrgenommen werden können. Doch sind diese Percus-
sions- und Ausculationserscheinungen fast täglichen Schwankungen ihrer
Ausbreitung und Intensität nach unterworfen. Oft sind sie doppelseitig, wenn
auch nicht stets symmetrisch vorhanden. Eine grössere Ausdehnung pflegen
die Infiltrationen mit Vorliebe in den unteren Lungenlappen zu erreichen.
Selbst bei acutem Verlauf dürften bis zur völligen Wiederherstellung
der Patienten 3 — 4 Wochen vergehen. Die Dauer und die Schwere der Er-
krankung ist abhängig von der Ausbreitung des localen Processes, vom Alter,
von den allgemeinen Ernährungs- und vorherigen Gesundheitszustand des
Patienten, von den hygienischen Verhältnissen (Wohnung etc.) unter denen
Patient sich befindet, von der Jahreszeit, den Witterungsverhältnissen u. s. w.
Ein längeres Sichhinziehen mit erneuten Verschlimmerungen bildet bei der
Bronchopneumonie der Kinder die Regel. In den schnell günstig verlaufenden
Fällen lässt das Fieber schon nach der ersten Woche nach, die Cyanose und
die Athembeschwerden werden geringer, der Husten lockerer, die Rassel-
geräusche feuchter und reichlicher, die gedämpfte Stelle hellt sich mehr und
mehr auf, wird tympanitisch und zeigt schliesslich wieder normalen Lungen-
schall. Auch hier ist eine leise Percussion mit kurzen Anschlag ohne Plessi-
meter und Hammer anzurathen. Mit der Rückbildung der Infiltration hebt
sich auch das Allgemeinbefinden, die Nächte werden ruhig, Appetit stellt sich
ein und die Besserung schreitet, wenn auch langsam doch stetig fort. Nie
erfolgt aber ein kritischer Temperaturabfall und ein plötzlicher Umschlag zur
Besserung. In anderen Fällen, unterstützt und begünstigt durch die schon
vorhandene weit verbreitete Bronchitis und das schnell zur Entwicklung kom-
mende Lungenemphysem, tritt mit der Zunahme der Temperatur und der
Steigerung der Athemfrequenz eine von Stunde zu Stunde sich verschlim-
mernde Insufficienz der Respiration und der Herzthätigkeit auf.
Die Cyanose nimmt zu, leichte Oedeme an den Augenlidern, den Händen
und Füssen stellen sich ein. Der Puls wird immer kleiner, setzt aus, die
Kmder werden somnolent, kurz es bilden sich die Symptome einer hochgradigen
Kohlensäureintoxication aus. Der Tod erfolgt gewöhnlich unter den Erschei-
nungen des Lungenödems. Noch häufiger nimmt aber die acut einsetzende
Krankheit einen chronischen Verlauf. Besserungen und Verschlimmerungen
wechseln mit einander ab. Heilung ist auch bei einem protrahirten Verlauf
nicht ausgeschlossen, doch sind Complicationen (Pleuritis. Pericarditis, fettige
Degeneration der Herzmusculatur, Darmaffectionen), zu fürchten; häufig kommt
es auch zu Verkäsungen, eitrigem Zerfall, oder chronischen Verdichtungen des
PNEUMONIEN IM KINDESALTER. 285
Lungengewebes. Schliesslich gehen die Kinder an allgemeiner Erschöpfung,
an secundärer Lungen-Tuberculose oder allgemeiner Miliartuberculose etc. zu
Grunde.
Ein solch ungünstiger Ausgang dürfte besonders den secundären
Lungenentzündungen eigen sein. Man bezeichnet damit Pneumonien, welche
Kinder befallen, deren Körperconstitution durch unmittelbar vorausgegangene
oder noch bestehende Erkrankungen chronischer oder acuter Art besonders
alterirt und geschwächt ist. Eine auffallende Disposition für Lungenentzün-
dungen erlangen die Kinder nach vorausgegangenen Magen- und Darmstö-
rungen bei bestehender schwerer Rachitis, Scrofulose, Tuberculose etc., spe-
ciell aber durch solche acute Infectionskrankheiten, bei denen die Respira-
tionsorgane schon an und für sich in arge Mitleidenschaft gezogen zu sein
pflegen. (Influenza, Masern, Keuchhusten etc.). Während aber bei Masern
und Keuchhusten Lungenentzündungen relativ häufig vorkommen, so
treten bei Kindern die Influenzapneumonien ganz in den Hintergrund.
Es erklärt sich dieser Umstand wohl daraus, dass bei der Influenza der Kinder
die Respirationsorgane in geringerem Maasse befallen werden, jedenfalls die
nervösen und gastrischen Formen vorherrschen. (Cakstens, Baginsky.) Ob
aber die Masern- und Keuchhustenpneumonien den Masern- und Keuchhusten-
erregern selbst ihre Entstehung verdanken, oder man eine Neu-Infection mit
anderen Pneumonieerregern annehmen soll, ist mit Sicherheit nicht zu sagen.
Eine solche „Misch infection" pflegt man ja beiden secundären, crou-
pösen Pneumonien ohne weiteres zu acceptiren. Soviel steht fest, dass die
Keuchhusten- und Masernpneumonien, wenn auch nicht ausschliesslich, doch
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle lobuläre von den Bronchien aus-
gehende Entzündungen darstellen. Sie entstehen durch Aspiration der mit
specifischen Entzündungserregern vermengten Secretes der erkrankten Bron-
chialschleimhaut. Atelektasenbildung kann der Erkrankung des Lobulus vor-
ausgehen, ist jedoch nicht absolut nothwendig. Das Exsudat ist vorwiegend
ein zelliges und zeigt eine ausgesprochene Neigung zu necrotischem Zerfall.
Bei der Ausfüllung der Alveolenräume und dem Sitzenbleiben dieses Exsu-
dates in den Alveolen sprechen besonders interstitielle peribronchiale
Entzündungen eine Rolle. Das wuchernde Bindegewebe obliterirt theilweise
die Lymphgefässe, theils wird dadurch ihre Resorptionsfähigkeit beschränkt.
Der Zerfall des Exsudates beginnt central. Der centrale Zerfallsherd hebt
sich scharf als ein gelblicher unscheinbarer Punkt von dem dunkelblau»
roth gefärbten, entzündlichen oder katarrhalischen Gewebe ab. Je zahl-
reichere Alveolen von dem Zerfall und den Erweichungen des Exsudates be-
troffen werden, um so eher ist auch eine Zerstörung des Alveolar-
gewebes zu gewärtigen. Anderseitig erklären sich die Ausgänge solcher
Pneumonien in Lungencirrhose, Bronchiectasien, Phthise aus den interstitiellen
Entzündungen des den Bronchus begleitenden Bindegewebes. (A. Tobeitz, E.
Kromeyer.)
Die bisherigen Schilderungen dürften den Anschein erwecken, dass die
Differentialdiagnose zwischen der croupösen und der Bronchopneu-
monie im Kindesalter keinen grossen Schwierigkeiten unterläge. Dies ist
durchaus nicht der Fall! Die Schwierigkeiten sind um so grösser, je kleiner
das Kind ist. Oft fehlte die Gelegenheit, die Erkrankung von Anfang an
zu beobachten.
Das Confluiren einzelner Herde führt bei der Bronchopneumonie eben-
falls die Infiltration eines ganzen Lungenlappens herbei. Gelangt der Einzel-
fall in diesem Stadium zur Untersuchung, dann entscheide weder der Sitz
(obwohl bei der Bronchopneumonie häutiger die beiden unteren Lappen
befallen werden!), noch die Ausbreitung der pneumatischen Infiltration für die
eine oder andere Form der Lungenentzündung. Aufklärung gibt aber meist
286 PNEUMONIEN IM KINDESALTER.
die Anamnese und der weitere Verlauf. Für die Bronchopneumonie
spricht das Vorausgehen katarrhalischer Erscheinungen von Seiten
der oberen Luftwege (Schnupfen, Rachen- und Kehlkopfkatarrhe, Tracheitis)
und das Neuentstehen frischer Entzündungsherde während des Bestehens
oder Schwindens der ursprünglichen Infiltration. In Folge dessen wird der
Verlauf der Erkrankung ein protrahirter, Besserungen und Verschlimmerungen
wechseln mit einander ab, das Fieber zeichnet sich durch sprungweise Exa-
cerbationen aus, die Kranken kommen mehr und mehr herunter, magern ab,
und die Reconvalescenz dauert länger. Die croupöse Pneumonie zeigt dagegen
einen glatten, typischen Verlauf. Die physikalisch nachweisbare Dämpfung
schwindet schnell, mit dem Fieberabfall erfolgt Euphorie, die Reconvalescenz
ist eine sehr kurze.
Doch nicht immer! In einigen Fällen besteht Bronchitis mit Fieber,
plötzlich verschlimmert sich dasselbe, Febris continua, nach einiger Zeit
typischer definitiver Fieberabfall, wie er der croupösen Pneumonie eigen ist,
die Localsymptome schmnden, aber die Bronchitis bleibt. — Oder plötzlicher
Beginn mit Verdichtung etc., der erwartete Fieberabfall erfolgt nicht, weil
eine Bronchitis fortbesteht, die Lösung geht langsam vor sich, die Re-
convalescenz ist protrahirt. Solche Vorkommnisse sind keineswegs selten.
Man hat sie dahin gedeutet, dass die croupöse und katarrhalisch pneumonischen
Processe gleichzeitig bestehen und beide Processe in einander übergehen
können (J. Scheef, v. Jürgensen, v. DüscH; Baginskt, Henoch, Steffen,
und ZiEMSSEN etc.).
In den meisten Fällen dieser Mischformen oder Uebergangs-
formen ist es effectiv unmöglich zu bestimmen, wo die katarrhalische Form
aufhört und die croupöse anfängt. Hierüber gibt nicht einmal der
Leichenbefund die gewünschte Klarheit und Sicherheit. Soviel steht fest,
dass bei Sectionen kleinerer Kinder nicht selten Fälle constatirt wurden, wo
die croupöse Pneumonie sich auf circumscripte insulare Lungenbezirke be-
schränkte (Pneumonia crouposa partialis s. vesicalis Bednar) oder, wo in
ein und derselben Lunge neben einer mit croupöser Pneumonie afficirt&n
Stelle Herde mit katarrhalischer Pneumonie gefunden werden (Scheef u. a.).
Die Fibrinablagerungen in den Alveolen sind keineswegs ausschlag-
gebend und für die croupöse Pneumonie pathognomonisch. Von verschiedenen
Seiten (J. T. Klein, Charcot, H. Queissner) und neuerdings wieder von
RiBBERT und seinen Schülern ist darauf hingewiesen^ dass sich fibrinöse
Exsudate sowohl bei der croupösen Pneumonie, als auch bei den primären,
wie secundären katarrhalischen Lungenentzündungen, bei den diphtheritischen,
wie tuberculösen Pneumonien u. s. w. bilden. Die Entscheidung dieser
strittigen Fragen hätte man nun wohl von der Bacteriologie erwarten
können. — Die anfangs nur schüchtern laut gewordene, später besonders von
Jürgensen energisch vertretene Anschauung, dass die croupöse Pneumonie
eine Inf ectionskrankheit sei, dürfte heut zu Tage wohl kaum noch einen
erheblichen Widerspruch finden. Hierfür spricht schon das plötzliche Auf-
treten und der typische Verlauf der Krankheit, welcher ja auch bei etwas
grösseren, über 2 Jahre alten, bis dahin gesunden kräftigen Kindern fast
niemals zu fehlen pflegt. Mehr noch die zeitweise herrschenden Endemien,
respective Epidemien unter der Kinderwelt, wie bei Erwachsenen. Eine
Häufung der Fälle beobachtet man hier zu Lande fast in jedem Jahre während
der ersten Frühlingsmonate (März, April, Mai). — Grössere Epidemien sind
freilich seltener. Sehr charakteristisch für die croupöse Pneumonie sind die
Familienerkrankungen (v. Raven, Daly etc.) und die Hausendemien
(Semtschenko) mehr noch das Gebundensein der Pneumonie an bestimmte
Localitäten (Keller- Jürgensen, v. Dusch). Gewiss trägt der innige
Verkehr der Familienmitglieder und Hausbewohner die Schuld der weiteren
PNEUMONIEN IM KINDESALTER. 287
Verbreitung der Ej'anldieit in sich; trotzdem scheint eine directe Ueber-
tragung, Contagiosität im engeren Sinne, nicht zu bestehen. Die Pneumonie
ist eine exquisite Hauskrankheit (Schaefer-Krisiner), d. h. es ist
nichts ungewöhnliches, dass wiederholte Erkrankungen in demselben Hause
vorkommen. Zeitlich liegen aber solche Erkrankungen oft weit auseinander.
Dies deutet darauf hin, dass die Ansteckungsstoffe der croupösen Pneumonie
ausserhalb des erkrankten Organismus ihre Ansteckungsfähigkeit bewahren, —
an der Localität haften ! — um gelegentlich wieder in andere Individuen
einzuwandern. Die Häufigkeit der Erkrankungen der Kinder bringt v. Dusch
damit in Zusammenhang, dass diese auf den Fussboden spielend und herum-
kriechend leicht den daselbst befindlichen Staub mit den etwa darin ent-
haltenen Pneumonieerregern einathmen. Leicht verständlich ist es, dass die
Pneumonien in den kinderreichen Familien der niederen Volksclassen be-
sonders grassiren. In ätiologischer Beziehung spielen die für den Erwachsenen
pathognomonischen Pneumoniesputa gewiss eine ganz analoge Rolle, wie
die Sputa der Phthisiker. Werden diese nicht desinficirt, trocknen sie ein,
so mischen sich die in den Sputis enthaltenen specifischen Microorganismen
mit dem Fussbodenstaub etc., gelangen in den Mund, respective die Respirations-
organe der Kinder und finden dann eventuell ein weiteres günstiges Ent-
wicklungsfeld. Dass auch bei den Kindern individuelle Differenzen betreffs
der Disposition bestehen, bedarf keiner Erörterung. Nur sei hier darauf hin-
gewiesen, dass die einmal überstandene Pneumonie dem betreffenden Individuum
keine Immunität verleiht, im Gegentheil, sie hinterlässt namentlich für
das folgende Jahr eine erhöhte Disposition. Allerdings sind mehrmalige Er-
krankungen bei kleineren Kindern wohl etwas seltener, als bei Erwachsenen.
Bald wird dieselbe Lunge und derselbe Lappen bei späteren Pneumonien,
bald werden aber auch früher verschont gebliebene Theile der Lunge befallen.
Ungleich schwieriger und verwickelter aber als z. B. bei der Tuberculose
gestalten sich die Verhältnisse für die Pneumonie insofern, als hier sicher
verschiedene, und nicht ein einziger, specifischer Mikro-
organismus in Frage kommt. Als Pneumonieerreger mögen genannt
werden der FRiEDLÄNDER'sche Diplococcus, der FRÄNKEL-WEiCHSELBAUM'sche
lanzettförmige Pneumoniecoccus und der pneumonische Streptococcus von
Babes-Neumann.
Damit ist aber die Reihe der Möglichkeiten noch keineswegs erschöpft.
(Das Virus des acuten Gelenkrheumatismus, der Malaria, des Typhus kann gleich-
falls Pneumonie bedingen.) An erster Stelle verdient aber unbestritten, der
Häufigkeit seines Vorkommens entsprechend, auch bei den Pneumonien
im Kinderalter der FRÄNKEL-WEiCHSELBAUM'sche Pneumoniecoccus
genannt zu werden. (H. Neumann, H. Queissner u. a.)
Seine diagnostische Bedeutung im Sputum der Kind er fasst Neu-
mann dahin zusammen, dass dieser Pneumoniecoccus mit grosser Wahr-
scheinlichkeit eine pneumonische Erkrankung anzeigt, ohne
dass ein negativer Befund sie mit Sicherheit ausschliesst. Die Unterschei-
dung der Bronchopneumonien von der croupösen (fibrinösen) Pneu-
monie lässt sich aber durch die bacteriologische Sputumunter-
suchung nicht erreichen. (Unter 14 Fällen von Bronchopneumonie der
Kinder wurde 12 mal der Pneumoniecoccus Fränkel- Weichselbaum gefunden!
Neumann.) Sputa kann man auch von kleineren Kindern jeder Zeit zur Unter-
suchung gewinnen. Das Verfahren ist ein sehr einfaches. Man drückt die
Zunge mit- den Mundspatel herab, führt mit der anderen Hand einen in eine
Arterienpincette eingeklemmten sterilisirten Wattebausch bis zum Glottisein-
gang ein und erregt dadurch Hustenstösse. In Folge dessen werden Schleim-
massen etc. aus dem Kehlkopfe herausgeschleudert, diese bleiben an der Watte
hängen und können zur weiteren bacteriologi sehen etc. Untersuchung ver-
288 PNEUMONIEN IM KINDESALTER.
wendet werden. Eine Expectoration der Sputa erfolgt ja sonst nur bei grösse-
ren (6, 8, 10 Jabr alten) an Lungenentzündung erkrankten Kindern, die klei-
neren Verschlucken die herausgebrachten Schleimmassen sofort.
Erinnert sei übrigens daran, dass auch bei gesunden Individuen, bei
Kindern freilich anscheinend seltener, als bei Erwachsenen (Neumann), im
Rachenschleim resp. in dem aus dem Respirationstractus herrührenden Secret
neben anderen Mikroorganismen die betreffenden Pneumoniecoccen gefunden
werden; ziemlich constant und in reichlicher Anzahl aber dann, wenn der
betreffende eine Lungenentzündung überstanden hat.
Im Lungengewebe ist der Pneumoniecoccus um so reichlicher vor-
handen, je frischer der entzündliche Process, während er in den älteren
Theilen der Hepatisation zu Grunde geht. Experimentell ist ja der Beweis
geliefert, dass mittelst Reinculturen dieses Mikroorganismus bei einzelnen
Thierspecies (Hammel, Hund etc.) das anatomische Bild der fibrinö-
sen Pneumonie erzeugt werden kann. Nebenbei besitzt aber der Pneu-
moniecoccus die Eigenschaft, Localerkrankungen entzündlicher (meist sero-
fibrinöser) Art hervorzurufen. Es darf daher nicht Wunder nehmen, dass so
häufig in den Pleuraexsudaten (Pleuropneumonie) Pneumoniecoccen nach-
gewiesen worden sind. Die genuine, croupöse Pneumonie ist aber keineswegs
die einzige Form, unter welcher die Lunge in Folge dieser Pneumonie-
cocceninfection zu erkranken pflegt.
Wir finden den Pneumoniecoccus (aber auch hier nicht constant, andere
(Pneumonieerreger z. B. Streptococcen- Babes Neumann), können an seine
Stelle treten!) — bei den sogenannten katarrhalischen oder Bronchopneu-
monien ebenso, wie bei den secundären im Verlaufe der verschiedensten Krank-
heiten entstehenden Lungenentzündungen. Freilich wird hier der Nachweis
oft schwieriger, da bei der Bronchopneumonie und den secundären Lungen-
entzündungen häufig noch zahlreiche andere Bacterien (pathogener und nicht
pathogener Natur) vorhanden zu sein pflegen.
Wie lassen sich aber die klinischen Unterschiede der Lungenent-
zündungen erklären? Vorausgesetzt, dass wirklich ein und derselbe Mikro-
organismus (Fränkel-Weichselbaum) sowohl die croupöse, wie die
Bronchopneumonie eventuell bedingen und herbeiführen kann?
Die Verschiedenheit der Virulenz des Pneumoniecoccus wäre hier in Er-
wägung zu ziehen. Im grossen und ganzen erzeugt eine „reine" Pneu-
moniecoceninfection die croupöse Pneumonie, während bei der Bronchopneu-
monie meist eine Mischinfection besteht. Eine gewisse Abhängigkeit
des klinischen Verlaufes und des bacteriellen Befundes scheint somit zu be-
stehen. Man könnte annehmen, dass der Pneumoniecoccus durch die Ver-
mischung mit anderen Bacterien die Fähigkeit einbüsse, eine typische Pneu-
monie zu erzeugen. Ein nicht geringerer Factor dürfte aber auch die in-
dividuelle Disposition, in noch höherem Grade aber die locale Dis-
position der Lunge sein. Jedenfalls darf man annehmen, dass ein gesundes
kräftiges Kind und eine ganz normale, gesunde Lunge anders auf die Infec-
tion reagiren wird, als ein schwächliches Kind und eine nicht völlig intacte
Lunge.
Hiemit Hesse sich gut in Einklang bringen, dass jüngere und schwächliche
Kinder in überwiegender Mehrzahl an Bronchopneumonie erkranken, wäh-
rend die croupöse Pneumonie erst vom 3. bis zum 7. Lebensjahre ihre höchste
Frequenz erreicht, dass fernerhin sich mit Vorliebe bei vorausgegangenen Bron-
chitiden und im Anschluss an bestimmte Infectionskrankheiten (wie Masern,
Keuchhusten) Bronchopneumonien entwickeln, dass endlich bei Thieren nachVa-
gusdurchschneidung constant katarrhalische Pneumonien auftreten. Halten wir
an den bacteriellen Ursachen der Lungenentzündungen fest, so bleibt uns
zunächst nichts anderes übrig, als für die meisten Fälle der oft klinisch so
PNEUMONIEN IM KINDESALTER. 289
grundverschiedenen Lungenentzündungen im Kindesalter einen gemein-
samen Entstehungsmodus) anzunehmen. Ob diese Anschauung die rich-
tige ist, das wird freilich weiteren Untersuchungen und der weiteren For-
schung überlassen bleiben müssen.
Die Therapie wird in erster Linie der Prophylaxis eine weit grössere
Aufmerksamkeit schenken müssen, als dies bisher geschehen ist. Eine Iso-
lirung der erwachsenen Pneumoniker, mehr aber noch eine Vernichtung
der Sputa muss bei dieser Krankheit in gleicher Weise gefordert werden,
wie bei der Phthisis pulmonum. Ebenso nothwendig ist eine Desinfection
aller mit den pneumonischen Sputis eventuell verunreinigten Gegenstände
(Taschentücher etc.).
Das Unterlassen dieser Maassregeln erklärt genügsam die bereits er-
wähnte Thatsache des Gebundenseins der Pneumonie an bestimmte Locali-
täten (Häuser und Wohnungen). Allgemeinere Vorschriften über das Lüften
der Zimmer und Schlafräume, das Aufwaschen der Fussböden etc. zu geben,
würde zu weit führen. Sie sind zwar selbstverständlich, werden aber oft
genug selbst von dem behandelnden Arzte nicht streng genug gefordert und
die Ausführung unterbleibt.
Nicht weniger Werth ist auf das tägliche Baden, das häufigere H ä n d e-
waschen und die Reinigung des Mundes bei Kindern zu legen. Aber
nicht bloss dann, wenn ein Familienmitglied an Pneumonie erki^ankt
ist oder ein Pneumoniekranker dieselbe Wohnung früher inne gehabt hat.
Mundausspülen und Gurgeln sollte den Kindern so frühzeitig wie möglich
beigebracht und angewöhnt werden. Kleineren Kindern muss der Mund vor-
sichtig mehrere Male des Tages ausgewaschen und gereinigt werden.
Ist die Krankheit zum Ausbruch gekommen, so pflegt gewöhnlich das
„hohe Fieber" die Angehörigen am meisten zu ängstigen. Man lasse sich
nicht verleiten, die Temperatur um jeden Preis herabdrücken zu wollen.
Namentlich sei bei der Pneumonie der Kinder vor Anwendung der modernen
Antipyretica {Antiptjrin, Antifehrin etc., etc.) ausdrücklich gewarnt. Sie wir-
ken auf Kosten der Herzthätigkeit. Collapserscheinungen, hochgradige Cyanose,
unregelraässiger, aussetzender, kleiner Puls und Sinken der Temperatur oft
unter die Norm sind beängstigende und geradezu gefahrdrohende Zustände,
welche nach diesen Mitteln bei Kindern leicht eintreten können. Die medi-
camentöse Temperaturherabsetzung vermag aber auch ohne diese Zwischen-
fälle weder den Pneumonieverlauf günstig zu beeinflussen, d. h. abzukürzen,
noch trägt sie dazu bei, das subjective Wohlbefinden der kleinen Patienten
zu heben. Den letzteren Einfluss dürfen wir aber den lauwarmen Voll-
bädern (25— 28° R) nachrühmen, an deren Stelle bei sehr schwächlichen,
elenden Kindern die PßiESSNiTz'schen Einwickln ngen des ganzen Körpers
treten mögen. Sehr zu empfehlen sind bei eintretender Atheminsufficienz,
drohender Herzschwäche und beginnender Kohlensäureintoxication kalte
Uebergiessungen (etwa 12—18° R) über Bauch und Kopf im lauwarmen
Bade. Sie sind sehr geeignet, tiefe und ausgiebige Inspiration anzuregen.
Nicht zu sparsam sei man mit der Verabreichung der Alkoholica und Ana-
leptica, besonders bei drohenden Schwächezuständen, bei Eintritt der Krise etc.
Champagner theelöffelweise, Wein, Cognac, Spiritus aethereus in Thee, Liquor
Ammon. anis., eventuell Kampferöl- oder Aetherinjectionen u. dergl.
Expectorantien (von „Brechmitteln" mache man möglichst wenig
Gebrauch!) sind nur da indicirt, wo wirklich Schleimmassen in den Bronchien
etc. vorhanden sind; also die Lösung der infiltrirten Stellen bereits erfolgt
ist: Ipecacaanha {Inf. rad. ipecac. Ol— OS: 100, Liquor. Ammon. anis. 0'5,
Syr. haisam. Peruvian. 15-0. 1—2 stündlich 1 Theelöffel!) und Apomorphin.
{Apomorph. hjdrochlor. O'Ol, Acid. hydrochlor. 0'5. Sijr. simpl. 20. Aqu. dest.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkranklieiten, Bd. ni. 1"
290 PNEÜMONOMYKOSIS.
q. s. ad 100. Det. in vitr. nigro. S. 2—3 stündlich 1 Theelöffel) möge hier
speciell erwähnt werden.
Bei fortbestehender Infiltration auch im Beginn derselben ist die Ver-
abreichung des Jodkalium (Kali jodat. l'O Aq. lauroceras. 0'5 Syr. simpl. 15-0
aq. dest. q. s. ad 120-0. 3 stündlich 1 Kinderlöffel) des Versuches werth.
Im grossen und ganzen müssen wir aber offen gestehen, dass der medi-
camentösen Behandlung ein specifischer Einfluss nicht zukommt, mögen wir es
mit der croupösen oder der Bronchopneumonie zu thun haben. Unser Haupt-
augenmerk wird stets darauf gerichtet sein müssen, die Kräfte der Kranken
durch eine geeignete Ernährung etc. zu erhalten und nicht durch unge-
eignete Medicamente (z. B. Digitalis) zu beeinträchtigen.
POTT.
Pneumonomykosis (abgekürzt Pneumomykosis) ist eine Bezeichnung
für die mykotischen Lungenaffectionen. Man versteht hierunter Krankheits-
processe, bei welchen eine Infection mit Schimmelpilzen*) in Frage kommt.
Würde man hiezu auch die Spaltpilzinfectionen rechnen, so wären auch die
croupöse Lungenentzündung und die Lungentuberkulose zur Lungenmykosis zu
zählen; letztgenannte Lungenaffectionen nehmen jedoch schon vermöge ihrer
klinischen Bilder und ihrer besonderen Frequenz eine vollständige selbst-
ständige Stellung; ein hieran reiht sich die Actinomykose der Limgen,
obwohl eine Reihe von Autoren den Strahlenpilz zu den Spaltpilzen rechnet
während andere an der früheren Anschauung, dass er einen Schimmelpilz vor-
stelle, festhalten.
Die Actinomycesinfection des Lungengewebes verläuft unter dem Bilde
einer eitrigputriden Bronchitis. Im Sputum findet sich der charakteristische
Pilz. Die physikalische Untersuchung weist Infiltrate mit oder ohne Höhlen-
bildung und acute oder meist chronisch entzündliche Affection der Pleura nach.
Nach Halban sind bis 1896 im ganzen circa 65 Fälle der Krankheit bekannt.
Die Lungenactino mykose hat gewöhnlich, in dem ünterlappen ihren Sitz, doch kann
sie zuweilen auch im Oberlappen beginnen. Die rechte Lunge soll häufiger befallen sein
als die linke (Silberstern). James Isreal hebt das gleichzeitige Vorkommen von Actino-
mykose der Zähne hervor, die sich aber keineswegs in allen Fällen von Lungenactino-
mykose findet. Differentialdiagnostisch gegenüber Lungentuberkulose ist der Befand von
Tuberkelbacillen, während elastische Fasern auch bei Lungenactinomykose im Auswurfe ge-
funden werden (Halban). Doch kann wie ein Fall Eichhorst"s beweist, Actinomykose zu
bestehender Tuberkulose dazukommen. In Begleitung der Lungenerscheinungen finden sich
zuweilen Nervensymptome wie Intercostalneuralgien, Paraesthesien, Vagussymptome
(Puls und Respirationsanomalien, Miosis). Der Process überschreitet die Lungengrenzen
und greift die Nerven an, ebenso wie er auch durch die Brustwand hindurch bis nach
aussen vordringen kann. Nach Schlange kann auf diese "Weise die ganze Pilzcolonie wie
ein Fremdkörper aus dem Körper ausgestossen und so die Heilung des Processes angebahnt
■werden. Diese Fälle sind es auch, in denen die Chirurgie den Weg zur Heilung ebnen kann.
Sonst ist die Prognose im allgemeinen infaust. Grosse Jodkaliumgaben und Tuberkulin-
injectionen werden weiters als Heilmittel empfohlen.
Von der Pleura aus kann die Actinomycesinfection ihren Weg ins Peri-
card, Mediastinum, in das Zwerchfell, in die Bauchhöhle und ins retroperito-
neale Gewebe nehmen. Ueberall, wo der Pilz hinkommt, entstehen Eiterherde,
die sich Fistelgänge und Höhlungen bahnen, während das benachbarte Gewebe
mit mächtiger Bindegewebswucherung reagirt.
Die Aspergillusmykose der Lungen ist eine seltene Erkrankung, in-
soferne der Aspergilluspilz direct die Ursache einer Lungenaffection bildet.
Hingegen sind die Fälle sehr zahlreich, in denen die Pilzwucherung secundär
in einem schon kranken, meist zerfallenden Gewebe erfolgte. So fanden
Hasse und Welkee den Pilz im Innern eines Lungenkrebses, Lichtheim in
den Herden einer embolisch infarcirten Lunge, Fürbringee in der tuberku-
*) Vergl. Artikel „Pilze'' im Bande „Hygiene und GerichtUche Medicin«.
PNEUMONOMYKOSIS. 291
lösen Lunge eines Diabetikers, Slugter in einer Lungengangränhöhle. Da-
gegen hat ViRCHOw zuerst einen Fall publicirt, in welchem der Pilz sich auf
der vorher gesunden Schleimhaut ansiedelte, also eine wirkliche parasitäre,
keine saprophitische Affection angenommen werden konnte. In gleichem Sinne
wäre auch ein Fall von Herterich als wahre, parasitäre Aspergillusmykose
aufzufassen. Zieht man auch jene Fälle in Berücksichtigung, in denen der Asper-
gillus in der Nase, im Ohre und im Auge gefunden wurde, so muss man sich
doch der ScHUBEUT'schen Anschauung anschliessen, welche sagt: die Asper-
gillen wachsen vorwiegend saprophytisch, auch wo sie sich in thierischen
Körperhöhlen finden, parasitär im engeren Sinne treten sie nur aus-
nahmsweise auf. Der wichtige Unterschied dieser Ansicht liegt in der
Frage des ätiologischen Momentes: das parasitäre Wachsthum gilt als krank-
heitserregend, das saprophytische ist eine Complication einer schon vorhan-
denen Krankheit.
Bei Thieren werden in den Luftwegen der Lunge sehr häufig Schimmelpilze beob-
achtet. Durch die Untersuchungen von Bollinger, Kitt, Schultz, Johne u. A. ist es ins-
besondere zweifellos bewiesen, dass die in eine vollkommen intacte Lunge mit der ein-
geathmeten Luft eingedrungenen Sporen gewisser Aspergillusarten sich daselbst zu ent-
wickeln und herdförmige Entzündungen mit Nekrotisirung des Gewebes zu erzeugen
vermögen.
Die Pneumonomykosis sarcinica stellt eine weitere Form von Lungen-
mykose dar, bei der die im Mageninhalt so häufig gefundene Sarcine sich in
der Lunge angesiedelt findet. In dem ersten von Virchow beschriebenen
Falle fand sich in dem mikroskopisch untersuchten Fetzen einer gangränösen
Lungenpartie, solche Menge voii Sarcine, dass die Masse fast ganz daraus zu
bestehen schien. Virchow hält diese Lungensarcine mit der Magensarcine
für identisch. Später haben Zenker, Friedreich, Nauwerk, B\mberger,
CoHNHEiM u. A. solche Fälle erwähnt.
Im Gegensatze zu Virchow hält Fischer die Lungensarcine als eine von
der Magensarcine differente Species und führt als unterscheidende Merkmale
an: die Lungensarcine ist bedeutend kleiner als die Magensarcine und farb-
los, während Magensarcine eine gelbe Farbe zeigt.
Die gegenwärtige Anschauung über die Bedeutung der Lungensarcine
geht dahin, dass sie durch ihre Ansiedlung das Lungengewebe nicht zu
schädigen vermag, dass sie insbesondere in tuberkulösen Lungen und bei
Lungeninfarct mit nachfolgender Gangrän gefunden wird, im Allgemeinen
aber immer nur einen zufälligen und nebensächlichen Befund bildet.
Lungensoor wurde zuerst von Slavjansky beschrieben (1867.) Derselbe
fand bei der Section eines an Lungenentzündung verstorbenen Kranken in dem
gesunden Oberlappen einen erbsengrossen Knoten, dessen mikroskopische
Untersuchung eine Anhäufung von Oidium albicans zeigte. Später hat
Rosenstein von einer Kranken berichtet, die wegen Epilepsie ins Spital kam
und plötzlich an putrider Bronchitis erkrankte. In den Sputis fand sich
massenhaft Oidium albicans. Rosenstein nimmt eine Infection von einem
benachbarten Patienten an, der an Soor litt. Der Fall endigte mit Genesung.
Die neuere Zeit hat keine weitere Mittheilung über Lungensoor gebracht, was
wohl dem Umstände zuzuschreiben ist, dass man zur Anschauung gelangte,
den Befund derartiger und ähnlicher Pilze als nebensächlichen Befund zu be-
trachten.
Pneumonomykosis mucorina beschrieb zuerst Fürbringer. Er fand bei
der Section einer Magencarcinomkranken mit zahlreichen Metastasen in Pleura
und Leber gangränescirende Lungenherde, deren mikroskopische Untersuchung
Conglomerate von Mucor mucedo ergab. An der Grenze dieser Lungenpartien
setzte die Pilzvegetation meist scharf ab, nur an einzelnen Stellen reichten
spärliche Mycelfäden bis ins gesunde Gewebe. Desgleichen fand Fürbringer
19*
292 PNEÜMO-SPIßOTHERAPIE.
in dem haemorrhagisch verdichteten Gewebe eines an Emphysem und Darm-
katarrh gestorbenen Mannes einen Mucorpilz in üppiger Vegetation.
Ausser den genannten Pilzformen wurde noch eine Reihe anderer Species
in den Sputis von Lungenkranken gefunden, ohne dass ein ätiologischer Zu-
sammenhang zwischen dem Vorkommen dieser Pilze und der Lungenaffection
erbracht werden könnte. e.
PneumO-Spirotherapie. Gewöhnlich bezeichnet man mit diesem
Namen die Behandlung der Krankheiten des Respirationstractes durch locale
Einwirkung von Luft von verschiedener Dichte auf die Lunge. Ich möchte
den Begriff der Pneumotherapie erweitern und denselben auf die Behandlung
von verschiedenen Krankheiten ausdehnen, bei denen die Medicamente in die
Lunge und durch diese ins Blut eingeführt werden; während ich den Begriff
der Spirotherapie auf jene Versuche einschränken möchte, bei denen das Me-
dicament mittelst In- und Exspiration in die Lunge gelangt.
Geschichte. Es ist nahe gelegen, bei einem Menschen der an Athembeschwerden
leidet, diese Beschwerden durch Einathmung verschiedener Substanzen zu behandeln. So
wurden denn im Zeitalter des Hippokrates solche Einathmungen in Form von Räucherungen
angewendet. — Die Erfahrung, dass Priester, die an Athembeschwerden litten, durch die
zu religiösen Zwecken angewendeten Räucherungen eine temporäre Besserung ihres Zu-
standes empfunden hatten, mochte den Anlass zur therapeutischen Verwendung der Räuche-
rungen gegeben haben. — Eben so wurde die Beobachtung, dass Brustkranke sich während
der Seefahrten wohler fanden, die Veranlassung die Athmung von Seeluft als Heilmittel
für Brustkranke zu verwenden. Räucherungen verschiedener, balsamischer harziger Sub-
stanzen und die Anwendung von Salzwasser und anderer die Lungen Schleimhaut austrock-
nender Substanzen blieben die spärlichen Anwendungen der Pneumo-Spirotherapie, bis
gegen das letzte Viertel des vorigen Jahrhundertes.
Mit Priestley, der im Jahre 1774 den Sauerstoff in der Luft entdeckt und rein dar-
gestellt und gezeigt hat, dass derselbe zum Athmen und zum Leben der Menschen und
Thiere unentbehrlich ist, wurden der Pneumo-Spirotherapie grosse Hoffnungen entgegen-
gebracht, die sich aber leider bisher nicht erfüllt haben. Der Grund hievon ist in dem
verwickelten Vorgang des Athmens zu suchen, der ungeachtet der zahlreichen, über diesen
Gegenstand angestellten Untersuchungen und Experimenten an Thieren und Menschen zur
Stunde noch immer nicht ganz aufgeklärt ist. Die Mehrzahl der Schriften, die sich mit
der Pneumo-Spirotherapie befassen, enthalten neben der Aufzählung und Schilderung der
vielen neu erfundenen Apparate und Behelfe, so wie der Applicationsmethoden dieser The-
rapie, nur hypothetische Behauptungen und sogar unrichtige Anschauungen^ die sich von
Buch zu Buch übertragen, und eine klare Auffassung und den Fortschritt in dieser Frage
gehindert haben.
In den nachfolgenden Blättern soll in Kürze der gegenwärtige Stand-
punkt der Frage besprochen werden. Es soll hier nicht etwa eine Compila-
tion aller diesbezüglichen Anschauungen aller angestellten Versuche und aller
neu erfundenen Apparate und Methoden gegeben werden. Eine solche würde
einen dicken Band füllen, ohne Klarheit und Verständnis in die Frage zu
bringen, noch einen Fortschritt in derselben anzubahnen. Es soll hier da&
Wesen, der Kern der Pneumotherapie biosgelegt, die gewonnenen unanfecht-
baren Resultate festgestellt, die unerwiesen hypothetischen als solche hin-
gestellt und gezeigt w^erden, in welcher Richtung ein Fortschritt in dieser
Therapie sich zu bewegen hat. Zu diesem Zwecke wird es nöthig sein allent-
halben die physikalischen und die vitalen Vorgänge auseinander zu halten,
und gesondert zu behandeln.
Wir beginnen mit dem normalen Athmen und haben dem Programme
gemäss zuerst den physikalisch chemischen, dann erst den vitalen Theil des-
Athmens zu besprechen.
Die atmosphärische Luft gleichviel ob dieselbe, an der Meeres-
küste, auf hohen Bergen, oder aus grossen Höhen mittelst Luftballon ge-
sammelt, oder aus der Tiefe der Bergwerke heraufgeholt wird, besteht haupt-
sächlich aus zwei coerciblen Gasen, dem Sauerstoff und dem Stickstoff,
und zwar dem Volumen nach, aus circa 21 Raumtheilen Sauerstoff und 79
Raumtheilen Stickstoff, in runder Zahl 20 Sauerstoff und 80 Stickstoff oder
PNEÜMO-SPIROTHERAPIE. 293
auf jeden Raumtheil Sauerstoff kommen 4 Rauratheile Stickstoff", die mitein-
ander innig gemengt, aber nicht chemisch gebunden sind. Ausser
diesen beiden Bestandtheilen findet sich in der Luft in minimalster Menge
ein neues, bisher nicht näher bekanntes Gas, das Argon und wie es scheint
auch das Helium, neben geringen Mengen von Kohlensäure zu gewissen
Zeiten und regionär auch Spuren von Ammoniak und Salpetersäure.
Ausserdem feste Körper in verschiedener Menge als Verunreinigung der
Luft. Diese sind in erster Linie der feine Detritus der verschiedenen Ge-
brauchsobjecte und der Nahrungsmittel, das sind Kohlenstoff oder Kohlen-
staub, fein zerriebene Wolle, Haare, Federn, Holz, Mehl, Kiesel und andere
Erden, Metalle und Pollenstaub neben verschiedenen kleinen, organisirten
Keimen, die verschiedenen Bacterien, und anderen Verunreinigungen, von
denen wir hier ganz absehen wollen.
Wenn wir hier von atmosphärischer Luft sprechen, so haben wir stets
die 3 Gase, den 0, den N und die COg im Auge. Der Kürze halber sollen die
Gase stets nur mit ihren kurzen, üblichen, chemischen (Symbolen) Bezeichnun-
gen gebraucht werden. Dabei sind der 0 und der N als die normalen Bestand-
theile, die COg als Verunreinigung der Luft zu betrachten. Die beiden normalen
Bestandtheile, der 0 und der N sind als indifferente Gase zu betrachten, die
gleichmässig miteinander gemischt, aber nicht verbunden sind und sich auch
für gewöhnlich nur unter gewissen Bedingungen miteinander und mit anderen
Stoffen chemisch verbinden. — Der 0 sowohl als der N befinden sich nicht
als Atome, sondern als Moleküle zu je zwei Atomen in der Luft vereinigt, also
als O2 und als Ng mit einander gemischt, und diese moleculare Bindung scheint
der Grund der Indifferenz der Gase zu sein; denn, wenn die moleculare Bin-
dung der 2 0 aus irgend einem Grunde aufhört und das Molekül in 2 selbst-
ständige Atome von 0 zerfällt, dann verbindet sich das frei gewordene 0 mit
anderen Atomen. Der 0 ist dann kein indifferentes Gas mehr, sondern ver-
bindet sich mit sehr vielen, um nicht zu sagen mit den meisten Elementen.
Der O2 zerfällt leicht aus dem Molekül in seine Atome um sich mit anderen
Atomen chemisch zu verbinden. Der Stickstoff hingegen ist im Molekül fester
verbunden, zerfällt nicht leicht in seine Atome, bleibt daher indifferent, nur
bei hoher Temperatur, durch Elektricität und durch andere Agentien gelingt
es das Stickstoffmolekül in seine Atome zu zerlegen und mit anderen Atomen
chemisch zu verbinden. In der atmosphärischen Luft findet dieses nicht oder
nur selten statt.
Alle Gase haben die Eigenschaft sich continuirlich auszudehnen und
w^eniger dicht zu werden. Sie dringen dabei in alle Gase, in alle Flüssig-
keiten und selbst in feste Körper ein. In Gase dringen Gase unbegrenzt,
d. h. eben so wie in den leeren Raum ein, in Flüssigkeiten dringen Gase nur
in beschränktem Maasse und in noch geringerem Maasse dringen dieselben in
feste Körper ein. Das Vermögen der Gase sich auszudehnen und dünner zu
werden würde zur endlichen Entfernung der Gase von unserem Planeten-
führen, wenn dieselben nicht durch die Schwere an demselben festgehalten
würden. Die Gase dehnen sich solange aus, bis die Kraft der Ausdehnung
eben so gross als die Schwerkraft ist. In der Höhe von etwa 10 deutschen
Meilen ist die Schwerkraft der einzelnen Luftmoleküle ebenso gross als ihr
Ausdehnungsvermögen und das ist nahezu die Grenze der Atmosphäre.
Weil die Luft schwer ist, drückt jede Luftschichte auf die unter ihr
liegenden, so dass die Luft im Niveau des Meeres am dichtesten ist, weil sie
den Druck aller über ihr liegenden Luftschichten zu tragen hat. Jede höher
gelegene Luftschichte hat weniger zu tragen, ist also weniger dicht. — Ein
Liter Luft im Niveau des Meeres, wird demnach dichter, also schwerer sein,
als ein Liter Luft aus der Höhe von 1000 Metern genommen. Im Niveau
des Meeres wiegt 1 Liter Luft bei 0^ 1-2930^ und ist etwa 770 leichter
294 PNEÜMO-SPIROTHEEAPIE.
als Wasser. Die Dichte oder Schwere der Luft ist an allen Orten messbar
und kann in Grammen ausgedrückt werden. Im Niveau des Meeres hat jeder
cm^ Luft die ganze Luftsäule zu tragen, die auf ihm lastet. Diese ganze
Luftsäule hat ein Gewicht von 1033-448 g, sie ist eben so schwer, wie eine
Quecksilbersäule, die 1 cm^ Fläche und 76 cm Höhe hat. Die Dichte oder
Schwere der Luft an einem beliebigen Punkt der Höhe wird demnach durch
den Barometerstand an diesem Punkte gemessen. — Im Niveau des Meeres
ist der mittlere Barometerstand 76 cm. Das Gewicht der ganzen Luftsäule auf
Icm^ Fläche bis zur Höhengrenze der Luft wird 1033*448^ — 1-033448 A;^
oder in runder Zahl 1 kg betragen. Eben so gross ist der Druck, den die
Luft auf jeden cm'^ der im Niveau des Meeres befindlichen Objecte übt.
Man nennt dieses Gewicht von 1 kg auf den cm'^ den Atmosphärendruck
oder den Druck von einer Atmosphäre. In einer Höhe, in der das Barometer
38 cw zeigt, wird die Luftschichte bis zur Höhengrenze nur 0-5 kg schwer sein
und auf jeden cm'^ nur einen Druck von O'bkg üben. Das Gewicht der Luft-
säule, welche auf alle Objecte drückt, mit denen die Luft in Berührung ist,
und die durch das Barometer gemessen wird, nennt man dieTension oder
die Spannung der Luft in der betreffenden Höhe. — Man spricht daher
von der Tension, von dem Drucke der Luft von 1. von V25 Vs» V41 • • • Vio
Atmosphäre und verstehet darunter einen Druck von 1, ^j^, Vs^ V4, • •• ^/lo %
auf dem cm 2, und von einem Druck von 2, 3, 4 . . . n Atmosphären also von
einem Druck von 2, 3, 4 . . .nkg auf den cm^.
Dieser Druck von 1 Atmosphäre d. i. von 1 kg auf jeden cm^ wird von
der gesammten Luft ausgeübt. Da die Luft aber aus 0 und N besteht, so
wird der Druck von beiden Gasen, aus denen die Luft sich zusammensetzt
ist, ausgeübt werden. Weil aber jedes der Gase so wirkt, als ob das andere
Nachbargas gar nicht vorhanden wäre, so wird jedes der beiden Gase sich
an dem Atmosphärendruck in dem Maasse seiner Quantität betheiligen. Der
0 beträgt ^s^ der N ^/g der Atmosphäre; es wird daher der 0 einen Druck
von 200^ und der Stickstoff einen solchen von 800 g auf den ctn^ ausüben.
Den Druck, den der 0 und der N für sich auf die Einheit der Fläche übt,
nennt man den Parti al druck der einzelnen Gase. In einer Höhe, in
welcher das Barometer 19 cm zeigt, wird der 0 einen Partialdruck von 60 g
und der N einen solchen von 200 g haben. Es ist leicht einzusehen, dass in
sehr hohen Luftregionen, der Partialdruck der beiden Gase sehr klein werden
muss, obwohl das Verhältnis derselben zu einander ungeändert wie 1 : 4 bleibt.
Man sollte daher erwarten, dass die beiden Gase, nach ihrem Partial-
druck in die Flüssigkeiten und in die feste Körper eindringen werden, dass also
diese Gase auch im Verhältnis wie 1:4 ins Wasser und in andere Flüssig-
keiten dringen. Das ist nun nicht der Fall. Ein Liter Wasser nimmt (bei
0^ und 760 cm) nur 0-041 Liter 0 und nur 0-0018 Liter N auf. Das Wasser
vermag also unter denselben Verhältnissen etwa 28 mal weniger N als 0
aufzunehmen; d. h. die Löslichkeit des 0 ist für Wasser 28 mal so gross als
jene für den N.
Das im Wasser oder in einer anderen Flüssigkeit gelöste Gas ist zwar
unverbunden, aber als solches nicht sieht- oder erkennbar. Es ist zwischen
den Flüssigkeitsmolekülen vertheilt, und kommt erst als Gas wieder zum Vor-
scheine, wenn der Druck auf die Flüssigkeit kleiner, oder wenn die Tem-
peratur derselben grösser wird; dann kann die Flüssigkeit das Gas nicht in
derselben Menge gelöst enthalten, das Gas kommt dann in Form von Gasblasen
zum Vorschein. — Soviel über die physikalisch chemischen Eigen-
schaften der Luft.
Das Athmen ist ein vitaler Vorgang, der durch das ganze Leben
dauert, automatisch vor sich gehet, von dem Willen des Athmenden unabhän-
gig ist, gegen sein Willen erfolgt, und nur mit dem Tode endet. Die dau-
PNEÜMO-SPIEOTHERAPIE. 295
ernde Hinderung des Athraens ruft unausbleiblich den Tod herbei. — Der
mechanische Theil des Athmens besteht in einer temporären Erweiterung des
Brustkastens, durch Verkürzung der Inspirationsmuskeln, wodurch die Luft in
den Brustkasten eindringt, und in einer Erschlaffung der Muskulatur, wodurch
der Brustkasten zusammenfällt, der Hohlraum der Brust wird kleiner, die
eingedrungene Luft wird zum Theil wieder ausgepresst. Die In- und Exspira-
tion erfolgt beim automatischen Athmen rhytmisch, 12 bis 16 mal in der
Minute. l)as Athmen kann in Krankheiten arrhytmisch, sehr beschleunigt
(bis 140 — 160 mal in der Minute) oder sehr verzögert (6 — 8 mal in der
Minute) werden, und auch durch den Willen lässt sich die Tiefe und Frequenz
des Athmens innerhalb bestimmter Grenzen vergrössern oder verkleinern. Die
Automatik des Athmens hängt von der unwillkürlichen Verkürzung der In-
spirationsmuskeln, und Erweiterung des Binnenraumes des Brustkastens ab,
die durch das 0 Bedürfnis des Centralnervensystems herbeigeführt ist. Wenn
dieser 0 Bedarf im Nervensystem nicht vorhanden ist, werden die Inspirations-
muskeln sich nicht verkürzen, der Thorax sich nicht erweitern, es wird kein
automatisches Athmen erfolgen, es wird ein Zustand der Apnoe vorhanden
sein, der so lange dauern wird, bis sich der 0 Bedarf geltend macht und die
Athemmuskeln zur automatischen Verkürzung veranlasst.
Bei der Exspiration wird nicht der gesammte Luftinhaft der Lunge aus-
gepresst, ein Theil derselben, ^g — Vio des Volumens, bleibt in der Lunge
zurück, {the residual air). Bei der Inspiration wird nur so viel Luft ein-
dringen als früher bei der Ausathmung ausgeathmet worden ist, d. i. 400
bis 500 cm^ Luft. Es kommt daher die eingeathmete Luft nicht direct mit
den Lungenbläschen in Berührung, sondern nur mit der daselbst zurück-
gebliebenen Luft mit der residual air, und mit dieser findet ein Austausch
der Gase, zwischen ihr und der eingeathmeten Luft nach dem Gesetze der
Diffusion der Gase statt. Dieser Austausch ist kein continuirlicher, sondern
nur ein unterbrochener, in solange die eingeathmete Luft mit der residual air
in Berührung geblieben ist. Nur die residual air ist dauernd mit der inne-
ren Wand der Lungenbläschen in Berührung und übt daselbst ihre Wirkung aus.
Es wurde als Eigenschaft der Gase in Flüssigkeiten und selbst in feste
Körper einzudringen angeführt und es wurde die Löslichkeit des Wassers
für 0 und N in Zahlen angegeben. — Ob auch das Blutserum den 0 und
den N aufzulösen vermag und wie gross die Löslichkeit des Blutserums für
jedes der beiden Gase ist, darüber fehlen zur Stunde exacte Beobachtun-
gen. Für das gewöhnliche Athmen kommt übrigens die Frage über die
Löslichkeit der Luftbestandtheile weniger in Betracht, denn das
Wesen der Athmung ist nicht in den im Blutserum gelösten Luftbestandthei-
len, sondern in dem von den rothen Blutkörperchen lose gebundene 0 zu su-
chen. Das in den rothen Blutkörperchen enthaltene Hämoglobin besitzt eine
Afßnität zum 0, mit dem es sich lose zu Oxyhämoglobin verbindet. Das Blut,
welches früher dunkel war, wird durch diese lose chemische Verbindung hell-
roth, zu arteriellem Blute umgewandelt. Diese Umwandlung des dunkeln, ve-
nösen Blutes in helles, arterielles Blut, nennt man die B 1 u t- oder Lungen-
athmung. Diese Lungenathmung stellt aber nicht etwa eine Verbrennung des
im Eiweiss (Hämoglobin) enthaltenen C zu COg vor, sondern eine chemische
Bindung des 0 vom Hämoglobin, nachdem dasselbe seinen COg Gehalt abge-
geben hat. Wobei zu bemerken ist, dass die COg nicht in der Lunge, jedenfalls
nicht ganz in der Lunge producirt, sondern mit dem venösen Blute mitge-
bracht wird. In den Lungencapillaren findet ein Austausch durch
Diffusion zwischen der im venösen Blute gelösten COg und dem
0 der residual air statt. Der diffundirte 0 wird dann vom Hämoglobin
lose gebunden und als arterielles Blut zu allen Geweben und zu allen Organen
des thierischen Kölners weiter geführt. In den Geweben erfolgt der
296 PNEÜMO-SPIROTHERAPIE.
wichtige, vitale Vorgang der Gewebsathmung. In allen Geweben
und Organen wird durch die Einmrkung des 0 des Blutes, die specielle Func-
tion des Gewebes oder des Organes eflfectuirt. Die verschiedenen Muskeln
ziehen sich zusammen, leisten Arbeit und verbrauchen dabei 0. Das Gehirn,
die Ganglien und die Nerven üben ihre verschiedenartige Function aus und
verbrauchen dabei 0. Die Drüsen bereiten ihr verschiedenartiges Secret und
entleeren dasselbe. Bei der Gewebsathmung wird 0 verbraucht, es wird das
Körper- oder Organeiweiss zerlegt, es bilden sich eine grosse Zahl fester,
flüssiger und auch gasiger Zerfallproducte, aber auch eine beträchtliche Zahl
neuer Synthesen; vitale Vorgänge, von denen nur einige Se- undExcrete, wie
Harnstoff, Harnsäure, Galle, Schweiss, Zucker, Kohlensäure etc. unvollkommen
bekannt sind. Die gasigen Zerfall- und Ausscheidungsproducte der Gewebs-
athmung erfolgen in der Kegel durch die Lunge, aber auch durch die Ober-
fläche der Haut und des Darmes. Unter diesen ist die COg am genauesten
bekannt, und lässt sich leicht qualitativ und quantitativ bestimmen; die anderen
sind noch wenig bekannt, viele derselben machen sich durch einen Übeln
Geruch bemerkbar, alle sind ausnahmslos mehr oder wenig schädlich, oder
giftig und wirken krankmachend, wenn sie im Körper zurückgehalten werden,
oder wenn sie einem anderen Organismus einverleibt werden.
Auch von der bestbekannten COg weiss man nur, dass sie nicht durch
directe Verbindung des 0 mit dem bei dem Zerfall des Eiweisses freigewor-
denen C entstehet, sondern dass sie wahrscheinlich aus den im Blute vor-
handenen Bicarbonaten durch Umwandlung in Monocarbonate hervorgeht.
Sowohl die COg als die anderen noch nicht näher bekannten gasigen Zerfall-
producte der Gewebsathmung gehen von den Körper- oder Gewebscapillaren
in die Venen und mit diesen in die Lungencapillaren, wo sie durch Diffusion
in die Reserveluft ausgeschieden werden.
Es muss noch einmal hervorgehoben werden, dass so wie bei der Muskel-
contraction auch bei der Gehirn- und Nervenfunction stets 0 verbraucht und
COg und andere Zerfallproducte aus den Capillaren in die Venen ausgeschieden
wird, dass die Hirn- und Nervenfuction so wie die Muskelcontraction beim
Fehlen von 0 beeinträchtigt oder verhindert ist. Die automatische Erweiterung
des Thorax durch die Inspirationsmuskeln erfolgt stets nur über Anregung des
nervösen Respirationscentrums zu dem Zwecke, um dem Mangel an 0 abzu-
helfen und vorzubeugen und zwar ohne dass diese Nervenfunctien zum Be-
wusstsein des Athmenden kommt; daher auch die Unmöglichkeit das Athmen
willkührlich zu unterdrücken; denn sobald der 0 Mangel sich im Respirations-
centrum fühlbar macht, gleichviel ob das Bewusstsein noch vorhanden oder
schon geschwunden ist, werden die Inspirationsmuskeln zur Contraction und
zur Erweiterung des Brustkastens angeregt. Andererseits, wenn sehr viel ar-
terielles Blut vorhanden, oder wenn dasselbe sehr 0 reich ist, (wie bei den
Vögeln, besonders bei den Wasservögeln) oder wenn das Gehirn und Rücken-
mark bei seiner Function nur sehr wenig 0 verbraucht, wo sich also nicht
leicht ein 0 Mangel fühlbar macht, wird die Respiration sehr verlangsamt
sein und für längere Zeit ganz ausbleibenkönnen. Eine Ente kann 10—12
Minuten lang ohne Nachtheil mit dem Kopf unter Wasser gehalten werden, sie
braucht so lange nicht zu athmen, während ein Säugethier unter denselben
Verhältnissen schon nach 2—3 Minuten unter dem Wasser zu athmen
gezwungen ist und dabei ertrinkt. Beim Säugethier stellt sich sehr bald
Dyspnoe ein. Beim Vogel ist Apnoe vorhanden und erst nach 10—12
Minuten stellt sich Dyspnoe ein.
Der vitale Vorgangdes physiologischen Athmens besteht
demnach in der losen chemischen Bindung des 0 in den Lun-
gencapillaren und in der Abgabe desselben in den Körperca-
pillaren der Gewebe sowie in der Einleitung einer Umlagerung
PNEUMO-SPIROTHERAPIE. 297
und eines Zerfalles der Eiweissmolecüle und Abfuhr und Aus-
scheidung der Zerfallproducte {Geivehsathmung).
In den Lungencapillaren besteht aber noch ein anderer vitaler Vorgang,
die Absorption. Die die Lungencapillaren bedeckende Schleimhaut, respec-
tive das Epithel derselben hat die Fähigkeit nicht nur gasige, sondern auch
flüssige und selbst feste Substanzen theils durch die Wand hindurch, theils
durch Mündung der Lymphgefässe aufzunehmen und direct oder indirect ins
Blut und in die Gewebe zu bringen.
Die Aufnahme von nicht gasigen Substanzen wurde zwar eine Zeit lang
negirt, aber jetzt ist die Aufnahme sichergestellt. Man kann es jeden Augen-
blick, durch das Thierexperiment und am Menschen auf dem Sezirtisch nach-
weisen, dass fein vertheilter Kohlenstaub, abgesehen von den vielen Hinder-
nissen, die derselbe an unregelmässigen Ausbuchtungen in der Nasen- und
Rachenhöhle, an den Falten und Isthmen des Kehlkopfes, an der klebrigen
Auskleidung des Luftröhrentractes und in der Flimmerbewegung für seine
Fortbewegung findet, doch bis in die Lungenbläschen vordringt und sich in
das extravesiculäre Lungengewebe ablagert (Arnold) und noch besser ist die-
ses durch die künstliche Einführung des fein vertheilten Carmins, Zinnobers
und anderer Anilin-Farbstoffe in die Lunge nachzuw^eisen. Man kann ferner
durch die Einführung von Milch in die Luftwege sehr bald Milchkugeln im
Blute und in den Geweben nachw^eisen (Peiper). Ebenso zeigt sich, dass
geringe Mengen extravasirten Blutes rasch in den Lungenbläschen absorbirt
werden (Nothnagel). Nur von den Bacterien und den Schimmelpilzen ist
die Absorption in der Lunge nicht mit Sicherheit constatirt, jedenfalls werden
die Stoffwechselproducte der Mikroorganismen, so wie andere Flüssigkeiten
und verflüssigte Gifte in der Lunge absorbirt und von da in die Lymphe,
und ins Blut gebracht. Unter solchen Verhältnissen wird es begreiflich, dass
die Athmung die Quelle von Krankheiten werden kann.
In der Wirklichkeit werden Krankheiten hervorgebracht,
1. entweder dadurch, dass die krankmachende Substanz direct ins Blut
gebracht wird, durch subcutane oder intravasculäre Einspritzung.
2. Indem dieselbe in die Verdauungswege gebracht und von dort durch
Eesorption ins Blnt gelangt.
3. Indem dieselbe mit der eingeathmeten Luft in die Lungen kommt
und von dort im Wege der Resorption in die Blutbahn gelangt. Man hat
es bereits seit langem gewusst, dass viele Blut- und Infectionskrankheiten ihren
Eintritt in den Körper durch die Lunge nehmen.
Ziffermässig ist die Krankheitsfrequenz, wie sie durch den Verdauungs-
tract, und auf dem Wege der Athmung zustande kommt, noch nicht festge-
stellt, aber man wird kaum fehlgehen mit der Annahme, dass die Mehrzahl
der Infectionskrankheiten durch die Lunge ihren Weg nimmt, und daher
der Ursprung der Pneumo-Spirotherapie, welche auch das Heilmittel durch
die Lunge in den Körper bringen will. — Man hatte bei dieser Methode
hauptsächlich die Erkrankungen der Lunge im Auge gehabt und hat es als
Hauptvorzug der Methode angesehen, dass sie gleichsam eine locale Therapie
der Lungenkrankheiten bewirken soll, doch ist diese Anschauung nicht ganz
richtig. Der Nutzen der localen Therapie soll nicht geleugnet werden, aber
die Lungenerkrankungen sind der Mehrzahl nach allgemeine Erkrankungen,
manche sogar constitutionelle Krankheiten, bei solchen aber ist und bleibt die
allgemeine Behandlung die Hauptsache. Bei Blattern, Scharlach, Typhus,
Syphilis etc. wird die locale Behandlung nur ein Adjuvans der allgemeinen
Behandlung sein, und so soll es auch bei den Lungenkrankheiten sein. — Nur
jene locale Behandlung, bei welcher das Medicament von dem Krankheitsherd
ins Blut dringt und daselbst seine therapeutische Wirkung übt, hat eine selbst-
ständige Berechtigung, das ist aber dann eine allgemeine Behandlung. Die
298 PNEUMO-SPIROTHERAPIE.
Pneumo-Spirotherapie ist eine solche allgemeine Behandlung, bei welcher das
Heilmittel von der Lungenschleimhaut aus in Blut gebracht wird.
Nachdem nun die Medicamente in allen 3 Aggregatzuständen vorkommen,
so handelt es sich darum zu bestimmen, ob die Pneumo-Spirotherapie
als allgemeine Methode für feste, flüssige und gasförmige
Heilmittel anwendbar ist; ob und welche Vor- und Nachtheile sie gegen
die anderen Applicationsarten per os, durch die Einbringung der Medicamente
durch die Haut, durch das subcutane Bindegewebe oder durch directe Einfüh-
runo- in die Venen, durch die Methode der Infusion und Transfusion hat.
Es muss die Pneumo-Spirotherapie als Methode zur Aufnahme sowohl
fester, als flüssiger und gasförmiger Heilmittel in die Lunge und Ueberführung
derselben ins Blut als zulässig bezeichnet werden; denn Niemand wird leug-
nen dass die kräftige Einblasung von fein vertheilten Calomel oder eines an-
deren alkoholisirten, medicamentösen Pulvers, welches direct in die Trachea
gebracht wird, im Körper die Quecksilber- oder eine andere therapeutische
Wirkung hervorbringen wird. Ebenso wird jedermann zugeben, dass eine
wässerige Lösung von Jodkalium oder eines anderen Medicamentes, welche
durch ein Instrument wie bei der Tubage durch die Stimmritze direct in die
Luftröhre gespritzt wird, im Körper die Wirkung des Jodkali oder des anderen
gelösten Medicamentes zeigen wird. Aber es wird diese Methode der Ein-
blasung eines fein vertheilten Pulvers oder die Einspritzung eines gelösten
Medicamentes direct in die Trachea, wohl kaum jemals eine allgemeine Ver-
wendung finden. Beide Applicationsarten wurden eine Zeitlang von Laryn-
kologen verwendet, sind aber mit Kecht gegenwärtig ganz aufgegeben. Es
unterliegt gar keiner Schwierigkeit sowohl feste als auch flüssige Medicamente
in Form von gasigen, d. i. von athembaren Medicamenten umzuwandeln, so
dass die Pneumotherapie zur Spirotherapie wird.
Vorerst sollen die in der Natur zu beobachtenden Verände-
rungen besprochen werden, die beim Athmen verdünnter und ver-
dichteter Luft sich einstellen.
a) Das Wesen der Bergkrankheit und der klimatischen Kurorte*
Es ist eine bekannte Thatsache, „dass die besten Fussgänger in der Ebene
beim Bergsteigen früher oder später stark ermüden, und dass die Ermüdung mit
zunehmender Höhe sich aussergewöhnlich steigert." Zuerst macht sich nur eine
Schwere in den Beinen bemerkbar, beim Höhersteigen kommt es zu einer allge-
meinen Ermüdung, das Athmen wird schwer, kurz und keuchend, der Puls wird schnell,
der Kopf ist eingenommen. Der Bergsteiger muss öfters anhalten und ausruhen.
Bei noch höherem Aufstieg, steigern sich die Beschwerden, es stellen sich starke Be-
klemmung und Schwindel ein, der Bergsteiger ist gezwungen sich nieder zu legen
um auszuruhen, schliesslich treten Ohnmächten ein, derselbe ist gezwungen, das Ziel
aufzugeben. Diese Erscheinungen wurden von Sausure, Humbold, den Brüdern
ScHLAGiNTWEiT uud Anderen in voller Uebereinstimmung geschildert, und zwar in den
europäischen Alpen bei einer Höhe von 2000 — 2500 m und in den transoceanischen
Bergen bei einer Höhe von 3000 — 3500 m, und doch schwinden alle Beschwerden,
sobald der Gipfel oder der Rücken der Berge erstiegen ist. Ich brauche nur auf
die Bevölkerung, die auf der Hochebene von Mexico lebt und auf die im Hymalaya-
Gebirge gelegene reich bevölkerte Stadt Daba, die in einer Höhe von 4800 m liegt,
etwa so hoch wie die Spitze des Montblanc, hinzuweisen. Auf dem Rücken der Anden
und der Cordilleren gibt es Ansiedelungen, wo Tausende, von Menschen leben, schwer
arbeiten, auf die Jagd gehen und Kriege führen etc.
Auf die vielen unrichtigen Erklärungen, die man für die Beschwerden beim
Bergsteigen gegeben hat, kann ich hier nicht näher eingehen, eben so wenig befrie-
PNEÜMO-SPIROTHERAPIE. 299
cligt die Annahme „einer Gewöhnung" für das Verschwinden der Beschwerden, beim
Ersteigen des Gipfels der Berge.
Schon Alexander von Humbold hat die Beschwerden beim Bergsteigen dem
Mangel an 0 zugeschrieben, und Paul Bebt hat durch seine schönen Untersuchungen
nachgewiesen, dass mit der zunehmenden Berghöhe die Tension des 0 abnimmt und
ein 0 Deficit entsteht, welches die Lungen- und Gewebsathmung insufficient er-
scheinen lässt, und dass dieses 0 Deficit sich um so bemerkbarer macht, wenn durch
Muskelanstrengungen oder andere Körperfunctionen 0 verbraucht wird. Dabei bleibt
es aber immer noch unerklärt, warum die geschilderten Beschwerden beim Erreichen
des Bergesgipfels verschwinden, da in dieser Höhe das 0 Deficit noch fort besteht.
Es wurde jedoch bald der Weg für eine Erklärung der unerklärbaren Er-
scheinung gegeben. Das 0 Deficit kann unschädlich gemacht werden, durch ein
geringeren Verbrauch von 0, eine Art von Accomodation der Ausgabe des 0, der gerin-
geren Einnahme desselben entsprechend, wie beim Winterschlaf der Thiere, wo der
Verbrauch sich der geringeren Einnahme des 0 anpasst, oder durch anderweitige
Deckung des 0 Deficites.
A. Münz hat im Jahre 1883 eine Anzahl Kaninchen auf den Pic du midi in
eine Höhe von 2887 m gebracht und das Blut derselben mit dem Blute der Nach-
kommen verglichen und gefunden, dass 100 gf Blut der Bergkaninchen ein spec.
Gewicht von 1060*4 und 70-2 mg Eisen enthielten, während 100 (/ Blut der Thal-
kaninchen ein spec. Gewicht von 1046-2 und 40-3 mg Eisen enthalten. Viault
hat zum Studium des Einflusses der verdünnten Luft auf den Organismus die Hoch-
ebenen der Cordilleren in Equador, Peru und Bolivia besucht und in Marococha,
einem Bergort in einer Höhe 4392 m, sowohl an sich selbst, als bei anderen An-
kömmlingen die Zahl der rothen Blutkörperchen in. 3 Wochen von 5,000.000 auf
8,000.000 immm^ steigen gesehen. So gross war auch die Zahl der rothen Blut-
körperchen bei den Bewohnern von Morococha. Im Jahre 1893 hat er die Versuche
an Hunden, Hühnern, Kaninchen etc. fortgesetzt, die er auf den Pic du midi ge-
bracht und schon nach 14 Tagen eine Vermehrung der Blutkörperchen nachweisen
konnte. — Noch schlagender wurde die Zunahme der rothen Blutkörperchen mit
der Lufthöhe in Arosa 1800 w über der Meeresfläche erwiesen. Egger, der Arzt in
Arosa, hat an sich und an vielen Kranken, auch an Kellnern und anderen Dienst-
personalen, schon wenige Stunden nach deren Ankunft, ebenso an Kaninchen,
die nach Arosa gesendet worden, eine solche Zunahme der rothen Blutkörperchen
von circa 1,000.000 im mm ^ Blut nachgewiesen, nachdem die Zahl der Blutkörper-
chen von Professor Miescher vor der Abreise nach Arosa bestimmt worden sind.
KöppE hat dieselbe Zunahme der rothen Blutkörperchen in Reiboldsgrün, das
nur 700 m über der Meeresfläche liegt, beobachtet. Derselbe hat auch nachgewiesen,
dass der Hämoglobingehalt im Gebirge zunimmt, wenn auch nicht in dem Maasse wie
die Zahl der Blutkörperchen.
Das Experimentum crucis war, dass Menschen und Thiere bei ihrer Rück-
kehr von Arosa nach Basel wieder ihre frühere Zahl der Blutkörperchen gezeigt
haben. Es wurde demnach in dem Maasse als der 0 mit der Meereshöhe insufficient
geworden, aus dem Knochenmark und aus den anderen blutbereitenden Organen neue
Blutkörperchen erzeugt, welche die Oberfläche zur Aufnahme des 0 in dem Maasse
vergrössert haben als durch die geringere Tension des 0 die Aufnahme desselben in
einem Blutkörperchen kleiner geworden. Die neugebildeten Blutkörperchen waren
kleiner als die alten und sind erst allmälig gewachsen. Bei der Rückkehr vom
Gebirge ins Thal zerfallen die rothen Blutkörperchen wieder und sinken auf die
frühere Zahl herab.
Daraus erklärt sich auch die therapeutische Wirkung des Höhenklimas.
1. Die Anregung zur Blutbereitung und die nachweisbare Neubildung von
rothen Blutkörperchen.
300 PNEUMO-SPIROTHERAPIE.
2. Im Höhenklima ist die Luft weniger CO2 liältig, es wird die Entkohlung
des Blutes rascher vor sich gehen, auch findet sich weniger Staub und auch
weniger Bakterien in der Bergluft.
3. Genaue Messungen haben ergeben, dass mit der Abnahme des 0 auch
wenig CO2 producirt wird, dass hauptsächlich die G-ewebsathmung und der Gewebs-
zerfall kleiner ist, daher eine Conservation des Körpers erreicht wird. Wenn unter
solchen Verhältnissen die Lungenkrankheit geheilt ist, so kann, die Heilung nach
Eückkehr des Genesenen ins Thal eine dauernde sein. Indessen wird die Heilung
durch den temporären Bergaufenthalt nicht immer erfolgen, und bei der Eückkehr
ins Thal, werden dann die alten Verhältnisse platzgreifen.
Es muss hier gleich hervorgehoben werden, dass die Zunahme der Blutkörper-
chen mit der Meereshöhe nur innerhalb gewisser Grenzen gilt. Bis zu einer Höhe
von etwa 4000 m wurde sie von Viault nachgewiesen, doch ist es nicht wahr-
scheinlich, dass die Zunahme eine unbegrenzte ist, und dass dieselbe im Stande ist,
den 0 Deficit unter allen Verhältnissen zu decken, es scheint vielmehr, dass beim
Menschen und auch beim Säugethier die Abnahme des 0 der Luft auf weniger als
10 — 12% für längere Dauer mit dem Leben nicht vereinbar ist. Die Versuche, die
mit dem Luftballon in dieser Richtung angestellt worden, scheinen bei aller Unvoll-
kommenheit der Beobachtung dafür zu sprechen, dass bei einer Höhe über 10.000 m
das Leben wegen zu geringer Tension des 0 nicht erhalten werden kann. Berühmt
und unübertroffen ist die am 5. September 1862 von Coxwell und Glaishee
zu wissenschaftlichen Zwecken unternommene Ballonfahrt. Glaishee ist schon in
einer Höhe von etwa 8000 m bewusstlos geworden. Coxwell fühlte sich zwar sehr
unwohl, war aber noch bei vollem Bewusstsein. Er dachte an den Abstieg, und als
er den Arm erhob, um die Klappe zu öffnen, um das Gas ausströmen zu lassen, so
war diese geringe Körperbewegung hinreichend, um auch ihn bewusstlos in die Gon-
del zurückfallen zu lassen. Beide Luftsegler blieben bewusstlos, bis sie beim Falle
des Ballons in eine Höhe von etwa 7000 m gelangt waren. Die mitgeführte Taube
war todt.
Man darf annehmen, dass in einer Höhe von 11.000 m die Tension des 0 so
gering ist, dass dieselbe nicht hinreicht das dunkle, venöse Blut roth zu machen, es
hört das Athmen und mit diesem die Circulation auf, der Tod eines jeden lebenden
Wesen ist die unausbleibliche Folge einer solchen Ascension. Doch wäre es wün-
schenswerth auch bei der Ballonfahrt ähnliche Beobachtungen über Blutkörperchen-
zahl, Hämoglobingehalt und specifisches Gewicht des Blutes der Luftschiffer, schon
in niederen Lufthöhen anzustellen.
b) Krankheiten der Taucher und der Caissonarbeiter.
Nun sollen noch jene Beobachtungen besprochen werden, die bei gewissen
Berufsarten durch das Athmen in verdichteter Luft sich ergeben. Es sind diese
Beobachtungen von jenen über die therapeutischen Ergebnissen des Athmens in
verdichteter Luft sorgfältig zu trennen, weil es sich bei den letzteren nur um
einen relativ geringen Ueberdruck handelt, der nur selten die Gesundheit schädigt,
während es bei den nun zu besprechenden Beobachtungen stets um einen mehrere
Atmosphären betragenden Ueberdruck handelt, der immer schädlich ist, und bei
welchen besondere Cautelen nothwendig sind, um dauernde Gesundheitsstörungen
oder den Tod zu verhüten.
Die Taucher, Perlfischer, die Arbeiter bei Fundirungen von
Wasserbauten in der Tiefe von Flüssen oder am Boden des Meeres, sind gezwun-
gen, eine Luft zu athmen, die auf mehrere Atmosphären comprimirt ist. Diese
Art Berufsmenschen sind gezwungen in einem Taucherapparat, oder in Taucher-
glocken, oder in Cylindern, in Kästen (Caissons) zu athmen und zu arbeiten, in
denen die comprimirte Luft der Wassersäule, die auf den Tauchapparat ruht und
auf denselben drückt, das Gleichgevdcht hält. Nun entspricht eine Wassersäule von
1000 cm Höhe, und l cm^ Fläche dem Gewichte von circa 1 Ay d. i. von einer
PNEÜMO-SPIROTHERAPIE. 301
Atmosphäre. Man kann daher sagen, dass in der Tiefe von 10 m, die Athemhift
des Tauchers einen Ueberdruck von 1 Atmosphäre hat, also auf 2 Atmosphä-
ren comprimirt sein wird. In einer Tiefe von 20, 30, 40 ... . 60 Meter, wird die
Athemluft des Tauchers auf 3, 4, 5 ... 7 Athmospären comprimirt sein. Nun
enthält die Luft, an der Meeresfläche unter dem Drucke 1 Atmosphäre in einem
bestimmten Volumen, (1 Liter) 20 Theile 0 und «ü Theile N. Sie wird daher in
der Tiefe von 10, 20, 30 . . . n mal 10 m auf 2, 3, 4 . . . (n-(-l) Atmosphären
comprimirt sein; es wird daher in der genannten Tiefe 1 Liter Athemluft 40, 60,
80 . . . (n -j- l)mal 20 Theile 0 und 80, 160, 240 .. . (n -[- 1) 80 Theile N ent-
halten. Nachdem in den blauen Gewässern von Kamtschatka eine Tiefe von 5000 m
und im atlantischen Ocean, 20 k»t vom Aequator entfernt, eine Meerestiefe von
7370 m gemessen worden, so wird die Luft in dieser Tiefe auf 600 bis 700 At-
mosphären comprimirt sein, d. h. 1 Liter Luft wird 1220 bis 1420 Theile 0 und
48.800 bis 56.800 Theile N, demnach 600 bis 700 mal so viel 0 und N enthal-
ten als an der Meeresfläche. Das sind Druckgrössen, die kein warmblütiges Thier
und nur wenige Kaltblüter zu ertragen vermögen. Nur gewisse Weichthiere, Fische
und Aale, deren AVeichtheile halbflüssig und incompressibel sind, vermögen einen so
hohen und selbst einen noch höheren Druck zu ertragen. Bei Warmblütern ist ein
Druck von 5 Atmosphären die Grenze, bei der das Leben noch erhalten bleiben kann.
Taucher und Arbeiter bei Wasserbauten werden sich nicht leicht entschliessen
in einer 40 ni übersteigenden Tiefe zu arbeiten, da die Gefahren für sie schon bei
Arbeiten innerhalb 40 m Tiefe sehr gross sind, und bei dieser aus gesunden, jungen
und kräftigen Männern bestehenden Gesellschaft eine jährliche Sterblichkeit von circa
40°/() zeigen (Le eoy de Meeicouet).
Bei einem Druck von 4 — 5 Atmosphären ist sowohl von Seite des 0, beson-
ders aber von Seite des N eine Gefahr für das Leben des Athmenden enthalten.
Zahlreiche Versuche haben ergeben, dass ein Blut, welches mehr als 20°/q 0 enthält
auf das Central-Nervensystem reizend und bei stärkerer Concentration sogar giftig
wirkt und dasselbe unter allen Verhältnissen in seiner Function schädigt. Es stellen
sich Muskelkrämpfe und Herabsetzung des Stoffwechsels und der Gewebsathmung
ein, welche man aus der geringen Menge der producirten und ausgeathmeten
COg erkennen kann.
Noch grösser aber ist die Gefahr für das Leben von Seite des comprimirten
N. Bei einem Atmosphärendruck von 3 — 5 kg auf den cm^ wird der N in grösserer
Menge ins Blut eindringen und in demselben gelöst sein, weil der N mit keinem
Bestandtheile des Blutes eine Verbindung eingeht. Wenn nun der Luftdruck nach-
lässt, vermag das Blut die Menge des gelösten N nicht mehr in Lösung zu er-
halten. Der N wird in kleinen Gasbläschen in Form von feinem Schaum frei. Der
im Blute sich bildende Schaum hindert die Blutcirculation in den Capillaren, weil
der Blutdruck nur den Schaum zusammendrückt, aber das Blut nicht fortbewegt.
Durch diese Stauung in den Capillaren wird den einzelnen Organen die Zufuhr von
arteriellem Blute förmlich abgeschnitten. Versuche an Thieren, die durch einige Zeit
unter einem Drucke von mehreren Atmosphären athmen mussten, haben gezeigt,
wenn der Ueberdruck plötzlich beseitigt worden ist, dass die Thiere, wie vom Blitz
getroffen todt zusammen gesunken sind. Im Herzen hat man schaumiges Blut, in
den Capillaren des Gehirns und des Rückenmarkes kurze Blutsäulchen und durch-
sichtige (lufthaltige, blutleere) Gefässchen, die Hirnsubstanz blutleer gefunden. Das
Gas wurde zwar nicht näher chemisch untersucht, doch dürfte dasselbe weder 0 noch COg
sondern nur N gewesen sein, welcher unter dem starken Druck im Blute gelöst
und beim Nachlass des Druckes als Schaum und als zusammengeflossene Gasblasen
aus dem Blute ausgetreten war. Wenn aber der Ueberdruck der Luft nicht plötz-
lich reducirt worden ist, so zeigten sich die Erscheinungen der Blutleere immer zu-
erst im Lendenmark. Die Thiere konnten den Urin nicht halten, schleppten die
Hinterbeine nach, sind aber so lange am Leben geblieben, bis die Degeneration des
Rückenmarkes nach aufwärts gegen das verlängerte Mark gestiegen ist.
302 PNEUMO-SPIEOTHERAPIE.
Bei Menschen, die im Wasser unter einem Druck von 4 — 5 Atmosphären atlimen,
zeigt sich zunächst ein Jucken der Haut, als wenn dieselbe durch Flohstiche gereizt
würde und kleine schmerzhafte Erhöhungen, die als kleine Muskelschwellungen er-
kannt werden. Beide Erscheinungen werden dem im Blute gelösten Stickstoff zuge-
schrieben. Im Uebrigen befindet sich der Arbeiter unter dem starken Luftdrucke
leidlich wohl. Der Kopfschmerz und das Ohrensausen lassen bald nach. Nur in dem
Uebergang von der comprimirten in die gewöhnliche Luft liegt die grosse Gefahr
für die Gesundheit und das Leben des Tauchers. Beim raschen Uebergang aus der
verdichteten in die gewöhnliche Luft sterben dieselben plötzlich wie vom. Blitze
getroffen unter den Erscheinungen von Synkope wie beim Versuchsthier. Das Herz
und die grossen Gefässe sind vom schaumigen Blut erfüllt und stellen ihre Pul-
sationen ein; aber auch bei langsamem Uebergang aus der verdichteten in die
gewöhnliche Luft treten zuweilen dauernde Gesundheitsstörungen in Form von Para-
plegien der unteren Extremitäten ein.
Diese wenigen Beobachtungen mögen genügen über das Athmen extre-
mer Verdichtungen und extremer Verdünnungen der Luft. Es sollen jetzt
das Atlimen verdichteter und verdünnter Luft zu therapeutischen
Zwecken besprochen werden, wobei mit den pneumatischen Kammern be-
gonnen werden soll.
I. Pneumotherapie.
a) Pneumatische Kammern (Ausführliches über diese therapeutischen
Apparate finden sich bei v. Vivenot und Oeetel). Bei dem Umstände, dass
die therapeutische Bedeutung der comprimirten Luft in den empfohlenen
Krankheiten sehr widersprechend lauten, soll hier nur das Wesen die-
ser Behandlungsmethode, so wie die geänderten physikalischen und
chemischen Verhältnisse beim Athmen der verdichteten Luft in den pneumati-
schen Kammern kurz besprochen werden; die vitalen Vorgänge aber, die durch
das Athmen verdichteter Luft hervorgerufen werden, sind nur insoweit zu er-
wähnen, als dieselben objectiv nachgewiesen oder nachzuweisen sind, während
die therapeutischen Erfolge dieser Behandlungsmethode noch so schwankend
sind, dass es hinreichen wird, die Krankheiten anzuführen, bei denen die
Methode empfohlen worden ist. Eine Kritik dieser therapeutischen Ergebnisse
wird sich aus dem Nachfolgenden von selbst ergeben.
Diepneumatischen Kammern sind Apparate nach Tabarie, Lange,
V, Liebig, Simonofp und Anderen, die aus Eisenblech, auch aus anderem
luftdicht gemachtem Material gefertigt sind, in denen die Luft durch Dampf-
oder andere Maschinen messbar verdichtet werden kann, und in denen 1 oder
mehrere Menschen für einige Zeit zu Heilzwecken die verdichtete Luft athmen
sollen. Solche Apparate, die mit grösserem oder geringerem Comfort aus-
gerüstet, mit Licht, Ventilation und mit Signalapparaten zur Verständigung mit
der Aussenwelt versehen sind, bestehen in Ems, Johannsberg, London, Lyon,
Montpellier, Nizza, Petersburg, Boston, Stockholm, Stuttgart, Wien und an an-
deren Orten. In diesen Apparaten wird ein Ueberdruck von ^5 bis % Atmo-
sphären angewendet. Nimmt man an, der Druck einer Atmosphäre entspreche
dem Gewichte einer Quecksilbersäule von 16 cm Höhe, so wird ein Ueber-
druck von % Atmosphären „einem Barometerstand von 106-4 cm und jener von
^/v Atmosphären einem Barometerstand von 1085 cw, während ein Ueberdruck
von ^j.. Atmosphäre einem Barometerstand von 114= cm entsprechen würde.
Nachdem ein Barometerstand von 76 cm einen Mittelwerth darstellt und
in der Wirklichkeit, an demselben Ort eine Schwankung von 2— 3 cm ohne
wahrnehmbare Veränderung des Allgemeinbefindens vorkommt, so kann man
sich mit einem Ueberdruck von 30 cw im Apparat zu therapeutischen Zwecken
zufrieden stellen. Meines Wissens wird in keinem Apparat ein Ueberdruck
von 38 cm = i/g Atmosphäre verwendet. Der Ueberdruck kann selbstver-
PNEUMO-SPIROTHERAPIE. 303
ständlich nur allmälig durch Einpumpen von Luft in die pneumatische Kammer
erreicht werden. Man richtet es so ein, dass in jeder Minute das Barometer
um einen cm im Apparat steigt, dass demnach zur Erzeugung eines Ueber-
druckes von 30 cm eine Zeit von 30 Minuten nothwendig ist. Diese Zeit ist
auch ausreichend zur Accomodation des im Apparate Athmenden an die ver-
dichtete Luft; dann lässt man den Kranken 1 Stunde lang in der constant
30 cm Ueberdruck verdichteten Luft athmen. Die Abnahme des Druckes soll
mindestens eben so langsam, wie die Verdichtung erfolgen (30 Minuten
dauern). Die Behandlungsdauer im Apparat beträgt daher 2 Stunden täglich,
wobei auf die allmälige Verdichtung und Verdünnung der Luft je ^2 Stunde
und auf das Athmen der verdichteten Luft eine Stunde verwendet wird. Die
Cur wird durch 4 bis 8 Wochen hindurch fortgesetzt.
Nimmt man den Druck auf jeden cm^ der Körperoberfläche bei einem
Atmosphärendruck mit 1083-448^ an, so wird der Druck auf dieselbe Ober-
fläche bei einem 30 cm betragenden Ueberdruck 1441"0^ betragen.
Durch die Verdichtung der Luft wird die Temperatur in der pneu-
matischen Kammer, die ursprünglich 20° C betragen hat bei der Verdich-
tung auf circa 27° steigen; will man daher die Temperatur im Apparat 20" C
nicht übersteigen lassen, so muss für eine entsprechende Kühlung gesorgt
werden.
Durch die Verdichtung der Luft wird dieselbe auch mehr Wasserdampf
als die gewöhnliche Luft enthalten. Endlich wird die Luft in dem Apparate
umso mehr CO2 enthalten, je mehr Personen gleichzeitig in dem Apparate
athmen. Nach Pettenkofer athmet ein gesunder Mensch in der Stunde
circa 12 Liter COg aus, also in 2 Stunden 24 Liter CO2 und 3 Personen
werden daher in 2 Stunden 72 Liter COg produciren. Da aber eine gute
Luft nur O-l^/o CO2 enthalten darf, so ergibt sich eine Grösse der Ventila-
tion, die in keinem Apparate zu erreichen ist. Dabei ist nur die leicht nach-
weisbare CO2 berücksichtigt; da aber beim Athmen anch die bei der Gewebs-
athmung durch den Eiweisszerfall sich bildenden gasigen Producte, die theils
durch die Lunge ausgeathmet oder durch die Hautoberfläche frei werden, die
Luft verderben, die auch nur durch die Ventilation beseitigt und unschädlich
gemacht werden können, so ist klar, dass auch die besteingerichteten Appa-
rate, wie sie in Pteichenhall und St. Petersburg existiren, den vollen Anfor-
derungen der Hygiene nicht zu entsprechen vermögen.
Von den chemischen Veränderungen in der pneumatischen
Kammer ist nur so viel bekannt, dass während 1 Liter gewöhnlicher
Luft 20% 0 und 80% N enthält, die auf 106 an Quecksilber verdichtete
Luft circa 2870 0 und 112% N enthalten wird. Es ist wahrscheinlich, dass
dem grösseren Luftdrucke und dem grösseren Reichthum von 0 und N in
demselben Volum der Luft entsprechend mehr 0 und mehr N in dem Blute
gelöst sein werden. Die Blutanalysen der in verdichteter Luft athmenden
Thiere sprechen für einen etwas reicheren Gasgehalt des Blutes dieser Thiere;
dagegen ist es sehr zweifelhaft, ob die Blutkörperchen mehr 0 im Hämoglobin
lose chemisch gebunden enthalten.
Die Angaben über die Grösse der CO2 Ausscheidung, der Blutwärme,
so wie über die Grösse der Gewebsathmung, über die Bildung von Harnstoff,
über die Grösse der in Folge der Athmung in verdichteter Luft geänderten
Se- und Excrete lauten sehr widersprechend. Während v. Vivenot und
Panüm eine Vermehrung der COg Ausscheidung beim Athmen verdichteter
Luft gefunden haben wollen und aus diesem Befunde auf einer stattgefundenen
grösseren Aufnahme und Verbrauch von 0 schliessen, hat v. Liebig und
Paul Bert eine Abnahme der CO2 Ausscheidung nachgewiesen. Ebenso
widersprechend sind die Einwirkungen der verdichteten Luft auf die Körper-
temperatur und auf das Körpergewicht, v. Vivenot hat an sich und anderen
304 PNEÜMO-SPIROTHERAPIE.
Personen eine Erhöhung der Körperwärme, während Stembo, Liebig, und Paul
Bert eine Abnahme der Blutwärme constatirt haben. Ebenso haben die
Beobachtungen von Simonoff und Sandahl eine Abnahme des Körpergewichtes
durch das Athmen in verdichteter Luft, dagegen haben Katschenowsky, Lange,
V. Vivenot eine Gewichtszunahme wahrgenommen und wollen die beobachtete
Gewichtsabnahme nur auf den stattgehabten Fettverlust beziehen. Auch soll
die Zunahme nur bei gesunden Personen, während bei kranken und fiebern-
den Personen eine Abnahme des Körpergewichtes stattfinden soll. Die ge-
gebenen Erklärungen für die Zu- und Abnahme sind nicht sehr überzeugend,
ja nicht einmal plausibel, weshalb auf dieselben hier nicht näher eingegangen
werden soll.
Nicht einmal der Einfluss der Athmung in verdichteter Luft
auf die Tiefe und Frequenz der Respiration, sowie auf die vitale L u n g e n-
capacität, und noch weniger auf die Frequenz, Füllung und Härte des
Pulses, auf den Blutdruck im Herzen und in den Gefässen ist sicher-
gestellt.
In verdichteter Luft soll die Athmung leichter und die dabei zu
überwindenden Hindernisse sollen kleiner sein. In Wirklichkeit ist nur die
Inspiration leichter, die Exspiration mühsamer und dem zufolge auch lang-
samer. Während in gewöhnlicher Luft die Dauer der In- zur Exspiration
sich wie 4 : 5 verhält, ist dieses Verhältnis in verdichteter Luft wie 2 : 3.
Die Frequenz soll ab- und die Tiefe der Athmung entsprechend zunehmen,
und zwar soll die Zahl von 20 Athmungen in gewöhnlicher Luft auf 4 bis
5 in verdichteter Luft sinken, doch kehren Frequenz und Tiefe nach dem
Uebergang in gewöhnliche Luft auf das frühere Maass zurück. Auch die
Lungencapacität soll durch das Athmen grösser werden und mittelst Per-
cussion durch den Tiefstand des Zwerchfells und Abnahme der Herzdäm-
pfung nachzuweisen sein, und diese Zunahme der vitalen Capacität soll auch
noch einige Zeit nach Beendigung der Cur in der pneumatischen Kammer
anhalten.
Man nimmt ferner an, dass in verdichteter Luft, in Folge des grösseren
Druckes das Herz sich nicht genug erweitern und daher weniger mit Blut
füllen soll (?) und dasselbe soll auch in den grösseren Gefässen der Fall
sein. Nur in der Schädelhöhle und im Knochen, wo die Arterien in starren
und unnachgiebigen Wänden eingeschlossen sind, sollen dieselben durch die
verdichtete Luft weniger comprimirt werden ('? ?); dagegen soll an den
Hautgefässen die Compression der Grösse der Luftverdichtung proportional
sein, daher die Haut und die Schleimhaut relativ blass erscheinen. Die Puls-
frequenz soll bei Gesunden in verdichteter Luft um 4 — 8 und dort wo eine
Pulsbeschleunigung besteht, sogar um 20 Schläge in der Minute sinken und
der Grund dieser Verlangsamung soll in dem grösseren Luftdruck auf die
Arterie liegen (?), deshalb soll die Abnahme der Pulsfrequenz nach dem
Uebergang von verdichteter in gewöhnliche Luft wieder schwinden ('?).
Panum hat eine Abnahme des Blutdruckes, Bert eine Zunahme des
Druckes in den Arterien beim Athmen in verdichteter Luft gemessen. Durch
das Athmen in verdichteter Luft soll die Vertheilung des Blutes im Körper
geändert werden, es sollen namentlich die Organe des Unterleibes auf Kosten
der relativen Blutleere der Haut überfüllt sein; in Folge dessen sollen die
Menstrual- und Hämorrhoidalblutungen reichlicher sein, dafür soll die Aus-
dehnung der Därme durch Gase abnehmen, die Harn- und die Darmentleerung
soll in comprimirter Luft zunehmen. Dagegen soll eine vorhandene gestei-
gerte Secretion der Schleimhaut der Nase, des Mundes, des Rachens, des Kehl-
kopfes, der Bronchien und der Scheide durch die Athmung verdichteter Luft
in der pneumatischen Kammer abnehmen. Ebenso sollen seröse Ergüsse in der
Pleura, im Peritoneum, in den grossen Gelenken durch die pneumatische
PNEUMO-SPIROTHEEAPIE. 305
Kammer zur Resorption kommen. Von den Anwendungen der pneumatischen
Kammer beim Vorhandensein eitriger Ergüsse in den genannten Höhlen ist
selbstverständlich nirgends die Rede.
Nach dem Gesagten wird die Behandlung der verdichteten Luft in der
pneumatischen Kammer von den Aerzten hauptsächlich bei den chronischen
Erkrankungen der Schleimhaut der Nase, des Rachens, des Kehlkopfes und
der Lunge angewendet, insoferne dieselben nicht durch anderweitige Er-
krankungen complicirt erscheinen. Ganz besonders bei den einfachen Formen
der Rhinitis und Pharyngitis catarrhalis, bei der Laryngitis, beim Bronchial-
Katarrh. Ganz besonders wird diese Behandlung gelobt, bei den asthmatischen
Beschwerden, wie sie das Lungenemphysem verursacht, indem sie das Grund-
leiden, das Emjyhgsem, bessert. — Ferner soll die Behandlung bei Verdichtung
und Katarrh der Lungenspitzen und bei beginnender Phthise, bei seröser Pleuri-
tis, Peritonitis, hmw Hydrops der Gelenke von Nutzen sein. Contraindicir t
ist die Behandlung bei allen Krankheiten, die mit starkem Fieber einhergehen,
bei Herzschwäche, bei Erkrankungen des Hirns und Rückenmarks, bei ausge-
breiteter Lungen- und Darmtuberkulose, bei starken Lungen-, Magen-, Darm-,
Menstrual- und Hämorrhoidalblutungen, bei Nieren-Erkrankungen und bei der
Mehrzahl der Infectionskrankheiten.
Die Wirkung de rpneumatischenBehandlung mit verdichteter
Luft wird hauptsächlich der mechanischen Wirkung der verdichteten Luft,
welche die Gewebe, die Organe, die Blut und Sauggefässe verdichtet und
comprimirt und zum Theile aber auch den vitalen und dynamischen Einwir-
kungen dieser Compression und dem grösseren 0 gehalt der comprimirten Luft
zugeschrieben.
Die behandelnden Aerzte berufen sich darauf, dass die Kranken sich bei
und nach der Behandlung mit verdichteter Luft subjectiv wohler fühlen, und
dass auch objectiv eine Besserung der betreffenden Beschwerden wahi'zuneh-
men ist, und dass immer mehr Kranke diese Behandlung in Anspruch neh-
men und dass auch die Indicationen für diese Behandlungsmethode in Zu-
nahme begriffen sind. — Von dauernden Heilungen der mit verdichteter Luft
behandelten Krankheiten wird nicht viel berichtet.
Ohne auf eine detaillirte Kritik dieser Methode einzugehen, soll nur
hervorgehoben werden, dass die Anschauung, als bestehe die mechanische
Wirkung der comprimirten Luft in einer Verdichtung der verschiedenen Gewebe
des Körpers, unrichtig ist. Nur feste oder lufthaltige Körper sind compressibel.
Ln thierischen Körper gibt es mit Ausnahme der lufthaltigen Organe nur
mit Flüssigkeit gefüllte Gewebe, die eben so wenig wie das Wasser oder an-
dere Flüssigkeiten compressibel sind. Eben so unrichtig ist es von einer
Verschiedenheit der Compression einzelner Organe oder Gewebe zu sprechen,
eine solche kann nur im Beginne d. i. in den ersten Minuten der Behand-
lung vorhanden sein. In der kürzesten Zeit wird der Druck auf äussere und
innere Organe und auf alle Gewebe gleich und derselbe sein und nachdem
dieselben als halb und ganz flüssige Gebilde incompressibel sind, so kann von
einer mechanischen Wirkung der Compression keine Rede sein. Es bleiben
also nur die vitalen und die dynamischen Wirkungen der verdichteten Luft
übrig.
Wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, die unerklärlichen und un-
begreiflichen, vitalen Ergebnisse äusserer, physikalischer Einwirkungen als solche
festzustellen und wie leicht bei der grossen Verschiedenheit der individuellen
vitalen Energien Widersprüche zu Tage treten und Beobachtungsfehler und
Täuschungen unterlaufen können; dann ist gegenüber den aus den einzelnen
Beobachtungen gezogenen Schlussfolgerungen und den auf unsicherer Basis
aufgebauten therapeutischen Theorien in der Beurtheilung und in der gläu-
bigen Annahme der erzielten Erfolge ein gewisser Grad von Skepsis wohl
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 20
306 PNEÜMO-SPIROTHERAPIE.
berechtigt. — Dazu kommt noch, dass in den pneumatischen Kammern, auch
in denen nach der neuesten und vollkommensten Construction, die Grösse
der Ventilation unzureichend ist, dass also die Kranken in den Kammern, die
eigenen Exhalationen und diejenigen ihrer Genossen wieder einathmen müssen
und dass die Einathmung der unbekannten gasigen Zerfallproducte der Gewebs-
athmung möglicherweise den problematischen Nutzen der Einathmung ver-
dichteter Luft zu paralysiren vermag, dass ferner diese Behandlung täglich
2 Stunden, durch mehrere Wochen hindurch dauert, mit Geldopfern verknüpft
ist, die diese Behandlungsmethode nur den Wohlhabenden zugänglich macht,
dass endlich auch bei diesen nach Ablauf der Cur in den pneumatischen
Kammern, die früheren Zustände, gegen welche die Cur empfohlen und ver-
wendet wurde, wiederkehren. Man kann daher der Behandlung mit verdich-
teter Luft in den pneumatischen Kammern keine grosse Zukunft prophezeien;
sie wird, wie jede andere Methode, die den Kranken subjectiv eine temporäre
Erleichterung ihrer Beschwerden bringt, nie ganz verschwinden, aber eine all-
gemeine Verwendung wird dieselbe nicht finden.
Die Behandlung in den pneumatischen Kammern mit verdünnter
Luft, kann mit wenigen Worten erledigt werden.
Auch die Luftverdünnung wird niemals auf einen halben Atmosphären-
druck auf einen Barometerstand von 38 cm Quecksilber sinken dürfen; es
handelt sich vielmehr um eine Luftverdünnung von ^/g bis ^/^ Atmosphären.
Es entspricht einer Luftverdünnung, wie sie etwa am Montblanc vorhanden
ist. Die Behandlung mit Luftverdünnung wird selbst von den Anhängern
der pneumatischen Kammern selten empfohlen, noch seltener angewendet,
weil dieselbe mit der Behandlung in einem Höhenklima, in einem Alpen-
lande nicht concuriren kann. In den Kammern athmet der Kranke in einem
abgesperrten Räume bei unvollkommener Ventilation, ist genöthigt seine
eigenen Exhalations- und Hautausdünstungen wieder einzuathmen. Er athmet
nur durch zwei Stunden täglich. Im klimatischen Curort ist er Tag und Nacht
der verdünnten Luft ausgesetzt, kann sich in freier Luft bewegen, die frei von
COg, von Staub und Bacterien und anderen Schädlichkeiten ist. Die wenigen
Anhänger verdünnter Luft in pneumatischen Kammern, weisen daraufhin, dass
in Europa die klimatischen Curorte nur eine Höhe von 1000 — 1500 Meter, wäh-
rend man in der pneumatischen Kammer eine Luftveränderung erzeugen kann,
die einer Höhe von 2000 — 3000 und mehr Meter entspricht. Doch ist darauf
zu antworten, dass vielfache Erfahrungen den Nutzen der Curorte in einer
Höhe von 800 — 1500 Meter bei den verschiedenen Krankheiten der Brustor-
gane ausser Zweifel gestellt haben; hauptsächlich, dass wie schon früher
erwähnt worden ist, beim Höhenklima sich sehr rasch eine Vermehrung der
rothen Blutkörperchen und eine etwas geringeren Zunahme des Hämoglo-
bingehaltes einstellt und dass dieser gesteigerten Blutbereitung ein lebhaf-
terer Stoffwechsel und eine Hebung der Ernährung sowie eine Zunahme der
Kräfte zu verzeichnen ist. Von den in der verdünnten Luft einer pneumati-
schen Kammer Athmenden ist bis jetzt weder eine Zunahme der rothen Blut-
körperchen und der rothen Farbe des Blutes, noch eine Zunahme der Mus-
kelenergie, wie sie den Bewohnern hoher Orte eigen ist, bekannt.
b) Tragbare pneumatische Apparate.
Es gibt eine grosse Zahl verschieden construirter Apparate, welche
den Zweck haben die einzuathmende oder die auszuathmende Luft zu ver-
dichten oder verdünnen. Der erste, derartige Apparat wurde von Hauke in
Wien angegeben und auch praktisch angewendet. Der Apparat wurde von
Störk modificirt, und von Waldenburg wesentlich verbessert, indem er dem-
selben das Princip des Gasometers zugrunde legte und denselben auch zur
Spirometrie verwendbar eingerichtet hat. Cube und Weil haben den Wal-
PNEUMO-SPIROTHERAPIE. 307
DENBüRG'sclien Apparat verdoppelt und es möglicli gemacht verdichtete Luft
einzuathmen und in verdünnte Luft auszuathmen. Schnitzler in Wien hat
den einfachen Apparat von Waldenburg und die Doppelapparate von Cübe
und von Weil modificirt, vereinfacht und für die Athmung medicamentöser
Gase eingerichtet. Finkler und Kochs haben den Apparat Waldenburg's
modificirt, indem sie denselben aus 3 Cylinder zusammengesetzt haben; und
zwar birgt der äussere Cylinder eine Doppelglocke, welche durch Gewichte, die
über eine Rolle laufen, gehoben und gesenkt und durch verschieden gerich-
tete Ventile die Luft verdichtet oder verdünnt werden kann. Alle diese
Apparate haben das Princip des Gasometers.
Biedert hat dem Apparat das Princip des Cylindergebläses zu Grunde
gelegt, und hat denselben dadurch sehr vereinfacht und billig gemacht. B.
Fränkel hat den Apparat von Biedert dahin modificirt, dass er den verti-
cal aufgehängten, cylindrischen Blasebalg Biedert's horizontal nach Art einer
Ziehharmonika halten und vom Kranken bewegen lässt, wobei der Kranke
sitzend verdichtete oder verdünnte Luft athmen kann. — Geigel und Mayr
haben dem Apparat das Princip des Schöpfrades zugrunde gelegt. Es ist die-
ser Apparat der vollkommenste mit constantem Druck wirkende Mechanismus,
aber er ist auch der theuerste (etwa 900 Mark), der nur von Anstalten ver-
wendet worden ist. Bei allen Apparaten ist die zu athmende Luft durch
einen Kautschukschlauch mit einer fest anschliessenden Gesichtsmaske verbun-
den, in welcher durch einen stellbaren Hahn die Luft aus dem Apparate,
oder die äussere Luft den Zutritt zur Lunge und aus derselben gestattet.
Der Raumaufwand für die Abbildungen dieser Apparate und die Be-
schreibung, wie dieselben zu handhaben sind, steht in keinem Verhältnisse
zu dem Nutzen, den sie dem praktischen Arzt und dem Kranken bieten, wie
dieses später näher begründet werden soll, weshalb im Nachfolgenden sofort
zu dem Wesen dieser Behandlung übergegangen werden soll.
Während in den pneumatischen Kammern, der in denselben Athmende
sowohl äusserlich als innerlich einem erhöhten oder verminderten Luftdruck
ausgesetzt wird, so dass alle Gebilde und alle Gewebe gleichmässig einen
gesteigerten oder verminderten Luftdruck zu tragen haben, wirkt bei den porta-
tiven Apparaten der Druck nur einseitig auf die Schleimhaut des Respirations-
tractes gesteigert oder vermindert, w^ährend auf die Oberfläche des Körpers
der äussere Luftdruck wirkt. Es ergeben sich bei dieser Methode des ein-
seitigen Druckes folgende Combinationen der pneumatischen Behandlung.
1. Einathmung comprimirter Luft, wobei die Ausathmung entweder in
comprimirte oder in gewöhnliche d. i. in verdünnte Luft erfolgen kann.
2. Einathmung gewöhnlicher Luft und die Ausathmung erfolgt in com-
primirte Luft.
3. Einathmung verdünnter Luft, wobei die Ausathmung in gewöhnliche
oder comprimirte Luft erfolgt.
4. Einathmung gewöhnlicher Luft, wobei die Ausathmung in verdünnte
Luft erfolgt.
Alle diese Combinationen lassen sich mit portativen Apparaten aus-
führen. Sie wurden auch zum Theil aus theoretischen Gründen ausgeführt.
Zu Heilzwecken jedoch wurde nur die Einathmung comprimirter und die
Ausathmung in gewöhnliche oder in verdünnte Luft verwerthet.
Man muss sich bei diesem einseitig wirkenden Drack klar maclien, wie derselbe auf
die Respirationsorgane und wie er auf die Circulationsorgane wirkt. Nachdem
bei diesen einseitig wirkenden Druck Luftverdichtungen und Luftverdünnungen die Zu- oder
Abnahme des Druckes auf die Lungenschleimhaut und auf Lungengewebe beschränkt ist,
so kann es sich niemals um so grosse Druckschwankungen wie in den pneumatischen
• Kammern von ^/g bis '■'l- Atmosphären, sondern um niedrigere Druckschwankungen han-
deln. -/. Atmosphären entsprechen einem Druck von 413 g, weil 1 Atmosphäre einem
Druck 1033 gleicht. Es wird demnach eine Luftverdichtung von % Atmosphären einem
20*
308
J>NEUMO-SPIKOTHERAPIE.
Druck von 14:47 ^ auf jeden Quadratcentimeter der Oberfläche geben; während '/^ Atmos-
phären 433 g demnach einem Druck von 1476 g entsprechen. Es wird demnach eine Luftver-
dichtunt^ von ^1-, Atmosphären auf jeden Quadratcentimeter der Körperoberfläche ein Druck
von 147*3 g also ein Ueberdruck von 4i^ig betragen, da dieser üeberdruck aussen und im
Körper der gleiche ist, so wird derselbe ohne Schaden ertragen. Bei den portativen Appa-
raten aber, wo der Aussendruck nur 1033 g würde ein Ueberdruck von 414 bis 443 auf
den Quadratcentimeter der Lungenoberfläche die Lunge bedeutend zerren und schädigen.
Soll daher die pneumatische Behandlung mit portativen Apparaten ohne Nachtheil bleiben,
so muss sowohl die Verdichtung als die Verdünnung der Luft viel kleiner sein.
Um eine richtige Vorstellung von der Grösse der zulässigen Verdichtung und Ver-
dünnung im portativen, pneumatischen Apparat zu erlangen, soll in der nachstehenden Ueber-
sicht, die Grösse der anzuwendenden Luftverdichtung und Luftverdünnung in Centimetern
des Barometers und den diesem Barometerstand entsprechenden Druckgrössen in Grammen
ausgedrückt, dargestellt werden.
/l20
1110
1100
/90
/so
ho
160
;/5o
liO
130
/20
Vto
^5
%
%
1
Barometerstand
in Centimetern der
Luft-
verdichtung
Luft-
verdünnung
Luftdruck auf den
Quadratcentimeter der
Lungenschleimhaut
in Grammen bei
Luft-
verdichtung
Luft-
verdünnuns
76-633
76-69
76-76
76-84
76-95
77-085
77-26
77-52
77-9
78-53
79-8
83-6
91-4
106-8
108-55
76-0
75-367
75-31
75-24
75-16
7505
74915
74-74
74-48
74-1
73-47
72-2
68-4
60-6
45-2
43 45
76-0
1041-6
1042 39
1043 3
10444
1045-9
1047-71
1050-2
1053-6
1058-75
1067-4
108465
1136-6
12396
1446-2
1473-0
1033-0
1024-4
1032-961
1022-7
1021-6
1020-1
1018-29
1015-8
1012-4
1007-25
998 6
981-35
929-7
826-4
629-620
590-0
10330
86
93-9
10 3
11-4
12 9
1471
17-2
20-6
25-75
34-4
5165
103
206
413
443
Aus dieser Uebersicht ist zu entnehmen, wie gross der Druck auf jeden
Quadratcentimeter der Lungenschleimhau-t beim Athmen der verdichteten Luft
ist, und dass, wenn dieser Druck eine gewisse Grösse überschreitet, der Athmende ein Ge-
fühl der Beklemmung und schmerzhaften Zerrung empfindet, welcher noch nach sistirter
Athmung einige Stunden und selbst Tage anhalten kann, aber auch bei relativ geringem
Druck, ist beim Einathmen ein Gefühl von stärkerer Anfüllung der Lunge als beim gewöhn-
lichen Athmen vorhanden.
Die Wirkung der Inspiration verdichteter Luft aus dem ein-
seitig wirkenden Apparate ist eine mechanische, und besteht in einer Aus-
dehnung der Oberfläche und des Cubikinhaltes der Lunge. — Die bei der
Verdichtung der Luft sich ergebende Vergrösserung des 0 Gehaltes kommt
kaum in Betracht, weil die Verdichtung der Luft auf Vio Atmosphäre, derl
0 Gehalt nur um etwa rs^/o zunimmt, und statt 207o in gewöhnlicher Luft
21-8^/(j in verdichteter Luft beträgt. Nun aber ist ein Ueberdruck von 7io
Atmosphäre für den Athmenden, schon sehr empfindlich, es wird gewöhnlich
bei Kräftigen nur Vso Atmosphäre Ueberdruck verwendet. Die Wirkung beim
Einathmen verdichteter Luft kommt erst nach wiederholter Einathmung zur
Geltung. Es wird zuerst die Reserveluft verdichtet, dann erst kommt es zu
einer Ausdehnung, zu einer grösseren Entfaltung der Lunge, die man auch
PNEUMO-SPIROTHERAPIE. 309
am Brustumfange sehen und messen kann. Es werden gewöhnlich etwa 100 In-
spirationen hintereinander gemacht. Werden zu viele Inspirationen hinterein-
ander ausgeführt, oder ist die Luftverdichtung zu gross, so kann es leicht zu
einer Dehnung oder Zerrung der Lunge, zu einem Verlust der Elasticität
der Lunge und selbst zur Entwickelung eines Lungenemphysens kommen. Bei
geschwächten Individuen darf man daher nur einen Ueberdruck von Veo,
höchstens von V50 Atmosphäre anwenden.
Die Einathmung von verdichteter Luft ist schwieriger, d. h. mit mehr
Muskelanstrengung verbunden als das Einathmen gewöhnlicher Luft. Bei
der Inspiration verdichteter Luft, sind mehr Widerstände zu überwinden; da-
mit die verdichtete Luft in der Lunge Raum findet, muss die Elasticität des
LungengCM^ebes theihveise Überstunden werden, oder die Inspirationsmuskeln
müssen den Thorax mehr als bei der gewöhnlichen Athmung erweitern, oder
es muss beides geschehen, es muss kräftiger und tiefer inspirirt werden. Es
trägt zwar der grössere endothoracische Druck durch die verdichtete Luft etwas
bei zur Erweiterung der Lunge, aber zur Vergrösserung des Binnenraumes
in der Lunge ist eine stärkere Verkürzung der Inspirationsmuskeln nöthig.
Dagegen scheint die Ausathmung in die gewöhnliche Luft, die dünner
als die eingeathmete Luft ist, leichter und freier zu sein, sie erfolgt durch
Zusammensinken des erweiterten Thorax durch die Elasticität der Lunge. —
Sind aber die Lungenbläschen durch zu häufig aufeinander folgende Inspira-
tionen verdichteter Luft ausgedehnt, so wird auch zur Exspiration in die ge-
wöhnliche, also verdünnte Luft eine Muskelaction nothwendig sein. Die
Bauchmuskeln und die andere Exspirationsmuskeln müssen sich verkürzen, um
die eingeathmete Luft aus dem Thorax zu pressen. Noch grösser wird diese
Anstrengung der Exspirationsmuskeln sein, wenn der Ausathmungsluft ein
Hindernis, ein Widerstand entgegengesetzt wird. Wenn man den Athmenden
in verdichtete Luft hinein ausathmen lässt, da müssen alle Exspirations-
muskeln angestrengt werden, um die Luft aus dem Thorax zu pressen,
doch wurde die Exspiration in verdichtete Luft nicht therapeutisch verwer-
thet. Speck hat dieselbe aus theoretischem Interesse versucht.
Bei der Einathmung verdünnter Luft, wird, insolange die Reserveluft
dichter als die einzuathmende Luft ist, dieselbe nicht in den Thorax dringen,
erst, wenn der Thorax so viel erweitert worden ist, dass die Reserveluft dünner
als die Inspirationsluft geworden, wird die letztere in den Thorax eindringen
können. Da aber diese Erweiterung des Binnenraumes nicht gleich ausgeführt
sein kann, jedenfalls nicht ausgiebig genug sein wird, so wird die erste
Wirkung dieser Inspiration eine Einziehung der Haut in den Oberschlüssel-
beingruben und im Jugulum sein. Das Athmen wird ganz so wie bei einer
Larynxstenose insufficient sein. Der Athmende fühlt, dass er nicht genug Luft in
seine Lunge bekömmt. Er spornt seine Inspirationsmuskel zu erneuerter Thätigkeit
an, und durch methodische Gymnastik werden die Inspirationsmuskeln ge-
kräftigt. Waldenburg hat gefunden, dass bei Fortsetzung der Versuche ein
um V40 Atmosphäre verdünnte Luft einzuathmen, es nach 4 Wochen gelungen
ist, die 3 bis 4fache Quantität von Luft in die Lunge zu bringen, die er nach
den ersten Versuchen in die Lunge gebracht hat. Doch hat Waldenburg in
der Zwischenzeit auch verdichtete Luft einathmen lassen. Andere Versuche
liegen nicht vor.
Viel wichtiger ist die Wirkung, die man den tragbaren pneu-
matischen Apparat auf das Herz und auf die Circulation
zuschreibt. — Schon bei der gewöhnlichen Athmung tritt während der In-
spiration eine Vergrösserung des Binnenraumes der Lunge und eine Ver-
kleinerung des endothoracischen Druckes ein, dadurch wird das Blut in den
Venen während der Inspiration angesaugt, fliesst leichter in das rechte Herz,
während der Blutdruck im Aortensystem während der Inspiration sich ver-
310 PNEÜMO-SPIROTHEKAPIE.
mindert. Bei der Exspiration ist der Druck in der Lunge grösser, der Kückfluss
des Blutes wird erschwert, der kleine Kreislauf führt weniger Blut, die
äusseren Venen füllen und spannen sich, der Blutdruck im Aortensystem
steigt, und die Blutgeschwindigkeit wird grösser. Bei der Einathmung ver-
dichteter Luft, wird die Saugkraft der Lunge bei der Inspiration wegen er-
höhten Druckes der einströmenden Luft abgeschwächt, dadurch soll die Systole
unterstützt, die Diastole erschwert werden. Es soll dadurch der Blutdruck in
den Arterien gefördert, in den Venen erschwert werden. Bei der Exspiration
sollen diese Verhältnisse noch in erhöhtem Maasse eintreten, und erst gegen
Ende der Exspiration, soll mehr Blut zum rechten Herzen fliessen; doch sind
diese Annahmen nur theoretischen Erwägungen entnommen. In Wirklichkeit
ist nur so viel zu sagen, dass beim Athmen verdichteter Luft, die temporäre
Druckwirkung auf Arterien und Venen etwas grösser wird als beim normalen
Athmen, die einzelnen Phasen dieses Druckes sind nicht näher bekannt, las-
sen sich auch mit Unterstützung der Kymographion nicht feststellen.
Für die Beurtheilung des Einflusses, welche das Ausathmen in comprimirte
Luft, das Einathmen von und das Ausathmen in verdünnte Luft auf den
Kreislauf haben, fehlen die nöthigen Prämissen, nachdem diese Athmungsarten
in der Praxis nicht geübt werden, und die zu diesem Zwecke an Thieren
ausgeführten Versuche an vielen Fehlerquellen leiden. Nachdem die Erörterung
dieser Einwirkungen weder ein praktisches Interesse bietet, noch einwandsfreie
theoretische Schlussfolgerungen zulässt, so können dieselben hier unberück-
sichtigt bleiben.
Soll nun über die Bedeutung und über den Werth der pneu-
matischen Methode der Athmung verdichteter und verdünnter Luft aus
und in die einseitig wirkenden, tragbaren Inhalations-Apparate ein Urtheil
abgegeben werden, so muss darauf hingewiesen werden, dass dieselbe gegenwärtig
fast ganz verlassen ist, trotzdem dieselbe erst vor 40—45 Jahren in die Praxis
eingeführt worden ist, und bei den Zeitgenossen die Hoffnung erweckt hat,
diese Methode werde von grosser Bedeutung bei der Behandlung der ver-
schiedenen Lungen erkrankungen sein. Der Grund, warum diese Behandlungs-
methode ganz aufgegeben worden ist, liegt darin, dass sie nur vorübergehende
und nur subjectiv empfundene Besserung des Zustandes, aber keine definitive
Heilung zu erzielen vermochte, dass die Methode für den Kranken umständlich,
mühsam, kostspielig und nicht immer ohne Nachtheile und Gefahren durch-
zuführen ist. Das Wesen der Methode besteht in einer mecha-
nischen Einwirkung auf die innere Oberfläche der Lunge und
auf die in der Brust befindlichen Kreislaufsorgane durch den
gesteigerten und verminderten Druck der Luft, und durch die
dabei ausgeübte Gymnastik der Respirationsmuskeln, sowie
durch die Erregung und Hebung der Elasticität unddesTonus
sämmtlicher in der Brusthöhle befindlichen Gewebe.
Diese mechanischen Einwirkungen üben zweifellos einen
wohlthätigen Einfluss auf die Organe und Gewebe des Brust-
kastens. Aber diese Einwirkungen lassen sich auf viel ein-
fachere, bequemere und angenehmere Weise zu Stande bringen
durch das geänderte Athmen, wie es beim Ueberwinden grösser er
Widerstände beim Bergsteigen, Laufen und Springen, beim
Turnen, Eislaufen und Radfahren beim Reiten, Fechten und
Schwimmen vorkommt. Bei allen den genannten methodisch geübten
Körperbewegungen, tritt die gesammte Körpermusculatur in Action und auch
der endothoracische Druck der Luft in der Brusthöhle ist mindestens eben
so grossen Schwankungen unterworfen als bei der Application der tragbaren
pneumatischen Apparate mit einem Ueberdruck von ^loo bis ^/go Atmosphären.
— Unter solchen Umständen erscheint es gerechtfertigt von der bildlichen
PNEÜMO-SPIROTHERAPIE. 311
Reproduction der vielen, mitunter sehr sinnreichen Apparate, die nur mehr
ein historisches Interesse haben, an dieser Stelle abzusehen.
II. Spirotherapie.
Wir gehen nun daran die Einwirkung verschiedener Medicamente beim
Einbringen derselben mit den Athembewegungen in die Lunge zu besprechen,
wobei die Einwirkung der Spirotherapie auf die Erkrankung der Brust
als auch anderer Organe berücksichtigt werden sollen. — Es ist dabei im
Auge zu behalten, dass Medicamente nur wirken, wenn sie ins arte-
rielle Blut und mit diesem zum Central nervensystem und zu
allen Organen und Geweben gelangen.
Medicamente ins Blut entweder durch die directe Einführung derselben
in die Venen, durch die Methode der Infusion; oder auf indirectem Wege,
durch Resorption.
Alle Oberflächen des thierischen Körpers besitzen mehr oder weniger,
die Eigenschaft Medicamente zu resorbiren. Die Haut besitzt ein relativ
geringes Resorptionsvermögen: grösser ist das Resorptionsvermögen der
Schleimhäute, die aber nach ihrer Localität verschieden gross ist. Die
Schleimhaut des Urogenitalsystemes inclusive der Blase, die Schleimhaut des
Auges, haben im Vergleich zu anderen Schleimhäuten ein relativ geringes
Resorptionsvermögen. Die Schleimhaut des Mundes, des Magens und des
Darmcanals haben ein grösseres Resorptionsvermögen. Grösser ist das Re-
sorptionsvermögen der Mastdarmschleimhaut, und am grössten ist das
Resorptionsvermögen der Schleimhaut der Lunge und des
Respirationstractes. Das höchste Resorptionsvermögen aber besitzt das
subcutane Bindegewebe, das Drüsen und die periglanduläre Bindegewebe.
Wenn Medicamente ins Unterhautbindegewebe oder in das Drüsengewebe
gebracht w^erden, so gehen dieselben fast ebenso schnell und so vollständig
in Blut, über als wenn dieselben durch Infusion in die Venen gespritzt werden.
Bei der Spirotherapie kommt nur das Resorptionsvermögen der Schleimhaut
der Lunge und zum Theil der Schleimhaut der Nase, des Rachens, des Kehl-
kopfes und der Bronchien in Betracht. Es muss dabei hervorgehoben werden,
dass das Resorptionsvermögen der Schleimhäute nicht für alle Medicamente
gleich gross ist. So wirkt das Atropin und gewisse Mydriatica auf die Con-
junctiva bulbi gebracht, schon in minimalen Mengen auf die Weite der Pupille,
während andere Schleimhäute auf so kleine Dosen keine Veränderung der
Pupille bewirken. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Schleimhaut
des Mastdarmes und die der Lunge schon auf kleinste Mengen von Medicamenten
reagiren und dieselbe in die Blutbahn bringen, während die Schleimhaut des
Magens grössere Mengen desselben Medicamentes braucht, um die bestimmte
Wirkung hervorzurufen. Man kann sich vorstellen, dass die Schleimhaut des
Magens überhaupt ein geringeres Resorptionsvermögen besitzt, oder das der
Magensaft das eingeführte Medicament, zum Theile verdaut, zerlegt, oder
zersetzt und unwirksam macht und dass nur der vom Magensaft unberührte
Theil des Medicamentes zur Wirkung kommt.
Bei der Spirotherapie handelt es sich darum zu bestimmen, wie viel von
dem anzuwendenden Medicament in die Schleimhaut der Lungenalveolen
gelangt, denn nur hier findet die Resorption des Medicamentes, d. i. Aufnahme
desselben in die unmittelbar unter den Epithelien sich ausbreitenden Capillaren
statt. Welches die kleinste Dosis eines Medicamentes ist, die auf die Lungen-
schleimhaut gebracht die medicamentöse Wirkung hervorbringt, lässt sich
allgemein nicht angeben. — Diese Bestimmung ist sehr schwierig und bisher
nicht durchgeführt worden. Bei der Respiration kommt das eingeathmete
Medicament, gleichviel, ob dasselbe von Haus aus gasförmig ist, oder ob das-
selbe durch Zerstäubung athembar gemacht wird, niemals direct mit der
312
PNEÜMO-SPIROTHERAPIE.
Schleimhaut der Alveolen in Berührung, sondern nur mit der Reserveluft und
in dieser zur Schleimhaut der Alveolen. Es ist aber bisher nicht bestimmt
worden, wie viel von dem Medicament in der Reserveluft zurückbleibt und
wie viel von demselben mit der Exspiration wieder unverwendet in die Aus-
senluft kommt. Diese Bestimmung war bis vor Kurzem gar nicht möglich,
und obwohl die Inhalationstherapie in der Praxis täglich verwendet wird,
so hat doch Niemand eine Ahnung davon, ob und wie viel von dem Medica-
ment bis zu den Epithelien der Alveolen gelangt. Von einer Dosirung des Me-
dicamentes zum Zwecke der Spirotherapie, war bisher keine Rede. Ohne
Dosirung aber gibt es keine Therapie. Dieser Uebelstand ist es,
der einer allgemeinen Verwendung der Spirotherapie im Wege steht.
Vor einigen Jahren wurde der erste Versuch gemacht diesem Uebelstande
abzuhelfen (Neudörfer). Es musste zu diesem Zwecke ein Inhalationsapparat
construirt werden, welcher es möglich macht, das zuinhalirende Medicament,
gleichviel ob dasselbe gasförmig oder flüssig ist, sowohl der Theil desselben
der in die Reserveluft gelangt, als auch jener Theil der bei der Exspiration
wieder nach aussen in die Luft gelangt mit einiger Genauigkeit quantitativ
bestimmen zu können. Zu diesem Zwecke muss die Inhalationsluft, von der
Exspirationsluft getrennt werden. Die Athemluft muss geführt, (gesteuert)
werden. Diese Steuerung der Luft soll aber so wie beim physiologischen
Athmen ohne jede Anstrengung durch die Nase erfolgen, nur wo in der Nase
ein Hindernis für den Durchgang der Luft vorhanden ist, muss durch den
Mund geathmet werden. Die Führung (Steuerung) der Luft, geschieht durch
das aus dünnem Kautschuk bestehenden Ventil a oder ß Fig. 1. Diese
Ventile werden in ein Glasrohr gesetzt (montirt) y Fig. 1. und haben die
a -<-
Fig. 1.
Lippenfürmiges Ventil.
y
Montirtes Ventil.
Fig. 2.
Steuerventil.
Eigenschaft sich bei der Bewegung der Luft in der Richtung des Pfeiles zu
öffnen, und bei der Bewegung in entgegengesetzter Richtung zu schliessen.
Das Oeffnen und Schliessen erfolgt ohne Anstrengung. Fig. 2. zeigt ein
montirtes Steuerventil, welches der Bewegung der Luft nur in der Richtung
der Pfeile gestattet, in welchem der horizontal gelegene Theil den Weg für
die Inspirations-, der verticale Theil für die Exspirationsluft bestimmt ist.
Fig. 3. zeigt, in welcher Weise die Luft wie beim physiologischen Athmen
in die Lunge und von dort, ohne sich mit der Inspirationsluft mischen zu
können, nach aussen gefühlt, gesammelt und untersucht werden kann. Die
Richtung der Pfeile zeigen den Weg, den die Luft in die Lunge und
von da nach aussen nimmt. Die Fig. 3. zeigt den Weg der Luft, wenn nur
PNEUMO-SPIROTHERAPIE.
313
durch den Mund, oder durch den Mund und Nase geathmet wird. — Man
sieht, dass eine weiche elastische Maske Mund und Nase luftdicht umschliesst
und der Luft den Weg durch den Mund oder durch die Nase gestattet.
Wenn bloss durch die Nase geathmet werden soll, wird anstatt der Kaut-
schukmaske, ein kurzes Stück angesetzt, welches zwei kurze Kautschukröhr-
chen trägt, in die zwei Glasoliven gesteckt werden, welche die Luft und das
Medicament aus dem Apparate direct in die Nasenhöhlen und von da in die
Lunge bringen sollen.
rig. 3.
Steuerventil
mit Kautschukmaske.
Es ist ein Fehler aller Inhalations-Apparate, welche die
zu inhalirende Substanz in Röhren der Lunge zuleiten, dass
diese Röhren einen kleinen Querschnitt haben. Dadurch hat der
Athmende die Empfindung als bekomme er nicht genug Luft. Derselbe strengt
sich beim Athmen oft ohne Noth an, und ermüdet bei dieser Arbeit, wodurch
sich die Vorstellung von ungenügender Luftzufuhr entwickelt. Die Luft ad-
härirt an der Wand des Kautschukrohres, und kann nur durch starke Anstren-
gung von derselben abgelöst werden; aber auch zum Ansaugen der Luft,
ist eine Kraft zur Ueberwindung innerer Reibung der Luft nöthig. Deshalb
muss das die Luft zuleitende Rohr mindestens den Durchmesser der Trachea
eines erwachsenen Menschen haben.
Beim physiologischen Athmen adhärirt die Luft nicht an der inneren
Trachealwand, weil dieselbe glatt und schleimig ist, hat daher keine besondere
Arbeit zu leisten. Soll nun beim Inhaliren das Athmen leicht sein, so muss
das Luftzuleitungsrohr einen Durchmesser von 10 — 15 mm, oder einen Quer-
schnitt von 3 — 5 cm^ haben. Dieser Inhalationsapparat, der gleich beschrie-
ben werden soll, gestattet es sowohl gasige als auch flüssige Medicamente
zu athmen, ferner die Quantität des in die Lungen gelangenden Medicamen-
tes approximativ zu bestimmen, weiters die Ausathmungsluft mit den in ihr
enthaltenen gasigen Zerfallproducten der Gewebsathmung von der Inspira-
tionsluft zu trennen und die schädliche Wiedereinathmung derselben zu verhü-
ten, endlich diese Zerfallsproducte, sowie den Theil des nicht in der Lunge
zurückgehaltenen Medicamentes, aufzufangen, zu untersuchen und zu messen.
314 PNEUMO-SPIROTHERAPIE.
Von den zahlreichen früheren Inhalations-Apparaten sollen nur die nach-
folgenden erwähnt werden und zwar für die Verathmung flüssiger oder ver-
flüssigter Medicamente:
Der Apparat von Sales Girons besteht darin, einen dünnen Strahl des
flüssigen Medicamentes mit grosser Kraft gegen eine feste Wand zu schleudern,
wobei derselbe in Staub zersplittert wird. Die Idee dieses Zerstäubens ist der
Beobachtung von Cataracten entnommen, wo Wasser von bedeutender Höhe
gegen einen Felsen stürzt, dabei zerstäubt wird. Das zerstäubte Wasser eines
Wasserfalles ist je nach dem Grade der Zerstäubung in weitem Umfange auf
viele Meter weit als Wasserstaub sieht- und fühlbar.
Der Zerstäuber von Sales Gieons hat viele Modificationen erlebt. Alle zer-
stäuben das Medicament frei in die Luft, wie beim Wasserfall. Sales Gieons
hat das Wasser der Schwefelthermen in einem geschlossenem Zimmer zerstäubt.
Die in ein solches Zimmer gebrachten Kranken athmeten eine Zeitlang das
zerstäubte Wasser. Solche Inhalatorien wurden in allen namhaften Badean-
stalten errichtet und bestehen noch, doch wird jetzt das Princip von Sales
Gieons bei Inhalations- Apparaten fast gar nicht mehr verwendet. — Mathieu
hat die Zerstäubung der Medicamente dadurch erzeugt, dass er einen Flüssig-
keitsstrahl gleichzeitig mit einem Strahl comprimirter Luft durch ein Capillar-
rohr trieb. — Den grössten Anklang fand die von Beegsohn eingeführte
Verbesserung des Zerstäubers. Beegsohn hat zwei unter einem rechten Win-
kel zu einander stehenden Glas- oder Metallröhren mit einander verbunden,
die Enden dieser Röhren in feine Spitzen ausgezogen. Das verticale Rohr
taucht in ein kleines Gefäss, in welchem das flüssige Medicament sich befin-
det. Durch das horizontal liegende Rohr treibt er einen kräftigen Luftstrom,
der beim Vorüberstreichen über die capillare Oeffnung des verticalen Roh-
res daselbst die Flüssigkeit zuerst aspirirt und dann zerstäubt. Diese einfache
und sinnreiche Einrichtung wird seitdem bei allen Zerstäubungs-Apparaten
verwendet. Richaedson hat bei seinem Apparat zur localen Anästhesie das
Princip von Mathieu mit der Aspiration nach Beegsohn combinirt. Endlich
wurde in den nach Siegle construirten Apparaten, die Aspiration anstatt
durch comprimirte Luft durch Wasserdampf hervorgebracht, Einrichtungen
und Apparate, die von den früher allgemein angewendeten SPEAY-Appa-
raten bei der antiseptischen Wundbehandlung nach Listee ohnehin allgemein
bekannt sind.
Alle diese Apparate und die vielen Modificationen lassen das zerstäubte
Medicament frei in die Luft ausströmen, ohne bestimmen zu können, wie viei
von dem zerstäubten Medicament in die Lungen gelangt und wie viel von
demselben wieder ausgeathmet worden ist. In der nebenstehenden Fig. 4
ist der Apparat zur Spirotherapie abgebildet. Der Zerstäuber Ze nimmt eine
messbare Menge des zu zerstäubenden Medicamentes auf. Die Zerstäubung
findet nach dem Aspirationsprincipe Beegsohn's statt. Die Zerstäubung
erfolgt in dem horizontal liegenden „Sammler" Sa, durch die Handhabung des
Gebläses G. Die Zerstäubung des Medicamentes erfolgt wie bei jeder
Zerstäubung in verschieden grosse Flüssigkeitspartikeln, die sich in dem
gläsernen Cylinder ansammeln, sich zu Tropfen vereinigen und zu Boden fallen;
nur der sehr feine, flüssige Staub geht in der Richtung des Luftstromes und
verlässt den Sammler durch den Schornstein „Seh". Wird an den Schornstein
ein 0-5 langer Schlauch angesetzt, so sieht man an dem distalen freien Ende
eine feine schwarze Wolke wie Rauch aus dem Schornstein aufsteigen (daher
der Name ,, Schornstein"). Wird dieser Wolke ein reines glänzendes Object-
glas, wie es zur mikroskopischen Beobachtung verwendet wird; hingehalten
oder wird das Ende des Schlauches auf ein reines Objectglas gerichtet, so sieht
man auf dem Glase eine Trübung, gerade so als wenn dasselbe angehaucht
worden wäre, als Zeichen, dass sich das zerstäubte Medicament auf dem kal^
PNEUMO-SPIEOTHERAPIE.
315
ten Objectglas als feiner Flüssigkeitsstaub praecipitirt hat, welcher aber sehr
schnell von dem Objectglas durch Verdampfung verschwindet. Wird nun der
Schlauch mit dem Steuerventil und der Maske der Fig. 3 oder mit den Nasen-
oliven verbunden, so dringt dieser feine Flüssigkeitsstaub bis in die Lungen.
Dieser Flüssigkeitsstaub würde auch ohne active Athembewegung durch
die Luftströmung, welche das Gebläse erzeugt, in die Lunge gelangen. Beim
activen Athmen aber wird sich das Lippenventil an der Basis des Sammlers
„Sa" öffnen, frische Luft wird zuströmen und mit dem Medicament gemischt,
lebhafter in die Lunge einströmen.
Inhalations-Apparat mit Gebläse, Zerstäuber, Sammler und Schornstein.
Bei einer bestimmten Grösse des Apparates wurden durch Messung fol-
gende Daten erlangt: Das Gebläse „G" von mittlerer Grösse hat den Luft-
druck auf eine V2 Atmosphäre comprimirt, die Flüssigkeit zerstäubt und
gegen den Schornstein getrieben.
Von dem zerstäubten Medicament haben sich 99°/o durch Reflexion an den
Wänden des Sammlers und durch Zusammenfliessen in grössere Tropfen
auf dem Boden des Sammlers angesammelt, nur l7o ist als Dunst geblieben
und hat als solcher den Schornstein verlassen. Wird ein 10—15 cm lan-
ges Kautschukrohr mit dem Schornstein und distal mit dem Steuerventil
verbunden und das Medicament verathmet, so dringt mindestens 1 7o des feinen
Medicamenten- Staubes in die Lunge, während etwa 9970 an der Wand des
Sammlers, des Schlauches, des Steuerventiles etc, anhaftet. Bei der mittleren
Tiefe einer Respiration kann man annehmen, dass die eine Hälfte des
Medicamenten- Staubes in der Lunge bleibt und die andere Hälfte desselben
mit der Exspirationsluft wieder ausgeathmet wird.
Es lässt sich nun folgende Berechnung machen : Gesetzt, man habe in den Zerstäuber
6 — 10 cm^ einer lO^/oigen Jodkahlösung zum Zweck der Verathmung gegossen und beginnt
durch rhythmische Druckbewegungen auf das Gebläse die Flüssigkeit zu zerstäuben, so
wird allmälig die ganze Flüssigkeit zerstäubt, daher aus dem Zerstäuber verschwinden
und sich zum grössten Theile in dem Sammler wieder ansammeln und nur ein kleiner
Theil wird als feinster Flüssigkeitsstaub aus dem Apparate verschwinden und zwar wird
von jedem cm^ des Medicamentes 0"ül cm^ sich in bleibenden Dunst umwandeln; es wird
demnach O'OOl g Jodkali in dem als medicamentösen Dunst aus dem Schornstein in den
Schlauch übergehen. Von dieser Quantität wird die Hälfte in der Lunge verbleiben und die
andere Hälfte wieder ausgeathmet werden. Es werden also von jedem cm^ einer W/oigen,
vollkommen in Flüssigkeitsstaub umgewandelten Jodkalilösung 0-0005 g Jodkali in die
Lunge und von da in's Blut übergehen. Wird nun nach Entleerung des Zerstäubers die
Flüssigkeit aus dem Sammler in den Zerstäuber zurückgemessen, so findet man aus der
Differenz, wie viel von dem zerstäubtem Medicament in Dunst übergegangen ist, wobei auf
den Schwund beim Uebergiessen der Flüssigkeit Rücksicht zu nehmen ist. Aus jedem
vollkommen zerstäubten cm^ dieses Medicamentes gelangen 0-0005 Jodkali in den Körper.
316 PNEÜMO-SPIROTHERAPIE.
Versuche, die mit der Verathmung einer 10%igen Jodkalilösung in dem Apparate bei
Gesunden und Kranken vorgenommen wurden, Hessen schon nach etwa 60 Athmungen, nach
10 Minuten, das Jodkali durch die Chloroform-Reaction im Harn nachweisen. Analog lässt
sich die Quantität eines anderen, durch die Spirotherapie in den Körper gebrachten Medi-
camentes approxomativ berechnen und in vielen Fällen durch die Harnuntersuchung die
stattgefundene Aufnahme desselben in's Blut nachweisen. Es handelt sich zwar bei dieser
Methode um sehr kleine Mengen von Medicamenten, die bei der spirotherapeutischen Ver-
athmung in's Blut gelangen, diese genügen aber auch vollkommen zur Einleitung einer
Heilwirkung, denn wenn die Dosis grösser wäre, so würden bei allen wirksamen Medica-
menten, wie Jod- und Quecksilber- und Lösungen von Alkaloiden Vergiftungs-Erscheinungen
eintreten.
Dem Umstände ist es zuzuschreiben, dass die zahlreichen Apparate,
welche die Flüssigkeiten frei in die Luft zerstäuben, noch immer vielfach
angewendet werden. Bekanntlich wurde in Pierre-Fonds, einer französischen
Schwefeltherme, zuerst das Mineralwasser zerstäubt und verathmet und hat
Sales Gerons veranlasst, den ersten Zerstäubungs- Apparat construiren zu
lassen. Die Verathmung der Mineralwässer wird seitdem auch in den anderen
französischen Thermen bis auf den heutigen Tag angewendet. Auch in Deutsch-
land und in Oesterreich werden die Mineralwässer von Ems, Kissingen, Vichy,
Bilin, Gleichenberg, die Salzsoole von Reichenhall und Ischl etc. verathmet.
Mit Rücksicht auf die guten Erfolge, die der Verathmung von Mineral-
wässern zugeschrieben werden, hat man versucht, anstatt der natürlichen
Mineralwässer schwache Lösungen von Koch- und Seesalz, von doppeltkohlen-
saurem Natron etc. verathmen zu lassen und da der Erfolg dieser Verathmung
ebenso günstig war, wie bei der Verathmung der natürlichen Mineralwässer,
so hat die Inhalationstherapie mit zerstäubten Koch- und Seesalzlösungen einen
solchen Aufschwung genommen, dass dieselbe bei allen chronischen Erkrankungen
der Nase, des Rachens, des Kehlkopfes, der Bronchien und der Lungen an-
gewendet wird und von den Kranken selbst mit einem der vielen Modificationen
des SiEGLE'schen Inhalations- Apparates, der sich, fast in jeder Haushaltung
befindet, ausgeführt wird.
Es ist gegen eine solche Verwendung der frei in die Luft mündenden
Zerstäubung nicht viel einzuwenden, denn bei dieser Inhalation kann ein
Theil der zerstäubten Kochsalz- und der alkalischen Lösung auch in die
Lunge gelangen und dort seine Heilwirkung ausüben; der grösste Theil des
zerstäubten Medicamentes aber geht in die freie Luft, auf das Gesicht, den
Kopf und auf die Kleider, benetzt dieselben und geht verloren. Es hängt von der
Richtung des feinen Flüssigkeitsstaubes und von der Entfernung ab, ob und
wie viel von demselben in die Lunge kommt, was bei indifferenten Medicamenten
von keiner besonderen Bedeutung ist. Bei der Verwendung von salpetersauren
Silberlösungen, bei Sublimat-, Arsen-, Jodkali-, Carbol-, Creosot- und anderen
Lösungen aber sollen nur in Inhalations- Apparaten, die eine Bestimmung der
Dosis des aufgenommenen Medicamentes zulassen, verathmet werden. Bisher
ist der oben abgebildete Apparat zur Spirotherapie der einzige, der eine solche
Dosirung gestattet, der aber mancher Verbesserung fähig ist.
Im Nachfolgenden sollen einige ßecepte angeführt werden, wie dieselben mit dem
Apparate mit einigem Erfolge in der Behandlung der chronischen Tuberculose verwendet
worden sind.
Rp.
Rp.
Sal. culinaris.
Sal. marin, ää 0'5
Aqu. destillat. 95 0
Natr. arsenicosi O'Ol
Aqua laur. cerasi. 10 0.
S. Zum Zerstäuben für 50 — 60 Athmungen.
Hydrog. peroxydati 2-0 — 2'5
Aqu. destillat. 100 0
Extr. hyoscyami 0 05.
S. Zum Zerstäuben, 50—60mal zu athmen.
Rp.
Ep.
PNEUMO-SPIROTHERAPIE. 317
Creosoti ex. hitum. phagi 0'25
Aether sulfuris 0 10
Aqu. amygd. anmr. O'lö
Aqu. destill. lOO'O.
S. Zum Zerstäuben, 50 — GOmal zu athmen.
Guajacoli 0-25
Chloroformi O'IO
Extr. hyoscyami 0 05
Aqu. destill 100-0
S. Wie üben.
Rp.
PhenocoU Jiydrochlor. 5'0
Aqu. destillat. 100- 0
Morph, hydrochlorici 0'05
S. Wie oben.
Ich will nur noch erwähnen, dass man an Stelle des Gebläses comprimirte
Luft anwenden kann, dort wo Luftdruckleitungen vorhanden sind. Das Princip
der Zerstäubung durch Dampf, wie beim SiEGLE'schen lässt sich bei dem oben
abgebildeten Apparat zur Spirotherapie nicht verwenden.
Es erübrigt jetzt nur noch die Verwendung von bei Lufttemperatur
flüchtiger Medicamente zur Spirotherapie zu besprechen. Die spirothera-
peutische Verwendung flüchtiger Medicamente wird jetzt im grossen Maassstabe
besonders von den Chirurgen und den Gynäcologen zum Zwecke der Analgesie
und zur allgemeinen Anästhesie verwendet. Leider wird diese Methode noch
heute in der primitiven Art angewendet, wie sie bei der ersten Application
üblich war.
1. Inhalation von Chloroform.
Dieses wird in folgender Weise effectuirt. Es wird Chloroform auf einen Bade-
schwamm oder ein Gazegewebe aufgegossen und der Verdunstung überlassen, wobei
das dampfförmige Chloroform in die freie Luft sich ausbreitet, und mit der Luft
in die Lunge gelangt. Kein Mensch weiss bis jetzt, wie viel von dem Chloroform
sich in die Luft ausbreitet und wie viel von demselben in die Lunge gelangt und
wie viel in derselben bleibt. Niemand weiss in welchem Mischungsverhältnisse das
der Luft beigemengte Chloroform eingeathmet wird. Es ist dieses Mischungsver-
hältnis auch kein constantes, es wird dieses Mischungsverhältnis unter nicht näher
bekannten Umständen sehr gross sein, d. h. sehr viele Procente Chloroformdampf
enthalten, und diese scheinen es zu sein, welche mit zu den zwar selten sich ereig-
nenden Todesfällen durch Chloroform beitragen. Es würde der Chloroformtod ein
viel häufigeres Accidens sein, wenn das dampfförmige Chloroform direct mit der
Schleimhaut der Lungenalveolen anstatt mit der Reserveluft in Berührung käme.
Ueber die Dosirung des Chloroform und der anderen zur Anästhesie verwendeten
Medicamente ist absolut nichts bekannt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ver-
athmung von reinem Chloroform beim Ausschluss einer Verdünnung durch Luft —
wenn dieses ausführbar wäre — absolut tödtlich wirkt, und dass auch eine hohe
procentische Mischung des Chloroforms mit Luft, mit Gefahr für das Leben des
Athmenden verknüpft ist. Andererseits weiss man, dass die Verathmung einer Luft,
die ^2 Volumpercent Chloroformdampf enthält, hinreicht, um in 30 bis 100 Ath-
mungen eine allgemeine Anästhesie hervorzurufen.
Es ist wahrhaft betrübend, dass in unserer Zeit, die den Stempel des Fort-
schrittes an der Stirne trägt, und sich der Unterstützung aller Zweige der Natur-
wissenschaft zu erfreuen hat, in dieser hochwichtigen Frage noch nichts unternommen
worden ist. In England hat seinerzeit Glover das Chloroform aus einem Sack
athmen lassen, in welchem dasselbe mit Luft gemischt war, über das procentuale
318
PNEUMONIE-SPIROTHEEAPIE.
Yerhältnis dieser Miscliung ist mir nichts bekannt, jetzt scheint diese Methode auf-
gegeben zu sein und die Anästhesie erfolgt, wie auf dem Continent durch reichli-
ches Aufgiessen von Chloroform auf einen von Skinner angegebenes, mit Flanell über-
zogenes Drahtgestell.
Die zu einer Narkose verbrauchte Menge von Chloroform beträgt 3 — 100 ß', wie viel
von dieser Quantität zur Narkose verwendet worden ist, davon hat Niemand eine Ahnung.
Ein Fortschritt in dieser Frage ist nur möglich, bei Bestimmung der nachfolgenden Daten :
1. Mit Hilfe der Dampfdichte des Chloroforms wäre zu bestimmen, welches Volum
1 cm^ flüssiges Chloroform, bei seiner Umwandlung in Dampfform annimmt, wobei man auf
Temperatur und Luftdruck Rücksicht zu nehmen hat.
2. Wie viel flüssiges Chloroform wird bei einer bestimmten Temperatur und einem
bestimmten Luftdruck in der Zeiteinheit in Dampfform umgewandelt ? oder man kann diese
Frage auch so formuliren: Wie viel vermag eine bestimmte Quantität Luft von der Tem-
peratur t bei einem Barometerdruck b flüssiges Chloroform aufzulösen und in Dampf-
form in sich aufzunehmen? Wenn diese Fragen ziffermässig festgestellt sein werden, dann
wird es keine besondere Schwierigkeit haben, der zu athmenden Luft ein bestimmtes
Volumpercent von dampfförmigen Chloroform beizumischen, und dieses Mischungsverhältnis
constant zu erhalten. Wenn man dann diese Mischung von Luft mit Chloroformdampf
durch einen hiezu eingerichteten Apparat zur Spirotherapie athmen lässt, so wird es nicht
schwer sein, das Chloroform, wie jedes andere Medicament genau zu dosiren, die Maximal-
dosis des für Thiere und Menschen gefahrlos zu verabreichenden Chloroforms zu bestimmen
und festzustellen, welches die Minimaldosis zur Erzeugung der Anästhesie ist. Man kann
dann das flüssige Chloroform auf einen porösen Körper (Glaswolle) in bestimmter Menge
aufgiessen (ausbreiten) und in ein Drahtkorb von untenstehender Figur in den Sammler
' des spirotherapeutischen Apparates bringen, Wie dieses an anderer Stelle bildlich dargestellt
worden ist. Dieser Drahtkorb wird mit Glaswolle gefüllt und mit dem Anaestheticum, in
der Menge von 1 cm'' durchtränkt, und in den Sammler gesteckt, nachdem der Zerstäuber
entfernt worden ist. — Man kann das Anaestheticum auch tropfenweise, aus einem Tropf-
apparate in die Tropfröhre continuirlich fallen lassen.
rig. 5.
DraMkorb mit Tropfröhre zur Aufnahme
des Anästheticums.
Drahtkorb mit GlaswoUe.
Ausser dem Chloroform, dem Aethyläther und den wenigen anderen zur allge-
meinen Anästhesie verwendeten, bei gewöhnlicher Temperatur leicht in Dampf über-
gehenden flüssigen. Medikamente, sind noch die nachfolgenden Gase als Heilmittel
bei verschiedenen Krankheiten versucht worden.
2. Inhalation von Stickstoff.
Es lag nahe die die Luft zusammensetzenden Gase einzeln auf ihren thera-
peutischen Werth zu prüfen. Die ersten Versuche Gase therapeutisch zu verwenden
geht zurück zu Bedoes. — Xtsten hat den N in die Venen gespritzt und will
von dieser Injection eine beruhigende Wirkung auf das Herz beobachtet haben.
Demaequay und Leconte haben den N in das subcutane Bindegewebe und in das
Peritoneum gespritzt und wollen nach dieser Einspritzung eine reichlichere Aus-
scheidung von 0 und von COg durch die Lunge beobachtet haben. Sie haben ferner
den N bei Wunden verwendet, und wollen gefunden haben, dass dieses Gas die Wun-
den nicht reizt und dass Operationen, die in einer Athmosphäre von N ausgeführt
werden, nicht zur Eiterung führen und eine Heilung per primam intentionem begün-
stigen. Den grössten Anstoss zur therapeutischen Verwendung des N haben die
Stickstoffinhalationen in einigen Bädern gegeben. In Lippspringe enthält das Wasser
4'5^/o N lose gebunden, der sehr bald in die Luft übergeht. In 100 Theilen des aus
der Quelle ausströmenden Gases sind 83 Theile N. Noch reicher an N ist die
PNEUMO-SPIROTHERAPIE. 319
Ottilienquelle in Paderborn (Inselbad). 100 Theile des aus dieser Quelle ausströmen-
den Gases wurden als aus OT^/o N und 37o COg bestehend erkannt. Helft und
andere Badeärzte haben gefunden, dass die Einathmung dieses Thermalgases bei
verschiedenen entzündlichen Erkrankungen der Schleimhaut in den Bronchien und in
den Lungen den Hustem-eiz mindern oder gar zum Schwinden bringen; das hekti-
sche Fieber bei Lungenerkrankungen soll abnehmen, der Appetit und Schlaf
sich wieder einstellen und auch alle anderen Krankheitssymptome sollen sich
schon in relativ kurzer Zeit nach Einathmung dieser Thermalgase sowohl subjectiv
als auch objectiv bessern. Besonders günstig wirkt die Einwirkungdes Thermalgases
bei hartnäckigen Katarrhen des Kehlkopfes.
Um sich vom Thermalgas unabhängig zu machen und die Athmung des N an
jedem beliebigen Ort durchführen zu können, hat Dr. Treutler eine einfache Me-
thode zur Darstellung des N angegeben.
Er lässt athmosphärische Luft langsam über Eisenspäne streichen, die mit
einer Lösung von schwefelsauren Eisenoxydul befeuchtet sind. Das Eisen oxydirt
sich unter Vermittlung des Eisenvitriols und entzieht der athmosphärischen Luft den
O, welche bei ihrem Austritt nur aus N besteht. — Treutler hat sich dieses ein-
fache Verfahren zur Darstellung des N patentiren lassen und in einer Brochüre im
Jahre 1879 veröifentlicht. Den so gewonnenen Stickstoff Hess er in einem por-
tativen Inhalations-Apparat (den Doppelapparat von Weil) verathmen. Treutler
hat so wie alle anderen die Wirkung der N Inhalation in dem Fehlen des 0 ge-
sehen. Es soll durch das Fehlen des 0, oder durch seine geringere Quantität in
der Luft eine verminderte Oxydation und eine geringere Eeizung der entzündeten
Schleimhaut der Respirationsorgane stattfinden.
Er will nach der Einathmung des N an Kranken und an Gesunden, ein Er-
blassen und Kühlwerden der Haut, den Puls kleiner und frequenter werden gesehen
haben, nur bei längerer Dauer der Einathmung von reinem IST, soll Kopfschmerz
und Schwindel sich einstellen, die aber bald vorübergehen und niemals zu Ohnmacht
oder zu gefährlichen Zufällen Veranlassung geben. Nach der N Athmung soll sich
ein eigenes Wohlbefinden, ein freieres Athmen, zuweilen nur soll sich jedoch für
kurze Zeit das Gefühl der Ermüdung und einer Spannung in der Brust einstellen.
Der Husten soll während und nach der N Inhalation stets gemildert gewesen sein.
Als Ergebnis der N Athmung will er auch bei dem Kranken einen ruhigeren Schlaf,
vermehrten Appetit, Verminderung des Nachtschweisses und der Diarrhoe, Zunahme
des Körpergewichtes und der Lungencapacität und des Hautturgors beobachtet
haben. Diese Veränderungen sollen schon nach einer 14 tägigen Verathmung des
Stickstoffes zu beobachten sein. Treutler hält die N Athmung indicirt bei allen
chronischen Krankheiten der Respirationsorgane, auch wenn sie von Fieber und
Anämie begleitet sind, bei der chronischen Lungenentzündung, bei chronischer Phthise
und bei Asthma. Bei acuter Phthise will er nur Besserung der Symptome beobachtet
haben, so dass er eigentlich keine Contraindication zur Anwendung der Methode bei
Erkrankung der Lunge kennt. Nur bei Erkrankungen der Niere, speciell bei morbus
Brighti und beim Vorhandensein von Urämie soll die Stickstoffathmung schädlich und
contraindicirt sein.
3. Inhalation von Sauerstoff.
Nachdem in der Luft der 0 für das belebende Element gehalten, und der
Stickstoff nur als ein indifferentes Verdünnungsmittel des 0 betrachtet wird, sollte
■man glauben, dass die Einathmung von reinem 0 als ein sehr wichtiges Thera-
peuticum zu betrachten sei, das bei allen möglichen Krankheiten mit Vortheil zu
verwenden ist; dem ist jedoch nicht so. Die Sauerstoff t her apie hat sich nur
für wenige krankhafte Zustände als Heilmittel erhalten können. — Während der N
wie früher erwähnt worden aus einigen Thermalquellen frei zu Tage tritt und als N
für sich vei-athmet werden kann, ist nichts Aehnliches vom 0 bekannt. Derselbe
kommt niemals isolirt in der Natur vor und kann immer nur in der Gesellschaft von
320 PNEÜMO-SPIROTHERAPIK
N verathmet werden. Es wird zwar angenommen, dass die Waldluft reicher an 0
sei, weil die Pflanzen die COg zerlegen, den Kohlenstoff zum Aufbau ihres Leibes
verwenden und den 0 an die Luft zurückgeben sollen. Zahlreiche Untersuchungen
haben jedoch ergeben, dass die Waldluft nicht 0 reicher ist, dass dieselbe ebenso
wie die Luft auf hohen Bergen, auf der Meeresfläche und in tiefen Gruben immer
mit dem N im Verhältnis von 1:4 gemengt ist, und überall nur mit der 4fachen
Quantität von N gemengt geathmet werden kann. Auch in den pneumatischen
Kammern und in den Taucherapparaten, in welchen die Luft auf l^/- bis auf 2 oder
3 und mehr Atmosphären comprimirt wird, ist der 0 in grösserer Menge vorhanden,
aber immer ist auch der N Gehalt der comprimirten Luft in vierfach grösserer Quan-
tität vorhanden. Wenn man daher von einem grösseren Gehalt von 0 und von einer
0 Therapie spricht, so muss man unterscheiden, ob man diesen 0 Reichthum durch Com-
pression der Luft oder durch die Reindarstellung des 0 erreicht. Man kann bei-
spielsweise gewöhnliche Luft athmen, derman20% reinen 0 beimengt
oder eine auf 2 Atmosphären comprimirte Luft athmen, in beiden
Fällen wird die eingeathmete Luft 40''/o statt 20°/o ö enthalten.
Bis zur Stunde liegen keine verlässlichen Versuche vor, über die Verschie-
denheit in der Wirkung der beiden Arten von Verdopplung des 0 Gehaltes der Luft.
Die Anhänger der pneumatischen Kammer sprechen sich für die Verdichtung der
Luft aus, sind also indirecte Anhänger der N Therapie, weil mit der Vergrösserung
des 0 Gehaltes auch die Quantität des in 4 facher Menge enthaltenen N entspre-
chend vergrössert wird. Wenn man jedoch über die Wirkung der 0 Therapie
sprechen will, so muss man den 0 isolirt in grösserer Menge den Lungen zuführen
und da entsteht die Frage, ob man denn überhaupt eine grössere Menge von 0
ins Blut bringen kann?
Vom 0 weiss man, dass derselbe im Blute nicht gelöst, sondern am Hämoglo-
bin, als Oxyhämoglobin lose gebunden ist; man weiss ferner, dass das Hämoglobin
nur eine gewisse Menge von 0 lose zu binden vermag, und dass mit der Sättigung des
Hämoglobins mehr 0 nicht aufgenommen werden kann. Bei einem 0 Gehalt der
Luft von 20*'/o ist das Hämoglobin im gesunden Menschen gesättigt und vermag
daher 0 nicht mehr aufzunehmen. Wird einem Blute mit gesättigtem Hämoglobin
noch 0 zugeführt, so wird dasselbe gar nicht aufgenommen, und als solche wieder
ausgeathmet, oder es wird ein Theil des 0 so wie der N als inactives Element im
Blutserum gelöst. — Nur in jenen Krankheitsfällen, in denen das Hämoglobin nicht
vollständig mit 0 gesättigt ist, kann der zugeführte 0 aufgenommen werden, nur
da kann von einer 0 Therapie die Rede sein. Leider sind über alle diese Verhält-
nisse keine exacten und einwandsfreien Angaben bekannt. . Nur von P. Beet liegen
Versuche vor, der an Thieren und auch an Menschen nachgewiesen hat, dass bei
einem geringen Partialdruck des 0; wo derselbe unter 38 cm gesunken ist, die Ein-
athmung des 0 die vorhandenen Beschwerden lindern kann, und andererseits, dass ein
vermehrter Gehalt an 0 im Blute giftig wirkt und Krämpfe hervorruft. Wie viel
0 das Blut aufzunehmen vermag, hat auch Beet nicht nachgewiesen. Er hat zwar
gefunden, dass das Blut von Thieren, die unter einem Druck von mehreren (bis 10)
Atmosphären athmen, nicht über 24 Volum ^o 0 enthalten haben. Es entspricht
aber ein Luftdruck von 10 Atmosphären einem 0 Gehalt von 200 Volumpercent,
wenn dann ein solches Blut doch nur 24 Volumpercent 0 enthält, so beweist die-
ses die beschränkte Aufnahmsfähigkeit des Blutes für 0.
Selbst wenn Blut ausserhalb des Körpers mit gewöhnlichem 0, oder mit einem
unter erhöhtem Druck stehenden 0 geschüttelt wird, so enthält dasselbe nicht mehr
als etwa 30 Volumpercent 0, dabei ist der wirksame an dem Hämoglobin gebunbene
0 mit dem unwirksamen im Blutserum gelöste 0 zusammen addirt. Es ist bis zur
Stunde nicht bekannt, wie lange ein lebendes Wesen reinen 0 zu athmen vermag.
— Die Versuche von Beet beziehen sich nur auf kleine Thiere und in einem ab-
geschlossenen Raum, und die Versuche von Speck an sich selbst betreffen nur
sehr kurze Zeiträume. Bis jetzt erstreckt sich die Therapie der 0
PNEüMO-SPIROTHERAPIE. 321
Inhalationen, auf die Beseitigung einiger Symptome und zwar a)
für alleFälle vonCyanose, b) für alle Fälle vonDyspnoe, die nicht
durch ein mechanisches Hindernis für den Eintritt der Luft in die
Lunge oder durch ein Hindernis des Kücklaufs des Blutes durch
die Venen bedingt sind. Die 0 Inhalation wird daher angezeigt
sein in solchen Fällen, wo der 0 Gehalt derLuft aus irgend einem
Grunde insufficient ist, sei es, dass der Partialdruck des 0 gesun-
ken ist, wie beim Luftschiffer in einer Höhe über GOOO bis 7000 w,
oder durch den zu grossen Verbrauch von 0, bei der Gewebsath-
mung, durch übergrosse Muskelanstrengung, durch erschöpfende
geistige Arbeit; Bei Croup und Diphtheritis, bei der die Dyspnoe
nicht durch Oedem oder Stenose im Kehlkopf erzeugt ist, vielleicht
auch bei Herzschwäche. In allen diesen Fällen braucht die 0 Inhalation keine
continuirliche zu sein; es reicht hin, vereinzelte Athemzüge aus dem 0 Behälter zu
machen und zwar nur so lange, um das Leben über die kritische Zeit der 0 Insuf-
ficienz zu erhalten. Es wird genügen 1 — 2mal in der Minute, oder jeden 5. bis 10.
Athemzug aus dem 0 Eeservoir zu machen. Häufigere 0 Inhalationen sind
entbehrlich, ermüdend und selbst nachtheilig für den Kranken.
Nach der Entdeckung des Ozons durch Schönbein und nachdem derselbe als
activer 0 aus O3 bestehend erkannt worden ist, hat man versucht das Ozon thera-
peutisch anzuwenden. Man hat aber bald gefunden, dass das Ozon nicht geathmet
werden kann. Es greift die Schleimhaut der Lunge und die Gewebe an, reizt und
zerstört dieselben. Es zerlegt und zerstört organische Verbindungen und hat einen
gewissen Nutzen als Desinficiens, aber zur Inhalation ist dasselbe nicht geeignet.
Die 0 Therapie ist übrigens seit einiger Zeit in ein anderes Stadium getreten.
Der 0 Gehalt des Blutes, der mit dem Leben verträglich ist, liegt zwar in den
relativ weiten Grenzwerthen von 12 bis 20% 0, aber die Grenzen zwischen Dyspnoe
und Wohlbefinden, so weit dieselben vom 0 Gehalt des Blutes bedingt sind, sind
viel enger, und dürften in einzelnen Fällen nur l^j^^ betragen.
Diese Ergänzung des fehlenden 0 im Blute lässt sich auf einfache und un-
schädliche Weise durch das Wasserstoffperoxyd bewirken. Das Wasserstoffperoxyd
von der Formel HgOg, hält das 2te Atom 0 nur sehr lose gebunden. Bei Berührung
dieser Flüssigkeit mit Blut, wird dieselbe zerlegt in Wasser HgO und in den all-
mälig freiwerdenden 0, welcher beim Uebergang aus dem in der Flüssigkeit ge-
bundenen in den gasförmigen freien Zustande ein etwa 1500 grösseres Volumen
einnimmt. Wählt man eine 3 bis Ö'^/ßige Lösung von Wasserstoffperoxyd in Wasser
— das concentrirte HgOa ist stark giftig und nicht haltbar — und spritzt dasselbe
subcutan dem Körper ein, oder bringt dasselbe in zerstäubter Form in die Lunge,
so wird die wässerige Lösung rasch resorbirt und gelangt ins Blut; dort wird die-
selbe zerlegt und der frei werdende 0 im nascirenden Zustande, als Gas (im 1500-
fachen Volumen) vom Blute aufgenommen. Ein cm^ einer 3 — 5 '^/q igen Lösung von
H2O2 enthält 0*03 bis 0"05 mgH202, und, wenn dieses seinen nascirenden 0 in Gasform,
in iSOOfacher Menge abgibt, so gibt dieses 45 — 75 cm^ reinen 0, der direct vom
Blut aufgenommen wird, ein Ersatz an 0, der viel grösser ist als bei längerem Ein-
athmen von reinem 0, weil bei diesem nur ein kleiner Theil in die Reserveluft durch
Gasdiffusion eindringt und von da erst ins Blut gelangt, der grösste Theil des ein-
geathmeten 0 gelangt unverwerthet mit der Exspiration nach aussen. Der Schreiber
dieser Zeilen hat mehrfach Gelegenheit gehabt das H2O2 in 2 — 5 böiger Lösung so-
wohl durch Zerstäubung bei der Verathmung, als auch durch Aufschnupfen und
durch Gurgeln bei verschiedenen Fällen von Dyspnoe und erschwertem Athmen mit
Erfolg zu verwenden. Bei dem allmähligen Freiwerden des nascirenden 0 ist von
einer 0 Embolie nichts zu fürchten, wie mau sich durch die subcutane Injection
leicht überzeugen kann. Nur höhere Concentrationen von HgOg wirken schädlich,
aber nicht etwa durch eine 0 Embolie sondern durch Reizung des Centralnerven-
Bibl. med. "WissenBchaften. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd III. 21
322 PNEÜMO-SPIROTHERAPIE.
Systems durch den zu grossen 0 Gehalt des Blutes. Eine S^o wässerige Lösung
von HgOg stellt die Maximaldosis dar, die zum Zwecke der 0 Vermehrung im Blute
in den indicirten Fällen zulässig ist.
4. Inhalation von Kohlensäure.
Nachdem die Kohlensäure als solche aus der Erde dringt und in manchen
Thermen den Hauptbestandtheil der dem Thermalwasser entströmenden Gase ist,
(Ems, Franzensbad, Vichy u. a. Thermen), nachdem ferner die grosse Zahl der
Kohlensäuerlinge, durch Absorption von freier Kohlensäure in unterirdische Wasser
zu Stande kommt, und die bei natürlicher oder künstlicher Erwärmung der COg
hältigen Mineralwässer, diese ihre CO2 frei austreten lassen, nachdem ferner die Kohlen-
säure vielfach mit Erfolg angewendet wird, so hat man versucht die Kohlensäure als In-
halationsgas zu verwenden und behauptet gute Resultate mit dieser Inhalation erzielt zu
haben. So viel steht fest, dass die Kohlensäure nicht als direct giftiges Gas angesehen
werden kann, denn die COg wird sowohl beim Trinlien kohlensäurehältiger Getränlie
als beim Baden in kohlensäurehältigen Bädern sowohl von der Schleimhaut des Yer-
dauungscanales, als auch durch die Wässer in geringerer oder grösserer Menge ab-
sorbirt und ins Blut übergeführt, wo sie an Alkalien gebunden dem Blute seine
Alkaleszenz verschaffen, aber dennoch muss die ungiftige COg als ein irrespirables
Gas betrachtet werden. Die Ursache der Irrespirabilität der an sich ungiftigen C0„
ist in rein physikalischen Verhältnissen zu suchen. Die normale Athmung erfolgt,
wie gezeigt worden, durch Gasdiffusion. Die Reserveluft lässt die aus dem Blute
diffundirte COg in die inhalirte Luft diffundiren und nimmt dafür den 0 aus der
inhalirten Luft auf.
Enthält aber die Inhalationsluft eine gewisse Menge von COg, so ist kein Grund
vorhanden für die Reserveluft ihre COg an die Inspirationsluft überströmen zu lassen.
Es ist aber auch kein Grund vorhanden, warum COg aus dem Blute in die an COg
reiche Reserveluft diffundiren sollte. Die COg wird daher im Blute zurückgehalten,
das Blut bleibt venös, eine Decarbonisation desselben ist nicht möglich. Der 0 ver-
mag in einem mit COg überladenen Blute dasselbe nicht hellroth zu machen —
auch das venöse Blut enthält 0. — Der Unterschied zwichen arteriellem und venösen
Blute liegt hauptsächlich in der Decarbonisation des letzteren, nebensächlich nur ist
sein geringerer 0 Gehalt. — Die CO2 ist demnach ein irrespirables, aber nicht
giftiges Gas. Man nimmt an, dass ein dauerndes Athmen einer 1 Volum Procent
CO2 enthaltenen Luft Gesundheitsstörungen zur Folge habe; dagegen soll das nur
wenige Minuten dauernde Einathmen einer Luft, die 3 — 4^/** CO2 enthält, heilend
wirken. Es soll sich bei dieser Athmung eine Beschleunigung des Pulses und der Respi-
ration ein Gefühl von Wärme in der Brust einstellen ; dabei soll der in den Alveolen
angesammelte zähe Schleim sich lockern und leicht expectorirt werden (Helft). Ueber-
haupt soll die Einathmung von Kohlensäure auf Gesunde und Kranke kräftigend
wirken. Die Verwendung der COg soll sich auch der Impotentia coeundi als nütz-
lich erwiesen haben. Nur bei etwa längerer Dauer der Athmung von COg soll sich
eine stärkere Transpiration, Röthe des Gesichtes und Eingenommenheit des Kopfes
und endlich Bewusstlosigkeit einstellen.
In der Hundsgrotte bei Neapel werden den Fremden Hunde gezeigt, die durch
einige Zeit die am Boden der Grotte angehäufte COg zu athmen gezwungen sind,
dabei bewusstlos zusammensinken, die aber an die Luft gebracht in wenigen Minuten
sich ganz von selbst vollkommen erholen, ohne irgend welchen Nachtheil von der
eingeathmeten Kohlensäuse zu empfinden. P. Bert räth daher mit Rücksicht auf die
Ungiftigkeit die COg als allgemeines und unschädliches Anästheticum für kleinere
Operationen zu verwenden.
5. Inhalation von Kohlenoxyd.
Während nun die COg ein irrespirables und ungiftiges Gas ist, welches dem
Blute den venösen Charakter aufdrückt und es hindert auch bei Gegenwart von 0
die rothe Farbe des arteriellen Blutes anzunehmen, ist das Kohlenoxyd CO ein irrespi-
PNEÜMO-SPIROTHERAPIE. 323
rables, höchst giftiges Gas, welches sclion bei geringer Beimengung der Luft, Menschen
und Thiere tödtet. Das Koblenoxyd ertheilt dem venösen Blute eine rothe Farbe.
Seine giftige Eigenschaft scheint von seiner grossen Aft'inität zum Hämoglobin herzu-
riiln-en. Diese bewirkt es, das bei Anwesenheit von Kohlenoxyd dieses den 0 aus
dem Hämoglobin austreibt und sich mit dem letzteren verbindet.
Das Kohlenoxyd verdrängt den 0 aus dem Blute, lässt sich aber vom 0 nicht
verdrängen, auch wenn dasselbe im reinen Zustande, (ohne Stickstoff) dem Blute
zugemengt wird. Das Kohlenoxyd verlässt die Blutkörperchen nicht mehr und führt
sie dem Zerfall zu. Beim Athmen von CO stellt sich gleich im Beginn der Ath-
mung Bewusstlosigkeit und vermehrte Schleimabsonderung in den Lungenalveolen
ein. Während die Bewusstlosigkeit, die durch die Athmung von CO2 erzeugt worden
ist, von selbst weicht, sobald der Bewusstlose in gewöhnliche, atmosphärische Luft
gebracht wird, kehrt das Bewusstsein bei Kohlenoxydvergiftung auch bei künst-
licher Athmung nicht leicht wieder. Gleichwohl ist diese künstliche Athmung durch
längere Zeit fortzusetzen, weil es leicht zum Stillstand des Herzens kommt. In ver-
einzelten Fällen, wenn die Coucentration des Kohlenoxydes in der Luft nicht zu
gross, oder die Athmung des giftigen Gasgemisches nicht zu lange gedauert hat,
kehrt durch die künstliche Kespiration das Bewusstsein wieder, aber diejenigen
Blutkörperchen, in denen das Kohlenoxyd sich eingenistet hat, sind nicht lebens-
fähig und fallen der Zerstörung anheim, und wenn die Zahl der letzteren sehr gross
ist, rufen sie Nierenerkrankung und Herzschwäche hervor.
Von einer therapeutischen Verwendung des Kohlenoxydes kann selbstverständlich
keine Rede sein, aber da die Athmung dieses Gases relativ häufig vorkommt, theils
in selbstmörderischer Absicht, theils durch Unkenntnis seiner giftigen Eigenschaften
oder durch Zufall, so muss die Vergiftung durch Kohlenoxyd wegen der gegen diese
Intoxication einzuschlagenden Therapie hier kurz behandelt werden.
Das erste und wichtigste Mittel gegen die Kohlenoxydvergiftung ist Beseitigung
des giftigen Gases und den Bewusstlosen in eine reine gute Luft zu bringen, dabei
ist die künstliche Athmung prolongirt zu unterhalten. Zur Entfernung der dem
Tode verfallenen rothen Blutkörperchen empfiehlt es sich in kurzen Zwischenräumen
von 50 bis 100 Minuten wiederholte Aderlasse von etwa 50 cm^ Blut zu machen,
wobei sich, wie die Erfahrung lehrt, den kleinen Aderlässen entsprechend, neue Blut-
körperchen aus den das Blut bereitenden Organen entwickeln; wenn diese ausbleiben
oder zur Erhaltung des Lebens nicht hinreichen sollten, so sollte man zur Bluttrans-
fusion greifen.
6. Inhalation von Stickoxijdid.
Das Stickoxydul ist wie die Kohlensäure ein für die Dauer irrespirables, aber
ungiftiges Gas. Dasselbe hat die chemische Formel NgO, hat also doppelt so viel
0 als die atmosphärische Luft. Diese hat auf 4 Theile N nur einen Theil 0,
während das Stickoxyd auf 2 Theile Stickstoff schon einen Theil 0 enthält, mit
dem Unterschiede jedoch dass in der Luft die 4 Theile N mit dem 0 nur gemengt,
nicht chemisch verbunden sind, während im Stickoxydul der Stickstoff mit dem 0
eine chemische Verbindung darstellt.
Wie sich das Hämoglobin zum Stickoxydul verhält ist nicht näher studirt,
aber so viel weiss man, dass das Blut, trotzdem dasselbe beim Athmen von Stick-
oxydul die doppelte Menge 0 als beim Athmen gewöhnlicher Luft enthält, es doch
nicht im Stande ist, das Bewusstsein und das Leben zu erhalten. Beim Athmen von
Stickoxydul tritt Störung des Bewusstseins und Reizung des Gehirnes ein, welche
sich durch Ausbrüche der Heiterkeit und Lust und nur relativ selten durch Trau-
rigkeit und Missstimmung kundgeben, weshalb man dieser Gasverbindung den Na-
men Lust- oder Lachgas gegeben und dasselbe zur schmerzlosen Ausführung kleiner
Operationen verwendet hat. Die Zahnärzte verwenden das Lustgas bis auf den
heutigen Tag zur schmerzlosen Extraction von Zähnen. Das Lustgas war es,
welches die Anregung zur Anwendung des Aethyl, Aethers und des Chloroforms
21*
324 PNEÜMO-SPIROTHERAPIE.
zur allgemeinen Anästhesie gegeben hat, welche durch mehrere Stunden hindurch
unterhalten werden kann, was heim Lustgas mit grossen Gefahren verbunden ist.
Es hat zwar nicht an Versuchen gefehlt, auch die Lustgas-Narkose für länger dauernde
Operationen brauchbar zu machen. So hat P. Beet diese Narkose unter erhöhtem
Partialdruck auch für längere Zeit ohne Gefahr lür das Leben unterhalten können.
Andere haben dasselbe Ziel auf andere "Wege zu erreichen gesucht, doch sind diese
Versuche theils als umständlich und kostspielig, theils als nicht ganz verlässlich
wieder aufgegeben worden. Die Lustgas-Narkose ist gegenwärtig auf Operationen
beschränkt, die nur 2 bis 3 Minuten dauern, und für diese ist die Athmung des.
Lustgases ganz ungefährlich. Von den nach Hunderttausenden zählenden Lustgas-
Narkosen ist kein Todesfall bekannt, der mit Sicherheit als durch Stickoxydul hervor-
gebracht nachgewiesen werden konnte.
7. Inhalation von Schivefehcasserstoff.
Ueber die Verathmung des Schwefelwasserstoffes Süg ist folgendes zu sagen:
Der Schwefelwasserstoff ist es, der den zahlreichen Schwefelthermen den Charakter
aufdrückt. Dieses Gas ist es, welches auf die Blutkörperchen giftig wirkt, indem
es dieselben tödtet, dennoch wird dasselbe von den Badeärzten therapeutisch an-
geblich mit gutem Erfolg angewendet. In den französischen Schwefelthermen von
Amelie-les-Bains, Bagneres, Cauterets, Eaux-Bomes, Labassere, Luchon, Pierrefonds
und in den zahlreichen Schwefelthermen von Deutschland und Oesterreich, wird das
Thermalwasser nicht nur zum Baden, sondern auch zum Trinken, zum Zerstäuben und
Verathmen des "Wasserstaubes und auch zum Verathmen des aus der Therme ausströ-
menden Schwefelwasserstoffgases verwendet. Nachdem diese Verathmung alljährlich
während der Badesaison, von Tausenden von Kranken mit angeblich gutem Erfolge
wiederholt wird, nachdem man endlich vor einigen Jahren versucht hat den
Schwefelwasserstoff von der Mastdarmschleimhaut ins Blut zu bringen und dieses
Gas als Heilmittel gegen Lungenerkrankungen, besonders gegen Lungentuberkulose
zu verwenden empfohlen hat, so muss man wohl annehmen, dass dieses Gas, wenn
es auch nicht im Stande ist, die Tuberkulose und die anderen Lungenerkrankungen
zur Heilung zu bringen, jedenfalls eine subjective Besserung und jedenfalls keine
nachtheiligen Folgen des Leidens hervorzubringen vermag.
Bei der zweifellosen Giftigkeit des Schwefelwasserstoffgases
auf die Blutkörperchen, kann man die Unschädlichkeit oder gar
den Nutzen, den das Athmen dieses giftigen Gases im kranken
Körper zur Folge hat, nur durch die Annahme erklären, dass die
Gewebs- und Blutzellen im lebenden Körper die Fähigkeit besitzen
das SHg in seine Elemente in Schwefel und in "Wasserstoff zu zer-
legen und unschädlich zu machen, dabei den Schwefel zum Aufbau
der Gewebe zu verwenden und den Wasserstoff durch die Lunge
oder in anderer "Weise auszuscheiden.
Die bekannt gewordenen Todesfälle durch Vergiftung in den Cloaken
und Unrathskanälen, sprechen nicht gegen die aufgestellte Hypothese der
Zerlegung des Schwefelwasserstoffes durch die Gewebszellen, Es ist möglich, dass die
Todesfälle in den Unrathskanälen nicht blos durch den SHg sondern auch durch
andere in den Kanälen sich entwickelnde giftige Gase herbeigeführt werden, oder
man könnte sich auch vorstellen, dass in den Kanälen der Schwefelwasserstoff in
solcher Concentration mit Luft gemengt ist, dass die Gewebszellen nicht im Stande
sind, den ganzen SHg zu zerlegen und unschädlich zu machen, oder endlich, dass
die Menge SHg die Luft in den Kanälen rareficirt, und dass die Menschen durch
den Mangel an Luft an Asphyxie sterben.
Von einer Besprechung der Einathmung des verdampfenden Kamphers, des
Terpentinöls, des Eucalyptols, des Menthols, der Karbolsäure und der verschiedenen
ätherischen Oele, kann hier abgesehen werden, nachdem die Einathmung dieser
Dämpfe immer nur vereinzelt geblieben sind und niemals eine grössere Verbreitung
oder eine methodische Anwendung gefunden hat. Neudöbfer.
J
PNEUMOTHORAX. 325
Pneumothorax. Die Ursachen für den Eintritt von Luft in den Pleura-
raum sind theils in Verletzungen des Thorax, theils in Erkrankungen der
Lunge, des Brustfells oder der benachbarten Organe zu suchen. Hieb-,
Stich-, und Schusswunder, welche die Brustwand durchdringen, haben
das sofortige Entstehen eine; Pneumothorax im Gefolge, Ausnahmen hiervon
finden nur statt, wenn am Ort der Verletzung ausgedehnte Verwachsungen
beider Pleurablätter vorhanden sind. Traumen, welche keine penetrirende
Wunde erzeugen, können dennoch den gleichen Effect hervorbringen, wenn
eine Continuitätstrennung der Lungenoberfiäche durch sie verursacht wird.
Das Letztere ist bei stumpf einwirkenden Gewalten gar nicht selten der Fall.
Oft stellen Rippenfracturen das Bindeglied dar, indem die scharfen Bruchen-
den in die Pulmonalpleura hineingespiesst werden und die Lunge eröffnen.
In anderen Fällen fehlen sie aber, so dass hier eine directe Zerreissung der
Lunge in Folge der Quetschung angenommen werden muss.
Spontane Ruptur einzelner Lungenbläschen bei völlig gesunden
Menschen in Folge heftiger Anstrengung, Heben schwerer Lasten, lau-
ten Schreiens und Singens hat ausnahmsweise Austritt von Luft in den
Brustfellsack veranlasst. Häufiger sind derartige Vorkommnisse, wenn die
Widerstandsfähigkeit der Lunge gelitten hat, besonders wenn krankhafte, mit
Erweichung und .Einschmelzung des Gewebes einhergehende Processe in der
Nähe ihres Pleuraüberzuges sich abspielen. Hier entstehen sie aus gering-
fügigen Ursachen, mitunter sogar ohne jeden Grund, selbst im Schlaf.
Unter den Lungenkrankheiten ist bei weitem die häufigste die Tuber-
culose, sie stellt daher auch das grösste Contingent zu dem vorliegenden
Zustande. Ungefähr 7io aller beobachteten Fälle stehen mit ihr in ursäch-
lichem Zusammenhang. Nach der gebräuchlichen Angabe sollen 5 — 10 7o
der Lungentuberculosen zu Pneumothorax führen, er würde demnach, da ca. Vs
aller Menschen der Schwindsucht erliegt, ein relativ häufiges Leiden darstellen,
was jedenfalls unzutreffend ist. Das genannte Procentverhältnis ist sicher ein
erheblich niedrigeres.
In gleicher Weise, wenn auch seltener als die Tuberculose veranlassen
oberflächlich gelegene Abscesse, Gangränherde, durch Verschleppung
von Embolis entstandene Infarkte, zerfallende Geschw^ülste der Lunge
Lufteintritt in den Pleuraraum; auch Emphysemblasen und bronchiec-
tatische Cavernen können durch Einriss zu demselben Ziele führen.
Empyeme, welche die Lunge durchbrechen, haben ebenfalls oft Pneumothorax
zur Folge, Perforation nach aussen führt diesen Ausgang viel seltener herbei,
da der die Brustwand durchsetzende Kanal gewöhnlich vielfach gewunden
verläuft, und dadurch den Abschluss der Luft ermöglicht.
Geschwürige Processe in benachbarten lufthaltigen Or-
ganen greifen zuweilen auf das Brustfell über und vermitteln den Zutritt
von Gas zu demselben, z. B. Ulcerationen des Oesophagus oder des Magens
und Darms nach Durchbrechung des Diaphragma.
Entstehung eines Pneumothorax durch spontane Gasentwickelung
in Folge j auchiger Zersetzung eines pleuritischen Exsudates
•wurde zwar früher angenommen, ist aber nicht durch beweisende Beobach-
tungen gestützt und hat nicht viel Wahrscheinlichkeit für sich.
Anatomisches: Die Luft in der Pleura ist entweder auf eine umschrie-
bene Stelle begrenzt {circumscripter Pneumothorax)^ oder nach allen Richtungen
frei beweglich. Der erstgenannte Zustand entsteht, wenn durch ausgedehnte
Verwachsungen der Pleurablätter untereinander die in den Brustfellraum aus-
tretende Luft verhindert wird, sich allseitig auszubreiten, er entzieht sich oft
der Wahrnehmung; der letztere, den man zum Gegensatz als diffusen Pneumo-
thorax bezeichnen kann, ist bei weitem häufiger, und durch prägnante
Symptome charakterisirt. Er kann offen oder geschlossen sein. Bei dem offenen
326 PNEUMOTHORAX.
Pneumothorax besteht eine klaffende Fistel in der Lunge oder in der Brust-
wand, welche den freien Austausch der Atmosphären- und der Pleuraluft
gestattet; er tritt beispielsweise stets nach Empyemoperationen auf. Bei
dem geschlossenen Pneumothorax ist keine Communication vorhanden, die
Luft im Pleuraraum ist durchweg abgesperrt. Sehr oft, besonders bei
Phthisikern findet man einen sogenannten Ventiljoneumothorax. Hier ist die
Oeffnung in der Pulmonalpleura derartig gestaltet, dass bei der Inspiration
Luft durch dieselbe eindringt, während dei der Exspiration ein ventilartiger
Verschluss stattfindet, mithin keine Luft entweicht. Die Folge ist, dass, da
mit jedem Athemzuge immer mehr Luft in den Pleuraraum eingepumpt wird,
dieselbe sich unter sehr hoher Spannung befindet und eine erhebliche Ver-
drängung der Nachbarorgane bewerkstelligt.
Die Oeffnung in der Pleura ist den geschilderten Verhältnissen
entsprechend von wechselnder Gestalt und Grösse, kreisförmig oder längs ge-
schlitzt, bald einen Stecknadelkopf an Grösse nicht übertreffend und bei der
Autopsie nur mit Mühe auffindbar, bald 1 cm und mehr im Durchmesser
haltend. Auch die Veränderungen in den Lungen zeigen sehr wechselnde
Ausdehnung; oft bestehen grössere Cavernen, deren Wand in die Pleura per-
forirt ist, zuweilen haben kleine, dicht unter dem Brustfell gelegene Erwei-
chungsherde zur Durchbrechung derselben Veranlassung gegeben. Pneumo-
thorax kommt daher in allen Stadien der Lungenerkrankung, in den frühesten,
bei anscheinend noch völlig gesunden Personen, sowie auch in den vorge-
schrittensten zur Beobachtung.
Bei dem an Verletzungen des Brustkorbes anschliessenden Pneumothorax
findet meist ein gleichzeitiger Erguss von Blut in die Brusthöhle statt, es
entsteht ein Haemopneumothorax. Dringt nur Luft ein, so hängt es von
dem Keimgehalte derselben ab, ob ein Flüssigkeitserguss sich hinzugesellt
oder nicht.
Bei Lungenkrankheiten pflegt infectiöses Material gleichzeitig hinein zu
gelangen, wodurch Pleuritis mit Absonderung eines Exsudates erzeugt wird.
Je nach der Beschaffenheit desselben unterscheidet man Hydro- oder Sero-
pneumothorax und Pyopneumothorax. Letzterer kommt oft zur Be-
obachtung, doch zählt auch der erstere nicht zu den Seltenheiten. Die Raum-
beschränkung im Brustraum wird durch die Ansammlung eines Ergusses
wesentlich erhöht.
Gewöhnlich ist das Leiden einseitig; doppelseitiger Pneumothorax gehört zu
den Ausnahmen, er entsteht entweder, wenn beiderseits Perforationen der
Pleura Platz gegriffen haben, oder wenn die beiden Brustfellräume durch
ulcerative Processe in dem sie trennenden Mittelfelle miteinander in Verbin-
dung getreten sind.
Symptome: Der Eintritt eines Pneumothorax ist gewöhnlich durch stür-
mische Symptome charakterisirt; nur wenn die Athmuug schon vorher in
höchstem Maasse alterirt war, fehlen sie. Die Patienten empfinden zunächst
einen heftigen Schmerz, sie haben das Gefühl, als ob etwas in der Brust
zerrisse. Die Ursache desselben ist in der plötzlichen Dehnung der Pleura
durch die eingedrungene Luft zu sehen. Sofort stellen sich auch die Zeichen
hochgradiger Athmungsinsuf ficienz ein, bedingt theils durch die
Ptaumbeengung im Thorax, theils durch die Zerrung, welche Herz und grosse
Blutgefässe bei der Verdrängung erleiden. Letztere ist bei geschlossenem und
besonders beim Ventilpneumothorax bedeutender als beim offenen. Es besteht
Orthopnoe, die Kranken haben cyanotisches Aussehen, sind coUa-
birt, der Puls klein und schnell, die Stirn mit klebrigem Schweiss bedeckt.
Die Lunge auf der erkrankten Seite ist collabirt und nach dem Hilus
zurückgesunken, wo sie als schlaffes, fast luftleeres Gebilde der Wirbelsäule
PNEUMOTHORAX. 327
anliegt, wenn nicht einzelne Theile durch ältere Verwachsungen an der Brust.
wand fixirt sind.
Die Thoraxhälfte ist erweitert und nimmt an der Athmung
keinen Antheil, die Intercostalräume sind verbreitert und vorgewölbt. Bei
einem Kinde von 2 Jahren, welches im Anschluss an ein Empyem einen
Pyopneumothorax links acquirirt hatte, fand ich die Ausdehnung der linken
Brust so bedeutend, dass die Platte des Sternuras, statt in frontaler Richtung
zu verlaufen, schräge gestellt war, und dadurch auch die rechte Seite an der
Erweiterung Theil nahm. Die Verdrängung des Herzens war hier eine
so hochgradige, dass der Spitzenstoss zwischen Mamillar- und Axillarlinie
rechts deutlich gefühlt wurde. Bei linksseitiger Erkrankung ist mit dem
Zwerchfell die Milz nach abwärts dislocirt, bei rechtsseitiger ragt
die Leber tief unter dem Rippenbogen hervor und der Spitzenstoss ist in der
Axillarlinie links anzutreffen.
Die Percussion liefert bei offenem Pneumothorax tympanitischen Schall
und in der Nähe der Fistel das Geräusch des gesprungenen Topfes. Bei ge-
schlossenem und Ventilpneumothorax steht die Luft unter so hoher Spannung,
dass die Bedingungen für sein Entstehen ungünstig werden und an Stelle
dessen lauter, nicht tympanitischer Schall auftritt. Das Ausdehnungsgebiet
desselben überschreitet die Lungengrenzen, es reicht über die Mittellinie
hinaus und bis zum Rippenrande herab. Bei Anwendung der Stäbchenplessi-
meterpercussion nnd gleichzeitiger Auscultation ist Metallklang deutlich wahr-
zunehmen, welcher bei Lagewechsel des Kranken seine Höhe ändert (Bier-
MER'scÄer Schallwechsel).
Die Auscultation ergibt in vielen Fällen das Fehlen jedes Athmungs-
geräusches, in anderen ist mehr weniger deutliches amphorisches Athmen zu
constatiren, welches durch Resonanz in dem grossen Luftraum diesen Charakter
erhält. Bisweilen entsteht es auch dadurch, dass bei der Respiration Luft aus
der Fistel in den Pleuraraum ein- und austritt. Die Anwesenheit von Exsudat
neben Luft im Brustraum ist durch Dämpfung in den unteren Partien und
bei Schütteln des Kranken hörbares metallisches Plätschern angezeigt, welches
mitunter in weiter Entfernung vernommen werden kann (Succussio Hippocratis);
es nimmt bei jeder Lageveränderung die tiefste Stelle im Brustraum ein und
wird nach oben zu stets durch eine horizontal verlaufende Linie begrenzt;
über die Beschaffenheit gibt die Probepunction sicheren Aufschluss.
Der Pectoralfremitus ist abgeschwächt oder aufgehoben; nur wo
Verwachsungen der Lunge mit der Brustwand bestehen, ist er an begrenzter
Stelle zu fühlen.
Circumscripter Pneumothorax ruft den beschriebenen ähnliche
Erscheinungen in kleinem Bezirke und weniger ausgesprochen hervor. Da
aber Metallklang und amphorisches Athmungsgeräusch auch über grösseren
Cavernen wahrgenommen wird, bereitet die Unterscheidung beider Zustände
oft erhebliche Schwierigkeiten. Für die Differentialdiagnose ist zu beachten,
dass in der Regel bei Cavernen die Thoraxwand eingesunken, bei Pneumo-
thorax hervorgewölbt, ferner der Pectoralfremitus an der Stelle von Höhlen
verstärkt, bei Pneumothorax abgeschwächt, respective aufgehoben ist.
Bei einer an Empyem leidenden Frau beobachtete ich den U ebergang
eines circumscripten in einen diffusen Pneumothorax. Das die
rechte Seite einnehmende Exsudat hatte sich sehr rasch entwickelt, die Däm-
pfung reichte hinten bis zur Mitte der Scapula, vorne bis zur vierten Rippe
hinauf. Zwei Tage, nachdem dieser Befund erhoben war, fand ich an der vor-
deren Brustwand in der Ausdehnung einer Handfläche tympanitischen Schall,
welcher bei Lagewechsel der Kranken keine Aenderung seiner Begrenzung
erkennen liess und in dessen Bezirk schwaches amphorisches Athmen hörbar
war. Nach weiteren 2 Tagen war ausgesprochener Pyopneumothorax mit
328 PNEUMOTHORAX.
freier Beweglichkeit des Exsudates und Succusionsgeräusch zu constatiren.
Die Section zeigte als Ursache des Lufteintritts in den Brustraum einen circa
haselnussgrossen Gangränherd an der vorderen Fläche der Lunge, welcher,
dicht unter der Pleura gelegen, dieselbe zerstört hatte. Wahrscheinlich war
zunächst nur ein geringes Quantum Luft ausgetreten, welches zwischen den
entzündlich verklebten Pleurablättern abgekapselt blieb, bis Hustenstösse oder
Bewegungen der Kranken die lose Anlöthung trennten.
Die Unterscheidung des offenen und geschlossenen Pneu-
mothorax bereitet oft erhebliche Schwierigkeiten. In beiden Fällen bestehen
Dislocationen der Nachbarorgane, und wenn selbige auch gewöhnlich bei
letzterem hochgradiger sind, so ist doch ein zuverlässiges Urtheil nach ihrem
Grade nicht möglich. Die Analyse der eingeschlossenen Luft kann wichtige
Fingerzeige abgeben. Bei offener Fistel gleicht oder ähnelt ihre Zusammen-
setzung der der atmosphärischen Luft, sie enthält wenig Kohlensäure (bis zu
5 7o) ; bei geschlossenem Pneumothorax findet man 10 7o ^^^ darüber. Durch
eine Fistel kann ferner zeitweise und mitunter bei gewissen absichtlich von
den Kranken eingenommenen Stellungen ein Theil des Exsudates entleert
werden, was durch massenhafte „maul volle" Expectoration geschieht.
Dadurch wird Raum im Thorax geschaffen, und bei den nächsten Athemzügen
dringt Luft ein, welche, wenn die Fistel unterhalb des Flüssigkeitsniveaus
sich befindet, in Blasen aufsteigend zur Entstehung eigenthümlicher metallisch
klingender Rasselgeräusche Veranlassung giebt (Wasserpfeifengeräusch,
Lungenfistelgeräusch). Bei geschlossenem Pneumothorax sind ähnliche
Erscheinungen nicht zu constatiren.
Die Diagnose ist nur bei sorgfältigster, physikalischer Untersuchung
möglich. Verwechslungen mit Cavernen können vorkommen, da bei
diesen ebenfalls metallischer Percussionsschall, amphorisches Athmen, Tropfen-
fallen, ja mitunter sogar Succussio Hippocratis gefunden wird. Hier ist
jedoch die Brustwand eingesunken, dort her vorgewölbt, das Stimmschwirren
im ersteren Falle abgeschwächt, im letzteren verstärkt; bei Lungenhöhlen
fehlen ferner Dislocationen der benachbarten Organe.
Ein durch Gasansammlung stark ausgedehnter Magen,
welcher das Zwerchfell in die Höhe wölbt, ist im Stande den in den unteren
Lungentheilen wahrnehmbaren auscultatorischen und percussorischen Phäno-
menen Metallklang mitzutheilen und dadurch Pneumothorax vorzutäuschen.
Vor Irrthümern schützt man sich, indem man die Luft aus dem Magen durch
Einführung einer Schlundsonde entfernt, oder eine grössere Quantität Flüssigkeit
trinken lässt, wodurch der Magenschallraum gedämpft wird.
Grosse Schwierigkeiten bereitet die Unterscheidung von Hernia diaphrag-
matica, einem sehr seltenen Zustand, welcher meist congenital, aber auch in
Folge schwerer Verletzungen beobachtet ist, die gelegentlich zu Pneumothorax
führen, z. B. Einklemmen zwischen den Puffern zweier Eisenbahnwagen,
Auch hier findet man tympanitischen oder metallischen Percussionsschall,
metallische Rasselgeräusche u. s. w., es fehlen aber Verdrängungserscheinungen
und für die angeborenen Fälle Störungen der Athmung. Bisweilen gelingt
es, den Zusammenhang der auscultatorischen Phänomene mit der Peristaltik
festzustellen.
Als Pyopneumothorax subphrenicus'^') sind von Leyden gashaltige unter dem
Zwerchfell gelegene Abscesse beschrieben, welche durch Perforation von Ulcera
des Magens oder Darms entstanden waren. Das Diaphragma wird durch sie
bis zur 3. Rippe heraufgedrängt, der physikalische Befund gleicht sehr dem
bei Pneumothorax erhobenen. Zur Unterscheidung dient der Mangel von
*) Vergl. den Artikel „Suhphrenischer Abscess", in ds. Bd.
PNEUMOTHORÄ.X. 329
Erweiterung des Thorax, sowie von wesentlichen Störungen der Respiration,
und zuweilen die manometrische Bestimmung des Drucks, unter welchem das
Gas steht. In der Abdominalhöhle zeigt er in der Regel inspiratorisch Zu-,
exspiratorisch Abnahme, Wcährend im Brustraum das umgekehrte Verhalten
statthat.
Verlauf: Traumatischer Pneumothorax heilt, wenn keine Infectionskeime
mit eingedrungen und die Lungen gesund sind, spontan. Dieser Ausgang ist
der gewöhnliche bei den an Ilippenbrüche anschliessenden, wobei die Luft
mitunter in kürzester Zeit zur Resorption gelangt. Ist ein Bluterguss gleich-
zeitig erfolgt, so nimmt die Genesung längere Zeit in Anspruch. Pyopneumo-
thorax erfordert operatives Eingreifen, der Verlauf ist der gleiche wie bei
Empyem. Bisweilen ist bei Ansteigen des Exsudates Aufsaugung der Luft
beobachtet. Bei vorgeschrittener Tuberculose ist der Ausgang ein ungünstiger.
Der Tod kann sofort durch Erstickung eintreten, bevor ärztliche Hilfe zur
Stelle ist, in der Mehrzahl der Fälle erfolgt er im Laufe eines Monats, aus-
nahmsweise ist jahrelanges Bestehen beobachtet.
Die Prognose ist demnach bei traumatischem Pneumothorax im allge-
meinen günstig, bei progresser Phthise ungünstig. In Fällen, bei welchen die
Lungenerkrankung noch keine erhebliche Ausdehnung erlangt hatte, ist mit-
unter eine Wendung des Grundleidens zur Besserung durch den Pneumothorax
constatirt.
Für die an Empyem, Lungengangrän u. s. w. anschliessenden Fälle hängt
die Vorhersage von dem Verlauf der Grundkrankheit und dem Kräftezustand
des Kranken ab, ist im allgemeinen aber eine sehr ernste.
Therapie: Die heftige Athemnoth zu Beginn wird am wirksamsten durch
subcutane Morphiumeinspritzung bekämpft, wodurch zugleich eine psychische
Beruhigung des Patienten erzielt wird. Auflegen grosser Eisbeutel auf die
kranke Seite leistet gute Dienste, indem durch Abkühlung die Spannung der
im Thorax eingeschlossenen Luft herabgemindert wird. Bei Collaps sind
ausserdem Excitantien anzuwenden. Meistens genügt diese Behandlung, um
über die ersten stürmischen Erscheinungen hinwegzuhelfen. Man lässt dann
den Kranken strenge Bettruhe einhalten und wartet die weitere Entwickelung
des Leidens ab.
Bildet sich ein eitriges Exsudat aus, so ist die Eröffnung des Thorax
durch Rippenresection indicirt, wofern die Kräfte des Patienten diese immer-
hin eingreifende Operation gestatten. Die Heilung erfolgt danach wie bei
jedem Empyem.
Bei vorgeschrittener Lungentuberculose oder hochgradigem Kräfteverfall
würde ein solcher Eingriff nur geeignet sein, den Exitus zu beschleunigen.
Hier ist, sobald die Dyspnoe einen hohen Grad erreicht hat, die Punction des
Exsudates und die Ansaugung der im Thorax enthaltenen Luft vorzunehmen
und so oft als nöthig zu wiederholen. Sie schafft erhebliche Erleichterung
und ist oft schon unmittelbar nach Eintritt des Pneumothorax nothwendig,
wenn Erstickungsgefahr besteht, lieber die Technik dieser Operation siehe
den Artikel „Pleuritis".
HILBEET.
In einem auf dem XIV. Congress für innere Medicin [1896] gehaltenen Vortrage ver-
wirft ÜNVERRiCHT die wiederholten Panctionen beim tuberculösen Pneumothorax und em-
pfiehlt statt dessen die Anlegung einer Thoraxfistel. Hiedurch wird verhindert,
dass, wie dies bei einfacher Punction der Fall zu sein pflegt, nach Entleerung der Pleura-
höhle sofort wieder neue Luft in dieselbe durch die offene Lungenfistel eingesaugt wird.
Diese Operationsmethode soll nach Unverricht nicht nur lebensrettend wirken, sondern
auch zur vollständigen Ausheilung des Pneumothorax führen können.
330 POLYMYOSITIS.
Polymyositis. Die Polymyositis ist eine eigenartige Form der pri-
mären infectiösen Myositiden, welche zwar nicht durch die Aetiologie, nicht
durch den anatomischen Befund, aber durch ihren charakterischen Verlauf,
durch eine Summe bestimmter Symptome von anderweitigen ähnlichen Er-
krankungen, insbesondere von der vorigen Gruppe, sich abhebt. Die Krank-
heit ist zuerst und fast gleichzeitig 1887 von E. Wagner, Unverricht, und
Hepp beschrieben worden. Seitdem sind von Jacoby, Fenoglio, Plehn, Prin-
ziG, Löwenfeld, Strümpell, Wätzold, B. Lewy, Senator u. A. weitere
Fälle beschrieben und das Krankheitsbild vervollständigt und erweitert worden.
Die Zahl der hierher gehörigen Fälle, einige vor 1887 unter anderem Namen
bekannt gewordene mit eingerechnet, beträgt augenblicklich einige 20.
Aetiologie. In den meisten dieser Fälle ist die Ursache der Entste-
hung eine völlig dunkle. In einigen werden gewisse disponirende
Momente, allerdings höchst fragwürdiger Art geltend gemacht z. B. nervöse
Belastung, Schwäche infolge vorausgegangener, anderweitiger acuter Er-
krankung in 2 Fällen, Tuberculose in 4 Fällen; in 3 Fällen wurde Erkäl-
tung mit der Erkrankung in Verbindung gebracht, und in einem Falle lag,
offenbar nur zufällig, ein Diabetes vor. In einem Falle war eine Zungen-
wunde (Hepp) oder der puerperale Uterus (Wätzold) die muthmaassliche
Eingangspforte des Infectionserregers; in einem anderen (Senator) konnte an
eine Vergiftung durch Krebse vielleicht gedacht werden. Sehr wichtig in
ätiologischer Beziehung sind die Erkrankungen, die B. Lewy beschrieben hat,
in denen 3 Mitglieder einer Familie, übrigens in sehr verschiedenem
Grade, erkrankten. Im wesentlichen aber herrscht über die Aetiologie noch
völlige Unkenntnis. Nur das scheint festzustehen, dass die Art der Ent-
stehung der Krankheit und ihr Verlauf dafür spricht, dass es sich um eine
Infectionskrankheit handelt, bei der der Erreger oder das Virus sich in den
Muskeln primär festsetzt. Nicht ausgeschlossen ist es, was Senator betont,
dass eine Autoinfection des Körpers vom Darm aus wenigstens in gewissen
Fällen vorliegt.
Im Uebrigen liegt kein Grund vor, einen specifischen und stets den-
selben, ja nicht einmal einen organisirten Krankheitserreger anzunehmen.
Vielmehr können auch verschiedene Ursachen dasselbe Krankheitsbild erzeugen.
Krankheitsbild. Die Krankheit beginnt in der Regel mit Prodro-
mal er scheinungen. Diese von der örtlichen Erkrankung noch nicht ab-
hängigen Allgemeinerscheinungen bestehen in allgemeinem Unwohlsein
und Mattigkeit, Störung des Appetites, Schwindel und Kopfschmerzen. Auch
treten zuweilen deutliche, gastrische Symptome, Uebelkeit und Erbrechen auf.
Kein Schüttelfrost, sondern nur diese Prodrome leiten das oft hohe, zu-
weilen aber auch in massigen Grenzen sich bewegende Fieber ein. Die eigent-
liche Erkrankung setzt mit dem Beginn der örtlichen Symptome ein,
wobei gleichzeitig die Allgemeinerscheinungen an Intensität noch zunehmen.
Zuweilen fehlt das Prodromalstadium. Die Symptome bestehen in Schmerzen,
welche die verschiedensten Muskelgebiete des gesammten Körpers befallen
und zunächst nur bei Bewegungen und auf Druck, später auch spontan, manch-
mal als Krampf empfunden werden. In Verbindung mit diesen Schmerzen
und ihnen entsprechend tritt Bewegungshinderung ein. Anfangs werden die
Extremitäten befallen, sowie die Muskulatur ihres Ansatzes am Ptumpf
(Kreuz, Schulter und Nackenmuskulatur). Später gewöhnlich erkrankt auch
die Muskulatur des übrigen Körpers, die Rückenmuskeln und die Halsmuskeln,
zuweilen auch diejenige der Augen und der Zunge. Ptosis und Erschwe-
rung der Augenbewegung, sowie eine Schwerbeweglichkeit der Zunge und
Verschlechterung des Sprech Vermögens können zuweilen schon frühzeitig beob-
achtet werden. Die Schmerzhaftigkeit wird bei zunehmender Erkrankung
immer intensiver, schliesslich entstehen nicht nur auf Druck, sondern bei
POLYMYOSITIS. 331
passiver Bewegung heftige Schmerzen, bisweilen besonders an den An-
satzstellen der Muskeln an die Sehnen.
In Verbindung mit diesen Schmerzen tritt eine Schwellung des er-
krankten Muskels ein. Im Allgemeinen ist die Schwellung an denjenigen
Muskeln am stärksten, die zuerst und am heftigsten befallen werden. Bei
längerer Dauer der Krankheit kann jedoch wiederum eine Abnahme der
Schwellungen sich einstellen, gerade dort, wo anfangs die höchsten Grade
vorhanden waren (Atrophie). Die geschwollenen Muskeln zeigen einen sehr
verschiedenen Grad der Consistenz; bald fühlen sie sich derb und hart an,
bald weich und teigig, bald fluctuirend. Zuweilen ist die Schwellung eine
mehr circumscripte, knotenförmige. Häufig und an den verschiedensten Stellen
wird indessen diese Muskelschwellung verdeckt durch Schwellungen der
dar überlieg enden Haut. Diese sind zum Theil einfach als ein colla-
teral-entzündliches Oedem aufzufassen; in anderen Fällen aber combinirt sich
mit ihnen ein erysipelartiges, manchmal fleckweise auftretendes Erythem,
welches die ödematösen Hautpartieen mehr oder weniger befällt. Dieses
Erythem gehört offenbar jenen Exanthemen an, welche bei acuten Infec-
tiouen nicht selten beobachtet werden; um so mehr als zuweilen auch ohne
ausgesprochene Hautödeme fleckige ßöthung der Haut oder ein ro-
seolaartiger Ausschlag oder Urticaria oder Purpura sich zeigen können. Die
Schwellung der Haut kann so hochgradig sein, dass namentlich die obere
Extremität eine Spindelform annehmen kann, zumal da hier das Oedem oft
hochgradiger ist, als an den unteren. Das Gesicht pflegt verhältnismässig
am geringsten vom Oedem befallen zu sein. Häufig zeigt die Haut eine ab-
norm vermehrte Schweissproduction. Die Erregbarkeit der erkrank-
ten Muskeln ist, soweit die Schmerzhaftigkeit und das Oedem die Prüfung
zulassen, dem elektrischen Strom gegenüber herabgesetzt, ja sogar
ganz aufgehoben. Ob die Entartungsreaction vorhanden ist, dürfte sich aus
demselben Grunde selten nachweisen lassen, höchstens im Anfangsstadium.
Die Sensibilität der Haut ist wesentlich nicht gestört, herabgesetzt
nur für die feinere Tastempfindung, da, wo das Oedem sehr hochgradig ist.
Auch sind die Hautreflexe nicht wesentlich beeinträchtigt. Die Patellar-
reflexe hingegen fehlen oder sind schwach, entsprechend der Erkrankung
der Muskulatur, selten nur erhalten.
In den schwereren Fällen der Erkrankung und wenn schon das Krank-
heitsbild ausgeprägt ist, pflegen die Schluck- und Athmungsmuskeln
an der Erkrankung theil zu nehmen. Schmerzhaftigkeit und besonders Läh-
mung des weichen Gaumens und der Pharynxmuskulatur und Behinderung
in der Athembewegung führt dann zunächst zu quälender Salivation, Angina
und Stomatitis, wobei auch die Schwerbeweglichkeit der Zunge nachtheilig
wirkt, bald aber kommen Bronchitiden hinzu und Bronchopneumonieen, die
vielleicht direct auf Schluckinfectionen zurückzuführen sind, und führen den
Tod herbei.
Die Milz ist häufig geschwollen, um so stärker, je acuter der Verlauf.
Auch die Nieren können sich betheiligen, es kann nicht nur eine Albumi-
nurie, sondern eine parenchymatöse Nephritis (Senator), als Com-
plication oder als secundäre, durch die Infectionsstoffe bedingte Erkrankung
sich hinzugesellen.
Der Verlauf der Erkrankung ist in der Kegel ein acuter oder sub-
acuter. Es sind acute Fälle von 2 bis zu 6 Wochen und subacute von 2
bis zu 5 Monaten beobachtet worden. Doch nehmen andere Fälle auch einen
chronischen Verlauf. Die Erkrankung setzt sich dann aus einer Summe von
Exacerbationen und Remissionen zusammen. Es sind derartige Fälle von
iVa — 274 jähriger Dauer beobachtet worden.
332 POLYMYOSITIS.
Zu bemerken ist noch, dass die Nerven spontan und auf Druck niemals
schmerzhaft sind, und dass die Muskeln vom Nerv nur dann nicht erregt
werden können, wenn sie zu heftig erkrankt sind.
Der anatomische Befund in den erkrankten Muskeln ist zwar stets
ein positiver und die Veränderungen sind oft hochgradig; aber so charak-
teristisch das Krankheitsbild ist, so wenig charakteristische Besonderheiten
und Anhaltspunkte ergibt das anatomische Bild. Obwohl es im höchsten
Grade wahrscheinlich ist, dass die Erkrankung auf Infection beruht, so sind
trotz eifriger Nachforschungen bisher niemals charakteristische Infections-
erreger gefunden worden. Freilich haben sich die Untersuchungen bisher nur
auf Bacterien erstreckt. Man würde in Zukunft auch den Versuch machen
müssen, auf nicht parasitäre, chemische Gifte zu fahnden. Die erkrankten
Muskeln zeigen Oedem, gallertartige Infiltration, schmutzig grauweise Ver-
färbung und partielle Atrophien der Muskelbündel, sowie eine Gefässhyperämie ;
mikroskopisch ist das Bild wechselnd; in manchen Fällen ist das Muskel-
parenchym, in manchen mehr das Interstitium befallen, oftmals sogar sind
beide Processe an demselben Muskel wahrnehmbar. Man findet mikroskopisch
hyalinen oder fettigen, scholligen Zerfall der Muskelprimitivbündel und Wu-
cherung der Muskelkerne. Andererseits kommen auch hochgradige intersti-
tielle Veränderungen vor, Oedem und Zelleninfiltration und selbst Binde-
gewebsneubildung. Eine Erweiterung der Blutgefässe ist die Kegel, vielleicht
auch eine Vermehrung derselben. Auch sind frische und alte Blutungen zu-
weilen beobachtet worden. Endlich kommen Fibrinausscheidungen vor. Sena-
tor hat auf die aufiällige Häufigkeit der zuerst von Eoth beschriebenen
neuromuskulären Stämmchen (umschnürte Bündel) aufmerksam gemacht.
Diagnose. Die Diagnose der Polymyositis wird erschwert dadurch,
dass ihr gewisse andere Erkrankungen sehr ähnlich sehen. Zunächst die
Trichinose. Dieselbe kann in der That so ähnlich verlaufen, dass ohne
anatomische Untersuchungen der Muskeln bei Lebzeiten die I)iagnose un-
möglich wird (Pseudotrichinose, Hepp). Im Allgemeinen sprechen für Trichi-
nose ein auffallend rasches Befallenwerden der Augen und Gesichtsmuskeln,
eine hochgradige Gesichtsschwellung und starke Magen- und Darmbeschwerden.
Auch wird zuweilen die Aetiologie ausschlaggebend sein können. Besondere
Schwierigkeiten macht hier die Unterscheidung von der Neuromyositis, die
Senator beschrieben hat und worauf wir bei dieser Erkrankung noch zurück-
kommen. Differentialdiagnostisch kommen endlich die bei acuten Phleg-
monen entstehenden Muskelaffectionen besonders dann in Betracht, wenn die
Phlegmone nicht eitrig ist. Die ödematöse Schwellung und Köthung der
Haut, ferner die Schwellung der inficirten Muskeln kann ein der Phlebitis
sehr ähnliches Bild erzeugen, namentlich dann, wenn die Phlegmone sehr
ausgebreitet ist oder an mehreren Körperstellen gleichzeitig (infolge derselben
Ursache) entstanden ist. Hier können gewiss erhebliche Schwierigkeiten ent-
stehen. Indessen wird in der Regel in solchen Fällen das Fortschreiten des
Processes im subcutanen Gewebe, den Lymphbahnen entsprechend, was für
die Phlegmone so charakteristisch ist, erkannt werden können und vor Irr-
thümern bewahren.
Prognose. Die Prognose der Erkrankung ist dubia, ad malamver-
gens. Nur 6 Fälle sind bisher zur Heilung gekommen. Die Dauer der
Erkrankung (12 und 14 Tage einerseits, 27^ Jahr andrerseits) ist dabei ohne
Einfiuss auf die Prognose.
Therapie. Eine günstige Beeinflussung durch die Therapie ist bis-
her niemals erzielt worden. Die Salicylpräparate führen nicht zum Ziele,
und wirken nur ein wenig anästhesirend auf den Schmerz. Dasselbe gilt
POLYNEURITIS. 333
von hydropathischen Umschlägen. Auch die Massage und Elektricität ist
vergeblich versucht worden. Vorläufig kann eine möglichste Bekämpfung
des Kräfteverfalles der einzige Weg sein, um dem Patienten dazu zu
verhelfen, die schwere Erkrankung zu überstehen. h. eosin.
Polyneuritis. Neuritis multiplex. Unter dieser Bezeichung versteht man
eine primäre, gleichzeitige oder hintereinander folgende parenchymatöse
Erkrankung verschiedener Nervenbahnen, wenn diese, auf Grund-
lage einer Allgemeinerkrankung des Organismus zu Stande gekommen ist.
Von manchen Autoren wird heute noch unter Polyneuritis ausschliesslich
eine Erkrankung der peripheren Nerven verstanden. Es ist dies eine Dar-
stellung, welche der historischen Entwicklung der Lehre und auch dem Wesen
nach einem erheblichen Theile der Krankheitsfälle entspricht, mit dem that-
sächlichen Ergebnisse der Forschung sich aber keineswegs deckt, da erwie-
senermaassen unter ganz denselben Bedingungen und gleichzeitig neben den
Veränderungen in den peripheren Nerven klinisch sowohl, wie anatomisch
nachweisbare Veränderungen in den Centralorganen entstehen.
Geschichte. Die Entwickhing der Lehre von der multiplen Neuritis hat an dem
Ausbau der Nervenpathologie einen hervorragenden Antheil, und erscheint aus diesem
Grunde schon eine historische Skizze am Platze.
Die aufsteigende Lähmung, ein Krankheitsbild, in welchem wir heute häufig
und mit der grössten Sicherheit die Polyneuritis erkennen, ist schon lange her bekannt
und auch in manchen klinischen Einzelheiten treffend beschrieben worden (Graves, Ollivier.)
Die anatomische Grundlage, das Wesen des Processes war jedoch, wie dies auch dem höchst
primitiven Stande der Untersuchungsmethoden entsprach, unaufgeklärt. Eine positive
Behauptung in dieser Richtung brachte zuerst Duchenne (1855).
Duchenne fasste die Fälle als spinale Paralysen auf {Paralijsie ascendante generale
spinale). Nach Duchenne wurde nunmehr der centrale Ursprung in diesen Fällen allge-
mein angenommen, die Symptome derselben als Zeichen von Rückenmarkserkrankungen
angesehen, ohne zu bedenken, dass für so weitgehende Schlüsse ganz ungenügende ana-
tomische Belege vorlagen. Eine Verschiebung in der Sachlage trat auch dann nicht ein,
nachdem Landry (1859) in einem der von ihm als „acute aufsteigende Paralyse'^ beschrie-
benen Fälle bei der anatomischen Untersuchung Zeichen einer Veränderung im Central-
nervensystem spec. im Rückenmarke nicht vorgefunden hatte.
Dass im Krankheitsbilde der symmetrischen und aufsteigenden Lähmung dem peri-
pheren Nerv eine wichtige und selbständige Rolle zukomme, ging mit Sicherheit zum ersten
Male aus einer Beobachtung von Dumenil (1864) hervor.
Dieser denkwürdige Fall betraf einen 61jährigen Schneider, der, nachdem er durch
zwei Wochen von Paraesthesien in den Zehen geplagt worden war, von einer Schwäche
im rechten Arm und rechten Bein befallen wurde, welcher einige Tage später die glei-
chen Erscheinungen von Seite des linken Beines folgten. Nach fünf Tagen konnte er weder
gehen noch stehen, die paretischen Extremitäten waren schlaff und kraftlos, doch konnte
er die Zehen frei bewegen. Dabei bestand Herabsetzung der Sensibilität am ganzen rech-
ten Bein, am stärksten an der Fusssohle, während linkerseits sich dieselbe auf die
Aussenseite des Unterschenkels und des Fusses beschränkte. Die Musculatur der Hand und
des Vorarmes atrophirte. Die faradische Erregbarkeit erwies sich in einzelnen der betrof-
fenen Muskeln herabgesetzt, in anderen fehlte sie vollends. Der Patient klagte über schmerz-
hafte Empfindungen in beiden unteren Extremitäten und den Händen. Der Zustand des
Kranken verschlimmerte sich zunehmend, und nach 4^/2 Monaten starb er.
Die Obduction ergab Atrophie, Blässe und Versclimälerung der Muskeln, im übrigen
normales, mikroskopisches Verhalten derselben. Die Nerven der Extremitäten zeigten be-
deutende Vermehrung des Bindegewebes und eine grosse Zahl von Fettzellen. In einzelnen
Fasern war die Markscheide unterbrochen, welche soweit vorhanden, Zeichen einer
körnigen Degeneration darbot. Gehirn und Rückenmark erwiesen sich normal. In der
Epikrise des Falles wies Dumenil „auf die Aehnlichkeit seiner Beobachtung in den wich-
tigsten Einzelheiten mit der aufsteigenden Spinalparalyse Duchenne's hin. insofern in beiden
Fällen die Erkrankung mit Extremitätenlähmung en masse einsetzt, die Muskeln selbst
atrophiren und die elektrische Erregbarkeit schwindet, während die Muskelstructur mikros-
kopisch nicht alterirt erscheint."
1867 hat Dumenil einen weiteren anatomisch untersuchten Fall veröffentlicht, in wel-
chem nebst den peripheren Nerven auch die Vorderhornzellen sich als verändert erwiesen.
Dumenil fasste den Fall als Neuritis ascendens auf, eine Auffassung, die obgleich sie auch
von anderen Autoren (Leyden und seine Schüler) vertreten wurde, bis heute nicht aner-
kannt wird.
334 POLYNEURITIS.
In Deutschland war Eichhorst der erste, der 1876 einen Fall acuter Polyneuritis als
„acute progressive Neuritis^ beschrieb, in welchem das Rückenmark intact gefunden wurde.
Eichhorst fasste diesen Fall wegen seines Verlaufes als LANDRY'scbe Lähmung auf.
Beiläufig bemerkt ist aber das Wesen der LANDRv'schen Lähmung noch immer unent-
schieden. JoFFROY, der 1879 publicirte und im ganzen über drei obducirte Fälle verfügte,
stellt die in Rede stehende Erkrankung bereits als generalisirte parenchymatöse Nerven-
entzündung dar und unterscheidet ätiologisch eine rheumatische, eine toxische (nach Blei)
und eine infectiöse nach Typhus, Variola und Diphtherie.
Einen Markstein in der Geschichte des Gegenstandes bildet eine Arbeit von Leyden,
welche im I. Bande seiner Zeitschrift für klinische Medicin erschienen ist. Leyden weist
hier auf den Widerspruch zwischen der klinischen Ansicht über die anatomische Grundlage
der aufsteigenden diffasen Lähmung und den entsprechenden anatomischen Funden hin.
Er stellte die These auf, dass die nach Duchenne spinalen, aufsteigenden Lähmungen (, ebenso
die nach Landry benannte Form der Paralyse der Franzosen und die hieher gehörige
Poliomyelitis subacuta (Frey-Kussmaul) der Deutschen gewiss in der Mehrzahl der Fälle
multiple Neuritiden sind.
Diese Arbeit Leydens gab Anregung zu einer intensiven Erforschung des Gegen-
standes. Derselben verdanken wir eine wesentliche Erweiterung unserer Kenntnisse über
die Bedeutung und den diagnostischen Werth der einzelnen Nervensymptome. Eine spe-
cielle Errungenschaft der neuen Lehren ist die Erkenntnis, dass gewisse Erscheinungen,
welche man vorher stets auf Erkrankungen des Gentrums zurückführen zu müssen glaubte,
ebenso auf Grundlage einer Erkrankung der peripheren Nerven entstehen können.
Die ursprüngliche Ansicht, dass das Wesen der Polyneuritis ausschliesslich in einer
Degeneration der peripheren Nerven zu suchen sei, ist nicht unanfechtbar geblieben. So
fand sich schon in den Fällen Leyden's einer mit einem kleinen Herd im Hinterstrang.
Später kamen andere mit Veränderungen in den zelligen Elementen (Oppenheim u. A.) dann
kamen klinische Beobachtungen über Gehirnsymptome (Korsakoff) und endlich Mitthei-
lungen über ausgedehnte Strangerkrankungen (Pal u. A.) so dass die zuerst ernstlich von
Strümpell vertretene Ansicht, dass die Polyneuritis nicht eine Erkrankung der
peripheren Nerven, sondern eine allgemeine Erkrankung des Nervensy-
stems bedeute, sich festigen musste.
In diesem Sinne wollen wir die Polyneuritis hier auffassen.
Aetiologie und Pathogenese. Die Entstehung der Polyneuritis ist
in allen Fällen auf eine Störung des Stoffwechsels zurückzuführen. Diese
Störung kann durch sehr verschiedenartige Momente herbeigeführt werden.
Nicht selten liegen deren sogar mehrere vor und wird die Erkrankung erst
durch eine Gelegenheitsursache (Erkältung, Shok u. dgl.) ausgelöst.
Edinger hat in einem Hefte der Volkmann' sehen „Sammlung klinischer Vorträge" das
Zustandekommen der degenerativen Erkrankungen und speciell der Polyneuritis mit Rück-
sicht auf die Localisation der Processe durch einen Mangel an Ersatz bei Function s-
steigerung gewisser Nervenbahnen zu erklären versucht.
Die Störungen des Stoffwechsels sind für das Gewebe toxische
Vorgänge im weiteren Sinne. So sehen wir denn die Polyneuritis ebensowohl
nach der Wirkung gewisser chemisch gekannter Giftstoffe auf den Organismus
sich entwickeln, wie auch nach Infectionen, bei welchen deren Toxine die
Ernährungsstörung im Nervensystem hervorrufen. Denn auch hier sind es —
soweit unser Wissen reicht — nicht die Infectionsträger, welche auf den Ner-
ven einwirken, ebenso wie in den Fällen von metallischen Intoxicationen
nicht Ablagerungen des Giftes im Nerven die Erkrankung desselben ver-
ursacht. Zum mindesten haben einschlägige chemische Untersuchungen bei
der Bleineuritis ein vollständig negatives Resultat ergeben (Bernhardt).
Als toxische Wirkung erklären wir ferner auch die Vorgänge bei den
Cachexien und führen manchen Fälle spontaner Erkrankung an Polyneuritis
auf eine Autointoxication als ätiologisches Moment zurück.
In diesem Geiste wären sonach die multiplen Erkrankungen peripherer
oder auch centraler Nerven, welche nicht durch Anomalien des Stoffwechsels,
sondern durch bacilläre Metastasen (Lepra) oder anderweitige Ablagerung
(Gicht) bedingt sind, als secundäre Degenerationen von der Polyneuritis zu
trennen. Ebenso sind dann die Fälle von degenerativen Erkrankungen der
Nerven, welche nicht selbständig erfolgt, sondern durch eine Erkrankung
peripherer Gefässe herbeigeführt wird, hier auszuschliessen. Wir meinen na-
türlich nur jene Fälle, in welchen nekrobiotische Processe im Nerven
POLYNEURITIS. 335
sich als nothwendige Folge einer Circulationsstörung (Verlegung der Gefässe
durch Arteriitis obliterans etc.) einstellen. Ein gewisser Antheil der Gefässe
an der Entwicklung der Nervendegeneration kann übrigens auch für die in
unserem Sinne echten Fälle von Polyneuritis nicht mit Sicherheit aus-
geschlossen werden. Es wäre immerhin möglich, dass durch die Stoffwechsel-
störung zunächst eine Veränderung der Vasa nervorum hervorgerufen wird,
und diese erst die Polyneuritis herbeiführt und nicht immer wie angenommen
wird die Erkrankung der Gefässe, welche wiederholt unzweifelhaft nachgewiesen
wurde (Lorenz u. A.), der der Nerven coordinirt ist.
In der Thatsache, dass der periphere Nerv ohne nachweisbare Erkran-
kung seines trophischen Centrums und ohne vorausgegangene Abtrennung
von demselben selbständig erkranken könne, ist der Neurologie ein ganz
neues Problem erwachsen. Man hat es nun versucht, das Ergebnis der pa-
thologischen Untersuchung mit der alten Lehre Waller's von der secundären
Degeneration in Einklang zu bringen. So meinte Erb (1882) die degenera-
tive Erkrankung des peripheren Nerven könne doch keine selbständige sein,
dieselbe müsse vielmehr durch eine vorausgehende mikroskopisch allerdings
noch nicht nachweisbare functionelle Erkrankung der centralen Ganglienzelle
verursacht sein. So wenig diese Erklärung befriedigen konnte, namentlich
mit Hinblick auf die gleichzeitige Erkrankung von sensiblen neben motorischen
Elementen im gleichen peripheren Nervenstamme, die Intactheit der vorderen
Wurzel etc., hat dieselbe doch in einigen später zu erwähnenden Zellbefunden
einigermaassen Unterstützung gefunden. Die Auffassung von Erb hat übrigens
in neuerer Zeit speciell in Marie einen Verfechter gefunden. Dieser Autor
spricht dem peripheren Nerven überhaupt die Fähigkeit ab, selbständig zu
degeneriren. Der periphere Nerv beziehungsweise dessen Axenfaser ist, nach
Marie, als ein Bestandtheil der Ganglienzelle anzusehen, aus welcher er
hervorgegangen ist. Gewisse leichte Grade der Erkrankung der Zelle sollen
zunächst von einem Zerfall der distalsten Theile derselben — des peripheren
Endes — gefolgt sein.
Die bisher vorliegenden Obductionsbefunde von Polyneuritis sprechen
nicht in diesem Sinne. Nicht als ob in Fällen von Polyneuritis nicht auch
Veränderungen der Ganglienzellen im Rückenmark gefunden worden wären.
Es liegen sogar Beobachtungen vor, in welchen erhebliche Veränderungen
der Zellen in der grauen Substanz festgestellt werden konnten. Allein
die Zahl dieser ist gegenüber der colossalen Anzahl von Fällen, in wel-
chen zellige Veränderungen nicht gefunden wurden, eine verschwindend
kleine, und überdies konnte man in den Fällen mit unzw^eifelhaften Verän-
derungen in den Vorderhörnern nicht immer eine dem Ausmaasse der dege-
nerativen Veränderungen in den peripheren Nerven entsprechende Erkrankung
der Zellen annehmen.
Unbestritten bleibt die Thatsache, dass in Fällen von Polyneuritis sich
auch die Ganglienzellen der Vorderhörnern verändert (Körnung, Fehlen von
Fortsätzen u. dgl.) oder auch geschrumpft erweisen können.
Die Entstehung dieser Veränderungen lässt sich verschieden erklären.
Zunächst wäre die Möglichkeit im Auge zu behalten, dass in solchen Fällen
nicht der periphere Nervenstamm als solcher selbständig, sondern der ganze
Nerventract — das Neuron, wie man sich jetzt ausdrückt — auf einmal er-
krankt. In manchen Fällen erkrankt erwiesenermaassen auch noch der Muskel
hinzu {Polymyositis). Es ist ferner möglich, wenngleich es heute bestritten
wird, dass der Nerv zunächst peripher erkrankt und der Process sich gegen
die trophische Zelle also in motorischen Nerven centripetal fortsetzt. In
diesem Sinne deutete Dümenil einen Fall seiner Beobachtung und dieselbe
336 POLYNEUEITIS.
Ansicht vertrat Leyden, der überdies eine Bestätigung derselben in Experi-
mentalarbeiten von Tiesler zu finden glaubte.
Auf Grund neuerer Untersuchungen hätten wir ferner Folgendes in Er-
wägung zu ziehen. Es hat sich ergeben, dass nach Durchschneidung peri-
pherer Nerven mit Hilfe der Zeilfärbungsmethode von Nissl (Methylen-
blau nach Vorhärtung in Alkohol oder Formalin) sich in den Vorderhorn-
zellen Veränderungen nachweisen lassen, und es wurde sogar festgestellt, dass
diese Veränderungen auch von secundärer Degeneration in der vorderen Wur-
zel gefolgt sein können (Nissl, Bregmann, Marinesco, Biedl). In diesem
Sinne könnte man wenn man auch den Ausgangspunkt der Polyneuritis in
das periphere Ende der Nerven verlegt, die Veränderung in den Zellen des
Vorderhornes als eine secundäre erklären. Auf diese Weise würde auch das
gelegentliche Vorkommen von Degenerationen in den vorderen Wurzeln ge-
stützt sein.
Unter allen Umständen ist hier noch ein offenes Terrain für die For-
schung, nur steht es zu erwarten, dass neuere methodische Fortschritte die
dunklen Punkte klären werden. Nicht minder wichtig wie der Befund der
zelligen Veränderungen ist der Nachweis, dass auch die Leitungsbahnen im
Rückenmarke bei der Polyneuritis in gleicher Weise erkranken können, wie
die Nerven in der Peripherie (Pal).
Wir müssen hier der Beziehung der Tahes zur Polyneuritis Erwähnung thun. Dieselbe
wurde ursprünglich von Westphal aufgedeckt, von Dejerine, Pierret, Oppenheim & Siemer-
LiNG u. A. weiter verfolgt. Das aetiologische Verhältnis zwischen Tabes u. Polyneuritis ist
heute noch immer nicht ganz klar. Man hat angenommen, dass die periphere Erkrankung
von der der Hinterstränge insoferne zu trennen ist, als die periphere Degeneration eine
von der centralen der Hinterstränge abhängige sein könnte. Diese Auffassung ist vielfach
widerlegt worden. Man hat ferner der Möglichkeit eines peripheren Ursprungs der Erkran-
kung dabei Puechnung getragen (Leyden) und schliesslich angenommen, dass die tabische
Noxe die Erkrankung der Hinterstränge und gleichzeitig die periphere Nervendegeneration
verursache (Kahler). Wir wollen die Frage hier weiter nicht erörtern, sondern nur auf
die Möglichkeit einer engeren Zusammengehörigkeit der Tabes und Polyneuritis hinweisen.
Die Veränderungen, welche im Rückenmarke in verschiedenen
Fällen nachgewiesen wurden, sind wohl die wichtigsten Belege für die Auf-
fassung der Polyneuritis als eine Erkrankung des gesammten Nervensystems.
Doch liegen noch weitere Belege vor. Es sind dies die Erscheinungen von
Seite des Grosshirns — der Psyche. Dieselben wurden von Korsakofp als
Cerebropaihia toxaemica zuerst beschrieben und haben bereits allgemeine An-
erkennung und Bestätigung gefunden. Dieselben sind aber in einer Bezie-
hung den Rückenmarksveränderungen nicht gleichzustellen. Es ist nämlich
bisher nicht erwiesen, dass ihnen eine anatomische Veränderung zu Grunde
liegt. Der anatomische Befund im Rückenmarke lässt nur vermuthen, dass
die Veränderungen im Gehirne gleiche sein dürften.
Pathologische Anatomie. Anatomische Veränderungen wurden bei der
Polyneuritis an verschiedenen Stellen gefunden. Insofern dieselben den peri-
pheren Nerven betreffen, zeigen sie das Bild der parenchymatösen Degenera-
tion und deren Variationen mit mehr oder minder intensiver Betheiligung
des interstitiellen Gewebes. Die in Osmiumsäure gefärbten Fasern zeigen den
charakteristischen Zerfall in Markballen (s. Figur 1) insolange die Fasern nicht
vollständig zu Grunde gegangen sind. Während man an eben erkrankten
Nerven eine totale Zerklüftung der ganzen Markscheide sieht, zeigen vorge-
schrittenere Nerven von einander getrennt stehende Gruppen von Fettkörnchen.
Je älter der Process wird, umsomehr treten die Letzteren in den Hintergrund
und geht die Faser in den marklosen Jugendzustand über. Der degenerative
Process befällt den Nerven mitunter nur segmentär (Gombault), so dass die
dazwischen liegenden Strecken normalen Character zeigen. In sehr hoch-
gradigen und älteren Fällen, in welchen die Regeneration nicht eingetreten
POLYNEURITIS.
337
ist, findet man je nach Maassgabe der zugrunde gegangenen Fasern fibrilläres
Gewebe.
Ist das interstitielle Gewebe betlieiligt, so erweist sich dasselbe im
Zupfpräparate und noch schöner
(Fig. 3.) An diesen Bildern kann man
im
den Ausfall an markhaltigen Elemen-
so
Querschnittsbilde zellig infiltrirt.
'-■ui^Tt^
Fig. 1. Degenerirter Nerv (Peroneus). Osmiamfärbung.
n =: normale Faser, die übrigen Fasern sind in verschie-
denen Stadien des Zerfalles, m = grössere Markschollen.
(Polyneuritis tuberculosa).
ten am besten überblicken. Auch ist
es hier ein Leichtes die Verdickung
der Septa sowie die der Gefässwände,
Erweiterung der Gefässlumina (Hy-
perämie) zu erkennen. In den mit
Osmiumsäure oder mit Hämatoxylin
gefärbten Objecten erweisen sich die
normalen Fasern als dunkle Punkte,
während in den nach Marchi und
Algheri präparirten Objecten die de-
generirten Nerven als schwarze Punkte
erscheinen.
In acuten Fällen lässt der Nerv
mitunter schon makroskopisch seine
Erkrankung erkennen. Er erscheint
injicirt und an manchen Stellen auf-
getrieben. Diese Stellen fühlen sich
oft bereits am Lebenden als Verdickungen an.
Der gewöhnliche Sitz der Veränderungen im Beginne der Affection scheint
das periphere Ende zu sein. Meist sind die Nerven symmetrisch ergriffen,
wenn auch nicht gerade im gleichen Grade. Am häufigsten erkranken die
Radialnerven, die Peronei und die Crurales.
Es sei hier erinnert, dass auch die normalen Nerven vereinzelte Fasern in dem De-
oder Eegenerationszustande enthalten (Sigm. Mayer). Die Anwesenheit vereinzelter veränder-
ter Nervenfasern gestattet also noch nicht die Diagnose auf eine pathologische Degeneration
zu stellen.
Neben den Ner-
ven sind häufig die
Muskeln afficirt u.
zw. am häufigsten
secundär in Folge
der Erkrankung der
Nerven. DieMuskeln
erscheinen unter
diesen Umständen
atrophisch, blass, im
mikroskopischen
Bilde die Fibrillen
reducirt mit erhal-
tener Querstreifung,
verlieren dieselbe
mitunter auch und
zeigen dann kör-
nige Degeneration.
In manchen acuten
Fällen, in welchen
der Muskel primär
gleichzeitig mit dem Nerven erkrankt war, findet man eine lebhafte Bethei-
ligung des interstitiellen Gewebes (Kernvermehrung) und die Zeichnung der
Fasern verwischt (Senator).
Fig. 2. Aus einem Querschnitt des degenerirten Ischiadicus. Links normales,
rechts degenerirtes Bündel. Färbung mit Haematoxylin (WEIG-ERT-PAL) und
Carmin nachgefärbt. Die erhaltenen Fasern erscheinen als dunkle Punkte. (Von
einem Fall acuter Polyneuritis.)
Bibl. med. Wissenschaften. Interne Medicin und Einderkrankheiten. Bd. HI.
22
338
POLYNEURITIS.
Im Rückenmarke finden wir makroskopisch häufig Hyperämie der
Meningen und stärkere Injection der grauen Substanz, namentlich in acuten
Fällen, Mikroskopisch sind in einer ansehnlichen Anzahl von Beobachtungen
Veränderungen beschrieben worden, die Mehrzahl ergab jedoch negativen Befund.
Beschrieben wurden zunächst in der grauen Substanz häufig Erweiterung
der feinsten Gefässe, auch punktförmige Hämorrhagien, mit secundären Ver-
änderungen. Am zelligen Apparat wurden angegeben:
a) Vereinzelte my elitische Herde, vielleicht aus solchen Hämorr-
hagien hervorgegangen (Poliomyelitis anterior circumscripta. Oppenheim u. A.).
h) diffus verbreitete Atrophie der Ganglienzellen der
grauen Vorderhörner (Oppenheim, Scheube u. A.)
c) zweifelhafte Befunde an den Vorderhornzellen wie Vacuolen-
bildung, Körnung, Fehlen von Fortsätzen — Befunde, welche nach neuen Här-
tungs- und Färbungsmethoden zu überprüfen wären.
In der weissen Substanz des Rückenmarkes sind beschrieben kleine
myelitische Herde (Leyden), dann ziemlich häufig Verdickungen der Glia-
balken, namentlich im GoLL'schen Strang (Vieeoedt, Pal, Campbell u. A.).
endlich ausgedehnte degenerative Veränderungen der Stränge. Dieselbe
erfolgt ebensowohl unregelmässig, wie auch nach Systemen (Pal).
Wenn wir
von den Fäl-
len von Poly-
neuritis mit
unzweifelhaf-
ter Tabes ab-
sehen, finden
wir von den
Strängen des
Rückenmar-
kes am häufig-
sten erkrankt
die Hinter-
stränge, dann
die Pyrami-
denbahnen
und schliess-
lich die Klein-
hirnseiten-
strangbahn.
Das Bild, wel-
ches durch
diese Degene-
rationen entsteht, ist häufig ein manchen als combinirte Systemerkrankung
beschriebenen Fällen conformes (s. Figur 3 u. 4). Neben den anscheinend syste-
matischen Degenerationen findet man jedoch nicht selten zerstreute, kleine,
myelitische Herde.
Ein Einblick in die wahre Ansbreitung dieser Processe im Piückenmarke dürfte wohl
erst durch ausgedehnte Untersuchungen mit Hilfe der Methode von Marchi und Algheri
gewonnen werden, denn diese Methode deckt auch die frischen degenerativen Processe da
auf, wo sie die Hämatoxylinmethode nicht aufschliesst.
Ebenso wie im Rückenmark fanden sich auch in der MeduUa oblongata
Veränderungen namentlich in den Kernen. Von Seite des Gehirns liegen
keine anatomischen Befunde vor, dagegen reichliches klinisches Material.
Ueberblickt man die bisherige anatomische Ausbeute, so ergeben sich
unzweifelhaft Beziehungen zwischen der Polyneuritis und der
Poliomyelitis, den sogenannten combinirten System- u. Strang-
hh^
Fig. 3. Halsmarkquerschnitt (Haematosylinfärbung) von einem Fall acuter generalisirter
Polyneuritis nach Bleivergiftung. Combinirte Strangerkrankung. Erkrankt erscheinen
der BUEDACH'sche Strang beiderseitig, der GOLL'sche Strang rechterseits, die
Kleinhirnseitenstrangbahn beiderseits .
POLYNEURITIS.
339
Fig. i. Derselbe Fall -wie Fig. 3, oberstes Brustmark. Nichtsystematische
Degejieration im Seitenstrang. Hinterstrangsbild wie in Fig. 3, nur nicht
so ausgeprägt, im linken GOLIi'schen Strang kleines Degenerationsfeld,
erkrankungen des Rückenmarkes und der Tabes. Dass dieselben
zum mindesten ätiologisch zu einander gehören, wird sich wohl jedermann
aufdrängen.
Die inneren Or-
gane weisen bei der
Polyneuritis gewöhn-
lich der Grundkrank-
heit entsprechende Be-
funde auf. Da Intoxi-
cation, beziehungsweise
Infection vorliegt, sind
Veränderungen von
Seite der parenchy-
matösen Organe (Niere,
Leber, Milz) und auch
Degenerationen des
Herzmuskels häufig.
Eintheilung. Das
ätiologische Moment ist
im Principe der rich-
tigste Eintheilungs-
grund für die Poly-
neuritis. Doch sind
auch Eintheilungen nach anderen Gesischtspuncten
vorgeschlagen worden, so von Leyden die Einthei-
lung nach der Qualität der Functionsstörungen,
Dementsprechend sind: motorische, sensible,
atactische Polyneuritiden unterschieden worden.
Diese Trennung ist zwar in manchen Lehrbüchern
aufrecht erhalten, doch lässt sie sich praktisch nicht
durchführen. In den meisten Fällen sind die Er-
scheinungen combinirte, oft wechselnde, Avenngleich
mitunter immerhin eine oder die andere Art der
Functionsstörung prädominirt.
Ferner wurde die Polyneuritis ihrem Ver-
laufe nach als acute, subacute und chroni-
sche eingetheilt. Es ist dies eine Eintheilung,
w^elche nur auf die Entwicklungsperiode der Symp-
tome bezogen w^erden kann, denn schliesslich ist
in den meisten Fällen die Reconstruction ein mehr
chronischer Process.
Endlich wäre vom klinischen Gesichtspunkte
wichtig die Art der Ausbreitung der Krankheit als
Grundlage einer Eintheilung hervorzuheben. So
können wir generalisirte Erkrankungen von localis irten unterscheiden.
Die letzteren beschränken sich ohne sich weiter auszubreiten auf einen oder
einigen Nerven, während die erste Form durch ihre progressive Tendenz beson-
dere Stellung verdient.
Vom ätiologischen Gesichtspunkte sind, wie erwähnt, alle Polyneuriti-
den toxische. Der gegenwärtigen Sachlage dürfte nach unserem Ermessen
die folgende Eintheilung am meisten entsprechen.
1. toxische P. (durch chemische bekannte Gifte).
a) durch anorganische (metallische) Gifte.
b) durch organische (nicht metallische).
22*
'
• It. ^•'Mi^^^-
Fig. 5. Längenschnitt aus der weissen
Substanz des Falles Fig. 3. Bild des
degenerativen Nervenzerfalls, wie im
peripheren Nerven Haematosylin-
färbung.
340 POLYNEURITIS.
2. infectiöse P.
a) primäre, wenn die Polyneuritis gleich unter der ersten Einwirkung
des Virus entsteht (Beri-beri, rheumatische Formen, etc.);
h) seamdäre, wenn das wirksame Agens zuerst eine bestimmte Krank-
heit hervorruft, in deren Gefolge dann die Neuritis auftritt (Typhus,
Erysipel etc.)
3. dyskrasische P. (bei Cachexien).
Derzeit sind noch besonders zu gruppiren:
4. Die sog. spontanen Fälle von Polyneuritis.
5. Die tabische Polyneuritis.
ad. 1. Polyneuritis nach Intoxicationen im engeren Sinne: a) von an-
organischen Giften am häufigsten beobachtet nach Arsen, Blei\mdi Quecksilber
ferner nach Kupfer, Phosphor, Silber und Zink\
b) von anorganischen Giften am häufigsten nach Alkohol und Mutterkorn
ferner nach Anilinöl, Kohlenoxid, Schwefelkohlenstoß', Nitrobenzol, Petroleum.
ad. 2. Auf infectiöser Grundlage wurden Polyneuritiden im Verlaufe und
Gefolge der folgenden Infectionskrankheiten beschrieben: Diphtherie, Typhus
abdomin., Typhus exanthematicus, Typhus recurrens, Variola, Varicellen,
Scharlach, Masern, Influenza, Meningitis cerebrospinalis, Erysipel, Pneumonie,
Sepsis, Malaria, Beriberi, Kakke, Syphilis und luberkulose. Auch Lepra ge-
hört hieher, doch nicht alle Fälle (s. oben). Hieher gehören ferner aller Wahr-
scheinlichkeit nach die Fälle nach Rheumatismus, Chorea, die Fälle von Puer-
peralneuritis. Einzelne dieser Erkrankung kommen endemisch vor, so die
Malaria-Polyneuritis, die Beriberi (in Asien) und die Kakke in Japan.
ad. 3. Polyneuritis bei Dyskrasien, in welchen das wirksame Agens noch
nicht bekannt ist. Hieher gehören Polyneuritiden bei Anämie, spec. der perni-
ciösen Form, Chlorose, dann bei Carcinom, beim Diabetes und dem Maras-
mus im allgemeinen.
ad. 4. Diese Gruppe ist nur vorläufig aufrechtzuerhalten bis sich das
ätiologische Moment bei gewissen namentlich acut verlaufenden Fällen klärt.
Wahrscheinlich sind die Erkältungen, Ueberanstrengungen etc. hier doch nur
Schein- oder Gelegenheitsursachen. In einer Anzahl von Fällen dürfte Äuto-
intoxication zu Grunde liegen.
ad. 5. Am schwierigsten liegt die Sache bei der tabischen Form. Als
Aetiologie der Tabes gilt heute die Syphilis, doch sie ist es gewiss nicht in
allen Fällen. Die Polyneuritis der Tabes kann somit der Syphilis nicht ohne
weiters eingereiht werden. Die Beziehung der Tabes zur Polyneuritis ist
aber überhaupt noch eine ungeklärte Frage, die wir hier nicht erörtern wol-
len, (s. oben.) Manches spricht für eine innige Verwandtschaft zwischen der
Tabes und der Polyneuritis. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der dege-
nerative Process der Tabes ein der Polyneuritis gleicher ist. Zum mindesten
kann nicht bestritten werden, dass den tabischen Symptomen nicht selten
rein polyneuritische Erscheinungen vorausgehen, ebenso wie sie dieselbe in
der Eegel compliciren.
Wenn man die multiplen metastatischen Neuritiden zur Polyneuritis einbeziehen
wollte, mnssten sie besonders gruppirt werden. Hieher würden vorläufig gehören die Neu-
ritis der Lepra, der Gicht, die Neuritis in Folge pyämischer oder neoplastischer Metastasen
im Nerven und der Nervenzerfall nach Endarteriitis und die consecutive Gangrän.
Symptome. Die klinischen Erscheinungen der Polyneuritis können un-
geheuer mannigfache sein. Schon aus dem Umstände, dass jeder Nerv er-
kranken kann, ergeben sich unzählige Variationen in den Einzelnheiten des
Krankheitsbildes. Die typischen Fälle sind aber doch in den Grundzügen
einander ähnlich, namentlich insofern es sich um die Erkrankung der Extre-
mitätennerven handelt.
POLYNEURITIS. 341
In den meisten typischen Fällen beginnt die Erkrankung an den Extre-
mitäten und in der Regel sofort symmetrisch einsetzend. Mitunter bleibt die
Altection doch eine unilaterale oder es gesellt sich erst später die Erkrankung
der anderen Seite hinzu. Es ist vielleicht nicht überflüssig darauf hinzu-
weisen, dass früher gerade in der symmetrischen Erkrankung das wichtigste
Zeichen der spinalen Atfection erblickt wurde.
Die Erscheinungen setzen in der Mehrzahl der acuten und subacuten
Fälle mit Störungen von Seite der sensiblen Nerven ein. Am häufigsten
sind es schiessende, bohrende Schmerzen, welche vom Patienten dem Ver-
laufe eines bestimmten Nerven entlang bis an dessen Endausbreitung em-
pfunden werden. Dabei klagen die Patienten über Brennen in der Haut (der
Füsse oder Hände), über Ameisenlaufen, Gefühl der Taubheit etc. Solche Sen-
sationen können an verschiedenen Nerven gleichzeitig in Intervallen bestehen,
aber auch continuirlich auftreten. Sie belästigen den Kranken ungemein und be-
einträchtigen sein Allgemeinbefinden. In nicht geringem Grade trägt dazu
noch die Hyperästhesie der Haut, die gleichzeitig vorhanden zu sein pflegt,
sowie diebedeutende Druckempfindlichkeit der Nervenstämme bei.
Dieses letztere Zeichen ist eines der wichtigsten diagnostischen Merkmale der
peripheren Erkrankung des Nerven. Dasselbe ist für das Entwicklungsstadium
der Krankheit sehr charakteristisch und bleibt häufig auch noch lange nach
dem Ueberschreiten der Acme des Processes, wenn auch in vermindertem
Grade, nachweisbar. Diese Druckempfindlichkeit betrifft den Nerven jedoch
nicht immer in seiner ganzen Continuität, mitunter sind es nur einzelne
Punkte, welche empfindlich sind. In manchen Fällen finden sich im Verlaufe
des Nerven förmliche Knoten, die besonders schmerzhaft sind.
Neben der Empfindlichkeit der Nerven begegnen wir in acuten Fällen
sogar häufig, eine bedeutende Druckempfindlichkeit der Muskulatur, welche
später vollständig schwinden kann. In manchen Fällen hingegen setzt die
Erkrankung mit Muskelsymptomen ein, die auch im weiteren Verlaufe die
wesentlichsten Erscheinungen bleiben {Poly^nyosifis. Senator) (s. die Artikel
^^Neuromyositis'-'- und ^^Polymyositis'-'-).
Im Verlaufe der Polyneuritis verlieren sich zunächst die Erscheinungen
der Hyperästhesie und an ihrer Stelle rückt allmälig eine Hyp- und Anäs-
thesie. Diese bleibt nun gewöhnlich längere Zeit bestehen. Die Herabset-
zung der Sensibilität ist meist eine für alle Qualitäten gleichmässige, seltener
ist sie nur für eine Qualität ausgesprochen. So wird auch nur ganz vereinzelt
über den Ausfall der Temperaturempfindung berichtet — ein Befund der von
besonderer Wichtigkeit ist mit Hinblick auf die diagnostische Bedeutung
dieser Störung für centrale Erkrankungen. Hingegen werden Störungen der
Empfindungsleitung, Nachempfindung, Doppelempfindung ebenso Herabsetzung
der faradocutanen Sensibilität, des Lagerungssinnes, der Stereognose häufig
gefunden.
Rein sensible Polyneuritis gelangt selten zur Beobachtung, meist treten
Erscheinungen von Seite nicht sensibler Nerven allmälig ins Krankheitsbild,
um häufig schliesslich zu prädominiren. Sensible Polyneuritis sehen wir bei
Alkoholikern. Auch bei diesen zeigen sich aber neben den sensiblen Störungen
motorische oder wenigstens vasomotorisch- secretorische Störungen.
Die letztgenannten Symptome begegnen wir übrigens in der ersten Phase
der acuten und subacuten Fälle besonders häufig: Hautröthe, Schweisssecre-
tion — Zeichen erhöhter Circulation in den Hautgefässen theils als Folge der
Erkrankung vasomotorischer Nerven, theils reflectorisch ausgelöst. Besondere
Erwähnung verdienen von den einschlägigen Symptomen ferner dieOedeme.
Auf ihr Vorkommen hat zuerst Grocco aufmerksam gemacht.
Das Oedem ist oftmals ein Frühsymptom der Polyneuritis und ein durch-
aus nicht seltenes Zeichen derselben. Betrifft die Schwellung die Gelenk-
342 ;POLYNEURITIS.
gegend, so kann man den Eindruck des acuten Gelenkrheumatismus be-
kommen. Auch in chronischen Fällen, namentlich der dyskrasischen Fällen
der Polyneuritis steht das Oedem häufig mit der Degeneration der Nerven
in Zusammenhang (Pal). Die Bezeichnung „cachektisches Oedem" ist daher
oftmals eine eigentlich nicht zutreffende.
Die motorischen Symptome setzen in der Regel symmetrisch ein,
bald an den oberen, bald an den unteren Extremitäten, um schliesslich je nach
dem Charakter des Falles fortzuschreiten oder sich zu localisiren. Auch
die motorischen Erscheinungen, welche zwischen der einfachen Schwäche bis
zur completen Lähmung wechseln können, sind im Beginne selten allein vor-
handen, gewöhnlich bestehen gleichzeitig sensible Störungen. Im späteren Ver-
laufe können die sensiblen Erscheinungen zurücktreten und nur der motorische
Rest nachweisbar sein. Im Anschlüsse an die Motilitätsstörung kommt es
meist auch zur Atrophie der betroffenen Muskulatur. Doch ist diese
Reihenfolge nicht die einzig beobachtete. In einer Anzahl von Fällen geht
die Atrophie der Lähmung voraus, so dass die Erscheinungsreihe den
Charakter der spinalen Muskelatrophie gewinnt. Auch fibrilläres Muskel-
zucken wird beobachtet.
Manche Intoxicationen zeigen eine Prädilection für bestimmte Nervmuskel-
gruppen; so begegnen wir bei der Bleivergiftung am häufigsten der Affection
der Radialisgruppe, beim Diabetes der Peronealgruppe etc.
Durch diesen Umstand drängen sich uns gewisse Krankheitsbilder als
Typen auf, in welcher die Affection in einem bestimmten Umfang erfolgt. Die
häufigeren dieser Gruppenerkrankungen sind die folgenden:
1. Vorder armtypus. In den typischen Fällen liegt partielle Lähmung
des N. radialis vor. Hauptsächlich betheiligt ist von den Muskeln gewöhn-
lich der Extensor digitorum communis, während der Antheil der übrigen ein
wechselnder ist. Verschont bleiben bei der Blei- und der Alkohollähmung der
Supinator longus, der Anconaeus und häufig auch der Abductor poUicis lon-
gus. Ein ähnliches Bild geben die allerdings seltenen Fälle von Compression
des Radialis unterhalb des Abganges des Astes für den Supinator longus.
Der Vorderarmtypus wird für die Bleilähmung (s. diese) charakteristisch
gehalten. Man darf aber deshalb nicht glauben, dass ein bestimmtes ätio-
logisches Agens nur eine Form der Lähmung hervorruft. Die Vorderarmläh-
mung ist auch bei der Alkoholintoxication beschrieben, doch ist sie hier
meist nur Theilerscheinung einer generalisirenden, in der Regel aufsteigenden
Lähmung. Diese Form der Vorderarmlähmung ist an der charakteristischen
Beugestellung der Hand (Radialisstellung) leicht kenntlich.
Seltener als die eben geschilderte ist:
2. die Handmuskelerkrankung im Sinne des ARAN-DuCHENNE'schen Typus
der spinalen Erkrankung (nach Alkohol, Arsen, Typhus etc. beschrieben). Sie
ist vorwiegend unsymmetrisch.
3. Schidterarmtypus bei Bleiintoxication beschrieben.
An den unteren Extremitäten erkranken am häufigsten die Strecker.
Die wichtigste Form ist hier:
4. die Peroneallahmung . Sie gelangt ebenso nach Intoxicationen (Alko-
hol, Arsen etc.), wie nach Infection (Typhus etc.) zur Beobachtung, und
ist auch bei dyskrasischen Erkrankungen (Diabetes) nicht selten. Sie bildet
häufig die erste Etappe einer aufsteigenden Lähmung und ist besonders da-
durch bemerkenswerth, dass sie mit einer ganz eigenartigen Form der Gang-
störung verknüpft ist. Die Gangart der Peroneuslähmung ist früher vielfach
als Ataxie und tabische Gangform aufgefasst worden und verdankt diesem
Umstand die sog. peripherische Tabes und die Pseudotabes (Dejerine)
ihren Namen. Der Gang hat in den in Rede stehenden Fällen, wie dies
POLYNEURITIS. 343
namentlich von Charcot in instructiver Weise, gezeigt wurde, mit dem Gang
des Tabikers nichts geraein.
Der Gang des Tabikers ist der Hakengang, während die Peroneusläh-
mung einen platten, stampfenden Gang gleich dem der Pferde zeigt, daher
auch die Bezeichnung: Steppage. Lässt der Patient die Füsse hängen, so
zeigt sich hier die charakteristische Spitzfussstellung. Neben den M. pe-
ronei ist häufig und gleichzeitig der Extensor digitor. longus und der
Extensor hallucis betroffen, während der Tibialis anticus intact zu bleiben
pflegt.
Hat die Erkrankung einen generalisirenden aufsteigenden Charakter, so
bleibt dieselbe nicht bei den Extremitäten stehen, sie geht vielmehr auf die
Intercostalnerveu, dann auf höhere Nerven, schliesslich auch auf die Bulbär-
nerven über.
Von den Symptomen, die eine solche Ausbreitung der Affection macht,
ist das bedeutendste die Affection des Phrenicus und des Vagus.
Der Eintritt der Lähmung des Phrenicus ist das bedenklichste
Symptom der Polyneuritis. In der Kegel treten in Folge der Zwerchfells-
lähmung fulminante Erscheinungen der Athmungsinsufficienz zu Tage und
tritt letaler Verlauf fast in allen Fällen ein, in welchen gleichzeitig die In-
tercostalnerveu afficirt sind. Die Erkrankung des Phrenicus äussert sich
in Druckempfindlichkeit desselben, und Störungen der electr. Erregbarkeit.
Nicht selten tritt überdies auch Vagusneuritis hinzu, welche im Reizungs-
stadium durch Pulsverlangsamung im Lähmungsstadium, an der Tachycar-
die kenntlich ist. Die Complication der Vaguserscheinungen erhöht die Lebens-
gefahr. Das Aussehen des Patienten ist unter diesen Umständen ein tief
cyanotisches. Er leidet qualvoll unter der Asphyxie und arbeitet bis zur Er-
schöpfung mit den Auxiliarmuskeln der Athmung.
Zu den Zeichen der Erkrankung der motorischen Nerven gehört zu-
nächst das Verhalten derselben gegen den elektrischen Strom. Dasselbe
ist beider Polyneuritis durchaus kein typisches. Während bei der secundären
Nervendegeneration auf die elektrische Keaction grosses Gewicht gelegt wer-
den kann, da das Ergebnis derselben bis zu einer gewissen Grenze über den
jeweiligen Zustand der Nerven Aufschluss bringt, kann man sich auf die elek-
trische Erregbarkeit bei der Polyneuritis nicht verlassen. Wir finden eigentlich
alle Arten des elektrischen Verhaltens. So finden wir EaR., partielle EaR.,
daneben aber auch einfache Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit gegen
beide Stromesarten. In vorgeschrittenen Fällen fehlt nicht selten die Erreg-
barkeit vollständig. Interessant und wichtig ist zu wissen, dass bei der Poly-
neuritis normal functionirende Nervmuskelgruppen abnormes elektrisches Ver-
halten aufweisen können.
Auch das Verhalten der Reflexe ist bei der Polyneuritis ein wech-
selndes. Das Erhaltensein derselben ist, wie von vorneherein klar, von der
Ausbreitung des Processes abhängig. So fehlt in den Fällen, in welchen die
Nerven der unteren Extremitäten befallen sind, in der Regel das Kniephäno-
men (Alkohol, Arsen, Diabetes etc.), daher vielfach die Verwechslung der
Fälle mit Tabes. Manchmal ist der Patellarreflex noch mit Hilfe 'des Jen-
DRASSiK'schen Handgriffs auszulösen. Im Entwicklungsstadium der Affection
wird Steigerung der Patellarreflexe beobachtet (STRtJMPELL und Moebius).
Vorhandensein von Clonus der Patella oder des Fussreflexes ist ein meist
Zeichen centraler Complication.
Die Hautreflexe sind im Beginne und speciell in acuten Fällen ent-
sprechend der Hyperästhesie und nach Maassgabe der Muskellähmung gestei-
gerte, in chronischen Fällen herabgesetzt und können auch fehlen.
Von weiteren Symptomen seien noch erwähnt die trophischen Störun-
gen. Diese werden an der Haut {Glossy sUn) und Nägel selten beobachtet.
344 POLYNEURITIS.
hiBgegen gehören trophisclie Störungen der Muskeln zur Regel. Sie gehen
namentlich bei ungenügender Therapie in Contracturen über.
Coordinationsstörungen werden bei der Polyneuritis gleichfalls
beobachtet, doch handelt es sich nur selten um reine Ataxie. In den meisten
Fällen sind sie mit Lähmungserscheinungen combinirt, so dass die Trennung
dessen was der Ataxie, was der Lähmung zuzuschreiben ist, sich sehr schwie-
rig gestaltet. Die Ataxie betrifft in der Regel die unteren Extremitäten,
selten die oberen. Besteht die Ataxie in sehr ausgeprägter Weise und an-
haltend, so ist dieselbe kaum rein peripherischen Ursprunges.
Es bestand eine Zeitlang die Tendenz die ataktische Polyneuritis von
der motorischen Form vollständig zu trennen (Neurotabes peripherique von
Dejertne). Man hat sie anfangs für eine specielle Form der alkoholischen
Erkrankung gehalten (G. Fischee, DejeIrine u. A.). Sie kommt aber auch
bei Arsenintoxication, dann beim Diabetes, der Diphtherie und anderen Pro-
cessen zur Beobachtung.
Die ataktischen Störungen im Verlaufe der Polyneuritis haben übrigens
verschiedene Deutung gefunden. Einzelne Autoren halten sie für ein cen-
trales Symptom, während andere an dem peripheren Charakter festhalten
u. zw. deuten die einen sie als eine motorische Störung, die anderen als
sensibles Symptom. Die erstere Auffassung ist, wie übrigens schon bei der
Peroneuslähmung erwähnt, von Charcot vertreten worden, der die periphere
Ataxie der unteren Extremität als geringgradige Lähmung der Peronei ge-
deutet hat.
Es muss hier hervorgehoben werden, dass wahre Ataxie bei multipler
Neuritis unzweifelhaft vorkommt, u. zw. als centrale Complication (Hinter-
strangserkrankung) und speciell, wenn Tabes die Grundkrankheit bildet.
Von Seite der visceralen Organe ist zu erwähnen, dass Lähmungen
des Gaumens, des Schlundes, des Kehlkopfes, sowie des Oesophagus bei den
diphtheritischen Formen zur Beobachtung gelangen. Auch Larynxkrisen, sowie
Visceralkrisen (Grocco und Füsari), wie sie der wahren Tabes eigen sind,
können im Bilde der multiplen Neuritis zu Tage treten.
Störungen von Seite der Blase und Mastdarmes gehören zu den seltene-
ren Complicationen der Polyneuritis und der Umstand ist von diagnostischer
Bedeutung. Doch kommen sowohl Blasen- wie Mastdarmstörungen getrennt,
namentlich Schwäche der Sphincteren auch bei den rein peripheren Affectionen
zur Beobachtung. Als Zeichen der Miterkrankung des Rückenmarkes ist das
Vorhandensein von Blasen- und Mastdarmstörung von Belang.
Von den Hirnnerven erscheint am häufigsten, namentlich bei den auf-
steigenden Formen der Polyneuritis, der Vagus betheiligt (s. oben.). Nicht so selten
wie man vielfach annimmt, ist die Betheiligung des Nervus opticus (Uthoff,
Pal, S. Fuchs u. A.). Die Neuritis nervi optici*) ist ja ungemein häufig toxi-
schen Ursprungs. Man findet einfache Neuritis oder part. Atrophie mit mehr
oder minder ausgeprägten Sehstörungen {centrales Skotom etc.).
Von den Augenmuskelnerven ist am häufigsten Abducens und Ocu-
lomotorius als miterkrankt beschrieben. Auch reflectorische Pupillenstarre ist
bei Polyüeuritis beobachtet. Ebenso erscheinen die übrigen Hirnnerven (Tri-
geminus. Facialis, Vagus, Hypoglossus, Glossopharyngeus, Accessorius) in der
Casuistik reichlich vercreten. Nur über den Olfactorius und Acusticus fehlen
uns zuverlässige Angaben, doch liegt kein Grund vor, daran zu zweifeln, dass
auch diese Nerven von dem polyneuritischen Process befallen werden können.
Die Erkrankung der Hirnnerven ist in der Regel eine Späterscheinung der
Krankheit, namentlich bei der aufsteigenden Form. Mitunter sind sie aber in
erster Linie und allein betheiligt (Graddy).
*) Vergl. die betreffenden Artikel im Bande „Augenkrankheiten."
POLYNEURITIS. 345
Eine Erscheinung von grösster Bedeutung ist für unsere Krankheit die
Mitbetheiligung der Psyche. Korsakoff war der erste, dem der Zu-
sammenhang der Polyneuritis mit Veränderungen des psychischen Befindens
aufgefallen war. Gewisse Störungen derselben werden bei den meisten Polyneu-
ritiden beobachtet, doch schwanken die Symptome ungemein. Wir finden
Gedächtnisschwäche, Verworrenheit, Hallucinationszustände, maniakalische An-
fälle und auch intensive Depressionszustände. Es handelt sich hier um Zu-
stände, deren klinisches Bild schon in der sogenannten febrilen oder post-
febrilen Psychose gegeben ist, welche Meynert als „Ämentia^^ zusammenfasste
und früher auch als acuten Wahnsinn, resp. hallucinatorische Verworrenheit
bezeichnete (v. Wagner).
Von den allgemeinen Reactionserscheinungen müssen wir hervorheben,
dass Fieber und Pulsbeschleunigung, entsprechend der Aetiologie der Erkran-
kung, in der ersten Phase der acuten Fälle nicht selten bestehen. Die Puls-
beschleunigung namentlich ist ein ungemein häufiges Symptom der Polyneu-
ritis und dürfte nicht immer als Vagusneuritis, sondern als einfaches Into-
xicationssymptom (häufig bei Autointoxication) aufzufassen sein.
Von Seite der übrigen Organe bestehen die Symptome der Grund-
ki-ankheit.
In den meisten Fällen, wenn es sich auch nicht um cachectische Grund-
krankheiten handelt, kommen die Kranken in ihrem Ernährungszustand be-
deutend herunter, woran wahrscheinlich mit der Krankheit in Zusammenhang
stehende Anomalien der Resorption vor allem Schuld tragen dürften. Die
Patienten haben gewöhnlich Stuhlverhaltung. Im Entwicklungsstadium ist die
Harnmenge in der Regel eine herabgesetzte.
Verlauf. Die acuten Fälle der Polyneuritis setzen gewöhnlich mit
Fieber und Schmerzen ein, die bald von Lähmungserscheinungen gefolgt sind.
Schreitet die Erkrankung nach aufwärts fort, so wird der Patient von Tag zu
Tag hilfloser und schliesslich derart unbeweglich, dass er gefüttert werden
muss. Nach einigen Tagen ist deutliche Atrophie der Muskulatur zu consta-
tiren. Steht der Process bald still, so lassen die Schmerzen nach, die Tem-
peratur kehrt zur Norm zurück, nur die Pulsbeschleunigung erhält sich.
Häufig zeigt sich in diesem Stadium Polyurie. Die partiell ergriffenen Muskeln
erholen sich rasch, in den hochgradig atrophirten Muskeln dagegen geht die
Regeneration nur langsam vor sich und können sich bei insuflticienter Be-
handlung Contracturen einstellen. Andererseits können aber die acuten Fälle
schon in der ersten Woche und ganz plötzlich unter den bereits geschilderten
Erscheinungen der Respirationslähmung zum Tode führen. Am häufigsten
wird dieser Ausgang bei endemischen Formen der Polyneuritis und den soge-
nannten spontanen gesehen.
Bei den chronischen Fällen ist dies seltener der Fall. Sie verlaufen
ohne Steigerung der Temperatur, zeigen stetige, oftmals sprunghafte Fort-
schritte, welche auch nach Pausen von Monaten nicht abgeschlossen sind.
Der hochgradigste Muskelschwund sowie Contracturen sind bei diesen wie bei
subacuten Fällen häutiger. Hat die Krankheit einen Stillstand erreicht, so er-
folgt in den Fällen, in welchen die Affection eine rein periphere geblieben ist,
in der Regel Heilung.
Doch auch da kommt aus bisher nicht geklärten Gründen das unerwar-
tete vor, dass sich, obwohl eine rein periphere Affection vorliegt, keine Re-
generation entwickelt. Eine in dieser Richtung klassische, langjährige Beob-
achtung mit Atrophie hat Dejerine beschrieben. Im übrigen tritt nicht
gerade selten die Heilung mit einem Defect ein. Es sind dies Fälle, in welchen
entweder die Regeneration eine unvollständige oder in welchen das Rückenmark
nicht intact blieb.
346 POLYNEÜEITIS.
Die Regeneration geht nur allmählig vor sich, oftmals besteht vorher selbst
Jahre lang Stillstand und schliesslich erfolgt doch Heilung. Die ganz lang-
same Reconstruction sieht man selbst an Fällen, welche bereits functionell
genesen sind, indem man bei näherer Untersuchung noch Fehlen der Reflexe
oder abnorme elektrische Reaction findet u. d. noch nach 1 — 2 Jahren.
Die lange Dauer der Affection einerseits, die Grundkrankheit andererseits
bringt häufig Complicationen. Die wichtigsten sind Decubitus, Pneumonie,
Tuberkulose, Degeneration des Herzmuskels, sowie alle Organerkrankungen,
welche die Aetiologie bedingt. In den tödtlich verlaufenden Fällen, in welchen
nicht eine Complication ausschlaggebend ist, erfolgt der Tod unter der Er-
scheinung der Respirationslähmung (Asphyxie).
Der Eintritt des letzteren wird durch mangelhafte Expectoration bei
Stauungskatarrh auch bei nicht vollständiger Lähmung der Respirationsmuskeln
beschleunigt. Sie ist häufiger bei acuten als bei chronischen Fällen zu beob-
achten, doch führt sie selbst in schwersten Fällen selbst mit den ausgespro-
chenen Erscheinungen der Respirationsstörung nicht immer zum Exitus. Die
Beobachtungen an endemischen Formen der Polyneuritis (Beriberi, Kakke)
geben hiefür vielfach Beweise.
Tritt Heilung ein, so schützt diese nicht vor Recidiven, namentlich
in der ersten Zeit nach Ablauf der Affection nicht. Die Kranken behalten
eine gewisse Disposition. Die Recidiven sind nicht selten, doch erkranken
nicht gerade die ursprünglich afficirten Nerven. So sahen wir in einem Falle
nach einer Influenza Neuritis des Medianus und Radialis der linken Seite
mit Lähmungserscheinungen, die iVs Jahre anhielten, dann trat Heilung ein.
Einige Monate später, circa 2 Jahre nach der ersten Affection, gleichfalls nach
Influenza Neuritis des rechten Armes in gleicher Weise, nach kurzer Zeit
Reconstruction. Ein halbes Jahr später symmetrische, partielle Radialisaffec-
tion von kurzer Dauer. Die Wiederkehr der Grundkrankheit ist für die
Recidive von besonderem Belang. Wir haben einen in der Richtung sehr
instructiven Fall beschrieben: Paraplegie nach Erysipel mit vollständiger
Heilung, neuu Jahre später Beckenabscess mit nachfolgendem Erysipel hierauf
neuerdings polyneuritische Paraplegie, beiderseitige Radialisparalyse mit Con-
tracturen, Ausgang in relative Heilung.
Diagnose. Die wichtigsten diagnostischen Kennzeichen der Polyneu-
ritis sind die Druckempfindlichkeit der Nerven, die Combination von moto-
rischen und sensiblen Symptomen im selben Nervengebiete. Ein entspre-
chendes ätiologisches Moment unterstützt die Diagnose wesentlich. In typi-
schen Fällen ist es schon der ganze Charakter der Affection, welcher auf die
Diagnose führt, wie z. B. symmetrische Streckerlähmung combinirt mit Stö-
rungen der Sensibilität. Bei der Stellung der Diagnose muss man aber genau
prüfen, ob nicht Anzeichen einer centralen Veränderung gegeben sind und
darf die letzteren nicht leicht mit Sicherheit ausschliessen, da erfahrungs-
gemäss auch in Fällen, in welchen eine Miterkrankung des centralen Nerven-
systems nicht vermuthet werden konnte, Veränderungen in demselben nach-
gewiesen wurden. Man darf auch nicht vergessen, dass die Polyneuritis eine
Complication einer centralen Affection sein kann.
In differentialdiagnostischer Hinsicht kommen manche Affec-
tionen in Betracht, mit welchen die Polyneuritis verwechselt werden kann.
Vor allem der acute Gelenksrheumatismus, zumal auch bei der Poly-
neuritis Schwellung der Gelenke vorkommen. Die erwähnten charakteristi-
schen Zeichen (Empfindlichkeit der Nerven etc.) führen gewöhnlich zur
Klärung der Diagnose.
Auch einfache Neuralgien können für Polyneuritis gehalten werden,
doch ist zu beachten, dass Neuralgien meist nur einseitig auftreten.
POLYNEURITIS. 347
Besonders schwierig ist es mitunter die Polyneuritis von der Poliomye-
litis anterior auseinanderzuhalten selbstverständlich dann, wenn sensible
Erscheinungen nicht vorhanden sind, welche für Polyneuritis sprächen (s. Blei-
lähmung). Bemerkenswerth ist, dass in acuten Fallen der Poliomyelitis die
Alfection meist nur eine einseitige ist und die Lruckempfindlichkeit der Ner-
ven, sowie die Sensibilitätsstörung fehlt. In chronischen Fällen und im Stadium
der Keconvalescenz können auch bei der Polyneuritis die letzteren geschwun-
den sein und nur motorische Erscheinungen bestehen.
Die erfahrensten Diagnostiker haben hier Enttäuschungen erlebt. In
solchen Fällen bringt der Verlauf die Diagnose, doch kann man auch
durch diesen getäuscht werden (Dejekine).
Von weiteren Affectionen kommen differentialdiagnostisch in Betracht die
LANDEY'sche Paralyse gegenüber den Fällen von acuter Polyneuritis. Let-
DEN hat in seiner ersten Schrift über Polyneuritis der Vermuthung Ptaum ge-
geben, dass die meisten Fälle von LANDRY'scher Lähmung Fälle von Poly-
neuritis wären. Diese Idee zieht sich seither wie ein rother Faden durch die
Geschichte der LANDRY'schen Lähmung, ohne dass die Frage eine definitive
Antwort erhalten hätte.
Die Ansicht Leyden's hat durch eine Anzahl von acut verlaufenen Fäl-
len von aufsteigender Lähmung insofern Bestätigung erfahren als sich
in diesen centrale und periphere, polyneuritische Veränderungen gefunden
hatten (Eisenlohr u. A.). So verlockend diese Auffassung auch sein mag,
müssen wir auf Grund unserer eigenen Beobachtung — die Fälle auseinan-
derhalten. Wir haben erst vor kurzem einen Fall von LANDRY'scher Paralyse
mit vollständig negativen mikroskopischen Befund beobachtet.
Die Differentialdiagnose zwischen beiden Erkrankungen kann eine schwie-
rige werden, doch zeichnet sich der LANDRY'sche Fall durch das Fehlen von
sensiblen Erscheinungen, sowie von elektrischer Entartungsreaction aus. Die
Lähmungserscheinungen gehen beim Landry ferner von den unteren
Extremitäten auf den Stamm und schliesslich auf die oberen Extremi-
täten über, während von den acuten Polyneuritiden berichtet wird, dass sie
von den Beinen auf die Arme übergreifen und später erst den Stamm be-
fallen (GowERs) (s. auch Artikel „Paralysis ascendens acuta'^).
Von weiteren Erkrankungen kommen in Betracht die spinale Mus-
kelatrophie, die neurale Form der Dystrophie. Die den erstgenann-
ten Formen ähnliche Polyneuritis-Fälle sind meist einseitige und können,
wenn sie die charakteristischen Merkmale der Polyneuritis nicht zeigen, diag-
nostische Schwierigkeiten bereiten, welche nur durch die Beobachtung des
Verlaufes entschieden werden, insofern Polyneuritis in Heilung ausgeht.
Bei der neuralen Form der Dystrophie ist auf den familiären Charakter
derselben zu achten.*)
Differentialdiagnostisch käme ferner auch die Pachymeningitis spi-
nal is in Betracht, doch fehlen auch hier die Druckemptindlichkeit der Ner-
venstämme. Die Pachymeningitis sitzt ferner gewöhnlich nur in der Cervical-
region und sind dementsprechend die unteren Extremitäten frei, hingegen ist
Complication mit Compressionserscheinungen des Päickenmarkes nicht selten.
Wichtig ist schliesslich die Differentialdiagnose zwischen Tabes und der
sogenannten Pseudotabes, Neurotabes peripherica richtiger atactische
Polyneuritis. Die gemeinsamen Krankheitszeichen der echten Tabes und
der atactischen Polyneuritis sind mannigfache. Zuvörderst das Fehlen der Sehnen-
reflexe (spec. Patellarreflexe), dann die Coordinationsstörung, lancinirende
Schmerzen, Störungen der Empfindungsleitung und die allgemeine Atrophie der
Muskeln. Für Tabes sprächen somit refiectorische Pupillenstarre, Gürtelgefühl,
*) Vergl, Artikel ,,Muskelatrophie''' 11. Bd., pag. 746.
348 POLYNEURITIS.
die Krisen und spec. noch die Aetiologie (Syphilis). Bezüglich aller letztge-
nannten Punkte muss aber zugestanden werden, dass dieselben auch bei Poly-
neuritis vorkommen können.
Die Gangart der Polyneuritiker ist gewiss nur selten eine solche, dass
sie wirklich der der Tabiker gleich ist d. h. typischer Hakengang. Wir
haben keinen solchen Fall beobachtet. (S. oben die Peroneuslähmung^
Die Anwesenheit ausgesprochener Symptome der Polyneuritis wie z. B.
Radialislähmung oder Augenmuskellähmung etc. schliesst nota bene wirkliche
Tabes nicht aus, da doch die letztere sogar die Grundlage einer multiplen Er-
krankung der peripheren Nerven erfahrungsgemäss abgibt. Der wahre Zu-
sammenhang ist hier noch nicht erschlossen.
In seltenen Fällen wird es zu einer Verwechslung zwischen Hysterie
und Polyneuritis kommen. Es finden sich bei der ersteren gewöhnlich Mo-
mente genug um den Sachverhalt zu klären, freilich kann auch die Hysterie
eine typische Polyneuritis compliciren.
Für die Annahme einer centralen Erkrankung ist diagnostisch die Anwesen-
heit von Blasen- und Mastdarmstörungen (vorausgesetzt dass die Psyche nicht
entsprechend getrübt ist), ferner von hochgradigen Wurzelsymptomen, Gürtelge-
fühl, completer Paraplegie, Decubitus von Bedeutung.
Prognose. Die Prognose der Polyneuritis ist in erster Linie von der
Grundkrankheit abhängig und von der Intensität der Stoffwechselstörung
(Intoxication), durch welche sie unmittelbar ausgelöst wurde. So wird in allen
Fällen, in welchen die Grundkrankheit eine unbedingt tödtliche ist, die Resti-
tution nicht in Aussicht stehen (Tuberkulose, Carcinom). Hingegen stehen
Grundkrankheit und Polyneuritis nicht immer in directem Verhältnisse. So
kann eine verhältnismässig mild verlaufende Infectionskrankheit von einer
schweren, selbst tödtlich verlaufenden Polyneuritis gefolgt sein.
Die Prognose ist weiters ungünstiger in allen Fällen, in welchen das
krankmachende Agens nicht eliminirt wird, wenn z. B. Potatoren weiter
trinken, wenn Recidiven der Grundkrankheit eintreten (s, oben).
In gleicher Weise beeinflussen die Vorhersage die Miterkrankung des
centralen Nervensystems. Es muss hier übrigens nachdrücklichst hervorge-
hoben werden, dass die klinischen Symptome in dieser Richtung hin nicht
immer verlässlichen Aufschluss geben.
Von nicht geringem EinÜuss auf den Ablauf der Polyneuritis sind na-
türlich etwaige Complicationen und speciell das Verhalten des Herzens. Von
den Veränderungen des letzteren steht die Degeneration des Herzmuskels,
eine gewöhnliche Folge der Intoxitation, im Vordergrund. Die Prognose der
Polyneuritis ist im Beginne der Affection mit Sicherheit nicht zu stellen und
erst dann mit einiger W^ahrscheinlichkeit, wenn der Charakter des Processes
klar ist. Bei progressiver Tendenz ist nämlich die Prognose immer eine zwei-
felhafte, während die der localisirten Formen quoad vitam unbedingt eine
gute ist. Aus den bisherigen Erfahrungen lassen sich im Hinblick auf die
Prognose einige Sätze ableiten. So ist erfahrungsgemäss die Prognose der
motorischen Polyneuritis weniger günstig als die einer sensiblen. Von den
motorischen Polyneuritiden gibt die Lähmung en masse ungünstigere Vor-
hersage, als jene, in welchen nur die distalsten Theile der Extremitäten
betroffen erscheinen. Unter diesen verlaufen übrigens die Fälle, welche an
den oberen Extremitäten einsetzen, im Allgemeinen besser als die, welche mit
der Erkrankung der unteren Extremitäten beginnen, da die letzteren vorwie-
gend zur aufsteigenden Lähmung tendiren, welche so häufig auch Phrenicus und
Vagus ergreift.
Therapie. Die erste und wichtigste Grundlage einer rationellen Therapie
ist die Kenntnis der Aetiologie. Die Feststellung derselben ist aber nicht
immer leicht und manchmal auch unerreichbar.
PSEUDOLEÜKÄMIE. 349
Ist die Grundlage jedoch bekannt, so muss man vor Allem der Causal-
indication genügen und die Ursache eliminiren. So wird man beim Alkoholiker
in entsprechender Weise den Alkohol so bald als möglich entziehen, den Blei-
arbeiter aus dem Berufe entfernen etc.
Liegt eine Infection vor, so muss diese erledigt werden. Beim Diabetiker
wird man den Diabetes, bei der Chlorose diese u. s. f. behandeln müssen.
Diese Behandlung muss aber auf zwei wichtige Punkte Ptücksicht neh-
men. Der Kranke bedarf der absoluten Ptuhe und der kräftigsten Ernährung.
Für acute Fälle kommt zunächst das Schwitzbad und die Darreichung
des Natrium salicylicum in Betracht. Bezüglich des ersteren empfiehlt sich sehr
die Anwendung des sogenannten Localdampfbades im eigenen Bette nach J.
L. Gärtner. Dasselbe ermöglicht eine localisirte Anwendung des Dampfes,
ohne den Patienten zu dislociren, was bei heftigen Schmerzen besonders zweck-
mässig ist. Im Dampfbade lassen die Schmerzen gewöhnlich nach. Dieser
Erfolg ist häufig nach einigen Bädern ein dauernder, Ist dem aber nicht so,
so muss man zur localen Therapie {Einreibungen, sehr warme Umschläge) grei-
fen auch Einwicklungen in Flores sulfuris, Application von trockenen Schröpf -
köpfen ist oftmals von Erfolg begleitet. Bei besonders heftigen Schmerzen
ist ein Antineuralgicum, Antipgrin, Phenacetin oder dergl. zu versuchen ein-
zeln oder in den bekannten Combinationen; wo auch diese versagen, muss
Morphin, Codem, Cocain eventuell Ätropin oder Antipyrin in subcutaner In-
jection aushelfen. Doch sollen diese nach Thunlichkeit vermieden werden.
Die Elektrotherapie ist im Initialstadium der Affection überflüssig, vielleicht
sogar schädlich. Bei starken Schmerzen ist die Application von aufsteigenden,
Constanten Strömen empfohlen, doch meist ohne Effect. Die elektrische Be-
handlung ist vielmehr im Stadium der Pteconvalescenz am Platze, namentlich
die Behandlung mit dem faradischen Strome. Sowohl für die paralytischen
Muskel als für die anästhetische Haut. Hier ist am besten der Pinsel zu
verwenden.
Die schönsten Erfolge haben wir nach Ablauf der Entwicklungsperiode der
Krankheit von Massage und Gymnastik gesehen. Die Erfolge der mecha-
nischen Therapie stehen hier obenan. Am gländzendsten gestaltet sich der-
selbe bei vernachlässigten Fällen, welche hochgradige Atrophien und Contrac-
turen zeigen. Die letzteren verdanken in einer grossen Zahl der einschlä-
gigen Fälle der übergrossen Empfindlichkeit und der Furcht der Kranken vor
einer energischen Behandlung, ihre Entstehung. Zielbewusstes Vorgehen hat
in ganz veralteten Fällen überraschende Piesultate zu Tage gefördert. Die
hier zu beobachtenden Proceduren, Lösung der Contracturen etc. finden an
anderer Stelle entsprechende Behandlung. Erwähnen wollen wir nur, dass
sich speciell die Massage der Nervenstämme oftmals vortrefilich bewährt hat.
Von anderweitigen therapeutischen Versuchen erwähnen wir die
Strychnininjectionen zur Behebung der Lähmung, ferner die hier wie in vielen
anderen Fällen von Nervenerkrankungen usuelle Jodtherapie.
Neben den erforderlichen symptomatischen Maassnahmen muss in erster
Linie wie erwähnt auf allgemeine roborirende Behandlung Ptück-
sicht genommen werden (Hydrotherapie). Ohne diese sind die Erfolge ganz
unzulängliche. Nicht zu vergessen ist eine entsprechende Berücksichtigung
der Psyche. pal,
PseudolBUkämie {E.OBGKiN'sche Krankheit, Änämia lymphatica seu sple-
nica, malignes Lymphom, Adenie etc.), Sammelnamen für eine grosse
Gruppe fast stets chronisch verlaufender, mit Anämie verbundener Cachexien,
bei welcher Milz oder Lymphdrüsen oder beide vergrössert sind, ohne dass
die für Leukämie charakteristische Blutveränderung besteht. Die Ueberle-
gung lehrt, dass eine grosse Zahl pathologischer Zustände dieses klinische
350 PSEÜD9LEÜKÄMIE.
Bild verursachen können und erklärt zugleich die grosse Verwirrung, welche
heute noch in der Deutung des Wortes Pseudoleukämie und Synonyma herrscht.
Echte Sarcome, Granulationsgeschwiilste der Lymphdrüsen können ebenso, wie
leukämische Lymphome, diese letztere, ehe es zur charakteristischen Blutver-
änderung gekommen ist, oder chronische Milztumoren nach Malaria das gleiche
klinische Bild verursachen. Wenn nun auch einzelne Kliniker, welche im gege-
benen Falle die Diagnose auf Pseudoleukämie stellen, dieses des Umstandes
sich wohl bewusst sind, dass dies nur ein Verlegenheitsausdruck und keine
stricte Bezeichnung des vorliegenden Krankheitszustandes weder im anato-
mischen noch klinischen Sinne ist, so wollen Andere mit diesem Ausdruck ein
eigenartiges Krankheitsbild kennzeichnen und supponiren für dasselbe eigen-
artige Veränderungen des lymphatischen Apparates, welche zwar den echten
Tumoren sehr nahestehen, sich mit ihnen jedoch durchaus nicht decken sol-
len. Dafür spricht nach Ansicht der Letzteren vor Allem der klinische Ver-
lauf, welcher die pseudoleukämischen Lymphome von den echten Sarcomen der
Lymphdrüsen unterscheiden lasse. Es wäre wohl richtiger eine eventuelle
Trennung von zwei einander nahestehenden Geschwulstformen dem patholo-
gischen Anatomen resp. Ilistologen zu überlassen. Thatsächlich hat auch ein
Theil der Histologen (z. B. A. Fränkel) neuerer Zeit die alte Bezeichnung
eines Theiles der Lymphdrüsengeschwülste als pseudoleukämische Lymphome
fallen gelassen und zählen alle Lymphome, sofern sie nicht den Granula-
tionsgeschwülsten angehören oder leukämischer Natur sind zu den echten
Tumoren, den Sarcomen, andere wiederum (Kundrat) stehen auf dem Stand-
punkt die sog. Lymphosarcome von dem echten Sarcom der Lymphdrüsen zu
trennen, wenn auch Uebergänge zwischen beiden vorkommen sollen. Ist es
also, wie gezeigt, heute noch für den Anatomen selbst strittig, ob dasjenige,
was man mit pseudoleukämischer Lymphdrüsenveränderung bezeichnet, eine
eigenartige Erkrankung ist, so kann der Kliniker oder praktische Arzt noch
weniger daran denken diese polymorphen, jedoch gewiss mit einander innigst
verwandten Erkrankungsformen des lymphatischen Apparates am Kranken-
bette von einander abzugrenzen. Es würde sich deshalb für die Zukunft em-
pfehlen, diesen ohnehin nur Verwirrung stiftenden, unklaren Begriff der Pseu-
doleukämie, vollständig fallen zu lassen und an Stelle dessen nach Thunlichkeit
pathologisch-anatomische Vorstellungen zu setzen. Immerhin hat sich jedoch
dieser Ausdruck bereits der Art in der medicinischen Literatur eingebürgert,
dass auf eine gesonderte Besprechung desselben in diesem Sammelwerke ein-
gegangen werden muss, wenn auch nur um darzuthun, wie unbefriedigend
diese rein klinische Bezeichnung ist.
So verschieden die Aetiologie des pseudoleukämischen Krankheitsbildes
sein kann, so kehrt sie trotzdem in gewissen Typen häufig wieder. Ohne
dass das Fettpolster der Patienten beträchtlich leiden würde, entwickelt sich
bei ihnen innerhalb von Wochen oder Monaten eine zunehmende Muskel-
schwäche und Blässe der Haut. Multiple Lymphdrüsenschwellungen in ingu-
ine, den Achselhöhlen oder am Halse, ihrem Lieblingsitz, hier häufig sich
an recidivirende Anginen anschliessend, greifen meist ziemlich gleichzeitig
Platz und so bietet der Patient mit seinem blassen Hautcolorit und den oft
grossen Lymphdrüsenhöckern, welche ihm zu beiden Seiten des Halses sitzen,
oft ein ziemlich charakteristisches Bild dar. Nicht immer zeigen die Lymph-
drüsen allein die Schwellung, oft ist auch die Milz oder auch diese allein ver-
grössert, je nach der Natur und dem Charakter der vorliegenden Affection.
Es dürfte hier am Platze sein, die wichtigsten diagnostischen Mo-
mente, welche bei der Deutung einer bestehenden Lymphdrü-
sengeschwulst zu beachten sind, kurz anzuführen. Ausser einigen
exotischen Zuständen, wie der Bubonen-Pest oder der Lepra kommen für den
Kliniker bei der Beurtheilung einer vorliegenden Geschwulst der Lymphdrüsen
PSEUDOLEUKÄMIE. 351
zur Differentialdiagnose unter einander folgende Zustände zur Unterscheidung
untereinander in Betracht: die einfache Lymphadenitis, die Scrophulose, Syphilis,
Leukämie und echte Tumoren. Unter diesen metastatische oder primäre Lymph-
driisencarcinome und Sarcome.
Ein wichtiges Symptom zur Beurtheilung derartiger Bildungen ist der
spontane Schmerz und die Druckempfindlichkeit derselben. Wenn auch die
einfache eitrige Lymphadenitis in betreffs der Schmerzhaftigkeit in der Reihe
der angeführten DrüsenaÖectionen die erste Stelle einnimmt, so ist doch nicht
zu vergessen, dass auch fast alle anderen, besonders die Geschwülste dieses
Symptom zeigen können. Die geringste Schmerzhaftigkeit haftet wohl im
Allgemeinen den echt leukämischen und syphilitischen Drüsenschwellungen an,
was viellleicht in ihrem relativ langsamen Wachsthum und der hiedurch be-
dingten geringfügigen und langsamen Dehnung der Drüsenkapsel begründet
ist. Das rasche Wachsen der Drüse verbunden mit sonstigen localen und all-
gemeinen Zeichen der Entzündung (Röthung, Schwellung, Fieber), die regres-
siven Metamorphosen, welche sich allmählich einstellen, werden wohl in den
meisten Fällen die rein eitrige und die scrophulöse Drüsenentzündung genü-
gend charakterisiren. Zur Trennung dieser ist der Nachweis einer Einbruchs-
pforte des infectiösen Agens für die einfache, eitrige Lymphadenitis erforder-
lich. Mangels des Nachweises eines solchen wird besonders, wenn die
Lymphdrüsenschwellung am Halse ihren Sitz hat, der Verdacht der scrophu-
lösen Natur derselben rege werden. Als besonders charakteristisch für die
scrophulösen oder rein tuberkulösen Lymphome gilt die selten vermisste
Perilymphadenitis, welche meist zur frühzeitigen Verlötung der Drüse mit der
Haut und zum Durchbruch nach aussen, oder, was seltener ist, in die Trachea
oder den Oesophagus führt. Der eventuelle Nachweis von Tuberkelbacillen
im Eiter wird selbstredend die Diagnose in zweifelhaften Fällen sicherstellen.
Die Weichheit der Neubildung, welche den einfach entzündeten, wie den scro-
phulösen Drüsen zukommt, zeichnet dieselben meist auch vor den leukämi-
schen, syphilitischen und sarkomatösen aus. Auch carcinomatöse Drüsen
können jedoch, sofern es in ihnen zu regressiven Metamorphosen gekommen
ist, Fluctuation darbieten und einen Drüsenabscess vortäuschen. Sehr selten
sollen auch echte Sarkome eine derart weiche Beschaffenheit zeigen,
ohne dass es in ihnen zu Einschmelzung gekommen wäre. Leukämische
und sarkomatöse Lymphome zeichnen sich meist durch beträchtliche Härte
und besonders die ersteren durch geringe Schmerzhaftigkeit aus. Ausserdem
liegt ein gemeinsames Kennzeichen derselben noch in ihrer Multiplicität und
ihrer gewöhnlich die anderen Formen von Drüsenschwellung übertreffenden
Grösse. Untereinander lassen sie sich vor Allem dadurch trennen, dass den
leukämischen stets die Tendenz des Confluirens mangelt, während diese bei
echten Sarkomen sehr häufig ist. Man hat dieses Symptom dazu verwerthen
wollen, diese nicht confluirenden Sarkome der Lymphdrüsen von den unterein-
ander verschmelzenden zu trennen und bezeichnete die letzteren als wahre
Tumoren, während man den ersteren eine Zwitterstellung zwischen Tumoren
und entzündlichen Hyperplasien einräumte. Gerade diese letzteren sollten für
Pseudoleukämie charakteristisch sein. Nachdem dieses Symptom augen-
schein lieh von der Schnelligkeit des Wachsthums der Tumoren, sowie von
dem Umstände abhängig ist, ob und wann die Drüsenkapsel durchwuchert
wird, so kann es als solches keinen ausschlaggebenden Werth beanspruchen.
Syphilitische und carcinomatöse Drüsen erreichen selten jene Dimensionen, wie
die leukämischen und sarkomatösen. Die Ersteren sind, sofern sie secundäre
Erscheinungen der Infection sind nicht schmerzhaft, nur die als Bubo gum-
mosus bekannte Drüsenveränderung weicht in dieser Beziehung, wie auch
betreffs ihres sonstigen Verhaltens hievon ab. Wenn dem Gesagten zu Folge
es oft leicht ist, die pathologische Natur einer bestehenden Lymphdrüsen-
352 PSEÜDOLEUKÄMIE.
Schwellung zu erkennen, so lehrt doch die Erfahrung, dass in manchen Fällen
alle diagnostischen Behelfe im Stiche lassen, umsomehr als bestehende Lym-
phome ihren Charakter während ihres Wachsthums auch ändern können.
„Man kann es einer Lymphdrüsengeschwulst niemals ansehen, was noch aus
ihr wird." Gerade für der Art diagnostisch schwierige Fälle wurde der Aus-
druck pseudoleukämisch geschaffen und wird sich voraussichtlich trotz des
Fehlens einer pathologischen Grundlage durch einige Zeit in der Literatur
noch erhalten.
Es ist verständlich, dass multiple Lymphdrüsentumoren besonders
wenn sie in der Grösse und Consistenz der Sarkome auftreten je nach ihrem
Sitze Compressionserscheinungen von Seite der ihnen angelagerten
Köhrenorgane und Nerven erzeugen können. So werden durch grosse
Lymphome am Halse leicht Stenosen der Trachea oder des Oesophagus,
Lähmungserscheinungen von Seite des Vagus oder Phrenicus verursacht.
Desgleichen können mediastinale Sarkome der Thymus oder Lymphdrüsen
directe Druckerscheinungen auf die Bronchien, die Lungen oder das Herz
und die grossen Gefässe äussern.
Im übrigen pflegen die letzterwähnten Organe sofern nicht Complicationen
z. B. mit Lungentuberkulose bei gleichzeitig bestehenden tuberkulösen Lym-
phomen bestehen, nichts Charakteristisches erkennen zu lassen. Anämische
Geräusche, w^elche meist erwähnt werden, sind als Folge der pathologischen
Blutverhältnisse anzusehen. Die Leber weist selten, wenn nicht metastatische
Tumoren in derselben bestehen, krankhafte Veränderungen auf. Von der Milz
wurde bereits erwähnt, dass Vergrösserungen dieses Organs sowohl bei gleich-
zeitiger Sarkomatose der Lymphdrüsen, wie auch ohne dies als primäre Sar-
kome auftreten können.
Die Nieren zeigen selten pathologische Veränderungen und es kann
mit als charakteristisch für die Verschiedenartigkeit der als Pseudoleukämie
aufgefassten Krankheitszustände gelten, dass man die widersprechendsten
Angaben über das Verhalten des Harnes bei diesem Krankheitsbilde gemacht
hat. Harnstoff und die Chloride wurden einmal vermehrt, von einem zweiten
Untersucher vermindert gefunden und auch die Harnsäure, welche bis kürzlich
als bei Pseudoleukämie stets vermindert galt, wurde in jüngster Zeit vermehrt
gefunden.
Der Blutbefund, welcher das Krankheitsbild der Pseudoleukämie d. i.
also, eventuell Lymphdrüsensarkome, Tuberkulose, Syphilis etc. begleiten kann
ist selbstredend sehr wechselnd. Meist rechnet man zu diesem Symptom en-
complex eine mitunter recht hochgradige Anämie und thatsächlich fehlt
dieses Symptom auch selten sowohl in Entwickelung bei Sarkom, wie bei
Syphilis oder Tuberkulose.
Wie bei jeder secundären Anämie zeigen die Blutkörperchen dann jene
bekannten Degenerationserscheinungen, wie Poikylocytose etc. Ihr relativer
Farbstoögehalt ist meist etwas vermindert, was dann wohl als Regenerations-
erscheinung des Blutes aufzufassen ist. Die weissen Blutkörperchen zeigen
trotzdem in ihrem Verhalten oft der Schwerpunkt der Diöerentialdiagnose
zwischen Pseudoleukämie und echter Leukämie liegt, betreffs Zahl und
tinctoriellem Verhalten grosse Verschiedenheiten, welche von der Art der
zu Grunde liegenden Affection abhängig ist. Sarkome der Lymphdrüsen ver-
laufen meist mit mehr weniger hochgradiger Leukocytose. Oft sind dann
besonders die mononuclearen Lymphocyten des Blutes vermehrt, doch habe
ich auch anatomisch sichergestellte Sarkome beobachtet, bei welchen unter-
normale Zahlen für die weissen Blutkörperchen intra vitam constatirt worden
waren. Entzündliche Lymphdrüsenschwellungen verursachen gleichfalls meist
l'e nach ihrer Grösse und Ausbreitung Leukocytose, doch sind dann besonders
PURPURA. 353
die polynuclearen und die sogenannten Uebergangsformen der Leukocyten im
Blute vermehrt.
Kürzlich hat v. Jaksch versucht für das Kindesalter einen neuen Typus von Blut-
erkrankung in der An aemia pseudoleukämica infantum aufzustellen, deren Charak-
teristika in der scheinbar leukämischen Veränderung der Organe (Milz. Leber), einer Anämie
mittleren Grades und Leukocytose liegen sollten. Die Literatur hat gelehrt, dass diese
Blutveränderung als Folgezustand verschiedenartiger Allgemeinerkrankungen (Rhachitis,
Lues cong.), wie Organleiden (Gastroenteritis) bestehen kann, also kein eigenes Krankheits-
bild darstellt (R. Fischl).
Unter den Allgemeinerscheinungen, welche das pseudoleukämische Krank-
heitsbild, speciell die Sarkomatose der Lymphdrüsen begleiten können, verdienen
ausser den Folgeerscheinungen der hydrämischen Blutbeschaffenheit noch be-
sonders die sogenannte haemorrhagische Diathese und das Verhalten
der Körpertemperatur der Erwähnung. Haemorrhagische Ergüsse in die ver-
schiedenen Leibeshöhlen gehören, ebenso wie bei anderen durch haemorr-
hagische Diathese verursachten Hydrämien zu den häufigen Erscheinungen.
Nicht seltener kommt es zu grösseren Blutverlusten aus Nase und Mund, in
die Haut, die Körperhöhlen oder zu grösseren Muskelblutungen. Selbstredend
müssen derartige Vorkommnisse auf die Zusammensetzung des Blutes von
einschneidender Bedeutung sein.
Die Körpertemperatur zeigt bei Lymphosarkomatose mitunter eigen-
thümliche Schwankungen, deren Kenntnis wir erst den letzten Jahren ver-
danken. Ein remittirender Fiebertypus mit hohen Temperaturen wurde bei
multipler Sarkomatose wiederholt, chronisches Bückfallfieber, (Pel, Ebstein,
Kast) beschrieben und es kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen, dass
die Quelle dieser Temperaturschwankungen in der Resorption pyrogener Stoffe
aus den Neoplasmen gesucht werden muss, umsomehr als auch bei schwerer
Carcinose ähnliche Fieberbewegungen schon beobachtet worden sind.
Dem festgehaltenen Standpunkte entsprechend, dass die Pseudoleukaemie
weder im klinischen noch im pathologischen Sinne eine nosologische Einheit
repräsentirt, muss hier muss von einer einheitlichen Besprechung
der Diagnose und Prognose des Leidens abgesehen werden.
Ebensowenig kann in diesem Sinne von einer einheitlichen Therapie
der Pseudoleukämie die Rede sein. Je nach der Natur der bestehenden
Lymphdrüsenschwellung wird dieselbe entweder rein chirurgisch oder wie
z. B. bei Lues oder Malaria eine specifische sein müssen.
V. LIMBECK.
Purpura [Purpura simplex, haemorrhagica (Morbus maculosus Werlhofii),
rheumatica (Peliosis rheumatica Schönleinii)]. Unter den Begriff ,,Purpura"
rubricirt man zweckmässiger Weise nur die selbständigen, mit äusseren oder
inneren Blutungen einhergehenden, erworbenen Krankheitsbilder, Es zählen
also nicht hierher die angeborene Neigung zu Blutungen, die Haemophilie,
und auch nicht die Haemorrhagieen, die man symptomatisch bei vielen Leiden
auftreten sieht, ohne dass sie gerade für dieselben charakteristisch sind. Es
sind diese Leiden, um sie hier kurz aufzuzählen, folgende: 1. Zahlreiche In-
fectionskrankheiten: Variola, Scarlatina, Morbilli, Diphtherie, Typhus abdomi-
nalis et exanthematicus, Sepsis aller Art etc. 2. Die perniciöse Anämie, die
Leukämie und Pseudoleukämie. 3. Manche Organerkrankungen der Leber,
des Herzens. 4. Maligne Tumoren. 5. Intoxicationen durch Schlangengifte,
Jod-, Quecksilber-, Alkohol und manches Medicament. — All' diese Affec-
tionen, die auch mit Blutungen einhergehen können, muss man ausschliessen,
dann behält man eine hier zu erörternde Gruppe von Leiden, für welche in
den Blutungen das eigentliche Charakteristicum liegt. Es fehlt in derselben
nur der Scorbut {Purpura scorhutica), der durch die Art seines Auftretens,
durch einige Symptome sich von den im Titel genannten Leiden so abhebt,
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten, Bd: III. <iO
354 PURPURA.
dass man ihn zweckmässig getrennt bespricht. — Wenn ich hier die Purpura
Simplex, haemorrhagica, rheumatica bei der Erörterung zusammenfasse, so trage
ich damit der herrschenden und wohl, wenn auch bisher nur klinisch be-
gründeten Anschauung Rechnung, dass diese Krankheiten ein gemeinsames
Band umschliesst, sie nicht getrennte Leiden, sondern nur graduell verschie-
dene darstellen. Allerdings ist der wissenschaftliche Beweis hiefür noch zu
erbringen und wird so lange ausstehen, bis es gelingt genauer das Wesen
und die Ursachen der verschiedenen Purpuraformen zu erforschen.
Symtomatologie : Alle Purpuraformen treten gewöhnlich unter mehr
oder weniger heftigen Allgemeinerscheinungen auf. Es stellen sich Mattig-
keit, vage Schmerzen in den Gliedern und Fieber ein; letzteres zeigt
keinen irgendwie typischen Verlauf. All' diese Erscheinungen, deren Inten-
sität und Dauer innerhalb der weitesten Grenzen schwanken, sind nach wenigen
Stunden oder auch Tagen gefolgt von Hautblutungen, welche in der verschie-
densten Gestalt und Ausdehnung auftreten können. Gewöhnlich sind es an-
nähernd runde Petechien von nicht wegdrückbarer, rother oder livid rother
Farbe, zuweilen sieht man mehr streifenförmige Blutungen (Vibices). Selten
nur findet man eine hämorrhagische Blase {Pemphigus haemorrhagicus), oder
eine hämorrhagische Papel; noch seltener sind bei Purpura ausgedehnte Ek-
chymosen. Fast stets ist zuerst und am stärksten die Haut der unteren Ex-
tremitäten betroffen, wo die Efflorescenzen eine mehr livide Färbung zeigen.
Nach oben zu nehmen die Blutungen an Zahl und Ausdehnung gradatim ab,
und nur in bösartigen Fällen ist auch das Gesicht der Sitz der Blutergüsse.
In leichten Fällen schwinden die Allgemeinerscheinungen bald, die Blutungen
werden resorbirt, wobei die betreffenden Hautstellen nach einander die ganze
Farbenscala extravasirten Blutes zeigen, und es ist in 2 — 3 Wochen das ganze
Leiden geschwunden. .Solche leichte Fälle bezeichnet man als Purpura
Simplex. Hat der Fall einen ernsteren Charakter, sind die Allgemeinerschei-
nungen heftiger, sind die Blutungen in grosser Zahl oder grosser Ausdehnung
vorhanden, betreffen sie besonders in hervorragendem Maasse die obere Körper-
hälfte, oder kommt es gar zu nennenswerthen Blutungen aus den Schleim-
häuten, in den serösen Höhlen oder in das Parenchym der Organe, dann
spricht man von einer Purpura haemorrhagica (Morbus maculosus Werlhofii).
Von Schleimhäuten ist die häufigste Quelle von Blutungen die Nasenschleim-
haut, und zwar besonders der die vorderen Abschnitte des Septum cartilagi-
neum überziehende Theil derselben. Mundschleimhaut, speciell das Zahnfleisch,
blutet im Gegensatz zum Scorbut nur äusserst selten. Nicht häufig, aber wo
sie auftreten, um so gefürchteter sind Magen- und Darmblutungen, die dann
plötzlich zuweilen ohne weitere subjectiv oder objectiv nachweisbare Erschei-
nungen das Bild hochgradiger Anämie bewirken. Wo bei einem an Purpura
Leidenden unerwartet Zeichen von erheblicher Blutarmuth, Blässe, kleiner,
frequenter Puls, Schwindel, Ohrensausen auftreten, versäume man nicht auf
die Beschaffenheit des Stuhls, resp. des Erbrochenen zu achten. Die Farbe,
in der sich das Blut darstellt, ist natürlich abhängig von dem Sitze der Blu-
tungsquelle; einen je weiteren Weg dasselbe von dieser bis zur Entfernung
aus dem Körper zurückzulegen hat, desto mehr geht die normale Blutfarbe in
das Schmutzigbraune oder Theerartige über. — Hämaturie und Hämoptoe
können die Krankheit zu einer ernsten gestalten, Hämatothorax, Hämatoperi-
card, hämorrhagische Peritonealergüsse das Leben gefährden. Zu den seltensten
Vorkommnissen gehören Blutungen in das Parenchym der Organe. Betreffen
sie das Hirn, so haben wir dem Sitze der Blutungen entsprechende Störungen
der Function des Cerebrums zu erwarten; es kann auch zu prägnanten Herd-
symptomen kommen, die eine topische Diagnose der Blutungen gestatten. —
Ein besonders charakteristisches Gepräge erhält die Purpura durch die Be-
theiligung der Gelenke. Schönlein hat zuerst dieses Zusammentreffen von
PURPURA. 355
Gelenkentzündungen und Purpura beschrieben und das entstehende Krank-
heitsbikl als Peliosis rheumatica bezeichnet. Auch hier spielen die Haut-
blutungen die Hauptrolle, daneben aber findet man die Gelenke, und zwar in
erster Reihe das Kniegelenk geschwollen und schmerzhaft wie bei acutem
Gelenkrheumatismus.
Neben diesen für die verschiedenen Purpuraformen charakteristischen
Symptomen sind noch folgende hervorzuheben, die mehr oder weniger häufig
vorkommen: Die Haut zeigt relativ oft neben den Hämorrhagien Urticaria,
und zwar pflegt die einzelne Quaddel eine mehr rothe Farbe zu zeigen {Urti-
caria rubra). Ein nicht seltenes Vorkommnis ist das Erytema exsudativum
multiforme, etwas erhabene, vornehmlich an den Streckseiten der Extremitäten
auftretende, nicht schuppende Flecke von rother, wegdrückbarer Farbe, und
das Erythema nodosmn, beulenartige, lividrothe, auf Druck etwas schmerz-
hafte Knoten, die hauptsächlich an der Vorderseite des Unterschenkels ihren
Sitz aufschlagen. Die Combination der letztgenannten Hautaffection mit den
Purpuraformen kann nicht sehr auffallen, wenn man daran festhält, dass
das Erythema nodosum eine Dermatitis mit hämorrhagischem Exsudat darstellt.
Weniger klar ist der Zusammenhang mit dem Erythema exsudativum multi-
forme, welches der Purpura vorausgehen, in ihrem Verlaufe auftreten oder
ihr nachfolgen kann. — Von sonstigen Vorkommnissen auf der Haut ist der
Möglichkeit zu gedenken, dass im Anschluss an ausgedehntere Ekchy-
mosen, die allerdings, wie erwähnt, nur sehr selten vorkommen, umschriebene
Gangraen und Geschwürsbildung entstehen können.
Auf den Schleimhäuten, speciell im Munde und Kehlkopf hat man im
Verlauf schwererer Purpuraformen Geschwüre beobachtet; eine acute Angina
begleitet zuweilen den Ausbruch des Leidens. Die Thätigkeit der Verdauungs-
organe pflegt, auch wo kein Fieber besteht, sehr darniederzuliegen, was nicht
wenig dazu beiträgt, dass die Kranken sehr herunterkommen. — Die Leber
hat man zuweilen vergrössert und empfindlich gefunden, auch Icterus ist
beobachtet. Natürlich wird man bei Combination von Hämorrhagieen mit
Leberanomalien scharf die Fälle abtrennen müssen, in denen die ersteren
nur eine Folge der letzteren sind. Wir kennen ja eine Reihe von Leber-
leiden, Cirrhose, Icterus gravis, Icterus haemorrhagicus (Ratmond), acute gelbe
Leberatrophie, die eine Neigung zu Hämorrhagien mit sich bringen. — Die
Milz ist gewöhnlich vergrössert. — Die Function der Nieren ist, auch w^enn
es nicht zur Hämaturie kommt, gewöhnlich eine mangelhafte. Der Urin ist
recht spärlich, enthält oft geringe Eiweissmengen. — Die Drüsen sind zu-
weilen angeschwollen, eine erheblichere Schwellung der Parotis ist beobachtet. —
Die Herzthätigkeit ist, soweit sie nicht durch das Fieber alterirt ist, so lange
annähernd normal, als es zu keinen bedeutenden Blutverlusten gekommen ist;
wo letzteres der Fall, wird sie beschleunigt, der Puls wird frequent und klein,
anämische Herzgeräusche, besonders während der Systole, werden in erster
Reihe an der Herzspitze hörbar. Sehr selten kommt es vor, dass sich bei der
Purpura rheumatica ebenso wie beim acuten Gelenkrheumatismus eine Endo-
carditis entwickelt. — Im Blute hat man nichts wirklich für den Process
charakteristisches gefunden. Weder Leukocytose, noch Mikrocytose, wie man
sie gesehen haben will, sind constant. Die Hämoglobinmenge geht bei aus-
gedehnten Blutungen der Abnahme der Blutkörperchenzahl parallel herunter.
Die Purpura ergreift Männer und Frauen in gleicher Weise; meistens
werden jugendliche Individuen von ihr heimgesucht. Aeltere Personen er-
kranken eigentlich nur dann an Purpura, wenn sie durch irgend welche Ur-
sachen kachectisch geworden sind {Purpura senilis). Es scheint, dass die Pur-
pura häufiger im Frühjahr und Herbst auftritt, ähnlich wie es für das Ery-
thema exsudativum beobachtet ist.
23*
356 PURPURA.
Ursache und Wesen der Purpuraformen sind uns durchaus noch un-
bekannt. Man hat die nächste Ursache in Veränderungen des Blutes oder der
Blutgefässe (Wagnee) gesucht; jedoch haben wir hiefür durchaus keinen
positiven Anhalt. Vielleicht bringt die fortschreitende Technik der Blutunter-
suchung irgend welche Aufklärung.
Es ist natürlich, dass man auch Mikroben als Urheber beschuldigt, und
nach dem klinischen Bilde würde man eine mikrobiäre Ursache nicht für
unwahrscheinlich halten. Petrone hat Coccen im Blute beschrieben, Letzeeich
einen Bacillus haemorrhagicus bei drei Fällen im Blute gefunden, in Reincul-
tur gezüchtet und mit Erfolg verimpft. Alle diese Arbeiten bedürfen aber noch
der Nachprüfung. — Wenn manche Autoren das Wesen der Krankheit er-
schöpft zu haben glauben, wenn sie von einer „haemorrhagischen Diathese"
sprechen so beweist das nur ihre Anspruchslosigkeit. — Einer besonderen Be-
trachtung bedarf die Stellung der Poliosis rheumatica zum Gelenkrheumatismus.
Manche stellen die Gelenkaffectionen in den Vordergrund und sehen die Blu-
tungen als Complication an, führen also die Peliosis rheumatica auf dieselbe
unbekannte Noxe zurück wie den Gelenkrheumatismus. Es scheint dieses
nicht richtig, die Blutungen sind klinisch wohl als das eigentliche Charak-
teristicum des Krankheitsbildes zu betrachten. Auch hier kann nur die
ätiologische Forschung Aufklärung bringen. — Als indirecte Ursachen, als
prädisponirende Momente der Purpura werden alle diejenigen Leiden an-
geführt, die Cachexie bedingen. Das mag richtig sein, aber andererseits
muss man daran festhalten, dass ganz kräftige, bisher gesunde Individuen
ebenso oft von Purpura ergriffen werden und dann sogar nicht selten recht
schwer erkranken.
Prognose : Die leichten Formen der Purpura, Purpura simplex, enden in
2 — 4 Wochen in Heilung, die schweren, Purpura haemorrhagica, können unter
den Erscheinungen hochgradigster Anämie mit oder ohne Hirnerscheinungen
(Coma etc.) tödtlich enden. Verderblich können auch Zerstörungen edler
Organe durch Blutergüsse werden; so kann der Tod unter den Zeichen einer
Apoplexia sanguinea erfolgen. — Bei der Purpura rheumatica ist besonders
die Endocarditis beachtenswerth. — Im Allgemeinen sind für die Prognose
folgende Factoren maassgebend: 1. Das Allgemeinbefinden, die Resistenz-
fähigkeit des Patienten. 2. Die Ausbreitung der Hautblutungen; je zahlreicher
sie sind, je mehr sie die obere Körperhälfte, besonders das Gesicht betreffen,
desto ernster ist die Prognose. 3. Das Auftreten innerer Blutungen. —
Im ganzen soll man auch bei leicht beginnenden Formen vorsichtig sein mit
der Prognose, weil die Grenze zwischen leichten und schweren Formen keine
scharfe ist, sie leicht in einander übergehen können.
Innere Blutungen können in jedem Augenblick auftreten, wir haben
keinen Anhaltspunkt, um sie vorauszusehen. Andererseits ist die vielfach in
Büchern besonders für die Purpura haemorrhagica angegebene, sehr ungünstige
Prognose nicht berechtigt, da die meisten Kranken, — und zuweilen befinden
sich sogar scheinbar verzweifelte Fälle unter ihnen, — genesen. — Einen
besonders malignen Verlauf nimmt die von Henoch bei Kindern beschriebene
Purpura fulminans. — Recidive kommen bei allen Purpuraformen vor.
Diagnose: Die Erkennung der Purpuraformen ist relativ leicht; nur
wenn die Hautblutungen gegenüber den inneren sehr in den Hintergrund
treten — ganz fehlen sie wohl niemals — kann die Diagnose Schwierigkeiten
machen. Mit besonderer Sorgfalt müssen stets alle, im Beginne des Artikels
genannten Krankheiten ausgeschlossen werden, bei welchen symptomatisch
Hautblutungen vorkommen. Die sonstigen Erscheinungen derselben werden
vor Irrthümern bewahren. — Der einzelne Bluterguss in der Haut kenn-
zeichnet sich als solcher gegenüber Erythemflecken durch die rothe, livid-
rothe, blau-rothe, nicht wegdrückbare Farbe; die durch Insectenstiche hervor-
PURPURA. 357
gerufenen Stigmata zeigen central den Einstichpunkt. — Für die Abgrenzung
vom Scorbut ist besonders das Fehlen der Gingivitis maassgebend. — Die
Hämophilie ist als angeborenes Leiden, welches nur an durch irgend ein
Trauma getroffener Stelle Blutergüsse bewirkt, leicht unterschieden.
Anatomie. Die anatomischen Befunde entsprechen im ganzen den
Veränderungen, welche durch Blutungen in die Haut oder in innere Organe
auch sonst gesetzt werden; specifische Merkmale sind nicht gefunden. —
Die Blutgefässe zeigen keine irgendwie charakteristischen und constanten
Anomalien, welche das Wesen des Processes erklären könnten^ so dass es noch
fraglich ist, ob der Austritt des Blutes per rhexin oder diapedesin erfolgt. —
Ebensowenig ist im Blute etwas besonders erwähnenswerthes gefunden worden.
— Wenn ich noch hervorhebe, dass in einzelnen Fällen lymphadenoide
Wucherungen in Milz und Leber vorhanden gewesen sein sollen, dann sind
damit die spärlichen anatomischen Befunde erschöpft.
Therapie. Da wir kein Specificum gegen Purpura besitzen, handelt es
sich nur um eine symptomatische Behandlung. Jeder Purpurakranke muss
vor allem absolute geistige und körperliche Ruhe haben. Wo Fieber vor-
handen ist, irgendwie erheblichere Hautblutungen bestehen, muss der Patient
das Bett hüten, wobei für ein gut ventilirtes Krankenzimmer Sorge zu tragen
ist. Jede das Gefässsystem in Wallung versetzende Beschäftigung ist strenge
zu verbieten. Auch die Nahrung soll eine recht milde sein; Milchkost ist
der Fleischnahrung entschieden vorzuziehen. Alkohol reiche man, so lange
der Puls kräftig und voll ist, keine erheblicheren Blutverluste stattgefunden,
am besten gar nicht; wo er absolut nicht entbehrt werden kann, gibt man
leichte, milde Weine, wie Moselwein und ähnliches. Die Indication für
Alkohol beginnt erst, sobald durch Blutungen nennenswerthe Anämie eintritt,
der Puls klein und frequent wird, oder gar Ohnmächten, Ohrensausen,
Schwindelgefühl die mangelhafte Blutversorgung des Hirnes anzeigen. Dann
muss der Alkohol auf den Kampfplatz vorrücken, und in einer dem Grade
der Anämie und der Schwäche des Pulses proportionalen Menge und Con-
centration gereicht werden. Dann — aber auch nur dann — sind die schweren
spanischen Weine, Portwein, Sherry, Madeira, ist Champagner, Cognac, Grog etc.
am Platze. Nimmt die Anämie bedenkliche Grade an, was nur durch innere
Blutungen erfolgen kann, dann kann man zur Autotransfusion, d. h. Hoch-
lagerung und festes Einwickeln der Beine mit Gummibinden, Tricotschlauch-
binden etc., greifen oder, was vorzuziehen ist, eine subcutane Kochsalz-
infusion machen. Zu letzterer genügt ein jeder Irrigator und eine nicht zu
dünne Functions- respective Injectionsnadel; die erwärmte Flüssigkeit (O'ö'^/q
durch Kochen sterilisirte Kochsalzlösung) fliesst durch die am besten oberhalb
der Inguinalgegend subcutan eingeführte Nadel bei erhöhtem Irrigator relativ
schnell ein und wird durch Streichen der Stelle rasch zur Resorption gebracht.
Die intravenöse Injection wirkt noch schneller, ist aber wohl meistens durch
die subcutane zu ersetzen. — Von inneren Medicamenten ist eigentlich nur
Ergotin (l-O—2'O ])ro die in Pillen oder Lösung pro die) zu nennen, welches
bei starken inneren Blutungen auch subcutan mit Vortheil Verwendung findet.
Das Extract. fluid. Hijdrast. canad. wie das Hydrastinin sind des Versuches
werth. Liquor ferri sesquichlorat (5'0:195-0, 2stündUch 15 Gramm) wird viel-
fach empfohlen; es hat wohl weniger als blutstillendes Mittel als, als Eisen-
präparat einen Werth. Styptica wie Tannin, Plumb. acet, Eis etc. sind bei Magen-
und Darmblutungen indicirt. Stärkeres Nasenbluten wird am besten beseitigt,
indem man im Spiegel sich die blutende, meistens ganz vorne am Septum
gelegene Stelle aufsucht und durch Galvanocaustik, Chromsäure, Trichlor essig-
saure etc. ätzt. Wo dieses nicht ausgeführt werden kann, ist die Tamponade
der Nase mit Jodoformgaze — meistens genügt die vordere — schleunigst
auszuführen. — Daneben können Amara, Boborantia, die viel empfohlenen
358 PYELITIS.
Säuren (EUx. acid. Halleri), Excitantia in allen Formen bei vorhandener
Indication zur Verwendung gelangen. Mit den Excitantien, besonders mit
Ol. camphoratwn subcutan, gehe man zeitig und energisch vor, dann wird
man noch manchen Kranken, der hoffnungslos darniederzuliegen scheint, am
Leben erhalten. — In der Keconvalescenz sind meistens Eisenpräparate
indicirt, von denen die allbekannten und bewährten den zahlreichen neueren
meistens an Wirksamkeit wenig oder nichts nachgeben. jessnee.
Pyelitis {Nierenbeckenentzündung). Die Entzündung befällt theils die
Schleimhaut der Kelche und des Nierenbeckens meist nur eine, seltener
beider Nieren allein, Pyelitis; theils die angrenzenden und tieferliegenden
Partien: den Papillartheil der Niere — Pyelonephritis oder auch das para-
nephrale Gewebe ■ — Para- und Perinephritis. Man unterscheidet eine
katarrhalische, eine diphtheritische und eine croupöse, nach der Dauer auch
eine acute und eine chronische Form. Bei den Frauen ist der venerische
Katarrh und Concrementbildungen die Ursache der Entzündung; am häufigsten
gibt jedoch das Wochenbett operative Eingriffe am Uterus und dessen Ad-
nexen zur Infection der Nierenbecken Veranlassung. Die älteren Autoren
nehmen eine sogenannte rheumatische Pyelitis an — wir glauben aber, dass
es eine solche ebensowenig gibt wie eine rheumatische Cystitis.
Aetiologie: Die Pyelitis ist eine Entzündung der Schleimhaut, die
mit Setzung eines Exsudates einhergeht, welches den Harn mehr oder weniger
trübt; diese Entzündung ist nach dem gegenwärtigen Standpunkt der For-
schung durch Invasion von Mikroorganismen bedingt. Eine stattliche Zahl
von Mikroorganismen ist bisher bekannt und sowohl klinisch als experimentell
studirt. Die hervorragendste Stelle nehmen die Darmbakterien ein, das
Bacterium coli, der Proteus Hauser ein, dann kommen Gonococcen, Tuberku-
losebacillus und die Staphylococcen, selten Bacillus typhi etc. in Betracht.
Nicht selten werden die pyogenen Organismen einer Species z. ß. das
Bacterium coli in Keincultur im pyelitischen Harne vorgefunden, ebenso oft
werden aber auch mehrere der angeführten Bacterien zugleich nachgewiesen,
so oft eine Mischinfection vorliegt. Die Anwesenheit der Mikroorganismen
allein ist aber höchst selten hinreichend eine Entzündung der Schleimhaut
hervorzurufen, es sind zumeist bestimmtes, begünstigenden Momente vorhanden,
damit die pathogenere Wirkung der Bacterien zu Tage trete. Diese begünsti-
genden Momente sind.
1. Verletzung der Schleimhaut.
2. Hyperämische Zustände der Nierenbeckenwände und
3. Harnstauung.
Durch alle diese Momente, wird einerseits die Widerstandsfähigkeit und
der Ernährungszustand der Gewebe mehr oder weniger herabgesetzt, anderer-
seits geschieht beim Trauma die Einimpfung der pathogenen Organismen wie
beim Experimente.
Der normale Harn ist keimfrei, es ist somit die Frage, woher die Eiter-
erreger stammen von grosser Wichtigkeit.
Es gibt mehrere Wege, auf denen die Infection des Nierenbeckens vor
sich gehen kann.
1. Die ascendirende Infection von der Blase, von der Urethra aus*
Ein sehr wichtiges Moment für diese Art bildet die Harnstauung. Bei jeder
etwas hochgradigen Ausdehnung der Blase, werden die Ureterenmündungen
zusammengepresst; es erfolgt nicht einfach eine Rückstauung des Harnes in
den Ureter; es ist vielmehr die Einpressung des Harnes in die Blase eine
schwierigere. Der Harn gelangt bekanntlich durch peristaltische, automatisch
angeregte Contractionen der Ureterenmuskulatur die in einem bestimmten
Rhythmus erfolgt, in die Blase. Ist der Gegendruck von der letzteren ein sehr
PYELITIS. 359
bedeutender, daun wird ein Moment eintreten, wo kein Harn aus dem Ureter
in die Blase gelangen kann, und im ersteren also stagnirt; die Harnstauung
wird nun durch den stetig von der Niere frisch zusammenströmenden Harn
gesteigert. Ein Ilücktritt in die Papillaröffnungen ist ebenso unmöglich, weil
die Mündungen der Harncanälchen in den Papillen, bei gesteigerten Binnen-
druck im Nierenbecken comprimirt werden. Die pathogenen Mikroorganismen
gelangen also erst dann von der Blase in die Ureteren, wenn der Harnleiter-
verschluss geöffnet ist und dies ist während der periodischen Contraction des
Ureters der Fall. An der Flüssigkeitssäule, die zwischen Niere und Blase
besteht, gelangen Eitererreger sehr wohl in die Nierenbecken.
2. Bei Entzündungen der Nachbarschaft des Bindegewebes etc.,
durch Fortleitung theils durch die Lymphbahnen, theils durch directe Circu-
lationen der Begrenzungswände (Darmcanal) gelangen die Mikroorganismen
ins Nierenbecken {transversale Infection).
3. Die Mikroorganismen kommen auf dem Wege der Blutbahn in
den Harnapparat, indem sie
a) durch das Nierenfilter ohne Läsion desselben durchgelassen werden,
wie bei Allgemeininfectmi bei acuten Exanthemen, Influenza, Pneumonie,
Typhus, Erysipel, Diphtherie, Septico-pyämie, oder
h) als Emboli in die Niere gelangen und das Nierenbecken in Mit-
leidenschaft ziehen (emhoUsche und descendirende Infection).
4. Endlich wird bei Erkrankung des Darmes eine Durchlässigkeit
für Bacterien hergestellt, so dass dieselben durch das Beckenbindegewebe in
den Harnapparat, bezw. das Nierenbecken überwandern [kryptogenetische In-
fection Pommer).
Nach dem Vorausgeschickten beobachtet man die Pyelitis häufig nach
Traumen durch Fremdkörper, insbesondere durch Concremente {Pyelitis calcu-
losa), seltener durch Entozoen {Echinococcus, Strongylus), durch Neubildungen,
die zu Blutungen führen (Carcinom, Sarcom).
Am häufigsten jedoch ist die ascendirende Pyelitis, die sich zu allen Er-
krankungen der unteren Harnwege zugesellt, wie Blennorrhoe, Stricturen der
Urethra, Hypertrophie der Prostata, Concremente oder Neubildungen der
Blase etc., die theils direct, theils indirect zu einer Cystitis führen.
In früherer Zeit wurde auch eine toxische Pyelitis angenommen
die durch scharfe Diuretica, durch Balsamica etc. (Terpentin, Canthariden)
hervorgerufen wurde; nach der jetzigen Anschauung ist diesen Stoffen blos
eine prädisponirende Wirkung zuzuschreiben, indem er nach derartigen Ver-
giftungen zu Blutungen, zu Blut- und Harnstauungen kommt, die für die
Entwicklung der Organismen einen günstigen Boden abgeben.
Pathologisch anatomischer Befund. Bei der katarrhalischen Pyelitis
findet man die Schleimhaut injicirt, zuweilen mit punktförmigen Hämorrhagien
versehen; die Blutgefässe ausgedehnt. In chronischen Formen ist die Schleim-
haut schiefergrau verfärbt mit eitrigem Belege bedeckt. Beim Durchschnitte
durch die Niere findet man bei recenten Formen blos eine Hyperämie, bei
chronischen hingegen weissliche Streifung, welche besonders die Marksub-
stanz betrifft — Bindegewebswucherung — [Pyelonephritis).
In den hochgradigsten Fällen sieht man in diesen Streifen, kleine punkt-
förmige Eiterherde, welche an einzelnen Stellen zu grossen Abscessen con-
fluiren. {Suppmrative, interstitielle Nephritis.)
Das Nierenbecken und die Kelche sind erweitert, der Papillartheil der
Niere theils durch Druck, atrophisch theils vereitert. Das erweiterte Nieren-
becken, in dem man einzelne Septa und Brücken als Pieste der früheren Kelche
sieht, enthält eitrigen Harn, der oft ammoniakalisch ist, und in den Nischen
Steine, theils primärer, zumeist aber secundärer Bildung. _ Die Sammelröhren
sind zuweilen vollgestopft mit Coccen {Nephritis parasitaria, Klebs).
360 PYELITIS.
Auch der Ureter zeigt bestimmte Veränderungen und zwar ist derselbe
in der Kegel erweitert, in seinem Innern wechseln Erweiterungen und Ver-
engerungen mit einander ab, so dass zwischen zwei klappenartigen Vorsprüngen
eine ampullenförmige Erweiterung existirt. Anderenfalls ist der Harnleiter
erweitert, aber seine Wandung ist hypertrophirt; hi-er hat die Entzündung
hauptsächlich das periureterale Bindegewebe ergriffen. Auch solche Harnleiter
können stellenweise verengt sein und zwar durch ringförmige Bindegewebs-
wucherungen; in einzelnen Fällen führen letztere zur completen Obliteration
des Ureters. Bei erschwertem Abfluss des Harnes durch Stenose der Ureters
kommt es zu Pyonephrose.
Die Symptome der Pyelitis sind wenig charakteristisch — obenan steht
die Beschaffenheit des Harnes. Der Harn ist trübe und klärt sich
nicht vollständig, wenn er auch längere Zeit gestanden hat; es fällt zwar ein
massiger Niederschlag zu Boden, aber der darüberstehende Harn wird nicht
klar. Die 24 stündige Harnmenge ist bei den acuten Formen die normale;
bei chronischen Formen hingegen erscheint dieselbe constant vermehrt. Diese
Polyurie ist dadurch erklärlich, dass die Marksubstanz der Niere, der soge-
nannte Condensationsapparat (in welchem ein Theil des Harnwassers wieder
aufgenommen wird) miterkrankt ist. Der Vermehrung der Harnmenge ent-
sprechend ist das specifische Gewicht ein geringes, die Farbe des Harnes eine
blassgelbe.
Die Reaction des Harnes ist, mag noch so viel Eiter darin enthalten sein,
sauer; nur bei gleichzeitiger ammoniakalischer Harngährung durch secundäre
Infection wird die Pteaction alkalisch. Der Albumingehalt des Harnes ist bei
chronischen Formen meist grösser als er dem Eitergehalte entsprechen würde;
es liegt ausser der Eiterung des Nierenbeckens auch eine Erkrankung des
Nierenparenchyms vor.
Das Sediment ist je nach der Form mehr oder weniger reichlich; bei
der chronischen Pyelitis ist dasselbe sehr gross, so dass es den dritten Theil
und mehr des Harnvolums einnimmt.
Die Eiterentleerung ist oft eine intermittirende, dies ist bei einseitiger
Erkrankung der Fall, dass innerhalb weniger Stunden klarer und trüber Harn
wechselt.
Von diagnostischer Wichtigkeit ist der mikroskopische Befund.
Bei acuter Pyelitis einzelne rothe Blutkörperchen^ Leukocyten und Meine
runde oder ovale Epühelien aus der Niere. Bei chronischer Pyelitis
findet man jedoch nicht constant, kurze cylindrische Ffrö^fe^ von dreifachen
Diameter der Nierencylinder, die aus aggregirten Eiterkörperchen bestehen, die
aus den Ductus impiUares stammen. Selten findet man dachziegelartig über-
einander gelagerte Epithelien, die die Nierenbecken auskleiden. Endlich findet
man Mikroorganismen deren Bestimmung von weittragendster Bedeutung
sein kann.
Oben wurde bereits hervorgehoben, dass die Pyurie eine intermittirende
ist. Das Allgemeinbefinden des Kranken ist im umgekehrten Verhältnis mit
der Beschaffenheit des Harnes; bei trübem, schlechten Harne befinden sich
die Patienten wohl, während bei klarem Harne über verschiedenes geklagt
w4rd. Schmerz und Schüttelfrost bedeuten hier — Eiterretention, indem der
Ureter durch ein Concrement, oder Blutgerinsel, oder durch Knickung etc.
undurchgängig wird. Manchmal sistirt nach einer solchen Recrudescenz die
Eitersecretion vollständig — der Ureter ist total obliterirt.
Ein zweites Symptom ist ein Schmerz in der Lumbal- und Kreuzbein-
gegend einseitig, öfter aber auch beiderseitig oft mit den charakteristischen
Erscheinungen der Ptenalkolik.
PYELITIS. 361
Eine wohl nicht constante aber bei unilateraler Pyelitis nicht seltene
Erscheinung ist ein Tumor von verschiedener Grösse, der manchmal Fluc-
tuation zeigt {Pyonephrose.)
Der Allgemeinzustand zeigt lange Zeit keine besondere Abweichung von
der Norm. Schliesslich beobachtet man Abmagerung, fahle Farbe des Ge-
sichtes. Die Kranken verlieren den Appetit, die Zunge ist roth, die Speichel-
secretion ist vermehrt, dieselbe von stark saurer Reaction. Soor. Nebenbei
Uebligkeiten und Erbrechen. Die Respiration bietet öfter auffällige Erschei-
nungen, indem dyspnoische Anfälle ohne physikalisch nachweisbare Ursache
zu Tage treten. Nicht selten sind Fiebererscheinungen die den verschiedenen
Typen des sogenannten Harnfiebers entsprechen (s. dieses).
Bei der chronischen Pyelitis findet man nicht selten auch subnormale
Temperaturen mit dem Bilde der Harncacliexie.
Dauer und Ausgang der Pyelitis ist je nach der Ursache und der
Intensität und Dauer des Processes verschiedener. Die acuten Formen (z. B.
bei Gonorrhoe) verlaufen in kurzer Zeit 1 — 2 Wochen günstig. Bei den
übrigen Formen ist die Dauer und Ausgung von den veranlassenden Gelegen-
heits-Ursachen abhängig. Wenn es gelingt dieselben z. B. Steine, Stricturen
etc. zu beheben, dann kann auch die Pyelitis ausheilen.
Bei einseitiger intensiver Erkrankung — bei Pyonephrose kann ein gün-
stiger Ausgang in der Weise erfolgen, dass der in dem erweiterten Kelchen
und Nierenbecken vorhandene Inhalt, bei Obliteration des Ureters resorbirt
wird, die Kapsel sammt der restirenden Nierensubstauz schrumpft, während
die gesunde Niere hypertrophirt und compensatorisch für die verlorene ein-
greift.
Ein zweiter Ausgang ist, dass die Pyonephrose zu irgend einem Durch-
bruch führt u. z. entweder in das perinephrale Bindegewebe (der gün-
stigste Fall) oder in die Peritonealhöhle — mit tödtlicher Peritonitis, oder
auch in seltenen Fällen durch das Zwerchfell in die Lunge.
Die Prognose ist bei der Pyelitis mit Ausnahme der leichten acuten
Formen eine ernste; weil eben nicht nur die Schleimhaut der Nierenbecken,
sondern auch das Parenchym der Niere erkrankt ist. Da die Pyelitis zumeist
einseitig ist, so ist im allgemeinen quoad vitam die Prognose nicht ungün-
stig, quoad sanationem perfectam ist dieselbe nicht günstig. Die Prognose
der Pyelitis calculosa ist eine zweifelhafte. Wenn die Concremente so
klein sind, dass sie spontan durch den Ureter abgehen, dann kann auch voll-
ständige Heilung der Pyelitis eintreten. Ist aber das Concrement in einem
solchen Missverhältnis mit der Weite des Ureters, so dass der Abgang der
Steine unmöglich ist, und wenn Pyonephrose oder Pyelonephritis sich hinzu-
gesellt, so ist die Prognose bei beiderseitiger Erkrankung ungünstiger und
bei einseitiger Erkrankung erzielt man durch Nephro- oder Pyelotomie oder
auch Nephrectomie zuweilen Heilung.
Die Diagnose der Pyelitis war, solange man sich auf die chemisch-
mikroskopischen Befunde des Harnes allein stützen konnte eine sehr schwie-
rige ja in einzelnen Fällen war es geradezu unmöglich zu differenziren
zwischen Cystitis und Pyelitis.
Wenn auch die Harnanalyse nicht zu unterlassen ist und in einzelnen
Fällen positive Resultate liefert, so lässt dieselbe doch erst in Verbindung
mit der physikalischen Untersuchung der Kranken in den meisten Fällen ver-
lässliche Beurtheilung zu.
Bei der Palpation findet man nahezu constant bei Pyelitis Schmerz in
der Nierengegend, zuweilen findet man einen fluctuirenden Tumor daselbst.
Auch die Ureteren ergeben manchmal bei mageren Individuen gewisse Anhalts-
punkte; bei schlafien Bauchdecken sind dieselben tastbar. Die unteren End-
362 PYELITIS.
stücke sind öfter als harte Stränge von der Vagina oder vom Mastdarm
ganz gut zu fühlen.
Wichtige Anhaltspunkte gewinnt man durch instrumenteile Untersuchung
der Blase.
Thompson ging folgender Weise vor. Nachdem die Blase mittels eines
Katheters entleert wurde, Hess Thompson dieselbe solange waschen, bis das
Waschwasser rein abfloss. Hierauf blieb der Katheter liegen und die von der
Niere stammenden und sofort abfliessenden Tropfen Harnes wurden aufgefangen.
War die Probe, sofort trübe so wurde Pyelitis angenommen; war die Probe
aber klar oder doch wenig trübe wurde die Blase als Quelle der Eiterung
angenommen.
Ultzmann bediente sich der sogenannten Reso7-ptionfprobe. Eine normale
Blase resorbirt nahezu gar nicht; wenn also in eine vorher entleerte Blase
lOOy einer 1 — 2% Jodkalilösung eingespritzt und diese Menge darin belassen
würde, so kann man nach 15 Minuten im Speichel mittelst gekochter Stärke
und rauchender Salpetersäure kein Jod nachweisen. Ist aber die Blase katarr-
halisch erkrankt, so ist sie resorptionsfähig, denn man findet bei der angeführten
Probe bestimmt Jod im Speichel.
Diese beiden Proben sind im Allgemeinen brauchbar, allein es können
beide Organe sowohl die Blase als auch das Nierenbecken erkrankt sein und
dann geben beide Proben zu Täuschungen Veranlassung. Zuweilen ist der
Kunstgriff von v. Bergmann von grossem Werthe. Er besteht darin, dass
man nach gründlicher Spülung der Blase, den pyelitischen Tumor comprimirt,
um zu sehen, ob sich darnach Eiter aus dem Katheter entleert.
Die Differentialdiagnose ist gegenwärtig durch das Cystoskop mit
Sicherheit zu stellen. In einem Falle wird man pathologische Veränderungen
in der Blase direct zur Anschauung bringen, andernfalls wird aber, ist das
Hervorquellen des trüben eitrigen Harnes aus einem Ureter direct zu be-
obachten, so dass über die Quelle der Eiterung kein Zweifel bestehen kann. *)
Noch bessere Resultate ergiebt der Katheterismus der Ureteren mittelst des
ÜASPER'schen Instrumentes.
Therapie. Bei den acuten Formen wie sie bei oder nach Infections-
krankheiten vorkommen, ist eine directe Behandlung kaum nöthig. Da ohne-
hin schon Bettruhe wegen des Hauptleidens geboten ist, so beschränkt man
sich auf blande Kost — insbesondere Milchdiät und lauwarme Bäder,
Von grösster Wichtigkeit ist eine prophylaktische Behandlung der ver-
schiedenen Erkrankungen der Blase, Prostata und Harnröhre, namentlich jener
die mit einer Harnstauung verbunden sind. Selbstverständlich ist auf die pein-
lichste Antiseptik im Puerperium zu achten.
Allein auch schon bei bestehender Pyelitis, die wie gewöhnlich eine ascen-
dirende ist, sollen die sie bedingenden Erkrankungen des unteren Theiles des
Harnapparates in das Bereich der Behandlung u. z. sowohl der medicinischen als
auch der localen gezogen werden. Die Pyelitis oder Pyelonephritis ist keine
Gegenanzeige einer Localbehandlung der Blase und Urethra, im Gegentheil
es bessert sich häufig die Nierenbeckeneiterung nach einer solchen Behandlung.
Ferner ist die Aufgabe, den Abfluss des in dem Nierenbecken enthal-
tenden Eiters zu befördern, dies erreicht man am besten durch reichliches
Getränk. In diesem Sinne ist auch eine strenge Milchcur indicirt. Ausserdem
eignen sich verschiedene Mineralwässer oder Curen in Karlsbad, Vichy, Wil-
dungen etc. zu diesem Zwecke.
Eine weitere Aufgabe ist die Entzündung und die Eiterung zu bekämpfen.
Man trachtet dies theils durch urophane Antiseptica, theils durch Balsamica zu
erreichen; die meist gebräuchlichen sind die Salici/lsäure, Salol, Salophen, Äcid.
*") Vergl. die entsprechenden Artikeln im Bande j, Hautkrankheiten und SypJdlis.^
QUERULANTEN-WAHNSINN. 363
henzoicmn, Ä. horicum und die Natronverbindungen, weiter das Äcid. camphor.
und das Besorcin. Häufig werden auch die Adstringentien, Äcid. tannicum, Alu-
men, Plumb. acct., Aq. calcis verordnet; meist ist der Erfolg dieses letzteren
ein sehr geringer.
Die Balsamica haben zuweilen einen günstigen Einfluss, doch nur bei
lange fortgesetztem Gebrauch Ol. terhinth. rectific. OL, mntali, Ol. Eucahjpti
in Gelatin- Kapseln zu 0-2— 0'3 pro dosi mehrmals täglich, hieher gehört auch
das alte berühmte nicht selten wirksame: L' huile de Haarlem: (Olei cadini,
Olei baccarum lauri ää gtts tres incliid.) in Caps, gelat. DS. 1 — 2 Stück täglich.
In neuester Zeit wird die locale Behandlung der Nierenbecken (Injection und
Instillation mit Arg. nitric.-lösungcn) von L. Casper in mehreren Fällen mit
günstigem Erfolge in Anwendung gezogen Avorden.
Die Allgemeinbehandlung der Pyelitis ist die gleiche wie bei der
Nephritis chronica (siehe diese), da wie bereits angeführt jede Pyelitis auch
gleichzeitig die Nierensubstanz selbst in Mitleidenschaft zieht. Nur eines
Symptomes der Dyspepsie soll noch Erwähnung geschehen, weil dieses sehr
lästig ist und die Anwendung der angegebenen Medikamente nicht zulässt. Gerade
gegen dieses ist der Gebrauch von Karlsbad von grossem Werthe; wie wir
annehmen, beruht der günstige Einfluss von Karlsbad auf Pyelitis nicht zum
Mindesten auf diesem Momente und ist nicht von der mechanischen Durch-
spülung oder der chemisch urophanen Wirkung der Wässer abhängig. Es
wirkt in erster Linie gegen die Autointoxication, indem es den Darm evacuirt
und hiedurch die bei chronischen Erkrankungen der Harnwege stets vorhan-
denen Gährungs- und Zersetzungsvorgänge im Darme beschränkt.
Bei einseitiger Erkrankung, bei bereits vorhandener Pyonephrose, be-
sonders wo es bereits zu secundärer Steinbildung gekommen ist, hat man nur
von chirurgischem Eingriff (Nephro- oder Nephrectomie) eine Heilung oder
Besserung des Zustandes zu erwarten. brik.
Querulanten-Wahnsinn (Irresein der Processkrämer), eine wohl
charakterisirte chronische Seelenstörung, gehört zu der Gruppe des degene-
rativen Irreseins und basirt in erster Linie auf einem krankhaften Rechts-
bewusstsein. Der Kranke hält sich in seiner Rechtssphäre geschädigt und
sucht sein vermeintliches Recht auf jede denkbare Weise zu erstreiten.
Aetiologie. Die wichtigste Ursache liegt in der zumeist ererbten, psy-
chopathischen Veranlagung, weit seltener in erworbenen Schädlichkeiten, wie
Kopfverletzungen, acuten Hirnaffectionen, alkoholischen und onanistischen
Excessen.
Krankheitsbild. Die Entwicklung der Störung vollzieht sich stets all-
mälig. Oft sind die betroffenen Individuen von Jugend auf moralisch defect
angelegt, misstrauisch und streitsüchtig, oder, neben einem gewissen Grade
geistiger Beschränktheit, von dünkelhaftem Selbstgefühl getragen, infolge
dessen sie überall Recht zu haben wähnen.
Den Ausgangspunkt der eigentlichen Störung bildet nicht selten ein
thatsächlich erlittenes, allerdings oft nur kleines Unrecht in einem Civil-
oder Criminalprocesse. Die Geschädigten vermögen ihre Niederlage nicht
zu überwinden und suchen ihr Recht auf das Hartnäckigste zu verfolgen. In-
dem sich nun das Bewusstsein stets in dem engen Gedankenkreise des er-
littenen Unrechtes und der Mittel zur Wiederherstellung des Rechtes bewegt,
wird die Freiheit des Denkens allmälig eingeschränkt und der Inhalt des-
selben einseitig und schliesslich derartig gefälscht, dass sie überall erlittenes
Unrecht wittern. Jetzt glauben sie sich vielfach in ihrer Rechtssphäre ge-
schädigt. Die Vorstellung des erlittenen Unrechtes ist zum Zwangs-
gedanken geworden, zu dessen Realisirung sich ein manisches Element
gesellt. Sie erheben deshalb bei Gericht Klagen aller Art; abgewiesen, lassen
364 QUERULANTEN-WAHNSINN.
sie sich nicht von der Grundlosigkeit ihrer Beschwerden überzeugen, gehen viel-
mehr zur nächsten und weiter zur folgenden Instanz über. Taub für alle sach-
lichen Gründe, suchen sie bald die Ursachen ihrer Misserfolge in der Partei-
lichkeit und . Bestechlichkeit der Kichter, bald im Meineide ihrer Gegner. Sie
finden die Beweise hiefür in falsch gedeuteten, meist ganz harmlosen An-
lässen. Jetzt treten sie aus der passiven Rolle des Geschädigten in die ac-
tive des Angreifers über. In hochgradiger Gereiztheit bestürmen sie förm-
lich die Gerichte mit langathmigen Actenstücken und übersprudelnden Rede-
Ergüssen, ergehen sich dabei inVerläumdungen und Ehrenkränkungen schlimmster
Art. Folgt die gebührende Ahndung, so werden sie dadurch keineswegs
bekehrt, vielmehr nur um so mehr aufsässig, und wieder eine Stufe tiefer in
die Krankheit hinein getrieben.
Keine Niederlage bringt den Querulanten zur Besinnung, vielmehr schärft
sie seinen Widerstand und seine Angriffslust. Büsst er eine Freiheitsstrafe,
so verwerthet er die Mussestunden zur Fertigung endloser Beschwerdeschriften,
welche alle nur Varietäten desselben Themas sind: „Er ist stets im Rechte,
alle Anderen sind im Unrecht." Kaum aus dem GefäDgnis entlassen, nimmt
er seine „Arbeit" mit neuer Energie auf, indem sich zum Zwangsgedanken
der Zwangsimpuls gesellt.
Von vermeintlichem Rechtsgefühl getrieben, fühlt er sich bald nicht
nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, überall dem Rechte zum
Siege zu verhelfen. Das zuerst unterdrückte Selbstgefühl schlägt in ein exal-
tirtes um und erweitert sich der Art, dass der Kranke nunmehr als Vor-
kämpfer für die Sache aller Unterdrückten auftritt. Er führt einen rüstigen
Feldzug gegen Richter und Staatsanwälte, erhebt Beschwerden bei den Mini-
sterien und Landständen und schont auch schliesslich das Staatsoberhaupt
nicht mehr. Mit volltönenden Phrasen erklärt er sich selbst stets als den
allein Gerechten, den unschuldig Leidenden, den Märtyrer einer guten Sache,
während seine Gegner, die er bis in den höchsten Kreisen sucht, auf das
Gemeinste und Schmählichste beschimpft werden. Sein Vorgehen wird immer
verbissener und einsichtsloser. Das Sachliche tritt immer mehr gegen das
persönlich Gehässige zurück. An Stelle der anfänglichen Gründe treten in der
Folge öde Sophismen.
Mit einer nur dem Wahnsinn möglichen Consequenz bestreitet der Queru-
lant nicht allein das Recht, ihn zu verurtheilen, sondern widerstrebt auch
auf das Hartnäckigste dem Strafvollzuge und widersetzt sich mit Wort und
That den Organen, welche zur Ausführung der Strafe beauftragt sind.
Oft lässt sich der Laie auch jetzt noch täuschen durch die raisonnirende
Dialektik, durch den scheinbaren Scharfsinn, durch die genaue Kenntnis der
Gesetzesparagraphen, welche bei jeder Gelegenheit citirt werden, durch die
Gewandtheit und Schlagfertigkeit in der Führung seiner Sache, bis schliesslich
das tiefgekränkte Rechtsgefühl in erschreckender Weise hervorbricht und zu
einem kriminellen Attentate (Körperverletzung, selbst Tödtung) auf die ver-
meintlichen Bedrücker führt.
Endlich als krank erkannt und in die Irrenanstalt aufgenommen, setzt
der Querulant daselbst seine Kriegführung fort. Anfangs gegen die Vor-
gesetzten entgegenkommend und freundlich, wendet sich, wenn nicht bald die
erhoffte gesundheitliche Freisprechung erfolgt, bald seine rabulistische Rich-
tung gegen Aerzte und Wärter, die er nun in ähnlicher Weise schmäht, ver-
läumdet und intriguirt, weil er, als „voll gesunder" Mann „widerrechtlich"
in der Irrenanstalt zurückgehalten werde. Auch hier kann er in der Folge
höchst gefährliche, oft mit grossem Raffinement ausgesponnene Attentate auf
die Anstaltsbeamten machen. (Die Berichte der Irrenanstalten überliefern uns
manch tragisches Beispiel.)
RACHITIS. S65
Der Verlauf des Querulantenwahnsinns ist ein durchaus chronischer.
Viele Jahre, selbst Jahrzehnte kann der Kranke unentwegt seinen unermüd-
lichen Kampf mit der Justiz verfolgen, bald in der Aussenwelt, bald im Ge-
fängnis, bald im Irrenhause, bis ihn der Tod von der Welt des Kampfes ab-
ruft. Oft tritt aber mit fortschreitendem Lebensalter, namentlich im Beginne
des Senium, der Affect und damit die Kampflust zurück, während die kranken
Vorstellungen zwar im Bewusstsein bleiben, aber nur abgeblasst zur Ent-
äusserung kommen. In seltenen Fällen corrigirt sich selbst nach Jahren die
krankhafte Richtung in solchem Grade, dass die Kranken sich beruhigen und
wieder brauchbar für das Leben werden. In anderen Fällen dagegen ent-
wickelt sich die Krankheit zum ausgesprochenen entweder zur blödsinnigen
Geistesschwäche oder Verfolgungswahnsinn weiter, nicht selten mit Elementen
des Grössenwahnes gemischt, so dass alsdann das vollkommene Bild der Pa-
ranoia zu Tage tritt.
Die Diagnose des Querulantenwahnsinnes, namentlich der originären
Form desselben, kann im ersten Stadium schwer zu stellen sein, weil sich
die Erkrankung stets allmälig entwickelt und ohne scharfen Grenzen aus der
noch physiologischen Eigenart des Individuums herauswächst. Hier kann nur
lange und sorgfältig fortgesetzte Beobachtung die Entscheidung bringen.
Die Prognose ist in der Regel eine ungünstige.
Die Behandlung hat zumeist die einzige Aufgabe, die schwer Erkrankten
durch Aufnahme in die Irrenanstalt unschädlich zu machen und sie daselbst
durch ein entsprechendes Regimen wenigstens einigermaassen zu beruhigen.
KlßJsT,
Rachitis {Rhachitis, englische Krankheit, Zwiewuchs). Die genauere Kennt-
nis dieses Leidens stammt von dem bekannten Werke Glisson's: Tractatus de
rachitide s. morbo puerorum, qui „the rickets" dicitur, London 1650. Der Name
ist entweder von dem angelsächsischen Worte: „Ricq Haufe, Höcker" oder von
pa^is abgeleitet. Beide Bezeichnungen weisen darauf hin, dass die Verkrümmungen,
welche die Wirbelsäule bei dieser Erkrankung erleidet, zuerst die Aufmerk-
samkeit erregt haben. Glisson selbst glaubte, dass die Krankheit erst zu
Anfang des 17. Jahrhunderts aufgetreten sei; es kann aber kein Zweifel darüber
sein, dass sie ebenso lange besteht als das Species homo, vielleicht noch länger,
weil sie auch andere Säugethiere als völlig identische Krankheit befällt.
(Kassowitz) Sie wird in besonderer Häufigkeit in den mittleren Breiten, dem
der gemässigten Zone angehörigem Gebiete von Europa und Nordamerika
angetroffen, während sie nach dem Süden zu rasch abnimmt und merkwür-
diger Weise auch im hohen Norden (Island, Grönland) nur selten vorkommen
soll. Innerhalb dieses Bezirkes sind die grossen Städte ganz besonders heim-
gesucht, jedoch fehlt sie nicht auf dem Lande. Mit der Abnahme der Be-
völkerungsdichte hängt es wohl zusammen, dass die höher gelegenen,
gebirgigen Gegenden weniger betroffen sind als die Tiefebenen. Die Be-
schaffenheit des Untergrundes (Kalkboden, Urgebirge) sowie des Trinkwassers
scheinen ohne besonderen Einfluss.
Die für Rachitis charakteristischen pathologisch anatomischen Veränderungen
finden sich fast ausschliesslich an dem Skelete und zwar an den Stellen des appositionellen
Knochenwachsthums. An der Epiphysenlinie der knorpelig präformirten Röhrenknochen
trifft man eine bedeutende Verbreiterung der Knorpelwucherungszone (Zone des einseitig
■wachsenden Knorpels Kassowitz), welche das 4—5 fache des normalen erreichen kann
und sich durch eine leicht bläuliche Färbung von dem ruhenden Knorpel deutlich abhebt.
Mikroskopisch erkennt man die beträchtlich verlängerten Reihen der Knorpelzellen, die an
Zahl und Grösse vermehrt sind; zwischen denselben die Grundsubstanz auf ein Minimum
reducirt und von zahlreichen, vom Markraum wie vom Periost her eingedrungenen Ge-
fässen durchzogen. Die anstossende Zone des verkalkten Knorpels fehlt stellenweise gänz-
lich, stellenweise ist sie verbreitert. Ebenso unregelmässig ist die Begrenzungslinie der-
selben gegen die Markräume zu. Während diese sonst in einer auf die Längsaxe des
366 EACHITIS.
Knochens senkrechten Geraden abschliessen, bilden sie beim Rachitiker Zacken und Inseln,
die in die Knorpelschicht weit hineinragen. Da endlich wo es zur Eröffnung der Knorpel-
zellensäulen und zur Entstehung von Osteoblasten gekommsn, wird zwar reichlich osteo-
ides Gewebe gebildet, allein die Verkalkung desselben unterbleibt. Gleichzeitig mit dieser
Anbildnng unfertigen Knochens kommt es zu einer vermehrten Resorption des schon frü-
her vorhandenen Knochens. Durch die von Innen her fortschreitende Markraumbildung
kann schliesslich die compacte Substanz bis auf eine dünne Schale verschwinden. Eine ähn-
liche Veränderung erleidet die vom Periost ausgehende Ossification. Auch hier Blut- und
Gefässreichthum, reichliche Wucherung der periostalen Bindegewebsschichten, Ausbleiben
der Verknöcherung in dem von den Osteoblasten neugebildeten Geweben.
Bei der rachitischen Störung der intermembranösen Ossification, wie sie an den Deck-
knochen des Schädels vorkommt, wird neben der verminderten oder fehlenden Kalkabla-
gerung in die neugebildeten Gewebe, das Auftreten von weichen Stellen im Knochen selbst
und an den Rändern sowie besonders reichliche Apposition an den prominenten Stellen
beobachtet. Ueber das Wesen und die Mechanik dieser complicirten Vorgänge ist noch
keine Einigung erzielt. Kassowitz fasst die rachitische Knochenerkrankung als einen auf
die Appositionsstellen localisirten Entzündungsprocess auf und glaubt, dass der damit ver-
bundene Gefässreichthum und die Hyperämie genüge, die verstärkte Wucherung der ossiflci-
renden Gewebe, die abnorme Structur und mangelhafte Verkalkung der neugebildeten
Knochen, die vermehrte Einschmelzung der älteren verkalkten Theile und die aus alle-
dem resultirenden Weichheit und Kalkarmuth der rachitisch afficirten Knochen zu er-
klären.
Die Folgen dieser Vorgänge äussern sich in Aenderung der Form,
der Struktur, der chemischen Zusammensetzung der Knochen. Allen rachi-
tischen Knochen gemeinsam ist der Mangel an anorganischen Salzen, der von
60% normal auf 50— 1 2^0 herab sinken kann.
Die Deckknochen des Schädels erscheinen rauh porös, stellenweise durch-
sichtig und sind so weich, dass sie mit dem Messer ohne Schwierigkeit ge-
schnitten werden können. Die Röhrenknochen sind kürzer, plumper und
zeigen zahlreiche runde und selbst winkelige Krümmungen, die durch die
verminderte Widerstandsfähigkeit derselben gegen die normale Belastung,
gegen geringfügige Traumen, ja selbst gegenüber der Zugwirkung der Muskeln
hervorgebracht sind. Eine fast nie fehlende charakteristische Erscheinung ist
die seitliche Ausbuchtung und Vorwölbung der erweichten Knorpelwucherungs-
schichte, welche den nahe den Gelenkenden, resp. an der Rippenknorpelgrenze
gelegenen Wulst bildet. Infractionen der dünnen Schale von compacter Sub-
stanz an der Diaphyse, Lösung der Epiphyse von der Diaphyse in Folge
Gewalteinwirkung werden nicht selten beobachtet. In den hochgradigsten
Fällen kann der Knochen wie Wachs nach allen Richtungen gebogen werden.
Auch die Gelenkbänder und Sehnen nehmen an dem rachitischen Processe
Theil. Es kommt zu Schlaffheit und abnormer Beweglichkeit der Gelenk-
verbindungen, durch welche die bestehenden Verkrümmungen gesteigert und
das aufrechte Stehen und Gehen der Kinder verhindert wird, auch wenn die
Knochen bereits tragfähig sind. Die Summe all dieser Vorgänge an den
verschiedenen Theilen des Skeletes liefert ein höchst charakteristisches kli-
nisches Bild, das im Nachstehenden skizzirt werden soll.
Der Kopf des Rachitischen erscheint im Vergleiche zu der kurzen gedrungenen
Gestalt relativ gross, wenngleich der Umfang nicht erweitert zu sein braucht. Die Schädel-
kapsel springt über das schmale kleine Gesicht stark gewölbt war, während die Schädel-
decke eher abgeflacht erscheint. Die ausgebauchte Schläfenbeinschuppe, die Stirn- und
Scheitelbeinhöcker treten viel stärker als unter normalem Verhältnissen vor. Das Hinter-
haupt kann ganz abgeflacht sein; auch asymmetrische Schädelbildung wird beobachtet. Bei
Heilung der Rachitis bleibt diese eckige Schädelform (tete carree) bestehen, die Nahtverbin-
dungen der Schädeldecke liegen vertieft zwischen den Höckern. Im vorderen Theile des Schä-
dels nimmt das Verhalten der grossen oder Stirnfontanelle unserere Aufmerksamkeit in An-
spruch. Die Berechnung ihres Flächeninhaltes wird am zweckmässigsten in der Art vor-
genommen, dass man die kürzesten Abstände zwischen je zwei gegenüberliegenden Seiten
des Fontanellenviereckes misst und die gefundenen Werthe mit einander multiplicirt. Man
erhält so für das erste Lebensquartal 1-7 X 17 = 2-S9 qcm als Durchschnittswerth. Bei ganz
normaler Entwicklung verkleinert sich dieselbe continuirlich und ist nach Kassowitz bis
Ende des ersten Lebensjahres spätestens bis 15. Monat geschlossen. Bei Rachitis trifft man
die normal harten Ränder erweicht, den Umfang bedeutend bis zu 5"5^ = 30 qcm ver-
RACHITIS.
367
frössert, wobei dann die Ecken sich in die klaffenden Nahtverbindungen verlieren. Der
erschluss ist beträchtlich bis ins dritte und vierte Lebensjahr hinein verzögert. Diese
verspätete Verknöcherung erfolgt unter Hartwerden und nicht selten ungleichmässiger Appo-
sition der Knochenränder, so dass dabei abnorm gestaltete Hellebarden-, Kartenherz-,
Spaltfonnen der Fontanelle beobachtet werden.
Ausser an der iStirnfontanelle localisirt sich die Rachitis meist auch in dem hinteren
Theile der Schädelkapsel, indem sie circumscripte Erweichungsvorgänge in der Hinter-
hauptsschuppe die sogenannten Craiiiotabes von Elsässer hervorruft. Es bilden sich in
der Umgebung der Lambdanaht sowie besonders häufig in der Umgebung der kleinen
Fontanelle inmitten des sonst harten Knochens weiche Stellen, die sich mit der Finger-
kuppe oft erst unter Ueberwindung eines elastischen Widerstandes eindrücken lassen.
Meist sind auch die Nahtränder erweicht und eindrückbar, während der Hinterhaupts-
höcker davon verschont bleibt. Mit den höheren Graden von Schädelrachitis combinirt
sich ein Klaffen der Nähte, insbesondere der Pfeilnaht und ein Offenbleiben der sonst ge-
schlossenen kleinen und Seitenfontanellen.
Das Gesicht der Rachitiker, das bei ganz jungen Kindern als auffallend klein und
zugespitzt imponirt, erhält später einen unschönen plumpen Ausdruck. Es erscheint eher
in die Breite gezogen und in seiner vorderen Partie wie abgeflacht. Die Jochbeinhöcker
treten stark hervor. Der Unterkiefer ist vorne abgeflacht und geht eckig in die zurück-
reichenden Seitentheile über. Der Oberkiefer ist da, wo sich die Zygomatici ansetzen, ver-
schmälert und schnabelartig nach vorn zugespitzt. So entsteht der rachitische Kieferschluss
(Fleischmakn). Die Entwicklung der Zähne wird durch das Bestehen der Rachitis bis zum
zweiten ja dritten Jahre verzögert;' da wo die Rachitis erst im Verlaufe der Dentition
zum Ausbruch kommt, werden die normalen Intervalle zwischen den Zahngruppen ver-
längert, die Zähne erscheinen einzeln, nicht paarweise, in unregelmässiger Reihenfolge.
Beifolgendes Diagramm gibt eine Uebersicht über die Zeit, in welcher die Milchzähne
erscheinen :
20—24
c'
14—16
c
17—20
b
11
a'
8
a
8
a
11
a'
17—20
b
14—16
c
20 — 24 Lebensmonat
c'
c'
c
b
a'
10
a
7
a
7
a'
10
b
c
c'
20—24
14—16
17—20
17—20
14—16
20 — 24 Lebensmonat
Auch Gestaltveränderungen, Defecte des Schmelzes, Stellungsanomalien der Zähne
werden bei Rachitis beobachtet.
Am Thorax äussert sich die Rachitis in den leichtesten Graden durch die durch die
Haut sichtbare und fühlbare Auftreibung der Rippenknorpelenden, den bekannten rachiti-
schen RosENKRAKZ. Bei höheren Graden findet man auffallend horizontalen Verlauf und Ab-
flachung der Rippen in dem hinteren Theile. Durch das scharfe Abbiegen in der hinteren
Axillarlinie und eine rinnenförmige Einsenkung in der Gegend der Mamillarlinie erscheint
der Briistkorb vertieft und in dem anderen Durchmesser verschmälert. Da wo das Sternum
gleichzeitig kielförmig nach vorne gedrängt ist, spricht man von einem pectus carinatum.
Senkrecht zu der genannten verläuft die dem Ansatz des Zwerchfellmuskels entsprechende
HARRisoN'sche Furche, unterhalb deren die Hypochondrien flügeiförmig nach aussen
hervorgetrieben sind. Diese Veränderungen sind schon deshalb nicht symmetrisch ent-
wickelt, weil auf der linken Seite das der Thoraxrand angelagerte Herz das Einsinken der-
selben gegenüber der rechten Seite erschwert; sie werden in ganz regelloser Weise modifi-
cirt durch die hinzutretenden Krümmungen der Wirbelsäule. Die häufigste Form derselben
ist die rundwinkelige Kyphose im oberen Theile der Lendenwirbelsänle, die eigentlich nur
eine Steigerung der normal vorhandenen vorstellt. Sehr frühzeitig pflegen sich, begünstigt
durch vorwiegendes Tragen der Kinder auf dem rechten Arme, auch seitliche Verkrüm-
mungen und damit Drehung der Wirbelkörper, stärkeres Hervortreten der Rippenansätze
auf der convexen Seite einzustellen. Indem sich entsprechend dieser Vorwölbung die
Rippen derselben Seite vorne abflachen, die der anderen Seite die entgegengesetzte Verlaufs-
richtung annehmen, entsteht der schräg verengte Thorax und der rachitische Buckel. Das
Sternum erscheint bald winkelig, bald gerade nach vorne gerichtet ; die Schlüsselbeine sind
stärker gekrümmt, die Scapulae verdickt, plump, im Uebrigen den Thoi'axkrümmungen
angepasst. Das Becken zeigt entsprechend der Richtung des Druckes eine Verkürzung des
sagittalen Durchmessers, dadurch eine Abflachung an den mittleren, eine winkelige Knickung
an der seitlichen Circumferenz.
Die Extremitäten zeigen in den leichten Graden die wulstartigeAuftreibung in der
Gegend der Gelenkenden, welche die Veranlassung zu der Bezeichnung „Zwiewuchs"
oder „abgesetzte Glieder" gegeben hat; in höheren Graden Krümmungen im Verlauf der
Diaphysen, in höchsten Biegsamkeit gleich einem entkalkten Knochen. Den höchsten Grade
und mannigfaltigsten Formen von Verkrümmungen begegnet man an den unteren Ex-
tremitäten, welche zu früh die Last des Körpers getragen ; dazu kommt noch die Schlaffheit
368 RACHITIS.
der Bandverbindungen, welche abnorme Beweglicbkeit und Stellungen in den Gelenken
erraöglicht. Bekannt ist die Gewohnheit der rachitischen Kinder mit den Zehen zu spielen
und dieselben in den Mund zii stecken. Schlottern des Kniegelenkes bis zur feubluxation
der Tibia nach hinten wird nicht selten beobachtet.
Man nimmt an, dass die Kinder bei Berührung oder Druck auf die rachitisch er-
krankten Skelettheile Schmerz empfinden; doch wird dies von Ritter entschieden in
Abrede gestellt. Sicher ist, wie man aus den Angaben älterer Kinder entnehmen kann,
dass die stärkere Belastung der erkrankten Gelenkkapseln und Bänder als Schmerz
empfunden wird. Wenn der Krankheitsprocess in Folge der abnehmenden Energie des
appositionellen Knochenwachsthums ausheilt, so werden die gerade bestehenden Deformi-
täten fixirt. Auch abgesehen von der Verkrümmung bleiben die Knochen kürzer und
plumper als normal, das Längenmaass des Körpers kann erheblich zurückbleiben, üebrigens
macht sich im späteren Wachsthum ein modellirender Einfluss der Transformation der
Knochen sowie des Muskeldruckes deutlich bemerkbar, der die nicht zu hochgradigen Ver-
krümmungen wieder zum Verschwinden bringt, oder doch bessert. Jedenfalls ist es auf-
fallend, dass man im höheren Lebensalter nur relativ selten den auf Rachitis zurückzu-
führenden Verkrümmungen begegnet, während sie in dem Prädilectionsalter der Rachitis
so häufig sind.
Ausser dem Knochen- und Bandapparate werden auch die anderen
Organ Systeme in höherem und geringerem Grade in Mitleidenschaft ge-
zogen, in erster Linie das Nervensystem. Missstimmung, Unruhe, Schlaf-
losigkeit, Kopfschweisse werden im Beginne der Erkrankung selten vermisst.
Als intercurrente Erkrankung kommt bei Rachitikern Laryngismiis in Form
von anfallsweise auftretender exspiratorischer Apnoe und Glottiskrampf, be-
gleitet von den wichtigsten Symptomen der Tetanie (Teousseau, Facialisphae-
nomen, gesteigerte mechanische und elektrische Erregbarkeit) auch wohl alter-
nirend mit allgemeinen Convulsionen relativ häufig zur Beobachtung. Sehr
viel seltener kommt es auch zur spontanen Tetaniestellung der Hände und
Füsse.
Ich habe seinerzeit auf die Zusammengehörigkeit dieser Symptomen-
gruppe hingewiesen und speciell die Auffassung begründet, wonach der laryn-
gospastische Anfall als eine diesem Lebensalter eigenthümliche Localisation
der tetanischen Contracturen zu betrachten sei. Weitere Beobachtungen auf
meiner Klinik haben gezeigt, dass die meisten der an Laryngismus erkrankten
Kinder sämmtliche oder doch mehrere Symptome der Tetanie aufweisen.
Wenn nun auch diese tetanischen und tetanoiden Zustände mit besonderer
Häufigkeit bei Rachitikern vorkommen, so kann ich mich doch nicht der
Deutung von Kassowitz anschliessen, welche letzterer in der durch die
Hyperämie der Schädelknochen veranlassten Reizung gewisser Bezirke der
Hirnrinde die Ursache des Glottiskrampfes erkennt. Der Umstand, dass es
sich zumeist um leichte rachitische Erkrankungen ohne stärkere Cranio-
tabes handelt, dass die gleichen oder analoge Zustände auch bei Kindern
ohne Rachitis sowie bei Erwachsenen beobachtet werden, der rasche Ablauf
der Erscheinungen u. s. w. weisen darauf hin, dass der Rachitis höchstens
eine stark disponirende Rolle für den Eintritt dieser Symptomgruppe zu-
kommt. Als sehr seltene functionelle Störungen sieht man Nystagmus und
Spasmus nutans auftreten. Der einzige von mir beobachtete Fall litt an
hochgradiger Craniotabes.
In leichten Fällen zeigt die psychische Entwicklung der Kinder
keine Störung; in schweren bleibt sie häufig hinter derjenigen gleichalteriger
Kinder zurück. So trifft man bei vielen derselben auch eine auffallend
wenig empfindliche Geschmacksperception. Es mag dies zum Theil von der
Unbeweglichkeit und der krankhaften Veränderung der Stimmung herrühren,
wodurch die Kinder zahlreicher Anregungen und Bildungsgelegenheiten ent-
behren, zum Theil auch von palpablen Erkrankungen des Hirns, chronischem
Hydrocephalus und der sehr seltenen Hypertrophia cerebri, welche sich zur
Rachitis hinzugesellen können.
Die Respirationsorgane sind häufig, jedoch nicht in specifischer
Weise afficirt; höchstens könnte man die an den eingesunkenen Stellen der
RACHITIS. 369
Thoraxwand entstehenden Atelaktasen als solche bezeichnen. Dieselben können
zum Ausgangspunkte lobulärer, bronchogener Pneumonien werden. Bei der
verminderten Exspiration skraft und den zahlreichen todten Punkten in dem
diliormen Thorax der Rachitikern verlaufen dieselben langsam und neigen zur
Ausbreitung auf die kleinen Bronchien und die Alveolen.
Das Herz ist oft in grösserer Ausdehnung der Thoraxwand angelagert,
auch wohl dislocirt. Leber und Milz, insbesondere letztere, nicht selten ver-
grössert. Sehr grosse Milztumoren sind jedoch sicherlich auf andere ätiolo-
gische Momente (Lues, Anaemia splenica) zu beziehen. Leichte Grade von
Anämie sind bei den meisten rachitischen Kindern vorhanden, insbesondere
da, wo gleichzeitig das Fettgewebe reichlich entwickelt ist. Der Blutbefund
zeigt dabei, abgesehen von einer geringen Vermehrung der Leukocyten, keine
Veränderungen. Nur bei einzelnen schwersten Fällen finden sich die Anzei-
chen einer schweren Alteration der Blutbildung, ähnlich den bei hereditärer
Lues erhobenen Befunden. Auf eine verlangsamte Lymphcirculation deutet
das gedunsene Aussehen vieler Ptachitiker so wie die Anschwellung einzelner
Lymphdrüsengruppen. In diesem Sinne besteht auch eine Beziehung zur tor-
piden Form der Scrophulose, bei der selten die Anzeichen einer noch
bestehenden oder überstandeneu Rachitis vermisst werden.
Im Laufe einer so lange dauernden, den ganzen Organismus in Mit-
leidenschaft ziehenden Erkrankung werden selbstverständlich auch Störungen
im Verdauungstrakte beobachtet. Die fast constante Auftreibung des
Abdomen ist vorzugsweise durch statische Momente bedingt ; doch besteht
eine Neigung zur Atonie der Därme, die sich durch Verstopfung, auch wohl
Magener Weiterung äussert. Dazwischen kommt es wohl auch zu Diarrhoen,
ob dieselben jedoch durch zufällige oder durch besondere der Rachitis eigen-
thümliche Schädlichkeiten (vermehrte Kalkausscheidung in den Darm) hervor-
gerufen werden, ist nicht entschieden. Die Aufnahme und Ausscheidung des
Kalkes im Harn zeigt keine Anomalien gegenüber dem Gesunden (Rudel);
die früher vermuthete stärkere Ausscheidung von Kalk und von Phosphaten
hat sich nicht bestätigt. Die Musculatur ist dürftig entwickelt, namentlich an
den unteren Extremitäten. Das Unterhautfettgewebe ist bei leichten Graden
der Erkrankung oft sehr fettreich, in den schweren Fällen stets geschwun-
den. Besondere Hauterkrankungen werden nicht beobachtet.
Die angeführten Veränderungen am Skelete sind nicht gleichzeitig bei
einem und demselben Patienten vorhanden, sondern lösen sich in einer be-
stimmten Weise ab. Das Gesetz, nachdem dies erfolgt, lautet, dass die
rachitischen Skeletveränderungen sich stets an den Stellen
localisiren, an welchen jew eilig das intensivste Knochen wach s-
th um besteht. Es ist dies im ersten Lebenshalbjahr und schon in den
letzten Fötalmonaten der Schädel, welcher im ersten Lebensjahre seinen Um-
fang um circa 11 cm erweitert. Dementsprechend äussert sich die Rachitis
des frühesten Kindesalters, man kann sagen, ausnahmslos am Schädel, als leich-
teste Form in Erweichung und Erweiterung der Stirnfontanellenränder, meist
aber combinirt mit erweichten Stellen und Nähten am Hinterhaupt. Das
übrige Skelet kann bis auf leichte Auftreibung der Rippenknorpelenden von
rachitischen Veränderungen verschont sein. Schmerzhaftes Schreien bei Be-
rührung, Unruhe, Schlaflosigkeit, Wetzen mit dem Kopf, Obstipation, auch wohl
ein chronischer Darmkatarrh sind die begleitenden Erscheinungen.
Das zweite Semester weist nach Zahl wie Schwere der Krankheits-
fälle eine Steigerung auf. Zu der schweren Schädelrachitis gesellt sich jetzt
das stärkere Ergriffensein des Thorax: Verkrümmungen der Wirbelsäule,
Deformitäten des Thorax durch Einsinken der nachgiebigen Rippentheile.
An den Extremitäten besteht Auftreibung der Epiphysenknorpel und nicht
selten schon jetzt, auch wenn keine Gehversuche gemacht werden, Krüm-
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten, Bd. III. ^4
370 EACHITIS.
mungen im Verlaufe der Piöhrenknochen, Die sclion im ersten Halbjahre
vorhandenen nervösen Erscheinungen sind in gesteigertem Grade yorhanden,
der Kopf häufig geröthet und in Schweiss gebadet. Dazu kommen die durch
die länger dauernde Einwirkung respiratorischer Schädlichkeiten und durch
die Lungenatelektasen begünstigten Bronchitiden. Der Durchbruch der Zähne
unterbleibt, die geistige Entwicklung bleibt zurück.
Das dritte Halbjahr weist die schwersten Formen auf: Knochen-
erweichung bis zur Biegsamkeit der Piöhrenknochen, verbunden mit Infrac-
tionen und hochgradiger Deformität des Thorax, der "Wirbelsäule und der
Extremitäten. Auch die complicirenden Erkrankungen von Seiten des Kespi-
rationstractes, des Nervensystemes {Laryngismus), der Blutbildung (Milztumor)
sind jetzt am häufigsten. Dagegen wird jetzt, mehr noch im 4. Semester, bereits
ein deutlicher Rückgang der Rachitis an den zuerst ergriffenen Stellen bemerk-
bar, in der Art, dass die Craniotabes verschwindet, die Fontanellenränder
hart werden. Dabei kann die Fontanelle sich schliessen oder — und das
ist der weitaus häufigere Fall — offen bleiben unter Umständen bis in das 5.
ja 6. Lebensjahr hinein. Auch die abnorme Apposition an der Stirn und
den Scheitelbeinhöckern kann noch weitergehen und so entsteht dann die eckig
rachitische Kopfform mit vertiefter Lage der Nähte. Im 3. Lebensjahre sind
die leichteren Formen der Rachitis zumeist abgelaufen; es nimmt daher schein-
bar die Zahl der schwereren zumeist mit Deformitäten behafteten Formen zu.
Indess auch hier ist zumeist Stillstand oder beginnende Ausheilung zu con-
statiren. Freilich kann sich der letztere noch bis in das 5. ja 6. Lebensjahr
hinziehen, doch ist dies die Ausnahme, indem mit Abschluss des dritten,
Anfang des vierten Jahres die überwiegende Zahl der Rachitiker bis auf
die zurückgebliebenen Deformitäten geheilt ist.
Während man in früherer Zeit annahm, dass die ersten Lebensmonate
nur ein geringes Percent von Rachitikern aufweisen, haben die genaueren von
Kassowitz angeregten Untersuchungen gezeigt, dass schon unter den im 7.
und 8. Schwangerschaftsmonate sowie unter den am richtigen Termin Gebo-
renen nahezu 80°/o Erscheinungen leichter Rachitis aufweisen. Nach der
Statistik desselben Autors sollen unter den sein Ambulatorium besuchenden
Kindern der ersten 3 Jahre nicht weniger als 89"57o rachitische Erscheinungen
darbieten. Andere Autoren geben etwas niedrigere Zahlen: Seitz (München)
68%, CoHN (Berlin) 65'87o- Die an dem hiesigen Ambulatorium angestellten
Untersuchungen ergeben bei Untersuchung aller vorgestellten Kinder bis
zum abgeschlossenen 4. Lebensjahre in den Jahren 1892 und 1893 (im Ganzen
5950 untersuchte Kinder) 55%. Auf die einzelnen Lebensalter berechnet
erwies sich das Alter von 1 — 1% Jahren mit 79'1987o am höchsten belastet.
Die grössere Frequenz in den Frühjahrsmonaten war bei diesen Erhebungen
nicht deutlich ausgesprochen, wohl aber wenn man nur diejenigen Fälle be-
rücksichtigt, welche ausschliesslich wegen ihres rachitischen Leidens in die
Ambulanz gebracht wurden, welche also die eigentlich schweren Erkrankungs-
fälle darstellen.
Der klinische Verlauf des Einzelfalles ist meist ein exquisit chronischer.
Wahrscheinlich haben viele der jenseits des zweiten Lebensjahres ausheilenden
Fälle schon in den ersten Monaten, vielleicht schon im intrauterinen Leben
begonnen, obgleich mir die von Schwarz angegebenen Procentzahlen über
congenitale Rachitis entschieden zu hoch gegriffen scheinen. Jedenfalls sieht
man eine sehr grosse Zahl von Fällen sich erst im Laufe des 2 — 4. Quar-
tales unter dem Einflüsse ganz bestimmter ätiologischer Momente ent-
wickeln. Dem Erscheinen der Skeletveränderungen soll ein Prodromalsta-
dium vorausgehen, in welchem die Kinder an Unruhe, Kopfsch weissen, Ver-
dauungsstörungen leiden. Die sichere Diagnose der Rachitis ist erst möglich,
wenn die Knochenveränderungen nachweisbar sind. Das symmetrische Auf-
RACHITIS. 371
treten derselben schützt sie vor Verwechslung mit anderen an den Epiphysen-
linien localisirten Erkrankungen. Die Intensität des Leidens zeigt in der
Regel eine Steigerung bis Mitte oder Ende des zweiten Jahres, dann ein lang-
sames Abklingen. Indes kommen sicher auch viele der leichten im Laufe des
ersten Jahres entstehenden Kachitisfälle in diesem oder im nächstem Jahre
zur Ausheilung. Wie bei diesen die Extremitätenrachitis nur schwach aus-
gesprochen ist, so kann umgekehrt die Schädelrachitis fehlen bei Kindern die
erst jenseits des ersten Lebensjahres an Rachitis erkranken. Ja die Rachitis
kann namentlich im Anschluss an intercurrente Krankheiten auch noch später
einsetzen, nachdem die Kinder bereits Stehen und Gehen erlernt hatten.
Von grösster Wichtigkeit ist es im Verlauf des einzelnen Falles den anstei-
genden und den absteigenden Schenkel zu unterscheiden. Die progressive
Phase ist ausgezeichnet durch die gesetzmässige Reihenfolge, in welcher die
einzelnen Skelettheile befallen werden, durch die Häufigkeit der complicirenden
Erkrankungen, durch die Schmerzhaftigkeit und namentlich die elastisch-
weiche Consistenz der Knochenauftreibungen, so dass man beispielsweise bei
Druck auf einzelne Enden der Unterarmknochen das Gefühl eines federnden
Widerstandes erhält (Raudnitz). Schickt sich der Process zur Heilung an,
so wird dies zuerst in der Erhärtung dieser Stellen sowie der etwa noch vor-
handenen Lücken des Hinterhauptes bemerkt, während bis zum Verschwinden
der Wülste, zum Schluss der Fontanelle, zur Gebrauchsfähigkeit der unteren
Extremitäten noch Monate vergehen können.
Die Erforschung derjenigen Schädlichkeiten, welche diese Er-
krankunghervorrufen, bietet gerade wegen der enormen Verbreitung und
der langsamen, allmähllgen Entwicklung derselben besondere Schwierigkeiten.
Die geographische Vertheilung weist darauf hin, dass das Klima und zwar
das feuchtkalte, mit häufigem Witterungswechsel verbundene die Entstehung
der Rachitis begünstigt; vielleicht aber nur in dem Sinne, als damit eine
niedere dumpfe Bauart der Wohnräume, das enge Zusammenleben vieler
Menschen und der lange Aufenthalt der Kinder in dieser mit Rauch und
schädlichen Gasen erfüllten Athmosphäre verbunden ist. Jedenfalls sind un-
günstige, hygienische Wohnungsverhältnisse, die respiratorischen Noxen
von Kassowitz in erster Linie geeignet, die Intensität der Krankheit zu stei-
gern. Man erkennt dies daran, dass die zahlreichsten und schwersten Raclii-
tisfälle unter der in schlechten Wohnungen zusammengedrängten Fabriksbe-
völkerung grosser Städte gefunden werden, während die an demselben Orte
in guten socialen Verhältnissen lebenden Bevölkerunggclassen sehr viel we-
niger darunter zu leiden haben; dass ferner die Zahl der schweren Formen
im Laufe der kalten Jahreszeit, welche die Kinder in die engen oft überhitzten
Wohnräume bannt, zunimmt und in den Frühjahrsmonaten ihr Jahresmaximum
erreicht, während die warmen Sommermonate einen unverkennbaren Rückgang
der Zahl und Schwere der Fälle erkennen lassen. Dieses constante, auch an
der Grazer Poliklinik nachw^eisbare Verhalten spricht, wie Kassowitz her-
vorhebt, gegen die Annahme, dass den gerade im Sommer so häufigen und
schweren Verdauungsstörungen eine besondere Rolle in der Aetiologie der
Rachitis zukommt. Die vorzüglichste Brustnahrung vermag nicht vor Rachitis
zu schützen, wenngleich dieselbe in diesen Fällen entsprechend der sorgfäl-
tigeren Pflege, welcher sich solche Kinder zu erfreuen haben, meist nur ge-
ringe Grade erreicht. Indess soll damit die Bedeutung anderer die Entstehung
der Rachitis begünstigender Factoren: einer quantitativ und qualitativ unge-
nügenden Nahrung, fehlerhafter künstlicher Ernährung, Kalk- oder Fett-
mangel der Kost, länger dauernde Verdauungsstörung, schlechte Resorption
etc. nicht in Abrede gestellt werden.
Eine dritte Reihe von Ursachen liegt in gewissen acuten und chronischen
Erkrankungen des Kindesalters, insbesondere der hereditären Syphilis, welche
2i*
372 EACHITIS.
fast constant mit rachitischen Erscheinungen einhergeht, die indes selten einen
sehr hohen Grad erreichen. Das Verhältnis der Rachitis zu der so häufig
dieselbe begleitenden Anämie ist noch nicht genügend klargelegt. Kinder,
deren Eltern rachitisch oder sonst in ihrer Gesundheit geschwächt waren,
frühgeborene oder sonst weniger widerstandsfähige Kinder erkranken häufiger
als andere. Auffallenderweise bleiben die an Visceraltuberkulose erkrankten
Säuglinge trotz hochgradiger Abmagerung von derselben verschont.
Ebenso unbestimmt wie die ursächlichen Momente sind die Vorstellungen,
welche wir bis heute über das Wesen der Rachitis besitzen. Das Aus-
bleiben der Verkalkung an den Ossificationsstellen trotz reichlich gebildeten
osteoiden Gewebes musste zunächst auf den Gedanken führen, dass hier zu
wenig Kalk zugeführt werde, dass eine Kalkarmuth der Gewebe bestehe.
Wenngleich nun durch die Experimente von E. Voit festgestellt wurde,
dass ungenügende Kalkzufuhr in der Nahrung bei wachsenden Thieren in
der That rachitische Veränderungen der Knochen hervorzurufen vermag,
so dürften doch solche Verhältnisse bei der Entstehung der gewöhnlichen
Rachitisfälle kaum jemals im Spiele sein. Auch die Annahme, dass zwar
der Kalk in genügender Menge in der Nahrung enthalten, dass dagegen die
Resorption desselben in Folge von Verdauungsstörungen oder Mangel an Ver-
dauungssalzsäure behindert sei, ist nicht stichhältig; noch weniger die An-
nahme, dass eine von den Verdauungswegen her aufgenommen Säure (Milch-
säure) im Blute circuliren und die Ablagerung des Kalkes verhindern könne.
Nach Brubachee ergibt die chemische Untersuchung, dass, abgesehen vom
Skelete die übrigen Organe bei Rachitis einen normalen, ja sogar vermehrten
Kalkgehalt aufweisen.
Das an ein bestimmtes Lebensalter gebundene Vorkommen und die lange
Dauer der Erkrankung, der Wechsel der klinischen Erscheinungen, die Be-
theiligung fast aller Organsysteme weisen darauf hin, dass man es hier mit
einer echten Allgemeinerkrankung, mit einer Anomalie des gesammten Stoff-
wechsels zu thun hat, in deren Verlaufe es zu besonders hervorstechenden
Symptomen seitens des Skeletes kommt. Kassov^^itz sucht dieser Auf-
fassung gerecht zu werden, indem er annimmt, dass durch die oben angeführten
respiratorischen, nutritiven, infectiösen Schädlichkeiten eine „reizende" Be-
schaffenheit der Körpersäfte herbeigeführt werde. Während nun die übrigen
Gewebe des Körpers nicht oder nur in sehr viel geringerem Grade darauf
reagiren, soll an den gerade im Zustande des lebhaftesten Wachsthumes
befindlichen und deshalb sehr vulnerabeln Appositionsstellen des Kno-
chens ein localer Entzündungszustand hervorgerufen werden, der zu den
früher beschriebenen Veränderungen führt. Pommek dagegen denkt an eine
durch Störung und Hemmung der Spaltungs- und Oxydationsvorgänge
herbeigeführte, saure Dyskrasie, wodurch eine verminderte Alkalescenz des
Blutes und dadurch behinderte Ablagerung der Kalksalze herbeigeführt wird.
Die Ursache dieser Stoffwechselanomalie sieht Pommer in primär sich ent-
wickelnden abnormen Vorgängen im Nervensystem; jedoch zeigen die neuesten
Erfahrungen auf dem Gebiete der Stoffwechsellehre, dass man auch noch
an andere Möglichkeiten denken kann.
Es sei noch einiger Zustände kurz Erwähnung gethan, die theils mit, theils ohne
Berechtigung mit der Rachitis in Verbindung gebracht wurden. Der letztere Fall trifft zu
für die sogenannte fötale Puachitis. Man hat mit diesem Namen eine während des
intrauterinen Lebens auftretende Erkrankung belegt, welche durch starke Behinderung des
Längenwachsthums durch mangelhafte Ossification an den Fugenknorpeln, myxödematösen
Zustand der Haut und häufig auch durch Anomalien der Schilddrüse charakterisirt ist
(Kauffmann). Wahrscheinlich ist ein Theil der Fälle mit dem Cretinismus identisch, jeden-
falls aber hat sie mit der Rachitis nicht das mindeste zu thun. Dagegen steht die rachi-
tische Skeleterkrankung jedenfalls in inniger Beziehung zu der als BARLOw'sche Krank-
heit bezeichneten Form der hämorrhagischen Diathese, die man früher auch als akute
Rachitis bezeichnete (siehe Bd. I. Int. Med. S. 150).
RACHITIS. 373
Rehn hat auf Grund der von Reckunghausen ausgeführten mikroskopischen Unter-
suchung einen Fall, in welchem bei einem 13 Monate alten Kinde bei nur massiger Ver-
dickung der Fugenknorpel eine auffallende Schmerzhaftigkeit, Erweichung und Biegsamkeit
der Röhrenknochen, starke Schweisse, Milzschwellang und Albuminurie vor handen waren,
als infantile Osteomalacie bezeichnet. Ich hatte Gelegenheit, einen ganz ähn-
lichen Fall zu beobachten, der sich jedoch bei genauester Untersuchung als hochgradige
Rachitis herausstellte. Eher könnte man bei den als Rachitis tarda bezeichneten
Fällen von einer Mischform dieser beiden Erkrankungen sprechen. Ich hatte Gelegenheit
zwei Fälle dieser seltenen Erkrankung zu sehen. Bei dem letzt beobachteten Falle war
die Patientin bis zu ihrem 10. Lebensjahre herumgegangen. Bei der Aufnahme ins Spital
im 11. Lebensjahre bestanden die Erscheinungen einer floriden Rachitis. In neuerer Zeit
huldigt man übrigens auch auf Grund der histologischen Untersuchungen vielfach der An-
sicht, dass die beiden Krankheitsprocesse ihrem Wesen nach identisch und nur in der Locali-
sation und den klinischen Erscheinungen verschieden seien. Endlich sind gewisse im Adoles-
centenalter auftretende Störungen des Knochenwachsthums, das Genu valgum und varum
(Mikulicz), die sogenannte habituelle Skoliose (Rupprecht) als localisirte Rachitis der Femur-
epiphyse, resp. der Wirbelkörper gedeutet worden.
Die Dauer der Erkrankung lässt sich nicht bestimmt angeben. Art
der Ernährung, sociale Verhältnisse, Jahreszeit sind darauf von Einfluss.
Leichte Formen können in wenigen Monaten ablaufen; jedoch auch die
schwersten pflegen im 3 — 6. Lebensjahre zur Ausheilung zu kommen.
Freilich ist dieser lange Bestand der Krankheit, insbesondere der schweren
Formen derselben mit nicht unerheblichen Gefahren für das Leben des Pa-
tienten verknüpft. Die Kinder sind weniger widerstandsfähig, neigen zu ner-
vösen Complicationen, zu Bronchial- und zu Darmkatarrhen, zu scrophulöser
Diathese. Die Zahl derer, die an Spasmus glottidis, an Hydrocephalus, an
Bronchitis capillaris, Bronchopneumonie, Verdauungsstörungen indirect an den
Folgen der Rachitis zu Grunde gehen, ist eine recht erhebliche, w^enngleich
sie sich nicht gut in Procenten ausdrücken lässt. Einzelne besonders hoch-
gradige Fälle erliegen aber sicherlich auch den direct durch die Dyskrasie
gesetzten Organveränderungen.
Am wirksamsten ist bei dieser Erkrankung die Prophylaxe. Sorge
für gute Ernährung, frische Luft, richtige Hautpflege, Aufenthalt im Freien
werden in den allermeisten Fällen im Stande sein den Ausbruch der Rachitis
zu verhüten oder w^enigstens das Leiden nicht über die ersten Anfänge hin-
auskommen zu lassen. Da wo dieselben beobachtet werden, ist nachdrück-
lichst auf die Besserung der hygienischen Verhältnisse zu dringen. Sehr
günstig wirkt ein Landaufenthalt, besser noch die Seeküste, wenn dort gute
Milch und die Bedingungen zum ausgiebigen Aufenthalt im Freien gegeben
sind. Diese Maassnahmen werden unterstützt durch 2% Salzbäder aus Soole,
Mutterlauge, gewärmtem Meerwasser, bei armen Patienten aus Viehsalz
bereitet; Malz-, aromatische Bäder etc. Für reichliche Fettzufuhr in der
Ernährung (Milch, Butter) sowie Regelung der Verdauung ist Sorge zu tra-
gen. Auch allzulange fortgesetztes Stillen soll die Entstehung der Rachitis
befördern.
An inneren Mitteln steht der Leberthran obenan, der auch kleinen
Kindern in der Menge von 1 — 2 Kinderlöffel voll nach der Mahlzeit gegeben
werden kann. Manchmal kann man den bestehenden Widerwillen des Kindes
überwinden, indem man denselben der stark gezuckerten Milch zumischt.
Freilich wird man trotzdem oft genug wegen Störung des Appetites oder
Diarrhöen von der Darreichung desselben absehen müssen; namentlich in der
warmen Jahreszeit. Ersatzmittel freilich unvollständige sind Lipanin und Rahm-
Malzextract conserve (Löpflund). Der dringenden Empfehlung Kassowitz fol-
gend ward dem Leberthran jetzt zumeist Phosphor O'Ol auf 100 zugesetzt. Davon
soll 1, später 2 Kaffeelöffel pro Tag genommen iverden, so dass die Flasche in
10 Tagen geleert ist. Die Wirkung dieser kleinsten Dosen besteht, nach den
von Kassowitz wiederholten WEGNER'schen Versuchen darin, dass bei den
mit Phosphor gefütterten Kaninchen eine abnorme Verdichtung des Knochens
374 RADIALIS-LÄHMUNG.
ZU Stande kommt, die in letzter Linie auf Hemmung der Gefässbildung und
Gefässentwicklung zurückzuführen sei. Indem Kassowitz annimmt, dass
sämmtliche Erscheinungen an dem rachitischen Skelete aus einer krankhaft
gesteigerten Vascularisation der osteogenen Gewebe hervorgehen, schreibt er
dem Phosphor den Werth eines specifischen Heilmittels gegen Rachitis zu.
Er berichtet über glänzende Heilresultate und solche werden auch von an-
derer Seite bestätigt. Insbesondere hat man die günstige Wirkung gegen die
auf rachitischer Grundlage entstandenen nervösen Erkrankungen (Spasmus
glottidis) gerühmt. Ich selbst verwende seit Jahren den Phosphorleberthran
mit gutem Erfolge in der Behandlung der Rachitis, ohne dass ich mich bis
jetzt von der specifischen Wirksamkeit des Phosphors überzeugen konnte. Da
wo dieses Medikament nicht ertragen wird, reicht man den Phosphor in einer
Emulsion mit Oleum amygdal. dulc.
An anderen Mitteln sind höchstens noch Eisenpräparate {Tr. ferri pomat ;
Tr. amara ää) in Gebrauch, bei vorherrschenden anämischen Symptomen, anti-
luetische Behandlung, wo Syphilis als ätiologisches Moment mitspielt. Da wo
all diese Mittel nicht ertragen werden, kann insbesondere in Fällen zurück-
gehender Rachitis immer noch Calcaria phosphorica mit Zucker zu gleichen
Theilen auch wohl mit Ferrum hydrogenio reductum gemengt nach Vierordt
besser Calcar. carbon. in Dosen von 0,5 gr mehrmals täglich gegeben werden,
dazu fettreiche Kost.
Die Verhütung und Behandlung der Complicationen und der Verkrüm-
mungen erfordert besondere Sorgfalt. Die Kinder müssen auf horizontaler
harter Unterlage schlafen und getragen, Sitzen und Stehen nach Möglich-
keit verhütet werden. Die Besserung der entstandenen Deformitäten ist um
so leichter möglich, je frühzeitiger und energischer sie in Angriff genommen
wird. Im Uebrigen sei auf die einschlägigen Stichworte dieses Werkes
verwiesen. escherich.
Radialis-Lähmung. Die Radialis -Lähmung kommt ebenso wie
Ulnaris- und Medianus-Lähmung vor als Theilerscheinung der Plexus-Lähmung,
der sogenannten Entbindungs-Lähmung "^■) u. s.w. Auch isolirt ist sie eine
der am häufigsten vorkommenden Lähmungen der oberen Ex-
tremität, so dass E. Remak sie unter 242 Fällen 105 mal vorfand. Daraus
kann man auf eine verhältnismässig leichte Verletzbarkeit dieses Nerven
schliessen; und das ist in der That der Fall.
Die sogenannte „Umschlagsstelle" des Radialis am Oberarm ist am
allermeisten einem Druck, Stoss, Hieb und auch Erkältungen ausgesetzt. Nicht
immer beantwortet der Nerv solche Schädigungen mit einer Aufgabe der
Function; es scheint vielmehr eine Disposition dazu zu gehören, welche ins-
besondere durch reichlichen Alkoholgenuss geshaffen wird. Daher beobachtet
man Radialis-Lähmungen am allerhäufigsten bei Säufern, deren Nerven über-
haupt nicht mehr intact waren. Aber auffallend ist es doch, dass diese Läh-
mungen meist während des Schlafes entstehen (daher der Name ^.Schlaf -
lähmung'^), so dass durch den Schlaf die Disposition zur Lähmung, sei es
durch Druck auf einer Tisch- oder Bettkante, sei es durch Erkältung (schlafen
auf feuchtem Erdboden, neben nasser Wäsche etc.) noch erhöht zu werden
scheint. Freilich gibt es auch genug Fälle, die im wachen Zustand ent-
standen sind, bei denen Krückendruck {Krückenlähmung), der Druck eines scharf-
kantigen schweren Packetes, welches unter dem Arm getragen wurde, u. s. w.
solche Lähmungen erzeugt haben. Ich selber sah eine doppelseitige Radialis-
lähmung bei einem jungen Menschen, welcher bei einer Bubo-Incision auf
einem sehr schmalen Tische liegend denselben mit beiden Armen umklam-
mert gehalten hatte.
*) Vergl. Artikel j,PlexHslcihmtmg in ds. Bd."
RADIALIS-LÄHMUNG. 375
Feste Verbände, Gummischläuche zur Erzeugung der künstlichen Blut-
leere um den Arm gelegt, Armfesseln bei Verbrechern hat man als Ursache
dafür gesehen. Selbstverständlich können Verwundungen durch Stoss-, Hieb-
und Schusswaffen, sowie Stösse mit stumpfen Gegenständen u. s. w. ebenfalls
dazu führen.
Von den Muskeln, deren Function mit der Lähmung des Nerv, ra-
dialis erlischt, ist zunächst der Triceps zu nennen, welcher den Unterarm
streckt; ein Theil desselben, der sogenannte Änconaeus IV, hat die wichtige
Aufgabe, durch Anspannung der Ellbogen-Gelenks-Kapsel dieselbe vor Ein-
klemmung zu schützen. Selten erfolgt indessen die Verletzung so hoch, dass
noch der den Triceps versorgende Zweig mitgetrofien wird.
Bei dem gewöhnlichen und häufigsten Bilde der Kadialis-Lähmung ist
der Triceps unversehrt, da die Läsion des Nerven meist an der sogenannten
Umschlagsstelle, zwischen Supinator lougus und Brachialis internus erfolgt.
Dann sind also sämmtliche Extensoren am Unterarm gelähmt. Die
Hand hängt schlaff herab, und es ist unmöglich, sie im Handgelenk zu er-
heben und die Finger zu strecken. Wird jedoch die Hand mit dem Unter-
arm in gleiches Niveau gebracht und besonders in den ersten Phalangen
unterstützt, so können die Interossei und Lumbricales in Thätigkeit treten
und eine Streckung der H. und IE. Phalanx ausführen. Die Lähmung des
Äbdudor pollicis longus verhindert die zu Greifbewegungen nothwendige Ent-
fernung des Daumens von den Fingern.
Extensor carpi radialis und ulnaris verhindern, wenn sie gelähmt, die
Extension der Hand nach der radialen bezw. ulnaren Seite hin (Abduction
bezw. Adduction der Hand), ein Ausfall, der im Verhältnis zu der fehlenden
Extension der Hand überhaupt weniger in Betracht kommt.
Sehr wichtig ist die mit einer traumatischen Kadialis-Lähmung stets
verbundene Lähmung der Supinatoren. Der Muse, supinator longus vermag
nur den Unterarm gegen den Oberarm zu beugen, verdient also seinen Namen
eigentlich nicht; der Supinator hrevis dagegen, welcher von hinten her weit
um den Radius herumgreift (Brösike), ist ein kräftiger Supinator. Daraus
ersieht man, welche Functionen bei der Supinatoren-Lähmung ausfallen müssen.
Es ist bekannt, dass die Bleilähmung die Supinatoren intact zu lassen pflegt.
Sehr anschaulich werden diese Verhältnisse durch die elektro dia-
gnostische Untersuchung der Nerven und Muskeln, wenn man Gelegen-
heit hat, die gesunde Seite mit der kranken zu vergleichen. Hier beim fara-
dischen und bei genügend starkem galvanischen Strom die prompte Streckung
der Hand und der Finger bei Reizung des Radialis in seinem motorischen
Punkte oder der Extensoren ein wenig unterhalb ihres Ursprunges, die Ab-
duction des Daumens, die prompte Supination bei Reizung der betreffenden
Muskeln, • — auf der gelähmten Seite Verminderung oder Ausfall der Be-
wegung.
Die Sensibilität ist vermindert oder erloschen auf der Rückseite des
Unterarmes, in den l^j^ ersten Fingern (nur bis zur I Phalanx^ und in dem
entsprechenden Theil der Rückseite der Hand.
Trophische Störungen der Haut und Muskeln finden sich in allen
schwereren Fällen.
Was die Therapie der Radialis-Lähmung anlangt, so ist es, abgesehen
von den nach einer Verletzung nothwendigen chirurgischen Eingriffen, welche
die Reinigung der Wunde, Herausziehen von Knochensplittern oder Fremd-
körpern erheischen, bei einer Continuitätstrennung des Nerven zweckmässig, die
getrennten Nervenenden durch eine Naht zu vereinigen. Die Erfahrung hat
gezeigt, dass dann das Zusammenwachsen der Endstücke und die Wieder-
herstellung der Function schneller von statten geht, als wenn man den Process
dem natürlichen Gang der Dinge überlässt.
376 EAYNAÜD'SCHE KRANKHEIT.
Bei Quetschungen des Nerven, z. B. nach Luxationen, mache man sich
in den ersten Tagen nach der Verletzung so wenig wie möglich zu schaffen,
sondern versuche nur durch die feuchte Wärme von Wasser-, Brei- oder
Kräuter-Umschlägen die öfters sehr heftigen Schmerzen zu mildern, wodurch
gleichzeitig für die Belebung der Circulation der erkrankten Theile treiflich
gesorgt wird. Keinesfalls darf man den Patienten einem Laienmasseur über-
geben, der in roher Weise die feinen Störungen zu groben Verletzungen
macht. Am 5. bis 8. Tage beginnt man mit der Galvanisation und führe sie
so aus, dass man die Kathode auf die vermuthlich gedrückte oder gequetschte
Stelle setzt und 6 — 8 Milliampere einschaltet, um dann später die labile
Galvanisation anzuschliessen, oder man bediene sich meiner Methode, indem
man statt 6—8 Milliampere nur 0,2 bis 0,5 Milliampere nimmt und im übrigen
so verfährt wie dort; freilich pflege ich die Sitzungsdauer nur in den sel-
tensten Fällen über 2 Minuten auszudehnen und bin mit meinen Resultaten
überaus zufrieden. Im allgemeinen geht die elektrotherapeutische Richtung
eher dahin, zu kleine als zu grosse Dosen Elektricität anzuwenden, weil man
mit den letzteren üble Erfahrungen gemacht hat, — und ich denke, man thut
Recht daran. Sperling.
Raynaud'SChe Krankheit. Raynaud hat im Jahre 1862 ein Krank-
heitsbild beschrieben, von deren wesentlichsten Merkmalen er angibt, dass
der Process in drei Etappen ablaufe, die als locale Asphyxie (Hem-
mung des Blutzuflusses zu einem peripheren Körpertheile, gekennzeichnet durch
livide Hautverfärbung), locale Synkope (Anfälle vollständiger Blutleere mit
hochgradigen Schmerzparoxysmen verbunden) und Gangraen der befallenen
Theile verlaufen.
Von anderen Autoren sind, wie aus der von Morgan in der Lancet
1889 gegebenen Zusammenstellung von 93 Fällen ersichtlich ist, als Raynaud-
sche Krankheit verschiedene Arten von symmetrischer und auch einseitiger
Gangrän beschrieben worden, welche den von Raynaud aufgestellten Merk-
malen nicht entsprechen. So kommt die periphere Gangrän als Symptom
von Hirn- und Rückenmarkskrankheiten vor. Häufig wurde sie bei
Hysterischen beobachtet.
Die sogenannte hysterische Gangrän ist von der RAYNAuo'schen Krankheit
vollkommen zu trennen. Bei Hysterischen kommen circumscripte Gangränherde vor, welche
entweder ganz spontan entstehen oder oft durch eine geringfügige Verletzung (Stich, Schnitt)
veranlasst werden. Derartige Gangränstellen können heilen, zeigen aber häufig Neigung
zur E.ecidive. Allgemeine hysterische Stigmata und der Erfolg einer eventuellen Sugge-
stionstherapie sichern die Diagnose. So gelang es z. B. Singer in einem Falle von hyste-
rischer Spontangangrän am Vorderarm durch Auflegen eines Metallplättchens die voll-
ständige Verheilung der bisher allen, sonstigen therapeutischen Mitteln trotzenden Gan-
gränwunde zu erzielen. Anderseits gibt es aber unzweifelhaft Fälle von hysterischen Gan-
grän, die durch Selbstbeschädigung der Kranken zu Stande kommen. Solche
Fälle sind von Calcot Fox (1883), Footner (1883), Schimmelbusch (1892), Strümpell (1893),
Narath (1895) mitgetheilt worden. In den Fällen Narath's handelt es sich das einemal
um ein Artefact mittels Schweinfurtergrün, das zweitemal mittels Laugenstein.
Der Terminus „Symmetrische Gangrän" ist keineswegs mit RAYNAUD'scher
Krankheit identisch. Nach Kornfeld's passender Definition ist als sym-
metrische Gangrän jener symmetrisch auftretender Brand (localer Gewebstod)
zu bezeichnen, dessen directe Abhängigkeit von Nerveneinflüssen nachweisbar
ist. Als solche gelten 1. Erkrankungen der peripheren Nerven, 2. Erkran-
kungen des Centralnervensystems, 3. Functionelle Nervenkrankheiten (Neu-
rosen). Die PtAYNAUD'sche Krankheit ist eine specielle Form der symme-
trischen Gangrän und ist höchst wahrscheinlich eine Erkrankung klein-
ster, peripherer Gefässe und der sie versorgender Nerven, wo-
bei es freilich bisher nicht sicher entschieden ist, ob die Gefässe oder
die Nervenerkrankung das Primäreist. Der Standpunkt Calmann's,
der eine primäre Gefässerkrankung als Ursache der PtAYNAUD'schen Krankheit
KECTÜM-CARCINOM. 377
nicht gelten lassen will, ist wohl nicht haltbar, es müsste denn eine Reihe
von Fällen, insbesondere ein Fall von Thiersch als „Raynaud" nicht aner-
kannt werden dürfen, während der letztere gerade den typischen Verlauf
dieses Symptomenconiplexes zeigt.
„Zunächst stellten sich etwa 14 Tage lang ziemlich heftige Schmerzen in der
Zehenkuppe ein; alsdann erliielt die betroffene Stelle ein marmorirtes Aussehen und
schwoll etwas an. In diesem 2. Stadium nun traten merkwürdige Anfälle auf. Während die
ganze Zehe, nicht nur die Kuppe plötzlich blutleer wurde und in Folge dessen ganz
weiss erschien, erreichten die beständigen Schmerzen eine furchtbare Höhe. Sie waren
während dieser Zeit durch kein Narkoticum zu lindern und standen gewiss hinter keinen
sonstigen Schmerzanfällen zurück. . . . Hatte dieser furchtbare Zustand etwa zehn Minuten
gedauert, so begann sich die Zehe wieder mit Blut zu füllen, nahm aber nun ein tief cya no-
tisches Aussehen an. Nach ein paar Tagen der Ruhe setzte der zweite Anfall ein mit
dem gleichen Verlaufe wie der erste und so gieng es einige Wochen weiter, zwischen jedem
Anfall einige Wochen Pause. Alsdann Hessen die Schmerzen nach und es begannen sich
in dem einen, dem 3. Stadium, an der Kuppe Bläschen zu bilden; die Bläschen
trockneten ein, die Haut verfärbte sich vollständig schwarz und wurde
gangränös. Ganz allmälig begrenzte sich die Gangrän, die Weichtheile fielen in Aus-
dehnung von etwa Bohnengrösse ab, ein kleiner Knochensequester kam zum Vorschein,
der sich ebenfalls löste; dann heilte die Haut über der Wunde wieder rasch zu, es bildete
sich eine starke Hornschichte und der Process war abgelaufen. Im Ganzen hatte er, von
Beginn der Schmerzen an gerechnet, 2 — 3 Monate gedauert. In ähnlicher Weise wurden
die beiden anderen Zehen befallen, nur dass die gangränöse Parthie weniger umfangreich
war ... in ähnlicher Weise wurden im Laufe der nächsten Jahre sämmtliche Zehen
beider Füsse befallen." Der Patient starb plötzlich unter den Zeichen eines apoplec-
tischen Insultes. Die Obduction ergab als Ursache der Gehirnblutung und der peripheren
Gangrän eine hochgradige, arterioscierotische Veränderung sämmtlicher Gefässe.
Um eine Differenzirung von ähnlichen Formen von Gangrän (v. o.)
zu ermöglichen, muss man daran festhalten, nur jene Fälle als RAYNAUo'sche
Krankheit zu bezeichnen, welche das eben geschilderte Krankheitsbild zeigen.
Bemerkenswerth ist ein Fall von Krisowski, in dem bei einem zweijährigen
Kinde, bei dem die typischen Erscheinungen der RAVNAUü'schen Krankheit
an den Ohrmuscheln zu beobachten waren (hochgradige Blutleere, livide Ver-
färbung, gangränescirende Blasenbildung). Die Ursache der Erkrankung war
nämlich hereditäre Lues und sistirte in der That auf antiluetische Behandlung.
Wie in diesem Falle, so ist auch in anderen Fällen von RATNAuo'scher
Krankheit eine Ar terienerk rankung als die unmittelbare Ursache der
Gangrän anzusehen. Die Erscheinungen des Angiospasmus ist durch eine
von den peripheren Gefässnerven ausgehende Reizung des Vasomo-
torencentrums in der Medulla zu erklären. w.
Rectum -Carcinom. Das Carcinom des Rectums hat unter allen Darm-
carcinomen die häufigste Frequenz. Sein Lieblingssitz ist die Uebergangsstelle
zur Flexura sigmoidea, noch häufiger die Flexur selbst. Die pathologische
Anatomie der Darmcarcinome einschliesslich des Rectumcarcinoms ist im
Artikel ^^Neubildungen innerer Organe^'' handelt. Die Therapie wird in der
Disciplin ,,Chirurgie'^ dieses Sammelwerkes ausführlich behandelt werden. Es
erübrigt also die Symptomatologie und Diagnose des Rectumcarci-
noms und anhangsweise die der Colon- und Duodenalcarcinome zu besprechen.
Das Rectumcarcinom beginnt gewöhnlich mit Stuhlbeschwerden
und brennenden Schmerzen im Rectum, sowohl beim Stehen, wie bei an-
haltendem Sitzen, vorwiegend aber bei der Defäcation; sind diese Schmerzen
anfangs nur zeitweise, so bestehen sie später continuirlich und strahlen schon
frühzeitig auf die Nachbarschaft, auf das Kreuzbein, die Genitalien, die Ober-
schenkel, den Verlauf des Nervus ischiadicus aus. Periphere Lymphdrüsen in
den Leisten sind schon frühzeitig geschwellt. Häufig ist förmlicher Tenesmus
ani ausgebildet; dieses heftigen Schmerzes wegen pflegen die Kranken die
Stuhlentleerung möglichst lange aufzuhalten, was schliesslich die Schmerzen
selbst ungemein steigert, weil dadurch eine stärkere Kothanhäufung stattfindet;
die Kothanhäufung gibt den Reiz ab zu entzündlichen Vorgängen auf der
378 RECTUM-CAECINOM.
Darmschleimhaut und Geschwürsbildungen; auch verbindet sich die Koth-
stauung mit der Wirkung des Carcinoms in der Behinderung des venösen
BlutabÜusses, so dass die Mastdarmvenen prall gefüllt sind, varicös schwellen
und Hämorrhoiden bilden, w^elche ihrerseits ein neues Hindernis und neuen
Schmerz für die Defäcation bilden. Frühzeitig mischt sich zu der Stuhlent-
leerung blutige, eitrige Flüssigkeit, durch die Reizung der Mastdarmschleim-
haut treten nicht selten hartnäckige Diarrhoen auf. Schreitet der Mastdarm-
krebs vor, so tritt eine völlige Parese des Sphincter an i ein; es fliesst
dann eine dünne, blutige, braune, sehleimig-eitrige, jauchige Masse aus dem
halbgeöffneten After fortwährend heraus, so dass die Umgebung des Anus
stetig verunreinigt wird, geröthet und excoriirt ist.
Die Untersuchung des Mastdarmes mit dem Finger lehrt die An-
wesenheit von unebenen, harten Knollen, über denen die Schleimhaut anfangs
noch verschieblich ist; später wandelt sich diese glatte Verengerung in einen
vollkommen einschnürenden Ring mit exulcerirter Oberfläche um, so dass
der Finger beim Herausziehen mit Blut, Jauche und eiterigem Schleim be-
schmutzt ist. Man thut gut, die an dem touchirenden Finger haftenden Gewebs-
fetzen mikroskopisch zu untersuchen. Die Untersuchung mit dem Finger
wird durch die Anwendung des Mastdarmspiegels erweitert, dessen An-
wendung aber meistens grosse Schmerzen zu bereiten pflegt. In seltenen Fäl-
len entsteht bei Pressversuchen ein Prolapsus ani, so dass, wenn der
Krebs auf dem untersten Mastdarmende sitzt, die Neubildung unmittelbar zu
sehen ist. Kann man mit dem Finger den Sitz des Krebses nicht erreichen
und führt auch die Anwendung des Mastdarmspiegels und der Mastdarmbe-
leuchtung nicht zum Ziele, so kann man den Sitz des Krebses annähernd
durch Wassereinläufe in das Rectum bestimmen; je mehr Wasser man in
den Darm irrigiren kann und je länger dasselbe in den Darm verbleibt, um
so höher sitzt die Neubildung; das ausfliessende Wasser enthält oft Bei-
mischung von Blut und Eiter, sowie von Krebspartikeln, so dass man auch
hier auf die mikroskopische Untersuchung nicht verzichten kann. Die An-
wendung der Sonde verfolgt den nämlichen Zweck, sich über die Höhe der
Stenose zu orientiren; beide Methoden sind übrigens nicht von hervorragen-
der Bedeutung. Bei Männer nimmt man am besten ausser vom Rectum, auch
von den Bauchdecken aus die Untersuchung vor; bei Frauen liefert die bi-
manuelle Untersuchung von der Vagina und dem Rectum aus die besten
Resultate.
Unter allen Darmcarcinomen ist die Diagnose des Mastdarmkrebses
am allereinfachsten, da der eingeführte Finger auf die Krebsmassen stösst;
ausserdem strahlen die lancinirenden Schmerzen mit Vorliebe nach den Geni-
talien und Oberschenkeln aus. Bei dem Mastdarmkrebs wird frühzeitig blutige,
eitrige Beimischung zu den Kothmassen beobachtet, welche dem untersuchen-
den Finger anhaften. Andersartige Geschwülste im Mastdarme, wie Polypen,
kommen selten in Frage, der Verlauf unterscheidet in der Regel rasch zwi-
schen der gutartigen und malignen Neubildung; die mikroskopische Unter-
suchung eines excidirten Stückchens wird jeden Zweifel heben.
Es können auch Hämorrhoidalknoten die Ursache für Verwechslun-
gen bei der manuellen Untersuchung des Rectums abgeben, die Unterscheidung
ist aber bei einiger Vorsichtigkeit leicht, weil die Hämorrhoidalknoten Ge-
schwülste mit glatter Oberfläche und praller, doch elastischer Consistenz dar-,
stellen, welche auch meistens bei der Betastung schmerzlos sind.
Im Ganzen ist die Diagnose auf Mastdarmkrebs nicht schwer, als Regel
sollte es gelten, bei jedem Patienten, dessen Fäcalien Blutbeimischung ent-
halten, das Rectum selbst zu untersuchen; viele Carcinombildunden gehen
lange unter der falschen Diagnosis: Hämorrhoidalblutungen.
EHEUMATISMUS NODOSUS INFANTUM. 379
Die Carcinome des Colon können schon längere Zeit bestehen, ehe sie eine
Störung bewirken; erst wenn eine deutliche Geschwulst aufgetreten ist, treten alle die
Erscheinungen hervor, welche im Symptomenbilde der „Enterostenose" giltig geschildert
worden sind. *)
Die Carcinome des Duodenum bilden wiederum Erscheinungen, welche dem
Krebse in den anderen Darmabschnitten fehlen; sie führen frühzeitig zu allen Erscheinun-
gen der Pylorusstenosis, also hartnäckiges Erbrechen ohne fäcalen Charakter,
welches gelegentlich dunkel-blutig gefärbt ist; daneben entwickeln sich hochgradige, gastrische
Störungen und eine Ectasia ventriculi, so dass das Carcinom des Duodenum ganz
dieselben Erscheinungen, wie das Carcinom des Pylorus setzt; häufig aber tritt ein chro-
nischer Icterus zu dem Duodenalcarcinom, weil der Lieblingssitz des Krebses im Duo-
denum gerade die Papilla ductus choledochi ist, so dass der Gallenabfluss in den
Darm dauernd verhindert wird.
Die Dünndarmcarcinome zeichnen sich dadurch aus, dass sie entsprechend der
grossen Beweglichkeit des Dünndarmes selbst eine auffallende Beweglichkeit besitzen, sowohl
activ wie passiv, so dass der Tumor, bald hier, bald dort zu fühlen ist; in der Regel sinkt
später die Geschwulst durch ihre eigene Schwere in die untere Bauchregion herab; die
Beweglichkeit hört mit der Fixation der Darmschlingen durch peritonitische Verwachsungen
auf, die Diagnose wird dann umso schwerer.
Aehnlich wie die Dünndarmcarcinome verhalten sich die Carcinom'e des Colon
transversum; auch sie haben eine grosse Beweglichkeit, solange das Colon transversum
seine eigene Beweglichkeit besitzt; meistens sinken auch diese Coloncarcinome nach abwärts
in der Bauchhöhle, wo eine Fixirung stattfindet; kommt eine Verwachsung des Colon trans-
versum in seiner natürlichen Lage zu Stande, so werden seine Neubildungen mit Pylorus-
carcinom verwechselt werden können; es fehlt aber den Colon transversumcarcinomen die
Entwicklung der Magenektasie, welche den Pylorus- und Duodenumkrebs charak-
terisirt. Die Carcinome des Colon ascendens und descendens unterscheiden sich
von den Carcinomen des Colon transversum dadurch, dass sie nur wenig oder gar nicht
verschieblich sind; am meisten verschieblich ist noch das Carcinom der Flexura sigmoidea,
weil die Flexur ein langes Gekröse besitzt. jj_
Rheumatismus nodOSUS infantum (Rheumatismus chronicus). Ist
schon der acute Gelenksrheumatismus eine nach verschiedenen Ländern und
Klimaten äusserst wechselnde Krankheit, was dessen Häufigkeit anbelangt, so
ist dies der chronische um so mehr**). Bei uns sind beispielsweise beide
relativ seltene Erscheinungen. Als einen Rheumatismus chronicus muss man den
Rheumatismus nodosus infantum, dessen Kenntnis sich vornehmlich an die Na-
men Rehn, Hirschsprung, Henoch knüpft, auffassen.
Wenige Ausnahmen abgerechnet sind bisher nur Kinder bis etwa zum
14. Lebensjahre von diesem Leiden ergriffen worden. Die Symptome des-
selben sind kurz geschildert folgende.
Gewöhnlich im Anschlüsse an einen acuten Rheumatismus articulorum
und nach Ablauf des acuten Stadiums finden sich an verschiedenen Theilen
des Körpers Knötchen und Knoten von Milien- bis Taubenei-
grösse, die anfangs weich und elastisch, später bis knochenhart werden
können. Mitunter zeigen sie symmetrische Anordnung. Sie bestehen anfangs
aus fibrösem Gewebe, theils sind in ihnen faserknorpelige Einlagerungen ent-
halten, bald das eine, bald das andere vorwiegend. Mitunter lagern sich
Kalksalze in diesen Knoten und Knötchen ab, selten kommt es zur Bildung
von Osteophyten, zur Entstehung wirklicher Exostosen. Diese Gebilde werden
aufgefasst als Producte chronischer Entzündung. Durch fettige Degeneration
wird ihre Resorption, damit die Möglichkeit ihres Verschwindens herbeigeführt.
Sitz dieser Gebilde sind in erster Linie die verschiedenen Sehnen, die
der Flexoren von Hand und Fuss, des Triceps, Quadriceps, die Ligamenta
interspinalia; daneben kommen sie vor an verschiedenen Aponeurosen, am
Periost und Perichrondrium.
*) Vergl. Artikel ^Enterostenose'^ Bd. I.
**) Der Rheumatismus articulorum ist im Artikel „GelenJcsrheumatismus," Bd. I,
der Rheumatismus musculorum im Artikel „Myositis,"' Bd. IL behandelt.
380 ROTZ.
Sie vergehen und kommen wieder, so dass der Verlauf des Leidens sich in
der Regel auf Monate hin erstreckt. Massiges Fieber pflegt es zu begleiten.
Vitia cordis, mitunter Chorea, sind regelmässige Begleiter desselben. Schliesslich
pflegen die Gebilde völlig zu schwinden. An und für sich machen sie keine
besonderen Beschwerden. Sie mögen nicht verwechselt werden mit wirklichen
Exostosen, die bei Kindern nicht selten an verschiedenen Knochen in ver-
schiedener Grösse angetroffen werden und dauernd erhalten bleiben, die ohne
vorangehenden Rheumatismus, ohne begleitende Herzkrankheiten aufzutreten
pflegen, weiter nicht verwechselt werden mit Fällen echter Myositis ossificans,
bei der eine Rückbildung nicht bekannt, auch kaum denkbar ist (v. Artikel
„Myositis'-'- , Bd. 11, pag. 805).
Die Prognose dieses Leidens ist eine durchwegs gute.
Die Therapie besteht in der Darreichung von Natrium salicyl.
(0'20 — 0'3 g 3 stündlich), Kai. jodat. und lauwarmen localen oder allgemeinen
Bädern. loos.
Rotz. Rotzkrankheit {Malleus humidus, Farcinosis). Der Rotz ist
eine Infectionskrankheit, welche besonders bei Equideen (Pferd, Esel, Maulthier)
vorkommt, aber auch auf den Menschen sowie besonders (experimentell) auf
verschiedene Thiere übertragen werden kann. Namentlich die Rotzkrankheit
des Menschen, welche uns hier zunächst interessirt, ist fast immer auf acci-
dentelle Infectionen von Einhufern zurückzuführen, so dass in Folge dessen
auch der Rotz von Pferden kurz beschrieben werden darf.
Schon im 14. Jahrhundert finden wir den Rotz der Pferde und des-
sen Contagiosität beschrieben. Letztere aber wurde seither viel bestritten bis
Anfangs dieses Jahrhunderts die Uebertragbarkeit der Krankheit durch Experi-
mente ausser Zweifel gestellt wurde. In 1883 beschrieb Osiandee Fälle von
Uebertragen des Rotzes auf den Menschen, ebenso gelang es Delobere, Bleine,
Waldinger, Schilding, Kallemann den menschlichen Rotz auf den Esel zu
übertragen. Seither haben zahlreiche Arbeiten die Pathologie des menschli-
chen Rotzes beleuchtet, und nachdem ich selbst den Bacillus des Rotzes be-
schrieben hatte, wurde derselbe von Löffler und Schütz gezüchtet und im
Jahre 1882 genau bestimmt.
Bacteriologie des Rotzes. In 1881 beschrieb ich in der Wand der
Rotzgeschwüre, im Knochenmark, und in den rotzigen Secretionen einen feinen
steifen Bacillus von etwa 0*3 [jl Breite und etwa 0'2 \l
' Länge manchmal mit rundlichen Verdickungen an den
'^^^•J*- Extremitäten, ähnlich Sporen, welche mit Anilinfarben
'ifeYsifi' ^^'' "^'^ stärker gefärbt werden als die Bacillen, deren In-
^U''^!'''^ ^-^ ** neres stärker und schwächer gefärbte Partien aufweist.
^ ".\^^ Dieselben sind ziemlich regelmässig aber nicht in grös-
* '^'.^ serer Menge im entarteten Gewebe zerstreut.
Fig. 1 Frische Cuitur von LöFFLER uud ScHüTz beschrieben dieselben Bacil-
Eotzbaciiien auf Kartoffel leu, welche slc besoudcrs mit einer Lösung von Me-
^^LöFFLE J^Rubin*!''' thjlenblau färbten. Sie färben sich nämlich mit einfachen
Anilinfarben, nicht aber nach Ehrlich oder nach Gram.
Der Bacillus wurde zunächst auf erstarrtem Blutserum des Pferdes cultivirt.
Hier entwickelt sich nach einigen Tagen eine glänzende, etwas bräunliche Cui-
tur und eine Trübung der Condensationsflüssigkeit. Besser gelingt die Cuitur
auf Stückchen Kartoffeln in Reagensgläschen, welche gekocht und sterilisirt
wurden. Hier entstehen nach reichlicher Impfung mit dem Inhalt von Rotz-
knötchen nach etwa 2 Tagen eigenthümliche, tropfenförmige, glänzende Co-
lonien, welche nach wenigen Tagen eine charakteristische, kaffeebraune Farbe
annehmen.
Auch auf Agar-Agar besonders, wenn derselbe mit Kartoffelsaft versetzt
und etwas sauer gehalten ist, entwickeln sich nach wenigen Tagen Rasen
ROTZ. 381
von Rotzkolonien. Auch in saurem Bouillon erhält man ziemlich reichliche
Culturen, besonders, wenn die Bacillen an der Oberfläche erhalten werden.
Dieselben sind eben ausgesprochen aerob und entwickeln sich am Besten bei
Körpertemperatur. In den Culturen erscheinen die Bacillen gewöhnlich ein-
förmiger als im Gewebe und sind parallel gruppirt. Zwischen den einzelnen
Individuen besteht ein Zwischenraum, was der Gegenwart einer Kapsel ent-
spricht. Dieselben sind nicht beweglich.
Im ersten Stadium der Entwickelung sind sie
oval, besser färbbar als später. In älteren Culturen bil- ^/^^^
den sie steifere, im Inneren gekörnte Stäbchen, stellen- ^ S^ ^
weise mit ovalen, durch Löffler's Methylenblau dunkel d'^^y "^
röthlich-gefärbten metachromatischen Körperchen. Neben ct/'^j^
denselben finden sich zahlreiche, unregelmässige Körner, ^ f
welche wohl als Zerfallsproducte der Bacillen zu be- '
trachten sind. ^^l'lh'^^Tl'^^^Ti^^^^T-
ückwellung der tnden der
Der Rotzbacillus ist wenig resistent gegenüber schäd- ZßZTL^ZTaThrlmZt
liehen Einwirkungen. Angetrockneter Rotzeiter wurde sehen Komung. d gequoiu-
nach zwei Tagen unschädlich befunden. Eine Tem- "'='"' ^«-°''"-'-*- ^«"•"-•
peratur von 80** zerstört dieselben in 5 Minuten; Subli-
mat 1 : 1000 in 15 Minuten, 57o Carbolsäure in einer Stunde. Die Essenzen
wirken energischer, namentlich Zimmt- und Nelkenöl. In künstlicher Cultur
werden die Bacillen allmählig abgeschwächt.
Unter allen Thieren sind der Esel und das Maulthier und in 3. Linie
das Pferd am empfindlichsten, aber auch Schafe, Katzen und Ziegen erkranken
manchmal spontan. Unter den Versuchsthieren ist besonders das Meerschwein-
chen und die Katze empfindlich, während die Kaninchen und besonders Mäuse
wenig empfindlich sind. Auch der Hund zeigt nach der Infection bloss ein
locales Geschwür, welches bald vernarbt.
Die virulentesten Theile der rotzigen Thiere und Menschen sind zu-
nächst die Geschwüre und Abscesse, sowie die Secretion der Ersteren, wäh-
rend das Blut nur in acuten Fällen virulent befunden wird, auch der Speichel,
Urin, Sperma, Humor aqueus enthalten manchmal das Virus ebenso die
inneren Organe. Die Muskeln selbst sind gewöhnlich nicht virulent.
Bei verschiedenen Thieren sind die Rotzknoten und die virulenten Par-
thien verschieden vertheilt. Die gewöhnlichste Localisation bei Menschen und
grossen Thieren sind gewöhnlich die Region des Kopfes, namentlich die Nasen-
schleimhaut, sowie der Respirationstractus, der Hode und die umgebenden
Theile.
Bei kleineren Thieren sind die inneren Organe gewöhnlich mehr be-
fallen, auch bei Meerschweinchen gehören die Läsionen der Hoden und der
Tunica vaginalis zu den frühesten Läsionen.
DieUebertragung des Rotzes geschieht durch die Einbringung
von Rotzeiter unter die Haut oder in das Peritoneum empfänglicher Thiere
und konnte ich bei Kaninchen durch Einbringen von virulentem Material,
Eiter oder Cultur, eine Septikämie in wenigen Tagen verursachen, welche
durch eine Ueberschwemmung des ganzen Organismus mit Rotzbacillen her-
vorgerufen wurde. Während früher von spontaner Entstehung des Rotzes
gesprochen wurde, ist nunmehr die contagiöse Entstehung desselben experi-
mentell bewiesen und die ziemlich lang dauernde Virulenz der Cultur zeugt
auch für die Infectiosität von verschiedenen Gegenständen, welche mit Rotz-
producten bedeckt sind. Namentlich in feuchten Ställen dürften es verschie-
dene Plätze und Gegenstände sein, welche eine längere Erhaltung des Rotz-
giftes bedingen. .
.382 ROTZ.
In Folge dieser Erkenntnis bestehen strenge Vorschriften, welche Tödtung
rotziger Pferde und Entschädigung des Eigenthümers, Isolirung der verdäch-
tigen Fälle und die Desinfection der inficirten Ställe anordnen. Seit der An-
wendung dieser strengen polizeilichen Maassregeln ist die Frequenz des
Eotzes bei Pferden etwas zurückgegangen, aber weniger als man gehofft hatte
und ebenso kommen seit der Erkenntnis der Contagiosität der Krankheit
weniger Fälle beim Menschen vor, welche Krankheit auf denselben fast nur
von Pferden übertragen wird. Hauptsächlich sterben Stallknechte, Kutscher
aber auch Veterinäre werden nicht selten das Opfer der Krankheit, ebenso
Cavalleristen sowie Pferdeschlächter.
Der Rotz ist ferner die häufigste und gefährlichste Labora-
toriums-Krankheit, indem eine Anzahl von Forschern sich bei Sectionen
und bei Experimenten diese furchtbare Krankheit zugezogen haben. Die
gewöhnlichste Art der Infection ist beim Pferde wohl jene durch die Ein-
athmung zerstäubten Rotzmaterials oder durch Contact mit den Secretionen
der Mund- und Nasenschleimhaut benachbarter inficirter Pferde. Häufig in-
ficiren sich die Pferde durch Wunden, besonders an den Füssen, wenn die-
selben in inficirten Ställen mit Rotzmaterial in Contact kommen.
Beim Pferde besteht eine erst neuestens von uns und Semmer erkannte
in Heilung übergehende Form, bei welcher die Pferde gesund erscheinen
und in der Regel nicht inficiren können. Fast die Hälfte der Pferde in
Südrussland und Rumänien scheint diese eigenthümliche Form von Rotz zu
beherbergen, welche sich durch disseminirte, kleine, eingekapselte, käsige, mark-
artige Knötchen besonders in der Lunge, Leber und Milz charakterisirt. Der
Inhalt dieser Knötchen beherbergt etwa in der Hälfte der Fälle lebende aber
abgeschwächte Rotzbacillen.
Die Ansteckung des Menschen von Pferden erfolgt entweder
durch die intacte, entzündete oder verletzte Schleimhaut des Respirationstrac-
tes, indem etwa Stallknechte mit den von Rotzsecreten beschmutzten Hän-
den die Nasenschleimhaut oder verletzte Hautstellen berühren. Ich konnte
ferner nachweisen, dass das Virus auch durch die intacte Haut, viel häufiger
durch intacte Schleimhäute hindurch inficiren kann, deswegen sind auch das
Fleisch und die Eingeweide rotziger Thiere besonders gefährlich und Fütterung
mit rohem Fleisch hat schon öfters bei Katzen und wilden Thieren Rotzkrank-
heit erzeugt. Endlich haben meine Untersuchungen nachgewiesen, dass ver-
stäubtes, feuchtes Rotzmaterial auch die normalen Bronchien inficiren kann.
Pathologische Anatomie. Wir können im Wesentlichen drei For-
men von durch den Rotzbacillus erzeugten Veränderungen unterscheiden.
Zunächst eine septische Form, welche durch eine reichliche Infection in die Blut
bahn erzeugt wird und wobei makroskopisch keinerlei Localisation nachge-
wiesen werden kann, wohl eine sehr seltene Form. Eine 2. Form stellt sich
dar als eine eiterige Infection, welche gewöhnlich von Hautverletzungen aus-
geht und eine acute Osteomyelitis oder Pyämie vortäuschen kann. Die 3.,
weniger acute Form zeigt die eigenthümlichen Rotzgeschwüre und Rotzknoten,
welche von Virchow als Granulationsgeschwülste betrachtet und den tuber-
culösen Neubildungen verglichen wurden. Diese letzte und beim Pferde
häufigste Form des Rotzes geht wohl aus einer latenten Form des Rotzes
hervor und führt in der Regel ohne merkliche Symptome zur Heilung. Auch
bei Menschen konnte ich in einigen Fällen diese Form der Krankheit con-
statiren.
Bei allen diesen Erscheinungsweisen findet man den charakteristischen
Rotzbacillus, welcher aber, wie ich nachgewiesen habe, in Fällen ver-
schiedener Herkunft und Schwere verschiedene Virulenz besitzt.
Beim Eindringen der Bacillen durch die Haut konnte ich zunächst eine
kleine Papel erkennen, wobei die Bacillen in den ungemein erweiterten
Follikel sich bedeutend vermehrt hatten, und von hier aus durch die proli-
ROTZ.
383
allen, ^^.Ty-^Vy
udat. .li^yV^':\i-*j^£l)
;ehen •. l•^.♦.^>^-•■'z--
Blut- l^.:'t^Wrrr
a^/
Fig. 3. Peripherischer An-
theil eines kleinen Kotzkno-
tens in der Milz des Pferdes.
a. E?Uartete Zellen mit Kern-
fragmentation. b. Blasig ent-
artete Sundzetlen, Bacillen
enthaltend, c. Grössere, bla-
sig entartete Zelle, d. Zell&
in Karyo Kinese.
ferirte Epithelscliiclit, welche auch Karyokinese zu zeigen pflegt, in die Cutis
dringen indem sie auch hier zunächst in Lymphräume einwandern und hierauf
Anhäufung von Lymph- und Wanderzellen veranlassen. Weiterhin bilden sich
die Veränderungen des Deckenepithels aus, namentlich
eine vesiculäre Schwellung und Entartung der Zellen, ^ .*•„
ferner Pustel- und Blasenbildung, zunächst eine Erhe- ..^*!??5«i
bung der Epidermis, veranlasst durch fibrinöses Exsudi
Auch die llotzknoten in der Tiefe der Organe entstehen
zunächst dadurch, dass in der Umgebung der in Blut- V""^^ '•""(' '"y
oder Lymphbahnen enthaltenden Bacillen eine Wu-
cherung mit Karoykinesen, wie ich zuerst in 1884
nachgewiesen hatte, auftritt. Die Zellen nekrosiren und
in ihrer Umgebung tritt eine reichliche Zone von Gra-
nulationsgewebe auf. Ebenso entstehen auch die Knöt-
chen, Pusteln und die eigenthümlichen Geschwüre der
Schleimhäute.
Da ich öfters den Beginn der Krankheit ohne
irgend welche vorhergehende Verletzung beobachten
konnte, ist es wahrscheinlich, dass in solchen Fällen
das Virus in die unverletzte Haut eingedrungen war
und findet man hier zunächst papuläre Erhebungen mit
entzündeter Umgebung, welche sich zu Bläschen, Pu-
steln und Geschwüren entwickeln.
In der Umgebung derselben
treten hierauf ähnliche Eruptionen
auf. Der Lieblingssitz ist die Ge-
sichtsgegend, auch die Hände und
die unteren Extremitäten. Aehn-
liche Eruptionen sind oft zwei-
fellos secundärer Natur. Von den-
selben gehen öfters entzündete
Lymphstränge aus, welche zu
geschwellten und manchmal ab-
scedirenden Lymphdrüsen führen.
Die Hautgeschwüre können
wenigstens beim Menschen nicht
eben als charakteristisch ange-
sprochen werden. Es handelt sich
um kraterförmige oder flache, ge-
wöhnlich längliche Ulcerationen
mit zunächst gelben, später oft
missfärbigen Ptändern. Der Eiter
derselben ist gewöhnlich schlei-
mig, röthlich, in der Regel we-
niger charakteristisch als jener
der Abscesse. Im Beginne der
Erkrankung der Nasenschleim-
haut erfolgt eine bedeutende
Schwellung und Eiterung derselben
oft von Ekchymosen und eigen-
thümlichen Eruptionen bedeckt.
Das Nasenseptum, mehr an den
oberen und hinteren Theilen, zeigt "^
■/n-nöf^Vic-f- iTmcr-Vii^ioVicinQ flo/^TiQ TTt' ^^S- i. Querschnitt der Haut im Bereiche einer kleinen Kotz-
ZUnaCnSl UmSCniieOene nacne -t^l- papel. L^ffler's Eubin. Geringe Vergrösserung. c. S<ra<«m corTje-
nebungen, welche alsbald zu käsig um. M. MalplgU^sche schichte, d. CuUs. /.Normaler Haarfollikel.
1 .. -,.. ,.1 . . (. /... -f. Erweiterter, iacillenhaltiqer Follikel, l. LympftspaUen in deren
pulposen, länglich streifenförmig Umgebung Badiun.
do'i
^ .VI
— /
'a
A<
384 ROTZ.
angeordneten Massen entarten. Später greift die Entartung und die darauf-
folgende Nekrose und Gangrän in die Tiefe. Es entsteht Nekrose und öfters
Perforation der Knochen.
In manchen Fällen
I ^s.fö i^ / ist die Schleimhaut
des Rachens, namentlich
der Gaumenbögen, der
Sitz zunächst von kleinen
Bläschen, und heftiger
Entzündung, worauf ober-
flächlicheSubstanzverluste
oder tiefe mehr charakte-
ristische Geschwüre ent-
stehen, zwischen welchen
unregelmässige Granula-
^ ^ Qj \ tionen auftreten, während
Q'^ ^'^' " ' ' ^ u i das tiefe Gewebe, ent-
%
fB 4
4 Ch
^
'^ \ä zündlich ödematös oder
"^,<%J ^ 0^^ - stark eitrig infiltrirt ange-
^j^ \\'~^ -^ '' troffen wird. Auch die La-
rynx-Tracheal- und die
Pig. 5 Ein Theil des Haarfollikels und dessen Umgebung. Ver- BrOUChlalSChleimhaut mit
grössert etwa 800. a. Bacillen m Innern des FolWkel. &. In- a r, j oa* in-
nere Haarscheide, k. Wuchernde Epithelschichte, zwischen den AUSUahme der otimmban-
Eplthelzellen sieht man Züge von Bacillen, l. Bacillen in einer ^ oinrl nff rlpr Q.^■^7 vnn
Lymphspalte, e. Lgmphzellen mit Kernfragmentation. UtJl, blUU Uli Utü OlL/i VUU
Rotzgeschwüren.
Die Lungen sind in verschiedener Weise verändert, manchmal besteht
blos eine heftige Congestion derselben, welche sich bis zu apoplectiformen
Herden steigert, in deren Mitte oft Abscesse mit dem Charakter metastatischer
Herde angetroffen werden. In anderen Fällen gehen die apoplectischen Herde
in Gangrän über.
Bei mehr chronischen Formen, erkennt man umschriebene peripherische
Abscesse, sowie oberflächliche, gelbliche, derbe Plaques an der Pleura, in deren
Mitte oft Eiter und pulpös-käsige Massen angetroffen werden.
Gewöhnlich finden sich über solchen Stellen und Abscessen entsprechende
pleuritische Erscheinungen. Der Digestionstractus ist weniger er-
griffen, die Schleimhaut des Magens und des Darmes höchstens inficirt, wohl
aber finden sich in Leber, Milz und Nieren ebenso wie im Herzfleische pa-
renchymatöse Degenerationen und bei pyämischen Formen kleinere, meta-
statische Abscesse. Hier finden sich zunächst mikroskopisch nekrotische Herde,
in welchen man einestheils bläschenförmig geschwellte Zellen sowie eine
Zone erkennt, in welchen die Zellkerne körnig zerfallen sind, und welche
auch die Bacillen beherbergt. Weiter nach aussen findet man Zellen in
Karyokinese.
Die Veränderungen am Hoden sind nicht constant und zeigen verschie-
dene Formen, gewöhnlich kleinere Abscesse im Hoden oder Nebenhoden, um-
geben von hyperämischer oder hämorrhagischer Zone, endlich kann sich auch
eine Sarcokele entwickeln.
Die Knochen und das Knochenmark sind in verschiedener Weise
ergriffen, so werden bei einer Rotzinfection der Nasen- und Rachenschleim-
haut oft die benachbarten Knochen nekrotisch und perforirt, während bei Rotz-
geschwüren an den Unterschenkeln sich gewöhnlich Periostitis und Osteomye-
litis mit eitriger Infiltration oder Abscessen, häufig mit osteomyelitschen Me-
tastasen ausbildet. Die Gelenke sind vom periartiulären Gewebe ausgehend
häufig entzündet. Das Gefäss^^ und Nervensystem zeigt eventuell die Er-
ROTZ. 385
scheiniingen der Pyämie namentlich sind Lymphangoitis und Phlebitis von den
Localisationen der Krankheit ausgehend, häutig.
Als eine Eigenthümlichkeit der Ptotzgeschwüre und Abscesse, kann die
Neigung derselben zur Vernarbung betrachtet werden, und in der That haben
neueste Untersuchungen beim Pferde die sehr häufige Heilung des Rotzes auf
diesem Wege nachgewiesen. Unsere letzten Erfahrungen haben aber auch
gezeigt, dass selbst im Innern fast ganz vernarbter Ptotzknoten noch lebende
Bacillen gefunden wurden.
Schon LöFFLER hatte intra-placentare Uebertragung des Rotzes be-
schrieben, so dass eine solche in manchen Fällen angenommen werden muss.
Symptomatologie. Wenige Tage nach der Infection durch rotzkranke
Thiere, erkennt man die ersten Symptome der Krankheit, während man in
Fällen von Infection durch inficirte Gegenstände eine viel längere Incubation
annimmt, was aber w^enigstens zum Theil wohl mit der Schwierigkeit zusammen-
hängt, den Moment der Infection genau zu bestimmen, sowie auch damit, dass
die ersten Veränderungen oft in der Tiefe der Organe und unerkannt auf-
treten.
Wir können zunächst zwei Formen des Rotzes unterscheiden: die acute
und die chronische.
Bei jeder dieser Formen können wir solche mit einer Inoculation und
Manifestation an der äusseren Decke, und eine andere, welche wohl auch als
innere Infection bezeichnet wird, unterscheiden, wo die Krankheit mit all-
gemeinen Erscheinungen beginnt.
Die chronische Form geht häufig in die acute über, während ein gegen-
theiliges Verhalten selten beobachtet wird.
Der acute Rotz beginnt oft mit Schüttelfrost gewöhnlich mit Mattigkeit,
Kopfschmerz, Anorexie, Muskel- oder Gelenksschmerzen. W^ährend manchmal
diese Erscheinungen äusserst heftig sind, sind sie in anderen Fällen wenig
ausgesprochen, in einem Theil der Fälle, w^o es sich um Infectionen durch die
Haut handelt, erkennt man an der Infectionsstelle eine Narbe, Verletzung
oder ein daraus entstandenes Geschwür von den erwähnten Charakteren und
von welchen häufig lymphangoitische Stränge ausgehen. Die Haut des Gesichtes
und der Hände ist geschwellt. Besonders charakteristisch ist die Schwellung und
erysipelatöse Röthung (mit diffusen Grenzen) der Nase und deren Umgebung,
welche Veränderung allmählig das ganze Gesicht ergreift.
Etwa am 6. Tage entsteht eine pustulöse Eruption namentlich im Ge-
sichte und an den Extremitäten. Zugleich fühlen die Kranken den Nasen-
rachenraum verstopft und aus der Nase fliesst ein eigenthümlicher, oft blu-
tiger, gelatinöser Schleim, welcher später eine eitrig-schleimige Beschaffen-
heit einnimmt
Pusteln und Geschwüre erscheinen an der Mundschleimhaut am Pharynx
und Larynx, der Schlingact, Athmung und Sprache sind erschwert. Husten mit
oft reichlichem, schleimig-eitrigem, foetidem Auswurf tritt auf. Rasselgeräusche
und Zeichen von Anschoppung und entzündlicher Infiltration der unteren
Lungentheile zugleich mit heftiger Dyspnoe werden manifest, das zunächst
schwache Fieber erreicht 40 Grad. Anfangs treten Morgenremissionen auf,
während dasselbe später unverändert anhält. Ebenso ist der Puls beschleunigt,
endlich beobachtet man Schlaflosigkeit, Reizzustände, Delirien, Haemorrhagien,
Brechen, foetide Diarrhoe und Albuminurie sowie Milz Schwellung
In dieser Weise sind acut verlaufende Fälle fast immer tödtlich. Wenn
die Krankheit acut begonnen hatte, dauert dieselbe mehrere Wochen, während
wenn sie sich der chronischen Form anschliesst, blos wenige Tage bis zum
letalen Ausgange vergehen.
Von manchen Autoren wird noch eine 2. acute Form des Rotzes als
acuter Farcin beschrieben. Doch scheint mir diese Eintheilung nicht
Bibl. med. Wissenschaften. Interne Medicin und Eänderkrankheiten. Bd. III. aO
386 EOTZ.
begründet, indem es sich blos um Formen handelt, bei welchen die wohl
immer vorhandenen Pusteln, Geschwüre und Abscesse, besonders zahlreich sind.
In solchen Fällen ist die Dauer der Krankheit etwas länger, im Uebrigen
aber handelt es sich um denselben Krankheitscomplex.
Während bei den acuten Formen die Hauterscheinungen weniger aus-
gesprochen sind als jene von Seiten innerer Organe sind beim chroni-
schen Rotz oder Wurm die äusseren Erscheinungen vorwiegend.
Auch hier muss zwischen äusserer und allgemeiner Infection unter-
schieden werden. In ersterem Falle entsteht 3 — 4 Tage nach einer Ver-
letzung oder nach der Infection einer Wunde Schwellung Lymphangoitis und
schmerzliche Lymphdrüsenschwellung der betreffenden Extremität, ziemlich
heftiges Fieber und Ueblichkeiten, endlich Abscesse. Bei Formen, welche mit
allgemeinen Erscheinungen beginnen, beobachtet man die früheren Erscheinungen,
wozu sich sehr bald die Gelenksschwellungen und zwar oft mit blitzähn-
lichen Schmerzen gesellen.
Erst nach 4 — 6 Wochen erscheinen dann die charakteristischen Abscesse
und zwar ziemlich plötzlich, gewöhnlich an den unteren Extremitäten und der
Umgebung des Gelenkes oder an schon früher kranken Stellen; sie sitzen
im subcutanen Gewebe oder an den Muskeln. Manchmal sind sie im Gesichte
häufig, seltener am Stamme. Manche derselben sind sehr bedeutend und ent-
halten oft mehrere 100 Gramm eines gewöhnlich dicken, sulzigen Eiters. Später
wird letzterer dünner und weniger charakteristisch, oft mit Blut gemengt.
Nach spontanem Durchbruch oder Oeffnung der Abscesse tritt manchmal Ver-
narbung ein, in anderen Fällen entstehen zahlreiche, fistulöse Oeffnungen, oder
torpide Geschwüre mit lividen wuchernden Eändern; öfters mit Gangrän, welche
in die Tiefe bis zu den Knochen greifen kann.
Zugleich bestehen Lymphangoitis und Lymphdrüsenschwellung der ent-
sprechenden Gegend.
Nach anscheinender Heilung wiederholt sich gewöhnlich nach 1 — 2
Monaten die Abscessbildung, welche gewöhnlich progressiv fortschreitet, manch-
mal entstehen zugleich Pusteln oder Furunkel oder schmerzhafte Gelenksent-
zündungen, sowie Schwellungen des Hodens. Während dieser Eruption besteht
ein intermittirendes Fieber, welches allmählig in ein hektisches, mit Schüttel-
fröste, Schauer und Nachtschweisse übergeht.
In Folge der wiederholten Eruptionen kommen die Kranken in furcht-
barer Weise herab. Dieselben sind äusserst abgemagert, gelblich, mit tro-
ckener Haut, die Lunge erscheint angegriffen, die Kranken husten und klagen
über Kopfschmerzen, Prostrationen und gehen gewöhnlich unter Delirium zu
Grunde.
In manchen Fällen erscheint statt eines Nachschubes von Abscessen das
Bild des acuten, tödtlichen Ptotzes.
Fälle, welche ganz zu Beginn der Krankheit rationell behandelt werden,
gehen oft in Heilung über, während im Uebrigen die Krankheit gewöhnlich
etwa ein Jahr nach dem Beginne mit dem Tode endet, es sind aber auch
Fälle von mehrjähriger Dauer bekannt. Seltener ist eine chronische Form
des Rotzes mit wenig ausgesprochenen äusseren Manifesta-
tionen.
Die Krankheit beginnt dann mit Ueblichkeit, Mattigkeit, Gelenks- und
Muskelschmerzen oft in der Brustgegend. In anderen Fällen beginnt dieselbe
mit den Erscheinungen eines Rachenkatarrhs, näselnder Stimme, verstopfter
Nase, indem ein eigeothümlicher Nasenausfluss sich zeigt, welcher sich als
schwärzliche Kruste am Naseneingang erkennen lässt. In diesen Fällen
entstehen charakteristische, aber langsam sich entwickelnde Geschwüre. Aehn-
liche torpide Geschwüre entstehen an der Mund-, Pharynx- und Larynxschleim-
haut. Es entsteht bedeutende Heiserkeit, Husten, Dyspnoe. Der Auswurf
ROTZ. ' 387
besteht aus grauen und dicklichen Massen. Der Kranke magert allmälig ab, lei-
det an Erbrechen und Diarrhoe, Schmerzen in der Gegend eines oder des anderen
entzündeten Gelenkes, namentlich Kreuz- und Nackenschmerzen oft an einer
localisirten Stelle des Thorax, wodurch ein Pleuritis vorgetäuscht werden kann.
Häufig entstehen auch Abscesse und torpide Geschwüre an der Haut und
die Kranken gehen nach langjährigem Leiden an allgemeiner Schwäche oder
unter den Erscheinungen des acuten Rotzes zu Grunde.
Diagnose. Die Diagnose des Rotzes ist durchaus nicht immer leicht
festzustellen. Im Anfange des acuten Rotzes wird dieselbe leicht mit einem
typhösen Fieber, mit Influenza oder mit einem acuten Gelenksrheumatismus
verwechselt. Die Aetiologie, besonders aber das Erscheinen des Nasenaus-
flusses, der Erytheme und Pusteln werden aber die Aufmerksamkeit auf sich
lenken und namentlich aus den Pusteln gelang es mir immer in wenigen
Tagen die charakteristischen Rotzculturen darzustellen, während in anderen
Fällen dringender Verdacht auf pyämischen Rotz vorlag, die pathologische
Untersuchung aber im Stande war Rotz auszuschliessen. Manche Fälle von
chronischem Rotz können nur schwer von syphilitischen Affectionen unter-
schieden werden, auch hier wird hauptsächlich die bakteriologische Unter-
suchung jeden Zweifel heben und auch die bekannten, charakteristischen Formen
der Syphilis an der Schleimhaut, namentlich des Mundes, der Zunge, werden
leicht als solche zu erkennen sein und werden in zweifelhaften Fällen immer
das Thierexperiment und die bakteriologische Untersuchung Sicherheit schaffen.
Im bakteriologischen Institut zu Bukarest und zu gleicher Zeit in Russ-
land (Helman) gelang es im Jahre 1890 eine dem Tuberculin analoge Sub-
stanz aus Rotzculturen darzustellen, welche bei verschiedenen Thieren wie
auch beim Menschen in entsprechender Dose ein eigenthümliches Fieber her-
vorruft, das zur Diagnostik der Krankheit verwendet werden kann. In zweifel-
haften, fieberlosen Fällen wird man demnach 0*02 grm. Maliern unter die Haut
einspritzen dürfen, worauf nach 5 — 8 Stunden Temperatursteigerung von 172 bis
2 Grad erfolgt, welche Temperatur etwa 8 — 12 Stunden anhält, um dann zur
Norm zurückzukehren und nächsten Tag sich wieder in geringerem Grade zu
erheben. Leider wird der diagnostische Werth dieser Methode dadurch her-
abgesetzt, dass auch tuberkulöse Individuen, wenn auch weniger heftig, auf
das Mallein reagiren.
Behaiidlimg. Verschiedene Versuche einer prophylaktischen Behandlung
von Thieren haben sich nicht bewährt, obwohl Stkauss beim Hunde durch
allmählig gesteigerte Injectionen von Culturen in die Blutbahnen einen ge-
wissen, refractären Zustand erzeugen konnte.
Auch ZoEKOROFF behauptet mittels Durchleiten des Rotzgiftes durch
Katzen den Bacillus derart abschwächen zu können, das dasselbe bei Pferden
eine benigne Form des Rotzes hervorbringt, worauf die Thiere gegen viru-
lente Infection unempfindlich werden, was ich aber nicht bestätigen kann.
Während die bisher angewendeten polizeisanitären Maassregeln nicht
genügend wirksam waren, ist zu erwarten, dass es gelingen werde, mittels
unseren Malleins auch den verborgenen Rotz der Pferde schnell zu erkennen
und die kranken Pferde durch Isolirung unschädlich zu machen und selbst
zu heilen, worauf wohl die Krankheit auch beim Menschen bald seltener wer-
den dürfte.
Im gegebenen Falle, wird man, sobald man sich eine verdächtige Wunde
beigebracht hat, dieselbe möglichst schnell, womöglich mittelst Thermocauter
oder anderer radicaler Mittel ausbrennen. Nach Ausbruch der Krankheit wird
zunächst der Kranke isolirt werden müssen und sollen alle von denselben her-
rührenden Gegenstände sorgfältig desinficirt oder vernichtet werden.
Die Personen, welche mit Rotzkranken in Berührung kommen, müssen
alle Vorsichtsmaassregeln ergreifen, um nicht selbst inficirt zu werden, oder
25*
388 RUBEOLAE.
die Infection weiter zu tragen. Die Abscesse müssen bald geöffnet und gründ-
lich antiseptisch behandelt werden. Die Geschwüre an der Nase werden durch
Irrigationen mit antiseptischen Substanzen besonders Jodwasser oder Creosot
bekämpft. Während bei Pferden günstige Resultaten mittelst Arsen, Jod und
Quecksilber erreicht werden, empfiehlt man beim Menschen Behandlung mittelst
Jodtinctur allmälig von 2 zu 20 Tropfen aufsteigend.
Die Kranken, welche sehr zu Cachexie neigen, müssen gut genährt
werden und sind hier tonische Mittel, Einreibungen und Hydrotherapie zu
empfehlen.
Durch die Entdeckung des Mallein's werden die therapeutischen Be-
strebungen in neue Bahnen gelenkt. Nachdem es uns gelungen war, mehrere
Pferde mittelst allmählig steigenden Dosen von Mallein in derselben Weise,
wie dies Koch für das Tuberkulin vorgeschrieben hatte, zu heilen, haben wir
zunächst vorgeschlagen jene Pferde, die Mallem- Reaction geben, ohne ander-
weitige Krankheitserscheinungen zu zeigen, 2 Monate, lang mittelst Mallem zu
behandeln. Auch konnten wir so wie Bonome in einem Falle von chronischen
Rotz beim Menschen mittelst systematischer und sehr vorsichtiger Injectionen
von Mallein bedeutende Besserung erzielen. babes.
Rubeolae. Unter Röthein (ruheolae) verstehen wir eine leicht
fieberhafte, ungemein mild verlaufende, contagiöse Allgemeinerkrankung des
Kindesalters, welche durch ein kleinfleckiges, hellrosarothes Hautexanthem
und durch entzündliche Reizerscheinungen der Conjunctiva und der oberen
Luftwege (des Nasenrachenraumes und des Kehlkopfes) charakterisirt wird.
Die Existenzberechtigung der Röthein als einer Krankheit sui generis werden,
wie Strümpell treffend sagt, nur diejenigen leugnen können, welche niemals
Röthein gesehen haben. Die sporadisch auftretenden Fälle dürften
allerdings stets diagnostische Schwierigkeiten bereiten und berechtigte Zweifel
aufkommen lassen. Häufen sich aber die Rötheierkrankungen, gewinnen die-
selben eine endemische, oder epidemische Verbreitung, so tritt die
Eigenart dieser Krankheit auch deutlich hervor. Freilich sind Röthei-
epidemien selten. In Halle a/S, einer Stadt von über 100.000 Einwohnern
herrschten innerhalb eines Zeitraums von 25 Jahren nur zweimal Röthein
epidemisch; im April— Mai 1885 und im März— April 1891, während z. B.
Masern alle 2 — 4 Jahre aufzutreten pflegen. Ebenso flüchtiger Natur, wie
die Krankheit selbst, sind auch die Epidemien, d. h. sie verschwinden ebenso
plötzlich wieder, wie sie aufgetreten sind. — Unzweifelhaft haben wir es mit
einer contagiösen Krankheit zu thun. Die ersten Fälle betreffen gewöhnlich
Kinder derselben Schulclasse. Diese übertragen die Krankheit nicht nur auf
andere Mitschüler, sondern sie bringen auch die Röthein mit nach Hause
und inficiren ihre eigenen Geschwister. Am sichersten lässt sich in ge-
schlossenen Anstalten (Pensionaten, Waisenhäusern, Kinderspitälern etc.) die
Einschleppung der Krankheit durch einen ganz bestimmten Krankheitsfall
nachweisen. Welcher Art aber das Contagium ist, darüber fehlt uns noch
jede sichere Kenntnis. Jedenfalls dürfte den bisherigen bacteriologischen
Untersuchungen (Klamann, Edwards-Foemad) eine unanfechtbare Beweiskraft
nicht innewohnen. Säuglinge und Erwachsene zeigen eine auffallend geringe
Disposition, eine absolute Immunität besteht aber auch für diese Altersstufen
nicht. Das grösste Contingent stellen Kinder vom 4ten bis lOten Lebens-
jahre. Ich habe den Eindruck erhalten, dass die Ansteckungsfähigkeit der
Röthein, wie bei den Masern in den ersten Tagen am grössten ist, sie
aber dann bald erlischt. Ob ein einmaliges Ueberstehen der Rubeolen
Immunität verleiht, ist nicht mit Sicherheit festgestellt, aber nach Analogie
der übrigen acuten, contagiösen Exantheme sehr wahrscheinlich. Die In-
cubationsdauer der Röthein beträgt etwa 18 Tage, nach meinen Be-
RÜBEOLAE. 389
obachtungen in minimo 16, in maximo 20 Tage, jedenfalls dauert die In-
cubation länger, wie bei den Masern.
Von einem eigentlichen Prodromalstadium kann kaum die Rede
sein. Die Kinder gehen früh anscheinend gesund in die Schule und kommen
Mittags mit einem Rubeolenausschlag im Gesicht wieder nach Hause. Bei
der Mehrzahl besteht zwar vorher ausgesprochener Schnupfen, Conjunctivitis
mit Augenthränen und Lichtscheu, Hustenreiz, Rauhigkeit der Stimme,
Heiserkeit, sowie leichte Fiebererscheinungen, aber fast gleichzeitig oder
innerhalb weniger Stunden (6 — 12 Stunden) entwickelt sich zunächst im
Gesicht und meist auch auf dem behaarten Kopf ein deutliches rund-
fleckiges, rosarothes Exanthem.
Die einzelnen Flecke variiren von Stecknadelkopf- bis Linsengrösse; sie
sind zackig gerändert, ihre Farbe ist eine mattrosenrothe. Nur ausnahms-
weise und auch nur stellenweise confluiren die Flecke. Sie erreichen dann
wohl 10 Pfennig- bis Markstückgrösse, zeigen eine etwas dunklere, gesättigtere
Färbung, die Hautpartien selbst erscheinen gedunsen und leicht geschwollen.
Ein solches Confluiren sieht man am häufigsten im Gesicht, schon seltener
an den Extremitäten, überhaupt da, wo die Flecke am dichtesten auftreten
(in der Umgebung der Mundwinkel, an den Handgelenken). Am Rumpf und
gewöhnlich auch an den Extremitäten stehen die Flecke nur vereinzelt und
bleiben isolirt. Nie treten sie an den einzelnen Körperstellen zu gleicher Zeit
auf. Sind z. B. das Gesicht und die oberen Extremitäten schon deutlich be-
fallen, so bemerkt man an den unteren Extremitäten noch keine Spur oder
nur schwache Andeutungen eines Exanthems. Steht das Exanthem an den
unteren Extremitäten in Blüte, so sind die zuerst befallenen Stellen bereits
abgeblasst und der Ausschlag im Schwinden begriffen.
Die katarrhalischen Entzündungs- und Reizerschemunge n
der Schleimhäute der Conjunctiva, des Nasen-Rachenraumes und des
Kehlkopfes bestehen während des Blüthestadiums der Röthein fort und er-
fahren in den ersten 24 — 36 Stunden eine deutliche Steigerung. Bei sehr
frühzeitig zur Untersuchung gekommenen Fällen constatirt man mitunter an
Stelle der diffusen Röthung und Schwellung der Schleimhäute am harten und
weichen Gaumen eine mehr fleckige Röthe, so dass die „katarrhalische" Ent-
zündung wie bei den Masern, Varicellen etc. wohl als Schleimhaut-
exanthem aufgefasst werden darf. In der Hälfte der Fälle sind die Hais-
und Nackendrüsen geschwollen, eine Milzvergrösserung konnte ich nicht
constatiren. Fieber fehlt vielleicht in keinem Falle. Es hält sich aber
auf einer sehr massigen Höhe (38" — 38-5° C.) und dauert nur kurze Zeit
(2, 3 Tage). Das subjective Wohlbefinden des Kindes wird nur wenig gestört.
Lästig ist bisweilen der heftige Schnupfen, die Lichtscheu und der aus-
gesprochene Hustenreiz; einige Patienten klagten auf dem Höhestadium des
Exanthems über Brennen und Hitzgefühl im Gesicht. Sonst lassen sich die
Kinder kaum im Zimmer, geschweige denn im Bette erhalten. Nach 3, 4 Tagen
sind sowohl das Exanthem wie alle übrigen Krankheitserscheinungen ge-
schwunden. Complicationen und Nachkrankheiten fehlen. Hin und wieder
kommt zwar ein schwererer, selbst tödlich verlaufender Fall vor (Röthein mit
Gastro- enteritis, doppelseitiger Pneumonie und Exitus letalis sah Emmixghaus!)
inwieweit es sich dann aber um „zufällige" Complicationen handelt, wird
kaum zu entscheiden sein. — Ein solch vereinzeltes Vorkommnis ändert
sicher Nichts an der Thatsache, dass die Röthein eine der mildesten
und ungefährlichsten Infectionskrankheiten sind. Darin stimmen
alle Beobachter in Deutschland, wie in Frankreich überein. Diese An-
schauung wird aber keineswegs durchgängig von den englischen und ameri-
kanischen Autoren getheilt.
390 RÜCKENMARKSKRANKHEITEN.
So constatirte Aitken (1872) wiederholt Todesfälle. Schwere Er-
krankungen werden von Cheadle, Robinson, Geiffith u. A. erwähnt. Eine
bösartige Epidemie (166 Fälle) beobachtete Edwards während des Frühjahrs
und Winters 1881/82 im Philadelphia Hospital (The American Journal of the
med. Sciences Oct. 1884).
In 15% seiner Fälle trat schon im Stadium invasionis Nausea und Er-
brechen, ja selbst Convulsionen und Delirien auf; in 3 Fällen heftiges Nasen-
bluten. Während der Eruption stieg oft die Temperatur auf 39-5<'— 40" C.
der Puls auf 120 — 150 Schläge in der Minute. In manchen Fällen kam es
sogar zu Herzschwäche. In 30% bestand Albuminurie in 9 Fällen Hydrops.
Dabei traten sehr häufig Complicationen auf: Pneumonien, Bronchitiden,
Pleuritiden (12 Fälle); in 40'^/o gastro-enteritische Reizerscheinungen; einmal
tuberculöse Meningitis. Recidive wurden zweimal (am 40ten und 20ten Tage)
beobachtet. Exitus letalis erfolgte in 7 Fällen. Nach alle dem ist es be-
greiflich, wenn Edwards die Prognose der Rubeola nur mit grossem Vor-
behalt als günstig bezeichnet, v. Genser bemerkt dazu mit Recht, dass wir
auch hier zu Lande eventuell auf bösartigere Rötheinepidemien gefasst sein
müssten. Eine solche Wandelbarkeit des Charakters epidemischer Krank-
heiten steht ja nicht vereinzelt da (z. B. beim Scharlach!)
Wenn es so schwer hielt, dass sich die Rubeolen eine allseitig anerkannte
Selbständigkeit erringen konnten, so liegt der Hauptgrund dafür wohl in der
unleugbaren Aehnlichkeit der Röthein und Masern. Die Differenzial-
diagnose ist im Einzellfall gewiss nicht immer leicht. Als Stütze der
Rötheindiagnose müssen die vorher überstandenen Masern dienen.
Zwar kommen zwei und mehrmalige Erkrankungen an Masern vor, das sind
aber doch nur immer vereinzelte Ausnahmen. Treten gleichzeitig bei
30, 40 Kindern, welche früher ausgesprochene Masern gehabt haben, masern-
artige Exantheme mit leichten Fiebererscheinungen etc. auf, so ist es nicht
zulässig, diese Erkrankung als eine mitigirte Form der Masern (in analoger
Weise wie die Variola und Variolois!) aufzufassen, schon deshalb nicht, weil
eben so oft die Kinder von den leichteren, milderen Röthein zuerst befallen
werden können, und sie dann später bei der nächstfolgenden Masernepidemie
an ausgesprochenen Masern schwer erkranken.
Betreffs der Einzelheiten sei hier noch einmal kurz auf die längere
Dauer der Incubation der Röthein hingewiesen, auf das Fehlen eines eigent-
lichen Prodromalstadiums, auf die geringen Fiebererscheinungen, die Flüchtigkeit
des Exanthems, den Mangel einer Bronchitis und die geringfügige Beein-
trächtigung des Allgemeinbefindens, schliesslich auf das eventuelle Nicht-
Herrschen einer gleichzeitigen Masernepidemie oder das Nicht vorkommen aus-
g espr 0 c h e n e r Masernerkrankungen während der Rötheinepidemie. Herrschen
aber beide Epidemien gleichzeitig oder in unmittelbarer Aul-
einanderfolge (Thomas, Wolberg, v. Genser, Claus etc.) so zeigt es
sich um so deutlicher, dass das Ueberstehen der Röthein keinen Schutz
verleiht vor den Masern und umgekehrt.
Eine besondere Behandlung erheischen die Röthein nicht. Die
Kinder mögen 1, 2 Tage das Zimmer hüten, im Bett sind sie kaum zu er-
halten. Wird „Arznei" gewünscht, so wird eine mixtura acida nicht schaden.
POTT.
Rückenmarkskrankheiten. Die Erkrankungen des Rückenmarkes sind,
soferne sie selbständig wichtige Krankheitstypen darbieten, in den Ar-
tikeln ,^Mi/eUtis," y^Systemerkrankungen,^'- „Tabes dorsalis, „Si/ringomyelie,^^
Friedreich'-scä« Krankheit,'-'' „Muskelatropie" behandelt. Desgleichen ist den dem
Kindesalter typischen Rückenmarksaffectionen ein besonderer Abschnitt im
Artikel ^^Kinderlähmungen'-'' gewidmet. Bezüglich der Bulbärparalyse sei auf
RÜCKENMARKSKRANKHEITEN. 391
den Artikel „Paralysis glosso lahio-lanjngea,^' bezüglich der LANDEY'schen
Paralyse auf den Artikel ^Paralysis ascendens acuta"' verwiesen. Die diöusse
ßückenmuskelsklerose ist gemeinsam mit der gleichsinnigen Gehirnajftection im
Artikes y^Sclerosis insularis multiplex'-' besprochen. Es erübrigt jetzt nur noch
jene Kückenmarksaffectionen in übersichtlicher Reihenfolge aufzuzählen, denen
klinisch keine selbständige Stellung zuerkannt werden kann. Vorerst sei
eine kurze Skizze der Kückenmarksanatomie und -physiologie gegeben.
a) Rückenmarksanatomie.
Das Rückenmark bildet einen cylindrischen Strang, der nach oben in das ver-
längerte Mark übergeht, nach unten in den kegelförmigen Conus terminalis s. medallaris
endigt. Es wird von der Pia mater eng umschlossen und zeigt entsprechend dem Abgang
der Extremitätennerven zwei Anschwellungen, die Cervicalmi Schwellung (zwischen dem
3. Hals und 2. Brustwirbel) und die Liimhalanschwellung (zwischen dem 10. Brustwirbel
und 2. Lendenwirbel i. e. dem Anfang des Conus terminalis). Man theilt das Rückenmark
ein in eine Pars cervicalis, Pars dofsalis und Pars lumbo-sacralis. Auf der ventralen
Seite wird das Rückenmark durch eine einschneidende Furche {Ftssura longitudinalis) in
zwei symmetrische Hälften getheilt. Jeder dieser Hälften wird wieder durch je zwei
seitliche Furchen (Sulcus lateralis anterior et posterior) in mehrere Stränge, die als
Vorder-, Seiten und Hinterstrang bezeichnet werden getrennt. In der Pars cervicalis
des Rückenmarkes ist noch eine weitere Furche sichtbar, der Sulcus intermedius posticus,
der, in der Mitte zwischen hinterer Median- und hinterer Seitenfurche gelegen, den Hinter-
strang in den medianwärts gelegenen Goll' sehen Strang (Funiciilus gracilis) und den
lateralwärts liegenden Burdagh' sehen Strang (Funicultis cuneatus) theilt.
Die aus dem Rückenmark austretenden vorderen und hinteren Nervenwurzeln
convergiren auf ihrem Wege zu den Intervertebrallöchern mit einander. Die hintere Wurzel
jedes Spinalnerven schwillt vor dem Eintritt in das zugehörige Foramen intervertebrale
zu einem Ganglion an (Ganglion spinale), während die entsprechende vordere Wurzel an
diesem Ganglion vorbeizieht und sich mit der hinteren Wurzel erst nach ihrem Austritte
aus dem Spinalganglion vereinigt. Da die Wurzelursprunge am Rückenmarke bedeutend
näher an einander liegen als die Intervertebrallöcher, so müssen die unteren Wurzeln
immer steiler verlaufen und bilden vom Conus terminalis an ein Bündel, das als sogenannte
Cauda equina parallel nach abwärts verlauft.
An einem Querschnitte des Rückenmarkes erkennt man die central gelegene, graue und
die periphere, weisse Substanz und im Centrum einen feinen Canal, den Canalis centra-
lis, der nach oben in den vierten Gehirn Ventrikel mündet und nach unten blind im Filum
terminale endet.
Die graue Substanz bildet die charakteristische Schmetterlings- oder H-Figur,
mit den zwei grauen Flügeln und dem mittleren Verbindungsstück, der grauen
Comissur, in welcher der Centralcanal liegt. Der nach vorne gelegene Theil des Ver-
bindungsstückes beider Rückenmai'kshälften wird als weisse Commissur bezeichnet, da
er zur weissen Substanz gehört. An jedem Flügel der grauen Substanz unterscheidet
man das Vorderhorn, den Querschnitt der grauen Vordersäulen und das Hinterhorn,
den Querschnitt der grauen Hintersäule. Die Masse der grauen Substanz und hiemit
die specielle Gestaltung derselben wechselt in den verschiedenen Höhen des Poückenmarkes,
am stärksten ist sie im Hals- und Lendentheil entwickelt.
An einzelnen Stellen des Rückenmarkes gehen von den Seitenrändern der grauen
Substanz Fortsätze aus, welche, sich radiär verzweigend, in die weisse Substanz eindringen,
sie werden als Processus reticularis bezeichnet. Als CLARKE'sche Säulen wird eine in der
Pars dorsalis des Rückenmarkes gelegene besondere Formation der grauen Substanz be-
zeichnet, gelegen an der Grenze zwischen Vorder- und Hintersäule und gerade an der
Spitze des weissen Hinterstranges.
Die vorderen Wurzeln treten in mehreren Bündeln aus dem vorderen Umfange
des Vorderhornes, die hinteren Wurzeln treten in den Hinterstrang und zwar in den
BuRDAGH'schen Strang ein und treten zum Theil direct, zum Theil in longitudinal-ge-
schwungener Einstrahlung in die Spitze des Hinterhornes ein.
Der Unterschied zwischen grauer und weisser Substanz liegt in dem Reichthum an
Ganglienzellen, welche der ersteren eigen ist. Nach Waldeyer lassen sich folgende Gruppen
von Ganglienzellen in der grauen Substanz unterscheiden:
Ä. Vorderhornzellen.
^ j- 1 /-i a) vordere Partie « i i i n a) vordere Partie.
1. mediale Gruppe, ^j ^.^^^^^ ^ - 2. laterale Gruppe, ^j ^.^^^^^ ^
B. Zellen des Mittelst iickes (zwischen Vorder- und Hinterhorn).
1. Mittelzellen.
2. SxiLLiNG'sche Zellen in den CLARKE'schen Säulen.
392
KÜCKENMARKSKRANKHEITEN.
3. Seitenhornzellen. (Eine bestimmte Partie des Mittelgebietes, an der Basis des
Hintesborns gelegen, wird als „Seitenhorn'^ bezeichnet.)
C. Zellen des Hinterhornes.
a) basale Hinterhornzellen
b) centrale „
c) marginale „
Ausserdem gibt es noch ^zerstreute Zellen^, welche keiner bestimmten Gruppen-
bildung angehören. Auf die nähere Charakteristik der einzelnen Zellgruppen kann hier
nicht näher eingegangen werden und muss diesbezüglich auf die Arbeiten Waldeyer's ver-
wiesen werden.
Die weisse Substanz umgibt, von allen Seiten die graue Substanz. Der Verlauf
der Fasern in derselben ist seit Türk's berühmten Mittheilungen über die „secundäre
Degeneration" bekannt. Die von der Gehirnrinde kommenden Bahnen ziehen durch die
innere Kapsel, den Pedunculus cerebri und die Brücke in die als Pyramide bekannte For-
mation der Medulla oblongata und zwar derselben Seite. Ein Strang dieser Fasern tritt
direct in den gleichseitigen Vorderstrang ein und verläuft in demselben und zwar an seiner
inneren Seite: Pyramidenvorderstrangbahn. Ein anderes Faserbündel tritt auf die
andere Seite, und verläuft im hinteren Abschnitt des Seitenstranges nach abwärts:
Pyramidenseitenstrangbahn.
Ein schematischer Rückenmarksquerschnitt versinnbildlicht die übrigen
Faserzüge :
vj ptv
Schema der Eüokenmarkssysteme nach Flechsig und Gowers.
fv Pyramiden-Vorderstrangbahn, vcj Vorderstrang-Grundbündel, al Anterolateraler Strang (Gowers) 'ks Klein-
hirn-Seitenstrangbahn. ps Pyramiden-Seitenstrangbahn. sr Seitenstrangrest (seitliche Grenzschicht der grauen
Substanz), hg Hinterstrang-Grundbündel, j G o 1 l'scher Strang, ivv Vordere Wurzeln, r Eandzone.
Im Gebiete zwischen den beiden Vorderwurzeln liegen.
1. Die Pyramidenvorderstrangbahn.
2. Das Vorderstranggru7idhündel.
Im Gebiete zwischen je einer Vorder- und Hinterwurzel liegen:
1. Die Pi/ramidenseitenstrangiahn.
2. Die Kleinhirnseitenstranghahn.
3. Der anterolaterale Strang oder das GowERs'sche Bündel.
4. Der Seitenstrangrest.
Im Gebiete zwischen den beiden Hinterwurzeln:
1. der Gohh^scJie Strang,
2. der BuRDACH'sc7?e Stra^ig.
Auch auf die feinere, histologische Structur der weissen Substanz des Rücken-
markes kann hier nicht näher eingegangen werden und sei diesbezüglich auf die Schriften
von KÖLLiKER, His, GoLGi und Waldeyer verwiesen.
Das verlängerte Mark. Die Medulla oblongata hat einen äusserst complicirten
Bau und es können deshalb im Rahmen einer kurzen Skizze nur die wichtigsten Bestand-
theile, das grobe Gerüst geschildert werden. Verfolgt man den üebergang des Rücken-
markes in das verlängerte Mark, so findet man, dass die Vorderstränge, bevor sie in
den Pons eintreten, etwa in der Höhe des I. Cervicalnerven eine Kreuzung ihrer Fasern
vornehmen, wodurch ursprünglich in der Tiefe gelegene Bündel an die Oberfläche treten
und jene breiten Gebilde darstellen, die als Pyramiden bezeichnet werden, während die
eigentlichen Vorderstrangbündeln nach seitwärts und in die Tiefe rücken. Die Seiten-
stränge setzen sich direct nach oben fort d. h. sie bilden auch an dem verlängerten
Marke die gleichartigen Gebilde wie am Rückenmarke, nur dass sie statt von den moto-
RÜCKENMARKSKRANKHEITEN. 393
rischen und seniblen Spinalnervenwiirzeln von den motorischen Wurzeln des Hypoglossus
(XII) und den vorwiegend sensiblen Wurzeln des Glossopharyngeus (IX) und Vagus (X)
eingeschlossen werden. In ihren oberen Antheil werden sie Olivenstränge genannt,
weil ihnen daselbst ein besonderes, mandelförmiges Gebilde die Olive anliegt. Die Hinter-
stränge des Rückenmarkes weichen etwa oberhalb der Pyramidenkreuzung auseinander und
bilden zwei dicke Stränge Pedunculi oder Funiadi cerebelli, die direct ins Kleinhirn ein-
treten. Die Pedunculi cerebelli bestehen aus mächtigen Fasermassen, deren medianer
Antheil von der Fortsetzung der GoLL'schen Stränge gebildet wird, während der
laterale Theil nicht nur von der Fortsetzung der BuRDACn'schen Stränge, sondern
auch von den Corpora restiformia gebildet wird d. s. Faserzüge, welche theils von den
Vordersträngen entspringen, theils aus der Gegend der Olive und aus dieser selbst stammen.
Durch das Auseinanderweichen der Pedunculi wird die graue Substanz in Form einer
flachen Grube blosgelegt, das ist die Rautengrube, der Boden des 4. Ventrikels
Dieselbe wird durch quer verlaufende Faserbündeln in zwei ungleiche Hälften getheilt.
In der oberen Hälfte findet man eine kleine, dunkelpigmentirte Grube, unter welcher der
Facialiskern liegt. Nach auf- und lateralwärts hievon liegt der motorische Kern
des Trigeminus, In der unteren Hälfte der Rautengrube sieht man zwei Wülste neben
der Rautengrube, die FunicuU teretes, unter denselben liegt jederseits der Hypoglossus-
kern. Nach aussen von diesen findet sich eine dreieckige, graue Stelle, Ala cinerea,
unter deren vorderen Partie der Vaguskern, unter der rückwärtigen der Accessorius-
kern liegt. Etwas nach aufwärts vom Vaguskern liegt der Glossopharyngeuskern,
nach aussen von ersterem dagegen der hintere Acusticuskern.
b) Rückenmarksphysiologie.
Eine eingehende Physiologie des Rückenmarkes zu liefern kann nicht dem Rahmen
der beabsichtigten kurzen Skizze entsprechen. Es können nur die Grundthatsachen knapp
registrirt werden.
Das Rückenmark leitet motorische und sensible Bahnen und ist der Sitz der
Reflexcentren. Unsere Kenntnisse von der Motilität- und Sensibilitätsleitung sind
keineswegs festbegründet, selbst das BELL'sc7«e Gesetz, wonach die vorderen Wurzeln moto-
risch, die hinteren sensibel sind, ist nach neueren experimentellen Versuchen insoferne un-
richtig, als die vorderen Wurzel auch sensible Fasern enthält, die der hinteren Wurzel
entstammen. Die Pyramidenbahnen (Seitenstrang und Vorderstrang) stellen motori-
sche, die Hinterstränge sensible Leitungen vor. Die Kleinhirnseitenstrangbahn und
der Vorderseitenstrangrest dient ebenfalls sensibler Leitung; die Vordersäulen haben
motorische, die Hintersäulen sensible Functionen. Die Mukelsinnbahnen ver-
laufen in den Hintersträngen, ebenso wie die Bahnen der localisirten Tastem-
pfindung. Die Temperaturempfindung wird durch die graue Substanz fortgeleitet.
Die Vasomotoren verlaufen in den Seitensträngen und verlassen das Rückenmark
nach ihren Durchgang durch die graue Stibstanz mit den vorderen Wurzeln. Stricker
wies jedoch auch in den hinteren Wurzeln Vasodilatatoren nach.
Wichtig ist die reflectorische Thätigkeit des Rückenmarkes. Es enthält
eine Pteihe von Reflexcentren, d. h. Vorrichtungen, durch welche centripetal leitende
Fasern mit Gruppen motorischer Ganglienzellen in Verbindung treten und derart einen
centrifugal wirkenden Reiz auf bestimmte Muskelgruppen übertragen. Es sind Fasern vor-
handen, welche von der hinteren Wurzel in das Vorderhorn eintreten d. s. die Reflex-
bahnen. Einfache Reflexe haben ihre Reflexbahnen in demselben Rückenmarkssegment,
in welchem der Reiz durch die hintere Wurzel eintritt. Dies sind z. B. die Sehnenreflexe.
Complicirte Reflexbewegungen gehen aber derart vor sich, dass der sensible Reiz in die
verschiedensten Rückenmarkssegmente fortgeleitet wird und auf diese Weise mehrere
Schliessungen zu Stande kommen, d. h. eine ganze Reihe von Muskelgebieten reflectorisch
erregt werden. *)
Die wichtigsten Reflexcentren wären nach Leyden-Goldsgheider folgende:
1. Reflexcentrum für den Patellarreflex : oberster Theil der Lendenanschwellung.
2. Reflexcentrum für die Harnentleerung: Conus medullaris (3. und 4. Sacralnerv,
STiLLiNG'scher Sacralkern).
3. Reflexcentrum für die Kothentleerung ist in derselben Region wie das Blasen-
centrum gelegen.
4. Refiexcentrum für die Darmbeivegung : Lendenmark.
5. P».eflexcentrum für die Erection: Lendenmark.
6. Reflexcentrum für die Ejaculation: Lendenmark.
7. Reflexcentrum für die Uteruscontraction : Lendenmark.
8. Centrum cilio-spinale liegt zwischen sechsten Cervical- und dritten Dorsal-
nerven. Es ist ein Centrum für die Pupillenerweiterung.
*) Das Capitel der „Sehnenreßexe'^ ist für die allgemeine und specielle Rückenmarks-
pathologie so wichtig, dass dasselbe in einem eigenen Artikel von Prof. Jendrassik
ausführlich behandelt wird (s. d. in ds. Bd.).
394 ßÜCKENMAEKSKRÄNKHEITEN.
Vasomotorische Centren sind durch die ganze Länge des Rückenmarkes»
verstreut.
In der Medulla oblongata liegen die Reflexcentren für den Lidschi tiss, da:3 Niesen,
Husten, Saug-, Kau-, Schling-, Würg- und Brechbewegung. Ferner ist das ver-
längerte Mark der Sitz des Athmungscentrums (hinterer Theil der Rautengrabe, der
h erzreg ulirenden Centren {Vagnskerne) und eines die im Rückenmark liegenden
vasomotorischen Centren dominirenden Gefässnervencentrums.
Die Lehre von den trophischen Functionen des Rückenmarkes ist noch
vollkommen unerklärt. Es erscheint fraglich, ob es Centren im Rückenmark gibt, die eine
specifisch-trophische Function besitzen. Ebenso bestritten ist die Existenz specifisch tro-
phischer Nerven. Nach Nothnagel wird die Nutrition durch die Gefässnerven be-
herrscht und durch die sensiblen Nerven reflectorisch beeinflusst. Bekannt ist das Vor-
kommen trophischer Störungen bei Rückenmarksleiden (Decubitus, Arthropathien, Mal per-
forant, Panaritien Gangrän). Auch den Spinalganglien wird eine trophische Function zuge-
schrieben, wofür die Veränderung der Spinalganglien bei Herpes zoster als Beweis gelten kann.
E,ückenmarksabscess. Eine eitrige Entzündung des Eückenmarkes kommt
sehr selten vor. Die Abscessbildung stellt einen Ausgang der acuten Myelitis dar
(v. ,,Mt/eUtis^^), sie steht mit einer eitrigen Meningitis in Zusammenhang oder sie
ist der Effect einer traumatischen Verletzung.
Rückenmarksanämie. Die Blutleere des Rückenmarkes ist eine Folge allge-
meiner Blutleere, wie sie acut nach schweren Blutverlusten (Darm-, Gebärmutter-
blutungen u. a.) auftritt oder sich subacut im Verlauf chronischer Anaemie und
Chlorosen entwickelt.
Hieran reihen sich die ischaemischen Lähmungen, bedingt, durch Ver-
schluss der Aorta abdominalis. Die Symptome der Rückenmarksanämie sind Pare-
sen in den unteren Extremitäten und secundäre Atrophien. Die Sensibilität bleibt
meist intact. Die Prognose ist meist günstig, die Therapie eine gegen das Grund-
leiden gerichtete. ■ — Eine gewisse Anzahl von „hysterischen Lähmungen" beruht
auf Rückenmarksanämie.
Rückenmarksatrophie. Eine allgemeine Atrophie des Rückenmarkes stellt
die senile Atrophie dar.
Partielle Atrophien treten sowohl nach Amputationen auf als auch nach durch
andere Ursachen bedingten Inactivitätszuständen einzelner Extremitäten. In solchen
Fällen liegt eine Verkleinerung der entsprechenden Rückenmarkshälfte, sowie histo-
logisch erkennbare Atrophien an den Zellen und Fasern vor. ■ — Von der Atrophie
des Rückenmarkes zu unterscheiden ist die Rückenmarksag enesie oder Bückenmarks-
hypoplasie, eine Hemmungsmissbildung der Medulla oder einzelner Theile derselben.
Dieselbe findet sich bei mangelhafter Entwicklung oder Missbildung einzelner Extre-
mitäten {Hemimelie, Perohrachie etc.). Agenesie der Pyramidenbahnen wurde in
Fällen von Gehirnmissbildungen {Encephalocehj Mikrocephalie, HemiatropMa cerehri)
gefunden,
Rückenmarkscomj)ression. Man versteht unter Rückenmarkscompressiou eine
allmählig eintretende Compression des Rückenmarkes durch meningitische, entzünd-
liche Exsudate, durch Tumoren, die sich primär in den Rückenmarkshäuten ent-
wickeln oder in jenem Gewebe ihren Ursprung nehmen, das zwischen Medulla und
seiner knöchernen Umhüllung liegt und endlich am häufigsten durch Erkrankungen
der Wirbel selbst. Unter den letztgenannten nimmt die Caries der Wirbelknochen, das
Malum Potii rücksichtlich der Frequenz die erste Stelle ein. Der Grad der
Compression ist verschieden, oft makroskopisch kaum sichtbar, oft vollkommene
Zerquetschung. Der histologische Befund zeigt Quellung und Zerfall der Axen-
cy linder, Haemorrhagien, Schwellung der Glia und Sklerosirung. Die Symptome,
welche eine Compression des Rückenmarkes erzeugt, sind zunächst Erscheinungen der
sensiblen Sphäre: lancinirende Schmerzen, hochgradige Hyperaesthesie, Anaesthesia
dolorosa (v. Artikel „Empßndungsstörungen^'' Bd. 1). Zu diesen „ Wurzelsymptomen'-''
kommen später die Zeichen directer Rückenmarksläsion: Compressionsmye-
litis (v. „Artikel Myelitis", Bd. H, pag. 767).
Zur Localisationsdiagnose des comprimirten Rückenmarksabschnittes diene
die nachfolgend dargestellte Tabelle nach Edingee-Starb.
RÜCKENMARKSKRANKHEITEN.
395
Localisation der Function in den verschiedenen Segmenten
des Rückenmarks.
T, jy, Gefühlsinnervation
Segmente
Muskeln
^«fl«^« der Haut
2 — 3. Cervicalis
Sterno-mastoideus
Trapezius
Scaleni u. Nackenmuskeln
Hypochondrium (?)
Nacken und Hinterkopf
Diaphragma
'
4. Cervicalis
Diaphragma
Erweiterung d. Pu-
Nacken
Supra- und Infraspinatus
pille auf Reizung
Obere Schultergegend
Deltoides
d. Nackens. 4. bis
Aussenseite des Armes
Biceps u. Coraco-Brachialis
7. Cervix
Supinator longus
Rhomboidei
5. Cervicalis
Tiefe Muskeln des Schulter-
Scapular-Refl.
Rückseite der Schulter
blattes
5. Cerv. — 1. Dors.
und des Armes
Deltoides
Biceps u. Coraco-Brachialis
Sehnenreflexe der
Supinator longus et brevis
entspr. Muskeln
Aeussere Seite d. Ober-
Pectoralis, pars clavicul.
und Vorderarmes
Serratus magnus
Ellbogensehne
Rhomboidei
5.-6. Cervix
Teres minor
6. Cervicalis
Biceps
Reflexe von den Seh-
Aeussere Seite d. Ober-
Brachialis anticus
nen d. Extensoren
und Vorderarmes
Pectorales
Serratus magnus
Triceps
Extensoren der Hand und
Handgelenksehnen
Rücken der Hand, Ra-
der Finger
6.-8. Cerv.
dialisgebiet
Pronatoren
Schlag auf die Vola
7. Cervicalis
Caput longum Tricipitis
erzeugt Schliessen
Medianusgebiet d. Hand
Extensoren der Hand und
der Finger
Flexoren der Hand und
der Finger
R,adialisgebiet der Hand
der Finger
Pronatoren der Hand
Pectoralis, pars costalis
Subscapularis
Palmar-Reflex.
Latissimus dorsi
7.Cerv. — l.Dors.
Teres maior
8. Cervicalis
Flexoren der Hand und
Ulnarisgebiet der Hand
der Finger
und des Armes
Kleine Handmuskeln
Innenseite des Ober-
1. Dorsalis
Strecker des Daumens
Kleine Handmuskeln
Daumen- und Kleinfinger-
Ballen
und Vorderarmes
2.— 12. Dorsalis
Muskeln des Rückens und
Bauchhaut (4.— 11.
Haut des Rückens, des
des Bauches
Dors.), Hypochon-
Bauches u. der oberen
Erectores spinae
drium (?)
Glutäalregionen
1. Ltimbalis
Heo-Psoas
Cremasterreflex
Haut der Schamgegend
Sartorius
1.— 3. Lumb.
Vorderseite des Hoden-
sackes
2. Lumbalis
Heo-Psoas
Patellarsehne
Aeussere Seite der Hüfte
Sartorius
2.-4. Lumb.
Flexoren d. Knies (Remak?)
Blase und sexuelle
Quadriceps femoris
Centren. 2. — 4.
3. Lumbalis
Quadriceps femoris
Einwärtsroller d. Schenkel
Adductores femoris
Lumb.
1
Vorderseite der Hüfte
396
RÜCKENMARKSKRANKHEITEN.
Segmente
Muskeln
Reflexe
Gefühlsinnervation
der Hand
4. Lumbalis
Abductores femoris
Rectal-Centrum
Innere Seite der Hüfte
Adductores femoris
(4.Lumb. — 2.Sacr.)
u. des Beines bis zum
Tibialis anticus
Glutäal-Reflex
Knöchel. Innenseite
Peroneus longus
(4. — 5. Lemb.)
des Fusses
Flexoren d. Knies(FERRiER?)
5. Lumbalis
Auswärtsroller der Hüfte
Beuger d. Knfes (Ferrier?)
Fussclonus
Acliillessehne
Beuger des Fusses
Bein und Fuss, äusserer
Extensoren der Zehen
Theil
Peronei
Hüfte (den inneren Theil
1. Sacralis
Muskeln der Wade
ausgenommen)
5. Sacralis
Flexor longus hallucis
Hinterseite des Scrotum
Kleine Fussmuskeln
Plantar-Reflexe
Perineum. Anus.
Rückenuiarksdegeneration ist eine als auf- und absteigende Secundärdege-
neration bekannte patbologiscbe Eückenmarksveränderung v. „RiickenmarJcssecundär-
degeneration. "
ßückenmarksentzündung ist im Artikel Myelitis, Bd. II, pag. 767 abge-
handelt.
Rückenmarks-halbseitenläsion ist ein bestimmter Symptomencomplex, bedingt
durch die totale Läsion einer Hälfte des Eückenmarkquerschnittes. Die Kenntnis
der Halbseitenläsion verdanken wir Beown-Sequaüd daher „BnowN-SEQUAiiD'sc/ie
Lähmung .'■'■ Die typischen Kennzeichen der Halbseitenläsion sind: Auf Seite der
Läsion motorische Lähmung der unterhalb der Läsionsstelle gelegenen Körper-
theile, der Läsion gleichseitige Hemiplegie oder Hemiparaplegie, Steigerung der Seh-
nenreflexe, Hyperaesthesie für alle Empfindungsqualitäten in denselben Abschnitten,
in der Höhe der Läsion selbst eine anästhetische Zone und oberhalb derselben in
einzelnen Fällen eine den ganzen Körperumfang umfassende, schmale anästhetische
Kegion. Auf der der Läsion entgegengesetzten Seite findet sich vollständig
intacte Motilität und totale Anaesthesie der unterhalb der Läsionsstelle gelegenen
Theile. Zu diesen typischen Hauptsymptomen kommen wechselnde Zeichen der Myelitis
je nach Sitz und Art der Läsion. (Gürtelgefühl, Blasen-, Mastdarmstörungen, trophische
Gangrän, Gelenksaifectionen.)
Die Ursachen der Halbseitenläsion können Messer- und Degenstiche sein,
welche oft haarscharf die eine Rückenmarkshälfte durchschneiden, ferner kommen
Wirbelfracturen, Wirbelluxationen, Tumoren etc. in Betracht.
Klinische Bilder, welche scharf dem Beown-Sequaed' sehen Symptomencom-
plexe entsprechen würden sind selten, was darin seinen Grund hat, dass die
stattgefundene Läsion eben nicht genau nur die eine Hälfte des Rückenmarkes be-
troffen. Auch in jenen Fällen, wo unmittelbar nach der Verletzung ein „typischer
Beown-Sequaed" vorlag, ändert sich später das Bild, indem die Motilitätsstörung
zurückgeht, während die Sensibilität noch die schweren Veränderungen behält.
Rückenmarkshaemorrhagie. Blutungen in die Rückenmarkssubstanz (Haema-
tomyelie) im Sinne der Gehirnhämorrhagie sind selten. Die Ursache solcher Blu-
tungen sind Gefässrupturen, sei es dass diese durch eine primäre Affection des
Gefässes selbst (meist immer wieder auf Grund gewisser Dispositionsmomente) ver-
anlasst werden, sei es dass eine abnorme Blutbeschaffenheit oder eine Circulations-
störung im mechanischen Sinne hiezu den Anstoss gibt. Die Symptome der Rücken-
marksblutung werden sich je nach Sitz und Umfang der Blutung wechselnd ver-
halten. In der Casuistik der Beobachtungen sah man Mono- und Paraplegien, Con-
tracturen, Zuckungen, mehr oder minder vollständige Anaesthesien, trophische Haut-
affectionen, und schliesslich Erscheinungen einer acuten Myelitis (s. d.). Für die
Diagnose der Rückenmarksapoplexie ist in erster Linie der plötzliche Eintritt der
RÜCKENMARKSKRANKHEITEN. 397
Erscheinuugen maassgebeiid. Die Prognose hängt von Sitz und Umfang der Blu-
tung ab.
Rückenmarkshinterstraiig'erkrankung. Bildet das typische Bild der Tabes,
(v. Artikel „Tabes dorsalis"). Chronischer Ergotismus soll ebenfalls zu Hinterstrang-
erkranljung führen (JErgotintabes). Desgleichen kann die Pellagra unter der Form
einer Hinterstrangsaffection auftreten (v. Artikel ^Pellagra'-'-y Ferner gibt es Fälle
sogenannter „Combinirter Systemerkrankung,''^ in denen die Hinterstränge neben
anderen Fasersystemen degenerirt sind.
Rückenmarkshöhlenbildiing bietet das klinische Bild der Syringomyelie (vergl.
Artikel „Syringami/elie^'' in ds. Bd.).
Rückenmarkshyperäiuie ist eine Plethora des ßückenmarkgefässgebietes, eine
Ueberfüllung der Gefässverästigungen mit Blut. Sie wird als die Ursache einer
Reihe von klinischen Symptomenbildern angesehen, die sich als präteriirende, moto-
rische und sensible Lähmungserscheinungen darbieten und als deren Ursachen func-
tionelle Ueberreizung, Erschütterung, Erkältung, medicamentöse und bakterielle In-
toxicationen beschuldigt werden. Mit der fortschreitend ausgebildeten Technik der
Rückenmarkshistologie wird das meist hypothetische Gebiet der Rückenmarks-
hyperämie immer mehr eingeengt.
Rückenmarkslähmung, Paresen und Paralysen mehr oder minder umfang-
reicher Muskelgebiete in Folge von Rückenmarkserkrankungen. Als solche gelten
die pathologisch-anatomisch begründeten Affectionen des Markes. Es gibt aber
weiter auch Spinallähmuugen, denen die pathologisch-anatomische Basis noch fehlt,
es sind dies durchaus Krankheitstypen, denen das gemeinsame Moment zu-
kommt, dass das Nervensystem nicht primär, sondern secundär in Folge der Affec-
tionen anderer Organe befallen wird.
Hiezu gehören zunächst die spinalen Reflexlähmungen. Dieselben wurden
beobachtet im Zusammenhang mit Erkrankungen der Harn- und Geschlechtsorgane.
Man sah sie auftreten bei Gonorrhoeen, Urethrastricturen, Prostataerkrankungen.
Man beobachtete eine Reihe von Phimosenf allen, bei denen eine bestehende Reflex-
lähmung nach Behebung der Phimose zurückging. Eine zweite Gruppe von Reflex-
lähmungen wurden nach Reizzuständen des Intestinaltractes beobachtet. So wurden
Dentalparahjsen und Lähmungen in Folge von Darmparasiten bei Kindern be-
schrieben. Man beobachtete sie im Gefolge schwerer dysenterischer Enteritis, aber
auch bei Erwachsenen. Eine weitere Gruppe solcher Reflexlähmungen werden durch
Uterusaffectionen ausgelöst (Metritis, Lageveränderung der Gebärmutter, in die
Geschlechtswege eingeführte Fremdkörper etc.). Ihre Differenzirung von hysteri-
schen Lähmungen ist schwierig. Schliesslich reihen sich hieran Lähmungen, die
nach Traumen auftreten. Beobachtet wurden dieselben nach Sturz-, Fall-, Schlag-
und Schussverletzungen, ohne dass gerade eine äusserhch sichtbare Continuitäts-
trennung irgend eines Körpertheiles in jedem Falle stattgefunden hätte. Es gibt zwei
Theorien, welche die Reflexlähmungen zu erklären suchen: Die vasomotorische
Theorie von Bkown-Sequaed, wonach die Lähmung als Folge eines von der peri-
pherischen Affection angeregten Gefässkrampfes im Rückenmarke erklärt wird und
die Erschöpfungstheorie von Jaccoud, nach welcher der periphere Reiz das
die gelähmte Muskelgruppe innervirende Rückenmarkscentrum functionell er-
schöpft hat.
An die Reflexlähmungen schliessen sich jene Spinallähmungen an, welche als
Nachkrankheiten acuter Infecte beobachtet wurden, nach Typhus, Diphtherie,
Scharlach, Variola, Cholera, Puerperalkrankheiten u. a. Während man aber früher
diese Lähmungen als rein functionelle Paralysen betrachtete, liegen gegenwärtig
schon eine ganze Reihe anatomischer Befunde vor, in denen bald zerstreute, myelitische
Herde, bald poliomyelitische Veränderungen beschrieben wurden. Als rein functionell
sind hingegen die von Leyden und Gublee als asthenische Lähmungen be-
schriebene Motilitätsstörungen betrachtet, die namentlich im Gefolge des Typhus
beobachtet werden.
398 RÜCKENMARKSKRANKHEITEN.
Eine merkwürdige Form von Lähmung ist die intermittirende Malaria-
lähmung. Eeb beschreibt sie als eine bis zur völligen Paralyse fortschreitende
Lähmung der unteren und zuweilen auch der oberen Extremitäten, selbst manchmal
von Sphincterenlähmung begleitet, stundenlang andauernd und häufig unter kritischen
Schweissbruch zurückgehend, um nach dem Quotidian- oder Tertiantypus wieder-
zukehren und auf Chinindarreichung gänzlich zu verschwinden.
Als Rückenmarkslähmungen, werden Paralysen beschrieben, die im Verlaufe
chronischer Intoxicationen (Blei-, Arsen-, Schwefelkohlenstoff, Quecksilber,
Seeale, Tabak und Alkohol), obwohl für die meisten die periphere Pathogenese wahr-
scheinlich ist.
Neuere Untersuchungen haben im Allgemeinen festgestellt, dass sowohl die
meisten Reflexlähmungen, als auch namentlich die nach Infectionskrankheiten und
unbestreitbar die nach chronischen Yergiftungen beobachteten Lähmungen neuriti-
sch.en Ursprunges sind und eventuell nachweisbare Rückenmarksveränderungen
sich secundär hinzugestellt haben. Eine ausführliche Darstellung dieser Thatsachen
liefert der Artikel „ Polyneuritis''^
Rückenmarksmissbildungen. Zu den Missbildungen des Rückenmarkes gehört
die schon besprochene Agenesie seu Hypoplasie, ferner die Ämyelie, das totale Fehlen
des Rückenmarkes, die Atelomyelie, das Fehlen des Halsmarkes (während der übrige
Theil des Rückenmarkes normal gebildet ist), die Diastematomyelie, die Spaltung des
Rückenmarkes in zwei Hälften, die Diplomyelie, das doppelte Rückenmark, bei
Doppelmissbildungen vorkommend. (Vergl. Artikel „ Wachsthumsstörungen und
Missbildungen^^ im Bande „Geburtshilfe-Gynäkologie^^, pag. 888.)
Rückenmarks-secundärdegeneration. Seit TtiRK's grundlegenden Unter-
suchungen unterscheidet man eine absteigende und eine aufsteigende Secun-
därdegeneration. Unter absteigender Secundärdegeneration versteht man eine De-
generation der im Rückenmarke verlaufenden Pyramidenbahnen im Anschlüsse und
als Folge einer Läsion der motorischen (Pyramiden-) Bahnen im Gehirn. Dieser
Faserzug zieht beiderseits durch den Pons und den internen Abschnitt des Pedun-
culus cerebri zum hinteren Schenkel der Capsula interna und durch den Stabkranz
ausstrahlend zur Grosshirnrinde, wo er im Bereiche der vorderen und hinteren
Centralwindung seine Endigung findet. Die Degeneration findet sich in den Pyra-
midenvorderstrang- und den Pyramidenseitenstrangbahnen und zwar, da diese auch
Fasern der entgegengesetzten Grosshirnhälfte enthält *), in ersterer auf der der
Läsion zugehörigen, in letzterer auf der der Läsion entgegengesetzten Seite.
Klinisch ist die absteigende Degeneration oft gar nicht kenntlich; doch wird
die Steigerung der Sehnenreflexe und die Contracturbildung bei alten Apoplektikern
darauf bezogen.
Eine aufsteigende Degeneration entsteht durch eine Läsion der hinteren
Wurzeln, resp. der Spinalganglien. Degenerirt erscheinen die GoLL'schen Stränge
und die Kleinhirnseitenstrangbahn. Singer erzeugte aufsteigende Degeneration experi-
mentell durch Durchschneidung der hinteren Rückenmarkswurzeln beim Hunde.
Klinische Symptome macht aufsteigende Degeneration, soweit dies bisher be-
kannt ist, nicht.
Als gemischte Secundärdegeneration wird die Degeneration be-
schrieben, die sich im Anschlüsse an eine Querschnittsläsion entwickeln kann und
oberhalb des Herdes das Bild der aufsteigenden, unterhalb desselben das
Bild der absteigenden Degeneration bietet. Rigidität, Muskelcontracturen und
Erholung der Sehnenreflexe werden auf diese anatomische Veränderungen bezogen.
Rückenmarkssklerose. Die herdförmige Sklerose des Rückenmarkes ist im
Artikel „Sclerosis insularis multiplex"- (in ds. Bd.) behandelt.
Rückenmarkssyphilis. Für fast alle Rückenmarksaffectionen wird die Lues
als ätiologisches Moment angeführt. Es gilt dies namentlich für die Fälle von
•"J Vergl. „Rückenmarksanatomie", pag. 392.
r
RÜCKENMARKSKRANKHEITEN. 399
Hinterstraugsklerose (Tabes) als aucli für die von Seitenstrangsklerose (Tabes spa-
stica, spastische Spiualparalyse), schliesslich aber auch für herdförmige Sklerosen
(Sclerosis iusularis multiplex). Die Zahl der Fälle von Syphilomen (Gummen)
des Rückenmarkes ist gering. Auch acute Myelitiden und das wenig scharf
begrenzte Gebiet der chronischen Myelitis werden in einzelnen Fällen auf luetische
Basis gestellt. Als ^sijphilüische Spinalparalijse" hat Erb einen Symptomencomplex
beschrieben, den er bei Syphilitischen häufig zu beobachten Gelegenheit hatte. Das
Krankheitsbild charakterisirte sich mit spastischer Parese und den Folgen des aus-
gesprochen spastischen Ganges, Blasenschwäche, Abnahme der Potenz, beträcht-
liche Sensibilitätsstörung. Anatomisch deutet Erb diesen Zustand als eine par-
tielle, myelitische Querschnittsläsion des Dorsalmarkes. Nach Oppenheim bildet
das Prototyp der Rückenmarkssyphilis eine ^universelle Meningomyelüis sijphilüica,
eine von den Rückenmarkshäuten ausgehende, diffuse Entzündung, die die Neigung
besitzt, auf die Wurzeln überzugreifen und Ausläufer in der Form von Geschwulst-
zapfen von den Peripherie her in die Rückenmarkssubstanz hineinzuschicken." Als
Kriterien für die Diagnose der Rückenmarkssyphilis *) stellt Oppenheim auf: 1 . die
gleichzeitig oder vorausgegangenen Hirnsymptome, 2. den schubweisen Verlauf der
Erkrankung und das Fluctuiren der Einzelsymptome, 3. die mengitischen Reiz-
erscheinungen und Wurzelsymptome, 4. die auf die Multiplicität der Herde deu-
tenden Erscheinungen, 5. den unvollkommen entwickelten Symptomencomplex der
BEOwN-SEQUARD'sche Halbseiteulähmung. Eine Reihe von Autoren rathen für jeden
Fall von chronischer Rückenmarkserkrankung den Versuch einer Schmiercur an, ein
mit Bezug auf die allgemein anerkannten innigen Beziehungen zwischen Rücken-
marksaffectionen und luetischen Infect jedenfalls für die Praxis berücksichtigens-
werther Vorschlag.
Rückenmarksreizung, Spinalirritation, ist eine besondere Form der Neuras-
thenie und wird im Artikel ^Neurasthenie^ beschrieben.
Rückenniarksseitenstrangerkrankung wird als selbständiges Krankheits-
bild gegenwärtig von der Mehrzahl der Autoren nicht anerkannt. Der von Charcot
herrührende Terminus ^Tahes spastica'-^ und die von Berger gebrauchte Bezeich-
nung ^Laterulsklerose'^ werden heute nicht mehr im Sinne eines selbständigen
Krankbeitsbe griff es angewendet. Die Seitenstrangerkrankung existirt so-
mit nicht als selbständige Sy st emerkrankung, sondern nur als Theil-
befund complicirt anatomischer Rückenmarksaff ectionen. Als solche
sind zu nennen die „amyotrophische Lateralsklerose" (v. Artikel „;Sysfemer-
Tcrankungen"'), die S ecundärdegenerationen, einzelne Typen von multipler
Sklerose (v. „ Sclerosis insiilaris multiplex'^ ), die progressive Irrenpara-
lyse, endlich Fälle von luetischer Rückenmarkserkrankung (v. „Rücken-
markssyphilis''''). Klinisch bieten solche Fälle das Bild der spastischen Lähmung und
werden mit der CoUectivbezeichnung „spastische Spinalpai'alyse" belegt. Der
Ausdruck ,,spastische Spinallähmung" deckt somit anatomisch und pathogenetisch
verschiedene Rückenmarkskrankheiten.
Rückenmarkssystemerkrankungen sind die Erkrankungen einer (einfache
Systemerkrankung) oder mehrerer (combinirte Systemerkrankung)
Fasersysteme. Dieselben sind im Artikel „Systemerkrankungen"' ausführlich dar-
gestellt.
Rückenmarkstuberculose s. Artikel „Tuberculosen.
Rückenmarkstumoren. Die Rückenmarkstumoren müssen wir eintheilen
a) in solche, welche von der knöchernen Wirbelsäule und ihrer Weichtheile aus-
gehen und secundär das Mark betreffen und h) in solche, die im Rückenmarke selbst
oder in seinen Hüllen entstehen. Die vertebralen Geschwülste können sein
Exostosen, Echinococcen, Myxome, Osteosarcome und Carcinome. Die Carcinome
*) Das Capitel der „ Rückenmarkssyphilis " ist im Bande „Hautkrankheiten und
Syphilis" dieses Sammelwerkes ausführlich behandelt.
400 RÜCKENMAEKSKRANKHEITEN.
der Wirbelsäule sind immer seciindär, meist metastatisch nach Mammacarcinom, Sie
usuriren die Wirbelkörper und erzeugen einen Gribbus; klinisch bieten sie das Bild der
Compressionsmyelitis. Ist das Mark noch nicht wesentlich betroffen, dann kann die
Diagnose Schwierigkeiten bereiten, zumal vornehmlich die Erscheinungen der Nerven-
compression das Bild einer Neuralgie (Ischias, Intercostalneuralgie) vortäuschen kön-
nen. Die Differentialdiagnose von der Cariestuberculose ist unter Beachtung und
Erwägung aller Umstände nicht zu treffen, in speciellen Fällen wird man auch die
Möglichkeit eines usurirenden Aortenaneurysmas vor Augen haben müssen.
Yon den eigentlichen Rückenmarkstumoren gehen die meisten von den
Häuten aus. Es sind meist primäre Neoplasmen. Extradural wurden beob-
achtet: Lipome j Eiichondrome, JEchinococcen, intradural: Fibrosarkome, Angio-
sarkome, Lipome, Neurome. Neurome und Sarkome pflegen zuweilen multipel vor-
zukommen. Im Marke selbst entwickeln sich Tuberkeln, Cysticerken und Gliome.
Das Krankheitsbild, welches die Entstehung derartiger Tumoren begleitet, ist das
einer mehr oder weniger raschen Compression der Nervenwurzeln und des Markes.
Zuweilen wurde der BEOwnsr-SEQUAKD'sche Symptomencomplex beobachtet. Eine diffe-
rentielle Diagnostik des intra- oder extraduralen Sitzes ist nicht möglich. Der
Höhenlocalisation nach unterscheiden wir:
a) Tumoren des Halsmarkes: Spastische Hemi- oder Paraplegie, Anaesthesien
und trophische Störungen des Hals- und Nackenmuskulaturgebietes. Bei Betheihgung
der oberen Dorsalwurzeln: Pupillar- und Lidspalterscheinungen.
h) Tumoren des Dorsalmarkes : Paraplegie und Anästhesie der Beine, Lähmung
der Bauchmuskeln und Anästhesie am Rumpfe.
Bei beginnender Compression sowohl des Hals- als des Dorsalmarkes
sind die Sehnenreflexe erheblich gesteigert und es besteht gleichzeitig (trotz intactem
Lendenmark) eine Erschwerung des willkürlichen Harnlassens.
Bei totaler Compression erlöschen die Reflexe und es tritt Harnträu-
feln ein.
c) Tumoren des Lendenmarkes: Es wird der Plexus lumbalis und sacralis be-
troffen (atrophische Lähmung und Anästhesie beider Beine, Fehlen der Reflexe,
Blasen- und Mastdarmlähmung).
d) Tumoren der Cauda: Im Gegensatz zu den Lendenmarkstumoren wird
immer zuerst der Plexus sacralis von den Caudatumoren betroffen. Ein ausschlag-
gebendes Merkmal zwischen Affection der Cauda und jener des Lendenmarkes existirt
nicht (Letden-Goldscheidee). Charakteristisch für die Diagnose des Rückenmarks-
tumoren ist die Aufeinanderfolge der Symptome, d. h. primär Wurzelsymptome,
secundär Markssymptome, ferner dass zunächst nur einseitige, später doppelseitige
Compressionserscheinungen auftreten. Als Hilfsmittel zur genauen Segmentdiagnose
diene die im Abschnitte j^Kückenmarkscompression" dargestellte Tabelle nach
Edinger-Staek.
Die Therapie der Rückenmarksgeschwülste kann, wenn man von den
Gummageschwülsten absieht, nur eine chirurgische sein. In der That hat die Chi-
rurgie auch auf diesem Gebiete bewundernswerthe Erfolge aufzuweisen. Hoeslet
war der erste, der im Jahre 1887 ein Fibromyxom in der Höhe der 3. und 4.
Dorsalwurzel mit den Ausgang in Genesung entfernte. Bis zum Jahre 1895 sind
12 Fälle der operativen Entfernung von Rückenmarkstumoren bekannt. Ausführ-
liches hierüber ist im Artikel ^RückenmarkscMrurgie'^ der Disciplin ^Chirurgie'-'- dieses
Sammelwerkes nachzulesen.
Rückenmarksvordersäulenerkrankung. Die Vordersäulen und die in ihnen
liegenden motorischen Ganglienzellen sind erkrankt bei der Poliomyelitis acuta an-
terior. Dieselbe bietet klinisch das häufige Bild der spinalen Kinderlähmungen
(s. Artikel ^Kinderlähmung en,'-'' Bd. II, pag, 399). Auch bei Erwachsenen sind
Fälle von acuter und chronischer Entzündung der Vordersäulen beschrieben worden
und wurden als Poliomyelitis acuta et chronica adultorum bezeichnet. Die acute
Form wird auch acute Spinallähmung der Erwachsenen [wie bei den Kindern
I
RÜMINATION. 401
plötzlicli auftretende sclilaffe Lähmung (mono-, herai- und paraplegisch) mit räch nasch-
folgender Atrophie bei normaler Blasen- und Mastdarmfunction] benannt. Die chronische
Form stellt eine allmählig verschiedene Muskelgruppen betreffende Lähmung mit
nachfolgender Atrophie dar, während bei der progressiven spinalen Muskelatrophie,
die im Effect dasselbe Bild liefert, die Atrophie der Lähmung vorangeht. Eine
weitere Vordersäulenerkrankung stellt die ebengenannte Atrophia mnsculorum
Spina lis progressiva dar, die im Artikel „AIuskelatrop?tie^ (Bd. II, pag. 755) aus-
führlich behandelt ist. Schliesslich gehört die Vordersäulenerkrankung zu dem
pathologischen Befund der amyotrophischen Lateralsklerose (Vergl. Artikel ^Systeni-
erkrankungen"). C. R.
Rumination (Meryclsmus). Man verstellt unter Merycismus das Auf-
steigen von Nahrungstheilen bis in den Mund und Wiederhinunterschlucken
derselben, in den meisten Fällen, ohne dass ein eigentliches Wiederkauen
statt hat. Rumination findet sich bei beiden Geschlechtern, nach meinen
Erfahrungen am häufigsten bei Männern im Alter von 20 — 30 Jahren. In den
meisten Fällen handelt es sich um neurasthenische Individuen, in anderen
werden Zeichen von Neurasthenie vermisst. Mehrfach ist die Beobachtung
gemacht, dass die Rumination von Eltern auf Kinder, von Gouvernanten auf
ihre Zöglinge übertragen worden ist (Löwe Körner, Lossier).
Aetiologie: Seit der grundlegenden Arbeit von Dunner hat man als
Ursache des Merycismus eine Erschlaffung der Cardia angesehen, allein ein
Beweis hierfür ist bisher nicht erbracht, es scheint vielmehr, als ob der Ru-
minationsact bedingt wird durch Aspiration des Oesophagus, wobei sich die
Glottis schliesst und das Diaphragma heruntersteigt. Es ergibt sich daraus
eine günstige Bedingung für das Aufsteigen von Nahrungsbissen. Nichts
destoweniger kann, wie die Beobachtung von Schneider gelehrt hat, die Cardia
thatsächlich erweitert sein, ohne dass man indessen in der Erweiterung etwas
anderes als eine Folge der consequenten Rumination ansehen darf. Ausserdem
zeigen die Beobachtungen von Dehio, Ewald und mir, dass die Schluck-
geräusche völlig normal sein können. Endlich hat Decker gesehen, dass in
den Magen eingeführte Luft keineswegs schnell wieder ausgestossen wird,
was auf einen genügenden Tonus der Cardiamuskulatur hinw^eist. M. Rosen-
thal führt die Rumination auf eine krankhaft erregte motorische Reizbar-
keit des Vagus zurück, wobei der von Openchowski dargestellte Nervus dila-
tator cardiae eine Erweiterung der Cardia bewirkt, von w^o aus die Anti-
Peristaltik des Oesophagus eingeleitet wird. Die Vagusreizung dürfte nach
Rosenthal zumeist eine centrale sein.
Symptome: Die Symptome äussern sich abgesehen von der Rumination
selbst in dyspep tischen Erscheinungen, die je nach der Beschaffenheit des Magens
verschiedenartig sein können. Die Klagen beziehen sich meist auf Appetit-
mangel, Druck und Völle nach dem Essen, Aufstossen, unregelmässigen Stuhl,
selbst Erbrechen. Hierbei kann man die Beobachtung machen, dass in den
einzelnen Stadien der Krankheit die Erscheinungen sich ändern. So bestand
bei einem meiner Kranken im Beginn der Rumination starkes Sodbrennen
und saures Aufstossen, mit dem Fortschreiten der Rumination hörten diese
Erscheinungen allmählig auf. Der Ernährungszustand der Patienten kann
bei Rumination allerdings leiden, aber nicht durch diese, sondern durch die
in Folge des Wiederkauens sich entwickelnde, perverse Magenthätigkeit. Von
objectiven Veränderungen ist zunächst Magendilatation als Begleiterscheinung
der Rumination erwähnt, indessen handelt es sich nach meinen Erfahrungen
weniger um hochgradige Ausdehnungen des Organs, als vielmehr um Erschlaf-
fungen der Magenmuskulatur. Man hat ferner dem Chemismus bei Rumina-
tion die Aufmerksamkeit zugewendet, wobei es sich herausgestellt hat, dass
hier keineswegs, wie Alt wollte, eine gleichsinnige Veränderung in den che-
Bibl. med. Wissenscliaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. lET. ^o
402 RÜMPFMUSKELLÄHMÜNGEN.
mischen Functionen vorliege, sondern dass hier die allerverschiedensten Com-
binationen vorkommen können. Die Veränderungen des Chemismus stellen
demnach, wie ich bereits vor mehreren Jahren hervorgehoben habe, „kein
essentielles, sondern lediglich ein accidentelles Moment" der Kumination dar.
Diagnose. Dieselbe macht in denjenigen Fällen, wo die Patienten
selbst den Act der Rumination genau beschreiben, keine Schwierigkeit, in der
Regel verwechseln die Patienten Rumination mit Erbrechen. Dass es sich
um letzteres nicht handelt, ergibt sich aus dem Fehlen von Nausea und der
übrigen den Brechact begleitenden, charakteristischen Erscheinungen. Da es
sich in der Regel um nervös belastete Individuen handelt, ist die Fest-
stellung allgemein nervöser Alterationen von diagnosticher Wichtigkeit.
Therapie. In einzelnen Fällen lässt sich prophylaktisch gegen das be-
ginnende Leiden insofern ankämpfen, als man die Patienten auf die Noth-
wendigkeit hinweist, möglichst langsam su kauen und zu essen. Praktisch
wichtig ist es, die Patienten nicht allein, sondern stets in Gesellschaft essen
zu lassen. Ist die Rumination entwickelt, so sollte man in jedem Falle ver-
suchen, die Patienten dazu zu bringen, dass sie das Hochkommen von Nah-
rungsresiduen möglichst unterdrücken, in mehreren Fällen ist diese Mass-
regel Einhorn, Ponsger und mir gelungen. In anderen, namentlich veralteten
Fällen scheint hingegen die Unterdrückung der Rumination Magenbeschwerden
hervorzurufen, die schlimmer sind, als die Rumination selbst. Man thut in
solchen Fällen gut, gegen das Leiden nicht zu activ hervorzugehen. Wo im
Gefolge der Rumination dyspeptische Beschwerden vorliegen, kann man bei
genauer Kenntnis der Magenstörung, je nach dem Charakter der Magenstö-
ruEg durch Alkalien oder Säuren Erfolge erzielen. Auch die Strychninprä-
parate sowie die faradysche Sondenbehandlung sind in einzelnen Fällen
von Erfolg begleitet gewesen. Jürgensen hat in einem Falle mit gutem,
aber vorübergehenden Erfolge die Gavage versucht.
A/nhang, Regurgitation. Man versteht unter Regurgitation einen
Zustand, bei welchem meist flüssige Speisen bis in den Mund zurückgeworfen und
dann ausgespieen werden. Bis zu einem gewissen Grade fällt die Regurgitation
noch in die Breite des Gesundhaften, wie dies namentlich vom Kindesalter bekannt
ist (das „Speien der Kinder") und nur falls ein dauerndes Hochkommen von Spei-
sen stattfindet, kann man von einem krankhaften Zustand sprechen. Im übrigen
handelt es sich hierbei um einen ähnlichen Vorgang, wie wir ihn oben bei der
Rumination geschildert haben, wie denn auch der Uebergang von Regurgitation
in Rumination nach meinen Beobachtungen häufig vorkommt. Hierbei können
dyspeptische Beschwerden entweder ganz fehlen oder doch nur in sehr geringfügi-
gem Grade vorhanden sein. Der Chemismus verhielt sich in einigen Fällen, die
ich zu beobachten Gelegenheit hatte, durchaus normal. Auch für diese Art der
Magenstörung bildet Hysterie und Neurasthenie fast immer die Grundlage.
Diagnose. Die Diagnose ist in ausgesprochenen Fällen leicht, eine Ver-
wechslung ist möglich mit derPyrosis hydrochlorica, bei der gleichfalls ein
Hoclikommen saurer Massen stattfindet. Regurgitation unterscheidet sich von letzteren
dadurch, dass das bei Pyr. hydrochl. vorkommende, intensive, nach dem Oesophagus
und dem Rücken ausstrahlende Brennen fehlt, doch gibt es auch hier Uebergangs-
formen, welche die Unterscheidung unter Umständen erschweren können.
Therapie. Die Therapie fällt im wesentlichen mit der bei Rumination
überein. Ergibt die Untersuchung des Mageninhaltes, dass ein Säureüberschuss
vorliegt, so ist derselbe durch Alkahen abzustumpfen. Der wesenthchste Erfolg
beruht auch hier auf dem traite moral. boas.
Rumpfmuskellähmungen. Das allgemeine hierüber ist in dem Ar-
tikel ^^Nervenlähmung^^ gesagt worden.
Die Rumpfmuskeln können ebenso wie die Muskeln der Extremitäten
durch centrale Ursachen {Poliomyelitis, spinale Form der Miiskelatrophie), durch
EÖMPFMUSKELLÄHMÜNGEN. 403
Verletzung der sie versorgenden Nerven, und durch primäre Muskelerkran-
kungen {Dijstrophia miisc. progressiva) ihrer Function für kürzere oder län-
gere Zeit beraubt werden. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese oder jene
Nerven und Muskeln mehr zur Erkrankung neigen, wie andere, ohne dass
der Grund dafür immer mit gleicher Deutlichkeit ersichtlich ist. Beispiels-
weise ist eine isolirte Lähmung des Nervus thoracicus posterior [Dorsalis sca-
pulae Henle), aus dem Plexus brachialis, welcher die beiden MM. rhomhoidei
und den M. levator scapulae versorgt, sehr selten. Diese Muskeln ziehen das
Schulterblatt nach oben und den unteren Winkel medianwärts und nach
hinten; es fällt also bei der Lähmung diese Function aus.
Ebenfalls selten ist die Lähmung der Nervi thoracici anteriores, die
den M. pectoralis maior und minor und den M. subclavius innerviren. Es
fehlt dann die Wirkung des M. pector. niaj., welcher den Oberarm adducirt
und einwärts rollt, bei feststehendem Oberarm aber die Rippen hebt und
somit als Inspirationsmuskel dient; — des N. pector. min., der das Schulter-
blatt nach vorn und ein wenig nach abwärts zieht (beim Schieben von Lasten
und bei festgestelltem Schultergürtel ebenfalls durch Hebung der 2. — 5. Rippe,
an denen er inserirt, die Inspiration unterstützt. Ein gleiches thut der M.
subclavius bei festgestellter Clavicula mit der 1. Rippe, welcher im übrigen
die Feststellung derselben gegenüber dem Sternum besorgt.
Die Muse, supraspinatus und infraspinatus werden vom Nerv, suprascapu-
laris versorgt. Es sind einige Fälle von isolirter Lähmung desselben be-
schrieben worden (Sperling — Neurol. Centrbl. 1890 Nr. 10), dem immer
noch weitere folgen. Jedoch scheint fast immer eine Lähmung des ganzen
Plexus brachialis, welchem dieser Nerv entspringt, vorausgegangen zu sein,
so dass die Lähmung selbst als ein Rest des ganzen Processes aufgefasst
werden müsste.
Durch Duchenne haben wir die Function des Muse, supraspinatus kennen
gelernt: er drückt den Oberarmkopf fest gegen die Gelenkhöhle, (mit einem
Zug nach oben), und rotirt ihn nach aussen, spannt die Gelenkkapsel, um
sie vor Einklemmung zu bewahren, und hebt den Arm in der Richtung nach
vorn und oben. Der von mir beschriebene Fall illustrirt dieses Verhalten
sehr treffend.
Der Infraspinatus hat die letztgenannte Function nicht, sein Ausfall
wird meistens dadurch maskirt, dass der vom 'Nerv, axillaris versorgte M.
teres minor, welcher eine ähnliche Function hat, für ihn eintritt.
Sobald Muskelatrophie eingetreten, ist die Lähmung des Suprascapularis
verhältnismässig leicht an der Abflachung der Schulterblatt-Muskulatur zu
erkennen.
M. Latissimus dorsi, teres maior und subscapiclaris haben die Innervation
durch die Nervi subscapulares gemeinsam. Deren isolirte Lähmung ist durch-
aus selten, jedoch sieht man sie zuweilen bei der Dystrophia muscul. pro-
gressiva. Dann hebt sich der unterste Winkel der Scapula, welchen seine
Fasern bedecken, vom Thorax ab, und es entsteht eine eigenartige Schulter-
deformität. Die Bewegung, welche durch seine Lähmung vorzugsweise ge-
stört wird, ist das Ziehen des Armes nach hinten, welches in Betracht kommt
beim Fassen nach der hinteren Rocktasche und bei den sogenannten Schwa-
dronschieben. Eine ähnliche Function hat bei feststehender Scapula der Teres
maior, indem er den Oberarm nach aussen rotirt und nach hinten zieht.
Häufiger als die genannten Formen sieht man die Lähmung des Nervus
axillaris, welcher für die Versorgung des Deltoideus und Teres minor
bestimmt ist. Durch seinen Verlauf in der Achselhöhle ist er dem Druck
der Krücken ausgesetzt, wird auch bei der Schulterluxation immer mit und
vielfach am schwersten getroffen, und ist auch dem Einfluss der Erkältung
in hohem Grade zugänglich. Deshalb ist es wichtig, das Bild dieser Lähmung
26*
404 RUMPFMÜSKELLÄHMÜNGEN.
ZU kennen, welches in etwas vorgeschrittenen Fällen sich bei der Vergleichung
beider Schultern durch die Abflachung des erkrankten Deltoideus bemerkbar
macht.
Der M. deltoideus hebt bei fixirter Scapula den Oberarm bis zur Hori-
zontalen, während die Hebung darüber hinaus durch die obersten Fasern des
Cucullaris und die untersten Fasern des Serrat. antic. major besorgt wird.
Jedoch ist mit Kecht darauf aufmerksam gemacht worden, dass gleich bei
Beginn der Hebung alle drei Muskeln zugleich in Thätigkeit treten und nie-
mals dem Deltoideus eine isolirte Arbeit überlassen wird.
Dass der Teres minor nur die unterste Portion des M. infraspinatus darstellt,
ist bekannt; man vergleiche das beim Nerv suprascapularis darüber Gesagte.
Viel mehr Wichtigkeit als alle bisher aufgezählten Lähmungen bean-
sprucht die Lähmung des Nervus thoracicus longus, bezw. des von ihm inner-
virten M. serratus anticus, bekannt unter dem kurzen Namen „Serratus-
Lähmung."'
Der M. serratus anticus hat wichtige Function; 1. er zieht den unteren
Winkel des Schulterblattes lateralwärts und hebt damit den Acromialtheil;
diese Bewegung ist für das Heben des Armes über die Horizont ale
hinaus von grösster Wichtigkeit; sie tritt besonders in ihre Rechte,
nachdem der Arm durch den M. deltoideus bis zur Horizontale gehoben
worden ist, 2. er fixirt das Schulterblatt am Thorax, wenn der Schultergürtel
für die Bewegung der an ihm entspringenden oder inserirenden Muskeln fest-
gestellt werden soll, z. B. beim Schieben von Lasten (ähnlich wie der M.
pectoralis minor) und 3. er vermag bei fixirtem Schultergürtel die Rippen zu
heben und dient somit bei der Orthopnoe als Inspirationsmuskel.
Die ausgeprägte Lähmung des Serratus bietet meist ein sehr charak-
teristisches Bild bezüglich der Stellung der Scapula: hängen die Arme schlaff
am Körper herunter, so sieht man, entsprechend dem fehlenden Zug des Ser-
ratus das Schulterblatt vom Thorax abstehend und den inneren Rand den
Dornfortsätzen der Wirbelsäule genähert. Beim allmählichen Heben der Arme
tritt diese Figuration noch deutlicher hervor und stellt sich in Contrast mit
dem Verhalten der gesunden Seite. An dieser Verstellung sind im Wesent-
lichen die Antagonisten des Serratus: die Mtn. rhomboidei und. der M. levator
scapulae schuld; dauert die Lähmung längere Zeit, so wird ihr Zug constant,
und es stellt sich der Zustand ein, den wir als secundäre oder paralytische
Contractur zu bezeichnen gewohnt sind.
Die Atrophie der Serratus-Zacken ist bei länger dauernden Lähmungen
meist deutlich sichtbar.
In der überwiegenden Zahl von Fällen findet sich die Serratus-Lähmung
nur einseitig; eine doppelseitige, periphere Serratus-Lähmung ist von mir
im Jahre 1892 der Berliner neurolog. Gesellschaft vorgestellt worden (Neurol.
CentralU. 1892). Die Thatsache, dass meist nur Männer und selten Frauen
von der Lähmung betroffen werden, erklärt sich daraus, dass die ersteren im
Beruf, bei der Arbeit, besonderen Schädlichkeiten ausgesetzt sind, welche gern
den Nervus thoracicus posterior, der an der Stelle, wo er zwischen M. scalenus
anticus und medius liegt, sehr oberflächlich verläuft, zum Angriffspunkt wählen.
Es sind dies scharfkantige, schwere Gegenstände, die auf der Schulter ge-
tragen werden, Quetschungen durch auffallende Ziegelsteine oder Holzblöcke,
Ueb er anstr engung bei einer Arbeit mit einseitiger Muskelanspannung, Erkäl-
tungen, Erhitzungen, atmosphärische Einflüsse u. s. w.
Die Prognose ist bei uncomplicirten Lähmungen im allgemeinen sehr
günstig.
Bei der Therapie leistet neben allgemeinen hygienischen Anordnungen
der galvanische Strom, unterstützt von einer verständigen Heilgymnastik, die
besten, ja geradezu unentbehrliche Dienste. Sperling.
RUPTUREN INNERER ORGANE. 405
Rupturen innerer Organe. Die Zerreissungen innerer Organe kommen
theils spontan zu Stande als Folge vorhergehender Erkrankungen dieser
Organe, theils entstehen sie durch von aussen auf den Körper oder Körper-
theil einwirkende Traumen. Sehr häufig combiniren sich beide Momente
mit einander, indem das Trauma als accessorischer Factor die directe Ver-
anlassung zu der Ruptur des bereits früher erkrankten Organs bildet. In
gerichtlich-medicinischer Beziehung bilden die Rupturen innerer Organe ein
wichtiges Capitel der Körperverletzungen und finden daher in diesem Werke
im Bande „Hi/(/iene - Gerichtliche Medicin"' nach ihrer forensischen Bedeu-
tung entsprechende Behandlung. Hierorts seien nur kurz die wichtigsten
klinischen Erscheinungen der Zerreissung der Brust und Bauch-
eingeweide besprochen.
I. Ruptur des Herzens {Cardiorrhexis). Die Ruptur des Herzens kann
infolge traumatischer Einflüsse entstehen oder spontan als Folge pathologischer
Veränderungen der Herzwandungen eintreten {spontane Herzruptur).
Zu der ersten Kategorie gehören diejenigen Continuitätstrennungen des
Herzens, welche durch penetrirende Stich- und Schusswunden, durch starken
Stoss und besonders durch Fall aus bedeutender Höhe veranlasst werden. In
solchen Fällen kann auch ein vollständig gesundes Herz eine hochgradige
Verletzung erleiden, wie dies bei einem Knaben in Warschau der Fall war,
welcher, indem er einen schweren Stein auf dem Kopfe trug, zu Boden stürzte
und plötzlich starb. Bei der Section, welche Prof. Brodowski vornahm, hat
es sich herausgestellt, dass die ganze Herzspitze abgerissen war, während
der Muskel selbst keine nennenswerthe, pathologische Veränderungen darbot.
Was die zweite Kategorie d.h. die spontanen Herzzerreissungen anbe-
langt, so liegt ihnen am häufigsten eine durch Verstopfung der Coronar-
arterien entstandene partielle Erweichung [Myomalacie) zu Grunde. Ausserdem
können grössere Abscesse, das acute Geschwür, desgleichen grössere intra-
pericardiale Blutergüsse (infolge von Blutung eines grösseren Astes der Coronar-
arterie oder eines Aneurysma) zur Zerreissung Anlass geben. Als Ursache
kann auch ein durch Diaphragma aufs Herz übergreifendes Magengeschwür
{Ulcus ventrictdi) vorkommen.
Im Allgemeinen kann man behaupten, dass die klinischen Formen an-
langend, zur Entstehung der spontanen Herzrupturen am häufigsten Anlass
geben:
1. Die fettige Degeneration und fettige Infiltration des Herzfleisches.
2. die acute oder chronische Entzündung des Herzmuskels (Myocarditis
acuta et chronica), sowie deren Folgezustände, wie Narben, Abscesse. Hierher
soll die sogenannte Segmentation vel Desintegration vel Frag-
mentation der Muskelfasern hiezugerechnet werden, die darauf beruht,
dass die Herzmuskelfasern die physiologische Verkettung ihrer Glieder,
nämlich der einzelnen Muskelfasernzellen, welche je an ihren beiden Enden
mit den benachbarten verlöthet sind, einbüssen. Infolge dessen entstehen
weit klaffende Querspalten. Diese Zergliederung der Muskelfasern, welche
manche Autoren direct für mikroskopische Berstungen der Fasern anneh-
men, kann, falls dieselbe in bedeutender Ausdehnung vor sich geht, Veran-
lassung zur Zerreissung des Herzens selbst geben.
3. Erkrankungen der Coronararterien geben nicht selten eine Ursache
der Ruptur ab.
4. Neubildungen, Gummaknoten, Echinococcen können, zumal durch die
ihrer Umgebung gesetzten Veränderungen in der Muskel Substanz, eine Ruptur
hervorbringen.
Mit Rücksicht auf die bereits vorhandenen Veränderungen können
Gelegenheitsmomente sehr leicht die endgiltige Ursache für die Herzzerreis-
406 -EÜPTEEEN INKEEER OEGANE.
sung abgeben, wie moralische Erschütterungen (Philipp V., spanischer König,
starb an Herzruptur, nachdem er die Nachricht von der Niederlage bei Pia-
cenza bekommen hat), physische Ueberanstrengungen etc. beim Tanze, bei
Stuhlentleerung, Coitus, während des Erbrechens, oder heftiger Hustenanfälle,
während des Geburtsacts, epileptischer Krämpfe, ja sogar beim plötzlichen
Hineingehen in ein kaltes Bad. In letzterem Falle kann die Contraction
der peripheren Herzgefässe eine Steigerung der Herzarbeit und somit eine
Zerreissung des bereits krankhaft veränderten Herzens hervorrufen. Es
kommen jedoch Fälle vor, bei denen die Berstung ohne jegliche äusserliche
Ursache mitten in vollständiger Piuhe z. B. während des Schlafes, einzig und
allein unter dem Einflüsse des gewöhnlichen Blutdruckes eintritt.
Pathologische Anatomie. Der häufigste Sitz des Risses ist die
linke Kammer, zumal in der Nähe der Herzspitze und die vordere Wand,
was auf die an diesen Stellen häufig constatirten, pathologischen Veränder-
ungen zurückzuführen ist. Von dieser Stelle verläuft der Einriss zuweilen
in der Richtung des Septum. Seltener kommen Risse in der rechten Kammer
und im rechten Vorhofe und am seltensten im linken Vorhofe vor. Bei Con-
tinuitätstrennungen traumatischen Ursprunges verhält sich die Sache umge-
kehrt, die rechte Herzhälfte, weil mit einer grösseren Fläche als die linke
dem Brustkorb anliegend, kommt in erster Reihe in Gefahr.
Für gewöhnlich existirt nur ein einziger Einriss, es kommt jedoch vor,
dass deren mehrere in einer Kammer zu verzeichnen sind.
Die Berstung kann eine vollständige sein, wenn die ganze Dicke der
Wandung betroffen {Ruptura completa), oder dieselbe ist eine unvollständige
{Ruptura incompleta), wenn der Zerreissung nur einzelne Muskelschichten anheim-
gefallen sind. Die Rissöönung kann verschieden sein von einigen mm bis einigen
cm, zuweilen zieht sich der Riss über die ganze Länge der Kammer hinweg,
beginnt an der Basis und endet an der Herzspitze. Die Gestalt des Risses
ist entsprechend dem Verlaufe der Muskelfasern und der Muskelschichten eine
spaltförmige, gezackte und die Wandung fisteiförmig durchsetzende, weshalb
die innere und äussere Oeffnung einander keineswegs entsprechen. Das be-
nachbarte Gewebe ist gewöhnlich stark blutig infiltrirt und in einem mehr
oder weniger hohen Grade degenerirt.
Es scheint keinem Zweifel zu unterliegen, dass die Ruptur selbst wäh-
rend der Systole, zumal bei deren Beginn, als der Blutdruck in den Herz-
höhlen der stärkste ist, zu Stande kommt. Das Blut ergiesst sich in die Höhle
des Pericards in einer mehr oder weniger grösseren Quantität, letztere kann
selbst 2 Liter betragen (Barth). Waren aber vor der Zerreissung die Herz-
beutelblätter mit einander verwachsen, so kann der Erguss in die Pleurahöhle,
ja selbst in die grossen Arterienstämme erfolgen. Grössere Blutungen kommen
hauptsächlich dann zu Stande, wenn die Ruptur eine vollständige ist, mit
einmal erfolgt, wo aber dieselbe langsam in gewissen Zeitintervallen eintritt,
ist die Blutung eine geringere und der Zerstörung fallen nur manche Muskel-
schichten anheim.
Es kommen auch Rupturen im Innern des Herzens selbst vor, wie z. B.
Zerreissungen der Papillarmuskeln der Sehnenfäden, der Kammerscheidewand,
Losreissungen mancher Klappen. Dieselben pflegen durch Entzündung des
Endo- und Myocards verursacht zu sein und sind keineswegs so gefährlich,
wie die Zerreissungen des Herzens selbst.
Symptome. Die Herzzerreissung hat einen plötzlichen oder sehr raschen
Tod zur Folge. Der vorher für vollständig gesund gehaltene Patient stürzt plötzlich
wie vom Blitze getroffen zu Boden. Zuweilen erhebt er ein kurzes Geschrei,
greift ans Herz, wird bleich, macht einige oberflächliche Athembewegungen und
stirbt unter rapid zunehmender Herzschwäche. Zuweilen gesellen sich Krämpfe
und Erbrechen hinzu. Es trifft sich auch, dass Jemand gesund schlafen geht
EÜPTUREN INNERER ORGANE. 407
und morgens im Bette todt gefunden wird. In anderen Fällen verläuft der
l'rocess langsamer, sich über einige Stunden, ja selbst Tage hinziehend und dies
scheint dann der Fall zu sein, wenn die Ruptur mit gewissen Intermissionen
erfolgt, wenn einzelne Muskelschichten der Zerstörung anheimfallen und die
Blutgerinnsel zeitweilig die Bisstelle verstopfen. Die Patienten klagen
dann über einen nach den Seiten und dem linken Oberarm irradiirenden,
dumpfen oder reissenden Schmerz. Der Schmerz tritt wie anfallweise auf,
somit an Angina pectoris erinnernd. Es tritt häufig bis zur Orthopnoe an-
steigende Dyspnoe, Uebelkeit, Erbrechen, manchmal Durchfälle, schwacher Puls
hinzu. Solche Anfälle können sich mehrmals wiederholen, bis der Patient
während eines derselben stirbt. Dies geschieht dann, wenn es zur comple-
ten Ruptur gekommen ist und das Blut sich in die Herzbeutelhöhle ent-
leert. In solchen Fällen nimmt die Herzdämpfung bedeutend an Dimension
zu, die Herztöne werden schwach, es lässt sich nur ein schwaches Summen
oder Murmeln hören, gleichzeitig tritt Blässe des Gesichts, Cyanose der
Lippen, Gefühl von Kälte, Ohnmacht, Verlust des Bewusstseins auf, der Puls
schwindet — kurz es treten die Erscheinungen der Herzlähmung vor.
Im Allgemeinen kann man behaupten, dass der Tod bei Herzruptur ent-
weder infolge der plötzlichen Hirnanämie oder infolge der Verhinderung der
Herzcontractionen durch grossen Bluterguss in die Herzbeutelhöhle veran-
lasst wird oder schliesslich infolge der Beeinträchtigung der Herzin nervation
(shok) eintritt.
Diagnose. Sichere Anhaltspunkte, die auf eine Herzzerreissung hin-
deuten möchten, besitzen wir nicht, weil die oben angeführten Erscheinungen
auch die Gehirnblutungen, ein geborstenes Aneurysma, Angina pectoris und
überhaupt andere plötzliche Todesarten begleiten. Die Diagnose wird also
nur eine mehr oder weniger Wahrscheinlichkeitsdiagnose sein. Dieselbe ge-
winnt an Sicherheit, wenn es neben dem plötzlichen Schmerz in der Herz-
gegend und den Erscheinungen einer inneren Blutung gelingen wird, eine
rapide Zunahme der Herzdämpfung festzustellen.
Auf eine Ruptur im Innern des Herzens z. B. der Papillarmuskeln, auf
eine Losreissung der Klappen können wir durch das rapide Auftreten von
Geräuschen schliessen, die sehr laut zu sein pflegen und ihren Ursprung der
entstandenen Klappeninsufficienz verdanken.
Die Prognose ist ungünstig. Ob überhaupt eine Heilung möglich ist,
ist unentschieden, es wäre kaum anzunehmen, dass ein degenerirter Herz-
muskel eine Tendenz zur Vernarbung der Einrisse zeige. Aus demselben
Grunde ist Rostan's Ansicht, welcher die Narben am Herzen auf geheilte
Berstungen zurückführen will, nicht ohne Weiteres anzunehmen. Nur in den-
jenigen Fällen, in welchen wir mit einer langsam auftretenden, unvollständigen
Zerreissung zu thun haben und die Blutgerinnsel die Oeffnung verlegen,
können wir die Möglichkeit der Heilung nicht leugnen.
Die Therapie darf hauptsächlich eine prophylaktische d. h. nach dem
Grundleiden {Degeneratio adiposa, Myocarditis etc.) gerichtet sein, mit Berück-
sichtigung einer zweckmässigen Diät und Vermeidung jeglicher physischer
und geistiger Anstrengungen.
Ist die Ruptur geschehen, so wird es zweckmässig sein, wenn wir auf
einen Erguss in die Pericardialhöhle Verdacht haben, kalte Eisumschläge auf
die Herzgegend zu appliciren, die Herz- und Nervenfunction mittelst Exci-
tantien, wie Coffein, Kampher, Moschus, Aether, alter Wein, Sinapismen,
Ammoniak zum Riechen, Besprengungen mit kaltem Wasser zu heben. Sind
heftige Schmerzen vorhanden, so nehme man zu Morphium Zuflucht.
J. PAWINSKI.
408 RUPTUREN INNERER ORGANE.
IL Ruptur der Aorta. Zerreissung der Aorta.
Aetiologie und pathologische Anatomie. Continuitätstrennungen
in der Aortenwand können zu Stande kommen:
1. in Folge von Verletzungen bei durch scharfe Instrumente bei-
gebrachten penetrirenden Wunden, bei Schusswunden, infolge eines heftigen
Stosses, und besonders bei heftigen Körpererschütterungen, wie dies z. B.
beim Falle aus bedeutender Höhe eintritt. In solchen Fällen kann eine Zer-
reissung der Aorta auch bei vorher vollständig intacten Gefässwandungen zu
Stande kommen.
2. Im anderen Fall tritt die Ruptur bei bereits vorhandenen pa-
thologischen Veränderungen an den Wandungen, zumal bei end-
arteriitischen Veränderungen auf. Diese Processe können leicht bald durch
Ulcerationen an der Intima, bald durch Atrophie und Verdünnung der Ge-
fässwandungen (Media et Intima) eine Zerreissung zur Folge haben. Zu-
weilen kommt die Ruptur nach vorausgegangener bedeutender Erweiterung der
Gefässwandungen, wie das bei Aneurysmen der Fall zu sein pflegt, zu Stande.
3. Die Ruptur kann eintreten durch Uebergreifen des geschwürigen
Processes aus den Nachbarorganen auf die Aorta, wie dies z. B.
bei Krebs der Speiseröhre, bei Divertikeln der letzteren, bei im Oesophagus
stecken gebliebenen Fremdkörpern, bei geschwürigen Processen in der Trachea
und grossen Bronchien, bei Caries der Wirbelsäule der Fall ist.
4. Am seltensten tritt Ruptur bei intacten Gefässwandungen
und bei Abwesenheit irgend welchen Traumas auf. In solchen Fällen
muss eine angeborene Schwäche, eine Schwäche der Wandungen voraus-
gesetzt werden, die bei momentaner Steigerung des Blutdruckes Anlass zu
Gefässzerreissung geben kann.
Im Allgemeinen muss betont werden, dass die Steigerung des
seitlichen Blutdruckes, die bald unter dem Einfluss psychischer Er-
regungen, bald infolge physischer Anstrengungen, wie auch infolge der Herz-
hypertrophie eintritt, ein wichtiges zur Ruptur disponirendes Moment bildet.
Die Berstung kann entweder eine vollständige {Buptura completa), die ganze
Dicke der Wandung durchgreifende oder eine unvollständige (Buptiira incompletä)
sein, sobald nur eine oder zwei Membranen verletzt sind. Die unvollständige
Ruptur kann mit der Zeit eine complete werden, alsbald auch die letzte
Membran (Adventitia) von der Ruptur betroffen wird. Am häufigsten haben
wir mit einer Berstung der Intima und Media zu thun. Die Ränder der zer-
rissenen Membran gehen entweder blos auseinander, wobei der nicht verletzte
Theil einer bedeutenden Dehnung ausgesetzt wird oder dieselben werden von
der Adventitia losgetrennt. Im letzteren Fall dringt das Blut zwischen die
Gefässmembranen, gewöhnlich zwischen der Media und Adventitia, trennt die-
selben von einander, eine Art künstlichen Canal bildend {Aneurysma disse-
cans). Anderswo drängt das Blut die einzelnen Schichten der Media ausein-
ander, so dass die äussere Wandung des Canals aus Adventitia und einer
gewissen Schicht der Media, die innere wieder aus einem gewissen Theile
der Media und der Intima besteht. Die Beobachtungen, in welchen ein Aneu-
rysma dissecans sich, zwischen der Intima und Media herausgebildet hat,
gehören zu den grössten Seltenheiten (Peaeock). Die Canalöffnung, durch
welche das Blut zwischen die Membranen eindringt, befindet sich gewöhnlich
in der Aorta ascendens, von wo dieselbe sich sehr weit längs der Aorta zu-
weilen selbst bis zu ihrer Theilungsstelle in die Aa. iliacae, ja selbst bis zur
A. Poplitea erstreckt.
Der untere Theil eines solchen mit Blut gefüllten Canals kann durch
Zerreissung der Media -wiederum in Verbindung mit dem Gefässlumen treten
oder es kommt zu einer Ruptur der Adventitia, wobei sich das Blut in die
benachbarten Höhlen (Pleura, Pericard, Peritoneum) oder in das umgebende
RUPTUREN INNERER ORGANE. 409
Zellgewebe ergiesst, eine Art eines falschen Aneurysma (Aneuri/sma spuntmi)
bildend. In seltenen Fällen erfolgt Heilung durch Auflagerung von Gerinn-
seln auf die Innenfläche der Adventitia und durch Verdickung der letzteren.
Ein tödtlicher Bluterguss in die Körperhöhlen erfolgt auch in denjenigen
Fällen, in denen ein Aneurysma dissecans nicht zu Stande kommt, sondern
die Zerreissung der ganzen Wandung mit ein Mal oder langsam von Statten
geht. Zuweilen kann eine partielle Ruptur einer der Membranen in der
Nähe der Semilunarklappen Anlass zur Insufficienz geben. Dies geschah in
einem von mir beobachteten und veröffentlichten Falle (Berl. klin. Wochen-
schrift 1890, pag. 894). Die Ruptur der Intima befand sich dicht oberhalb
der Semilunarklappen der Aorta, hatte eine zur Gefässaxe quere Richtung und
war 6 cm lang. Die Insufficienz entstand infolge der Hervorwölbung der ver-
dünnten Wandung während der Diastole. Die Klappen selbst blieben unver-
sehrt, es handelte sich also um eine gewisse Art relativer Insufficienz. —
Die Rissteilen sind bald quer (namentlich in der Aorta ascendens) bald, schräg
oder parallel zur Gefässaxe gestellt.
Die spontanen Zerreissungen, wie auch Aneurysma dissecans kommen
hauptsächlich im höheren Lebensalter vorzugsweise in der Aorta ascendens
dicht oberhalb der Klappen vor, gew^öhnlich bei gleichzeitig vorhandenen sklero-
tischen Veränderungen in der Intima. In der Pulmonalis kommen auch Rup-
turen vor, aber nicht Aneurysma dissecans. Letztere treten zuweilen an den
kleinen Hirngefässen auf.
Symptome. Wie bei Herzruptur wird der Patient bei Zerreissung der
Aorta von einem sehr heftigen, mit hochgradiger Angst verbundenen Schmerz
ergriffen, dem sich zuweilen das Gefühl, als „ob etwas im Innern geborsten
sei" hinzugesellt. Gleichzeitig tritt eine Blässe am Gesicht und Verlust des
Bewusstseins auf und dies besonders wenn die Ruptur eine grosse ist und
das Blut sich in eine Körperhöhle entleert (Pleura, Pericard, Peritoneum),
In solchem Falle lässt sich zuweilen durch Percussion eine hochgradige
Dämpfung constatireU; deren Localisation von der entsprechenden Höhle ab-
hängig ist. Der Tod tritt binnen weniger Secunden oder Minuten infolge
von acuter Anämie ein. Jedoch ist der Tod nicht immer ein momentaner,
wie dies ein von Bamberger beobachteter Fall von Aneurysma dissecans
beweist, wo der Patient noch mehrere Stunden nach der in die Pericardial-
höhle stattgefundenen Ruptur lebte.
In anderen Fällen, zumal bei Aneurysma dissecans ist der Verlauf ein
langsamerer; dort, wo die Adventitia für gewisse Zeit erhalten bleibt, kann
das Leben, Tage, Wochen, ja sogar Jahre lang fortbestehen.
Die Diagnose kann nur eine mehr oder weniger wahrscheinliche sein.
Die Behandlung ist dieselbe, wie bei Zerreissungen des Herzens und
aneurysmatischer Säcke. Dieselbe beruht hauptsächlich auf Application von
Excitantien und Narcoticis. j. pawinski.
IIL Ruptura ventriciili. {Magenzerreissung, Gastrorrhexis.) Durch Ein-
wirkung von Traumen gröberer Art (Stoss, Fall, Schlag) hat man in seltenen
Fällen Zerreissung der Magenwand beobachtet. Desgleichen sind Beobach-
tungen publicirt, wo durch abnorme Ueberfüllung des Magens Spontanruptur
entstanden sein soll. Es ist aber fraglich, ob es sich hier um ein ganz ge-
sundes oder durch vorgängige, entzündliche Processe (Ulcus, Amyloidentartung,
fettige Degeneration) vorbereitetes Organ handelt. Die Versuche von Leube,
welcher an der Leiche trotz maximaler Anfüllung des Magens mit Flüssig-
keit w^ohl leichte Ekchymosen der Magenwand, niemals aber Ruptur desselben
beobachtete, scheinen darauf hinzuweisen, dass, die Integrität der Magen-
wandungen vorausgesetzt, eine Zerreissung derselben nicht möglich ist. Da-
gegen ist der Magen durch abnorme Luftaufblähung zu zerreissen, nachdem
sich vorher ein Emphysem der Magenwand entwickelt hat.
410 SÄÜREVEEGIFTUNG.
Symptomatologie: Nachdem Magenruptur eingetreten ist, bekommen
die Kranken heftige Cardialgieen, Unruhe, Uebelkeit und Brechreiz. Sehr
bald schliesst sich daran das bekannte Bild der acuten Perforations-Peritonitis:
heftiger difiuser Schmerz, fliehender Athem, kleiner, frequenter Puls, Kühle
der Extremitäten, Collaps.
Für die Diagnose maassgebend sind: Auftreibung des Leibes, durch
Gas, abnorme Schmerzempfindlichkeit, Verschwinden der Leber- und Milz-
dämpfung, Fehlen der Magendämpfung. Einige Autoren (Williams, Thoe-
speckler) wollen bei Magenruptur einigemal ein deutliches, knallähnliches
Geräusch wahrgenommen haben.
Die Prognose ist meist letal, da sich das Bild der Perforationsperito-
nitis sehr schnell im Anschluss an die Ruptur entwickelt. Nur wo eine Ruptur
noch nicht eingetreten ist und so der Magen von der abnormen Flüssigkeit
oder Luftmenge durch Ausheberung befreit werden kann, kann es gelingen,
die Katastrophe abzuwenden.
Die Therapie hat zu berücksichtigen, ob die Ruptur droht oder schon
eingetreten ist. Im ersteren Fall ist schleunige Evacuirung des Magens
mittels Sonde und Heber eine indicatio vitalis. Ist bereits Perforationsperi-
tonitis erfolgt, so ist einzig und allein durch die Laparotomie (Aufsuchen der
Rupturstelle, sorgfältige Toilette der Peritonealhöhle) der Versuch zu machen,
das bedrohte Leben zu erhalten. boas.
IV. Ruptura oesophagi {Speiser öhrenzerreissung). Die Oesophagusruptur
kommt spontan vor, ein relativ seltenes pathologisches Vorkommnis, da in
der Literatur bisher kaum 20 Fälle verzeichnet sind. Nach Versuchen
Zenker's bedarf es einer sehr bedeutenden Kraft um eine Zerreissung des
Oesophagus zu Stande zu bringen. Deshalb wird wohl für die Mehrzahl der
Fälle eine bestehende Restistenzverminderung der Wandung die Disposition
zur Ruptur abgeben. Speciell die Oesophagusmalacie, die im Artikel
^^Oesophaguskrankheiten"- (Bd. 11, pag. 105) ausführliche Beschreibung fand,
wird hiefür beschuldigt.
Die Ruptur tritt plötzlich ein, so dass die Kranken wie bei der Aorten-
ruptur in der Regel das Gefühl haben, dass etwas in ihrem Inneren zerrissen
sei. Würgen und Erbrechen geht der Ruptur voraus oder folgt ihr unmittel-
bar nach. Das Erbrechen ist meist blutig gefärbt. Collaps, hochgradige Be-
ängstigung, Todesgedanken beherrschen das ganze Bild. Pneumothorax oder
Hautemphysem können sich als nächste Folgen der Speiseröhrenzerreissung
einstellen. Der Tod erfolgt meist bald, gewöhnlich innerhalb der ersten 24
Stunden.
Die Prognose der Oesophagusruptur ist immer eine schlechte, die The-
rapie muss sich auf die Bekämpfung des Collapses beschränken.
Rupturen des Darmes, der Leber, der Milz kommen spontan nicht
vor, sondern sind durchaus Folgen directer Traumen. Sie werden an den
entsprechenden Stellen der Disciplin „Chirurgie'^ dieses Sammelwerkes be-
handelt.
Säurevergiftung {Säureintoxkation, Säureautointoxication) ist eine Au-
totoxicose des Intermediärstoffwechsels. Bei dieser Reihe der Selbstvergiftun-
gen handelt es sich um Hemmung oder Abweichung der Umsetzung der den
Zellen einverleibten Nährstoffe in beschränktem Umfange und in bestimmter
Richtung. Allgemein betrachtet, ist das Resultat hievon ein Ueberwiegen der
Spaltungen über die Oxydationen, bezw. die Ueberschwemmung der Körpersäfte
mit (meist sauren) Spaltungsproducten. Verbindungen saurer Natur stam-
men im Organismus aus dem Stoffwechsel der Eiweisskörper, der Kohle-
SÄURE VERGIFTUNG. 411
hydrate und Fette. Dieselben addiren sich zu den von aussen dem Körper
zugeführten Säuren. Schon unter normalen Bedingungen besitzt der j^Säure-
stofwechseV^ eine imponirende Grösse. Wir scheiden in 24 Stunden beinahe
1 l-g Kohlensäure aus und erzeugen gleichzeitig etwa 30 g Karbaminsäure.
Endlich führt in demselben Zeitraum noch der Harn einen Säureüberschuss
aus dem Körper ab, der ungefähr 5 g Na(HO) äquivalent ist. Die
Kohlensäure wird beständig als solche durch die Lungen eliminirt,
und dadurch werden die in Anspruch genommenen Basen immer wieder
anderweitig verfügbar. Die höher constituirten sauren C-haltigen Verbren-
nungsproducte, die sich bei Unterbrechungen (Abweichungen) des Säurestoff-
wechsels in der Oekonomie anhäufen, gefährden einerseits die Basen weit
stärker und besitzen z. Th. auch grössere specifische Toxicität. Endlich
hat es den Anschein, dass im Verein mit solchen Verbindungen noch ander-
weitige unbekannte Gifte gefährlicher Art (aus dem Darm etc.) im Or-
ganismus auftreten.
Selbstvergiftung des Organismus mit Säuren kommt also insbesondere
dann in Betracht, wenn saure Zwischenstoffwechselproducte abnorm reichlich
gebildet werden, bezw. wenn allmälig oder plötzlich die weitere Oxydation
durch Umsetzung bestimmter solcher saurer Verbindungen verlangsamt
wird. Specielle Beispiele liefern Autointoxicationen, in deren Chemismus
die Fleischmilchsäure, die Oxybutter- und Acetylessigsäure (sowie das Ace-
ton), die Karbaminsäure, die Fettsäuren, die Oxalsäure, die Harnsäure, die
aromatischen Oxysäuren, die Schwefel- und Phosphorsäure eine mehr oder
weniger hervorragende Rolle spielen.
Verbreiten sich die sauren Verbindungen in allen Gewebsäften, so kommt
es, sobald gewisse Schutzvorkehrungen unzulänglich werden, zur Bindung, und
in weiterer Folge, durch Intervention der secernirenden Gewebe, auch zur
wirklichen Entziehung der fixen Alkalien. Die vielfältige, physiologische Wich-
tigkeit der fixen Alkalien ist aus dem Gesichtspunkte der Säureintoxication
vor allem darnach zu erwägen, dass dieselben eine wesentliche Rolle unter
den Bedingungen für die Fähigkeit der Gewebsathmung und der oxydativen
Stofizerlegung in den Zellen spielen. Ferner binden die Alkalicarbonate die
mit der Nahrung aufgenommenen, sowie die aus dem Stoffwechsel den
Zellen zufliessenden Säuren-. Allerdings kann man für pathologische Abw^ei-
chungen der Bewegung der Säuren in der Oekonomie nicht mehr ausschliess-
lich Aenderungen des Alkalivorrathes verantwortlich machen, seitdem W.
Scholz nachgewiesen, dass Schilddrüsenverfütterung eine Art Phosphorsäure-
diabetes hervorruft, ohne dass vorher der Basenvorrath des Organismus
direct beeinflusst wäre.
Den Fleischfressern und auch dem Menschen kommt eine gewisse Immuni-
tät gegen Säuren zu, indem durch die Säurezufuhr besondere Quellen für
das Auftreten von Basen im Organismus eröffnet werden: es wird zum Schutz
der unentbehrlichen fixen Alkalien aus dem eigenen Stoffwechsel, und zwar
aus der Spaltung der Eiweisskörper resultirendes Ammoniak vorgeschoben.
Nach Maassgabe pathologischer Erfahrungen ist beim Menschen dieser Im-
munität jedoch eine bestimmte Grenze nach oben gesteckt; jenseits derselben
kommt die Säurevergiftung (auch als Autointoxication) zur vollen Geltung.
Die wesentlichen Züge des Vergiftungsbildes sind bei Zufuhr der Säuren
von aussen und bei der Selbstvergiftung ähnliche. Es handelt sich um ein
nicht so sehr durch specielle nervöse Erscheinungen als vorwiegend durch
Dyspnoe, Herabsetzung der Herzthätigkeit, Verminderung der Wärmeproduction
und schliesslichen Collaps, sowie durch Verfettung der Organe charakterisirtes
Krankheitsbild. Die Todesursache ist Lähmung des Respirationscentrums
nach vorausgegangener Reizung {grosse Äthmung). Diese Lähmung ist ver-
muthlich die Folge einer inneren Gewebserstickung, d. h. einer Behinderung
412 SÄÜEEVERGIFTUNG.
der Sauerstoffaufnahme im lebenden Zellinhalt trotz ausreichenden mit dem
Blute circulirenden Sauerstoövorrathes. F. Chvostek's Untersuchungen machen
eine solche Hypothese wahrscheinlich.
Die allgemeine klinische Diagnose des Vorhandenseins und die
Beurtheilung des Grades von Säureautointoxicationen beruht auf folgenden
Feststellungen,
Erstlich muss immer der Frage der symptomatischen Vergleichbarkeit
mindestens hinsichtlich der principiellen Momente Genüge geleistet werden.
Ferner wird direct oder indirect der Nachweis einer überschüssigen Production
bestimmter Säuren, speciell solcher, die normalerweise in der Oekonomie nicht
auftreten, im Körper und deren vermehrter Ausscheidung zu erbringen sein.
Als indirecter Nachweis kommt vermehrte Ammoniakexcretion im Harn in
Betracht. Oder man führt entsprechende Mengen von Natrium bicarbonicum
zu und sieht nach wie leicht oder schwer der Urin alkalisch wird. Endlich
hat die klinische Geschichte der verschiedenen Typen der Säureautointoxication
gezeigt, dass schon die reichliche Anwesenheit bestimmter, einzelner Ver-
bindungen, wie z. B. des Acetons im Harn, die Wahrscheinlichkeitsdiagnose
auf specielle Formen der Selbstvergiftung mit Säuren zu stellen ermöglicht.
Vor allem ausschlaggebend ist jedoch der Nachweis der Verminderung, welche
der Gehalt der Säftemasse von alkalisch reagirenden Salzen erfahren hat.
Darüber belehrt uns die Feststellung der Reactionsverhältnisse des Blutes:
den besten Maassstab zur Beurtheilung der Alkalescenz des Blutes wiederum
liefert sein Kohlensäuregehalt. Eine beträchtliche Verminderung des COg-Ge-
haltes des Venenblutes unter 30 — 33 Vol. 7o bedeutet stets eine AciduHrung
des Blutes.
Die im Einzelnen bekannt gewordenen klinischen Typen der Säureauto-
intoxication finden z. Th. an anderen Stellen dieses Sammelwerkes eingehende
Besprechung (vgl. die Artikel „harnsäuredyscrasie'-'' etc.).
Hier möge nur eine besondere Form näher besprochen werden, bei der
es mehr auf die allgemeine Giftwirkung der sauren Verbindungen, als auf die
specifisch toxische Wirksamkeit einzelner bestimmter Säuren, welche vergleichs-
weise auch den betreffenden Salzen eigenthümlich ist, ankommt. Dass im
Chemismus dieser Autointoxicationen neben den Säuren noch andere (unbe-
kannte) Gifte mitwirken, ist oft nicht unwahrscheinlich, entzieht sich aber
dermalen specieller Erörterung. Die Säuren, die wir hier ins Auge fassen,
sind die zweiwerthigen Alkoholsäuren CnHgnOg. Die wichtigsten für
unsere Aufgabe sind die optisch active Aethylidenmilch säure und
die optisch active ß-Oxybuttersäure, nebst bestimmten, nur z. Th. noch
sauren Derivaten der letzteren {Äcetylessigsäure, Aceton).
Das Auftreten der Fleischmilchsäure, welche eine auch unter physio-
logischen Bedingungen in kleiner Menge aus verschiedenen Geweben und Flüssig-
keiten des Körpers gewinnbare Säure darstellt, ist unter pathologischen
Verhältnissen sowohl während des Verlaufes bestimmter experimentell her-
vorrufbarer Störungen als auch klinisch zu beobachtender Krankheitszustände
sicher festgestellt. Die experimentell hervorruibaren Formen charakterisiren
sich z. Th. als Oxydationshemmung in Folge von Sauerstoffmangel in den
Geweben (verschiedene Formen partieller Erstickung, Einwirkung mehrerer
toxischer Stoffe), z. Th., und gerade diese enthalten wichtige Andeutungen und
Winke für die menschliche Pathologie, als Folge des Ausfalles einer bestimmten
Organfunction. Ich meine hier zunächst die nach Ausschaltung der Leber bei
Gänsen erfolgende Säurevergiftung (Minkowski). Bei Gänsen bildet nach der
Entleberung die Fleischmilchsäure anstatt der Harnsäure einen Hauptbestandtheil
der festen Stoffe des Urins. Als Quelle der Milchsäure darf die Umsetzung
der Eiweisskörper angenommen werden. Ferner wäre an dieser Stelle die
SÄUREVERGIFTUNG. 413
Säurevergiftung der Pflanzenfresser bei intensiver Muskelarbeit zu erwähnen.
(W. Cohnstein).
Im Chemismus der klinisch zu beobachtenden Säureautointoxicationen
kommt der Milchsäure nur eine relativ geringe Bedeutung zu. Selbst der
etwa aus den vorstehend dargelegten Beziehungen mit der Leber abzuleitende
diagnostische Werth kann nicht besonders hoch veranschlagt werden.
Da Minkowski gezeigt hat, dass ein verhältnismässig kleiner Theil des Leber-
parenchyms genügt, um die säurezerstörende Funktion zu erfüllen, wird es
auch begreiflich, in wie geringem Grade bei leberkranken Menschen Störungen
dieser Funktion sich geltend machen. E. Schütz warnt mit Kecht, jedes
Zinksalz aus Harn auf Grund der Kry stallform für milchsauer zu halten.
Verwechslungen sind möglich und die Analyse ist deshalb unbedingt erlorderlich.
Mit der linksdrehenden ß-Oxybuttersäure muss gleichzeitig dieAcetyl-
essigsäure und das Aceton in Betracht gezogen werden, da zwischen all
den genannten Verbindungen sehr nahe chemische Beziehungen bestehen.
Alle drei Stoff'e verdanken gewiss der gleichen Nutritionsstörung ihr Entstehen.
Die Oxybuttersäure ist als Vorstufe der Acetylessigsäure und des Acetons im
Körper anzusehen. Abgesehen von chemischer Verwandtschaft, wird dies durch
den Thierversuch bewiesen (Aeaki). Damit verliert aber auch die Äcetonurie
(Acetonämie) als klinisches Symptomenbild ihre früher innegehabte selbstän-
dige pathologische Stellung; sie ist blos der Ausdruck eines Typus der Säure-
autointoxication gelinderer Intensität.
Aceton ist auch unter normalen Bedingungen in allerdings nur geringen
Mengen im Harn von Menschen und Thieren gefunden worden. Acetylessig-
und Oxybuttersäure dagegen erscheinen unter physiologischen Verhältnissen
kaum jemals in der Säftemasse oder den Excreten.
Bestimmtes über die Localisation der zugrundeliegenden Ernährungs-
störung, Näheres über die chemische Herkunft der oben in Rede stehenden
chemischen Verbindungen lässt sich heute kaum sagen. Gegenwärtig wird
ziemlich allgemein die Annahme bevorzugt, dass die Oxybuttersäure ein
Spaltungsproduct der Eiweisskörper ist. Vielleicht hängt das Erscheinen
dieser Säure mit Störungen der normalen Zuckerbildung aus Eiweiss im Kör-
per zusammen. Die Oxybuttersäure könnte entstehen, wenn an dem N-freien
Rest der gespaltenen Eiweisskörper die Zuckerbildung nicht im physiologischen
Umfange erfolgt. Auff'allend ist es, dass sich selten neben Oxybuttersäure
gleichzeitig die homologe Milchsäure im Urin nachweisen lässt.
Die Oxybuttersäure und ihre genannten Derivate erscheinen zunächst
(alle oder z. Theile) im Chemismus mehrerer experimentell hervorrufbarer
pathologischer Zustände. Hier sind zu nennen: die Äcetonurie nach Exstir-
pation des Plexus coeliacus bei Kaninchen und Hunden (Lustig), die Aus-
scheidung von Aceton- und Oxybuttersäure bei der Phloridzinvergiftung
(v. Meking), das Erscheinen von Oxybutter- und Acetylessigsäure, sowie von
Aceton im Harn bei Diabetes nach Pancreasexstirpation (Minkowski).
Krankheitsformen, in deren Verlauf Säureautointoxication
in Folge von Anhäufung der ß-Oxybuttersäure und der ihr verwandten Ver-
bindungen eintritt, sind der Diabetes, die febrilen Infecte^ die Krebscachexie,
progressiv anämische Zustände, Leukämie, vorgeschrittene Inanition. Von be-
sonderem Interesse sind noch gewisse acute, anscheinend selbständige
(kryptogenetische), einschlägige Typen der Selbstvergiftung. Dieser
letztgenannte Typus stellt sich als Magendarmaffection mit besonders her-
vortretender Allgemeinaffection, als vorwiegend nervöses, mit Coma ver-
bundenes Krankheitsbild und als acute Psychose dar. Das Punctum saliens
dieser verschiedenen, sonst geradezu auseinander strebenden pathologischen
Processe ist in der Resorption von in bestimmten Geweben gebildeten Giften
zu suchen. Eine Hauptquelle solcher Gifte dürfen wir wohl auf Grund der
414 SCARLATINA.
klinischen Analyse der Fälle im Darmcanal vermuthen. Interessante Bezie-
hungen ergeben^ sich vielleicht auch zum Plexus solaris.
Die Oxybuttersäure und die ihr verwandten Verbindungen werden in den
erwähnten Krankheitsprocessen gelegentlich in einem Grade im Organismus
angehäuft, dass die Blutalkalescenz nachweislich absinkt und schwerste Er-
scheinungen der Selbstvergiftung, ganz analog der experimentellen Säure-
intoxication , resultiren. Inwiefern gewisse terminale, paroxysmenartig
erscheinende, vorwiegend nervöse Symptom encomplexe (z. B. das Coma diabe-
ticorum, das Coma bei Krehscachexie etc.) ausschliesslich und direct mit dieser
Säureautointoxication zusammenhängen, beziehungsweise inwieweit hier mehr-
fache Ursachen concurriren, ist noch nicht für alle einschlägigen Fälle bestimmt
festgestellt.
FE. KRAUS.
Scarlatina, Scharlach. I. Krankheitsbegriff: Unter Scharlach
versteht man eine contagiöse, acut einsetzende, fieberhafte Er-
krankung des Gesammtorganismus, welche durch ein kleinfleckiges,
sehr dicht stehendes und daher mehr diffuses, anscheinend gleich-
massiges, rosenrothes Exanthem der äusseren Haut und der
Schleimhaut des Schlundes charakterisirt wird. Die Krankheit trägt
eine ausgesprochene Neigung zu diphtheritischen Entzündungen und
Necrosen des Nasen-Rachenraumes, phlegmonösen Infiltrationen
des Unterhautzellgewebes der Hals-Kiefergegend, zu Ent-
zündungen der serösen Häute und Gelenke, besonders aber der Nieren in
sich. Die Abheilung des Exanthems beginnt im Stadium der Entfieberung
unter Losstossung und Abblätterung mehr- weniger grosser Epidermis-
lam eilen. ~T^
IL Vorkommen und Aetiologie: Das Scharlachfieber repräsentirt den
Typus einer in hohem Grade contagiösen Krankheit. Wir substituiren ein
von dem Kranken auf Gesunde übertragbares, „specifisches Scharlach-
gift", über dessen Vorhandensein wir uns keinen Augenblick in Zweifel be-
finden, dessen Natur uns aber bis heute noch völlig unbekannt geblieben ist.
Vorläufig wenigstens hat das eifrige Bestreben, in den Se- und Excreten, in
den verschiedenen Organen, in der Haut, in dem Blute der Kranken „spe-
cifische Scharlachmikroorganismen" aufzufinden, keinen Erfolg
gehabt.
Die „Entdeckungen" von Scharlachpilzen gehen auf Hallier zurück. Es folgten
TscHAMER, CozE Und Feltz, Riess, Ecklund, welcher (1881) im Urin der Scharlachkranken
die „Sporen der Scharlachpilze" gefunden zu haben glaubte. Klein (1886) wies den In-
fectionserreger des Scharlachs in dem Geschwürsinhalt eines Bläschenausschlages an den
Eutern und Zitzen von Kühen nach. Fast um dieselbe Zeit (1887) glaubten Jamieson und
Edington den „bacillus scarlatinae" isolirt zu haben. Sie fanden ihn unter 8 Formen von
Pilzarten, welche sich bei Scharlachkranken unter „Occlusivverbäuden" entwickelt hatten.
— Weder Smith, noch eine Edinburger Commission waren aber in der Lage, „sich den
Anschauungen Edington's über die pathogenetische Bedeutung des von ihm isolirten
Bacillus anzuschliessen".
Einzelbefunde wie Coccen in den Epidermisschuppen (Pohl-Pingus, Klamann etc.)
werden niemals einwandsfrei sein. Vertrauen erwecken können nur solche Untersuchungen,
welche mit allen uns zu Gebote stehenden „bacteriologischen Cautelen" vorgenommen
werden. Angeführt seien hier die Befunde von Crooke (1885) v. Babes (1889), Raskina-
Afanasieff (1889), sowie die späteren experimentellen Untersuchungen von A. Fräwkel,
Freudenberg, Löffler, Heubner-Barth etc. Uebereinstimmend constatirten diese Forscher
bei Scharlachkranken und frischen Scharlachleichen im Blute, wie in verschiedenen Organen
Streptococcen, aber v. Babes (bacteriologische Untersuchungen über septische Processe
des Kindesalters. Leipzig 1889 p. 24) ist der einzige welcher das Verhältnis der Strepto-
coccen zum Scharlachprocess als ein direct es aufzufassen geneigt ist, während alle übrigen
diesem Mikroorganismus nur einen Einfluss auf die Secundärerkrankungen des Scharlachs
zuschreiben wollen (Septische Mischinfection !) L. Pfeiffer fand im Blute Scharlachkranker
den MACHiAFAvA'schen Malaria-Plasmodien gleichende Protozoen, welche in die Blut-
scheiben eindringen, wo sie vacuolenartige, amöboide, aber färbbare, zuweilen kern- oder
sc ARL ATINA. 415
pigmenthaltige Formgestaltungen bilden. Eine specifische Bedeutung konnte indessen
auch diesen Plasmodien nicht zuerkannt werden.
Den Beweis für die Specificität der aufgefundenen parasitäi-en Gebilde, mögen diese
pflanzlicher oder thierischer Natur sein, zu erbringen, scheitert an dem Umstand, dass
Scharlach auf Tliiere nicht überimpft werden kann. Zwar liegen Mittheilungen
von Scharlach bei T liieren (Hunden, Schweinen etc.) vor, ob sie aber einer strengen
Kritik Stich halten, ist eine andere Frage. So berichtet Harkin über Scharlach bei einem
Windspiel. Stickler führte (1883) 12 „prophylactische Impfungen" bei Kindern mit dem
Nasenschleim eines „scharlachkranken Pferdes" aus, nachdem er sich überzeugt hatte, dass
Hunde und Kaninchen mit dem Nasenschleim dieses Pferdes geimpft, Scharlach bekamen!
Selbst die früher wiederholt versuchten Inoculationen des Scharlachs von
Mensch auf Mensch ergaben nur zweifelhafte Resultate.
Greimpft wurde mit dem Blute Scharlachkranker (Williams, Rostan, Miquel) und
mit Epidermisschuppen (Stoll, Petit, Rodel). Einzelnen Erfolgen stehen ebensoviele Miss-
erfolge gegenüber, so dass die Frage der directenUeberimpfbarkeit des Scharlachs
noch in hohem Grade der Klärung bedarf.
Der beste Beweis für die Contagiosität des Scharlachs geht aus
der feststehenden Thatsache hervor, dass ein Scharlachkranker seine un-
mittelbare Umgebung, die Localität, in der er sich aufhält, alle Gegenstände
und Personen, die sich nur kurze Zeit in der Krankenatmospähre befunden
haben, inficirt oder wenigstens geeignet macht, die Krankheit weiter zu
verschleppen. Man muss annehmen, dass der menschliche Organismus
das in sich aufgenommene und zur Entwicklung gekommene Gift massenhaft
reproducirt und durch die Haut, die Exspirationsluft, die Nieren etc. wieder
ausscheidet und von sich ausströmen lässt. Für eine Spontanentstehung des
Scharlachgiftes fehlte bislang jeder Anhaltspunkt. Die Erkrankung erfolgt
stets durch directe oder indirecte Ansteckung. Der ansteckende Stoff
findet sich nur in nächster Nähe der Kranken und dürfte eine Ausdehnung
von 2 — 3 Meter kaum überschreiten. Dass durch die Luft eine Ueb ertragung
auf grössere Distanzen vermittelt wird, ist sogar unwahrscheinlich. So schützt
eine absolute Isolirung des Patienten mit strengem Abschluss und Vermeidung
jeder directen oder indirecten Berührung mit dem Erkrankten die Familien-
mitglieder, trotzdem sie dasselbe Haus, ja dasselbe Stockwerk bewohnen, vor
•weiteren Scharlacherkrankungen. Dagegen werden mit Sicherheit alle nicht
durchseuchten Kinder eines gemeinsamen Schlafsaales erkranken, falls hier e i n
einziger Scharlachfall zum Ausbruch gekommen ist, und zwar wahrscheinlich
zunächst die Bett nachbaren des zuerst erkrankten Kindes, dann die
folgenden in bestimmten Zwischenräumen. (Spitalendemien!)
Häufig wird Scharlach durch „Zwischenträger" übermittelt. Zwischen-
träger können Personen und Gegenstände sein. Selten werden mit den An-
schauungen der Asepsis vertraute Aerzte und geschulte Krankenpflegerinnen
zur Weiterverbreitung der Krankheit beitragen, häufiger dagegen das Dienst-
personal und sorglosere Angehörige. (Sehr instructiv in dieser Beziehung ist
ein von F. Wassiljefp 1883 mitgetheilter Fall!) Einer ganz besonderen
Controlle haben aber die schulpflichtigen Geschwister des Patienten zu unter-
liegen.
Gegenstände aller Art sind Träger und Vermittler des Scharlachgiftes.
In erster Linie Kleidungsstücke (durch Scharlach inficirte Bett- und Leib-
wäsche!) Spielsachen, Bücher, ein Brief, eine Photographie u. s. w.
Eine Keihe sicherer Beobachtungen liegt vor, dass auch durch die
Milch Scharlach verschleppt werden kann (Bell und Tatler, Baginsky
DoRNBLüTH, Wilson u. a.). Nur bleibt es in solchen Fällen strittig, ob der
Melker, der Milch verkauf er oder die Milch als Zwischenträger angesehen
werden soll. Gerechten Zweifeln begegneten aber die Mittheilungen von
Klein (1886), Pichenet (1887) Blank (1888) über Verbreitung des Scharlachs
durch Milch, welche Kühen mit Eutergeschwüren behaftet entstammte.
Dass unsere Haust hiere, namentlich Hunde, Katzen Träger des An-
steckungsstoffes sein können, ist nicht von der Hand zu weisen. In Norwegen
416 SCARLATINA.
brachte man (A. Johannessen) sogar die Verbreitung des Scharlachfiebers
mit der Vermehrung und Wanderung der Lemminge (Lemmingsfieber 1872)
in Verbindung.
Das Scharlachgift ist wenig flüchtig, es haftet Wochen, selbst Monate
lang in den Wohnzimmern, an den Kleidungsgegenständen oder an der Person,
die Scharlach überstanden hat, ohne merkliche Verminderung seiner Wirksamkeit.
Diese dem Scharlachinfectionsstoff eigene Tenacität verdient volle Berück-
sichtigung. Sie ist wichtig betreffs des zu gestattenden Verkehrs der Erkrankt-
gewesenen mit den Gesunden, der Wiederb enu'tzung der Krankenzimmer etc.
SoEEENSEN musste z. B. die Erfahrung machen, dass die von der Recon-
valescenten-Station des Blegdam-Hospital als genesen Entlassenen noch nach
64 — 67 Tagen Scharlach in die Familien einschleppten und die Geschwister
inficirten.
Die Frage, in welchem Stadium der Kranke die gross te Ansteckungs-
fähigkeit besitzt, ist schwer zu entscheiden. Verwerthbar nach dieser Richtung
hin sind eigentlich nur die sicher controllirbaren Beobachtungen von Spital-
Infectionen (Hagenbach-Burkhardt, Ashby u. a.). Der Beginn der Ab-
schuppung sp er iode wird fast allgemein dafür in Anspruch genommen.
Je längere Zeit nach dem Aufhören des Fiebers verstrichen ist, um so eher
wird die Contagiosität als erloschen angesehen werden können; doch fordert
Ashby, dass, selbst bei nicht complicirten Scharlach, kein Scharlach-
reconvalescent nach Vollendung der Desquamation vor Ende der 6ten
(sicherer der 8ten) Woche entlassen werden soll. Niemals darf man dabei
ausser Acht lassen, dass ausser den Epidermisschuppen auch Absonderungen
aus dem Ohr, oder der Nase, Eiter aus Drüsenabscessen u. s. w. noch nach
Wochen, ja Monaten als Träger des Scharlachgifts betrachtet werden müssen,
dass ferner Patienten mit Nephritis scarlatinosa Scharlach weiter verbreiten.
Dem zu Folge müssen alle complicirten Fälle bis zur vollendeten Heilung
unter strenger Quarantaine gehalten werden.
Die individuelle Disposition zum Scharlach ist eine weit geringere,
als zu Masern oder Pocken, An Scharlach erkranken etwa nur halb so viel
Menschen, wie an Masern (Fleischmann). Es bleibt daher eine ganze Anzahl
von Individuen ihr ganzes Leben lang von Scharlach verschont, obschon die
Gelegenheit zur Ansteckung nicht fehlte. So erkrankte beispielsweise bei der-
Epidemie auf Modun (1876) in einer Häuslerwohnung von 10 Kindern nur
ein einziges, trotzdem die anderen Kinder (im Alter von Vs — 1^ Jahren)
Scharlach noch nicht gehabt hatten, sich in demselben Zimmer aufhielten
und zum Theil in demselben Bette geschlafen hatten (Johannessen).
Aehnliche Vorkommnisse sind wiederholt beobachtet worden.
Bricht daher an einem Orte, wo nachweisslich Jahrzehnte hindurch kein
einziger Scharlachfall vorgekommen ist, eine Epidemie aus, so liegt noch
keineswegs die absolute Nothwendigkeit vor, dass alle Nicht-Durchseuchten
befallen werden müssen, wie dies bei einer unter gleichen Verhältnissen auf-
tretenden Masernepidemie der Fall sein würde. Sehr charakteristische Daten
liefert in dieser Beziehung die scharf abgegrenzte Scharlachepidemie im
Sommethale (1883 — 84). Von sämmtlichen Kindern derjenigen Familien, in
welche die Krankheit eingeschleppt wurde, erkrankten 647o, verschont
blieben 35%, von sämmtlichen Erwachsenen erkrankten n'8%, verschont
blieben 82-2% (Johannessen). Schon hieraus geht hervor, dass das Kindes-
alter eine weit grössere Disposition zum Scharlach besitzt, als das
erwachsene Alter. Nach Koren erreichen die 4 Jahr alten Kinder die
höchsten Morbilitätsziffern, dann macht sich ein continuirliches Absteigen bis
zum loten Lebensjahre geltend. In Norwegen erkrankten innerhalb 12 Jahren
(1867—78) an Scharlach von Erwachsenen 9-87o, dagegen von Kindern unter
15 Jahren 90- 2^0 (Johannessen.) Selten erkranken Kinder unter einem
SCARLATINA. 417
Jahre, nahezu immun erweisen sich Säuglinge von unter 3 Monaten. Die
Angaben von Scharlach beim Neugeborenen, respective beim Foetus (Leale
und Dill berichten über solche Fälle von intrauteriner Infection!)
sind nicht völlig einwandsfrei, Murchison sah wiederholt ganz gesunde Kinder
von scharlachkranken Müttern geboren werden. Die geringere Disposition
der Erwachsenen steht fest, doch sei hier darauf hingewiesen, dass bei Er-
wachsenen gerade die rudimentären Formen (Scharlachangina ohne Exanthem!)
häufiger auftreten und nicht übersehen werden dürfen. Andererseits kann
auch bereits in der Kindheit ein mildes Scharlachfieber unbewusst und un-
diagnosticirt überstanden sein. Damit wäre dann freilich die spätere
Immunität leicht erklärt.
Patienten mit offenen Operationswunden, namentlich tracheo-
tomirte Kinder (Hagenbach-Burkhardt, E. Koch, Paget, Bokai etc.), aber
auch Wöchnerinnen (Olshausen, Soerensen, Boxall u. a.) sind in hohem
Grade für Scharlach empfänglich. Hier ist die Annahme, dass die Krankheit
durch den Arzt, welcher gleichzeitig Scharlachkranke in Behandlung hatte,
übertragen sei, eine sehr naheliegende, wenn auch nicht immer zutreffende.
Man darf annehmen, dass beim „chirurgischen Scharlach" das Schar-
lachgift direct durch die Wunde in den Kreislauf gelangt. Jedenfalls ist das
Incubationsstadium beim Wundscharlach ein auffallend kurzes.
Der Regel nach wird durch das einmalige Ueberstehen des Schar-
lachs eine dauernde Immunität für die ganze übrige Lebenszeit erlangt.
Doch liegen auch wohlverbürgte Mittheilungen über zwei- ja dreimalige Er-
krankungen vor (Thomas, Trojanov\^sky, Körner, Hüttenbrenner, Th.
Hase u. a.).
Man trennt die Scharlachrecidive von den zweitmaligen Er-
krankungen. Bei beiden handelt es sich aber um eine neue Infection.
Nur liegt bei den zweitmaligen Erkrankungen zwischen der ersten und zweiten
Erkrankung ein jahrelanger Zwischenraum, bei den Recidiven nur wenige
Wochen (4 — 6 Wochen).
Ein wahres Recidiv besteh^ nur dann, wenn nach völligem Erlöschen
der ersten Erkrankung die erneute Acme mit einem so charakteristischen
Symptomencomplex auftritt, dass ein diagnostischer Zweifel nicht aufkommen
kann. Solche Fälle, bei denen unter protrahirtem Fieberverlauf etwa Ende
der 2. oder in der 3. Woche sich ein neues, meist flüchtiges „Scharlachexan-
them" (erythematöse Hauthyperämien, „rash" des Desquamationsstadiums.
Henoch) entwickelt, bezeichnet man besser als Pseudorecidiv oder
Reversio eruptionis (Thomas). Es kommt bisweilen vor, dass die
zweite Erkrankung weit schwerer ist, als die erste, ja tödtlich verläuft (He-
noch), häufiger aber beobachtet man bei den Recidiven und zweitmaligen Er-
krankungen einen milderen Verlauf. Zu Nierenerkrankungen kommt es in-
dessen doch ziemlich oft. (8mal unter 14 Recidiven. Th. HASE-Petersburg!)
Scharlach herrscht in grossen Städten endemisch. Die Städte sind
daher die Import- und Exportstellen für die benachbarten und entfernteren
Landdistricte. Nur von Zeit zu Zeit häufen sich die sporadisch auftre-
tenden Fälle. Die Krankheit wird zur Epidemie. Der Typus der Epidemie
ist ein sehr wechselnder. Manche Epidemien zeigen einen sehr milden Cha-
rakter, so dass die Mortalität eine geringe ist (47o) oder der Typus der
Epidemie ist ein eminent bösartiger, die Mortalität steigt auf 40^0 und
darüber. Oft schlägt die Epidemie um, d. h. sie ist ursprünglich gutartig,
ändert aber in der Folge ihren Charakter vollständig, ohne dass man hiefür
einen bestimmten Grund angeben könnte. Das Auftreten der Epidemie ist
unabhängig von der Jahreszeit. Mannigfachen Berichten nach soll der Herbst
bevorzugt sein. So fingen in Norwegen (A. Johannessen) 42-0 7o ^^^
Bibl med, WissenBchaften. Inter/ie Medicin und Kinderkiankbeiten. Bd. III. a7
418 SCARLATINA.
Epidemien in den Herbstmonaten an und erreichten ihren Höhepunkt in den
Wintermonateu. (Im Januar 33%.)
Manche Autoren nehmen, wie bei den Masern, eine gewisse Periodicität
der Epidemien an — einen 4 — 6-jährigen Cyclus! — doch ist eine derartige
periodische Wiederkehr sicher nicht allgemein giltig. Die Scharlachepidemien
dauern stets mehrere Monate (fünf bis sechs); im Gegensatz zu den Masern-
epidemien zeichnen sie sich durch einen sehr schleppenden Verlauf aus.
Meistens sind die „sporadisch" auftretenden Einzelerkrankungen nur die Nach-
zügler einer vorausgegangenen und allmälig verlöschenden Epidemie. Zeit-
w^eilig kommt Scharlach zu pandemischer Verbreitung, so herrschte 1831 — 1837
Scharlach in ganz Süd-Amerika (Hirsch).
IIL Symptomatologie und Verlauf. Dieincubationsperiode (Keim-
zeit, Latenz) d. h. die Zeit vom Eintritt der Infection bis zum Ausbruch der
Krankheit ist keine so fest begrenzte wie bei Masern oder Pocken. Diese
schwankende Dauer der Incubation erklärt sich zum Theil wenigstens aus der
individuell verschiedenen Empfänglichkeit für das Scharlachgift. Beim chirur-
gischen Scharlach, also überall da, wo die Infection auf dem Wege einer
„Laesio continui" zu Stande kommt, ist die Incubationsdauer eine auf-
fallend kurze. Hier wird eine Latenz von kaum 24 — 28 Stunden allgemein
angenommen. Beim nicht chirurgischen Scharlach scheint mir die Dauer
der Incubationsperiode vielfach überschätzt worden zu sein. Tonge Smith,
der sich auf über 2000 Beobachtungen im Londoner Fieberhospital stützt,
kommt wenigstens zu dem Schluss, dass die Incubation für Scharlach
3 Tage überhaupt nicht übersteigt. Verstreichen mehr als 3 Tage (bis
14 Tage und darüber!) so erklärt sich ein solcher Ausnahmefall dadurch, dass
die Möglichkeit vorliegt, unter Scharlachkranken eine Zeit verweilen zu kön-
nen, ohne inficirt zu werden. Anderseits muss aber die nachträgliche indi-
recte Infection durch Zwischenträger mit in Betracht gezogen werden. Nach
Rostan's Impf versuchen belief sich die Keimzeit auf sieben Tage!
A. Der typische Verlauf.
Keine Krankheit zeigt mehr Unregelmässigkeiten und Abweichungen in
ihrem Verlauf als Scharlach. Wenn wir zunächst den „normalen" Scharlach
besprechen, so geschieht dies eben zur leichteren Orientirung.
1, Die Initialsymptome (Prodromalstadium). Das Scharlach fi eher
setzt plötzlich ein mit Frösteln, ja selbst mit ausgesprochenem Schüttelfrost
und rapid ansteigenden hohen Temperaturen (40° und darüber!) Dazu
kommen Kopfschmerzen, Uebelkeit, Durstgefühl, Mangel an Appetit. Die
Pulsfrequenz steigt auf 120 Schläge und mehr. Die Haut fühlt sich heiss
an, das Gesicht ist stark geröthet; die Augen zeigen einen feuchten Glanz,
der Blick hat etwas Aengstliches, Unstetes und Verschwommenes. — Reiz-
zustände von Seiten des Gehirns, plötzliches Aufschrecken, Hin- und Her-
werfen im Bett, Delirien, Zupfen an der Bettdecke, Muskelzittern, seltener
ausgesprochene Convulsionen, die übrigens bei kleineren und besonders nervös
veranlagten Kindern die Scene eröffnen können, in anderen Fällen Depressions-
erscheinungen, Schläfrigkeit, Unbesinnlichkeit, comatöse Zustände. — Alle
diese Symptome weisen auf ein tiefes Mitergriffensein des Cerebro-spinal-
nervensy Sternes hin.
In etwa zwei drittel aller Fälle tritt in den ersten 24 Stunden Er-
brechen ein. In gewisser Beziehung ist dieses Symptom nicht nur diag-
nostisch, sondern auch prognostisch von Werth. Das Erbrechen kann als
Ausdruck der Einwirkung des Scharlachgiftes auf das Gehirn aufgefasst werden,
in anderen Fällen ist es vielleicht rein reflectorisch durch den entzündlichen
Reiz im Bachen hervorgerufen. Gewöhnlich brechen die Kranken nur ein-
oder zweimal. Ist eine grössere und hartnäckigere Brechneigung vorhanden.
SCARL ATINA 419
tritt Erbrechen auch noch nach dem Ausbruch des Exanthems auf, so deutet
dies mit ziemlicher Sicherheit auf eine schwere Intoxication hin. Fehlt das
Erbrechen ganz oder ist nur Brechneigung vorhanden, so darf man auf einen
milden Krankheitsverlauf rechnen. (L. Smith.)
Die Verdauung ist regelmässig, aber etwas angehalten. Wenn Diarrhoe
zu dieser Zeit besteht, so ist sie gering und von vorübergehender Dauer.
Zu dem Fieber und Erbrechen gesellt sich als 3. nie fehlendes und
daher pathognomonisches Symptom die Angina hinzu. Sie ist der Ausdruck
des im Rachenraum am deutlichsten zur Entwicklung kommenden S ch leim-
haut exanthems. Die subjectiven Beschwerden bestehen in stechenden
Schmerzen namentlich beim Schlucken.
Die Submaxillardrüsen sind etwas geschwollen und auf Druck em-
pfindlich. Die Schleimhaut des Mundes, besonders aber des Rachens, des
Zäpfchens, der Tonsillen, des weichen Gaumens zeigen eine massige Schwellung,
aber intensive Röthe, die sich bis zu einem düstern Blauroth steigern kann.
Die Mandeln sind häufig von einem leichten fibrinösen Exsudat überzogen.
Die Zunge zeigt im Beginn der Krankheit in der Mitte einen weisslichen,
festaufsitzenden Belag, während Zungenspitze und Zungenränder stark ge-
röthet sind. Die Papillen der Zunge prominiren auifallend, die Follikel sind
entzündet und geschwollen und secerniren einen Eiterkörperchen enthaltenden
Schleim. Dieses Schleimhautexanthem ist im Verlauf der Krankheit
intensiven und extensiven Steigerungen unterworfen. Der entzündliche Process
setzt sich durch die hinteren Choanen auf die ScHNEiDER'sche Membran und
durch die Tuben auf das Mittelohr fort.
Die Respiration wird nur wenig beeinträchtigt. Dann und wann ist
etwas Hustenreiz vorhanden, bedingt durch Schleimanhäufungen im Kehlkopf
oder in der Trachea. Bronchitis für Masern geradezu pathognomonisch, fehlt
beim Scharlach ganz oder ist so unbedeutend, dass sie ganz in den Hinter-
grund tritt. — Die äussere Haut fühlt sich heiss und trocken an. Die Haut-
transpiration ist in dieser Periode sehr beschränkt oder liegt ganz darnieder.
2. Eruptioas- und Floritionsstadium. Sechs bis achtzehn Stunden nach
Eintritt der ersten Krankheitserscheinungen entwickelt sich ein sehr charak-
teristisches Exanthem auf der äusseren Haut. Zuerst bemerkt
man hinter den Ohren, im Nacken, am Halse und auf den Schultern steck-
nadelknopfgrosse, sehr dicht stehende, rundliche, im Centrum dunkler ge-
färbte rothe Flecke, die unmerklich in die normale Hautfarbe übergehen.
Die Einzelflecke breiten sich peripher mit grosser Schnelligkeit aus, ver-
einigen sich vielfach mit einander und überziehen in wenigen Stunden
abwärtsschreitend den ganzen Rumpf, die oberen Extremitäten und zuletzt
Beine und Füsse mit einer anscheinend gleichmässigen Scharlach-
röthe. Doch nur bei oberflächlicher Betrachtung gleicht das Scharlach-
exanthem einer Röthe, wie wir sie auf der Haut nach Application eines
Senfpflasters entstehen sehen. Stets unterscheidet man unzählige kleine Punkte
von tieferem und dunklerem Colorit, die sich deutlich vom Untergrund
abheben. Der tastende Finger nimmt zwar auf der befallenen Hautobertiäche
keine bestimmten Prominenzen wahr, aber man hat das Gefühl einer leicht
körnigen Rauhigkeit. Die Röthe schwindet auf Druck, kehrt aber bei kräf-
tigen Kindern und einem deutlich ausgesprochenen Exanthem sofort wieder.
Hat das Exanthem schon länger als 24 Stunden bestanden, so bleibt die
Druckstelle einige Minuten als ein völlig weisser oder mehr schmutziggelber
Fleck sichtbar. Mit einem stumpfen Hölzchen, dem Fingernagel etc. lassen
sich bei massigen Druck Schriftzüge auf die Haut schreiben, die kurze Zeit
deutlich lesbar erscheinen. Diese „rayure blanche" Bouchut's ist indessen
keine Eigenthümlichkeit des Scharlachexanthems als solchem, sondern darf nur
als Zeichen einer verlangsamten Blutcirculation der Hautcapillaren angesehen
27*
420 SCARLATINA.
werden. Der Ausschlag veranlasst ein brennendes prickelndes Jucken in der
Haut, das viel zum Unbehagen der Patienten beiträgt.
Doch tritt es nur dann ein, wenn das Exanthem kein sehr intensives
ist. Im Gesicht kann der Ausschlag ganz fehlen. Ist er vorhanden, so sind
nie alle Theile gleichmässig befallen. Die Mundpartien und das Kinn
contrastiren dann auffallend durch ihre intensiv weisse Farbe mit dem
stark gerötheten, oft gedunsenen Gesicht.
Die Begleitsymptome ändern sich bei den regulären Scharlach-
formen während der Blütheperiode des Exanthems nur unwesentlich. Nur
das Erbrechen hört auf. Das Fieber hält sich auf seiner Höhe. Die Lippen
sind trocken und springen auf. Die entzündliche Röthe der Rachen- und
Mundschleimhaut besteht fort. Der Appetit liegt ganz darnieder, der Durst
nimmt überhand. Der Urin ist „hochgestellt", reich an Uraten und zeigt
nicht selten schon jetzt Spuren von Eiweiss. Vier bis sechs Tage bestehen
die Symptome mit unverminderter Heftigkeit fort, dann beginnt das Fieber
allmälig nachzulassen, die brennende Hitze wird geringer, die Röthe der
zuerst befallen gewesenen Theile beginnt abzublassen. Bei milden oder nicht
allzu schweren Fällen mit regulärem Verlauf beginnt die Reconvalescenz am
Schluss der ersten oder Anfang der zweiten Woche. In der zweiten Woche
verliert sich die charakteristische Scharlachröthe mehr und mehr, gleichzeitig
lässt auch die Schwellung, die Röthe des Gaumens und der Mundschleimhaut
nach, die Schleimhäute werden wieder feucht. Die Hyperplasie der Zungen-
papillen, der Mandeln und der Kieferdrüsen verliert sich. Der Appetit kehrt
wieder. Der Blick wird klarer und freier. Kinder, die auf der Höhe des
Fiebers völlig gleichgiltig und apathisch waren, fangen an zu spielen und
Theilnahme zu zeigen, bald hält es schwer, sie noch im Bett zu erhalten.
3. Die Desquamation: Es folgt die Periode der Abschuppung. Ihre
Dauer schwankt sehr. Nach Food-Caiger's Mittheilungen aus dem South-
Western-Fever-Hospital in London war sie bei jüngeren Kindern und Er-
wachsenen in weniger als 6 Wochen vollendet, in anderen Fällen dehnte sie
sich auf 12 und selbst auf 16 Wochen aus. Die Epidermis blättert sich an
allen befallen gewesenen Stellen der Ilautoberfläche in Schuppen ab. Die
Desquamation beginnt zuerst am Halse und im Gesicht. Wo die Haut dünn
ist, stösst sich die Epidermis kleienförmig in einzelnen Schuppen ab in ver-
hältnismässig kurzer Zeit, wo sie dicker zu sein pflegt, erfolgt die Los-
stossung erst nach Wochen; es bilden sich dann, wie im Handteller und an
den Fusssohlen mehr zusammenhängende Lamellen und „Flatschen" von oft
beträchtlicher Dicke. Die Art der Abschuppung ist für Scharlach so charak-
teristisch, dass die Abblätterung solcher Epidermislamellen noch eine nach-
trägliche Diagnose mit Sicherheit gestattet.
Analyse der Mauptsymptome : a) Das Fieber (Wunderlich,
Thomas, Litten, Henoch, Reimee, Gumbrecht u. a.) ermangelt bei dieser
Krankheit zwar eines festeren Typus, bietet aber in seinem Verlauf Eigen-
arten, welche an und für sich als charakteristisch bezeichnet werden müssen.
Im allgemeinen unterliegt es geringeren Schwankungen und Abweichungen
als die „Localsymptome" des Scharlachs. Sehen wir zunächst ab von den
sogenannten Abortivformen, so ist bei jedem deutlich ausgesprochenen
Scharlachfall das Fieber die erste Krankheitserscheinung; — zum mindesten
tritt es gleichzeitig mit der Angina und dem Erbrechen auf. Im Laufe
von wenigen Stunden steigt die Temperatur zu der beträchtlichen Höhe von
40 "^ und darüber, häufig unter den Erscheinungen eines mehr weniger intensiven
Frostanfalles. Schon am folgenden Morgen, an dem eine ganz unbedeutende
Remission einzutreten pflegt, zeigen sich auch die ersten Anfänge des
Exanthems. Dabei steigt die Temperatur continuirlich und erreicht erst
ihr Maximum (40-50— 41 »), sobald die Acme des Exanthems eingetreten ist.
SCARL ATINA. 421
Zieht sich die Eruption des Exanthems in die Länge, so verweilt die
Temperatur dieselbe Zeit auf gleicher Höhe, ohne wesentliche Schwankungen
zu zeigen. Es hält also die febris continua gleichen Schritt mit dem
Exanthem, überdauert es aber nicht selten noch 1 — 2 Tage. Eine definitive
Ermässigung der Temperatur tritt erst dann ein, wenn das Exanthem anfängt
abzublassen. Eine solche Rückbildung ist bei nicht complicirten Fällen vom
dritten, vierten Tage ab zu erwarten. Die Defervescenz erfolgt stets ly tisch,
aber das Sinken der Temperatur schreitet doch rasch fort und bei allen nicht
complicirten, günstig verlaufenden Fällen pflegt die Norm Ende der ersten,
spätestens Mitte der zweiten Woche erreicht zu sein. In jedem Falle aber
ist eine grosse Neigung zu neuen unmotivirten Steigerungen
der Temperatur vorhanden. Diese Temperaturerhebungen sind —
vorausgesetzt, dass keine Complicationen vorliegen. — als die letzten Aus-
strahlungen der Infection aufzufassen. Sie treten plötzlich am achten zehnten
Tage ein, halten höchstens zwei Tage an, dann geht die Temperatur wieder
zur Norm zurück; unter Umständen kommt es dann nach 3 — 6 Tagen noch
einmal zu einer neuen, aber noch milderen Acne von noch kürzerer Dauer.
(Recurrenzform des Scharlachs. Trojanowsky, Reimer, Gumprecht-
FÜRBRINGER U. A.)
In anderen Fällen treten Nachfieber längerer Dauer ein mit einen
dem Abdominal-Typhus ähnlichem Fieberverlauf (Bürck). Die patho-
logischen Befunde (Milzschwellung, Schwellungen der Darmfollikel und der
PEYER'schen Plaques etc.) haben einige Autoren verleitet, hier eine ge-
mischte Infection (ohne indessen das Vorhandensein von Typhusbacillen
bacteriologisch nachgewiesen zu haben) von Scharlach und Abdominaltyphus
anzunehmen. Ich meinerseits rechne diese Nachfieber zur occulten Pyo-
Septicaemie.
Alle Complicationen — Otitis media, fortbestehende Rachendiphtherie,
Drüsenentzündungen, Gelenkvereiterungen u. s. w. können die Entfieberung
lange verzögern und immer und immer wieder ein neues Ansteigen der
Temperatur herbeiführen.
Irrelevant für den Gesammtverlauf ist das langsame Aufsteigen des
Initialfiebers, das plötzliche Aufhören desselben mit vollendeter Eruption des
Exanthems, der temporäre Typus inversus, d. h. höhere Morgen- und niedrigere
Abendtemperatur u. dergl. In abnorm leichten Fällen fehlt das Fieber ganz
(Thomas, Werthheimber, Fliessinger), doch sind die Mittheilungen über
„fieberlosen Scharlach" nur mit der nöthigen Vorsicht zu acceptiren.
h) Das Exanthem der äusseren Haut. Eine zu hohe Bedeutung wird man
dem Exanthem der äusseren Haut nicht zuerkennen dürfen, obwohl dasselbe
in einer gewissen Wechselbeziehung zur Menge und Beschaffenheit des aufge-
nommenen Contagiums steht. Dieses bedingt Circulationsstörungen in der
Haut, Hyperämien mit Exsudationen von Serum und weissen Blutkörper-
chen und Untergang einzelner Gewebselemente.
Am dichtesten überzieht die anscheinend gleichmässige, ununterbi^ochen
fortlaufende Scharlachröthe den Hals, Rumpf, die oberen Extremitäten und die
Innenflächen der Oberschenkel.
Frei vom Exanthem bleiben die Palmar- und Plantarflächen, der
behaarte Kopf und meist auch das Gesicht. Letzteres ist allerdings oft stark
geröthet und etwas gedunsen, doch dürfte dieser Befund mehr auf Rechnung
des hochgradigen, acut einsetzenden Fiebers, als des Exanthems zu setzen
sein. Jedenfalls werden die Mundpartien, Ober- und Unterlippen, Kinn
und Gegend der Nasolabialfalten vom Scharlachexanthem nie befallen. Diese
Partien stehen dann durch ihre bleiche Farbe in auffallendstem Contrast zu der
übrigen Röthe des Gesichtes.
422 SCARLATINA.
An den Dorsalseiten der Hand und des Fusses, sowie an den Unter-
schenkeln constatirt man häufiger vereinzelte bis Linsengrosse, massig infil-
trirte, bisweilen aber auch knötchenförmige Flecke (Scarlatina laevigata,
resp. 'Scarlatina papulosa). Da aber diese Flecke und Knötchen an
Regelmässigkeit der Vertheilung und Grösse den Masernknötchen nach-
stehen, werden sie kaum zu diagnostischen Irrthümern Veranlassung geben.
Auch Urticaria- artige Quaddeln kommen zeitweise zur Beobachtung,
Steigern sich die serösen Exsudationen, so erheben sich allenthalben
auf der Haut, besonders an den Körperstellen, welche einem Druck aus-
gesetzt sind, oder zu stärkerer Schweissabsonderung disponiren, kleine,
hirsekorngrosse, mit serösem Inhalt prall gefüllte Bläschen {Scarlatina miliaris).
Diese als Scharlachfriesel bezeichnete Abart des Exanthems ist ein
„Kunstproduct" und verdankt ihre Entstehung der Anregung einer abnorm
gesteigerten Thätigkeit der Hautdrüsen. Wenn früher ganze Epidemien von
^Scharlachfriesel" gesehen und beschrieben wurden (Jahn u. a.), so findet
dieser Umstand in den therapeutischen Maassnahmen der damaligen Zeit seine
Erklärung. — (Schwitzcuren!) Durch Confluenz solcher miliarer Bläschen
können auch grössere Blasen entstehen, wie beim Pemphigus (pemphigoide
Form). Ein „selbständiger Pemphigus" tritt bisweilen als „Nachkrank-
heit" auf.
Eine wichtigere Varietät, als die bisher erwähnten, bietet der gefleckte
Scharlach (Scarlatina variegata). Er ist der Ausdruck einer schweren Into-
xication. (Ünterholzner erwähnt einen Fall von Scarlatina variegata als
zweitmalige Erkrankung mit tödtlichem Ausgang.) Bei dieser Form sieht man
die sonst minimalen, nie Stecknadelknopfgrösse überschreitenden Punkte zu
linsen- selbst groschengrossen, zerstreut stehenden Roseolaflecken sich
erweitern. Diese Flecke sind annähernd rund oder mehr weniger zackig. Sie
verbreiten sich auf Rumpf und Extremitäten und grenzen sich durch ihre
tiefere, dunklere, mehr bläulichrothe Färbung von dem nur schwach gerötheten
Untergrunde deutlich ab. Sie bestehen bis zum Abblassen des Exanthems
fort, oder schwinden schon früher. Bei ihrer Neigung zu confluiren über-
ziehen sie auch grössere Hautpartien mit ihrer dunkleren Färbung. Zu-
weilen tritt die Scarlatina variegata auch im Gesicht auf und nur der
übrige Symptomencomplex weist trotz der Fremdartigkeit des Exanthems
darauf hin, dass wir es wirklich mit Scharlach zu thun haben (Hebea,
Thomas).
Die Differentialdiagnose zwischen Scharlach, Masern und Röthein
kann in solchen Fällen ungemein schwierig sein.
Bei sehr intensivem Exanthem bemerkt man häufig sehr zahlreiche
minimale Blutaustritte in der Haut, häufig bleiben auch nach dem
Abblassen des Ausschlages intensivere Pigmentirungen zurück, die auf Aus-
tritt von Blutfarbstoff zurückzuführen sind (Litten), als Scarlatina haemorrhagica
kann man indessen erst diejenige Form des Scharlach bezeichnen, wo die
Scharlachintoxication zu einer ausgesprochenen „haemorrhagischen Diathese"
Veranlassung gegeben hat. Allenthalben auf der äusseren Haut, vereinzelt
auch auf den Schleimhäuten treten Petechien- und Purpuraflecke von dunkel-
braunrother Farbe und verschiedener Grösse auf, welche auf Fingerdruck nicht
verschwinden. Von Gestalt rundlich oder zackig, umgibt sie dass rosenrothe
Scharlachexanthem hofartig. An den Extremitäten treten die subcutanen
Blutergüsse auch in Form von dunkelrothen linsen- bis erbsengrossen Knoten
und ausgedehnteren Haematomen auf.
Auf der Höhe des Exanthems kommt es aber doch selten zu solchen
Blutungen in der Haut etc., etwas häufiger entwickelt sich die haemorrhagische
Diathese als Folge- oder Nachkrankheit des Scharlachs.
SCARLATINA. 423
Da es sich beim Scharlach nicht um blosse Hauthyperämien, wie beim
Erythem handelt, sondern exsudative Processe sich abspielen, so treten nach
Schwinden der Scharlachröthe die befallen gewesenen Hautstellen nicht ein-
fach wieder intact hervor, sondern es kommt wie wir bereits erwähnten, zur
Desquamation, einer Art Häutung, bei der sich die oberen Epidermisschichten
in mehr weniger zusammenhängenden Lamellen ablösen und abblättern.
Die Desquamation beginnt an den zuerst befallen gewesenen Hautstellen
(am Halse). Sie tritt um so deutlicher und allgemeiner zum Vorschein, je
intensiver und extensiver das Exanthem verbreitet war. Am Rumpfe erfolgt
die Abschuppung mehr kleienförmig (Desquamatio furfuracea) in ein-
zelnen Schüppchen; (eine Desquamation in silberglänzenden grosch engrossen
Schuppen, wie bei der Psoriasis, sah Klamann) an den Vorderarmen und Un-
terschenkeln, namentlich an den Händen und Füssen in grösseren zusam-
menhängenden Lamellen und Flatschen (Desquamatio membranacea).
Die Lamellen sind an den Palmar- und Plantarflächen von ungewöhnlicher
Dicke; hier zieht sich der Häutungsprocess am meisten in die Länge. (Im
Mittel ist die Desquamation nach 60 — 77 Tagen vollendet. Rix.)
Zeitweise werden sogar handtellergrosse Abhebungen der Oberhaut mit
völliger Freilegung des Eete Malpighii und Losstossung der Nägel und Haare
beobachtet. Die nachwachsenden Haare und die vernarbten Hautstellen
bleiben völlig pigmentlos, wie beim Albinismus partiaiis. (Wallenberg.)
c) Das Schleimhautexanthem. Der Eruption des Exanthems auf der
äusseren Haut gehen entzündliche Zustände auf der Mund- und Rachenschleim-
haut voraus; sie verharren und verschlimmern sich mit dem Exanthem, über-
dauern dasselbe und gewinnen eine grössere Bedeutung, als sich hier ohne
merklichen Uebergang eine der allergefährlichsten Complicationen des Schar-
lachs, die „Scharlachdiphtherie", zu entwickeln pflegt. Es liegt nahe, die
entzündliche Röthe des Rachenraumes als den Ausgangspunkt der Scharlach-
infection überhaupt zu erklären, jedentalls ist die Angina scarlatinosa patho-
gnomonisch. Sie fehlt nie, während ja das Exanthem der äusseren Haut
ganz vermisst werden kann; im übrigen ist sie unabhängig von der Intensität
der Erkrankung. Man constatirt im Beginn eine intensive, sich sprungweise
auf die ganze Rachenschleimhaut verbreitende Röthe und Schwellung der
Schleimhaut.
Vom weichen Gaumen geht der entzündliche Process auf die Uvula, die
vorderen Gaumenbögen und die Tonsillen, später auch auf die hinteren
Gaumenbögen und die hintere Pharynxwand über. Anfangs ist die Röthe scharf
conturirt, nach 12—24 Stunden ändert sich der Charakter des initialen Exan-
thems. Es verliert seine Gleichmässigkeit, wird fein punktirt und es erfolgt
„die Eruption von stecknadelknopfgrossen, rothen Punkten, welche Eftlorescenzen
nahe an einander liegen und das Niveau der Schleimhaut überragen" (Monti).
Nach wieder 24 Stunden blassen die Eftlorescenzen ab und überdauern in
normal verlaufenden Scharlachfällen das Exanthem der äusseren Haut nicht. —
Nicht selten erreicht aber das Schleimhautexanthem eine beträchtliche Stei-
gerung. Schon in den ersten Stunden zeichnet es sich durch düstere, mehr
braunrothe Färbung der Rachentheile aus (Angina scarlatinosa paren-
chymatosa. Monti). Die Theile schwellen an. Die Schwellung bedingt Schling-
beschwerden, eine näselnde Sprache, schnarchende Respiration und selbst Er-
stickungsanfälle. Die Kranken verschlucken sich leicht, Flüssigkeiten laufen aus
Mund und Nase wieder heraus. Ein zäher, eitriger Schleim wird abgesondert.
Die Entzündung greift auf die Choanen- und Nasenschleimhaut über und
wandert durch die Tuben zum Mittelohr. Die Submaxillardrüsen, die Paro-
tisgegend, das Unterhautzellgewebe des Halses, namentlich die Umgebung
der Kieferwinkel ist geschwollen, massig infiltrirt und auf Druck empfindlich.
Solche diffuse, mehr in die Tiefe dringende parenchenchymatöse Entzündungen
424 SCÄRL ATINA.
unterhalten das Fieber und bilden sich oft erst im Verlaufe mehrerer Wochen
zurück, Pseudomembranöse Auflagerungen im Rachen, besonders auf den
Mandeln bilden einen häufigen Befund. Sie treten mehr als inselförmige
Flecke auf, die nur lose der Schleimhaut anhaften, sich leicht ablösen und
abspülen lassen. Die darunter liegende Schleimhaut bleibt anscheinend intact.
Beim regulär verlaufenden Scharlach wird die Nasenschleimhaut nie
primär, wie bei Masern befallen. Sie ist blass, zeigt keine Veränderungen,
keine Secretvermehrung. Der Scharlachschnupfen mit seinen schleimig-
eitrigen, missfarbigen Ausflüssen aus der Nase ist stets secundärer Natur
und steht mit der schweren „diphtheritischen Scharlachangina", auf die wir
später zurückkommen werden, in engster Beziehung.
Eine besondere Erwähung verdienen aber noch die Veränderungen der
Zungenoberfläche (A. Neumann.) Im Stadium der Schleimhautschwellung
und Epitheltrübung entwickeln sich in der Zungenschleimhaut Längsfurchen
und Risse. Die Oberfläche erscheint grauweiss bis gelbweiss, nur die Spitze
und die Seitenränder nächst derselben bleiben roth. Während des Floritions-
stadiums erfolgt die Desquamation d. h. die Losstossung des Zungenepithels.
Sie geht von den Papillae fungiformes der Zungenspitze aus und schreitet
auf die ganze Zunge fort. Diese erscheint nun geschwollen, intensiv geröthet,
die Zungenpapillen treten deutlich hervor und somit gewinnt die Zunge in
diesem Stadium (etwa am 4. Krankheitstage) ein Aussehen, das an eine Erd-
beere oder Himbeere erinnert. (Scharlachzunge.)
Unter 48 Fällen war 38mal die Himbeerzunge vorhanden (Neumann).
Die Regeneration des Zungenepithels ist nach 8 — 10 Tagen wieder
vollendet, indem sich die Höhe des Zungenrückens mit normalem Epithel
bedeckt, die Zungenpapillen abschwellen, die Zungenschleimhaut abblasst,
sich glättet, und feuchter wird, kurz ihr normales Aussehen wiedererlangt.
B* Complicationen, Folgekrankheiten und Nachkrankheiten.
Sehr erhebliche Abweichungen von dem regulären Scharlachverlauf werden
durch die sogenannten „Complicationen" herbeigeführt. Damit bezeichnet
man ganz bestimmte, in den Vordergrund tretende Organ- oder „Localer-
krankungen", welche ihr Entstehen aber nicht ausschliesslich der directen
Einwirkung des Scharlachgiftes verdanken, sondern theilweise als „Misch-
infectionen" aufgefasst werden müssen, indem sie wahrscheinlich durch die
Ansiedlung und Neuentwicklung anderer virulenter Krankheitserreger (Strepto-
coccen) hervorgerufen werden.
Die Complication gewinnt unter Umständen ein solches Uebergewicht,
dass sie dem Einzelfall ein ganz bestimmtes, eigenthümliches Gepräge auf-
drückt; sie verzögert die Heilung, unterhält das Fieber, ruft neue allgemeine
Krankheitserscheinungen hervor, ja sie wird häufig die directe Ursache des
letalen Verlaufes abgeben.
1. Die septischen Erkrankungen des Nasen-Rachenraumes. {Scharlachdiph-
therie, Drüsen- und Zellgewehsentzündungen des Halses., allgemeine Sepsis.) Eine
der häufigsten und gefährlichsten Complicationen ist unstreitig die Scharlach-
diphtherie. Wir verstehen darunter Schleimhautentzündungen im Nasen-
Rachenraum mit Membranbildungen und brandigen Zerstörun-
gen. Ihrem äusseren A.ussehen nach gleicht die Scharlachdiphtherie der
genuinen epidemischen Diphtherie. Ihres bacteriologischen Verhaltens und
ihres klinischen Verlaufes wegen darf sie aber mit derselben nicht identifi-
cirt werden. Wir unterscheiden mit 0. Heubner leichte und schwere
Formen. Da aber die einzelnen Formen vielfach in einander übergehen, so
ist selbstverständlich eine strenge Scheidung nicht immer durchführbar.
1. Bei den leichten Formen constatiren wir schon im Floritions-
stadium auf der stellenweise intensiver gerötheten Rachenschleimhaut, auf
SCARLATINA. 425
den Tonsillen, am weichen Gaumen, am Zäpfchen, an den Gaumenbögen, oder
an der hinteren Rachenwand einzelne membranöse Plaques bis Linsengrösse
oder grössere zusammenhängende Membranen, die nur locker der Schleimhaut
aufliegen und sich ohne Blutung oder sichtbaren Substanzverlust leicht ab-
lösen und abspülen lassen. Die Unterkieferdrüsen sind nur in geringem Grade
geschwollen und auf Druck etwas empfindlich. Das Fieber hält sich auf
massiger Höhe. Nach 5, 6 Tagen spätestens nach einer Woche haben sich
die Ausschwitzungen gelockert und gelöst. Sie werden meistens von den
Kranken mit dem Speichel und der aufgenommenen Nahrung abgespült und
verschluckt. Dabei schwellen die Halsdrüsen ab, das Fieber schwindet. Das
eigentliche Scharlachbild erleidet somit keine wesentliche Veränderung. Der
einzige Unterschied zwischen der dilfusen, parenchymatösen Scharlachangina
und dieser leichten Form der Scharlachdiphtherie liegt eben nur in den m e m-
branösen Ausschwitzungen und Auflagerungen. Etwa der vierte
Theil aller Fälle von Scharlachdiphtherie gehört dieser leichten, sich ver-
hältnismässig schnell zur Besserung wendenden Form an.
2. Die schwere maligne Nasen-Rachendiphtherie zeichnet
sich, wenn wir zunächst von den „pestartigen", in wenigen Tagen unrettbar
zum Tode führenden Fällen absehen, durch einen chronischen, mehr
schleppendem Verlauf aus. Sie führt häufig zu allgemeineren, sep-
tischen Krankheitserscheinungen.
Vor Ende oder Mitte der 2. Scharlachwoche tritt sie nicht in den Vor-
dergrund. Trotz Rückgang des Exanthems und der scheinbaren Besserung,
werden die Patienten wieder unruhig, werfen sich umher, das Sensorium
wird benommen. Die Temperatur steigt wieder auf 40 — 41°. Die Tonsillen
und die Rachenschleimhaut sind geschwollen, trocken und zeigen ein düsteres
Roth oder eine livide Verfärbung. Es besteht foetor ex ore. Man constatirt
Belege und beginnende Geschwürsbildung. Aus der Nase fliesst ein
übelriechendes, jauchiges Secret, was die Nasenränder und die Oberlippe stark
arrodirt (Scharlachschnupfen). An den Nasenrändern und Mundwinkeln
sieht man eitrig belegte Einrisse und tiefe Rhagaden. Das auffallendste und
in die Augen springendste Symptom bieten aber zunächst die entzündlichen
Schwellungen der Kieferdrüsen (ausser den glandulae submaxillares,
sind auch die glandulae cervicales superficiales, die gland. jugulares superiores
und inferiores geschwollen) und des periglandulären Halszell-
gewebes.
Diese bestehen vom ersten Tage an und nehmen zusehends von Tag
zu Tag an Ausdehnung zu. Die geschwollenen Drüsen verschmelzen zu hö-
ckerigen Packeten. Meist ist die eine Halsseite stärker geschwollen als die
andere. Der Kopf stellt sich schief nach der weniger geschwollenen Seite
zu. Mit zunehmender Infiltration hört die Möglichkeit der Bewegung im
Kiefergelenk auf. Die Haut über der Geschwulst ist prall gespannt, ödema-
tös glänzend. Die Infiltration des Halszellgewebes kann sich längs des ganzen
Halses bis zum Sternum und über dasselbe hinweg ausdehnen. Sie erscheint
bretthart, nur an einzelnen Stellen fühlt man eine teigige Fluctuation.
Schneidet man hier ein, so entleert sich aus dem weichen infiltrirten Gewebe
ein mit Eiter und Gewebsfetzen gemischtes trübes Serum. — Resorption
Abscedirung und Gangrän sind die Ausgänge dieser Drüsen- und Zell-
gewebsgeschwülste des Halses.
Die Rückbildung durch Resorption erfolgt ungemein langsam unter an-
haltend hohem Fieber. Der Ausgang in Abscedirung und Eiterung ist nicht
gerade häufig und erfolgt erst nach Wochen. Ich hatte aber Gelegenheit
Eitersäcke von Apfel-, ja Faustgrösse zu eröffnen. Bisweilen bilden sich auch
Abscesse an der hinteren Pharynxwand. (B6kai sah 9mal Retropharyngeal-
abscesse nach Scharlach.) Gelegentlich kommt es auch zu Eitersenkungen am
426 SCARLATINA.
Halse bis zum Schlüsselbein und in die Sternalgegend. Selbst in diesen
schweren Fällen ist Heilung nach Entleerung des Eiters möglich, wenn sich
auch die Reconvalescenz sehr in die Länge zieht. Ebenso häufig nehmen
aber die Schwächezustände derart zu, dass der Tod durch Entkräftung erfolgt.
Noch schlimmer gestaltet sich die Prognose bei eintretender Gangrän.
Bleibt diese auch nur beschränkt, so ist doch ein ungünstiger Ausgang zu
fürchten. Dem brandigen Zerfall unterliegt zuerst das subcutane und
intermusculäre Bindegewebe, dann erst die Haut. Da der Tod meist
früher eintritt, ehe es zu ausgedehnter Hautgangrän und zur Losstossung der
breiigen, todten Gewebsmassen kommt, wird man selten die Muskeln und
Gefässe frei wie bei einem anatomischen Präparat daliegen sehen. Aber
auch in solchen Fällen von ausgedehnter Hautgangrän und tiefgreifender
Zerstörung (Noma), ist Heilung nicht ganz ausgeschlossen, wie der von
Glover Williams 1886 mitgetheilte Fall beweist; andererseits sah man aber
auch (Baethez-Killiet, Ashby) tödliche Blutungen, bedingt durch Arrodirungen
grösserer Gefässe (der Carotis, wie der Vena jugularis).
Die eben geschilderten Drüsen- und Zellgewebsentzündungen sind
secundärer Natur und stehen in einem directen Abhängigkeitsverhältnis
von den diphtheritischen Schleimhautnekrosen, welche sich im
Nasen-Rachenraum abspielen. Hier kommt es in mehr weniger grosser Aus-
dehnung zu Geschwüren und Substanzverlusten. Die Mandeln zeigen tiefe
eingerissene Gruben und zackige, kraterförmige Geschwüre mit missfarbigen,
schmierigen Belag. Die Uvula und die Gaumenbögen erscheinen wie aus-
genagt, nur dort, wo die Geschwüre rothe Demarcationslinien zeigen, begrenzt
sich die Mortificirung der Gewebe, während die blassbräunliche Verfärbung,
sowie die trockene Beschaffenheit der Schleimhaut auf weiteren Zerfall hin-
deutet. Bisweilen wird man durch totale Perforation des Gaumen-
segels überrascht. Es entstehen Defecte, glatt, die mit einem Locheisen
herausgeschlagen (Henoch), ja die ganze Uvula wird necro tisch abgestossen.
Die Zunge schwillt an, wird klebrig, dann ganz trocken und rissig. Blutungen
sind die Folge und ein bräunlich-schwärzlicher, übelriechender, schmieriger
Belag überzieht die Zungenoberfläche. Es bedarf Wochen, ehe die Risse
heilen, die Zunge abschwillt, blasser wird und wieder die nöthige Feuchtigkeit
zeigt. Das Zahnfleisch und die Lippen bluten leicht, sind zerrissen und mit
schwarzen, russigen Borken bedeckt. Auch an der Wangenschleimhaut zeigen
sich unregelmässige zackige Geschwüre. Aus Nase und Mund fliessen stin-
kende jauchende Secrete, die Nasenöffnungen und Mundwinkel stark arro-
diren. Ein penetranter Foetor ex ore verpestet die ganze Umgebung der
Kranken. Beim Ausspritzen der Nase entleeren sicll blutige stinkende Mem-
bran- und Gewebsfetzen. Der diphtheritische Zerstörungsprocess greift in
schweren Fällen, fortgeleitet durch den Thränen-Nasencanal auf die Con-
junctiva über, bedingt starke entzündliche Schwellungen und Geschwürs-
bildungen an den Augenlidern. Selten fällt indessen auch die Cornea der
Zerstörung anheim.
Häufig werden dagegen Tuben und Paukenhöhle in Mitleidenschaft ge-
zogen. Es kommt zu Vereiterungen des Mittelohres, Perforationen des Trommel-
felles und ein stinkender Eiter ergiesst sich aus den Ohren.
Während des ganzen Verlaufes herrscht continuirlich ein hohes Fieber,
wochenlang sich hinziehend, unterbrochen von einzelnen Collapsen. Die
Kinder sind unbesinnlich, somnolent und apathisch, Respiration schnarchend,
das Gesicht ist gedunsen, bleich und fahl.
Der Appetit liegt ganz darnieder, die Nahrungszufuhr ist sehr erschwert,
da nur mit äusserster Anstrengung Schluckbewegungen ausgeführt werden
können. Treten hierzu unstillbare Diarrhöen, Erlahmung der Herzthätigkeit,
grössere Mengen Ei weiss und Detritusmassen im Urin (septischeNephritis),
SCARL ATINA. 427
SO ist auf Besserung nicht mehr zu hoffen. Bisweilen entwickelt sich auch
eine eitrige Pleuritis, ein andermal unter Schüttelfrösten das Bild einer Pyä-
mie, zurückzuführen auf septische Thrombosen in den grossen Halsvenen
(Lenhakz-Heubnee, Henoch), oder es kommt zu multiplen eitrigen Gelenk-
entzündungen (He^och). Sie treten unter sehr hohem Fieber auf, ent-
wickeln sich sehr rasch in wenigen Stunden zu hohen Graden. Befallen
werden Handgelenke, Fuss-Kniegelenke, aber auch nicht selten die kleineren
Gelenke der Finger, das Sternoclaviculargelenk etc. Röthung, starke Schwellung,
ungemeine Schmerzhaftigheit, Fluctuation in den Gelenken, charakterisiren
diese pyämischen Gelenkentzündungen nach Scharlach. Oft deutet eine
nachweisbare Crepitation darauf hin, dass bereits die Knorpelüberzüge der
Gelenkepiphysen zerstört sind (Heubner).
Für die nothwendige Trennung der Scharlachdiphtherie von
der epidemischen (LöFFLER'schen) Diphtherie sprechen sowohl die klinischen
Erfahrungsthatsachen, wie auch die bacteriologischen Befunde.
Henoch betonte zuerst in entschiedenster Weise, dass die Scharlachdiphtherie nur
eine sehr geringe Tendenz zeigt, auf den Kehlkopf fortzuschreiten, während die „nekroti-
sirende Entzündung" mit auffallender Schnelligkeit vom Rachen aus auf die Cboanen,
Nase und Mittelohr übergreift. Zweitens vermisst man das Auftreten der für die genuine
Diphtherie charakteristischen Lähmungen des Gaumensegels, der Augenmuskeln etc. drittens
wird von solchen Kranken nur Scharlach übertragen, der allerdings wieder mit Scharlach-
diphtherie complicirt sein kann; aber nie die genuine Diphtherie allein ohne Scharlach.
Die gegentheiligen Beobachtungen:
Henoch selbst erwähnt 7 Fälle von Larynxdiphtherie bei Scharlach, Krasin
sah nach Scharlach Gaumensegellähmung, Accomodationsstörungen und Facialis-
paralyse, John Meredith beobachtete wechselseitige Uebertragung von Diphtherie
und Scharlach in einer Familie.
Diese gegentheiligen Beobachtungen, meine ich, weisen darauf hin, dass in seltenen
Ausnahmefällen Scharlach und LöFFLER'sche Diphtherie, synchron bei ein- und demselben
Individuum auftreten kann, in gleicher Weise, wie synchron Jemand an Scharlach und
Masern erkranken kann. Ein solcher Synchronismus von Scharlach und genuiner Diph-
therie (BowMANN, BoiXDET u. a ) ist aber möglich, wenn gleichzeitig Scharlach und Diph-
therie epidemisch auftritt, namentlich aber Scharlachkranke und Diphtheriekranke in das-
selbe Krankenzimmer gelegt werden, wie das in früherer Zeit häufig genug vorgekommen
sein mag.
So darf es denn auch nicht Wunder nehmen, dass vereinzelt bei „Scharlachdiph-
therie" LöFFLER'sche Diphtheriebacillen gefunden wurden (E. Holzinger-Escherigh, Würtz
unter 11 Fällen 2 mal etc.) Löffler selbst, Heubner-Bahrdt, Würtz, Fräulein Dr. Raskina,
Bourges u. a. constatirten dagegen bei der Scharlachdiphtherie eine Streptococcenform,
welche grosse Aehnlichkeit mit den FEHLEiSEN'schen Erysipelas-Coccen zeigt. Thier-
experimente und die Züchtungsergebnisse aus dem Blute solcher Scharlachkranker (Crooke,
A. Fränkel, Freudenberg etc.) stellten fest, dass der nachgewiesene Streptococcus mit dem
Streptococcus pyogenes Rosenbach identisch ist.
Heubner u. a. fassen daher die Scharlachdiphtherie als eine schwere Mischin-
fection auf, bedingt durch die Entwicklung hochvirulenter Streptococcen, nachdem unter
Einfluss des Scharlachcontagiums das Absterben der befallenen Schleimhäute eingeleitet
ist. Vom Rachen aus gelangen die Streptococcen in die Lymphbahnen und bedingen se-
cundär weitere septische Krankheitserscheinungen.
SöRENSEN vertritt dagegen die Ansicht, dass die Scharlach-Diphtherie die anatomische
Basis der krankhaft veränderten Infectionsstelle des Scharlachfiebers sei. Gewissermaassen
also die durch die Streptococcen „diphtheritisch" veränderte „Wunde," von der der
Scharlach ausging. Beim chirurgischen, resp. puerperalen Scharlach fehlen die Rachen-
erscheinungen, oder sind nur unbedeutend, die Wunde selbst aber, von der der Scharlach
ausgeht, zeigt die gleichen, durch Streptococcen hervorgerufenen diphtheritischen Ver-
änderungen.
Hiermit steht aber nicht recht im Einklang, dass die Scharlachdiphtherie sich ge-
wöhnlich nicht im Beginn, sondern erst nach Ablauf des eigentlichen Scharlachs zu ent-
wickeln pflegt.
Die Erkrankungen der Gehörorgane. (Hetdloff, Bürkhardt-Merian,
L. Katz u. a.) Die häufig nach Scharlach auftretenden Erkrankungen des
Ohres sind gleichen Ursprunges, wäe die übrigen Entzündungen und Zer-
störungen der Schleimhäute des Nasen-Rachenraumes. Sie schreiten durch
die Tuben aufs Mittelohr fort. Wir finden dieselben Schleimhautverände-
428 SCARLATINA.
rangen, wie wir sie Schritt für Schritt an der Rachenschleimhaut verfolgen
konnten. Ein Process, der anscheinend als einfacher „Katarrh" beginnt und
als schwere „diphtheritische Nekrose" endet. Die schweren Veränderungen
fallen in das Stadium der Desquamation,
Die Otitis kündigt sich an durch Frostgefühl und neue Temperatur-
steigerung, Ohrenschmerzen, auffallende Schwerhörigkeit. Die Schmerzen,
anfangs nur wenige Stunden anhaltend, nehmen bald einen neuralgischen
Charakter an, in den Bahnen des 2. und 3. Trigeminusastes ausstrahlend. Per-
forirt das Trommelfell, so erfolgt ein diffuser Eiterausfluss aus dem Ohr, die
Schmerzen und das Fieber lassen nach. Die Glandulae auriculares, subma-
xillares und cervicales sind geschwollen und auf Druck empfindlich, ein
Druckschmerz auf den Process. mastoideus deutet auf Knochenvereiterung hin.
Charakteristisch für die Otitis media scarlatinosa ist die Schnelligkeit, mit
der es zu grösseren Perforationen und Defecten im Trommelfell kommt. Die
scarlatinösen Ohrenerkrankungen erheischen unsere Aufmerksamkeit in hohem
Grade. Sie gefährden das Gehöi und führen, wenn Taubheit auf beiden Ohren
in früher Kindheit auftritt, zu Taubstummheit. Nach den Zusammen-
stellungen von Buechakdt-Meeian fanden sich unter 4309 Taubstummen 445,
die in Folge von Scharlach taubstumm geworden waren also circa 10*3%.
Man constatirt sehr bedeutende pathologische Veränderungen des Mittelohres und
des Trommelfelles — Perforationen, Zerstörungen, Kalkeinlagerungen, Narben-
verwachsungen mit den Promontorium etc. — ferner werden erwähnt völliger
Verlust der Gehörknöchelchen (J. Blake) Labyrintherkrankungen (L. Katz),
chronische Vereiterungen mit Caries des Felsenbeines, Verdickungen und Auf-
lagerungen von Osteophyten an den Knochensinus, in Folge dessen partielle
Circulationsstörungen, Stauungen in den Venen und in den Gehirnsinus,
Thrombenbildungen, comatöse Zustände und Tod. — In anderen Fällen wurde
der letale Ausgang durch eine eitrige Meningitis oder durch profuse Blu-
tungen aus dem Ohre herbeigeführt (Lovegrove, Htnes etc.).
2. Die scarlatinösen Entzündungen der serösen Häute. (Scharlachrheuma-
tismus, Endocarditis, Pericarditis, Pleuritis etc.)
Von den eitrigen pyämischen Gelenkentzündungen, die wir bereits be-
sprochen haben, sind die weit unschuldigeren polyarticulären, rheuma-
toiden, Gelenkentzündungen, der „Scharlachrheumatismus,''
scharf zu trennen. Henry, Ashby sah unter 500 Scharlachfällen den Schar-
lachrheumatismus {Synovitis scarlatinosa) nur 10 mal, also in 0,02 7o, Koren
dagegen unter 426 Fällen 27mal, also in 6'37o- Dies erklärt sich daraus,
dass sich manche Epidemien durch eine besondere Häufigkeit dieser Com-
plication auszeichnen. Obgleich der acute Gelenkrheumatismus und der
Scharlachrheumatismus in klinischer Beziehung nur geringe Unterschiede zeigt,
so muss man doch daran festhalten, dass die polyarticuläre scarlatinöse Syno-
vitis durch das Scharlachcontagium selbst bedingt und hervorgerufen wird.
Gewöhnlich zeigt sich diese Complication erst dann, wenn das Fieber nach-
zulassen anfängt, also Ende der ersten oder Anfang der zweiten Woche. Milde
Scharlachformen neigen entschieden mehr dazu, als die schweren. Grössere
Kinder klagen über Schmerzen in den afficirten Gelenken, bei kleineren
Kindern entzieht sich die Affection oft unserer Kenntnis, wenn nicht die be-
fallene Extremität geschont und active Bewegungen mit derselben ängstlich
vermieden werden. Bei passiven Bewegungen lassen die Betreffenden sofort
Schmerzäusserungen laut werden. Die befallenen Gelenke sind nicht ge-
röthet und meist auch nicht geschwollenen, ein Erguss in die Gelenkkapsel
lässt sich nicht nachweisen. In der Regel werden mehrere Gelenke zugleich
befallen, ein Ueberspringen von einem Gelenk auf das andere, wie beim
typischen Gelenkrheumatismus, findet nicht statt, bisweilen ist aber die Ent-
zündung auf ein Gelenk fixirt. Am häufigsten werden befallen Hand-Finger-
SCARLATINA. 429
gelenke und Kniegelenk (Koren), aber auch das Halswirbelgelenk (Werth-
heimber).
Der Scharlachrbeumatismus pflegt nicht sehr schmerzhafter Natur zu
sein, er ist flüchtig, schwindet nach vier bis sechs Tagen, ohne die ßecon-
valescenz wesentlich zu verlangsamen oder auch nur das Fieber erheblich
zu steigern. Recidive werden nicht beobachtet. Ungemein selten geht die
seröse Synovitis in die purulente Form über (Bokai jun. Faikbank). Als
Unicum ist Demme's Fall anzusehen, wo sich im Anschluss an eine multiple
Synovitis scarlatinosa eine ,;Panarthritis" entwickelte und noch 2 Jahre später
Contracturstellungen etc. in den Gelenken bestanden.
Mag nun Scharlachrheumatismus vorausgegangen sein oder nicht, relativ
häufig (in ca. 3 — 5"/o Litten) betheiligt sich das Endocardium, sowie
der Herzmuskel selbst (siehe Scharlachnephritis) an den Entzündungs Vor-
gängen. Systolische Geräusche an der Herzspitze während des Scharlach-
verlaufes sind häufig zu hören. Sie werden vielfach als „functionelle Geräusche"
(AsHBY) gedeutet, doch wird man Henoch zustimmen dürfen, dass die Endo-
carditis im Kindesalter häufiger der Rückbildung fähig ist, als bei Erwachsenen.
Bleibende Klappenfehler (Mitralfehler) nach Scharlach gehören keineswegs
zu den Seltenheiten. Erinnert sei hier an eine Mittheilung von 0. Seifert,
der im Anschluss an Scharlach in einer Familie (Mutter und 5 Kinder)
viermal Endocarditis und Herzklappenfehler beobachtete. Auch beim Schar-
lach haben wir die verrucöse Endocarditis von der ulcerösen zu trennen.
Letztere sowie ein grosser Theil der entzündlichen und degenerativen Ver-
änderungen des Herzmuskels (Litten, Eomberg) sind auf Rechnung der
diphtheritischen d. h. septischen Secundärinfection zu setzen. Die Prognose
dieser Fälle ist selbstverständlich eine sehr ungünstige. Zu typischen Herz-
klappenfehlern gibt die ulceröse Endocarditis auch keine Veranlassung.
Chorea ist wiederholt nach Scharlach aufgetreten (Henoch, Werthheim-
ber, Dieci, Rothschild u. A.) So auffallend auch diese Dreiheit — ■ Gelenk-
entzündungen, Herzfehler, Chorea — ist, so berechtigt uns diese klinische
Thatsache doch keineswegs, den Scharlachrheumatismus und den acuten Gelenk-
rheumatismus zu identificiren.
Auch das Pericard, die Pleura und, wenn auch am seltensten, das Peri-
toneum können specifischen Entzündungen durch das Scharlachcontagium
unterliegen. Die Diagnose der Pericarditis stösst auf grosse Schwierigkeiten,
wenn nur ein geringer Flüssigkeitserguss stattgefunden hat. Doch ist sie
häufig in solchen Fällen, wo die Patienten plötzlich und unerwartet oder
bald nach einer kurzen Scharlachfieberattaque sterben, als Todesursache gefun-
den worden. (Smith). Die pleuritischen Ergüsse werden früh eitrig, das gleiche
gilt von der Peritonitis, ein Umstand, welcher wohl als der Ausdruck des
septischen Charakters dieser schweren, wenn auch nicht allzu häufigen Com-
plication, resp. Nachkrankheit angesehen werden muss.
3. Complicationen von Seiten des Centralnervensystems. Cerebralerschei-
nungen sind beim Scharlach keine seltenen Vorkommnisse. Sie treten, wenn
wir zunächst von den urämischen Hirnintoxicationen absehen, schon in den
drei oder vier ersten Tagen auf. Bald überwiegen Reizerscheinungen, bald
Depressionserscheinungen. Bei kleinen Kindern gehören Convulsionen mit
zu den Initialsymptomen. Bleibt es bei einem Krampfanfall, so stellt sich
die Prognose nicht ungünstig. Treten hingegen Convulsionen nach dem
völligen Ausbruch des Exanthems auf, so ist Patient so gut wie verloren.
Die Initialkrämpfe lassen sich durch die in Folge des acut einsetzenden hohen
Fiebers bedingte Hyperämie des Centralnervensystems erklären. Die nach
Ausbruch des Exanthems auftretenden Krämpfe stehen in viel engerer Bezie-
hung zum Scharlach selbst. Es sind „toxische" Convulsionen, ähnlich denen
bei Urämie. Sie. wiederholen sich nach kurzen Intervallen und gehen schliess-
430 SCARLATINA.
lieh in comatöse Zustände über, aus denen die Patienten nur selten wieder
erwachen.
Schwere septische Scharlachfälle mit hoher Febris continua zeichnen sich
aus durch Somnolenz und ungemeine Unruhe. Die Kranken werfen sich im
Bett hin und her, sind dabei schwer besinnlich, oder das Bewusstsein ist
völlig geschwunden. Koth und Urin lassen sie unter sich gehen. Man be-
merkt Muskelzittern, Flockenlesen, Zupfen an der Bettdecke; dabei antworten
die Kranken nicht, wenn man sie anredet, oder sie murmeln vor sich hin,
oft ein und dasselbe Wort wiederholend.
Trägt die hohe Fiebertemperatur die Hauptschuld dieser schweren cere-
bralen Erscheinungen, so verlieren sie sich bei einer energischen antipyreti-
schen Behandlung, lässt diese dabei im Stich, sind die Pupillen eng, wird die
Herzaction unregelmässig, der Puls frequent und aussetzend, werden die peri-
pheren Körpertheile kühl, bleibt das Sensorium benommen, so sind jene Hirn-
erscheinungen entweder die Folge der directenEinwirkungdes Schar-
lachgiftes auf das Centralnervensystem (Henoch) oder sie können auch,
jedenfalls aber in der Minderzahl der Fälle, der Ausdruck pathologisch-
anatomischer Veränderungen d6r Hirnhäute oder der Gehirnsub-
stanz selbst sein. In Frage kommen eitrige Meningitis der Convexität oder
Hirnbasis, Meningealapoplexien, Pachymeningitis haemorrhagica (selten) Hydro-
cephalie, Sinusthrombose (bei Otitis und Caries des Felsenbeins) Embolien
bei Endocarditis oder Pyämie. — In solchen Fällen kommt es dann auch zu
Lähmungen begrenzter Nerven- und Muskelgebiete (Facialisparalysen,
Lähmungen der linken oberen Extremität mit Amaurose (Loeb) oder Hemiplegien
mit und ohne Aphasie (Tayler, Eosenthal-Eulenberg) bedingt durch Em-
bolien, Lähmung beider unteren Extremitäten sah H. Wiede. etc.
Bei hereditär belasteten Individuen (häufiger bei Erwachsenen) ent-
wickeln sich auch acute Psychosen (Joachim). Diese treten im Stadium
der Reconvalescenz oder Defervescenz auf, sind fast ausschliesslich maniakali-
scher Natur und werden als Collaps- oder Inanitionsdelirien aufgefasst. Die
Prognose ist günstig. Heilung erfolgt in wenigen Tagen. Weit schlechter
gestaltet sich aber die Prognose der Epilepsie nach Scharlach (A. H. Wilder-
muth). Bisweilen erfolgt der Tod direct nach einem der sich häufenden
epileptischen Anfällen. Sehr gewöhnlich besteht eine Combination mit psy-
chischen Störungen. — Schwachsinn, Reizbarkeit, Hang zur Einsamkeit, Hallu-
cinationen und dergl. — Hereditäre Belastung ist kein nothwendiges Erfor-
dernis. Entweder schliessen sich die typischen epileptischen Anfälle einer
schweren Scharlacherkrankuug mit ausgesprochenen Cerebralerscheinungen
direct an, oder es geht längere Zeit ein petit mal voraus. Die Intelligenz
ist herabgesetzt, es besteht krankhafte, zu Gewaltthätigkeiten neigende Reiz-
barkeit u. s. w., die ausgesprochene Epilepsie entwickelt sich erst nach Jahren.
Die Prognose aller dieser Fälle bezüglich ihrer Heilung ist wie gesagt, eine
durchweg ungünstige.
4, Complicafionen von Seiten des Digestionstractus. — Durchfälle treten
bisweilen im Initialstadium gleichzeitig mit dem Brechen auf, aber gemein-
hin hören sie nach 1, 2 Tagen wieder auf und gleichen so dem Bilde einer
einfachen katarrhalischen Enteritis. Nur gelegentlich dauern sie fort, nehmen
an Intensität zu und bilden dann eine schwere Complication. Das Auftreten
dysenterischer Darmerscheinungen fällt zeitlich mit dem Umsichgreifen
der Nasen-Rachendiphtherie zusammen und ist in aetiologischer Beziehung
wohl auf die gleiche Ursache zurückzuführen. Prognostisch am ungünstig-
sten gestalten sich jene jeder Behandlung spottenden Durchfälle der malignen,
„typhösen" Scharlachformen. Sie führen zu den gefährlichsten Collapsen.
Henoch glaubt den Grund für diese Zustände in „einem lähmenden Einfluss
des Scharlach virus auf den Splanchnicus" suchen zu müssen. Bei der Section
SCARLATINA. 431
finden sich Schwellung der PEYER'schen Plaques und der Solitärfollikel mit
Ulcerationen, Schwellungen der Mesenterialdrüsen und der Milz (Litten.)
0. Complicationen von Seiten der Respiratloyisorgane. Die Respirationorgane
werden durch Scharlach wenig oder gar nicht in Mitleidenschaft gezogen. Pneu-
monien oder Bronchitis, eine so häutige Complication der Masern, treten ganz
in den Hintergrund, Henoch sah unter 125 schweren complicirten Scharlach-
fällen Pneumonien 6-mal im Floritionsstadium, 2-mal als Nachkrankheit.
Die etwas häufigeren als Folge oder Nachkrankheit auftretenden eitrigen
Pleuritiden (Empyeme) sind Secundär-Erscheinungen und wie bereits erwähnt,
vorwiegend septischer Natur. Ferner wurde schon darauf hingewiesen, dass
die Scharlachdiphtherie nur ganz ausnahmsweise auf den Larynx fortschreitet,
Tracheostenosen sind demnach seltene Vorkommnisse. Das Vorhandensein von
Croupmembranen in Kehlkopf und Trachea (L. Smith) bei Scharlachkranken
deutet auf Synchronismus von Scharlach und LöFFLER'scher Diphtherie hin.
Ebenso selten, wie die Larynxstenosen bedingt Glottisödem (bei Scharlach-
nephritis) eine bestimmte Lebensgefahr.
6. Nephritis scarlatinosa (cf. Nephritis infantum Bd. III. p. 15 ff.) Eine
der gefürchtetsten und nach der Scharlachdiphtherie auch der häufigsten
Folgeerscheinungen der scarlatinösen Infection sind die Erkrankungen der
Nieren. Man hat sie als ein wesentliches Symptom der Krankheit von glei-
chem Werth, wie das Fieber, die Angina und das Exanthem aufgefasst und
die Ansicht ausgesprochen, dass es sich bei der Nephritis scarlatinosa um
einen in den Harncanälchen verlaufenden, der Epidermisabschuppung auf der
äusseren Haut analogen Process handele." (Eisenschitz, Gimmel.) Eine
„Nachkrankheit" des Scharlachs ist sie streng genommen nicht. Die
Nieren participiren wohl stets und gleich im Beginn der Krankheit an den
Scharlachprocess, was aus den histologischen Untersuchungen von Scharlach-
nieren aus den ersten Krankheitswochen (Crooke, Babes, Baginsky u. A.)
hervorgeht. Auch die bereits im Floritionsstadium der Krankheit auftretenden
vermehrten Schleimabsonderungen in Form wolkiger Trübungen, die Epithe-
lien, Epithelialschläuche und Cylindroide (Thomas) die vereinzelten rothen
Blutkörperchen, die zahlreicheren Leukocyten, sowie die schon jetzt nach-
weisbaren Spuren von Eiweiss im Urin deuten auf einen Zustand der Nieren
hin, den man als „Harncanälchenkatarrh" bezeichnen kann. Jedenfalls
befinden sich die Nieren zu dieser Zeit in einem Stadium der Hyperämie und
zeigen ausgedehnte Infiltrationen mit Rundzellen. Wir sind nicht im Stande,
dem weiteren Fortschreiten dieser Nierenreizung Halt zu gebieten, mit anderen
Worten, die Nephritis zu verhüten. Wir fassen die scarlatinöse
Nephritis als eine infectiöse, oder was wohl bezeichnender wäre, als eine
toxische Nephritis auf. Freilich wissen wir nicht, in wie weit die Menge
der sich im Organismus entwickelnden Scharlachgiftes oder die Art und Weise,
in der es ausgeschieden, respective im Körper zurückbehalten wird, von Ein-
fluss ist. Jedenfalls geht die Nephritis keineswegs mit der Schwere der
Allgemeininfection parallel. Ja, auffallender Weise tritt sie sogar oft nach
anscheinend sehr leichten Scharlacherkrankungen mit sehr flüchtigen, kaum
deutlich ausgesprochenen Exanthem auf. Die Mitwirkung äusserer schädlicher
Einflüsse wird man wohl als Gelegenheitsursache nach wie vor gelten lassen
dürfen, doch hat man die engen Beziehungen, welche zwischen der functio-
nellen Thätigkeit der Haut und den Nieren ohne Zweifel bestehen, doch wohl
vielfach überschätzt. Die „Erkältung" spielt gewiss eine untergeordnete Rolle.
Gleichgiltig für das Zustandekommen nachträglicher Nierenentzündungen sind
aber die allgemein hygienischen Verhältnisse, unter denen die Scharlach-
kranken sich befinden, keineswegs, dieses ergibt sich schon daraus, dass bei
der Spitalverpflegung und dauernden Ueberwachung der Reconvalescenten
schwere Nierenerkrankungen mit üblen Ausgang selten zur Entwicklung kom-
432 SCARLATINÄ.
men, (Baginsky.) Uebrigens gibt es sowohl familiäre Häufungen von Schar-
lacbnephritis (F. Tuch), wie Scharlachepidemien, die sich durch einen auf-
fallend hohen Procentsatz (bis 807o) von Nierenentzündungen auszeichnen.
Als „selbständiges" Leiden pflegt die Nephritis scarlatinosa erst
nach der Döfervescenz und nach der scheinbar völligen Abheilung des ganzen
Krankheitsprocesses in den Vordergrund zu treten. Sie entwickelt sich meist
schleichend und ohne charakteristische subjective Beschwerden. Eine An-
zahl der Kranken klagt über Mattigkeit und allgemeines Unbehagen, selten
über dumpfe Schmerzen in der Nierengegend, die auf Druck sich mehren.
Am charakteristischen ist noch der häufige und äusserst lästige Drang zum
Urinlassen. Fieber kann ganz fehlen oder ist massig. Der Appetit ist gering,
zeitweilig ist Neigung zum Brechen vorhanden. In einzelnen Fällen bestanden
1, 2 Tage lang sehr heftige Stirnkopfschmerzen und häufiges Erbrechen.
Anfangs findet man im Urin nur Spuren von Eiweiss, Leukocyten und Nieren-
epithelien, doch pflegt die Erkrankung schnell Fortschritte zu machen. —
Die Urinmenge vermindert sich. Der Urin zeigt grössere Eiweiss-
m engen, zahlreiche Lymphkörperchen, auch Blutkörperchen und hyaline
Cylinder. Das specifische Gewicht ist erhöht. — In anderen Fällen setzt aber
die Nierenerkrankung ganz acut ein, mit einer mehr oder weniger heftigen
Nierenblutung. Der Harn ist von braunrother, „muddiger" Beschaffenheit,
sehr spärlich, von hohem specifischem Gewicht überaus grossen Gehalt von
freien Haemoglobin, rothen Blutkörperchen, Leukocyten, Cy lindern sowie
Eiweiss in grosser Menge. Dabei einige Tage anhaltendes hohes Fieber (bis
40° und darüber).
Oft genug werden aber die Angehörigen, oder auch der Arzt auf die
bereits bestehende Nephritis erst hingewiesen durch das Gedunsensein und
die auffallende Blässe des Gesichtes und der Schleimhäute, die Schwellungen
der Augenlider und der Knöchel. Oedeme treten aber erfahrungsgemäss
erst weit später auf. Bartels gibt im Mittel den 20. Tag an. Sie können
sehr unbedeutend bleiben. In anderen Fällen wachsen sie sehr rapid. Das
Gesicht, der Rumpf, die Beine und Hände schwellen beträchtlich an, in nur
geringerer Weise die Arme. Bei Knaben erreichen der Penis und das Scrotum
oft das drei bis vierfache ihres Volumens. Die Anschwellungen wechseln
vielfach ihren Sitz, bleiben aber constant, wenn einmal der Hydrops ana-
sarca ein allgemeiner geworden ist. Die Hautdecken sind dann blass, prall
gespannt und lassen Druckgruben zurück. Anasarca an und für sich ruft in
den meisten Fällen keine gefahrdrohenden Symptome hervor, und die Prognose
ist nicht ungünstig. In schweren Fällen kommt es aber auch zu serösen Er-
güssen in die Lungen (Oedema pulmonum) zu Hirnoedem, zu Hydrothorax,
Hydropericardum, Ascites und endlich, wenn auch selten, zu submucösen
Flüssigkeitsansammlungen (Glottisoedem). Die Dauer der Oedeme ist in den
verschiedenen Fällen eine ganz verschiedene. Anasarca dauert selbst im
günstigsten Falle mindestens 3—4 Wochen. Treten Lungenoedem, Glottis-
oedem, Hirnoedem auf, so erfolgt meist schnell ein letaler Ausgang. Hydro-
thorax und Hydropericardium sind im hohen Grade bedenklich, aber nicht so
rapid tödtlich; Ascites lässt eine verhältnismässig günstigere Prognose zu. —
Oedeme können aber auch ganz fehlen; und die Scene wird durch
einen acuten urämischen Anfall eröffnet. Sobald die Harnmenge längere
Zeit auf ein zu geringes Maass beschränkt war, oder zeitweise auch ganz auf-
hörte (Anurie), findet eine Retention der specifischen Harnbestandtheile und
eine Aufnahme derselben ins Blut statt. Die Folge davon ist Urämie. Das
Bild der acuten Urämie ist ein sehr constantes. Epileptiforme Krämpfe
von oft furchtbarer Heftigkeit mit nachfolgendem Coma und zuweilen mit nach-
folgender maniacalischer Aufregung, selbst Tobsuchtsanfällen (Marcus).
SCARLATINA. 433
Meist wiederholen sich die Krampfanfälle nach kurzen Pausen, ehe Patient
aus seinem Coma erwacht. Nach einer Reihe solcher Krämpfe tritt der Tod
ein. Ebenso häufig bleibt es aber auch bei einem oder einigen Anfällen und
die Kranken erholen sich von der „urämischen Attaque" völlig wieder. Ge-
wöhnlich gehen dem urämischen Anfall warnende Vorboten — Dyspepsie,
heftige Kopfschmerzen, hartnäckiges Erbrechen, Hydrops, krampfhafte Zu-
ckungen in einzelnen Muskelgruppen — voraus. Bisweilen aber, wie gesagt,
tritt der urämische Anfall ganz unerwartet, blitzartig auf.
Zu den urämischen Erscheinungen pflegt man auch die plötzlich ein-
tretenden transitorischen Erblindungen zu rechnen.
Diese Amaurosen stehen mit der Nephritis scarlatinosa im engsten
Zusammenhang. Sie entwickeln sich sehr rasch, sind stets doppelseitig und
absolut, wenigstens für einige Zeit. Die Pupillenreaction ist erhalten, der
Augenspiegelbefund negativ. Die Sehstörung schwindet völlig, kann aber
mehrere Tage (in Förster's Falle 6 Tage) fortbestehen. Urämische Taub-
heit ist nur selten beobachtet worden.
Führt die Urämie auch nicht immer zum Tode, so ist sie doch stets ein
unliebsames und bedenkliches Vorkommnis. Indessen droht den an Scharlach-
nephritis erkrankten Kindern noch eine andere Gefahr. Unter dem Einfluss
des specifischen Scharlachgiftes unterliegt die Herzmusculatur häufig
degenerativen Veränderungen (Litten, Romberg u. A.). Mit dem Eintritt und
im Verlaufe einer schweren diffusen Nephritis kommt es dann zur Entwick-
lung von Erschlaffungs- und Dilatationszuständen der Herzven-
trikel, in Sonderheit des linken Ventrikels (C. Friedländer Silbermann,
GooDHARD u. A.). Percutorisch solche Dilatationen der Ventrikel beim Le-
benden nachzuweisen, halte ich für schwierig und unsicher. A. Steffen ist
es wiederholt gelungen. Charakteristischer sind meines Erachtens die un-
motivirten, ohne Fieber, ohne psychische Alterationen u. s. w. auftretenden,
überhasteten, deutlich sichtbaren und fühlbaren Palpitationen des Herzens
und die damit verbundenen asthmatischen Athembeschwerden und Beängsti-
gungen. Die bei hydropischen Kindern bis dahin verlangsamte Pulsfrequenz
steigert sich. Der Puls wird hart, unregelmässig und zeigt in den schlimmsten
Fällen Galopprhythmus. Goodhard nimmt an, dass die acute Dilatation des
linken Ventrikels eine der häufigsten plötzlichen Todesursachen der Schar-
lachnephritis abgibt.
Eine so unliebsame Complication die Nephritis auch an und für sich ist,
so gestaltet sich die Prognose doch noch immer günstiger, als die der „Schar-
lachdiphtherie." Nach Thomas beträgt die Mortalität der Scharlachnephritis
10-157o-
C. Abortivformen des Scharlachs.
a) Mit abnorm mildem Verlauf.
Die früher als „typisch" beschriebenen Symptome sind bisweilen so
flüchtiger Natur und so wenig hervortretend, dass die Diagnose der Krankheit
im Unklaren bleibt, bis Mitglieder derselben Familie an ausgesprochenen
Scharlach erkranken, oder die Diagnose nachträglich durch die Folgeerschei-
nungen (Nephritis) sichergestellt werden kann. Ob das Fieber in diesen
Fällen ganz fehlt (Ch. Fliessinger) wageich nicht zu behaupten. Jedenfalls
fehlt aber das subjective Hitzegefühl und das Allgemeinbefinden ist wenig oder
gar nicht gestört. Erbrechen hat nicht stattgefunden, die Angina macht
keine Beschwerden, das Exanthem, seiner Extensität und Intensität nach sehr
beschränkt, wurde ganz übersehen oder falsch gedeutet. So kann es kommen,
dass die Betreffenden ihren Scharlach ausser Bett, womöglich „auf der Strasse"
ohne weitere Nachtheile durchmachen, trotzdem aber immun geworden sind
für das ganze spätere Leben.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten; Bd. III. ^O
434 SCARLATINA.
In anderen Fällen fehlt das Exanthem auf der äusseren Haut
ganz (Scarlatina sine exanthemate!), dahingegen ist die Entzündung
der Kachentheile deutlich ausgesprochen. Die Theile sind stark geröthet, ge-
schwollen, es bestehen Schlingbeschwerden und Schmerzen, Schwellung der
Kieferdrüsen, hohes Fieber. — Man würde die Angina als eine einfache „ka-
tarrhalische" bezeichnen müssen, wenn nicht solche Patienten ausgesprochenen
Scharlach auf andere übertrügen und die nicht selten nachträglich zur Ent-
wicklung kommenden acuten Nierenentzündungen auf die specifisch scarlatinöse
Natur dieser Anginen hinwiesen. Mit Vorliebe werden Erwachsene (G. Gimmel),
die Eltern und Pfleger scharlachkranker Kinder von solchen Anginen befallen.
Einen irregulären, aber keineswegs constant milderen Verlauf mit incompleter
Entwicklung der Symptome zeigen auch die relativ seltenen Fälle von zweit-
maliger Erkrankung; doch nur dann, wenn zwischen der ersten und zweiten
Erkrankung kein all' zu langer Zeitraum lag.
h) Abortivformen mit fulminant perniciösem Verlauf Es handelt sich
hier um so schwere Scharlachintoxicationen, dass der Tod in wenigen Tagen
erfolgt. Am dunkelsten bleiben jene, glücklicher Weise, seltenen Vorkommnisse,
wo bis dahin ganz gesunde Individuen plötzlich erbrechen, excessiv hohe
Temperaturen und eine ungemeine Frequenz und Kleinheit des Pulses zeigen,
soporös werden, Koth und Urin unter sich gehen lassen, plötzlich collabiren
und im Verlauf von 12, 24 Stunden sterben. Hier steht der Arzt rathlos.
Zu einem Ausbruch des Exanthems ist es gar nicht gekommen, die Angina
war massig, unerklärt blieb die excessive Höhe des Fiebers (41 "ö" — 42"5'^ im
Rectum). Die Vermuthung, dass es sich um Scharlach gehandelt habe, wird
erst zur Gewissheit, wenn kurz darauf die Geschwister der Verstorbenen mit
einem zweifellosen Scharlachexanthem erkranken.
Ich erlebte solche Fälle nicht blos bei Kindern unter zwei Jahren, in
einem Falle sah ich auch zwei ältere Kinder von 4 und 5 Jahren innerhalb
12 Stunden einer so intensiven Scharlachintoxication erliegen. Gleich un-
günstig verlaufen auch die früher vielfach als „Scharlachtyphus" bezeichneten
Fälle. Auch hier erreicht die Fieberhöhe in wenigen Stunden 41^—42*', der
Puls eine Frequenz von 150 — 180 Schlägen; er ist leicht wegdrückbar, faden-
förmig, flatternd. Das auf den ganzen Körper sich fast mit einem Schlage
ausbreitende düstere, intensiv purpurrothe Exanthem verfärbt sich cyanotisch.
Zwar schwindet auf Druck die Röthe, kehrt aber sofort wieder; die Druck-
stelle erscheint schmutzig gelb. Kopf und Rumpf fühlen sich brennend heiss
an, die Extremitäten dagegen kühl. Die Kranken sind unbesinnlich, sie
deliriren, werfen sich unruhig hin und her, verfallen schliesslich in Koma.
Die Urinentleerung stockt, dahingegen treten unstillbare Diarrhoen auf und
mit diesen Collapszustände, denen die Kranken ohne aus ihrem Koma zu er-
wachen, erliegen.
Ebenso stürmisch und hoffnungslos verlaufen die von Heubner als
„pestartig" bezeichneten Fälle von „Scharlachdiphtherie." Innerhalb weniger
Tage, von Stunde zu Stunde anschwellend, umschliesst den ganzen Hals
klammerartig eine wurstförraige Geschwulst, bedingt durch eine ausgedehnte
brettharte Infiltration des ganzen Hals-Zellgewebes (Angina Ludovici), die
das weite Oeffhen des Mundes unmöglich macht und somit die Ocularinspection
des Rachenraumes ungemein erschwert. Nur der penetrante Foetor ex ore, die
hochgradige ödematöse Schwellung und die livide Verfärbung der Schleim-
hautpartien wird einem nicht entgehen. Da unter hochgradigem Fieber,
Collapsen und Erlahmung der Herzthätigkeit der Tod nach 3 — 4 Tagen ein-
tritt, so hat man die Gelegenheit sich durch die Obduction von den bereits
in der Tiefe weit vorgeschrittenen Zerstörungen des infiltrirten
Gewebes zu überzeugen. Auch diesen Fällen stehen wir völlig machtlos
gegenüber.
SCARLATINA. 435
c) Irregulärer Verlauf, bedingt durch intercurrent oder synchron auf-
tretende, anderiveitige Krankheiten. Der Gesammtverlauf des Scharlach, kann
durch bereits bestehende oder intercurrent neu hinzutretende anderweitige
Krankheiten wesentlich beeinflusst werden. Es sei hier nur auf das Ver-
hältnis des Scharlach zu den Masern und der Influenza hingewiesen. Waren
Masern dem Scharlach unmittelbar vorausgegangen, so ergalD sich nach den
Mittheilungen von Th. Hase aus dem Petersburger Elisabeth-Kinderspital
eine Mortalität von Sö'l^o? viel grösser war aber die Mortalität (43 S°/o). wenn
die Masern dem Scharlach nachfolgten und zwar waren es im letzteren Falle
hauptsächlich Lungenentzündungen (29-mal), die den Verlauf der Krankheit zu
einem so schweren gestalteten. Das gleichzeitige Auftreten von Influenza und
Scharlach (Filippow) mildert im allgemeinen die heftigen und gefährlichen
Anfälle beider Krankheiten. In Fällen von schwerer Form der Influenza
verlor sogar das Scharlachgift seine Bösartigkeit, Kraft und Stärke, es
schwächte sich ab. Die Möglichkeit des gleichzeitigen Auftretens zweier
acuter contagiöser Exantheme bei ein und demselben Indivi-
duum wurde von Hebra lange Zeit geleugnet, doch ist dieser Synchro-
nismus durch eine grosse Zahl von Beobachtungen völlig ausser Frage ge-
stellt. So können Scharlach- Masern, Scharlach-Pocken, Scharlach-Varicellen
gleichzeitig bei demselben Individuum zum Ausbruch, kommen. Es entstehen
dann Mischformen, bei denen bald die Symptome des einen, bald des anderen
contagiösen Exanthems in den Vordergrund treten. — Der Combination des
Scharlachs und der LöFFLER'schen Diphtherie wurde bereits früher Erw^äh-
nung gethan. — Wir müssen es uns versagen hier auf diese in mehrfacher
Beziehung interessanten Combinationen und Mischformen noch näher einzu-
gehen.
Die Diagnose des Scharlachs bietet während einer einmal ausgebro-
chenen Epidemie keine Schwierigkeiten und wird auch mit Sicherheit schon
im Initialstadium gestellt werden können. Leichter werden bei den sporadisch
auftretenden Fällen diagnostische Irrthümer mit unterlaufen, besonders dann,
wenn der geschilderte Symptomencomplex (Fieber, Erbrechen, Angina, Exan-
them) nicht deutlich ausgesprochen ist. Namentlich hüte man sich auf das
Exanthem allein all' zu grosses Gewicht zu legen. Scharlachartige Ery-
theme sind namentlich bei Kindern keine Seltenheit, doch werden diese
niemals den Totaleindruck einer schweren ernsthaften Erkrankung hervor-
rufen. Die Differentialdiagnose zwischen Masern und Scharlach
ist nicht immer leicht, besonders dann, wenn die Entscheidung aus dem Exan-
them allein getroften werden soll (confluirende Masern — gefleckter Scharlach.)
Weit grösserer Werth muss in solchen Fällen auf das Vorhandensein resp.
Fehlen eines initialen Schnupfens, einer Conjunctivitis, Bronchitis u. s. w.
gelegt w^erden. Diazoreaction constant bei Masern vorhanden (Nissen), fehlt
meistens bei Scharlach. — Dunkel bleiben oft jene Scharlachfälle, wo das
Exanthem nur partiell auftrat, ganz fehlt, oder der Tod erfolgte, ehe es über-
haupt zur Entwicklung des Exanthems kommen konnte. Es sind dies einmal
die milden Abortivformen ohne Exanthem, dann die „foudroyanten" Fälle
mit ganz acut-tödtlichem Verlauf, endlich solche Fälle, wo eine schwere Com-
plication das aufflackernde Exanthem plötzlich wieder zum Schwinden brachte.
Doch sind bei eingehender Prüfung und fortdauernder Beobachtung auch diese
„verstümmelten" Scharlachformen der Diagnose wohl zugänglich. Oft weist
aber erst die Desquamation, oder das Auftreten von Oedemen und Albumi-
nurie auf das überstandene Leiden hin, oder es bringt das spätere Erkranken
anderer Familienmitglieder an ausgesprochenen Scharlach nachträgliche Klar-
heit.
28*
436 SCARLATINA.
Jedenfalls müssen bei zweifelhaften Fällen die hygienischen Verordnungen
mit gleicher Strenge getroffen und durchgeführt werden wie bei einem sicher
constatirten Scharlach.
Prognose: In seinen Aeusserungen über den Verlauf der Krankheit sei
man selbst bei anscheinend ganz mild einsetzenden Fällen stets zurückhaltend.
Plötzlich und meist ohne hinlänglichen Grund können sich lebensgefährliche
Complicationen entwickeln. Andererseits sieht man aber auch schwere Fälle
sich noch zum Besseren wenden, denen man von vornherein ein ungünstiges
Prognostikon gestellt hat. Im allgemeinen ist die Prognose abhängig von der
individuellen Körperbeschaöenheit des Patienten und den hygienischen Ver-
hältnissen, unter denen er lebt, dann aber von der Schwere der Intoxication^
von dem Vorhandensein oder Fehlen von Complicationen, von der Art der
Epidemien. Die Mortalität variirt bedeutend in den verschiedenen Jahren.
In Petersburg betrug dieselbe 1873 nur ß-eVo, im Jahre 1892 dagegen 50-3%
(Th. Hase.) Eine Abnahme erleidet die Mortalitätscurve mit dem Alter. Je
jünger das erkrankte Individum, umso grösser die Gefahr. Die Mortalität
ist grösser in den Städten, als auf dem Lande, grösser in den Hospitälern,
als in der Privatpraxis.
Für die prognostische Beurtheilung eines Einzelfalles ist im grossen
und ganzen der Fieberverlauf (Reimer) maassgebend. Je schneller und stetiger
sich der Temperaturabfall im Verlaufe des Scharlachs vollzieht, um so bessere
Chancen bieten sich für die Stellung einer günstigen Prognose; umgekehrt
wird man jeden Fall als schweren ansehen, wenn sich der Temperaturabfall
(wenn auch mit Unterbrechungen) in die Länge zieht. Absolut letal ist ein
Fieber mit Schüttelfrösten, das jäh ansteigt und 41^ überschreitet. Ungün-
stige Symptome sind ausser den hyperpyretischen Temperaturen in den ersten ,
Tagen der Krankheit: wiederholte Convulsionen, Unbesinnlichkeit, lactationen,
rapide Pulsbeschleunigung, ein düsteres, blaurothes Exanthem. In der spä-
teren Periode, vornehmlich der 2. Woche, ist es die „Scharlachdiphtherie",
in der Desquamationsperiode die „Scharlachnephritis", welche wir als schwere
gefahrbringende Complicationen kennen gelernt haben. LTnabhängig von der
Albuminurie, aber häufig mit dieser zusammen, fällt das Auftreten von Pep^
tonen im Harn (Ervant, Asslan). Peptonurie ist stets ein prognostisch
ungünstiges Zeichen. Plötzliche und unerwartete Todesfälle sind beim Schar-
lach nicht ungewöhnlich. Henoch erklärt sie aus der herzlähmenden Wirkung
des Scharlachgiftes.
Behandlung: Jeder Scharlachfall legt uns die Verpflichtung auf, die
weitere Verbreitung der Krankheit zu verhüten. Dies wird er-
reicht durch völlige Absperrung des Kranken und durchgreifende Des-
infection aller Gegenstände und Personen, welche direct oder indirect mit
den Kranken in Berührung gekommen waren. Falls in der eigenen Wohnung
des Patienten eine Isolirung nicht durchführbar ist, würde im Beginn der
Epidemie eine sofortige, eventuell zwangsweise angeordnete Ueberführung
der Kranken in öffentliche, gut eingerichtete Isolirhäuser eine segens-
reiche Maassregel sein. Da das Scharlach contagium eine sehr grosse Lebens-
fähigkeit besitzt und es seine Wirksamkeit vom Beginn der Erkrankung bis
weit in die Reconvalescenz hinein bewahrt, so hat sich die Absonderung bis
zur Beendigung der Desquamation (also mindestens auf 6 Wochen) zu
erstrecken. Alle dem Scharlachcontagium auch nur kurze Zeit ausgesetzt
gewesenen Kinder (Geschwister des Erkrankten) müssen ebenfalls einer Ab-
sperrung und Beobachtungszeit unterliegen. Da die Incubationsperiode des
Scharlachs eine kurze ist, dürfte man in etwa 8 Tagen Gewissheit darüber
erlangt haben, ob die Geschwister etc. bereits inficirt wurden, oder nicht.
So lange wenigstens sind unbedingt, also auch die gesunden, aber doch
immer verdächtigen Kinder von Besuch der Schule, der Kindergärten, der
SCARLATINA. 437
geraeinsamen Spielplätze etc. fern zu halten. Eine Schliessung der Schulen
würde ich nicht befürworten, doch inuss es den Eltern frei stehen, die Kinder
während einer Scharlachepidemie vom Schulbesuch zurückzuhalten.
Aerzte und Pfleger von Scharlachkranken, die mit den Gesunden in
Berührung kommen müssen, haben Ueberwurfskleider im Krankenzimmer zu
tragen (event. Kleiderwechseln, längerer Aufenthalt in freier Luft) und jedes-
mal bei Verlassen des Krankenzimmers für eine peinliche Desinfection
der Hände zu sorgen. Stets ist darauf Bedacht zu nehmen, dass die Krank-
heit nicht nur durch dritte Personen, sondern auch durch Hausthiere, Kleider,
Gegenstände aller Art, Spielsachen, Nahrungsmittel verschleppt werden kann.
So ist beispielsweise die Leibwäsche und Bettwäsche der Kranken sofort in
dreiprocentiges Carbolwasser zu tauchen, mit Kaliseife auszukochen und später
in strömenden Dampf von über 100*^ C zu desinficiren. Das Krankenzimmer
darf nicht eher wieder bewohnt und benützt werden, ehe es nicht mit allen
seinen Utensilien, Möbeln, Betten, etc. desinficirt ist.
Alle diese Desinfectionsvorschriften, deren wichtigsten Punkte wir nur
flüchtig berühren konnten, sollten aber gerade beim Scharlach mit aller
Strenge gefordert und befolgt werden. Einmal wegen der schweren Be-
deutung der Krankheit für Leben und Gesundheit überhaupt, dann aber,
weil die Disposition zum Scharlach mit jedem Jahre geringer wird und mit
jedem Jahre die Wahrscheinlichkeit wächst, dass der betreffende zeitlebens
vom Scharlach verschont bleibt. Kurz erw^ähnt sei hier der von Barke und
de PiOSA „erprobt gefundene" Vorschlag, prophylaktisch „Salicylsäure" in
Tagesdosen von O'l — 0*3 je nach dem Alter der Kinder zu geben.
In allen „normal" verlaufenden Scharlachfällen beschränkt sich die Be-
handlung am besten auf allgemein hygienisch -diäte tische Ver-
ordnungen. Der Kranke muss das Bett hüten und darf das Zimmer vor
Beendigung der Desquamation nicht wieder verlassen. Zur Krankenstube
wähle man das beste, grösste, hellste und luftigste, aber von den übrigen
Wohn- und Schlafräumen am weitesten abgelegene Zimmer und entferne aus
demselben alle überflüssigen Polstermöbel, Portieren, Teppiche u. s. w. Die
Zimmertemperatur darf 15" R. nicht überschreiten. Oeffnen der Fenster,
häufiges Wechseln der Bettwäsche und Leibwäsche ist dringend geboten.
Man erlaube kühlende Getränke, verordne Klystiere, wenn es nöthig erscheint,
hüte sich aber vor allen eingreifenden Abführmitteln. (Gewarnt sei vor grösseren
Calomeldosen, ich habe gerade bei Scharlach die schwersten Formen von
ulceröser Stomatitis danach auftreten sehen.) Während der Fieberperiode sind
die Nahrungsmittel möglichst nur in flüssiger Form zu verabreichen (Milch,
Fleischhrühsujjpen, auch Wein). In der Pteconvalescenz beschränke man sich
nicht auf Milchdiät, sondern gestatte eine kräftigere, eiweissreiche Kost,
soweit diese ohne Beschwerden vertragen und gut verdaut wird. Von lau-
warmen Vollbädern (26*^—28" R.) mache man sowohl in der Fieberperiode
wie in der Reconvalescenz den ausgiebigsten Gebrauch. In der Fieber-
zeit sollten die Kinder w^enigstens j eden Abend gebadet w^erden. Ein solches
Bad erhöht das subjective Wohlbefinden und schafft den Kindern eine ruhigere
Nacht. In der Desquamationsperiode sind im Bade energische Abseifungen
des ganzen Körpers (besonders auch des behaarten Kopfes) häufig vorzunehmen.
Zum Schluss verordne ich ein oder zwei Sublimatbäder (1-5 — 2'5^ Hydrarg.
bichlorat. corr. im Badewasser zu lösen).
In der Majorität der Fälle werden wir aber durch das Hervortreten ein-
zelner Symptome, durch den gefahrdrohenden Charakter der Localisationen
des Scharlachgiftes, durch die Schwere der Gesammtintoxication etc. zu ganz
bestimmten therapeutischen Maassregeln geradezu hingedrängt.
Zunächst erfordert das Fieber eine specielle Berücksichtigung. Eine
energische, fast möchte ich sagen, rücksichtslose Antipyrese halte ich
438 SCARLATINA.
nur in solchen Fällen für indicirt, wo bei vollem Puls und gesteigerter Herz-
thätigkeit hohe, event. hyperpyretische Temperaturen mit Cerebralerschei-
nungen vorhanden sind. Hier wirken auch bei Kindern kalte Vollbäder
von 16''— 18<* R. und 5—8 Minuten Dauer, gründliches Abtrocknen und
Frottiren, Einhüllen in warme wollene Decken, Wärmflasche, mehrere Löffel
Ungarwein vor und nach dem Bade — oder kalte Uebergiessungen
mit 2—3 Eimern kalten (1 2»— 15^ R.) Wasser im lauwarmen Bade (24^— 26''R.)
von 5 — 10 Minuten langer Dauer und Verabreichung von Stimulantien —
ungemein günstig auf „die herzregulatorische Thätigkeit des
Vagus," während die Herabsetzung der Fiebertemperatur meist nur von
kurzer Dauer ist. Bleibt aber nach 3, 4 maligen Versuchen der günstige
Einfluss der Kalt-Wasserbehandlung aus, dann, meine ich, soll man überhaupt
davon Abstand nehmen.
Bei zarten und schwächlichen Kindern bedingen lauwarme (28*^ — 30° R.)
Vollbäder, Priessnitzsche Einwicklungen des ganzen Körpers kalte Umschläge,
resp. Eisblase auf dem Kopf eine relativ grössere Euphorie, und wenn man
diesen Maassnahmen auch keinen antipyretischen Effect zuerkennen
wird, so erhöhen sie die nach Ssokolow in allen Stadien der Erkrankung
darniederliegende Hautverdunstung (Perspiration). Sehr wenig ermuthigend
sind die Erfahrungen über die Wirkung der medicam entösen Antipyre-
tica (Antipyrin, Thallin, Kairin, Salipyrin etc.), da ihre temperaturherab-
setzende Wirkung mehr oder weniger auf Kosten der Herzthätigkeit erfolgt
und nach wirksamen Dosen Collapserscheinungen keine Seltenheit sind.
Neben dem Gang und Verlauf des Fiebers wird die Herzthätigkeit der
Kranken einer gleich sorgfältigen Ueberwachung unterliegen müssen. Bei
drohender Herzparalyse sei man nicht zu ängstlich und sparsam mit dreisten
Dosen von Stimulantien. Innerlich: Champagner, Sherry, Ungarwein,
Cognac in starken schwarzen Kaffee, Rum in Thee u. dergl. event. Spirit. aetli.
u. Liquor ammon. anis m V4 — V2 stündlich 10 — 15 Tropfen in Zuckerwasser;
gern genommen wird auch Tind. ferri chlorat. aeth. Subcutan: Oleum cam-
pliorat. oder Camphor. trit. 0'5 Spir. aeth. u. Aqu. dest. ää 5'0 eine halbe
oder ganze PRAVAz'sche Spritze voll, wenn nöthig mehrere Male. — Bei den
perniciösen Fällen lassen aber auch die stärksten Stimulantien in Stich. Bei
acuter Dilatatio cordis rühmt A. Steffen die „lebensrettende Wirkung kühner
Gaben" von Seeale cornutum (0-3 — 0'5 event. alle zioei drei Stunden).
Eine wesentlich locale Behandlung erfordern die diphtheritischen
Scharlachprocesse des Nasen-Rachenraumes und des Ohres. Behring's Diph-
therie-Heilserum erweist sich gegen Scharlachdiphtherie als unwirksam. Es
würde aber bei einer Complication des Scharlach mit genuiner Diphtherie
(Nachweis LöFFLER'scher Diphtherie-Bacillen nothwendig) in Frage kommen.
Die subcutane Anwendung von Pilocarpin gegen Scharlachdiphtherie wurde
namentlich von Demme angelegentlich empfohlen. Man beginnt je nach dem
Alter und der Constitution der Kinder mit 0-001— 0-005 und steigt bei
grösseren Kindern eventuell bis zu O'Ol. Etwaige Collapszustände vermeidet
man durch vorherige Gaben von Cognac etc. Geschätzt wird das Mittel wegen
seines diaphoretischen und die Speichelabsonderung befördernden Wirkung.
Geboten sind fleissige Ausspülungen und Gurgelungen mit übermangan-
sauren Kalilösungen, Ausspritzungen der Nase mit Salzwasser oder Borlösun-
gen. Aetzungen der diphtheritischen Schleimhautparthien durch Andrücken
von in Liquor ferri sesquichlor. getauchten Wattebäuschchen. Von Heubnee,
Heüsinger u. A. werden methodisch fortgesetzte Einspritzungen einer 3 — 5^1^
Carbolsäure-Lösung in die Gewebe der Tonsillen, den weichen Gaumen (zuerst
von Taube-Gohlis in Anwendung gebracht) warm empfohlen. Technisch
bieten diese Einspritzungen keine Schwierigkeiten. Sie sind mit einer Pra-
VAz'schen Spritze, welche mit einer TAUBER'schen Canüle (zu beziehen beim
SCHENKELMUSKELLÄHMÜNGEN. 439
Instrumentenmacher MöLKE-Leipzig. Universitätsstrasse) armirt ist, leicht aus-
zuführen. Man spritzt täglich mindestens zweimal, in schlimmen Fällen öfter
etwa Ys PßAVAz'sche Spritze voll in jede der geschwollenen Tonsillen oder in
die vorderen Gaumenbögen. „Der stetige Rückgang des Fiebers und die
Abschwelluug der Halslymphdrüsen soll uns erst gestatten, die Injections-
spritze aus der Hand zu legen" (Heubnek). Die spontane Rückbildung der
Kieferdrüsen und der periglandulären Infiltrationen wird durch schonende
Massage (Einreibung indifferenter, nicht reizender Salben) befördert. In hart-
näckigen Fällen empfehle ich Einpinselungen von Jodtinctur, Ichthyolsalbe,
oder Auflegen von Schmierseifepflastern. Doch soll man nach Th. Gurt
nicht unnöthige Zeit verlieren und da, wo es nöthig erscheint operativ
eingreifen. Also frühzeitige Incisionen und Eröffnen sich bildender Absce-
dirungen; bei diffusen progredienten Phlegmonen aber eine Radicalopera-
tion. — Lange Schnitte Enucleirung und Ausräumung der mit Eiterherden
durchsetzten Drüsen, Abtragung der bereits abgestorbenen Bindegewebsfetzen
mit Scheere und Pincette, Unterbindung jedes blutenden Gefässes, feste Tam-
ponade der weitklattenden Wunde. — Vorsicht erheischt die Anwendung des
Chloroforms (Pental wird von Gurlt empfohlen), Vorsicht im Gebrauch der
Antiseptica (Jodoform, Sublimat, Carbolsäure)! Die nach Scharlach so häufig
auftretenden E i t e r u n g e n des Mittelohres erfordern nach Hessler früh-
zeitige Paracentese des Trommelfells, häufiges Austupfen des Gehörganges mit
kleinen Wattetampons, dabei Bettruhe, Stubenarrest, Ableitungen auf den
Darm, knappe Diät. — Geht die Eiterung auf die Zellen des Warzenfortsatzes
über, so kommt es zur Aufmeisselung des Warzenfortsatzes (nach Schwartze.)
Dass alle operativen Eingriffe eine absolute „Asepsis" erfordern, ist selbst-
verständlich.
Obschon der Scharlachrheumatismus und der acute Gelenkrheu-
matismus nicht identificirt werden dürfen, so sah ich doch auch hier nach
geeigneten ein- oder mehrmaligen grösseren Dosen von Natron salicyl, Sali-
pyrin, Phenacetin etc. eine prompte und specifische Wirkung. Betreffs der
prophylactischen und symptomatischen Behandlung der scarlatinösen
Nephritis und Urämie verweise ich auf die von mir in dem Artikel
Nephritis infantum. Bd. HI p. 25 f., eingehend erörterten therapeutischen
Maassnahmen. Dass die „Nachwehen des Scharlachs", die hochgradig
anämischen, geradezu cachectischen Zustände einen längeren Aufenthalt auf
dem Lande, im Gebirge etc. wünschenswerth machen, sei hier kurz noch
erwähnt.
POTT.
SchenkelmUSkellähmungen. {Nervenlähmungen der unteren Extremi-
täten.)
Veranlassung zur Lähmung der Nervenstämme innerhalb des Beckens
können Geschwülste sein, Psoasabscesse, Wirbelerkrankungen, Neuritiden, der
schwangere Uterus und die Manipulationen (Zange etc.) bei der Entbindung.
An der Erkrankung bei Polyneuritis, bei Arsenik- und Mercur-Intoxicationen,
bei den nach Influenza u. a. Infectionskrankheiten zurückbleibenden Lähmungen
können sich diese Nerven mehr oder weniger betheiligen. Isolirt sind Ischia-
dicus, Tibialis, Cruralis selten gelähmt, häufiger der Peronaeus, welcher durch
seinen oberflächlichen Verlauf Erkältung und Druck (bei Leuten, die knieend
arbeiten) besonders ausgesetzt ist.
Wenn es sich bei umfangreichen Lähmungen um eine genaue Diagnose
der befallenen Nerven und Muskeln handelt, so ist es nothwendig den Kranken
die einem jeden derselben zukommenden Bewegungen machen zu lassen, um
eventuell den Ausfall zu diagnosticiren.
440 SCLEROSIS MULTIPLEX.
Eine Lähmuug des Plexus ischiadicus setzt also folgende Muskeln ausser
Function:
1. Glutaeus maxlmus (nerv. glut. infer.) — streckt die Hüfte (beim Berg-
steigen und Aufstehen vom Stuhl), zieht den Oberschenkel dorsalwärts und
rotirt ihn leicht nach aussen.
2. Glutaeus medius (nerv. glut. super.) — abducirt den Oberschenkel und
rotirt ihn nach innen wie nach aussen.
3. Glutaeus minimus {nerv. glut. super.) — wie glutaeus med.
4. Pi/riformis, gemelli, obturator internus, quadratus femoris {plex.
ischiad.) sind Auswärtsroller des Oberschenkels.
5. Flexorenam Ober Schenkel {semitendin osus, semimemhranosus, biceps)
{nerv, ischiadicus, bezw. nerv, tihialis).
Beugung bei gestrecktem Unterschenkel; bei gebeugtem Unterschenkel
durch Semitendinosus Rotation nach innen, durch Biceps Rotation nach aussen;
Strecker der Hüfte beim gewöhnlichen Gehen. Gang nicht typisch.
6. Strecker des Fusses {gastrocnemius und soleus, nerv, tihialis).
Lähmung macht Streckung (Plantarflexion) des Fusses, sowie Stehen auf
den Zehen unmöglich. Bei langer Dauer bildet sich der sogenannte Hacken-
fuss aus.
7. Beugemuskeln am Grosszehenballen und der Fusssohle
{nerv, tihialis).
Function leicht verständlich,
8. Peronaealgruppe {peronaeus longus und hrevis, nerv, jjeronaeus
superficialis).
Der m. peronaeus longus hebt den äusseren Fussrand und zieht gleich-
zeitig den inneren Fussrand abwärts. Bei längerer Dauer bildet sich
Plattfuss.
9. Muse, tihialis anticus und die Extensoren am Unterschenkel
{extensor halluc. long und extensor digit. coimn. longus. {nerv, peronaeus pro-
fundus).
Der Muse, tibial. ant. hebt den medialen Fussrand und beugt wie die
Extensoren den Fuss im Fussgelenk. Wenn man schlechtweg von der Pero-
naeus-Lähmung spricht, so meint man die Lähmung des nerv, peronaeus
profundus. Die daran leidenden Kranken können den Fuss nicht beugen und
die Zehen nicht strecken, daher kann der Fuss beim Gehen nur durch He-
bung des Oberschenkels vom Boden aufgehoben werden (Hahnentritt); schliess-
lich bildet sich Pes equinus aus.
Functionsverlust von Nr. 5 bis 9 geben das Bild einer completen Ischia-
dicus-Lähmung; jedoch ist zu bemerken, dass auch die Adductoren des Ober-
schenkels, welche meist noch einen Zweig vom Ichiadicus erhalten, dabei
nicht normal sind.
Vom Plexus lumbalis werden zum Theil die Bauchmuskeln {ilio-hyp)o-
gastricus) der Cremaster (genito-cruralis) vor allem aber die Strecker am Ober-
schenkel {quadriceps femoris, sartorius durch nerv, cruralis) und die Adduc-
toren {nerv, ohturatorius) versorgt. Die sehr erheblichen Störungen, welche
namentlich durch Lähmung der letzteren beiden Nerven entstehen, sind leicht
einzusehen. Eine jede dieser Lähmungsformen ist mit der dem Ausbreitungs-
bezirk der betreffenden Nerven entsprechenden Sensibilitätsstörung verknüpft.
Ueber die Therapie u. s. w. findet man das Nähere im Artikel „Nerven-
lähmung." SPERLING.
oCiCrOSiS multiplex \^S. cerehrospinalis s. disseminata s. insularis (Herd-
sklerose, disseminirte Sklerose). ScUrose en plaques]. Die dem jugendlichen Alter
eigenthümliche Krankheit ist ausgezeichnet durch Entwicklung von regellos
SCLEROSIS MULTIPLEX. 441
verstreuten Herden im Gehirne und Rückenmarke, die sich als kleine Inselchen
gegen das gesunde Gewebe des Centralnervensystems scharf abgrenzen.
Die Liisionen der Herdsklerose findet man bereits in den älteren Atlanten der patho-
logischen Anatomie von Cruveilhier (1835) und in dem von Carswell (1838) ganz genau
abgebildet, einzelne Beobachtungen dieser Affection werden von Türck (1855), Rokitansky
(1856), Frerichs, Rindfleisch, Valentiner, Zenker als pathologische Seltenheiten oder zu-
fällige Sectionsbefunde erwähnt. Von Rindfleisch wird sogar der Versuch gemacht, die-
selben auf eine primäre vasculäre Läsion zurückzuführen. Charcot und Vulpian gebührt
das Verdienst, bereits im Jahre 1866 die Herdsklerose als anatomisch-klinische Einheit
erkannt, in den Hauptumrissen das Symptomenbild entworfen und die pathologisch-anatomi-
schen Charaktere eruirt zu haben. Die um 3 Jahre später über diesen Gegenstand erschie-
nene Arbeit von Bouchard und beachtenswerthe Monographie von Bourneville und Guerard
haben in mancher Hinsicht die Selbständigkeit des Krankheitsbildes bestätigt, in anderer
für das anatomisch-pathologische Substrat des Leidens einen festeren Boden gewonnen. In
Deutschland haben Froman, Ebstein und Leube die ersten über die Herdsklerose, als
Krankheit sui generis, geschrieben.
Der Begiim der Herdsklerose lallt am häufigsten zwischen dem 15. und
25. Lebensjahre. Seltener macht sich das Leiden erst in der Zeit vom 30.
bis zum 45. Lebensjahre bemerklich, ausnahmsweise in der Kindheit und nach
den 50-ger Jahren. Es sind vereinzelte Fälle bekannt, wo die multiple Sclerose
im Laufe des 1. Lebensjahres und nach den 60-ger Jahren sich einstellte.
Inwiefern es congenitale Formen gibt, deren erste Erscheinungen
von manchen Autoren bis in die früheste Kindheit zurückgeführt werden, lässt
sich zur Zeit keine bestimmte Meinung aussagen, wenngleich die Zahl der
einschlägigen Fälle (Marie, Unger, Nolda) eine ziemlich bedeutende ist.
Die Disposition des Geschlechtes scheint eine gleichmässige zu sein. Von
manchen Klinikern wird eine Bevorzugung des männlichen Geschlechtes be-
hauptet.
Ueber die Aetiologie weiss man wenig Zuverlässiges. In der Mehr-
zahl der Fälle lässt sich ein ursächlicher Factor überhaupt nicht nachweisen.
Sehr oft schliessen sich die ersten Erscheinungen der Herdsklerose an eine
durchgemachte Inf ectionskrankheit an, namentlich an Typhus, Pocken,
Pneumonie und Masern, seltener an Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten, In-
fluenza, Malaria und Dysenterie. In bedeutend geringerem Grade gilt das von
chronischen Intoxicationen mit metallischen und organischen Giften
(Blei, Kupfer, Kohlenoxyd). Nach Strümpell haben weder die toxischen noch
infectiösen Momente irgend welchen Einfluss auf die Entwicklung des Leidens.
In einzelnen Fällen schien die Krankheit sich im Anschluss an intensive
physische und psychische Traumen zu entwickeln. Eine ganz kolossale
Rolle spielen nach Krafft-Ebing, Erkältung und Durchnässung und zwar so-
wohl einmalige, sehr intensive Erkältungseinflüsse mit plötzlichem Ausbruch
der Krankheit, als insbesondere fortgesetzte Erkältungen mit allmählicher
Entwickelung. Die Syphilis spielt in der Aetiologie beinahe gar keine Rolle.
In wenigen Fällen entwickelte sie sich bei Kindern in Folge von congenitaler
Lues (Jacobson).
Hereditäre Disposition scheint in vereinzelten Fällen vorzuliegen. Fami-
liäres Auftreten der Herdsklerose ist einige Mal notirt worden (Dreschfeld,
ToTZKE, Mendel).
Symptomatologie. Ein einheitliches, scharf begrenztes Symptomen-
bild existirt im strengen Sinne des Wortes für die Herdsklerose überhaupt
nicht. Das unregelmässige Auftreten der sklerotischen Herde im Nervensystem
bringt es mit sich, dass diese Krankheit, im Gegensatz zu den übrigen, ana-
tomisch streng localisirten, eine kaleidoskopische Mannigfaltigkeit darbietet
und je nach der Localisation der Herde, mit dem Ausfall oder Modiflcation
bald dieser, bald jener Functionsäusserung des Nervensystems verbunden ist.
In dem einen Falle sind es spinale oder radiculäre Symptome, die die Krank-
heit einleiten, in dem anderen cerebrale oder bulbäre; hier ist es ein Reizungs-
phänomen (Zittern, epileptische Anfälle), in dem sich der Beginn des Leidens
442 SCLEROSIS MULTIPLEX.
kundgibt, dort eine schwere Ausfallserscheinung (Hemiplegie, Amblyopie).
Dass bei der Multiplicität der Herde und dem proteusartigen Charakter des
polymorphen Krankheitsverlaufes eine Verwechslung mit den meisten organi-
schen cerebro-spinalen und den functionellen Leiden sehr leicht möglich ist,
liegt auf der Hand. Von einem typischen Beginne oder Verlaufe kann über-
haupt keine Rede sein. So viel steht fest, dass die Erkrankung immer chro-
nisch verläuft und zwar entweder einfach progressiv oder in Schüben.
Es kommt wiederholentlich zu Remissionen, die sich über den Zeitraum von
mehreren Monaten und Jahren erstrecken können, um dann ganz unerwartet
einem schweren Rückfalle Platz zu machen. Die Remissionen imponiren
gelegentlich als Heilungen, besonders in den Fällen, wo sie sich nicht blos
als Stillstand, sondern als Besserung des Krankheitszustandes äussern. In
der Regel wird das Krankheitsbild nach einer Reihe solcher Remissionen sta-
bil und progressiv.
Die Remissionen stellen sich nicht selten ganz acut ein, ebenso wie
ab und zu acuter Beginn der Krankheit beobachtet wird. Diese Thatsachen
haben wohl die Veranlassung zur Aufstellung einer „acuten" Form der Herd-
sklerose gegeben. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass diese Varietät nur
im klinischen Sinne als acut aufzufassen ist und dass es sich viel mehr nur
um eine Exacerbation der Entzündungserscheinungen in alten, theils durch
klinische Symptome sich kundgebenden, theils vom Beginne an ganz latent
sich entwickelnden Herden handelt.
In dem reichen Symptomencomplexe der multiplen Sklerose hat man
sich gewöhnt zu unterscheiden Krankheitssymptome, die, sozusagen, regel-
mässig, früher oder später im klinischen Bilde auftreten und solche, die nur
ausnahmsweise das Letztere compliciren.
Wo die ungewöhnlichen Symptome das Krankheitsbild einleiten und in
demselben lange Zeit vorherrschen, spricht man von atypischen Fällen.
Atypisch, oder richtiger, unvollkommen („formes frustes") sind auch einerseits
diejenigen Formen, die auf einer gewissen Stufe der Entwicklung stehen ge-
blieben sind, ohne dass sich die typischen Symptome auszubilden Zeit hatten,
andererseits diejenigen, wo durch das Verschwinden, Verwaschenwerden der
ursprünglich deutlichen Züge das Bild unvollständig, „fruste" würde.
Charcot nennt die atypischen Varietäten der Herdsklerose: 1. Formes atypiques
ou frustes par effacement; 2. Formes atypiques abortives oti frustes primitives; 3. Formes
atypiques ou frustes par intervention de phenomenes insolites.
Man kommt jedoch immer mehr zur Ueberzeugung, dass die atypischen
Formen, — was die Herdsklerose anbetriift, — keineswegs viel seltener sind,
als die typische, classische Form. Eine specielle klinische Schilderung des
Typus und der verschiedenen Abweichungen vom selben müsste daher allzu viel
Raum in Anspruch nehmen, ohne im Grossen und Ganzen von principieller
Wichtigkeit zu sein. Wir wollen uns daher, bei Besprechung der Sympto-
matologie, lieber an die künstliche, jedoch unstreitig viel bequemere Ein-
th eilung in motorische, sensible und int eile et ue 11 e Symptome halten
und auf die Häufigkeit des Vorkommens der einzelnen Erscheinungen an betref-
fender Stelle aufmerksam machen. Je nachdem, welche Gruppe von Sympto-
men das Bild einleiten resp. im Bilde vorherrschen, täuscht die Herdsklerose
eine spinale, cerebrale und bulbäre Affection sehr leicht vor.
a) Motorische Erscheinungen,
Unter den motorischen Symptomen nehmen einen sehr wichtigen
Platz die Gehstörungen ein. Dieselben treten in verschiedenen, von ein-
ander wohl unterscheidbaren Formen auf, und zwar: in rein spastischer,
spastisch-paretischer, in rein cerebellarer und spastisch cere-
bellarer Form. Am seltensten ist die rein cerebellare, am häufigsten die
gemischten Gangarten. In den ausgesprochenen Fällen sind die Füsse der
SCLEROSIS MULTIPLEX. 443
Kranken breitspurig und beim Gehen wird nicht der Vorderfuss allein auf
dem Boden fortgeschleppt, wie beim rein spastischen Gange, sondern die ganze
Fusssohle und insbesondere der Fersenantheil derselben. Der daraus resul-
tirende langsame und schwerfällige Gang mit dem dumpfen, durch das An-
schlagen der Füsse gegen den Boden hervorgerufenen Geräusche, ist nicht
weniger in die Augen fallend als die fortwährend wechselnde Richtung des
taumelnden Ganges und die Unregelmässigkeit des Rhythmus und der Länge
der einzelnen Schritte. Infolge von Muskelspannungen kommen die Beine
schwer vorwärts, sie kleben gleichsam am Boden. An diese Erscheinungen
reihen sich nocli die sog. spastischen Begleitungssymptome, die in inten-
siver Steigerung der Sehnenreflexe sich kundgibt, besonders des Knie-
scheiben- und Achillessehnenreflexes.
Ist gelegentlich das Gehen durch starke Zitterbewegungen gestört,
so wird die Erhaltung des Gleichgewichtes nahezu unmöglich und der Gang
des wie ein betrunkenes Individuum bogenförmig ausschreitenden Patienten
wird stets schwankender, unsicherer. In nicht ganz vereinzelten Fällen com-
biniren sich die spastischen Erscheinungen an den unteren Extremitäten mit
deutlicher Ataxie, die sowohl beim Gehen durch übermässiges Heben des
Fusses und stampfendes Niedersetzen der Ferse, als bei den Bewegungen in der
Rückenlage durch das Umhertasten und Vorbeigehen an dem Ziel sich kenn-
bar macht. Der nur mühsam die ataktisch- spastischen Beine fortschleppende
Patient wird in seinem Gange ganz unsicher, sobald die Controlle der Augen
wegfällt.
Seltener als die besprochenen Gehstörungen findet man echte Lähmung,
infolge deren die Patienten das Bett hüten müssen. Die Lähmungen ent-
wickeln sich gewöhnlich stufenweise, selten acut. Betrifft die Paraplegie
die unteren, mit spastischen Streckcontracturen behafteten Extremitäten, so
bleibt der Kranke für's ganze Leben ans Bett gefesselt. An den oberen Ex-
tremitäten äussert sich die spastische Parese in Ungeschicklichkeit bei feineren
Bewegungen.
Etwas anders pflegen sich die ziemlich häufigen halbseitigen Läh-
mungen zu verhalten: sie treten gewöhnlich plötzlich, nach einem apoplek-
tischen, mit oder ohne Bewusstlosigkeit verbundenen Insulte auf, befallen die
Extremitäten an einer Seite, zuweilen gleichzeitig das untere Facialisgebiet
derselben oder der entgegengesetzten Seite, gehen rasch vorüber, um dann
mehrere Mal mit oder ohne Aphasie wiederzukehren und schliesslich stabil zu
bleiben. Die apoplektiformen Insulte wechseln gelegentlich mit epi-
leptiformen Anfällen ab und können sowohl gleich im Beginn, als erst
im Verlaufe der Aliection auftreten. Allgemeine Temperatursteigerungen, die
nach echten cerebralen Apoplexien oder Epilepsien sich hie und da einstellen,
sollen die Anfälle bei Herdsklerose viel seltener begleiten (Gieaudeau).
Die Insulte werden manchmal von vorübergehendem schweren Schwindel
oder Kopfschmerzen eingeleitet, die in anderen Fällen beständig anhalten
und das Fortbewegen des Kranken unmöglich machen können. Der Schwindel
ist in ^4 der Fälle vorhanden. Zuweilen macht er ganz den Eindruck des
sogenannten MENiERE'schen Symptomencomplexes, der bei Ohrenleiden be-
obachtet wird. Nicht zu verwechseln mit dem Schwindel der Herdsklerose
ist diejenige Vertigo, die sich gelegentlich bei Diplopie einstellt. Der diplo-
pische Augenschwindel kommt zwar bei der multiplen Sklerose ebenfalls vor,
ist jedoch ziemlich selten und schwindet beim Abschliessen eines oder beider
Augen.
Als ziemlich seltenes Vorkommnis in der motorischen Sphäre sind die
Störungen seitens mancher Bulbärnerven zu nennen (Schling- und
Kaubesch\verden, Articulations- und Phonationsanomalien), die gelegentlich
so ausgeprägt sein können, dass sie eine DucHENNE'sche Bulbärparalyse vor-
444 SCLEROSIS MULTIPLEX.
täuschen. Relativ am meisten leidet in diesen Fällen der Stimmapparat.
Der Stimme fehlt zunächst jede Modulation, d. h. der rasche Wechsel
sowohl in der Tonhöhe, als in der Accentuirung der einzelnen Silben. Später
wird die Stimme überspringend, heiser, durch das gelegentliche Erzittern der
Stimmbänder auffällig tremulirend. In einzelnem Falle sind Paresen der
Stimmbandspanner nachzuweisen. Häufiger liegt jedoch der Grund für die
auffällige Veränderung der Stimme in einer, objectiv nicht nachweisbaren
mangelhaften Innervation der Stimmbänder, speciell in der Unfähigkeit,
dieselben in die zum accentuirten Sprechen nothwendigen wechselnden, fein
abgestuften Grade der Spannungsintensität zu versetzen (Leube).
Ebenfalls in einer Erschwerung der Innervation der in ihrer Leistungs-
fähigkeit theilweise beeinträchtigten Articulationsbahnen ist die nächste Ur-
sache einer weiteren Sprachstörung zu suchen, die zu den constanten, geradezu
cardinalen Symptomen der Herdsklerose gehört: die scandirende Sprache,
Der Kranke spricht langsam (Bradylalie), stossweise, mit enormer Kraft-
anwendung und Mühe, betont jeden Buchstaben in ganz gleicher "Weise und
trennt die einzelnen Silben von einander durch Pausen, geradezu die Worte
buchstabirend, zerhackend. Besonders geschieht der Schluss eines Satzes in
brüsker, explosiver Weise. Nicht überall trägt die Sprache all' die genannten
Eigenthümlichkeiten gleichzeitig: in dem einen Falle geht die Monotonie dem
Scandiren voraus, in dem anderen ist die Sprache zunächst langsam-spastisch,
später lallend.
Teömner unterscheidet mit Recht 7 Arten sclerostischer Sprachstörun-
gen: 1. Einfache Verlangsamung — beruhend auf Functionserschwe-
rung entweder des centralen Sprachfeldes oder des basalen Coordinations-
apparates; 2. Monotonie, Accentlosigkeit in Folge von Affectmangel oder
Demenz ; 3. Unbeständiger W^echsel der Tonhöhe — in Folge von Quer-
und Irrleitung der Impulse; 4. Näselnde Sprache — nach Gaumenparese;
5. Scandiren — bei Leitungsverzögerung im motorischen oder sensorisch-
sensiblen Theil des Functionskreises; 6. Dysartherien musculärer oder
fasciculärer Art; 7. At actis che Dysphasie literaler und syllabärer Art.
Die Zunge leidet in der Regel gar nicht, und, wo man Zittern der-
selben begegnet, dort steht dasselbe mit der Sprachstörung in keinem innigen
Zusammenhange. Ebensowenig befindet sich das Zittern der Zunge, welches
darin besteht, dass es dem Patienten schwer fällt die Zunge hervorzustrecken
und sie ausserhalb des Mundes ruhig zu halten, mit einem weiteren Cardinal-
symptom der Herdsklerose in Zusammenhang: dem sogenannten Inte nti ons-
zittern. Es wird darunter ein Zittern verstanden, das in der Ruhe voll-
ständig sistirt und nur bei intendirten Bewegungen auftritt. Es genügt dem
ruhig sitzenden oder liegenden Patienten sich aufzuheben, um in vor-
geschrittenen Krankheitsstadien den Oberkörper in Oscillationen gerathen zu
lassen. Je intensiver die Gemüthserregung und grösser die Bewegungs-
excursion, desto stärker wird das Zittern. Fordert man den Kranken auf,
ein Glas Wasser vom Tische zu nehmen und dasselbe an den Mund zu bringen,
so stellen sich gleich beim Beginn der Greifbewegungen geringe oscillatorische
Bewegungen ein, die desto stärker und zahlreicher werden, je näher das Glas
dem Ziele kommt, das Wackeln der Hand wird schliesslich so heftig, die
Oscillationen desselben so ungewöhnlich weit und rasch, der nach vorn ge-
neigte Oberkörper so intensiv zitternd, dass das Wasser aus dem Glase, auf
dem Wege zum Munde, ausgeschüttet wird, das Gesicht und die Kleider des
Patienten bespritzt werden, das Glas heftig an die Zähne angeschlagen
respective an denselben vorbeischlüpfend bald an die Nase, bald an das Kinn
angestossen wird. Nicht weniger charakteristisch tritt auch das Zittern auf,
wenn man eine Stecknadel auf den Tisch legt und den Patienten auffordert,
blch aus grösserer Entfernung ihr langsam mit der Hand zu nähern: anfangs
SCLEROSIS MULTIPLEX. 445
geht es leicht, er zittert wenig, aber je näher er dem Ziele kommt, desto
unruhiger wird die Hand, das Zittern wird zum Schütteln und der im Auge
gehabte Zweck wird mehr oder weniger völlig vereitelt. Das sclerose Zittern
kommt auch im Affect bei Reflexbewegungen vor.
Der Ithythmus des Zitterns zeigt 5 bis 7 Schwingungen in der
Secunde, wenngleich die Zitterbewegungen in Folge der grossen Schwingungen
weit rascher zu sein scheinen, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Es ist
die Schwingungsamplitude deswegen eine so beträchtliche, weil in der Regel
nicht allein Hand und Finger, sondern die ganze Extremität vom Zittern be-
lallen wird. In einigen Fällen ist das Zittern an der einen Körperhälfte
stärker entwickelt, als an der anderen, respective nur einseitig vorhanden.
An den unteren Extremitäten ist das Intentionszittern selten stark aus-
gesprochen. Am Rumpfe, Hals und Kopfe merkt man derartiges Zittern,
sobald der Kranke sich aufzurichten versucht: die genannten Körpertheile
gerathen in sagittales Zittern, das in schweren Fällen zu geradezu kreis-
förmigen oder Nickbewegungen des Kopfes führen kann. Die ersten Spuren
des Intentionszitterns lassen sich sehr deutlich beim Schreiben oder Clavier-
spielen an den Händen erkennen. Beim Versuch zu Schreiben kommen nur
unregelmässige Striche zu Stande, und häufig zerbricht in Folge der lebhaften
Bewegung die Feder. Das Zittern begleitet immer nur willkürliche, zuweilen
auch die reflectorischen und Mitbewegungen. Die grobe motorische
Kraft kann in den zitternden Gliedern ganz gut erhalten bleiben.
Inwiefern die in 60 bis 70^/o der Fälle zu beobachtenden raschen
oscillatorischen Bewegungen der Augäpfel — sogenannter Nystagmus — in
Analogie mit dem besprochenen Zittern zu setzen sind, ist eine Frage, die
sich zur Zeit kaum beantworten lässt, da wir nichts Bestimmtes über das
anatomische Substrat beider Erscheinungen aussagen können. Charakteristisch
ist für die nystagmischen rhythmischen Oscillationen, dass ihre Richtung fast
ausschliesslich eine horizontale ist, dass sie unabhängig vom Willen des
Patienten auftreten, zu seinem Bewusstsein gar nicht kommen, dass sie ge-
wöhnlich in Zitterbewegungen associirter Muskelpaare bestehen und am deut-
lichsten in aufgezwungener Stellung des Auges auftreten, so bei extremer
Einwärtswendung oder Abduction des Bulbus. Durch die rhythmischen
Zuckungen w^erden die Augäpfel aus der Extremstellung immer wieder in die
Ruhestellung hingeführt. In seltenen Fällen fuhren die Zuckungen zu einer
Raddrehung der Bulbi.
In den letzten Jahren wurde der pathognomonische Werth des Nystagmus
bei der Herdsklerose von mancher Seite stark angezweifelt. Schultze will,
bei forcirter Seitwärtsbewegung des Blickes, den Nystagmus sehr oft auch bei
vollständig gesunden Individuen auftreten gesehen haben. Nach Uthoff soll
nur der wirkliche Nystagmus, der bei jeder Stellung der Bulbi auftritt,
charakteristisch sein (12% der Fälle), die nystagmusartigen, nur bei
forcirter Blickbewegung bemerkbaren Oscillationen sollen dagegen mit dem
Nystagmus nichts zu thun haben und auf einen paretischen Zustand der
Augenmuskeln hinweisen (46 "/o der Fälle). Dem vulgär sogenannten Nystagmus
würde somit keineswegs in dem Maasse der Werth eines Cardinalsymptomes
zugeschrieben werden können, wie es von den älteren Autoren zu geschehen
pflegte.
Deutlich nachweisbare Parese der Augenmuskeln""") fand Uthoff
in 17 auf 100 Fälle von multipler Sklerose. Die Lähmungen sind in der
Regel unvollständig, mit unbedeutendem Doppeltsehen verbunden und bald
vorübergehend.
*) Vergleiche auch den Artikel ^AiigenmushelWimungen" im Band ^Augenkrankheiten"
446 SCLEEOSIS MULTIPLEX.
Sie befallen gewöhnlich die äussere Muskulatur des Bulbus,
meist beide Aussendreher, seltener den ganzen Oculomotorius. Die Störungen
des Bewegungsapparates der Augen sind fast ausschliesslich durch Paresen
der associirten Bewegungen charakterisirt: die mangelhafte Beweglichkeit
nach rechts oder links betrifft somit beide Bulbi gleichzeitig. Aufhebung
sämmtlicher Augenbewegungen — Ophthahyioplegia externa — gehört zu den
seltenen Vorkommnissen. Die inneren Augenmuskeln sind etwa nur in i/^,
der Fälle in ihrer Innervation gestört (Pupillenungleichheit, Myosis, herab-
gesetzte Eeaction auf Licht- und Accomodationsreize). Pupillenstarre wird nie
beobachtet. Häufiger als eine Parese der Irismuskulatur beobachtet man
rhythmische Oscillationen in der Form rasch aufeinander folgender,
abwechselnder Verengerung und Erweiterung der Pupille.
Um mit dem Gebiete der motorischen Störungen abzuschliessen, seien
noch erwähnt die, gelegentlich bei der insularen Sklerose zu beobachtenden
Incontinenz der Blase und Retentio .urinae et alvi, die Oppenheim in
seiner Statistik der visceralen Symptome der Herdsklerose beinahe in 80 7o der
Fälle — zusammen mit sexueller Impotenz, gastrischen Krisen etc. — festgestellt
haben will. Dass denselben diagnostisch kein grosser Werth zugeschrieben
werden kann, ist selbstverständlich, da sie einerseits den meisten Spinalleiden
eigenthümlich sind, andererseits bei der Herdsklerose ganz vorübergehend
und nur sehr wenig ausgesprochen zu sein pflegen. In den seltenen, unter
dem Bilde der acuten Myelitis einschlagenden Fällen können die Blasenmast-
darmstörungen sehr ausgesprochen sein und für das ganze Leben bestehen
bleiben.
Zu berücksichtigen wäre noch schliesslich die Thatsache, dass hie und
da die von Paralysen oder lähmungsartigen Zuständen betroffenen Muskel-
gebiete deutliche trophische Störungen zeigen. Gelegentlich localisirt
sich dieAmyotrophiein den kleinen Handmuskeln und simulirt insgesammt
mit der spastischen Paraparese der Unterextremitäten eine amyotrophische
Lateralsklerose. Ungewöhnlich ist jedoch die typische degenerative Atrophie
mit ihren bekannten qualitativen Abweichungen von dem normalen elektrischen
Verhalten der Muskeln.
Trophische und vasomotorische Störungen anderer Gewebe — wie Ab-
schuppung der Nägel, Wachsthumsanomalien der Haare, Herpes-
eruption, locales Oedem, abnorme Schweisssecretion, acuter
Decubitus — werden gelegentlich beobachtet, bleiben jedoch immer im
Hintergrunde des Krankheitsbildes.
h) Sensible und sensorische Erscheinungen.
Die Ansicht der meisten älteren Kliniker, dass Störungen der all-
gemeinen Sensibilität in der Herdsklerose gänzlich fehlen, hat sich bei
genauer vorgenommener Prüfung als unrichtig erwiesen. Die Sensibilität
bleibt nur selten während der ganzen Dauer der Erkrankung intaet. Die
Anomalien derselben zeigen thatsächlich nicht diejenige Mannigfaltigkeit, die
sich auf dem motorischen Gebiete statuiren lässt, erlangen auch in der Wirk-
lichkeit nie eine so bedeutende Intensität oder Stabilität, dass sie ohne
weiteres zu den unbeschrittenen klinischen Thatsachen dieser nosologischen
Form gezählt werden können: sie sind eher als klinische Merkwürdigkeiten,
denn als Symptom aufzufassen. Unter 33 Fällen hat Feeud 6 mit dauernden,
14 mit vorübergehen Störungen der allgemeinen Sensibilität gefunden. So-
wohl die wechselnden Anomalien des Bewegungsgefühles, des Schmerz- und
Drucksinnes, als die temporäre Abstumpfung des Temperatur- und Muskel-
sinnes betreffen meist die distalen Theile der Extremitäten und werden von
gleichzeitig bestehenden subjectiven Sensibilitätsstörungen begleitet. Das Kne-
beln, Taubheitsgefühl, Ameisenlaufen, die bohrend-stechenden Schmerzen
SCLEROSIS MULTIPLEX. 447
erinnern sehr an die Tabes. Quintushypaesthesien werden bei Slilerose selten
vennisst. Hemianaesthesie organischer Natur ist selten.
Von Seiten der speciellen Sensibilität hat man verschiedene Ver-
änderungen angegeben, die sowohl das Gehör, den Geruch und Geschmack be-
treften sollen. Doch sind dieselben enorm selten und überdies sehr schwach
ausgebildet. Eine Ausnahme machen in dieser Hinsicht die Störungen
des Gesichtssinnes, die ziemlich häufig vorkommen, sehr mannigfaltig
sind und gelegentlich von deutlich nachweisbarer Alteration des Augenhinter-
grundes begleitet werden. Ja, nach Uthoff, soll die Herdsklerose beinahe
am häufigsten unter allen cerebrospinalen Leiden ophthalmoskopische Ver-
änderungen aufweisen (in 507o)- Interessant ist die Thatsache, dass nicht
immer ein Zusammentreffen der Netzhautläsion mit Sehstörungen nachzuweisen
ist; wo dieselbe vorhanden ist, darf ein Parallelismus zwischen deren
Intensität als Regel gelten.
Die Störungen des Gesichtssinnes treten bald als das erste Symptom
der Herdsklerose auf, bald sind sie nur in einer bestimmten Entwickelungs-
periode der Krankheit nachzuweisen; hier sind sie einseitig, dort doppeltseitig,
hier gleichmässig, dort ungleichmässig auf beiden Seiten ausgesprochen. Der
Beginn kann sowohl ein plötzlicher, als ein allmälig fortschreitender sein, der
Verlauf ein sehr wechselvoller. Die Sehstörung selbst ist sowohl der Form,
als der Intensität nach ziemlich mannigfaltig. Die Sehschärfe wird ge-
legentlich bis auf Yio des Normalen herabgesetzt. Dyschromatopsie für
Roth und Grün ist bei doppelseitiger Affection die Regel, Blau und Gelb
erlöschen sehr selten. Vollständige Erblindung gehört zu den nicht häufi-
gen Ereignissen und ist meist nur transitorisch. Das Gesichtsfeld erweist
sich regelmässig stark alterirt: es besteht Herabsetzung der centralen Seh-
schärfe mit Erhaltung des peripheren Gesichtsfeldes, oder ein centrales S c o-
tom mit gleichzeitiger Einengung der Peripherie; seltener ist bei intacter
centraler Sehschärfe das periphere Gesichtsfeld unregelmässig oder concen-
trisch eingezogen.
Die Sehnerven-Papille zeigt in den allerersten Phasen des Krankheits-
processes die Zeichen einer Neuritis optica mit Hyperämie, Dilatation und Ver-
schleierung der Gefässe, Prominenz der Papille. In den vorgeschrittenen
Stadien finden wir entweder Abblassung ausschliesslich der temporalen Hälften
oder eine unvollständige Verfärbung der ganzen Papille bis zur typischen
weissen Atrophie derselben. Zur völligen Atrophie der Sehnerven kommt es
jedoch nur äusserst selten. Die genannten Alterationen des Augenhinter-
grundes und die daraus resultirenden Functionsstörungen können sich gänzlich
zurückbilden, remittiren oder stabil bleiben. Gowees will 4 — 5 mal primäre
Opticusatrophie mit Sehdefecten, genau wie bei der Tabes, als Symptom oder
Complication der Herdsklerose gesehen haben.
c) Psychische Erscheinungen.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen schliesslich in der Diagnostik
der insularen Sklerose neben den motorischen und sensiblen dieintellectuellen
Störungen. Dieselben bestehen zumeist in einer geringen geistigen Ab-
spannung, Apathie, Theilnahmlosigkeit, oder in einer traurigen, respective
allzu heiteren Stimmung. Grössendelirien und Hallucinationen werden nur
ausnahmsweise beobachtet. Höhere Grade des Schwachsinnes bis zur
förmlichen Demenz sind ganz ungewöhnlich und nur dort zu constatiren, wo
neben der multiplen eine diffuse Sklerose der Hirnrinde vorliegt.
Ob man den Störungen der Intelligenz das impulsive Lachen mancher
mit Herdsklerose betroffenen Patienten zuschreiben darf, ist ziemlich fraglich.
Der Lachkrampf, der derart unbezwingbar ist, dass er minutenlang anhalten
und zur bedrohlichen Cyanose führen kann, kommt gelegentlich, wie Oppen-
448 SCLEROSIS MULTIPLEX.
HEIM richtig bemerkt, bei Kranken vor, dessen geistige Thätigkeit in keiner
Weise alterirt ist, wo somit von unbegründeten Vorstellungen heiterer Natur
nicht die Rede sein kann. Das laute Lachen wird vorübergehend von jauch-
zenden Inspirationen unterbrochen, welche wahrscheinlich dadurch
zustande kommen, dass der auf die heftigen Exspirationsstösse beim Lachen
folgende Inspirationsstrom die wegen der mangelhaften Innervation der
Mm. cricoarytaenoidei post. noch nicht aus dem Wege geschafften Stimm-
bänder trifft und sie in tönende Schwingungen versetzt. Hie und da geht
das in nicht zu unterdrückender Weise anhaltende jauchzende Zwangs-
lachen unvermittelt in Zwangsweinen über.
Nach manchen Autoren sollen die psychischen Erscheinungen besonders
intensiv ausgesprochen sein bei der im jugendlichen, nach anderen bei der
im vorgeschrittenen Alter sich entwickelnden Sklerose.
Pathologische Anatomie und Physiologie. Als Grundlage des ge-
schilderten Krankheitsbildes findet man sklerotische Inseln, die sich an den
verschiedensten Stellen des centralen und peripheren Nervensystems locali-
siren. Die oberflächlich gelagerten Plaques sklerosirten Gewebes lassen sich,
bei Eröffnung der Schädel- und Rückenmarkshöhle, schon durch die Hirnhäute
hindurch aus ihrem graubläulichen Farbenton ohne weiteres erkennen. Be-
sonders deutlich sichtbar werden sie nach längerem Aufbewahren in der
MüLLEE'schen Härtungsflüssigkeit.
Die Vertheilung der Herde ist ganz unregelmässig, an kein anatomisches
System gebunden: bald sitzen dieselben an der Oberfläche des Hirnes und
Rückenmarkes, bald ganz in der Tiefe, bald im Verlaufe eines basalen Hirn-
nerven. Selten geht die Sklerose von der Rinde aus; stark bevorzugt dagegen
ist die weisse Substanz, in der man gelegentlich mehrere Hundert Inseln auf-
zählen kann, von der Grösse eines Hirsekornes bis zu der einer grossen Bohne.
Im Hirne sitzen sie in der Nähe der Rinde, im weissen Marklager, in der
Wand der Seitenventrikel, im Corpus callosum, in den Mamillarkörperchen,
in und auf der Brücke, in der Oblongata, am Boden des 4 Ventrikels. Auch
im Rückenmarke begegnet man den sklerotischen Herden in den verschie-
densten Strängen und Etagen desselben, von der Decussatio pyramidum an bis
zum Filum terminale.
Unüberschreitbare Schranken existiren überhaupt für einen Plaque nicht,
er durchbricht die verschiedenen Furchen und Spalten. Im Rückenmarke
setzt gelegentlich ein Herd den ganzen Querschnitt durch; grössere Inseln
sklerotischen Gewebes findet man in der VAEOL'schen Brücke, die grössten
im weissen Marklager des Gehirnes. Der Form nach sind dieselben platt
oder keilförmig und zwar mit der Basis nach der Oberfläche des nervösen
Organs gerichtet, in welchem sie sich beflnden. Je nach der Grösse des
Herdes, dem Alter und dem Entwickelungsgrade der Sklerose ändert sich ihre
Farbe und Consistenz, die jüngeren sind schiefergrau und wenig consistent,
die älteren sind grauröthlich und ziemlich derb. Die Sklerose vergrössert
das Volum der betreffenden Theile nicht in wahrnehmbarer Weise; ja, in den
vorgeschrittenen Stadien retrahiren sich die afficirten Stellen sehr deutlich,
so dass man geradezu von einer Volumsabnahme sprechen kann.
Vom peripheren Nervensystem werden gelegentlich die cerebralen und
bulbären, seltener die spinalen Nerven an ihren Wurzeln von sklerotischen
Herden betroffen. Am häufigsten leidet der Opticus, resp. seine Tractus und
das Chiasma. Die einzelnen Inseln sind scharf von dem Nachbargewebe ab-
gegrenzt, durch ihre Farbe deutlicher von der weissen, als von der grauen
Substanz sich abhebend.
Die mikroskopische Untersuchung eines Herdes ergibt in der
Regel: deutlichen Schwund der Markscheiden der Nervenfasern,
Vermehrung und Verdichtung des Zwischengewebes, häufig
SCLEROSIS MULTIPLEX. 449
Gefässwucheruug-. Die Axencylinder bleiben meistentheils
ganz unversehrt. In älteren Herden findet man ab und zu einzelne Axen-
cylinder geschwellt, spindelförmig ausgebuchtet, andere glanzlos, einer fein-
körnigen Degeneration, resp. dem totalen Schwunde anheimgefallen. Ist die
graue Substanz in Bereich der Sklerose gezogen worden, so findet man eine
Volumsveränderung der Ganglienzellen, Fehlen ihrer Fortsätze, deutliche
Zeichen von Pigmentirung und Atrophie.
Auf- und absteigende Degenerationen fehlen bei der
Herdsklerose.
Im Centrum des Herdes sieht man oft ein Gefäss, um das herum die
Sklerose am intensivsten ausgebildet ist. Die Adventitia des Gefässes ist ver-
dickt, zellig infiltrirt, an der Intima sind gelegentlich anhaftende Fibrin-
gerinnsel nachzuweisen, das Gefässlumen ist stark verengt, zuweilen ganz auf-
gehoben, die perivasculären Lymphräume sind deutlich dilatirt und häufig mit
sogenannten „granulirten Körperchen," die als noch nicht resorbirte
Zerfallsproducte der Markscheiden anzusehen sind, vollgepropft. luden
eng zusammengedrängten Maschen des dichten Neuroglia-Xetzwerkes finden
sich ebenfalls neben den bindegewebigen Elementen, Glia- und Spinnenzellen,
in beträchtlicher Zahl die granulirten Körperchen. Je jünger der Plaque ist,
desto zahlreicher sind die letzteren sowohl im Centrum als in der Peripherie;
bei älteren Herden sind vereinzelte Körperchen nur an der Peripherie zu
finden, im Centrum dagegen, wo absoluter Schwund der Markscheiden vor-
liegt, fehlen sie gänzlich.
Manche Autoren glauben, in den doppeltcontourirten, stark lichtbrechen-
den granulirten Körperchen nicht Zerfallsproducte des Myelins, sondern aus
den Gefässen ausgewanderte Leukocyten sehen zu müssen, die die zer-
fallenen Myelinkörnchen in sich aufnehmen und in dieser Weise die Ptesorp-
tion und Wegfuhr des Abfallmaterials besorgen. Die Ueberhäufung der peri-
vasculären Lymphräume mit diesen Körperchen, wie auch ihre Anwesenheit
besonders in jungen, im Bilden begriffenen Herden könnte mit Piecht für die
phagocytotische Natur der Körperchen sprechen. Analoges Verhalten findet
man am centralen Stumpfe durchschnittener Nerven (PiAnvier), wie bei der
sogenannten „nevrite j^eriaxüe'' (Gombaült).
M. Popoff (1894) spricht auf Grund seiner, bei Flechsig vorgenommenen Unter-
suchungen eine in mancher Hinsicht Yon den allgemein herrschenden Ansichten abweichende
Meinung aus über die anatomisch-pathologischen Veränderungen bei der Herdsklerose.
Es gibt anatomisch eine subacute und chronische Varietät; als Ausgangspunkt
der Affection sind immer die Gefässe zu betrachten; vom Krankheitsprocesse werden
nicht allein die Markscheiden, sondern auch die Axencylinder immer ergriffen; die
meisten, zwischen den Nervenfasern liegenden Bindegewebszüge sind keineswegs
wucherndes Bindegewebe, sondern Veränderungsproducte .der Nervenfasern selbst;
die Zellen der Neuroglia werden nicht nur nicht vermehrt, sondern unterliegen im Gegen-
theil dem Verfall; neben dem Zerfallsprocesse der Nervensubstanz ist auch eine Rege-
neration der Nervenfasern regelmässig vorhanden; die Regeneration ist besonders deutlich
bei chronischen Fällen und in der weissen Rückenmarkssubstanz und betrifft nur die Axen-
cylinder; aus den Enden der an der Peripherie des Herdes liegenden markhaltigen Nerven
sprossen in ausserordentlich feinen Fasern neue Axencylinder heraus; ein guter Theil der
sklerosirten Herde besteht somit nicht aus dem vielfach abgebildeten bindegewebigen Faser-
filz mit entmarkten Axencylindern, sondern aus feineren Bündeln regenerirterAxencylinder,
die einestheils REMAK'schen Nervenfasern, anderentheils Axencylinder-Bündeln, welche
bei Regeneration peripherer Nerven nachzuweisen sind, ähneln; zur Regeneration der
Markscheiden kommt es nie, weder in der Peripherie des Herdes noch im Centrum.
Nicht zu verwechseln sind die anatomischen Befunde bei der dissemi-
nirten Sklerose mit den multiplen Herden der diffusen Myelitis. Der acute
Beginn der letzteren, die Abwesenheit der stricten Grenze zwischen dem pa-
thologischen und gesunden Nervengewebe, die oft zu constatirende Integrität
der Gefässwände, die tiefe und weitgehende Zerstörung der Axencylinder, die
consecutive auf- und absteigende Degeneration — liefern sämmtlich einen Symp-
tomencomplex, der das Zusammenwerfen zweier, genetisch zuweilen sich nahe-
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin nnd Kinderkrankheiten, Bd. III. ^y
450 SCLEROSIS MULTIPLEX.
stehender, in mehrfacher Hinsicht dennoch entschieden difterenter Krank-
heitsprocesse unmöglich macht.
Ueber das Wesen der disseminirten Sklerose und über ihre nosologische
Stellung lässt sich wenig Bestimmtes aussagen. Es ist a priori verauszusetzen,
dass, im Gegensatz zu den sogenannten System erkrankungen, wo die Sklerose
mit Atrophie der Nervenfasern beginnt und zu secundärer Bindegewebswuche-
rung führt, bei der disseminirten Sklerose die Primärveränderung in der Zu-
nahme des interstitiellen Bindegewebes bestehen und die Läsion der Nervenfasern
secundär sein wird. Diese Vermuthung wird in der That durch die uns be-
kannten Thatsachen der Pathologie des Leidens wesentlich gestützt. Weniger
Positives wissen wir über die unmittelbare, locale, den Wucherungs-
process bestimmende Ursache auszusagen.
Am wahrscheinlichsten ist die Bildung des Plaques als Folge eines inter-
stitiellen entzündlichen Processes aufzufassen, der von den Gefässen seinen Ur-
sprung nimmt (Rindfleisch, Bibbert, Maeie, Popoff). Dafür spricht einiger-
maassen die in den jungen Nerven vorwaltende perivasculäre Entzündung, die
sich vom Gefässe rasch in concentrischer Weise ausbreitet. Als Grundursache
des entzündlichen, wahrscheinlich vasculär-embolischen Processes dürften
die so häufig in der Aetiologie erwähnten Infectionen betrachtet werden. Ob
das infectiöse Agens als solches, oder durch ihre toxischen Ausscheidungspro-
ducte wirkt, ist eine Frage, die sich zur Zeit kaum mit Bestimmtheit lösen
lässt.
Da das mikroskopische Bild sich durchaus nicht in allen Fällen gleich gestaltet, in-
dem in einem Falle Wucherung des Gliabalkenwerkes, im anderen Degeneration der
Markscheiden im Vordergrunde stehen, so erklären sich ohne weiteres die über die Patho-
genese zur Zeit herrschender Controversen. Diejenigen, ziemlich zahlreichen Autoren, die
in den Herden veränderte Gefässe mehrfach vermisst haben, wollen den Ausgangspunkt
der Affection jedenfalls nicht in der Gefässalteration suchen. Manche (Bikeles, Bkuns) hul-
digen derjenigen Anschauungsweise, die die disseminirte Sklerose in die Reihe der Myeli-
tiden im weiteren Sinne stellt, andere (Adamkiewicz, Redlich, Huber) sehen in der Dege-
neration der Markscheiden eine Art primärer, parenchymatösen Sklerose. Weigert betont in
seiner neuen Arbeit über Neuroglia und ihre Färbungsmethode die ganz colossale Wu-
cherung von Neuroglia.
Wie es auch sein mag, jedenfalls scheinen die gelegentlich schubweise
sich einstellenden Verschlimmerungen im klinischen Bilde darauf hinzuwei-
sen, dass die krankhaften im Organismus verweilende infectiöse oder toxische
Substanz die Fähigkeit besitzt, sich nach einer längeren oder kürzeren Zeit
auf diesem oder jenem Wege zu verbreiten und einen neuen Process anzu-
regen. Diese acuten Verschlimmerungen kommen selbständig zustande, oder
lassen sich auf andere Gelegenheitsmomente zurückführen, auf Erkältungen,
Ueberanstrengungen, Puerperien etc.
Die Remissio'nen und Besserungen der Herdsklerose hängen wahr-
scheinlich mit der pathologisch-anatomisch leicht nachweisbaren Persistenz
der Axencylinder zusammen. Lässt der entzündliche Process etwas nach, so kann
sich die normale physiologische Function nahezu vollständig herstellen, indem
der schädigende Einlluss auf den Axencylinder nachlässt oder eine Regenera-
tion der Markscheiden in den Plaques platzgreift.
Auf das anatomische Erhaltenbleiben der Axencylinder ist ebenfalls das
Fehlen secundärer Degenerationen, somit auch die Abwesenheit per-
manenter Glied ercontracturen zurückzuführen.
Weniger Uebereinstimmung herrscht unter den einzelnen Autoren bezüg-
lich der Physiologie des Intention szitterns, das die Meisten ebenfalls
aus der Unversehrtheit der Axencylinder herleiten wollen (Charcot, STRtJM-
pell), indem sie sich auf die bekannte Analogie zwischen der Nervenleitung
und dem elektrischen Strome stützen. Die Markscheide stellt einigermaassen
die isolirende Hülle des Leitungsdrahtes — der Nervenfaser — dar; wird daher
durch den Verlust der Markscheide die Isolation mangelhaft, so entstehen bei
SCLEROSIS MULTIPLEX. 451
jeder motorischen Leitung Nebenströme — abnorme Querleitung der Erregung
von einer Faser auf die benachbarten, — die sich physiologisch durch das
Zittern bemerkbar machen.
Nach Steümpell ist auf diese abnorme Querleitung nicht allein das In-
tentionszittern, welclies er als eigenartige Ataxie auftasst. zurückzuführen, son-
dern auch die Analoga desselben: der Nystagmus und das Scandiren.
Durch sklerotische Herde in den Vierhügeln, der Brücke und Oblongata sollen
die letzteren zwei Symptome bedingt werden. Einige Autoren wollen dage-
gen das Zittern mit der Localisation des Herdes in den Sehhügeln in Zu-
sammenhang bringen (Stephan), noch andere meinen, dasselbe sei auf die
Steigerung der spinalen Rellexthätigkeit zu beziehen. Gowers will Incoor-
dination mit Schleuderbewegungen intentioneller Natur bei Herden im Hirn-
schenkel und der Brücke beobachtet haben. Von manchen Pathologen, die die
genannten Bewegungsstörungen bei Intactheit der Brücke und des Bulbus
constatiren konnten, werden die Hemisphärenerkrankungen hauptsächlich in
Betracht gezogen.
Sensibilitätsstörungen, Ataxie und Fehlen des Patellar-
reflexes weisen auf eine bedeutendere Veränderung der Hinterstränge hin,
wenn auch Coordinationsstörungen durch Betheiligung der Schleifenbahn oder
des Cerebellums hervorgerufen werden kann.
Diagnose und Dilferentialdiagnose. Die Diagnose der Herdsklerose,
dieser naturgemäss in vielgestaltigen Bildern sich präsentirenden Krankheit,
gehört im allgemeinen zu den nicht leichten Aufgaben. Auch bei der sorg-
fältigsten Untersuchung ist ein Irrthum niemals ausgeschlossen und man muss
darauf gefasst sein, dass der pathologisch-anatomische Befund die intra vitam
gestellte Diagnose nicht immer bestätigt. Will man blos auf das eine oder
andere klinische Krankheitsbild Rücksicht nehmen, so kann man sehr leicht
bei der Diagnose schwere Fehlgriffe begehen. Immerhin zeigt eine Anzahl
von Fällen einen so charakteristischen Symptomencomplex, dass die Diagnose
mit mehr oder weniger Sicherheit gestellt werden kann.
Als typisches Bild der cerebrospinalen Herdsklerose gilt seit Chakcot's
klassischer Beschreibung dasjenige, bei dem die Collection folgender sogenann-
ter Cardinais ymptome repräsentirt ist: scandirende Sprache, Nystagmus,
Intentionszittern, spastisch-paretischer und spastisch-cerebellarer Gang, par-
tielle Opticusatrophie, Schwindel, apoplectiforme und epileptiforme Anfälle,
psychische Schwäche. Die drei erstgenannten Symptome gelten als die häu-
figsten. Die typischen Formen sind in der Regel chronisch, selten acut.
Der Beginn des Leidens kann sehr verschieden sein. In den 160 von
BixAKD zusammengestellten Fällen war das einleitende Krankheitssymptom
Tlmal spinal, 21mal cerebral und 61raal cerebro-spinal.
Fehlen die typischen Erscheinungen, oder sind sie nur schwach ange-
deutet, so muss die Diagnose trotz der grössten Mannigfaltigkeit und Reich-
haltigkeit an Symptomen für eine mehr oder minder längere Zeit in sus-
penso bleiben. In solchen zweifelhaften Fällen wird die Differentialdiagnose
gelegentlich durch die Beobachtung des Verlaufes entschieden: das Fort-
schreiten des sklerotischen Processes erfolgt bald schleichend progressiv in
subacutem, oder, über Jahre sich hinziehendem chronischen Tempo, bald in
apoplectiform erfolgenden Anfällen. Die im Anschluss an den letzteren sich
zeigenden schweren Störungen der Motilität, Sensibilität, der Seht'unction, der
Blase, des Mastdarmes etc. verschwinden nach einigen Tagen und Wochen
wieder bis auf kleine Residuen, um bei einer neuen Attaque wiederzukehren
und allmälig stabiler, dauernder zu bleiben, Simulirt die Localisation eines
Herdes bestimmte, anatomisch streng gekennzeichnete Erkrankungen des Cen-
tralnervensystems, so wird gewöhnlich die differentielle Diagnose dadurch er-
leichtert, dass neben den Symptomen des imitirten Leidens Begleiterschei-
29*
452 SCLEROSIS MULTIPLEX.
nungen sich nachweisen lassen, die nicht zu dem klinischen Bilde des letzte-
ren passen.
Als häufigste atypische Formen sind diejenigen zu nennen, wo sich
die Herdsklerose eine kürzere oder längere Zeit — zuweilen sogar jahrelang
— hinter den Erscheinungen versteckt einer: 1. transversalen Myelitis, 2.
primären spastischen Sjnnalparalyse, 3. amyotrophischen Lateralsklerose, 4. cere-
brospinalen Syphilis, 5. Friedb.eicb.' sehen Krankheit, 6. cerebralen Diplegie,
7. Dementia paralytica, 8. Hirnapoplexie, 9. Hirngeschwulst, 10. Paralysis
agitans, 11. Quecksilberintoxication und 12. Hysterie.
Die Unterscheidung von den meisten diffusen Rückenmarksleiden
ist in der Regel einerseits durch das Vorherrschen und die Permanenz der
Sensibilitätsanomalien und Blasenmastdarm Störungen, andererseits durch die
Abwesenheit von cerebralen und bulbären Symptomen erleichtert.
Beider spastischen Spinalparalyse sind jahrelang die spastischen
Erscheinungen das einzige Krankheitssymptom, bei der amyotrophischen
Lateralsklerose ist ausgesprochene degenerative Muskelatrophie mit
schweren Bulbärsymptomen die Regel.
Die cerebrospinale Lues mit ihrem Wechsel vollen Bild und häufigen
Remissionen muss in diagnostisch schwierigen Fällen ex juvantibus errathen
werden, das gilt sowohl von der gewöhnlichen, chronischen Form derselben,
wie von der viel selteneren acuten, die sich durch plötzliches xA.uftreten von
totaler Paraplegie mit gelegentlicher Neuritis optica kundzugeben pflegt. In
vereinzelten Fällen macht die Syphilis auch am Sectionstische ganz den Ein-
druck einer Herdsklerose, indem sie in Form disseminirter sklerotischer In-
seln auftritt (Charcot-Gombault). Das Vorkommen käsiger Knötchen bei der
syphilitischen Erkrankung kann gelegentlich das einzelne Unterscheidungs-
merkmal bleiben in den Fällen, wo weder der klinische Verlauf noch die
therapeutischen Maassnahmen, noch schliesslich das makroskopische Bild und
die Vertheilung der Herde die Diagnose zu entscheiden vermögen.
Die Feiedreich's c h e Krankheit hat mehrere Symptome mit der
Herdsklerose gemeinsam, wie das Zittern bei willkürlichen Bewegungen, den
Nystagmus, die Sehstörungen, die langsame Sprache etc. Als wichtige Unter-
scheidungsmerkmale gelten, abgesehen von dem familiären, resp. hereditären
Auftreten der Krankheit, die locomotorisch-statische Ataxie, der Verlust der
Sehnenreflexe, die fast constante Anwesenheit des Klumpfusses und der Sko-
liose, das Fehlen der Augenmuskellähmungen und der Neuritis optica.
Ueber die klinische Uebergangsform zwischen dem FRiEDREicn'schen
Leiden und der Herdsklerose, die von manchen französischen Autoren als
„Heredo-ataxie cerebelleiise^ bezeichnet (Marie, Brissaud, Londe) und auf
Atrophie und Sklerose des Kleinhirnes zurückgeführt wird, lässt sich zur Zeit
wenig Positives in differentiell-diagnostischer Hinsicht aussagen.
Nicht viel besser verhält es sich mit der Differentialdiagnose zwischen
Herdsklerose und denjenigen seltenen Formen diöiisei Hirnsklerose, die unter
dem Bilde der chronischen „cerebralen Diplegien" verlaufen. Letztere scheinen
in den meisten Fällen (Pelizaeus, Sachs, Freud, Higier) im Kindesalter zu
entstehen und hereditär-familiärer Natur zu sein ^).
Sehr verhängnisvoll kann ein diagnostischer Fehler werden, wo die pro-
gressive Paralyse der Irren 2) in Frage kommt. Die Sprachstörungen, die
apoplectiformen und epileptiformen Anfälle, das Zittern, der Schwindel, die spa-
stischen Paresen und die psychischen Anomalien kommen bei beiden Krankheiten
vor. Bei genauer Analyse tritt jedoch die verschiedene Beschaflenheit der er-
wähnten Symptome bei denselben hervor. Die Sprache der Paralytiker ist nicht
^) Tgl. Art. „Kinderlähmung cerebrale"'. Bd. II, pag. 374.
^) Vgl. Art. „Dementia paralt/tica''' . Bd. I.
SCLEROSIS MULTIPLEX. 453
spastisch, scandirend, sondern durch eigenthümliches Silbenstolpern und
doppeltes Hervorstossen der Silben träge, stammelnd. Durch Zucken und
Zittern der Zunge und Lippen wird die Sprache gleichzeitig bebend und un-
deutlich. Das Zittern der Glieder ist kein Intentionszittern, es ist nicht an
willkürliche Bewegung streng geknüpft und die einzelnen Schwingungen des-
selben sind ziemlich ungleich. Der Grössenwahn ist bei der Dementia para-
lytica beinahe Eegel und ptiegt als Haupterscheinung der allgemeinen Euphorie
gleich im Beginn hervorzutreten, bei der Sklerose ist die Megalomanie
Ausnahme und nur vorgeschrittenen Stadien eigenthümlich, Nystagmus spricht
für Herdsklerose, typische Opticusatrophie für Dementia paralytica.
Wird die Scene durch einen apoplectischen Anfall eröffnet, so kann die
Diagnose zwischen einfacher Hirnapoplexie und Hirnsklerose kaum mit
Sicherheit gestellt werden. Sehr verdächtig bleibt es jedenfalls, wenn ein
junges, herzgesundes Individuum, das weder luetisch inficirt noch dem Alkohol
ergeben war, plötzlich von einem apoplectiformen Insult mit schnell vor-
übergehenden Lähmungssymptomen betroffen wird. Eine mehrfache Wieder-
holung des Anfalles ist beinahe pathognostisch. Nachträgliches Auftreten von
Contracturen in den hemiplegischen Gliedern spricht nicht absolut gegen
Herdsklerose. Das posthemiplegische Zittern und der alkoholische Tremor lassen
sich ohne Schwierigkeiten von dem Intentionszittern unterscheiden.
Durch das Fehlen der Hirndrucksymptome ist die Herdsklerose von
Hirntumoren zu unterscheiden. Typische Stauungspapille kommt bei der
ersteren fast nie vor; ihre Neuritis optica hat eine sehr flüchtige Existenz,
beschränkt sich oft auf eine Seite und führt zu einer partiellen Decoloration
der Papille mit weitergehender und unbedeutender Beeinträchtigung des Seh-
vermögens. Der Kopfschmerz, die Pulsverlangsamung, das Erbrechen, der
Sopor sind niemals bei der Herdsklerose constant oder vorherrschend. Die
Steigerung der Symptome geht nie gradatim vor sich, das Zittern ist nicht
atactisch und schnellschlägig, wie bei Hirngeschwülsten.
Das Zittern war die Ursache, dass man früher wiederholt die Sklerose
mit der Paralysis agitans verwechselt hat, obwohl beide Krankheiten
nicht die geringste Aehnlichkeit mit einander haben und eine Verwechslung
nur bei flüchtiger Beobachtung möglich ist. Abgesehen davon, dass die
durch pathognostische Muskelrigidität, spastischen, maskenähnlichen Gesichts-
ausdruck, Pro- und Ketropulsion charakterisirte Schüttellähmung fast aus-
schliesslich Personen im vorgeschrittenen Alter aöicirt, ist der Charakter des
Zitterns bei derselben ein wesentlich verschiedener: die gleichmässig oscilla-
torischen Bewegungen bestehen meist an den Händen und Fingern, fehlen
meist am Kopf, sind bedeutend langsamer als bei der Sklerose (4 — 5 Oscilla-
tionen in der Minute), die Schwingungsgrössen der Zitterbew^egungen sind sehr
klein, der Tremor wird hauptsächlich in der Ptuhe angetroffen und durch
intendirte Bewegungen nicht verstärkt, sondern im Gegentheil sistirt.
Bei Quecksilbervergiftung präsentirt sich das Händezittern ganz
genau, wie der Tremor bei der Sklerose, als exquisites Intensionszittern, das
sich zu heftigen Schüttelkrämpfen steigern kann. Es soll jedoch in der Ruhe
nicht ganz schwinden und gelegentlich ohne Ursache sehr intensiv werden
Die Diagnose kann zuweilen, wo man nur auf das eine Symptom achtet,
schlechterdings nicht gestellt werden. Der schiefergraue Zahnsaum, der
Erethismus, die Cachexie entscheiden in solchen Fällen die praktisch wichtige
Frage.
Die Hysterie liefert gelegentlich Krankheitsbilder, die in so meister-
hafter Weise die Sklerose simuliren, dass die Unterscheidung zu den schwie-
rigsten Problemen gehören kann. Wichtig bleibt immer die strenge Abhän-
gigkeit der einzelnen Erscheinungen von seelischen Bewegungen. Das Scan-
diren tritt hier gleich vom Anfang an in besonders ausgesprochener Weise
454 SCLEROSIS MULTIPLEX.
auf, es ist nicht beständig und gleichmässig, vielmehr werden gelegentlich
einmal ein paar Worte schnell hervorgestossen. Das mehr an Stottern erin-
nernde Pseudoscandiren tritt meistentheils im Anschluss an einen hysterischen
Anfall auf. Das Intentionszittern ist nicht streng an die willkürlichen Be-
wegungen gebunden und, wo letztere vom Einflüsse auf das Zittern sind, dort
vergrössern sie dessen Amplitude, ohne den Rhythmus zu beschleunigen. Das
hysterische Zittern ist übrigens sehr variabel, unbeständig, schneller und
regelmässiger als das der Sklerose. Durch Druck auf eine hysterogene Zone
wird dasselbe hervorgerufen, sistirt, beschleunigt. Die apoplectiformen An-
fälle der Hysterischen werden zuweilen ebenfalls von Hemiplegien begleitet.
Bei denselben sind jedoch intensive Störungen der Hautsensibilität und der
Specialsinne an der gelähmten Körperhälfte zu finden. Eine typische con-
centrische Gesichtsfeldeinengung spricht für Hysterie, eine Decoloration der
Papille für Sklerose, Nystagmus kann auch hysterischer Natur sein.
Bei der Häufigkeit der Combination von disseminirt er Sklerose
und Hysterie, muss es sich im Einzelfalle darum handeln, festzustellen,
ob alle Symptome der Neurose, resp. dem organischen Leiden zugeschrieben
werden können.
Unter multipler Pseudosklerose beschrieb Westphal und nach ihm
manche andere Autoren (Langee, Feancotte) eine allgemeine Neurose, die
weder in ihren Symptomen, noch in ihrem Verlaufe von dem typischen
Symptomencomplexe der Herdsklerose unterschieden werden könne. Die
sorgfältigste Untersuchung der einschlägigen Fälle ergibt beiderAutopsie
gar keine Veränderung. Charakteristisch ist für die Pseudosklerose
das frühzeitige Hervortreten psychischer Störungen, ferner die Verlangsamung
der Augen- und Gesichtsbewegungen und das paradoxe Phänomen. Nystagmus
wird bei derselben ausnahmsweise, Alteration des Augenhintergrundes nie
beobachtet. Die Pathogenese der Pseudosklerose ist ebenso dunkel, wie die
der in den letzten Jahren beschriebenen Pseudobulbärparalyse ohne anato-
mischen Befund. Die französische Schule hat ohne hinreichende Begründung
die Pseudosklerose der Hysterie zugerechnet, trotzdem intra vitam keine
hysterischen Symptome nachzuweisen waren.
Prognose. In Bezug auf Heilung ist die Vorhersage durchaus un-
günstig, wenngleich vereinzelte Fälle von Chaecot und seinen Schülern
mitgetheilt sind, wo diese eingetreten sein soll. Da es sich meist um
Fälle älteren Datums handelt, so ist unbedingt an hysterische Imitation der
Sklerose zu denken. Manche, im frühesten Kindesalter auftretenden Formen,
über deren Zugehörigkeit zur Herdsklerose sich noch streiten lässt, scheinen
stationär bleiben zu können. Heilung vortäuschende Remissionen sind ziemlich
häufig. Die ausgesprochene typische Herdsklerose wird gelegentlich im Laufe
der Zeit durch solche Remissionen atypisch, rudimentär, eine „forme fruste^"
bei der nur Reste vorhanden gewesener Affectionen zu finden sind.
Leider ist das nur für einen bestimmten Theil der Fälle Regel. In an-
deren Fällen gestaltet sich die Prognose ganz ungünstig, indem der Verlauf
ein foudroyanter ist. In Fällen mit Perioden augenscheinlichen Stillstandes ist
die Lebensdauer eine längere, als in den gleichmässig zunehmenden Fällen.
Als mittlere Dauer gilt 5 — 10 Jahre. Das Leiden kann sich jedoch über
Decennien erstrecken, sobald nicht die bulbären, lebenswichtigen Centren von
einem Plaque zufällig ergriffen werden. Das letzte Krankheitsstadium ist
ausgezeichnet durch die allmählich immer stärker werdende allgemeine Er-
nährungsstörung, durch schliessliche Lähmung der Extremitäten, Blasenmast-
darmincotinenz und Decubitus. Der Tod erfolgt unter zunehmender Schwäche
und durch intercurrente Krankheiten (Schluckpneumonie, Pyelonephritis), zu-
weilen in einem apoplectischen Anfalle.
SCORBUT. 455
Therapie. Die Therapie ist der Herdsklerose gegenüber ziemlich
machtlos. Physische Ruhe und Abhaltung deprimirender Ein-
flüsse können wesentliche IJesserung bewirken. Die spontane Tendenz zu
Remissionen und zur Rückbildung sucht man durch verschiedene Resorbentia,
Avie Jod- und Quecksilherprcl])arate zu fördern. Durch methodische Heil-
gymnastik wird zuweilen die Unsicherheit der Bewegungen deutlich ge-
bessert. Ein milder galvanischer Strom am Rücken und Kopfe soll
manchmal von günstigem Einflüsse sein. Faradische Reizung der spastisch
Contrahirten Muskeln ist zu vermeiden. Milde Kai twass er cur und kohlen-
säurehaltige Thermen (Nauheim) werden ab und zu von Erfolg gekrönt.
Schlecht vertragen Averden dagegen heisse Bäder.
Von örtlichem antiphlogistischen und allgemein diaphoretischem
Verfahren will Oppenheim bei acut recidivirenden Anfällen der Herdsklerose
augenfällige Erfolge gesehen haben. Den inneren Mitteln lässt sich leider
nicht viel Gutes nachsagen. Die gepriesenen Alkaloide: Veratrin, Atropin,
Fhysostifjmin leisten ebenso wenig, wie das traditionelle Sühemitrat oder Ergo-
tin und Arsen in subcutaner Injection. Sehr problematisch ist ebenfalls die
Wirkung des Chlorgolds und des i^hosphorsauren Zinks. Die von manchen
französischen Klinikern warm empfohlenen Strychnin- und Solaninpräparate
sollen beim Zittern vorübergehenden Nutzen bringen.
Bei Frauen ist speciell die Gravidität von ungünstigem Einfluss, da
im Wochenbett eine rapide Fortschreitung des Leidens beobachtet zu werden
pflegt. Wo exogene toxische Schädlichkeiten in Frage kommen, muss die
Beschäftigung mit den Giftstoffen sofort aufgegeben werden. higier.
Scorbut. Purpura scorhutica. Scharhock. Der Scorbut ist eine er-
worbene, mit Anämie, Cachexie und hämorrhagischer Diathese einhergehende,
meist epidemisch oder endemisch auftretende, acute oder subacute Krankheit,
die besonders durch die fast nie fehlende krankhafte Veränderung des Zahn-
fleisches charakterisirt ist. Obgleich schon früher ähnliche Krankheitsbilder
geschildert sind, datiren doch die ersten, sicheren Mittheilungen über Scorbut
aus dem Mittelalter, in dem er grosse Verheerungen unter den Landbewohnern
und besonders unter den Seefahrern anrichtete. Wo irgend eine grössere
Landexpedition — Pilgerfahrten, Kreuzzüge, Kriege — unternommen wurde,
wo Anhäufungen von Menschen stattfanden, auf vielen Seereisen war der
Scorbut ein häufiger, sehr gefürchteter Gast, der viele Menschenleben forderte.
Uns klingen die Berichte über frühere Scorbutepidemien fast sagenhaft, denn
mit dem Fortschreiten der Hygiene, mit der Besserung der Wohnungs- und
Nahrungs- Verhältnisse, vor allem aber durch die bessere Verproviantirung
der Schiffe mit Conserven aller Art, ist der Scorbut immer seltener geworden,
so dass viele Aerzte niemals Gelegenheit finden denselben aus eigener An-
schauung kennen zu lernen. Wo der Scorbut aber heut zu Tage noch
auftritt, ist er auch fast stets an ungünstige hygienische Zustände, an Noth
und Elend gebunden. Die letzte grössere Epidemie herrschte während der
Belagerung von Paris 1870 — 71, als die schrecklichste und inhumanste Kriegs-
waffe, der Hunger, in's Feld rückte.
Man würde jedoch fehlgehen, wenn man den Scorbut heute für eine
bedeutungslose, überwundene Plage hielte, die nur historisches Interesse hat,
denn sporadisch wie endemisch spuckt sie auch jetzt noch besonders in
kälteren Zonen und ist zumal im nördlichen Russland noch gar oft zu finden.
Die Spitäler bieten zu Petersburg noch reichlich genug Gelegenheit zum Stu-
dium des Scorbut. Im Frühjahr, zur Fastenzeit, wenn der fromme Russe nur
Fische, Obst, Vegetabilien gemessen darf, findet derselbe fruchtbaren Boden
unter dem Proletariat, während der besser ernährte und auch weniger orthodoxe,
wohlhabendere Theil der Bevölkerung gegen denselben fast immun ist.
456 SCORBÜT.
Symptome: Der BegiDn des Scorbut ist meistens ein acuter, nur
selten findet man mehrwöchentliche Prodrome mit unbestimmten Störungen
des Allgemeinbefindens. Das erste und in leichten Fällen zuweilen einzige
Erscheinung ist die Änaemia scorhutica (Cachexia scorbutica). Der Kranke
bekommt eine blasse, fahle Hautfarbe; die Haut erscheint trocken, ab-
schilfernd, welk. Eine erhebliche Mattigkeit und Abspannung, Unlust zur
Thätigkeit, Appetitlosigkeit, vage Schmerzen in Knochen und Gelenken stellen
sich ein; Herzklopfen, Kopfschmerzen quälen den Kranken. Erwecken diese
Symptome auch in Gegenden, wo Scorbut epidemisch oder endemisch herrscht,
den Verdacht, so wird dieser erst •zur Gewissheit, wenn sich die Gingivitis
scorbutica hinzugesellt, ein wichtiges Charakteristicum des Leidens, das
allerdings, wenn auch sehr selten, fehlen kann, woraus dann diagnostische
Schwierigkeiten erwachsen. Das Zahnfleisch schwillt zunächst am Alveolar-
rande an, wird schmerzhaft, bekommt eine blaurothe, livide Farbe, er-
scheint gewulstet und aufgelockert und blutet bei der geringsten Berührung,
Die Schwellung fehlt oder ist nur w^enig ausgesprochen an leeren Alveolen
und tritt daher bei zahnlosen, alten Leuten wenig in den Vordergrund. Die
Zähne werden locker. In hochgradigen Fällen nimmt das Zahnfleisch eine
blauschwarze Färbung an, es kann zur Bildung von Geschwüren, die mit
leicht blutenden Granulationen bedeckt sind oder auch zu diphtheroiden Zer-
störungen, zu Gangrän mit Ausgang in Narbenbildung kommen.
Ein starker Foeter ex ore macht sich zur Qual des Kranken und seiner
Umgebung geltend, Speichelfluss ist oft vorhanden. Dabei ist die übrige
Mundschleimhaut wenig oder gar nicht verändert, nur eine Angina scorbutica
ist zuweilen beobachtet. — Die hämorrhagische Diathese, die sich schon durch
die hervorragende Neigung des entzündeten Zahnfleisches zu Blutungen
kundgibt, ist der Ursprung der weiteren Erscheinungen, welche das Bild des
Scorbut vervollständigen. In Haut-, Schleimhaut- und Organblutungen fin-
det die hämorrhagische Diathese ihren Ausdruck. Besprechen wir kurz
die durch den Sitz und die Ausdehnung der Blutungen gegebenen Anomalien.
Die Blutungen in der Haut treten besonders an den Stellen auf, die
irgend einem Trauma ausgesetzt waren, stehen aber in gar keinem Verhältnis
zu der Heftigkeit desselben. Das geringfügigste Trauma genügt, um aus-
gebreitete Hämorrhagien auszulösen, ein für diese wie für jede andere an-
geborene oder erworbene hämorrhagische Diathese charakteristisches Moment.
Die Formen der Hautblutungen sind verschiedenster Art: Man findet einfache
Petechien, Vibices (streifenförmige Blutungen), Suffusionen, hämorrhagische
Papeln {Liehen scorbuticus), die auch den Follikeln entsprechend angeordnet
sein können (Acne scorbutica). Seltener sind quaddelartige, durch Blut-
extravasate bedingte Erhebungen (Urticaria scorbutica), Blutblasen {Herjjes
und Pemphigus scorbuticus). Während alle diesen leichteren Formen auch
bei der Purpura simplex et haemorrhagica vorkommen, sind ausgedehnte, in
dem subcutanen Bindegewebe gelegene, hämorrhagische Herde (Ecchymome,
Infarcte) fast nur der Purpura scorbutica eigen. Diese grossen, sich zu-
weilen über ganze Gliedmaassen erstreckenden Blutergüsse bilden harte, auf
Druck meistens empfindliche Tumoren, über die eine normal gefärbte Haut
hinwegzieht. Sind die Stellen umschrieben, so bezeichnet man sie wohl auch
als scorbutische Sklerosen. Auch Blutergüsse an den Nägeln kommen vor und
bedingen die Onychia scorbutica. — Alle diese Blutextravasate pflegen durch
Ptesorption zu schwinden, das ist aber nicht immer der Fall, Es kann auch
zu einem nekrobiotischen Zerfall der betroffenen Hautstellen kommen, und
dann entstehen besonders nach vorausgegangener Blasenbildung die JJlcera
scorbutica: Diese sind durch schwammige, leicht blutende, oft üppig wuchernde,
die Umgebung überragende Granulationen, einen oft verdickten Rand, einen
lividen Hof und geringe Tendenz zur Heilung gekennzeichnet; zuweilen bilden
SCORBUT. 457
sich feste blutige Schorfe, die sich staffelartig auf einander thürraen können
{Rupia scorbutica). Alle diese Geschwüre sind selten sehr gross und
heilen nach langem Bestände mit platter, beweglicher, stark pigmentirter
Narbe. Ausser diesen Continuitätsstorungen der Haut können tiefgehende,
grosse Abscesse durch eitrigen Zerfall subcutan gelegener Blutherde entstehen,
die ja nicht ohne erhebliche Gewebsstörungen bleiben.
Nächst der Haut sind die Schleimhäute häufig der Sitz von Petechien
und Suffusionen, häufiger aber noch die Quelle von Hämorrhagien, die be-
sonders durch die Menge des verlorenen Blutes die grössten Gefahren für
den Kranken bedingen können. So bringen heftiges Nasenbluten, Blutungen
im Tractus gastro-intestinalis denselben oft an den Rand des Grabes; letztere
können vollkommen latent verlaufen und nur durch die plötzliche Steigerung
der Anämie, durch Syncope und Collaps sich kundgeben. Wo letztere Er-
scheinungen eintreten, denke man stets an Magen- oder Darmblutungen, und
beachte die Fäces, die je nach dem Sitz der Blutung bald rothbraun, bald
mehr theerartig gefärbt sind. — Weniger durch die Grösse des Blutverlustes
als durch den Sitz sind die Hämorrhagien in den anderen Körpertheilen
und den edlen Organen von Bedeutung. Die Muskeln sind nicht selten
von Blutergüssen durchsetzt, welche die Muskelfasern comprimiren und
secundär zur Atrophie führen können. — Sub periostale Blutungen
sind relativ häufig und führen zu periostitischen Processen. Blutungen in
das Knochenmark kommen vor und führen zu einer hämorrhagischen
Osteomyelitis und Ostitis, welch' letztere oft den Charakter der rareficirenden
hat. Es sei hier noch hervorgehoben, dass man auch sonst noch manche Interesse
erregende Anomalie an den Knochen im Verlaufe des Scorbut gefunden hat.
Zunächst kommt eine Lockerung der Epiphysen vor, welche besonders an den
Rippen auftritt; Blutergüsse bewirken dieselbe. Nicht so klar ist immer der
Vorgang bei den beobachteten spontanen Trennungen alter, geheilter Knochen-
brüche im Verlaufe des Scorbut, wie bei der Veränderung der Consistenz und
Cohärenz der Knochensubstanz; die Knochen werden weich, biegsam oder
auch brüchig. — Es ist leicht begreiflich, dass auch die Gelenke wie die
serösen Höhlen der Sitz von Blutergüssen und durch diese bedingten ent-
zündlichen Zustände werden können, was natürlich das Krankheitsbild zu
einem sehr ernsten gestaltet. Im einzelnen auf alle Erscheinungen und Folge-
zustände der Blutungen in seröse Höhlen einzugehen, ist wohl an dieser
Stelle ebenso wenig nöthig, wie die detaillirte Schilderung all' der mannig-
fachen Symptome und Gefahren, die durch Blutergüsse in das Parenchym
innerer Organe bedingt sind. Dieselben werden natürlich je nach der Function
des betroffenen Organs, je nach der Ausdehnung sehr variiren. In Hämoptoen
sich äussernde Lungenblutungen, keilförmige Infarcte der Lungen, der Milz,
der Nieren, Hämorrhagien der Leber können auftreten und das Leben ge-
fährden. Im Hirn- und Rückenmark können Blutergüsse erfolgen und Er-
scheinungen gesteigerten Druckes, diffuser Entzündungen, herdförmiger Zer-
störungen bewirken. Kurz das Krankheitsbild kann die verschiedensten Gestal-
ten annehmen, die alle ihren Ursprung in der hämorrhagischen Diathese nehmen.
Zu dieser Trias der Symtome, der Anämie, der Gingivitis, hämorrhagi-
schen Zerstörungen gesellen sich oft Fieberbewegungen, auch ohne dass Ent-
zündungen secuudärer Natur sie auslösen; irgend ein bestimmter Typus ist
dem Fieber nicht eigen. Auch Albuminurie ist; natürlich abgesehen von einem
durch etwaige Hämaturie bedingten Eiweissgehalt, oft vorhanden, ist aber nie
recht hochgradig. Die Völle des Pulses ist umgekehrt, die Frequenz des-
selben direct proportional dem Grade der Anämie.
Endlich ist noch einiger Complicationen zu gedenken, die oft das Lebens-
ende beschleunigen: Erysipel, Phlegmone, Gangrän, Pneumonie, Gangraena
pulmonum, Endocarditis, Nephritis sind als solche zu nennen.
458 SCORBUT.
Jedes Lebensalter kann vom Scorbut heimgesuclit werden. In dem ersten Lebens-
jahre begegnet man bei rachitischen Kindern einer scorbutähnlichen Erkrankung, welche
als BARhow'sche Krankheit*) bezeichnet wird. Die Säuglinge werden anämisch und haben
heftige Schmerzen in den Extremitäten. Als Ursache dieser findet man ausgedehnte Blu-
tungen in die Musculatur und unter das Periost. Hämorrhagien in der Haut und aus dem
Zahnfleisch gesellen sich hinzu. Ich habe dieses Krankheitsbildes hier Erwähnung gethan,
trotzdem dasselbe sich nicht mit dem Scorbut deckt. Dasselbe giebt bei einer der Eachitis
angepassten Regelung der Ernährung eine gute Prognose.
Der Verlauf des Scorbut gestaltet sich je nach der Schwere der Er-
krankung sehr verschieden. Bald verläuft derselbe abortiv, es ist mit der
Anaemia scorbutica abgethan, bald kommt es zu den schwersten Zuständen
und unter den Erscheinungen hochgradigster Anämie, unter Lähmungen und
Krämpfen, die das Bild einer Intoxication gewähren, oder unter Symptomen
der Erkrankung eines mitergriffenen edleren Organs tritt der Tod ein. Pro-
fuse Blutungen aus Schleimhäuten oder Gehirnblutungen können denselben
auch ganz unerwartet bewirken. — Zwischen den Extremen gibt es natürlich
zahlreiche Abstufungen. Dementsprechend schwankt die Dauer von weni-
gen Wochen bis zu vielen Monaten. Die Reconvalescenz ist stets eine sehr
langsame. Recidiven sind möglich.
Ursache und Wesen des Scorbut: Die klinischen und epidemio-
logischen Beobachtungen lenken bei der Erforschung der Ursache des Scor-
buts sofort die Aufmerksamkeit auf die Lebens- und Ernährungsweise der
Betroffenen. Der Umstand, dass der Scorbut nur die Menschen trifft, welche
unter ungünstigen Lebensbedingungen in grossen Massen eng zusammen-
gedrängt leben, dass schlecht verproviantirte Schiffe, belagerte Städte, Trup-
pen, Gefängnisse etc. besonders vom Scorbut heimgesucht werden, liess
die Forscher in der Nahruüg, Wohnung und Aehnlichem die Ursache des Lei-
dens suchen, und sehr mit Recht. Ist es einestheils sicher, dass feuchte
Wohnungen, Kälte, schlechte Luft etc. zu Scorbut führen, so ist es anderer-
bets nicht zu bezweifeln, dass mangelhafte Ernährung, schlechtes Wasser
bei den Scorbutepidemien eine grosse Rolle spielt, weshalb man ja auch den
Sciorbut direct als Inanitionskrankheit bezeichnet hat. Die Frage ist
nun aber, ob die schlechte Gesammternährung als solche, oder der Mangel,
resp. der Ueberfluss an einem bestimmten Nahrungsmittel, oder die längere
Zeit währende, einseitige Ernährung, der Mangel an Abwechslung dabei die
Hauptrolle spielen. Die Beobachtung, dass gerade die Schiffe, die vor der
Erfindung der vorzüglichen Conserven nur auf Pökelfleisch und Schiffszwieback
bei langen Reisen angewiesen waren, die Brutstätten des Scorbut bildeten, dass
dieser mit der besseren Verproviantirung der Schiffe so gut wie erloschen
ist, — die Erfahrung, dass der Scorbut heut zu Tage nur diejenigen Schiffe
heimsucht, die wegen unvorhergesehener Verlängerung der Reise schlecht mit
frischen Nahrungsmitteln versorgt waren (so bei Nordpolexpeditionen) — sie
forderten zunächst auf, der Ernährung auf den Schiffen das Augenmerk zu-
zuwenden. Es war ganz logisch anzunehmen, dass man so am ehesten dem
Wesen des Scorbut auf die Spur kommen wird. Aber die Ergebnisse dieser
Forschungen sind alle nicht zu unserer Zufriedenheit ausgefallen. Es sind
verschiedene Theorien aufgestellt worden, Bachstkom beschuldigt die ein-
seitige Fleischnahrung, Garrod — eine sehr viel bewunderte Theorie — den
Mangel an kohlensauren und pflanzensauren Kalisalzen in der Nahrung,
Cantani den Mangel an Pflanzensäuren, andere den zu reichen Kochsalz-
genuss mit dem eingepöckelten Fleisch. Keine von diesen Theorien, von denen
möglicherweise jede etwas wahres enthält, ist aber sicher bewiesen. Füt-
terungsversuche an Thieren, die zur Stütze einer jeden angestellt sind, haben
alle im Stich gelassen, es ist nicht gelungen ein scorbutähnliches Krankheits-
*) Vergl. Artikel „BARLow'6r7ie Kranl-heü" , Bd. I. pag. 150.
SCORBUT. 459
bild zu erzeugen. Das ist nun vielleicht gar nicht wunderbar, denn einerseits
brauchen die Thiere nicht jeder Erkrankung des Menschen auch zugänglich zu
sein, andererseits kann man sich doch auf den Standpunkt stellen, dass all'
die genannten Momente — für die Prophylaxe gewiss von grosser Wichtigkeit — ,
doch nur indirecte Ursache bilden, und die Disposition zum Scorbut schaffen,
dessen directe Ursache bisher nur vermuthet werden kann. Dass die Ver-
nmthungen unsere Aufmerksamkeit zunächst auf das bakteriologische Gebiet
lenken, ist sehr naheliegend, da doch manches dafür spricht den Scorbut den
Infectionskrankheiteu anzureihen. Sogar die Contagiosität ist von russischen
Verfassern demselben zugesprochen worden, jedoch, wie es scheint, mit Unrecht.
Man hat nun versucht die Frage experimentell zu prüfen, indem man das
Blut scorbutischer Thieren einimpfte; jedoch sind die Ergebnisse dieser Ueber-
tragungsversuche doch noch recht zweifelhaft, ebenso wie die bakteriologische
Prüfung bisher keinen positiven Anhalt geboten hat. Wir thun deshalb gut die
Frage noch als eine offene zu betrachten, festzuhalten, dass wir unhygienische
Verhältnisse als Ursache kennen. Ob diese das Ganze erschöpft, es sich nur
um eine Ernährungsanomalie handelt, oder ob die schlechte Lebens- und Er-
nährungsweise nur die Piolle indirecter Ursachen, disponirender Momente
spielen, und das eigentliche ätiologische Agens bakterieller Natur ist, lassen
wir in suspenso. Vielleicht wird diese Frage zugleich mit derjenigen nach
der Ursache der Purpura simplex und der Purpura haemorrhagica (Morbus
maculosus Werlhofii) erörtert werden müssen, Krankheiten, die mit dem Scorbut
nahe verwandt sind und von vielen nur graduell von letzterem unterschieden
werden. — Als vielleicht wichtig für die aetiologische Erforschung des
Scorbut sei hier noch erwähnt, dass Uebertragungen des Scorbut von der
scorbutischen Mutter auf den Fötus sicher beobachtet sind. — Als disponirende
Momente will ich hier noch zum Schluss kurz vorausgegangener Erkrankung
an Typhus, Malaria etc. gedenken, dagegen gehe ich nicht weiter auf die
Anschauung einiger Autoren, die den Scorbut als Nervenkrankheit auffassen,
ein; ihre Beweise für diese Theorie scheinen auf ganz schwachen Füssen zu
stehen.
Noch weniger als die Ursache ist das Wiesen des Scorbut uns klar.
Trotz zahlreicher Untersuchungen wissen wir nicht, welcher Art die Blut-
anomalie ist, welche die Anämie und vor allem die hämorrhagische Diathese
auslöst, da specifische Veränderungen bisher nicht gefunden sind. Ver-
minderung der Zahl der rothen Blutkörperchen, Leukocytose, Mikrocytose,
Poikilocytose sind gefunden worden, sie erklären aber alle den Process nicht.
Chemische Veränderungen des Blutes (verminderte Alkalescenz) sind mehr
vermuthet als bewiesen. Wir wissen nur, dass die rothen Blutkörperchen
schnell an Zahl abnehmen, noch schneller ihr Hämoglobingehalt, der dann
auch in der Reconvalescenz noch nicht zur Norm zurückgekehrt ist, wenn
das Minus an rothen Blutkörperchen wieder ausgeglichen ist. Hoffentlich
bringen die neueren Methoden der Blutuntersuchung mehr Aufklärung.
Anomalien der Blutgefässe sind oft gesucht, aber niemals gefunden; wir
werden also einen Eintritt der Blutungen per diapedesin annehmen müssen.
Diagnose: Acut eintretende Anämie, Gingivitis und hämorrhagische
Diathese sind für die Diagnose maassgebend. Wo diese Symptome nicht alle
vorhanden sind, vor allem die Gingivitis fehlt, können Schwierigkeiten bei
der Diagnose obwalten, wobei zuweilen der Genius epidemicus ausschlaggebend
sein wird. Gegenüber der Purpura haemorrhagica ist neben der Gingivitis,
noch auch auf die subcutanen Ecchymome, die intramusculären, subperiostalen
Blutungen Werth zu legen. Zu beherzigen ist, dass die Gingivitis in ähnlicher
Form nur noch bei der Leukaemia acuta vorkommt, die durch den Milztumor,
die Lymphdrüsenschwellungen, die Blutanomalie leicht der Erkennung zu-
gänglich ist, — Die mit Blutungen einhergehenden Infectionskrankheiteu
460 SCORBUT.
(Variola, Endocarditis ulcerosa, Typhus exantliematicus etc.) sind durch ihre
sonstigen Symptome leicht abzugrenzen.
Die Prognose ist in nicht allzuschweren Fällen, wo eine Aenderung
der Ernährungs- und Lebensweise sofort erfolgen kann, meistens gut, wenn
sie auch mit Sicherheit nicht gestellt werden kann. Der Grad der Anämie,
die Heftigkeit etwaiger Schleimhautblutungen, die Betheiligung edler Organe
werden neben der Resistenzfähigkeit des Kranken für die Prognose maass-
gebend sein.
Pathologische Anatomie: Die anatomischen Befunde ausführhch wiederzugeben
würde erfordern die gesammten, durch Hämorrhagien direct und indirect bewirkten patho-
logischen Veränderungen im Körper zu schildern, was den Rahmen dieses Aufsatzes über-
schreiten würde. Aus dem Gesagten wird man sich leicht alles selbst construiren. Die
Zeichen des Blutergusses, der Entzündung und der Nekrose werden überall die herrschen-
den sein. Alle Organe können der Sitz dieser pathologischen Zustände werden.
Therapie. Von höchster Bedeutung ist die Prophylaxe, welche die
mannigfachen Gesetze der Hygiene zu verwirklichen und in traurige, sociale
Zustände bessernd einzugreifen haben wird. Kalte, feuchte, schlecht ventilirte
Wohnungen, besonders Massenquartiere sind zu räumen, für Aufenthalt in
frischer Luft ist zu sorgen, jeder ungenügenden und auch jeder einseitigen
Ernährung nach jeder Richtung hin vorzubeugen. Wo der Ritus, wie in
Russland zur Fastenzeit („Fastenscorbut"), eine ungeeignete Kost vorschreibt,
wird man, sobald Scorbut zu befürchten steht, demselben auf jede mögliche
Weise entgegenzutreten haben; allerdings dürfte in diesem Kampfe der Hygiene
mit der Kirche erstere nicht Siegerin bleiben. Besonders sorgfältig hat man
darauf Bedacht zu nehmen, dass Schiffe stets mit Conserven aller Art und
frischem Wasser in überreichem Maasse ausgerüstet, Truppen und Festun-
gen gut verproviantirt, Massenansammlung von Menschen (Pilgerzüge) mög-
lichst verhütet werden. — Eine Isolirung des einzelnen Kranken ist nach
unserem bisherigen Wissen nicht zu rechtfertigen, selbst wenn die Ursache
des Scorbut bakterieller Natur ist. — Ist jemand an Scorbut erkrankt, so ist
die sofortige Ueberführung des Patienten in andere, natürlich bessere Ver-
hältnisse sofort anzubahnen; ein Ortswechsel ist da oft das wirksamste.
Specifica gegen Scorbut gibt es nicht, so viele Mittel auch gemäss der gerade
herrschenden Theorie als solche gepriesen worden sind. Kalisalze, Citronen-
säure, Bierhefe, grüne Gemüse und Obst haben alle ihre Stellung als Panacee
nicht behaupten können, wenn jedes dieser Mittel auch hier und da gute
Dienste leisten kann. Man verfährt also symptomatisch: Man bringt den
Kranken, sobald die hämorrhagische Diathese sich zeigt, zu Bett in einem
gut ventilirten Zimmer und sorgt für passende Ernährung, in der man vor
allem auch auf Abwechslung bedacht sein muss: Frisches Fleisch, Milch,
Gemüse, viel Früchte (Citronen- und Apfelsinen) kann man unter sorgfältiger
Berücksichtigung des Zustandes der Verdauungsorgane und etwa vorhandenen
Fiebers anordnen; Alkohol ist bei kleinem Pulse am Platze. Für regelrechte
Verdauung, Anregung des Appetits muss man sorgen; warme Bäder, bei gutem
Kräftezustande auch kalte Abreibungen thun dem Kranken wohl. Als Medi-
camente sind zu nennen: >SäMrm (frisch ausgepresster Citronensaft) , leichte
Eisenpräparate {Lig. ferr. alhuminati — Drees, 3mal tägl. einen Theelöffel.
— Lig- /"^^^'- sesquichlorat 50 : 200,0. — Pyrophosphorsaures Eisenwasser. — )
Kali aceticum oder Kali citricum, Bierhefe. Sobald heftigere Blutungen auf-
treten sind Ergotin, 1-0 pro die, oder Extr. fluid Hydrast. canadensis, 3mal tägl.
30 Tropfen, indicirt: Im übrigen wird man die Verordnungen den durch den
Sitz der Hämorrhagien bedingten Erscheinungen anzupassen haben. — Gegen
die Gingivitis scorbutica ist fleissiges Spülen mit
Tinct. Myrrhae lO'O
Tinct. Pimpinell 5'0
Ol. Menth, gutt. XX.
D. S. 10 Tropfen auf 1 Weinglas Wasser
SCROPHULOSIS. 461
oder mit Sol. Kai. chlorte, ö^/y von Nutzen; daneben wäre reine Tind. Myn-Jiae,
5% Ar(/. nur. Lösung, 10^1,^ Tminimjlycerin, 5^1,^ Cocainlösung zum Pinseln
zu empfehlen. — Ist die Anämie eine hochgradige, dann kann man subcutane,
resp. intravenöse Kochsalzittfusionen anwenden; erstere können mit jedem
Irrigator und einer etwas dickeren Kanüle leicht ausgeführt werden. Gute
Dienste leistet auch die Autotransfusion, Hochlagerung der Beine und festes
Einwickeln derselben mit elastischen Binden. Natürlich wird man von den
Excitantien in allen Formen {Ol. camphoratum ; starker AlcoJiol etc.) in kri-
tischen Situationen Gebrauch machen und dadurch manchen Kranken retten,
der dem mörderischen Scorbut schon verfallen schien. jessner.
S(^TQ\i\\\x\QS\S (Scrophulose, scrofula, scrofole, scrofule, Yon ^.^scrofula,"
das Ferkel), Unter Scrophulose versteht man eine fast nur im Kindesalter
vorkommende Constitutionsanomalie, welche vornehmlich zu Erkrankungen der
Haut, der Schleimhäute, der Sinnesorgane, der Drüsen, der Knochen und
Gelenke führt. Alle diese Anomalien, an sich nicht immer specifisch, werden
durch das multiple Auftreten, durch die Hartnäckigkeit, durch die Neigung
zu Recidiven und zu tuberculöser Degeneration charakterisirt. Dabei ist
noch bemerkenswerth, dass die directen Ursachen zum Ausbruch krank-
hafter Erscheinungen bei vorhandener constitutioneller Diathese nur relativ
unbedeutender Natur sind, da den Geweben ein besonders hoher Grad von
Vulnerabilität eigen ist.
Durch diese Definition habe ich gleich meinen Standpunkt denjenigen gegen-
über gekennzeichnet, welche die Begriffe Scrophulose und Tuberculose kurzweg
identiticirt wissen wollen, alle scrophulösen Affectionen also auf Ansiedelung
des Tubercelbacillus zurückführen. Ist es auch zweifellos, dass der Tubercel-
bacillus eine grosse Rolle bei vielen im Gefolge der Scrophulose auftre-
tenden krankhaften Erscheinungen spielt, steht es auch fest, dass der Tubercel
das pathologisch-anatomische Substrat bei manchen Processen bildet, so glaube
ich doch, dass man zu weit geht, wenn man einfach „ Scrophulose '^ mit
„Tuberculose" übersetzt. Von allen scrophulösen Affectionen, so von vielen
Haut-, Schleimhaut-, Augenleiden etc. zu behaupten, dass der Tubercelbacillus
das für sie pathogene Moment bildet, soweit kann man W'Ohl kaum gehen.
Dazu berechtigt weder das klinische Bild, noch der Verlauf, noch die patho-
logische Anatomie, noch endlich der bacteriologische Befund. Wenn zahl-
reiche Einzelleiden zweifellos tuberculöser Natur sind, ist deshalb das Ge-
sammtbild noch keine Tuberculose. Allerdings wissen wir nicht, was die
Constitutionsanomalie, w^elche wir als Scrophulose bezeichnen, bedingt, aber
dass sie eine Veränderung des Organismus sui generis ist, daran muss jeder
Arzt festhalten. Man muss sich dabei auf den Standpunkt stellen, dass die
scrophulose Constitutionsanomalie zu mancherlei krankhaften Affectionen führt
und auch in einer grossen Zahl der Fälle sich als geeigneter Nährboden für
die tuberculose Infection erweist, die Disposition zur Tuberculose schaft't.
Bleiben wir also auf dem klinischen Standpunkte und wahren damit die
Selbständigkeit des Krankheitsbildes „Scrophulose/' das ja ein durchaus
typisches ist. Es mag ja sein, dass die Zukunft diesen Standpunkt als einen
vor dem wissenschaftlichen Forum nicht berechtigten erweisen wird, — wobei
allerdings auch eine andere, milde Auffassung von der Wirksamkeit des
Tubercelbacillus Platz greifen müsste, — zur Zeit ist es sicherer, bei den
Schlüssen aus der Bacteriologie etwas vorsichtig zu sein, als sich bedingungs-
los den Forderungen derselben bei der Gruppirung der Krankheiten zu er-
geben. Die vielerlei Gestaltungen, in w^elchen sich die bösen Folgen der
Thätigkeit des Tubercelbacillus uns darstellen, lassen ohnehin eine klinische
Vereinigung aller tuberculösen Anomalien oder — vorsichtiger gesagt — mit
tuberculösen Anomalien einhergehenden Krankheiten als fast undurchführbar
erscheinen. »
462 SCROPHÜLOSIS.
Die Scrophiüose ist eine Krankheit, die in allen Himmelsgegenden,
im Norden wie im Süden, auf Gebirgen wie in Thälern, bei allen Völkern,
bei allen Menschenrassen beobachtet wird, allenthalben sich eingenistet hat
und einen sehr erheblichen Theil der Krankheiten des Kindesalters ausmacht.
Ihr Alter scheint ein sehr hohes zu sein, da schon im Alterthum das Leiden
bekannt war; man verstand jedoch damals nur die Drüsenaffectionen darunter.
In hervorragendem Maasse sucht die Scrophulose die Kinder armer Leute
heim, wofür, wie wir sehen werden, die ursächlichen Momente des Leidens
leicht die Erklärung geben. Jedoch sind die Kinder wohlhabender Leute gegen
die Scrophulose nichts weniger als immun; sie ist in allen Gesellschafts-
schichten zu finden.
Die Scrophulose kann angeboren sein oder erworben; im ersteren
Fall kommt sie schon in den ersten Lebensmonaten zum Ausbruch. Häufiger
aber beginnt sie am Ende des ersten Lebensjahres und am häufigsten im
zweiten. Jenseits der Pubertät kommt ein erstes Auftreten der Scrophulose
kaum vor, Recidiven werden aber nicht selten beobachtet. Sehr gewöhnlich
ist es, dass scrophulose Affectionen, die vor der Pubertät begonnen, weit über
dieselbe hinaus fortdauern. Die als primäre Scrophulose Erwachsener be-
schriebenen Fälle betreifen nur Insassen von Gefängnissen und ähnliche Men-
schengruppen; sie finden noch Erwähnung.
Ursachen: Die scrophulose Diathese ist häufig hereditär, jedoch ist es
durchaus nicht nöthig, dass dieselbe sich als solche vererbt. Sie ist vielmehr
der Ausdruck eines vererbten Schwächezustandes, zu dem die verschiedensten
Momente Veranlassung geben können. Von Bedeutung ist zuweilen das Alter
der Eltern insofern, als einerseits hohes Alter derselben, andererseits grosse
Altersdifferenzen zwischen Vater und Mutter zur Scrophulose der Kinder
führen können. Auch die Zahl der Kinder soll von Einfluss sein; wo viele
Kinder vorhanden sind, sollen gerade die jüngsten häufiger die scrophulose
Diathese zeigen. Das körperliche Wohlbefinden der Eltern spielt eine grosse
Rolle, da alle Momente, welche dieselben in ihrer Gesundheit schädigen und
mehr oder weniger cachektisch machen, Scrophulose der Kinder bedingen kön-
nen. Solche Momente sind: der Alkoholismus, die Carcinose, die Syphilis und
vor allem die Tuberculose. Dass bei letzterer Krankheit es sich nicht um
eine directe hereditäre Uebertragung des Tubercelbacillus, sondern um eine
Vererbung einer Disposition der Gewebe, die zu scrophulösen und tuberculösen
Erkrankungen führt, handelt, kann man wohl mit Sicherheit annehmen.
Wenn man der ererbten scrophulösen Diathese die erworbene
gegenüberstellt, so soll damit nicht gesagt sein, dass da, wo wir von einer
erworbenen Scrophulose sprechen, die hereditäre Körperconstitiition gar keine
Ptolle spielt. Es ist vielmehr anzunehmen, dass letztere auch da oft von
hervorragender Bedeutung ist, und die anderen, im folgenden aufzuzählenden,
ursächlichen Momente mehr in einem indirecten Causalverhältnisse zum Aus-
bruch der Scrophulose stehen. Sie sind als Gelegenheitsursachen anzusehen,
die in dem vulnerablen Gewebe Veränderungen hervorrufen, welche bei nor-
malem Gewebe nicht eintreten würden. Es fällt das für die Anschauung von
der Bedeutung der Scrophulose im Einzelfalle insofern ins Gewicht, als wir
da, wo wir hereditäre Momente und besonders Tuberculose der Eltern an-
nehmen können, auf einen ernsteren Verlauf gefasst sein müssen, haben wir
es doch mit einem für uns unangreifbaren Factor zu thun.
Der Ursachen für die erworbene Scrophulose gibt es gar viele:
In erster Reihe steht die falsche Ernährung der Kinder, speciell die-
jenige im Säuglingsalter. Die Zahl der Kinder, welche die Mutter- oder
Ammenbrust entbehren müssen, ist ja Dank einerseits den socialen Zuständen,
andererseits der Indolenz und dem mangelhaften Verständnis für die Bedeu-
tung dieser einzig natürlichen Ernährung für den Neugeborenen, eine unge-
SCROPHULOSIS. 463
heuer grosse. Leider ist auch das zweifellos beste Surrogat der Mutter-, resp.
Ammenbrust, die Kuhmilch, noch lange nicht genug in ihrem Werthe vor allem
den bei Darreichung in den ersten sechs Lebensmonaten ungeheuer schädlichen
Amylaceen gegenüber gewürdigt. Die den Kindern in grossen Mengen zugeführ-
ten Kohlehydrate legen gar oft die Grundlage zur späteren Scrox)hulose, wie
zu der Rachitis, mögen die Kinder auch im ersten Jahre fett und rund werden
und scheinbar prächtig gedeihen; die Eltern lassen sich dadurch gar gerne
über die drohende Gefahr constitutioneller Anomalien trotz aller Warnungen
hinwegtäuschen. Es ist dabei kein grosser Unterschied, ob die Kinder mit
„Muss," Kartoffeln, Zwieback, Kringel oder den ebenso beliebten wie theueren,
mehr oder weniger klangvolle Namen führenden Kindermehlen aufgepäppelt
werden; die Folgen sind gar oft die gleichen. Dass dieselben nicht immer
eintreten, das beweist natürlich nichts gegen den Zusammenhang; das beweist
nur, was eine gut angelegte Constitution alles aushalten kann, ohne zu ent-
gleisen.
Betreffs der Kuhmilch will ich nicht unerwähnt lassen, dass auch diese,
sofern sie von an Perlsuchf, der ätiologisch mit Tuberculose identificirten
Krankheit, leidenden Kühen stammt und nicht sterilisirt verabreicht wird,
zur Scrophulose soll führen können. Allerdings ist diese Anschauung auch
mehr theoretisch construirt als klinisch und empirisch festgestellt, da der
Nachweis der Abstammung einer Scrophulose von der dem Kinde gegebenen
Milch perlsüchtiger Kühe in keinem Falle geführt w^orden ist.
Es ist aber nicht nur das Säuglingsalter, in dem falsche Ernährung zu Scrophulose
führt, auch jenseits desselben sehen wir dieselben Folgen, wenn die Kinder, wie nicht
selten, Brot und Kartoffeln im üebermaass permanent ihrem Magen einverleiben. Wenn
auch die einseitige Fleischkost, wie sie mit Vorliebe in wohlhabenden Familien den Kindern
jetzt gegeben wird, nicht Billigung finden kann, so ist das andere Extrem, das Ueber-
stopfen mit Kohlehydraten, erst recht zu verwerfen. In der Ernährung ist jedes
Zuviel und jedes Einseitige ungesund.
Doch nicht nur die Ernährung, sondern alle unhygienischen Ver-
hältnisse rufen die Scrophulose hervor oder begünstigen ihren Ausbruch.
Da ist vor allem die schlechte Luft, wie sie in den Massenquartieren
grosser Städte, in den oft von mehreren Familien und einigen Schlafturschen
bewohnten Stuben zu finden ist, von grosser Bedeutung. Diese dumpfe, sauer-
stoffarme, kohlensäurereiche, oft geradezu pestilenzialische Luft kann natür-
lich nicht ohne Rückwirkung auf den zarten Organismus der Kinder sein.
Erwähnt sei aber, dass in dieser Richtung auch bei besser situirten Leuten
viel gesündigt wird. Gar oft findet man in den Kinderstuben ängstlicher,
stets in Furcht vor Erkältung des Säuglings schwebender Leute eine Luft,
die auf eine ganz mangelhafte Ventilation deutet und nichts weniger als
kräftigend wirken kann, zumal ja ohnehin nicht die besten Zimmer für die
Kinder bestimmt zu werden pffegen. — Neben dem Mangel an guter Luft ist
auch der Mangel an Licht sehr zu beachten. Wir wissen nicht, welcher
Art der Einfluss der Lichtstrahlen auf die constitutionellen Verhältnisse ist,
aber soviel scheint doch aus allen Beobachtungen hervorzugehen, dass einer-
seits denselben ein nicht zu unterschätzender und noch nicht genügend ge-
würdigter Werth zukommt, andererseits die wohlthuende W^irkung nicht nur
auf Rechnung der Wärmestrahlen zu setzen ist. Bei der ümstimmung der Con-
stitution, welche See-, Gebirgs- oder einfacher Landaufenthalt hervorrufen,
spielt die bessere Bestrahlung vielleicht eine grössere Rolle, als man vermu-
thet. Man bedenke nun aber, in wie manche Wohnung armer Leute in
grossen Städten niemals ein Sonnenstrahl dringt.
Wenn unpassende Ernährung, schlechte Luft, ungenügendes Licht die
Ursachen der Scrophulose werden können, dann darf es uns auch nicht
wunder nehmen, w^enn wir da, wo alle diese Momente gleichzeitig das Ge-
deihen der Kinder gefährden, die Scrophulose am häufigsten finden: bei dem
Proletariat, in dessen Lebensweise ja eigentlich alles unhygienisch ist.
464 SCEOPHULOSIS.
Auf das Zusammenwirken all' dieser Factoren hat man auch die Krank-
heitsbilder, welche man in Gefängnissen etc. bei den erwachsenen Insassen
gefunden und als „Zuchthaiisscrophulose''^ bezeichnet hat, zurückzuführen.
Auf sicherlich mehr indirectem Wege werden Infectionskrankheiten die
Veranlassung zum Ausbruch der Scrophulose; besonders sind Masern, Scharlach
und Keuchhusten als solche zu nennen. Man geht wohl nicht fehl, wenn
man annimmt, dass die Schwächung des Organismus durch das infectiöse
Agens die schlummernden Keime der Scrophulose zu verderblichem Wachs-
thum wachruft. Hierher zählt auch die als Urheberin der Scrophulose viel-
fach beschuldigte Vaccination, der durchaus keine specifische Beziehung zu
der in Rede stehenden Constitutionsanomalie zukommt. Wo letztere nach
der Vaccination auftritt, braucht man noch lange nicht an eine Ueberimpfung
zu denken, die ja auch heute bei der ausschliesslichen Benutzung animaler
Lymphe nicht statthaben kann. Die Vaccination gibt eben nur wie jede an-
dere Infectionskrankheit Veranlassung zum Ausbruche des Leidens, zu dem
die Prädisposition aber vorhanden gewesen sein muss, mag sie ererbt oder
erworben sein.
Im Einzelfalle ist die hauptsächliche Ursache der Scrophulose nicht
immer leicht festzustellen, da ja meistens nicht ein Factor, sondern eine ganze
Reihe von Factoren mitwirken.
Symptome und Verlauf: Die scrophulose Constitution drückt dem
ganzen Organismus in den meisten Fällen seinen Stempel auf, den man als
Habitus scrophulosus bezeichnet. Es ist von praktischem Werthe ihn zu be-
achten und sich einzuprägen. Zwei Typen desselben hat man von jeher
unterschieden, den torpiden und den erethischen.
Wenn wir an dieser Unterscheidung festhalten, so muss man aber nicht
glauben, dass dieselbe stets strenge durchgeführt zu werden vermag, ein jedes
scrophulose Kind gleich in eine der beiden Rubriken gruppirt werden kann.
Es gibt da viele Zwischenstufen und Uebergänge, die es oft zweifelhaft er-
scheinen lassen, wohin der einzelne Fall zu zählen ist. Dennoch ist es zweck-
mässig die beiden Formen, wo es angeht, zu trennen, weil diese Differen-
zirung, wie wir sehen werden, für die Prognose und die Therapie oft wenn
auch nicht von fundamentaler, so doch von erheblicher Bedeutung ist, und
jeder Anhaltspunkt in dieser Richtung mit Freuden zu begrüssen und fest-
zuhalten ist.
Die mit torpider Scrophulose behafteten Kinder zeigen meistens
ein recht gut entwickeltes Fettpolster, hinter dem sich allerdings eine relativ
schwach entwickelte Muskulatur verbirgt. Ihr Aussehen ist ein schwammiges
pastöses, erscheint wie gedunsen. Die Nase ist, besonders an der Spitze, dick,
die Oberlippe wulstig, dadurch erhält ihre Physiognomie einen plumpen,
schwerfälligen Ausdruck, der — und zwar meistens mit Recht — auf eine
träge Geistesthätigkeit deutet. Auffallend ist oft der meteoristisch aufgetrie-
bene Bauch („Kartqfelbauch"). Das ist das Bild der torpiden Scrophulose,
die uns relativ wenig Sorgen macht. Ganz anders ist das Bild bei den aus-
geprägten Formen der erethischen Scrophulose: Eine zarte, weiche, blasse,
leicht bei Erregungen erröthende Haut überzieht das Gesicht der mageren,
schlankgebauten, feinknochigen Individuen; reichliches, weiches, meist blondes
Haar bedeckt den Kopf, lange Wimpern beschatten das sonst lebhafte Auge.
Der ausdrucksvolle Blick signalisirt — und zwar wiederum meistens mit
Recht — eine grosse Regsamkeit des Geistes. Die wenig kräftige Musku-
latur lässt über ihre Beschaffenheit, Dank der sehr schwachen Entwicklung
des Panniculus adiposus keine Illusionen auflcommen. Diese Form der Scro-
phulose bietet leider in den Lungen nicht selten einen geeigneten Nährboden
iiir die Tubercelbacillen und bedarf deshalb besonders der ärztlichen Fürsorge.
SCROPHULOSIS. 465
Kommen wir nun zu der Besprechungen der einzelnen Erscheinungen
auf Haut, Schleimhäuten etc., so sei von vorneherein bemerkt, dass in dem
Auftreten und der Gruppirung dieser durchaus kein gesetzmässiges Princip,
keine bestimmte Zeitfolge obwaltet. Allerdings pflegen die Drüsenleiden
später aufzutreten als die Alfectionen der Haut und Schleimhaut, Knochen-
leiden später als die Drüsenaftectionen, aber eine Eintheilung in verschiedene
Stadien, wie bei Syphilis, ist nicht durchführbar; vielmehr herrscht oft die
grösste Regellosigkeit.
a) Scrophulöse Hautaffedionen.
Die Haut gehört zu den von Aeusserungen der Scrophulöse am häu-
figsten ergriöenen Organen. Man kann die Hautaflectionen in zwei Gruppen
theilen: erstens die eigentlichen scrophulösen Hautausschläge, die man unter
dem Namen „ Scrophidoderma^^ zusammenfasst, und zweitens die Hautausschläge
bei Scrophulöse, die „scrophulösen Ekzeme.'' Letztere haben nichts speci-
fisches, s'chlagen nur auf dem scrophulösen Boden gerne ihren Sitz auf, wäh-
rend die ersteren der Scrophulöse mehr oder weniger eigenthümlich sind, das-
selbe anatomische Substrat haben wie alle scrophulösen Affectionen. Aller-
dings will man die scrophulösen Ekzeme jetzt vielfach auch als specifisch
hinstellen und entsprechend der Identificirung der Scrophulöse mit der Tuber-
culose als „tuberculöse Ekzeme" bezeichnen. Man supponirt dabei die Ent-
stehung durch Ansiedelung von Tuberkelbacillen, jedoch sind letztere bis auf
einen Fall von Demme (?) noch nicht nachgewiesen. Wir bleiben deshalb um
so lieber bei der alten Auffassung, als Anatomie und Klinik dagegen sprechen.
Das Scrophuloderma tritt nach der Eintheilung von H. v. Hebea
gern in drei Formen auf: 1. das Scrophuloderma papulosum, 2. das Scrophulo-
derma pustulosiim, 3. das Scrophuloderma tubero-ulcerosum.
Das Scrophuloderma papulosum ist identisch mit der noch heute sehr üb-
lichen Bezeichnung „Liehen scrophulosorum (Liehen UvidusY, die man aber im Interesse der
Präcisirung des Ausdruckes „Liehen" vielleicht besser aufgibt.
Das Scrophidoderma papulosum stellt sich in Form kleiner, stecknadel-
kopfgrosser, flacher, wenig resistenter Knötchen dar, die auf der Spitze oft
ein kleines Schüppchen, selten ein minimales Bläschen tragen. Die Farbe
der Knötchen ist blassroth, lividroth, eine Piöthe, die man als cachektische
bezeichnet, weil man ihr bei vielen, cachektische Individuen ergreifenden
Hautleiden begegnet. Die Knötchen treten in Gruppen auf, sind zuweilen in
Kreisform angeordnet und haben ihren charakteristischen Sitz am Stamm —
Sternum, Abdomen, Rücken; — erst bei weiterer Ausbreitung betheiligen sich
die Extremitäten, und zwar sind es dann vornehmlich die Beugeseiten, die
befallen sind. Durch Confluenz mehrerer Gruppen dichter Knötchen kann eine
scheinbar diffuse Erkrankung entstehen, bei genauerem Zusehen erkennt man
aber doch die Zusammensetzung aus einer Summe kleiner Knötchen.
Zwischen den einzelnen Gruppen können disseminirte, papulöse Gebilde
vorhanden sein. Dieselben jucken wenig, schmerzen gar nicht und schwinden
meistens nach längerem Bestände bei Besserung der Constitution durch Re-
sorption unter geringer Abschuppung der Haut, ohne Spuren zu hinterlassen.
Selten gehen sie in die folgende Form über. Andere scrophulöse Affectionen
pflegen nicht zu fehlen.
Das Scrophuloderma pustulosiim zeigt akne-artige Knötchen, die aus eitrig
zerfallenen, bis erbsengrossen, knotigen Efflorescenzen hervorgehen, sich weit
über den Körper ausbreiten und unter Zurücklassung pigmentirter, zuweilen
narbiger Hautstellen heilen. Wenn die Pusteln eintrocknen, können unter
den Krusten kleine Geschwüre entstehen, so dass man das Bild des „Ecthy-
ma" erhält. Sie sitzen im Gegensatz zur Akne vulgaris mit Vorliebe an
stark schwitzenden Stellen und breiten sich diffuse aus. Diese Form des
Scrophuloderma ist selten, ergreift heruntergekommenere Individua, kann,
Bibl. med. Wissenschaften. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. '^0
466 SCROPHULOSIS.
genau genommen, nicht als specifisch angesehen werden, wie das Scrophulo-
derma papulosum, da ähnliche Bilder auch bei anderen Cachexien vorkommen.
Hebra sen. hat das früh erkannt und daher das Leiden unter den Begriff
Akne cachekticorum" subsumirt.
Das Scrophuloderma tuhero-ulcerosum beginnt als Infiltration in den tie-
feren Hautschichten und dem Unterhautzellgewebe. Dieselbe stellt anfangs
einen derben, begrenzten, verschieblichen, flachen, knotigen, sehr wenig
schmerzhaften Tumor dar, über den die normal beschaffene Haut hinwegzieht.
Allmälig bekommt die letztere, während der Tumor erweicht, ein blaurothes
Aussehen, wird immer dünner, und schliesslich bricht der Inhalt des aus-
gebildeten kalten Abscesses durch; es entleert sich eine dünnflüssige, eitrige,
oft krümlige Partikelchen enthaltende Flüssigkeit. Die dünne, schlaffe Decke
zerfällt und wir haben dann das Bild des scrophulösen Geschwürs, das aller-
dings in gleicher Weise aus einer zum Durchbruch gelangenden, verkästen
Lymphdrüse oder aus Knochencaries hervorgehen kann. Das scrophulösß
Geschwür ist durch verdünnte, überhängende Känder, geringe Secretion,
seichte, unebene Basis, leicht zum Zerfall neigende, gelbliche Granulationen,
Torpidität charakterisirt. Trocknen die Secrete zu Krusten ein, dann haben
wir ein Rupia ähnliches Bild. Der sehr chronisch verlaufende Process spielt
sich mit Vorliebe an Hals, Gesicht, Unterschenkeln ab; es können auch meh-
rere Stellen gleichzeitig ergriffen sein. Ist, was stets lange dauert, endlich
Heilung eingetreten, dann bleiben glatte, geschmeidige, strahlige Narben zu-
rück; nur wo Drüsen- oder Knochenerkrankungen den Ausgangspunkt der
Geschwüre bildeten, sind die Narben feingezogen. — Diese scrophulösen Ge-
schwüre müssen klinisch getrennt werden von den eigentlichen tuberculösen
Geschwüren mit dem graubelegten, miliare Knötchen enthaltenden Grunde,
den zackigen Rändern, der schnellen Ausbreitung etc., wenn es auch vor-
kommt, dass sich im Anschluss an einen subcutanen, scrophulösen Abscess
ein wahres Ulcus tuberculosum entwickelt; wir können letzteres aber deshalb
nicht zu den charakteristischen Erscheinungen der Scrophulose zählen. Eben-
sowenig gehört zu diesen der Lupus vulgaris, eine andere Form der Lebens-
äusserung des in menschlicher Haut angesiedelten Tubercelbacillus. Es ist
in sehr seltenen Fällen beobachtet worden, dass ein echter Lupus vulgaris
in der Umgebung oder in den Narben scrophulöser Geschwüre sich ent-
wickelt, wir werden das aber als eine ätiologisch wohl begreifliche Complica-
tion aufzufassen haben.
Die scrophulösen Ekzeme sind bei der grossen Vulnerabilität der
Haut bei Scrophulösen in ihrer Häufigkeit verständlich auch ohne die An-
nahme eines gemeinsamen, specifischen, Erregers. Sie bilden eine ungeheure
Plage scrophulöser Kinder, zumal auch sie durch Hartnäckigkeit und Häufig-
keit der Recidive sich hervorthun. Ausserdem ist auch der Lieblingssitz der-
selben sehr geeignet ihr Vorhandensein als grosse Last empfinden zu lassen,
da sie sich meistens im Gesicht, besonders an den Nasenöffnungen, der Ober-
lippe, den Augenlidern, dem Ohr und am behaarten Kopf etabliren. An den
Nasenöffnungen und der Oberlippe hat das Ekzem häufig den Charakter des
nässenden und krustenbildenden und bedingt eine erhebliche Anschwellung
der betroffenen Theile. Von der Oberlippe pflanzt sich das Ekzem in das
Naseninnere fort, der Hautkatarrh stellt sich dort dann als Schleimhautkatarrh
dar. Oft ist es aber auch umgekehrt, letztere sind das primäre, das Ekzem
das secundäre, in Folge der Reizung der leicht vulnerabeln Haut durch Secrete
entstandene. Besonders bedenklich sind die Ekzeme am und im Naseneingang
deshalb, weil die entstehenden kleinen Rhagaden oft die Eingangspforte für
die Erreger des Erysipel bilden; manches habituelle Erysipel bei Scrophu-
lösen wird nur durch gründliche Behandlung von Ekzemen beseitigt. — Die
Augenlider sind entweder mehr diffuse von Ekzem befallen und dann meistens
SCROPHULOSIS. 467
SO geschwollen, dass die Augen absolut nicht geöffnet werden können, oder
das Ekzem localisirt sich nur am Lidrande, wo die MEiBOM'schen Drüsen
gewöhnlich in den Process mit hineingezogen werden {Blepharitis marginalis).
Der Lidrand ist verdickt, wund oder mit Schuppen, resp. Krusten belegt, die
Wimpern verkleben, werden lose und fallen bei langem Bestände des Leidens
dauernd aus. All' diese Augenlidekzeme sind gewöhnlich verbunden mit
scrophulösen Erkrankungen der Bindehaut, resp. der Hornhaut.--) Am Ohr sitzt
das Ekzem an der Innentiäche der Muschel, sich von da gerne in das äussere
Ohr als Ekzem oder Otitis externa fortsetzend, oder an der hinteren Fläche,
wo es besonders in der hinteren Ohrfurche leicht Khagadenbildung herbei-
führt.
Auf dem behaarten Kopf nimmt das Ekzem besonders gerne impetiginösen
Charakter an; es entstehen Pusteln, die eintrocknen, Krusten bilden, unter
denen die Eiterung fortbesteht, so dass es zur Secretretention oder selbst zur
Geschwürsbildung kommt. Die Haare verkleben und verfilzen, ja es kann bei
der in dem Heim scrophulöser Kinder oft vermissten Sauberkeit zur Bildung
eines Weichselzopfes kommen. In früheren Zeiten, als man solche Ekzeme
aus Unwissenheit als ein uoli me tangere betrachtete, war das häufiger der
Fall.
Air diese scrophulösen Ekzeme sind begleitet von einer Schwellung der
zugehörigen „regionären" Lymphdrüsen, worauf wir weiterhin noch einzugehen
haben w^erden.
Von den Appendices der Haut leiden die Haare, selbst wenn ausgedehnte
Ekzeme bestehen, quantitativ und qualitativ nur wxnig, dagegen haben wir
eine scrophulöse Nagelanomalie zu besprechen, die Onychia maligna.
Diese von Waldrop zuerst als scrophulöse Affection erkannte Krankheit be-
steht in einer Entzündung des Nagelbettes und Nagelwalls. Letzter schwillt
unter Erscheinungen einer schmerzhaften Entzündung an, es stellt sich Eite-
rung und Granulationswucherung ein, und nach langem Bestände kommt es
zur Abstossung des Nagels. Der an seine Stelle nach Ablauf der Entzündung
nachwachsende hat niemals die normale Beschaffenheit, ist ungleichmässig,
höckrig, formlos.
h) Scrophulöse Schleimhauterkrankungen.
Von Schleimhäuten können — abgesehen von denjenigen der gesondert
zu besprechenden beiden Sinnesorgane, Auge und Ohr, — die Athmungswege,
der Verdauungstractus, seltener die Harn- und Geschlechtsorgane bei der
Scrophulöse ergrifien w^erden.
Die Nase und der Nasenrachenraum sind besonders bei der
torpiden Form der Scrophulöse häufig krankhaft verändert. In erster Pieihe
sind es Schwellungskatarrhe mit lebhafter Secretion, denen man begegnet.
Die Schwellung kann zu einem erheblichen Athmungshindernis werden, so
dass die Kinder mit offenem Munde athmen, was das stupide Aussehen torpid-
scrophulöser Kinder noch erhöht. Diesen Charakter erhält der Gesichtsaus-
druck noch in höherem Maasse, wenn es im Nasenrachenraum zur Bildung
adenoider Vegetationen kommt. Die Folgen dieser Anomalie für Athmung,
körperliches Gedeihen und besonders für die geistige Entwicklung der Kinder
hier weiter zu erörtern, würde wohl zu weit führen; es genüge darauf hinzu-
weisen, dass dieselben recht ernster Natur sind. — Ein fast constanter Be-
gleiter hypertrophischer Nasenkatarrhe sind Ekzeme am Naseneingang, dessen
Wandungen geröthet, geschwollen, erodirt und oft mit dicken Borken so be-
deckt sind, dass auch dadurch ein Athmungshindernis gegeben ist. Von dem
Naseneingang setzt sich das Ekzem auf die stets verdickte Oberlippe fort.
*) Vergl. diesbezüglich die Artikel „BIe2)Jiaritis^ und ^Liclerlcranhwffen'' im Bande
5 Augenkrankheiten '^ .
30*
468 SCROPHÜLOSIS.
Wie schon an anderer Stelle erwähnt, können diese Ekzeme aber nicht nur
die Folge der Rhinitis sein, sondern auch den Ausgangspunkt für die letztere
bilden. Eine sehr beachtenswerthe Folgeerkrankung der hypertrophischen
Rhinitis sind auch Thränenträufeln, indem die Nasenöffnung des Ductus naso-
lacrymalis verlegt wird, und katarrhalische Erkrankungen der Conjunctiva. —
Schwellungen der Drüsen in der Regio submaxillaris fehlen nie. — Neben
diesen Schwellungskatarrh kann sich bei Scrophulose aber auch eine Atrophie
der Schleimhaut der Nase entwickeln und das Bild der Ozaena scrophu-
losa bedingen. Die atrophische Schleimhaut ist relativ trocken, secernirt
wenig; das geringe Secret trocknet zu fest haftenden Krusten ein, unter denen
es zur Bildung oberflächlicher Geschwüre kommen kann. Ein oft unerträg-
licher Foetor entströmt der Nase des Kindes und macht es zu einem geradezu
gefürchteten und gemiedenen Individuum. Dass es aus der erkrankten Schleim-
haut bei beiden Formen leicht zu Blutungen kommt, ist leicht begreiflich.
Zu beachten ist, dass die Rhinitis scrophulosa nicht zu Erkrankungen der
Knochen und Knorpel mit Ausgang in Nekrose führt, im Gegensatz zu der
sich gerade gerne in der Tiefe entwickelnden, resp. in die Tiefe fortschreiten-
den Syphilis. — Hervorgehoben sei aber an dieser Stelle, dass nicht jedes
Kind mit einer Rhinitis oder einem Ekzem der Oberlippe scrophulös zu sein
braucht; pathognomonisch sind diese Veränderungen nicht. Man muss andere
Erscheinungen, das Gesammtbild in Betracht ziehen, um diese Anomalien zu
Kriterien der Scrophulose zu machen.
Das Antrum Highmori kann im Gefolge von Nasenaffectionen bei
Scrophulose auch erkranken; chronischer Katarrh mit Secretansammlung treten
dann ein. Tiefergehende Veränderungen können durch Knochencaries bewirkt
werden.
Im Nasenrachenraum hat man zuweilen oberflächliche, torpide Ge-
schwüre auf scrophulöser Basis gefunden. Dieselben einfach als tuberculöse
zu bezeichnen, erregt aus klinischen Rücksichten entschieden Bedenken, da
besonders ihre Entwicklung und der meistens günstige Verlauf sie doch von
den eigentlichen tuberculösen Geschwüren unterscheiden, selbst wenn man die
Heilbarkeit der letzteren nicht in Abrede stellt. Schwer abgrenzbar sind diese
Geschwüre klinisch oft von syphilitischen; wo nicht andere Symptome die
Sachlage klären, bleibt oft nur übrig den Erfolg der specifischen Therapie als
entscheidendes Moment heranzuziehen. Die gleichen Geschwüre findet man
im Pharynx und besonders an den Tonsillen. Häufiger sind hier natür-
ich hartnäckige Katarrhe, Anschwellung der retropharyngealen Drüsen, Hyper-
trophie der Tonsillen.
Der ganze Athmungstr actus vom Larynx bis in die feinsten Bron-
chien kann nun gleich den obersten Luftwegen bei Scrophulose erkranken.
Ohne auf alle in Frage kommenden Leiden, Laryngitis, Tracheitis, Bronchi-
tis etc. eingehen zu wollen, sei nur betont, dass die scrophulose Basis ihnen
allen den Stempel der Chronicität aufdrückt; sie dauern lange, recidiviren leicht
und hinterlassen eine Vulnerabilität der Schleimhäute, welche die Kinder in
hohem Maasse gefährdet.
Nur der gefährlichsten Affection, der bei Scrophulose so häufige Bron-
chopeumonie sei hier besonders gedacht, da der erkrankten Lunge in
hohem Maasse die Neigung zu tuberculöser Verkäsung innewohnt, die direct
oder auf dem Wege der Basilarmeningitis, der Miliartuberculose etc. zum Tode
zu führen pflegt. Es ist deshalb die genaue physikalische Untersuchung der
Lungen, wie auch vor allem die Untersuchung auf Tubercelbacillen bei sich
länger hinziehenden pneumonischen Pocessen scrophulöser Kinder durchaus
nöthig. — An diese bronchopneumonischen und bronchitischen Processe reiht
sich oft eine zellige Hyperplasie der Bronchialdrüsen mit ihren Folgen, eine
ernste Erscheinung, die wir bald zu erörtern haben werden. — Alle diese
SCROPHÜLOSIS. 469
Affectionen der Bronchien und Lungen mit Ausgang in Tuberculose betreffen
mit Vorliebe, aber durchaus nicht ausschliesslich die er ethische Scrophu-
lose, und das ist der wichtige Punkt, weshalb die Abgrenzung nach dem
äusseren Habitus, weil prognostisch wichtig, aufrecht zu halten als zweck-
mässig angesehen werden miiss.
Nicht so häufig wie die Athmungswege, aber doch noch häufig genug,
zeigt der Verdauungscanal bei der Scrophulose krankhafte Veränderungen.
Wir finden die verschiedenen Grade von der leichten Dyspepsie bis zu der
Tahes meseraica. Man muss aber doch berücksichtigen, dass die Verdauungs-
störungen lange nicht immer etwas specifisches haben. Es muss in Betracht
gezogen werden, dass es sich besonders bei der durch falsche Ernährung be-
dingten „Fütterungsscrophulose" kleiner Kinder um Individuen handelt, deren
Verdauungstractus monatelang, ja jahrelang mit einer dem Kinde nicht
adäquaten Kost gefüllt oder sogar überfüllt war, wodurch sich Katarrhe ent-
wickeln. Diese Katarrhe in Verbindung mit einer unbekannten Noxe, die
wir auf dem dunkeln Gebiete der Disposition suchen müssen, rufen dann erst
die Scrophulose hervor, sind also ihre Ursache und nicht ihre Folge. Das
ist keine müssige Frage, denn, wo die dyspeptischen Zustände das Primäre
sind, wird die directe Behandlung derselben gleichzeitig mit ihnen die Scro-
phulose heilen, wogegen eine antidyscrasische Behandlung mit Leberthran etc.
sogar Verschlimmerung bewirken kann. — Die im Darm bei Scrophulose
beobachteten Geschwüre sind wohl den tuberculösen zuzuzählen und dem-
entsprechend als sehr ernste Symptome anzusehen. — Hyperplastische Ver-
grösserung der Mesenterialdrüsen mit oder ohne Ausgang in nekrobiotische
Verkäsung kann natürlich scrophulose Darmaffectionen begleiten.
c) Scrophulose Erkrankungen des TJrogenitalapparates.
Die Harnwege sind bei der Scrophulose, kaum direct ergriffen, eben-
sowenig die männlichen Genitalorgane, wenn wir davon absehen, dass
Thompson von einer Prostataatrophie bei scrophulösen Individuen spricht. —
Dagegen ist bei Mädchen zunäcnst die auf Grund von Scrophulose nicht
selten auftretende Vulvovaginitis mit zähem schleimig-eitrigem Secret
hervorzuheben. Die Zahl der Fälle hat sich ja, seitdem die Gonococcen-
untersuchung uns gelehrt hat, viele Vulvitiden kleiner Mädchen als gonor-
rhoische aufzufassen, erheblich vermindert, aber die Existenz der scrophulösen
Vulvovaginitis ist zweifellos. Von erheblich grösserer Bedeutung ist die
Entwicklung einer auf Scrophulose basirenden Endometritis, die dann
ihrerseits locale und allgemeine Folgen nach sich zieht und vor allem sich
gewöhnlich durch profusen Fluor auszeichnet. Sie kann auch zuweilen die
Ursache der Sterilität, wie häufiger Aborte werden. Ob auch Sterilität und
Aborte ohne nennenswerthe locale Veränderungen vorkommen, die nur durch
die scrophulose Diathese bedingt sind, lasse ich dahingestellt.
d) Scrophulose Erkrankungen des Auges.
Die Conjunctiva w^ie die Cornea sind Prädilectionssitze scrophulöser
Affectionen; diese verdienen um so grössere Beachtung, als sie gerade der
Therapie oft schwere Aufgaben stellen. Eine ganze Gruppe von Augenleiden
hat wegen des veranlassenden Momentes die Bezeichnung „scrophulös" er-
halten; es sind dies die Conjunctivitis scrophulosa (phlyctaenulosa)
und die Keratitis scrophulosa (Pannus scrophulosus ; Keratitis superßci-
<dis circumscripta; büschelförmige Keratitis). Ohne genauer auf die Sympto-
matologie dieser Affectionen (v. Bd. „Augenkrankheiten^) eingehen zu können,
gebe ich im folgenden nur eine kurze Charakteristik:
Das Hauptmerkmal scrophulöser Bindehauterkrankungen bilden
die Phlyctänen, das sind scharf begrenzte, kleine Exsudationen in Gestalt von
470 SCROPHÜLOSIS.
Knötchen und Bläschen mit trübem Inhalt. Je nach der Ausbreitung, dem
Sitz, dem Verlaufe und dem Grade der Vascularisation erhält man verschiedene
Krankheitsbilder. Bald sehen wir ein dreieckiges Büschel von Gefässen mit
einer Phlyctäne an der nach der Cornea gerichteten Spitze, bald ist die In-
jection entsprechend der grossen Zahl der gewöhnlich am Cornealrand ring-
förmig localisirten Phlyctänen eine mehr diffuse. In anderen selteneren
Fällen bilden die Letzteren grosse Infiltrate, aus denen sich ebenso wie aus
den kleinen Bläschen und Knötchen leicht mehr oder weniger grosse, ober-
flächliche Geschwüre entwickeln können. Nur sehr selten greift die Ent-
zündung tiefer und führt zu einer Skleritis.
Die Hornhaut kann primär erkranken in Form einer oberflächlichen,
circumscripten Keratitis mit relativ geringer Injection, wobei central oder
peripher sich leicht umschriebene, gelbliche oder graue Exsudate bilden, oder
secundär bei bestehender Conjunctivitis phlyctaenulosa. In letzterem Falle ist
als besonders charakteristisch die hüschelförmige Keratitis hervorzuheben;
diese entsteht, indem ein randständiges, phlyctaenuläres Infiltrat, zu welchem
büschelförmige Gefässbündel hinziehen, bandartig über die Hornhaut fortkriecht.
— Bei starker Ausbildung der Vascularisation erhalten wir den Pannus
scrophulosus, der aber nicht wie der Pannus granulosus vom oberen Corneal-
rande her, langsam vorrückend die Hornhaut überzieht, sondern an der
ganzen Cornea, riugförmig beginnend, centripetal fortschreitet. — Ob die
Keratitis diffusa parenchymatosa unter Einflusss der Scrophulose vorkommt,
ist ebenso zweifelhaft wie die primäre Iritis simplex scrophulosa. Dagegen
kann wie zu jeder Keratitis auch zu der scrophulösen bei Vernachlässigung
secundär Iritis hinzukommen.
Neben diesen fast specifischen Augenafiectionen ist die einfache, katarr-
halische Conjunctivitis bei scrophulösen Kindern durchaus kein seltenes Er-
eignis, zumal wenn Ekzeme der Lider und am Naseneingang mit Rhinitis
vorhanden sind.
Von den Symptomen aller genannten scrophulösen Augenleiden sei nur
noch besonders erwähnt die oft vorhandene bedeutende Lichtscheu, welche
sonst unbedeutende Hornhautaffectionen begleitet, und der Blepharospasmus,
der, wo er bei Scrophulose vorkommt, stets von nachweisbaren Erkrankungen
der Conjunctiva oder der Cornea herrührt.
Alle Augenafiectionen sind hartnäckig, recidiviren leicht und stehen, wie
schon erwähnt, häufig in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zu Nasen-
leiden, was hinsichtlich der Therapie sehr zu beherzigen ist.
Um vollständig zu sein, erwähne ich an dieser Stelle noch die auf scro-
phulöser Basis, besonders am Orbitalrande vorkommende Periostitis.
e) Scrophulose Ohrenerhrankungen. *).
Die Ekzeme des äusseren Gehörganges sind schon erwähnt, sie können
zu einer Otitis externa führen, die auch Zerstörungen des Trommelfelles be-
wirken kann. Oefter treten letztere im Gefolge der Otitis media auf,
deren häufiges Vorkommen uns nicht wundern kann, wenn wir uns der Ab-
hängigkeit der Otitis media von Nasenleiden und die Häufigkeit letzterer bei
der Scrophulose ins Gedächtnis zurückrufen. Die Entzündungen des Mittel-
ohres ziehen, da sie lange bestehen und oft exacerbiren können, in nicht
seltenen Fällen sehr schwere Folgen (Granulationswucherung, Zerstörungen
der Gehörknöchelchen, Entzündungen im Felsenbein mit Ausgang in Ver-
käsung, Meningitis, Sinusthrombosen etc.) nach sich, die hier einzeln nicht
besprochen werden sollen. Zweifellos gehören die Ohrenerkrankungen zu den
unangenehmsten Aeusserungen der Scrophulose, die durch dieselben nicht
selten zum Tode führt.
*=) Vergl. die bezüglichen Artikel im Bande „Ohren-, Nasen-, Kehlkopfkrankheiten"^
SCROPHÜLOSIS. 471
f) Scrophulöse Drüsenerkrankungen.
Die Drüsenerkrankungen machen einen so erheblichen Theil der scro-
phulösen Aeusserungen aus, dass man, wie erwähnt, im Alterthum diese allein
mit der Bezeichnung „Scrophulose"' deckte. Wir kennen drei Formen oder
vielmehr drei Grade der Drüsenanomalien bei Scrophulose unterscheiden:
1. die einlache, entzündliche Hyperplasie. Die Drüse bildet einen ziemlich
unempfindlichen, relativ verschieblichen, soweit sie an der Körperoberfläche
sitzt, von normaler Haut überzogenen Tumor. Derselbe ist ziemlich tor-
pider Art und kann, sofern er sich nicht bald zurückbildet, lange Zeit ohne
nennenswerthe Veränderungen bestehen, selbst weit über die Pubertät hinaus.
In anderen Fällen tritt sehr bald 2. die einfache Vereiterung der Drüse ein
unter entzündlicher Betheiligung des periadenitischen Gewebes. Es entsteht
ein Abscess, der Tumor wird weich, verwächst mit der Hautdecke, diese wird
immer dünner, und schliesslich kommt es zur Perforation. Es entleert sich
eine entsprechende Menge Eiter, dem höchstens einige Pteste zu Grunde ge-
gangener Drüsensubstanz beigemengt sind. Nach gründlicher Entleerung er-
lischt die Eiterbildung schnell, und die Sache ist damit abgethan. — Viel
schlimmer aber ist es, wenn 3. die Verkäsung der Drüse stattfindet. Auch
hier findet langsame Erweichung statt, es kommt gewöhnlich zur Perforation;
es entleert sich dünner krümlicher Eiter, der Process ist damit aber nicht
beendet. Entweder entstehen fort und fort secernirende Fistelgänge oder es
zerfällt, bei oberflächlicher Lage, die Hautdecke und wir erhalten ein scro-
phulöses, oben geschildertes Geschwür. Die Heilung ist in beiden Fällen eine
sehr langsame; mehr oder weniger eingezogene Narben bleiben das ganze
Leben sichtbar. Zuweilen kommt es nicht zur Perforation nach aussen, viel-
mehr tritt durch Kesorption eine Rückbildung und secundäre Verkalkung der
Drüse ein.
Nicht alle Drüsen sind in gleicher Häufigkeit bei der Scrophulose er-
krankt, vielmehr kommen in erster Reihe die am Halse (Unterkiefergegend,
Nacken, Ohr) gelegen, demnächst die Bronchial- und Mesenterialdrüsen, dann
erst die übrigen. Ueber die Symptome, welche durch die Affection der
Bronchialdrüsen bewirkt werden, seien hier einige Worte gesagt, da sie mehr
Aufmerksamkeit verdienen, als sie Dank ihrer versteckten Lage gemessen. Die
Entzündung der Bronchialdrüsen, welche besonders häufig in Verkäsung über-
geht, macht locale Erscheinungen nur dann, wenn sie durch ihre Grösse
raumbeengend wirken. Dann können sie an ihrem Sitz — besonders am Hilus
pulmonum — Bronchien, Oesophagus, Nerven, Venen etc. comprimiren. Im
ersteren Falle entstehen Erscheinungen von Bronchialstenose und Atelectase
des betrefi'enden Lungenabschnittes, im zweiten geben sie sich durch Schluck-
beschwerden kund. Von Nerven ist es der Nerv, laryngis recurrens, welcher
afticirt werden kann, und zwar nach zwei Richtungen: es können Reizungs-
und Lähmungserscheinungen vorhanden sein.
Zeichen der Reizung ist ein Spasmus glottidis, der zu Hustenparoxysmen
und Suffocationsanfällen führt. Häufiger findet man bekanntlich den Spasmus
als Folge vonRachitis einer oft gleichzeitig vorhandenen Schwesterkrankheit
der Scrophulose, — leicht begreiflich, da beide Fütterungskrankheiten sind.
— Hat aber die Compression vollkommene Functionsunfähigkeit des Nerv, re-
currens bewirkt, dann tritt umgekehrt Stimmbandlähmung ein.
Kommt es zur Eiterung, dann kann der Eiter in die Bronchien, — das
häufigste Ereignis, — in den Oesophagus, das Mediastinum, das Pericard
perforiren und die leicht zu construirenden Symptome bewirken. — Nur sehr
selten bilden die Bronchialdrüsen solche Tumoren, dass sie percutorisch nach-
weisbar sind.
Die Drüsenaöectionen sind in der Regel secundäre Folgen anderer scro-
phulöser Processe in dem Wurzelgebiete der betreffenden Drüsen, wenn auch
472 SCROPHÜLOSIS.
die Angabe, dass dieselben als directe Aeusserungen der Scrophulose nicht
vorkämen, unzutreffend ist. Ekzeme, Schleimhautaffectionen etc. bringen die
entsprechenden, „regionären" Lymphdrüsen zur Hyperplasie; die weiteren
Metamorphosen der Drüsen sind dann aber durchaus nicht immer vom Grund-
process abhängig; während der betrefiende ursächliche Katarrh ohne Störung
verläuft, kann die betreffende Drüse verkäsen u. s. w. Finden wir bei scro-
phulösen Kindern angeschwollene Drüsen, dann haben wir stets darnach zu
fahnden, ob nicht ein krankhafter Process in dem Wurzelgebiete sich abspielt;
finden wir einen solchen, dann schneiden wir durch Beseitigung desselben
gleichzeitig der Drüse die weitere Zufuhr krankhafter Stoffe ab.
g) Scro2}huJöse Knochen- und Gelenkerkrankungen. *)
Die schwersten und langwierigsten Krankheitserscheinungen bringt uns
die Scrophulose, wenn sie die Knochen und Gelenke ergreift. Da die dabei
entstehenden Leiden meistens Objecto chirurgischer Eingriffe werden, sei die
eingehendere Besprechung derselben den betreffenden, aus der Feder von
Chirurgen stammenden Artikeln überlassen. Hier sollen sie nur kurz skizzirt
werden. Man beobachtet Periostitis, Ostitis, Osteomyelitis scrophulosa die
alle in Caries enden können. Ebenso können die Gelenkleiden, sei es dass
sie als fimgöse Synovitis beginnen, sei es dass Ostitis der Epiphysen das
Primäre bildet, zu ausgedehnten cariösen Processen mit ungeheueren Zer-
störungen der Gelenkenden Veranlassung geben.
Als eine der Scrophulose eigenthümliche, wenn auch nicht allein eigene
Erkrankungsform ist die „Spina ventosa" der Kinder hervorzuheben. Es
besteht diese in einer Osteomyelitis, die sich an den Phalangen der Hände
und Füsse, seltener an den Metacarpalknochen und Metatarsalknochen localisirt
und eine spindelförmige Anschwellung der betroffenen Knochen bewirkt, so
dass sie in der Mitte den grössten Durchmesser haben, dieser aber nach den
Gelenkenden hin immer mehr abnimmt. Die Affection entwickelt sich schlei-
chend ohne nennenswerthen Schmerz; die Anschwellung kann lange unver-
ändert bestehen, um sich bei Besserung der Constitution zurückzubilden, es
kann aber auch mit der Zeit Eiterung und Fistelbildung erfolgen. Nicht
selten betrifft die Spina ventosa gleichzeitig eine Reihe von Knochen und
combinirt sich noch mit cariösen Processen an anderen platten und spongiösen
Knochen.
Von allen Knochen- und Gelenkerkrankungen scrophulöser Kinder ist
die gefährlichste zweifellos die Spondylitis^ deren, durch Congestionsabscesse,
Einwirkung auf das Rückenmark etc. bedingte Bedeutung eine so ernste ist,
dass die bei günstigem Verlaufe eintretende Aenderung für die Configuration
des Körpers dagegen kaum in's Gewicht fällt.
Aus dieser gedrängten Uebersicht der einzelnen scrophulösen Affectionen
geht ja klar die Multiplicität und Multiformität derselben hervor.
Wenn man nun noch in Erwägung zieht, dass, wie erwähnt in der Grup-
pirung, in der Reihenfolge, in der Zahl der Erscheinungen die grösste Varia-
bilität herrscht; so wird man leicht ermessen, dass es nicht möglich ist, ein
Gesammtbild der Scrophulose in kurzen Zügen zu zeichnen. In dem einen
Falle sind Haut und Schleimhäute, in dem andern Drüsen, in dem dritten
Knochen etc. in hervorragendem Maasse betroffen, meistens aber besteht eine
Mischung in den verschiedensten Zusammenstellungen, oder die Symptome
folgen sich in mehr oder weniger langen Zwischenräumen in bunter Reihe.
Zum Glücke sind die schwersten Erscheinungen, die Knochenleiden wie alle
*) Vergl. die bezüglichen Artikel in der Disciplin „Chirurgie" dieses Sammelwerkes.
SCROPHÜLOSIS. 473
zur Verkäsung führenden, die selteneren, während leichte Haut- und Schleim-
hautaffectionen und vor allem auch Erkrankungen des Auges und des Ohres
zu den häufigsten Aeusserungen der Scrophulose gehören.
Neben dem bösen Ende, das die Scrophulose durch örtliche Zerstörung
lebenswichtiger Organe, durch Pyämie, durch Ausgang in Tuberculose nehmen
kann, bleibt hier noch die amyloide Degeneration zu erwägen, welche so
manches Mal den Schlussact in den traurigen, qualvollen Leiden scrophulöser
Kinder bildet.
Vor allem sind es die Nieren, die durch amyloide Degeneration auf-
fallende Symptome machen: Die Kinder bekommen ein auffallend blasses, ge-
dunsenes Aussehen, Anasarca, Albuminurie stellen sich ein, und der Exitus
letalis wird unvermeidlich. Langwierige Eiterungsprocesse sind es vornehm-
lich, welche diese schwere Aeusserung der Cachexie, auslösen. Im ganzen ist
die amyloide Degeneration wohl in neuerer Zeit seltener geworden, seitdem
die Chirurgen es gelernt haben sich mit dem Messer in relativ ungefährlicher
Weise zu den verstecktesten Eiterherden Bahn zu brechen und den Eiterungs-
process abzukürzen.
Der Säfteverlust und die Durchseuchung des Körpers mit den bei
Eiterungen entstehenden Stoffwechselproducten werden dadurch hintangehalten.
Diagnose. Für die Erkennung der Scrophulose halte man fest, dass
neben den einzelnen Symptomen der Gesammthabitus und der Verlauf berück-
sichtigt werden müssen. Im allgemeinen wird die Diagnose auf „Scrophulose"
vielleicht eher etwas zu oft als zu selten gestellt. Hat das auch nicht immer
directen Nachtheil, so ist es doch nicht zu billigen. In erster Reihe wird
da gesündigt bei Schlüssen aus Hautaffectionen. Die im ganzen nicht
sehr weitgehende Kenntnis der Natur derselben hat mit der Zeit dazu ge-
führt, dass jedes Kind mit einem Ekzem des Gesichtes oder des behaarten
Kopfes unbarmherzig als scrophulös bezeichnet und mit Leberthran ge-
füttert wird, welches doch schliesslich nicht gerade in die Reihe der Genuss-
mittel gezählt werden kann. Eine ordentliche, locale Behandlung wäre da viel
nützlicher, da auf der zarten Haut des Kindes sich auch ohne Scrophulose
gar leicht Ekzeme durch Noxen der verschiedensten Art etabliren. Ganz
besonders möchte ich da die durch Parasiten (pediculi) hervorgerufenen, oft
mit Wucherungen und starker Krustenbildung einhergehenden Ekzeme der
Kopfhaut, welche, wie die Scrophulose, natürlich meistens, aber nicht
immer armer Leute Kinder heimsuchen, hervorheben, weil gerade diese
Kinder oft als scrophulös angesehen werden und Leberthran intern erhalten,
während Petroleum extern das indicirtere Heilmittel ist. Dieser diagnostische
Irrthum wird noch befördert dadurch, dass diese impetiginösen Ekzeme, zumal
wenn es unter den Borken zu Secretretention gekommen ist, oft wie jede
entzündliche Affection Anschwellungen der regionären Drüsen bedingen, wo-
durch erst recht Scrophulose vorgetäuscht wird. Diese Drüsen können ver-
eitern, aber nicht verkäsen. — Viel werthvoller für die Diagnose ist das
Scrophuloderma in seinen verschiedenen Formen, man muss dieselben nur
nicht mit ähnlichen Leiden verwechseln.
Das Scrophuloderma papulosum {Liehen serophulosorum; Liehen
lividus) ist abzugrenzen vom kleinpapulösen Syphilid, das mehr kupferfarbig
aussieht, meistens in Kreisen angeordnet ist, nicht den Stamm zuerst zu er-
greifen pflegt, 2. vom Liehen ruber planus, der polygonale, lebhaft rothe,
wachsartig glänzende, platte, central gedellte, stark juckende InitialeflQores-
cenzen setzt. — Das Serophuloderma tuberosum unterscheidet sich vom
Gumma lueticum dadurch, dass letzteres meistens über Knochen sitzt, fester
und derber ist, nicht so torpiden Verlauf zeigt und auf specifische Curen
reagirt; das Scrophuloderma ulcerosum vom Ulcus lueticum dadurch, dass des
letzteren Rand scharf, intiltrirt, schmerzhaft ist, steil abfällt, Kreis- oder
474 SCßOPHULOSIS.
Nierenform zeigt, serpiginösen Charakter besitzt. Der Lupus vulgaris ist durch
üppige Granulationen, Lupusknötchen in der Umgebung vornehmlieh gekenn-
zeichnet. Am wenigsten charakteristisch ist, was aus der symptomatologischen
Schilderung ja leicht erhellt, das Scrophuloderma pustulosum {Acne cachek-
ticorum).
Die Schleimhaut äffe ctionen haben an sich für die Diagnose der
Scrophulose nur wenig specifisches, nur ihr Verlauf, ihre Combination mit
anderen Leiden der Haut, der Drüsen etc. leiten auf dieselbe hin. Geschwüre
auf der Schleimhaut (Nasenrachenraum, Tonsillen) sind oft so schwer von
luetischen abzugrenzen, dass man auf ein Urtheil ex juvantibus ange-
wiesen ist.
Von dem diagnostischen Werthe der Drüsenaffection gilt dasselbe,
was bei den Hautaffectionen gesagt ist; nicht jede geschwollene Drüse am
Halse eines Kindes bedeutet Scrophulose. IsTur die Hartnäckigkeit des Bestehens,
der Gesammteindruck, die Möglichkeit entzündliche Erscheinungen nicht
dycrasischer Natur im Wurzelgebiete auszuschliessen, berechtigen uns dieselben
für scrophulös zu erklären. Selbst die Vereiterung der Drüse beweist nichts,
wohl aber die Verkäsung.
Diagnostisch sehr verwerthbar sind die Augenleiden, die Conjunc-
tivitis phlyctaenulosa, die Hornhautinfiltrate, die büschelförmige Keratitis etc.
Weniger typisch sind die Ohrenaffectionen, soweit sie nicht zu cariösen
Processen führen.
Die Knochenerkrankungen lenken ja sehr bald unsere Aufmerk-
samkeit auf die scrophulose Dyscrasie, jedoch ist in jedem Falle, selbst bei
der charakteristischen Spina ventosa die Syphilis auszuschliessen.
Stets fasse man bei der Diagnose der Scrophulose, wie bei derjenigen
aller constitutioneller Diathesen, den Patienten im ganzen in's Auge, forsche
nach der Aetiologie, beobachte den Verlauf der krankhaften Processe und man
wird selten fehlgehen.
Pathologische Anatomie: Nachdem ich in den einleitenden Worten bei
der Besprechung des Wesens der Scrophulose den klinischen Standpunkt in
der Frage der Identität der Scrophulose und Tuberculose zu wahren bemüht
gewesen, werde ich jetzt noch von anatomischem Standpunkt die Frage zu
erörtern haben. Vor allem ist es klar, dass die katarrhalischen Affectionen
der Haut (Ekzeme) und der Schleimhäute, wie sie bei Scrophulose auftreten,
soweit sie nicht zur Geschwürsbildung führen, sicher antomisch keine tuber-
culose Beschaffenheit zeigen; ihre für Scrophulose charakteristischen Eigen-
schaften liegen ja auch mehr auf klinischem als auf anatomischem Gebiete.
Schwerer wird die Entscheidung der Frage, wenn man sich der Anatomie der
scrophulösen Drüsen zuwendet. Bis vor wenigen Jahren haben die meisten
Autoren gemäss der ViRCuow'schen Lehre tuberculose und scrophulose Drüsen
scharf getrennt. ScHtrppEL war der erste, der 1871 die Berechtigung der
Differenzirung beider Processe in Abrede stellte. Ein Vertheidiger derselben
wurde dann 1878 Cornil, welcher die scrophulösen Drüsen charakterisirt
durch kleine, aus einem dicken Pieticulum und locker eingelagerten Zellen
bestehenden Inseln, während bei den tuberculösen Drüsen die kleineren Zellen
dichtgedrängt liegen, die bekannten Tuberkeln bilden, und gleichzeitig die
Lymphräume deutliche katarrhalische Erscheinungen zeigen, welche bei der
Scrophulose fehlen. Ausserdem findet man in den eigentlichen Tuberkeln von
vorneherein Riesenzellen, während diese in scrophulösen Drüsen erst spät und
langsam entstehen. Auf denselben Standpunkt wie Cornil stellt sich noch
1882 Arnold. Bei der Scrophulose sieht man ausgebreitete, die Architektur
verwischende Veränderungen mit erheblicher durch Hyperplasie bedingter
Volumszunahme; die Käseherde sind ausgedehnter. Die weitere Klärung
dieser Frage ist nun, seit dem Koch die Tuberkelbacillen entdeckte, ganz auf
SCROPHÜLOSIS. 475
das ätiologische Gebiet verschoben und heut zu Tage stehen auch die Ana-
tomen auf dem Standpunkt, dass der bacteriologische Befund und der Erfolg
der Ueberimpfung das entscheidende Wort zu sprechen haben. Darüber aber,
dass diese Momente beide stets zu Gunsten der Identificirung von scrophulösen
und tuberculösen Drüsen sprechen, ist die Majorität der Forscher jetzt einig.
Ich kann aber einen leisen Zweifel nicht unterdrücken, ob vom Standpunkt des
klinischen Verlaufes wie des gleich zu schildernden anatomischen Befundes doch nicht
daran festzuhalten ist, dass eine scrophulöse Drüse tuberculös werden kann und es
auch oft wird, aber es nicht von vorneherein immer ist. Sollten aber die scrophulösen
Drüsen den tuberculösen in allen Fällen gleichgestellt werden, dann würde ich glauben,
dass in der anatomischen Charakteristik der Tuberculose eine Reform eintreten müsste,
die den Begriff anatomisch erweitert.
Der Befund bei scrophulösen Drüsen zeigt uns zunächst eine bedeutende
Hyperplasie. Die Drüsen sind oft sogar ganz erheblich vergrössert und bilden,
wo sie dicht liegen, grosse Packete. Ihre Consistenz ist vermehrt, auf dem
Durchschnitt haben sie ein meistens gleichmässiges, röthlich graues, speckiges
Aussehen. Die Schnittfläche ist glatt, aus dem Parenchym lässt sich nur
wenig Flüssigkeit ausdrücken; der Unterschied zwischen Rinde und Mark ist
mehr oder weniger verwischt.
Mikroskopisch sieht man meistens eine Anhäufung von epitheloiden Zellen in den
Lymphräumen, eine pralle Ausfüllung der Maschenräume des Reticulum mit Zellen, die
ganz den Charakter gewöhnlicher Lymphdrüsenzellen besitzen können, häufig aber auch
den epitheloiden Zellen der Lymphräume gleichen; Riesenzellen kommen vor. Die Blut-
gefässe sind erweitert, Kapsel und Trabekel oft verdickt.
Kommt es zur Verkäsung, so macht dieselbe sich zuerst an den grösse-
ren Zellen durch Zerfall und Schrumpfung geltend; die verkäsenden Stellen
erscheinen trübe, weisslich, weisslich-gelb. Diese oft an mehreren Stelleu
gleichzeitig auftretende Verkäsung bildet sich immer weiter aus, die Stellen
confluiren zu unregelmässigen Massen. Allmälig vernichtet der necrotisirende
Process aller Gewebe, so dass schliesslich die Drüse aus einer trockenen
käsigen Masse besteht, auf dem Durchschnitte aussieht wie eine durch-
schnittenen Kartoffel, nur nicht so feucht ist. Mikroskopisch ist dann keine
Structur mehr zu erkennen. Diese Käsemassen können nun entweder er-
weichen oder verkalken. Die Erweichung beginnt im Centrum, es bildet sich
eine grünlich-gelbe, käsige Bröckel enthaltende, eitrige Flüssigkeit, die schliess-
lich durch die Haut oder in benachbarte Organe (Bronchien, Venen etc.)
durchbricht. Bei Durchbruch nach aussen entstehen bei der Ausheilung dicke,
wulstige Narben, die tief eingezogen sind, wenn eine Bildung von Fisteln
stattgefunden hat. Dieses ist durchaus häufig; die Fisteln sind von fungösen
Granulationen ausgekleidet, scheiden ein dünneitriges Secret ab. Die Ver-
kalkung erfolgt durch Ablagerung von kohlensaurem Kalk; die Massen wer-
den immer weisser, härter, schliesslich steinhart. Die Kalkablagerung ist
nicht immer eine gleichmässige. Die Verkalkung stellt eine Art der Heilung
dar. Betont muss werden, dass die Drüsenhyperplasie sehr häufig durch
Resorption ohne Verkäsung zurückgeht, und dass auch Resorption verkäster
Massen erfolgen kann, wahrscheinlich nach vorausgehender Erweichung.
Endlich kann eine Vereiterung der Drüsen mit Durchbruch ohne vorangegan-
gene Verkäsung erfolgen. — Verkäsung und Verkalkung finden wir besonders
oft in den Bronchial- und Mesenterialdrüsen.
Nachdem ich auf die Drüsenaffectionen hier etwas näher eingegangen, um dabei
principielle Fragen anatomischer Natur kurz zu erörtern, will ich betreffs der besonders
wichtigen Bronchopneumonien wie der Knochen- und Gelenkaffectionen, die durch die
Entwicklung eines typischen Tuber cel und Tubercelbacillen enthaltenden Gewebes am
meisten den Stempel echter Tuberculose tragen, auf die entsprechenden Artikel verweisen.
Erwähnen will ich nur noch zum Schluss, dass in jüngster Zeit Nessner und Jacoby
in dem Scrophuloderma papulosum (Liehen scrophulosorum) Tubercel und Bacillen ge-
funden haben. Allerdings haben sie die Beweiskette nicht zu schliessen vermocht, da die
üeberimpfungen bisher negative Resultate ergeben haben.
476 SCROPHULOSIS.
Prognose: Bei einem Leiden, das so vielseitige und so verschieden-
wertige Symptome machen kann, ist die Prognose nicht in einem kurzen
Satze zu fassen; sie wird davon abhängen, an welchem Organe, an welcher
Stelle dasselbe sich localisirt, und welcher Grad von Malignität ihm innewohnt.
Als erschwerendes Moment für die Prognose fällt die Heredität in die Waage,
insofern als hereditäre Belastung mit Tuberculose dieselbe ernster gestaltet.
In gleicher Richtung ist der erethische Habitus von Bedeutung, da, wie be-
sprochen, die mit demselben behafteten Kinder zweifellos häufiger Opfer der
Tuberculose werden, als die torpiden, pastösen Individuen, ohne dass allerdings
letztere deshalb immun gegen dieselbe wären.
Dass natürlich auch die Verhältnisse, unter denen die Patienten leben,
die mehr oder minder vorhandene Möglichkeit die ätiologischen Momente
der Scrophulose zu beseitigen bei der Prognose ins Gewicht fallen, ist selbst-
verständlich.
Im allgemeinen kann man doch sagen, dass die Scrophulose selten zum
Tode führt, vielmehr in der Pubertät, oft sogar trotz der ungünstigsten
Lebensverhältnisse erlischt. Ob wirklich die bei Erwachsenen auftretende
Lungentuberculose unverhältnissmässig oft Individuen ergreift, die als Kinder
scrophulös gewesen sind, ist statistisch wenigstens nicht festgestellt.
Therapie: Die Prophylaxe der Scrophulose umfasst das ganze grosse
Gebiet der Hygiene des Kindesalters. Dieselbe ist im Einzelfalle um so sorg-
fältiger zu üben, je mehr man Veranlassung hat eine hereditäre Belastung
anzunehmen. Nur die wichtigsten Punkte der Prophylaxe seien hier angedeutet.
Fassen wir zunächst die socialen Abhilfemaassregeln ins Auge, so sind alle
Bestrebungen zu unterstützen, welche darauf hinausgehen, das Volk über
das Wesen und die Ursachen der Scrophulose aufzuklären, demselben Luft
und Licht zu verschaffen, die materiellen Verhältnisse wenigstens in soweit
zu bessern, dass sie für die Ernährung der Säuglinge in richtiger Weise sorgen
können. Passende, luftige Wohnungen, die auch vom Sonnenlicht genügend
getroffen werden, sind von grösster Wichtigkeit, die Beseitigung der dunkeln,
schmutzigen, verpesteten Massenquartiere eine Nothwendigkeit. Besonders
muss darauf Bedacht genommen werden, dass die Kinder für die Zeit, in der
die Eltern zur Arbeit gehen, irgendwo eine Unterkunft finden, wo sie Luft,
Licht und passende Bewegung haben. Volkskindergärten, beaufsichtigte Volks-
spielplätze sind darum zu gründen.
Die Hauptquelle der Scrophulose, die falsche Ernährung der Kinder
muss natürlich zuerst gestopft werden. Die einzig natürliche Ernährung der
Säuglinge ist die Mutterbrust, und diese Erkenntnis muss immer mehr ver-
breitet werden. Sie ist in allen Kreisen, bei Hoch und Niedrig, noch
lange nicht genug zum Durchbruch gelangt. Nächst der Mutterbrust kommt
die Ammenmilch; dass die Amme frei von jeder scrophulösen und tuberculösen
Erscheinung sein muss, ist selbstverständlich; Narben von scrophulösen Ge-
schwüren verbieten die Thätigkeit als Amme. Von den Surrogaten der
Menschenmilch ist die einzig richtige und berechtigte die Kuhmilch (resp.
Ziegenmilch). Auch diese ist trotz des SoxHLET'schen Verfahrens, das übri-
gens bei strenger Handhabung vielleicht zuweilen Nachtheile für die Kinder
nach sich ziehen kann, noch kein vollgültiger Ersatz, aber doch allen ande-
ren Säuglings-Nahrungsmitteln weit überlegen. Die detaillirten Vorschriften
ihrer Anwendung sind in den Artikeln „Ammemvahl" und „Ernährung der
Säuglinge" angeführt. Alle vorzugsweise Kohlehydrate enthaltenden natürlichen
oder künstlichen Nährmittel sind von den Säuglingen fernzuhalten, zumal wenn
sie in festerer Form dargereicht werden. Festere Nahrung ist erst dann zu rei-
chen, wenn die Natur durch Erscheinen der zur Zermalmung derselben nöthi-
gen genügenden Zahl von Zähnen das Signal dazu gibt. Aber auch über das
erste Jahr hinaus muss die Milch bis zum zweiten Lebensjahr den grössten
SCROPHÜLOSIS. 477
Theil, durch das ganze Kindesalter hindurch einen grossen Theil der Nah-
rung ausmachen. Eier, Bouillon, Fleisch (zuerst fein in die Suppe eingeschnitten)
sind vom Ende des ersten Lebensjahres erlaubt und zuweilen auch nöthig. Die
Bouillon vom Kalbe gibt man sogar bei Kindern, die zu Rachitis und Scrophu-
lose neigen, schon vom sechsten Monat ab, am besten mit gleichen Theilen Milch
gemischt. Brot wie alle mehlhaltigen Nahrungsmittel dürfen erst vom zehnten
Monat ab und dann nur in massiger Menge gegeben werden, deshalb ist
die Ernährung mit Kindermehlen etc. wie bei Besprechung der Aetiologie
erörtert ist, zu verwerfen. Mehr gesorgt müsste für die Beschaffung guter
Kindermilch für arme Leute werden. Es gibt ja viele Vereine, welche für
die Versorgung armer Kinder mit Medicamenten sorgen, aber das oft nö-
thigste Medicament, eine gute Kuhmilch, denselben zu beschaffen, ist noch
wenig das Object der öffentlichen Wohlthätigkeit geworden. — Bei der Gele-
genheit sei auch betont, dass der Staat und die menschliche Gesellschaft,
zumal in Deutschland, den grossen furchtbaren Leiden gegenüber, welchen
die unehelichen Kinder ausgesetzt sind und meistens zum Opfer fallen, gar
zu sehr die Hände in den Schooss legt. Diese bejammernswerthen Wesen
sterben alljährlich zu Tausenden dahin, weil sie in den Händen der Frauen,
die man nicht mit Unrecht Engelmacherinnen nennt, einfach verhungern.
Wenn sie am Leben bleiben, bilden sie das stetige Contingent der Scrophulose.
Deshalb gehört zu den prophylaktischen Maassnahmen dieser Krankheit auch
die Gründung von Findelhäusern, die ja leider in Deutschland abge-
schafft sind. Weshalb? Fürchtet man dadurch die Production unehelicher
Kinder zu steigern? Oder sind Gründe der Moral maassgebend gewesen? Nun
die Moral muss schweigen, sobald die Unmoral von Elend, Krankheit und
Siechthum gefolgt sind; dann hat nur noch die Hygiene mitzureden. Jeder,
der das Elend der armen Wesen kennt, muss verlangen, dass der Staat die
Fürsorge übernimmt, welche die Eltern nun einmal nicht treffen wollen oder
auch nicht treffen können.
Gehen wir nach diesen allgemeinen Ausführungen zu der speciellen
Therapie über und besprechen wür zuerst die Bekämpfung der Diathese. Wo
wir ein scrophulöses Kind finden, ist zunächst für Ernährung, Luft, Licht in
der besprochenen Weise zu sorgen. Die Ernährung bei der Scrophulose er-
fordert Milch, Bouillon, Fleisch, Eier, später grüne Gemüse; Brot und Kartoffeln
sind zuerst gar nicht, weiterhin in geringer Menge zu gestatten. Wo diese
grundlegenden Maassnahmen nicht getroffen werden, kann kein Medicament
Erfolg verbürgen. Wie steht es mit dem vielfach so hoch angeschlagenen Alkohol?
Ich habe einen deutlichen Einfluss des Alkohols auf die scrophulose Consti-
tution niemals constatiren können und verwerfe ihn vollkommen bei der tor-
piden Scrophulose. Eher ist er bei den erethischen Individuen, die ein
schlechtes Wärmeregulirungsvermögen haben, leicht frieren, als Lieferant von
Calorien zeitweise zu gestatten, und auch da nur in massiger Menge und
geringer Concentration. Natürlich tritt er als Medicament in seine Rechte,
wenn Fieberzustände die Kräfte consumiren, oder eine Excitirung des Herzens
vorübergehend nöthig erscheint. Das gedankenlose Füttern mit Wein
bei jeder Art von Constitutionsanomalie der Kinder ist a limine abzuweisen,
weil er eher schadet als nützt.
Der Bedarf an Luft und Licht bedingt viel Aufenthalt im Freien. An
dem daraus erwachsenden Nutzen hat, wie ich schon erwähnt, das Licht einen
grösseren Antheil, als man gewöhnlich glaubt. Der Aufenthalt auf dem Lande
ist in Folge dessen für scrophulose Kinder von grossem Werthe, und des-
halb sind grade die Feriencolonien eine so grosse Wohlthat, die lange Kuren
in der Stadt ersetzen kann. Noch besser ist der Aufenthalt an der See, wo
Reinheit, Staubfreiheit, starker Ozongehalt der Luft und Bestrahlung durch die
von der Wasserfläche stark reflectirten, ultravioletten, chemischen Lichtstrahlen
478 SCROPHÜLOSIS.
mit einander im Wohlthun wetteifern. Es ist geradezu wunderbar, wie ein
Seeaufenthalt, — von den später zu besprechenden Bädern ganz abgesehen — ,
bei bestehender Scrophulose auf die ganze Constitution des Kindes umstimmend
zu wirken vermag, wie sie sich sichtlich verändern, wenn sie Tag für Tag in
dem heissen Sande des Strandes liegen und graben. Fehlt uns auch das
volle Verständnis für diese günstige Veränderung, so ist doch die Thatsache
zweifellos. Katarrhe der tieferen Luftwege gebieten ja einige Vorsicht bei
bestehenden Ostwinden und Nordwinden, bilden aber durchaus keine Contra-
indication. Eine unendlich nützliche Einrichtung für scrophulose Kinder
stellen die Seehospize dar. Verbindet man in diesen die günstige klimatische
Einwirkung mit anderen entsprechenden Maassnahmen, vor allem mit der so
oft nöthigen chirurgischen Therapie, dann ist der Erfolg meistens glänzend. Es
werden Heilungen erzielt in Fällen, die allen ärztlichen Heilbestrebungen in
den Krankenhäusern der Stadt trotzten. — Nicht in so hohem Maasse, aber
doch sehr nützlich ist der Gebirgsaufenthalt, wo zum Theil dieselben Fac-
toren mitwirken.
Den Uebergang zu den eigentlichen Medicamenten, die bei der Be-
kämpfung der scrophulösen Dyscrasie verwendet werden, bildet der fast als
Specificum gepriesene Leberthran, (Ol. jecoris aselli), dessen Nutzen empirisch
ebenso feststeht, wie die Erklärung für denselben noch theoretisch zum Nach-
denken Veranlassung gibt. Früher legte man dem, allerdings oft etwas pro-
blematischen Jodgehalt, dann dem Phosphorgehalt etc. grossen Werth bei,
jetzt neigt man dazu die Wirkung auf die Zufuhr des Fettes an sich und
dessen leichte Assimilirbarkeit zurückzuführen. Es scheint, als ob diese Auf-
fassung der Wahrheit am nächsten kommt. Experimentell ist es erwiesen,
dass der Leberthran sich durch leichte Emulgirbarkeit und Kesorbirbarkeit
vor allen anderen Fetten auszeichnet.
Bei der grossen, lange nicht genug gewürdigten Bedeutung des Fettes,
als eines viel Calorien liefernden Nahrungsmittels, ist es ja verständlich, dass
durch gut assimilirbares Fett eine bedeutende Hebung des Ernährungszustan-
des erzielt werden kann. Ob aber diese Auffassung den Nutzen des Leber-
thrans in erschöpfender Weise erklärt, will ich dahingestellt sein lassen. Eine
viel umstrittene Frage betrifft die Leberthransorte. Wir haben da haupt-
sächlich zwei zu unterscheiden: den klaren gereinigten, fabrikmässig gewonne-
nen Leberthran und den ungereinigten, braunen Bauernleberthran, der einfach
durch Auspressen aus relativ alten Fischlebern gewonnen wird. Der erstere
schmeckt und riecht besser und sieht appetitlicher aus, der zweite hat einei
üblen, etwas ranzigen Geschmack, ist dreimal so reich an freien Fettsäuren.,
Nun hat man aber sicher festgestellt, dass die leichte Emulgirbarkeit des
Leberthrans dem Gehalte desselben an freien fetten Säuren parallel geht,
man wird deshalb dem an diesen reicheren den Vorzug geben, den braunen
Leberthran empfehlen müssen, zumal derselbe billiger ist, ein Punkt, dei
gerade bei Leiden, die vorzugsweise die Armen heimsuchen, oft ausschlag-
gebend sein muss. Ueberhaupt ist es bei jeder Pteinigung von Mitteln, die
von der Natur uns geliefert werden und uns in ihrer Wirkung nicht voll
kommen verständlich sind, sehr fraglich, ob damit eine Besserung erzielt wird ,
und nicht vielmehr nützliche Stoöe dabei verloren gehen. Man gibt den
Leberthran am besten nach dem Essen in einer Menge von V2 Theelöffel bis
zu einem Esslöffel, zwei bis drei Mal täglich je nach dem Alter des Kindes
und fängt stets mit kleinen Mengen an, um allmälig zu steigen.
Die Form der Darreichung des Leberthrans ist vielfach Object ärztlicher
Sorge und industrieller Experimente gewesen, da man vor allem bemüht wai
den unangenehmen Geschmack desselben zu decken. Dabei muss aber bemerkt
werden, dass die Geschmacksnerven der Kinder sich durchaus nicht immer
so ablehnend gegen den Leberthran verhalten; mir sind Fälle bekannt, in
SCROPHULOSIS. 479
denen man die Flasche vor der Naschlust der Kinder verstecken musste. ]\Iit
der Zeit gewöhnt sich überhaupt fast jedes Kind an den Geschmack, wenn
man die Darreichung anfangs mit mehr Consequenz als Nachsicht durch-
führt. Dennoch gibt es auch Kinder, bei welchen man auf andauernden
Widerwillen stösst; für diese muss man ja den Bestrebungen der Pharma-
copoea elegans ihre Berechtigung lassen. Von vorneherein sind alle Präparate
zu verwerfen, die den Lel)erthran in verseiftem Zustande dem Körper bieten;
wir brauchen Fette und keine Seifen. Die Emulsionen mit Gummi arabicum
sind vielleicht auch nicht so wirksam, müssen ausserdem häufig erneuert
werden und sind auf die Dauer zu theuer. Im Beginne des Leberthran-
gebrauches kann man sie ja geben. Die Leherthranchocolade ist nur eine
Spielerei, der sogenannte soliditicirte Leberthran {Ol. jecor. asell. solidlficatum
s. Gelafina ol. jecor. aselli) wird mit Cetaceum hergestellt und in Oblaten
gereicht; ob die Wirkung eine ebenso gute ist, lasse ich dahingestellt; theuer
ist das Präparat jedenfalls auch. Leberthran in Gelatinekapseln ist ja sehr
angenehm einzunehmen; aber nur grössere Kinder lernen diese schlucken.
Jüngst hat Dr. Standtke (Barmen) einen sogenannten „wohlschmeckenden"
Leberthran durch Auswaschen des Oels mit heissem Wasser und Zusatz von
Saccharin etc., hergestellt. Besser schmeckt dieser Leberthran, ob er gerade
w^ 0 h 1 schmeckend ist, möchteich nicht erörtern. Man mag übrigens bei Bestre-
bungen den Geschmack von öligen Substanzen zu verbessern, bedenken, dass
nicht so der specifische Geschmack an sich es ist, der abstösst, als die ölige
Beschaffenheit derselben; diese ist oft, die Widerwillen erregt, sie kann aber
natürlich durch Corrigentien nicht aus der Welt geschafft werden.
In Frankreich sind sogenannte Leherthnmsemmeln eingeführt, die sehr
gerne von Kindern genommen w'erden sollen; ihre Herstellungsart ist mir
nicht bekannt.
Alle diese, für die Dauer nur von reichen Leuten erschwingbaren Prä-
parate sind aber meistens zu entbehren; wo nöthig, kann man sich auch durch
einfache Mittel helfen. Ein Zusatz einiger Tropfen Pfefferminzöl zur Flasche
Leberthran bessert schon den Geschmack desselben; noch angenehmer ist es
vor dem Einnehmen die Geschmacksnerven durch Darreichung guter Pfeffer-
minzplätzchen abzustumpfen. Streut man auf den Boden des Löffels etwas
Streuzucker, giesst dann das Oel ein und streut noch eine dickere Zucker-
schichte darüber, dann kommt bei geschicktem Einnehmen und schnellem Nach-
trinken von Bier, Wein etc. der schlechte Geschmack gar nicht zur Percep-
tion. Das Aufgiessen auf Cognac oder Bierschaum ist besonders für Erwach-
sene auch zu empfehlen. Auf irgend eine Art und Weise gelingt es fast aus-
nahmslos den Kindern den Leberthran zuzuführen.
Was nun die nähere Indication des Leberthran betrifft, so ist dieselbe
in erster Reihe durch die erethische Form gegeben; die mageren, schlanken,
frostrigen Kinder bilden vorzugsweise das Object für die Fettzufuhr. Die
torpide Scrophulose wird vielfach direct als Contraindication betrachtet, sie soll
die Darreichung des Leberthrans verbieten. Ich gebe gerne zu, dass die
Noth wendigkeit desselben bei den torpiden, pastösen Individuen lange nicht in
dem Maasse vorhanden ist, wie bei den mageren, aber dass die Leberthran-
zufuhr gerade in solchem Falle direct schädlich ist, habe ich niemals con-
statiren können. Eine gewichtige Gegenanzeige wird durch Störungen in den
Magen- und Darmfunctionen gegeben. Ist der Leberthran auch ein leicht
assimilirbares Fett, so wird er doch bei dyspeptischen Zuständen oft nicht ver-
tragen. Denselben bei jeder Dyspepsie von vornherein zu perhorresciren, ist
ein Fehler, versucht muss die Darreichung stets werden, es geht gewöhn-
lich besser, wie man glaubt, zumal wenn man mit kleinen Mengen beginnt.
Die Angabe der Eltern, dass das Kind Leberthran nicht vertrage, ist mit
der nöthigen Skepsis hinzunehmen; es ist oft mehr Vorurtheil als Urtheil.
480 SCROPHÜLOSIS.
Die hohe Bedeutung des Leberthrans gebietet es, dass man bei vorhandener
Indication nichts unversucht lässt, denselben den Patienten zuzuführen. Zu
widerrathen ist der Leberthrangebrauch in denheissenSommermonaten; er ver-
dirbt dann leicht und wird auch sonst erfahrungsgemäss dann nicht gut vertra-
gen. — Noch einige Worte über die Surrogate des Leberthrans, dessen Lor-
beeren natürlich der Industrie von jeher keine Ruhe gelassen haben. Dass
bei dem Ersatz solcher, dem organischen Leben entnommener Heilmittel,
deren Wirkungsweise nicht ganz sicher erkannt ist, durch künstliche Präpa-
rate man sehr skeptisch sein muss, bedarf keiner Betonung. Die oben her-
vorgehobene Erkenntnis der Bedeutung der beigemengten freien Fettsäuren
für die Emulgirbarkeit des Leberthrans hat v. Mehring zur Herstellung des
Lipanin geführt, eines guten Olivenöls, dem 5% Oelsäure zugesetzt sind.
Dasselbe ist relativ angenehm einzunehmen, wird leicht emulgirt und resor-
birt und soll sehr günstige Resultate geben. Man gibt davon 3mal täglich
^/2 Theelöffel bis zu einem Esslöffel rein oder mit Zusatz von Menthol. Wo
man trotz aller Versuche mit dem Leberthran auf unüberwindliche Wider-
stände stösst, mag man zumal in der Praxis aurea das Lipanin verordnen. Ein
anderes Surogat, ein alkoholisches Extract aus dem Leberthran, das viel
empfohlen wurde, ist das Morrhuol; da dasselbe gerade das wichtige Fett
nicht enthält, ist es einfach als werthlos zu bezeichnen. Ich würde vor-
schlagen im Nothfall statt Leberthran den Kindern viel Cacao, frische
Butter und Rahm zu geben; damit kann man auch schon Erhebliches
erreichen. In jüngster Zeit ist Sesamöl als Ersatz empfohlen.
Ein weiteres Heilnahrungsmittel bildet das Malzextract, dem im Volke
ein sehr hoher Werth beigelegt wird. Ohne diesen ganz in Abrede zu stellen,
warne ich aber vor einer Ueberschätzung der Malzextracte. Natürlich wenn
man ihn mit Leberthran {Malzextrad-Leberthran) oder dem so nahrhaften
und fettreichen Cacao {Malto- Leguminosen- Cacao) mischt, dann hat es oft vor-
züglichen Erfolg, aber ob es sein Verdienst ist, bleibt doch zum mindesten
fraglich.
Kommen wir zu den eigentlichen Medicamenten, so spielt bei Scrophulose
als antidyscrasisches Mittel von jeher das Jod eine grosse Rolle, welches extern
und intern besonders da angewendet wird, wo es sich um Rückbildung auf
zellige Hyperplasie beruhender Processe handelt. Seine Indication ist insofern
derjenigen des Leberthrans entgegengesetzt, als es gerade bei der torpiden
Form, bei den fetten Kindern am Platze ist, während magere, erethische
Individua keinen Nutzen davon haben. Intern gibt man Jod als Jodnatrium
(O'Od — 0'25 nach dem Essen, dreimal täglich, in Milch), als Syr. ferr. jodat.
{20' 0 : 80' 0 Syr. simjplex, dreimal täglich Ya Theelöffel bis zu einem Kinder-
löffel), als ferr. jodat. sacchar. {0'05 — 0'2 pro dosi in Pulverform, dreimal
täglich), als Jodleb erthran, LuGOL'sche Lösung; Jodol, Jodoform und die zahl-
reichen Ersatzmittel des letzteren sind für den internen Gebrauch entbehrlich.
Extern sind Jodoform als Salbe (1 : 10), als Pßaster, als Collodium (1 : 15),
Collemplastrtun plumbi jodati, Ung. kal. jodati (eventuell mit Zusatz von 1 %
Jod. purum), Jodtinctur (pur oder mit Glycerin m), Jodvasogen zu empfehlen.
Zu beherzigen ist, dass man auf Erscheinungen des Jodismus (Rhinitis,
Cephalgie, Akne, Dermatitis tuberosa erhebliche Abmagerung) sein Augenmerk
zu richten hat.
Das Eisen ist da indicirt, wo erhebliche Grade von Anämie bestehen;
an Präparaten ist kein Mangel. Ich ziehe Lig. ferr. albumiiiat. Drees. Tinct.
ferr. aromatica Ättenstädt, Ferr. carbon. sacchar., Ferr. jodat. saccharat., Syr.
ferr. jodat. j Pilul. Blaudii vor. Auch mit Leberthran zusammen wird es,
ebenso wie Jod, hergestellt. Ich bin kein Freund dieser Mischungen, da man
nicht weiss, ob vor allem der Leberthran nicht durch derartige Zusätze in
SCROPHULOSIS. 481
der Wirkung beeinträchtigt wird. Wo beides nothig ist, verordnet man es
besser getrennt.
Wo verkäsende Processe einzutreten drohen, sind zwei Medicamente am
Platze, das Creosof und der Arsenik. Creosot gibt man Kindern am einfach-
sten in Tropfenform, mit gleichen Theilen Tinct. gentian. gemischt, {dreimal
täglich 2 — 5 Tropfen in Milch nach dem Essen cdlmälig steigend). Die Kinder
gewöhnen sich an den Geschmack. Kapseln sind bei wohlhabenden Kindern
anwendbar, wenn sie geschluckt werden, Pillen sind in ihrer Wirkung unsicher.
Das Creosot muss monatelang fortgebraucht werden.
Arsenik gibt man Kindern als Sol. arsenic. Foivleri (mit Aq. Cinnamon
(7(7; dreimal täglich 2 — 8 Tropfen stark verdünnt^ nach dem Essen allmälig
steigend) oder als Levico-, resp. Boncegnowasser (dreimal täglich 72 Theelöffel
bis zu einem Esslöffel, mit Zuckerwasser stark verdünnt nach dem Essen,
allmälig steigend). Bei Kindern, die Pillen schlucken können, ziehe ich
Pihd. asiatic. vor (Y- — 2 mg Acid. arsen. pro Pille).
Von hohem Werthe ist die Bäderhehandlung bei der Scrophulose. Das
Baden im Meere in einem der zahlreichen Seebädern ist nur bei kräftigeren,
nicht leicht frierenden, nicht zu anämischen Individuen gestattet, deren
Wärmeregulirungsvermögen nicht zu sehr darniederliegt. Auch bei diesen
Kindern aber bedarf es der Vorsicht, des kräftigen Frottirens nach dem Bade,
um die reactive Röthe der Haut hervorzurufen. Im allgemeinen ist der
therapeutische Effect des Aufenthalts an der See schon vollkommen genügend.
Sehr beliebt und zwar mit Recht sind die Soolbäder, die ja, da es sich mei-
stens um Kinder weniger bemittelter Leute handelt, gewöhnlich zu Hause
künstlich hergestellt werden müssen. Man nimmt dazu das Stassfurter Abraum-
salz, eventuell zu gleichen Theilen gemischt mit denaturirtem Viehsalz, und
stellt ein 3 — 57o Bad her. Die Bestimmung so und so viel Pfund zum Bade
zu nehmen, ist bei den verschieden grossen Wassermengen und verschieden
grossen Badewannen unzulässig; man verordnet 30 — öO g pro Liter oder, da
die Eimer meistens 10 Liter enthalten, 300 — 600 g pro Eimer. Die Tem-
peratur des Bades sei stets eine niedrige, in Salzlösungen friert man nicht so
leicht; man fängt mit 27" an und geht langsam auf 24*^ herunter; 10 — 20
Minuten genügen für das Baden. Es wird immer zwei Tage gebadet und
einer ausgesetzt. Nach höchstens 30 Bädern lässt man eine mehrmonatliche
Pause eintreten. Eine kalte Waschung oder eine kalte Uebergiessung nach
dem Bade ist, sobald die Kinder erst an kühlere Temperatur gewöhnt sind,
s€hr rathsam; jedenfalls muss dieser aber ein energisches Frottiren folgen.
— Alle natürlichen Salze und Laugen sind entbehrlich, ihre Wirksamkeit
ist keine grössere. Leute, die sich solchen Luxus leisten können, schickt
man am besten direct in die betreffenden Bäder. Unter diesen nimmt Col-
herg eine erste Stelle ein, da man dort den Seeaufenthalt und die besten
natürlichen Soolquellen vereint findet. Von weiteren Badeorten, die zum Theil
mit mehr oder weniger Recht die Bezeichnung Jodbäder führen, seien genannt:
Kreuznach, Kosen, Juliushall (Harzburg), Nauheim^ Behme - Ogenhausen,
Königsdorf -Jastrzemb^ Krankenheil-Tölz, Hall in Tirol, Hall in Ober-Oester-
reich, Schicäbisch-Hall, Inowrazlatv, Kissingen, Adelheidsquelle (Heilbrunn) etc.
Sehr viel verwendet werden auch Malzbäder, ich kann mir ohne Zu-
hilfenahme der Phantasie keinen Nutzen von ihnen vorstellen.
Sand- und Sonnenbäder (Köstritz), erstere durch die gleichmässige
Wärme, letztere durch die Bestrahlung wirksam, können besonders local mit
Vortheil verwendet werden.
Von hydricdischen Proceduren seien die kalten Abreibungen als nützlich
hervorgehoben; besonders halte ich es für zweckmässig, wenn man dazu eine
5 — 107o Salzlösung verwendet.
Bibl. med. WiBseuBchaften. Interne Medicin und Kinderkcankbeiten. Bd. III. ol
482 SCßOPHULOSIS.
Die Therapie der Einzelerscheinungen der Scrophulose aus-
führlich behandeln, hiesse grosse Capitel aus allen Gebieten der Medicin re-
capituliren. Es kann dieselbe hier nur in den Umrissen angedeutet werden:
Das Scrophuloderma imimlosum {Liehen scrophulosorum) und imstulosmn (Akne
cachekticorum) bedarf keiner besonderen localen Behandlung; Einreibungen
mit Leberthran können gemacht werden, sind aber wegen des Gehaltes an freien
Säuren nicht immer reizlos für die Haut. Das Scrophuloderma tuberosum indicirt
im Beginne Jodmittel. Ist Erweichung eingetreten, dann ist die Eröffnung,
Ausschabung und Jodoformbehandlung zu empfehlen; damit verhütet man am
besten die Bildung scrophuloser Geschwüre. Sind letztere entstanden, dann
trägt man die überhängenden Ränder ab, reinigt sie durch den scharfen Löffel,
streut einen Hauch Jodoform auf und legt Protectiv-Silc und Watte darüber.
Bei sehr zögernder Heilung ist es oft zweckmässig das Geschwür täglich
einmal mit einem in Jodtinctur getauchten Pinsel flüchtig überzustreichen.
Die scrophulösen Ekzeme erfordern dieselbe locale Behandlung wie jedes
Ekzem.
Nur das nothdürftigste sei hier angedeutet:
Handelt es sich um ein nässendes Ekzem, dann ist die Puderbehand-
lung das beste. Geeignet dazu sind: Tale, venet, Zinc. oxyd.., Magn. carbon.,
Ämyl. etc. in beliebigen Mischungen. Dabei muss die Bildung dicker Borken
und jedwede Secretretention vermieden werden. Vortreffliches leisten hier,
wie bei allen stark entzündlichen Ekzemen Dunstumschläge mit Eesorcin-
lösung {Resorcin 2-0 — 4-0^ Äq. deslillat, 170-0 Glycerin. ad 200-0) oder mit
5^0 Liquor Buroui, sowie Pulversuspensionen (z. B. Tale, venet., Zin. oxijd.,
Amijl. ää 10-0, Glycerin. SO'O, Aq. plumh. ad lOO'O), die wiederholt am Tage
aufgestrichen werden und antrocknen müssen.
Auch Zinlxöl (Zinkoxyd., Ol. olivar opt. ää 50"0), dem man bei starkem
Jucken 2 — 10% Tumenol zusetzen kann, ist hier am Platze. Wo kein Nässen
besteht, sind Pasten wohl am zweckmässigsten, so Zink-Amyl. Paste {Zink,
oxyd. Amyl. ää 25' 0, Vaselin 50- 0) oder Zinkolpaste {Zink. oxyd. 60 Ol. oliv.
40) eventuell mit Zusatz von 1— 27o Ichthyol, 27o Salicylsäure, 2—10^0
Tumenol, 5—10% Schwefel, 2 — 5% Resorcin, letztere besonders bei Bildung
stark seborrhoischer Schuppen und Borken. Diese müssen in jedem Falle
vor jeder Application von Heilmitteln entfernt werden, damit letztere direct
auf die ekzematöse Haut kommen, Ol. olivar., 1% Resorcinlösung, 57q Liquor
Burowi, in subacuten und chronischen Fällen, Seife und Wasser sind zur
Reinigung der Haut geeignet. Ist das acute Stadium abgelaufen, dann kommen
Iheerpräparate zur Verwendung, anfangs in ganz schwacher Concentration
(1— 10"/o Salben oder Pasten) später als Theerspiritus {Ol. Busei. lO'O Spi-
ritus 30.0) vor dem Bade; nach demselben Auflegen milder Pasten. Chronische
Fälle indiciren meistens von vorneherein die Theerbehandlung. Von glän-
zendem Erfolge ist oft das Ung. Wilkinsonii. — Besonders zu beachten sind
die Naseneingänge, in welche die Pasten mit abgerundeten Glasstab einge-
strichen werden. — Bei Ekzemen am Kopf sind Salicylbenzoesalbe {Aeid.
salicyl. l'O, Tinct. Benzoes 2-0 Vaselin 50'0), Borsalben, Schivefel- und Re-
so7'einsalben, dünneres Zinköl {Ol. olivar. 50' 0 Zinc. oxyd. 30' 0 Ol Lini e.
Aq. Calcis) etc. nützlich; Theer wird von der Kopfliaut vorzüglich vertragen.
Hartnäckig nässende Stellen kann man mit l^j^ Arg. nitr. Lösung bepinseln. —
Alle scrophulösen Ekzeme kann man durch Localbehandlung heilen, Recidiven
beugt man aber nur durch Allgemeinbehandlung vor.
Die Ekzeme an den Schleimhautübergängen erheischen stets eine Be-
rücksichtigung der Schleimhautaffectionen. Die Behandlung dieser
weicht in keiner Weise von der üblichen ab; Reinigungsmittel, Adstringentia,
Caustica etc. sind zu verwenden. Die innere Anwendung von 2% Salzlösungen
empfiehlt Moxti, sie wäre wohl durch salzige Nahrungsmittel leicht zu er
SEEKRANKHEIT. 483
setzen. — Auf die Therapie der Rhinitis, Laryngitis, Bronchitis, Cat. gastro-
entericus etc. einzeln einzugehen würde zu weit führen; in den betretfenden
Artikeln ist dieselbe nachzulesen.
Die Conjunctivitis phlyctaenulosa wird bekanntlich durch täglich
einmalige Calomelinspersionen, während deren die Verabreichung von Jod-
mitteln zu meiden ist, in wunderbarer Weise beeinflusst. Bei starken Beiz-
erscheinungen, lebhafter Vascularisation, besonders wenn Hornhautinfiltrate
oder gar Geschwüre vorhanden sind, ist das Hijdrarg. oxyd. flavum (Hy-
drarr/. oxyd. flav. 0'05—0-2, Cocain muriat. O'l, Vaselin 5'0) vorzuziehen.
Daneben macht man 3mal täglich Vg Stunde kalte Umschläge mit Bor-
tvasser oder Aq. Chlor. (V2 Esslöffel auf V2 T(i8se Wasser); bei Hornhaut-
aftectionen werden warme Umschläge oft besser vertragen. Atropin ist nur
bei ausgesprochener iritischer Beizung indicirt. — Ekzeme des Lidrandes
werden mit Hydrarg. praecipit. alb. {Hydrarg. praccipit. alh. 0'05 Acet. plunib.
0-1 Ol. amyyd. diilc. 0.5 Vaselin 5'0) oder wenn dieselben nur mit Schuppung
einhergehen, mit i% Resorcinsalhe bekämpft. — Bei allen Augenaffectionen
berücksichtige man etwa vorhandene Rhinitis und Ekzeme am Naseneingang.
Die Otitis externa und Otitis interna erfordern Reinigung durch
Spülung, sorgsames Austrocknen des Gehörganges mit Watte, Einblasen von
Borsäurepulver in sehr geringer Menge, eventuell Luftdouche. Die Behand-
lung schwerer Fälle kann ich hier nicht weiter erörtern.
Die Drüsenaffectionen werden, solange die Drüsen hart sind, intern
und extern mit Jod behandelt. Neigen sie zur Verkäsung oder Vereiterung,
dann ist Totalexstirpation das beste. Wo das nicht angeht, gibt man innerlich
Creosot und Arsenik und incidirt, schabt sie aus, bringt Jodoform als Pulver, in
Stäbchenform oder als Glycerinemulsion hinein und leitet die Behandlung nach
chirurgischen Grundsätzen, die auch bei Fistelbildungen in ihr Recht treten.
Bei messerscheuen Kranken kann die Injection von Jodoformemulsionen ver-
sucht werden. — Erwähnenswerth ist noch die KAPESSER'sche Seifenbehandlung:
Es wird zweimal wöchentlich ein Esslöffel grüne Seife in die Rückenhaut fest
eingerieben. Dieselbe wird sehr gerühmt bei Drüsenleiden und auch bei Er-
krankungen der Knochen und Gelenke. Letztere gehören ja ganz
zum chirurgischem Gebiet und sollen hier nur zu der allgemeinen Bemerkung
Veranlassung geben, dass besonders bei Gelenkerki^ankungen der furor chirur-
gicus sehr der convervativen Therapie zu weichen beginnt, und besonders die
Jodoforminjectionen grosse Triumphe feiern, so dass manche Resectioa etc.
entbehrlich geworden ist.
Zum Schlüsse sei nochmals betont, dass bei der Scrophu-
lose neben der Localbehandlung die Allgera einbehandlung stets
geübt werden muss, und dass für letztere die hygienischen Prin-
cipien unendlich viel wichtiger sind, als die medicamentöse
Therapie. jessner.
Seekrankheit (morbus marinus, mal de mer, Naupathie, sea-sickness).
Deönition. Unter Seekrankheit versteht man eine Gruppe krankhafter Er-
scheinungen, die bei der Mehrzahl der Menschen auftritt, wenn dieselben bei
unruhiger See, oder während eines heftigen Sturmes sich auf einem vom
Sturm geschüttelten Schiffe befinden, welche krankhafte Erscheinungen in der
Regel von selbst verschwinden, sobald der Seekranke das Schiff verlässt und
sein Fuss festen Boden gefasst hat. Bei diesen Kranken musste das Leiden
nothwendigerweise durch den Aufenthalt auf dem vom Sturm gebeutelten
Schiffe hervorgebracht worden sein, weil die Menschen vor dem Betreten und
nach dem Verlassen des Schiffes vollkommen wohl waren.
Die Seekrankheit kann zwar auch bei Menschen auftreten, die bei
ruhiger See sich auf dem Schiffe befinden, ja auch bei solchen, die sich auf
31*
484 SEEKRANKHEIT.
festem Laude auflialten, doch sind dies nur vereinzelte, keine allgemeinen
Vorkommnisse, während auf stürmisch bewegtem Meer, die Krankheit bei der
Mehrzahl der Menschen auftritt. Der Name „Seekrankheit" ist daher voll
berechtigt.
Historisches. Obwohl die Seekrankheit von Homer in seinen poetischen Schilderungen
nicht erwähnt worden ist, so ist doch kein Zweifel darüber, dass auch die Griechen und
die Römer die Seekrankheit gekannt und von derselben gelitten haben. Hippokrates
erwähnt dieselbe und auch Virgil und Horaz berühren die Krankheit in ihren Schriften;
Ich brauche bloss auf den bekannten und vielfach citirten Vers des triplex circa
pectus erat, qui fragilem truci comisit pelago rat em hinzuweisen. Auch Cicero
hat sehr viel von der Seekrankheit zu leiden gehabt und musste sich bei einer solchen
Gelegenheit ans Land setzen lassen.
üebrigens waren die alten Schiffe grösstentheils Ruderschiffe, bei denen auch
heutzutage die Seekrankheit nicht sehr empfunden wird. Auch kann man
mit Ruderschiffen bei stürmischer See nicht fahren, und überhaupt sind Ruderschiffe nur
für Küstenfahrten zu verwenden. Bei Fahrten auf offener See und stürmischem Wetter
wurden vor Jahrtausenden, so wie heute, die Seefahrer von der Seekrankheit befallen.
Warum die Seekrankheit von den alten Schriftstellern relativ selten erwähnt wird, dürfte
daher rühren, dass die Griechen und zum Theile auch die Römer mit dem Meere sehr
vertraut waren land auch durch - ihre Leibesübungen gestärkt, gegen die Einflüsse der
Seekrankheit zum Theile gefeit waren. Auch scheinen dieselben ihre Schiffahrten, mit
Rücksicht auf die Gefahren des Sturmes bei ihren gebrechlichen Fahrzeugen, nur bei
günstigem Wetter unternommen zu haben. Endlich mögen diese Völker, die dem milden
Klima entsprechend mehr im Freien gelebt haben und gute Naturbeobachter waren, in der
Wetterprognose sehr ausgebildet gewesen sein, und konnten sich daher den Gefahren der
Stürme und den Leiden der Seekrankheit entziehen.
Mit der Entwicklung der Schiffsbaukunst und der Häufigkeit der Seefahrten, die
sich allmälig zu einem allgemeinen Welt- Verkehrsmittel emporgeschwungen hat und ihre
Ausfahrten von der Wetterprognose unabhängig gemacht haben, mehren sich die Berichte
über das Vorkommnis von Seekrankheit, die aber dann als alltägliche Erscheinungen wieder
seltener werden und heutzutage, wo man weiss, dass die so lästige und zuweilen eine Agonie
vortäuschende Seekrankheit in der Regel ohne Folgen für den von ihr befallenen bleiben,
sind die Berichte über die Seekrankheit ganz aus der Publicistik verschwunden, ohne dass
man berechtigt ist, aus diesem Umstände aiif eine Abnahme dieser Krankheit zu schliessen.
Die vielen Vorschläge zu Aenderungen im Bau der Seeschiffe zur Verhütung der
Seekrankheit, so wie die grosse Zahl der Medicamente, die zur Heilung der lästigen
Krankheit oder zur Linderung der schwersten Symptome in den verschiedenen Fachzeit-
schriften der seefahrenden Völker empfohlen werden, lassen eher auf eine Zunahme der
Seekrankheit schliessen.
Es scheint jedoch, dass seit Jahrtausenden weder eine Zu- noch eine Abnahme der
Seekrankheit stattgefunden hat, dass aber die Bestrebungen zur Verhütung dieser Krankheit,
so wie zur Sistirung und Linderung ihrer Symptome doch vollberechtigt sind und wahr-
scheinlich in unserer erfindungsreichen Zeit noch zunehmen werden; weil die Seereisen in
der gegenwärtigen Zeit nicht nur als Verkehrsweg und als Hilfsmittel für Handel und
Industrie, sondern auch als hygienische und curative Maassregel für schwächliche und kranke
Personen benützt werden, bei denen die Seekrankheit von ernsten und dauernden oder selbst
bleibenden Folgen für den Befallenen begleitet sein können.
Dadurch erlangt die Besprechung der Natur und des Wesens der Seekrankheit und
der Mittel dieselbe zu verhüten oder ihre Symptome zu sistiren oder zu lindern ein höheres
und allgemeines Interesse axach für nicht seefahrende Nationen, und deshalb mass der
Seekrankheit auch ein Platz in jedem medicinischen Sammelwerke eingeräumt werden.
Disposition und Immunität. Im Allgemeinen kann man sagen, dass
Genus homo disponirt ist beim Reisen auf Segel- oder Dampfschiffen seekrank
zu w^erden, doch ist die Disposition nach den einzelnen Individuen eine ver-
schiedene. Einzelne Individuen erkranken, sobald sie das Schiff betreten,
und bleiben seekrank, bis sie das Schiff verlassen und festen Boden unter den
Füssen haben. Andere Individuen werden erst seekrank bei unruhiger oder
stürmischer See, und wieder andere werden nur zuweilen, nicht immer, bei
aufgeregter See krank. Ganz verschont von der Krankheit bleibt Niemand^
auch jene nicht, die die Seefahrt zu ihrem Lebensberuf gewählt haben und
den grössten Theil ihres Lebens auf dem Schiffe zubringen. Auch diese Men-
schen vermögen den grossen Stürmen nicht zu widerstehen, wenn sie auch
nur selten und nur für kurze Zeit erkranken, und auch während ihrer Krank-
heit nicht ganz berufsunfähig werden.
SEEKRANKHEIT. 485
Im Allgemeinen sind nervös veranlagte Menschen mehr disponirt see-
krank zu werden. Dementsprechend sind Frauen mehr als die Männer für
die Seekrankheit disponirt und unter den Frauen sind es die Hysterischen,
die von der Krankheit viel zu leiden haben.
Von einer Immunität gegen Seekrankheit kann man strenge ge-
nommen gar nicht sprechen, da der Begriff der Immunität sich nur auf In-
fectionskrankheiten bezieht und so viel bedeutet: der Immune vermag die ihn
befallenen Infectionskeime zu vernichten oder unschädlich zu machen. Die
Seekrankheit ist keine Infectionskrankheit wird nicht durch einen Infectionskeim
hervorgebracht, es kann daher auch von Immunität keine Rede sein, aber
nachdem einzelne Wesen von der Seekrankheit nicht, oder nur selten und in
geringem Maasse befallen werden, so ist es gestattet dieses theilweise Verschont-
bleibeu mit dem Ausdruck immun zu bezeichnen, obwohl bei dem Verschont-
bleiben von einer Zerstörung oder Unschädlichmachung eines Infectionskeimes
keine Rede ist.
Die Erfahrung lehrt, dass Säuglinge von der Seekrankheit gar
nicht befallen werden, dass Kinder bis zum 7ten und selbst bis zum
loten Jahr und auch Greise über 60 Jahre nur selten und nur wenig von
der Seekrankheit zu leiden haben; auch Taubstumme sollen der Seekrankheit
gegenüber, sich wie Kinder und Greise verhalten. In liegender Stellung und in
freier Luft, so wie beim Aufenthalt in dem mittleren Theil des Deckes haben
die Seekranken relativ weniger von der Seekrankheit zu leiden, als bei der
sitzenden und aufrechter Stellung und beim Aufenthalt im Zwischendeck
oder in den geschlossenen und Schlafräumen, so wie beim Aufenthalt am
vorderen und hinteren Ende des Schiffes, am Bug und Steuer.
Man nimmt gewöhnlich an, dass man im Schlafe von der Seekrankheit
verschont bleibe und bei massig gefülltem Magen weniger von der Seekrankheit
zu leiden habe als bei leerem Magen oder die Disposition für die Seekrankheit
sei im Schlafe gar nicht, bei massig vollem Magen nur in geringem Grade
vorhanden; doch wenn man bedenkt, dass man bei der Seekrankheit nicht
schlafen, und der gefüllte Magen seinen Inhalt nicht behalten kann, so müsste
man eigentlich sagen, dass der nicht von der Seekrankheit Befallene schlafen
und seinen Magen massig gefüllt haben kann, was ja selbstverständlich ist.
Aber nicht nur das Genus homo, sondern auch die anderen warmblütigen
Thiere sind der Seekrankheit unterworfen, Affen, Hunde, Pferde, Raubthiere,
Vögel unterliegen bei stürmischer See der Seekrankheit. Auch jene Thiere,
die nicht erbrechen können, lassen das Vorhandensein der Seekrankheit an
dem Mangel von Esslust, an der Niedergeschlagenheit, Kopfliängen, Trägheit
der Bewegungen, zuweilen auch durch Abmagerung erkennen. Ob auch
Wiederkäuer seekrank werden können, vermag ich nicht anzugeben, weil über
die Erkrankung derselben nirgends eine Erwähnung gemacht wird, und doch
sollen auf Schiften, die für den Transport von Kranken bestimmt sind, zur
Beschaffung von frischer Milch, milchende Kühe mitgeführt werden. Nähere
Angaben in dieser Richtung, im positiven oder negativen Sinne, wären sehr
erwünscht und würden beitragen, die Theorie der Seekrankheit zu beleuchten.
Ob auch das Leben der Pflanzen von den Schwankungen des Schiffes
bei stürmischer See beeinflusst wird ist bisher nicht bekannt, doch wäre die
Erforschung dieser Frage nicht gar zu schwierig und Hesse sich an den Ver-
änderungen der Spiragyra und anderer empfindlicher Algen unschwer nach-
weisen. Nach den Publicationen Professors Gregoe Kraus in den Jahrbü-
chern des botanischen Gartens von Buitenzorg (Prometheus Nr. 24, 1896), der
das Längenwachsthum der Bambusschösslinge einmal mit 19*9 — 22-9 cm und
ein anderesmal sogar mit 42 — 57 cm in 24 Stunden bestimmt hat, wonach also
das Spitzenwachsthum der Schösslinge 1 — 2 cm per Stunde beträgt, Hesse es
486 SEEKRANKHEIT.
sich leicht ermitteln, ob und welchen Einfluss die Schiffsbewegungen bei stür-
mischer See auf das Pflanzenwachsthum haben.
Bei manchen Menschen kommen übrigens ähnliche Erscheinungen, wie
sie bei der Seekrankheit zu beobachten sind, auch auf dem festen Lande vor.
Es gibt Menschen, besonders nervöse Frauen, die beim Fahren in Schnell-
zügen, besonders wenn sie rückwärts sitzen, d. h. wenn sie den Rücken der
Bewegungsrichtung zukehren, seekrank werden. Andere Menschen werden beim
schnellen Drehen und Tanzen, beim Schaukeln, beim Herabsehen von einem
hohen Thurme, beim Ueberschreiten einer schmalen Brücke, beim Hinunter-
blicken in den Abgrund, oder auch beim Anblick eines schnellfliessenden
Stromes, ja sogar beim Hinaussehen auf das weite Meer von Schwindel,
Uebligkeit und Brechneigung oder selbst Erbrechen befallen, ganz so wie bei
Seekrankheit.
Symptomatologie. Die Symptome der Seekrankheit sind zwar so ver-
schieden, wie die von der Krankheit Befallenen; um aber die Uebersicht und
die Schilderung der Symptome zu vereinfachen, sollen dieselben gesondert
werden:
I. Die Symtome der Seekrankheit bei ruhiger See und
II. die Symptome bei bewegter und stürmischer See. Die Symptome der
Krankheit sowohl bei ruhiger als bei stürmischer See, sollen weiter unter-
schieden werden, je nachdem dieselben die körperlichen oder die seelischen
Functionen betreffen.
ad I. Es gibt Menschen, besonders Frauen, die selbst beim Betreten eines
verankerten Schiffes auf glatter See bei heiterer und windstiller Luft von der
Seekrankheit befallen werden. Diese bleiben in der Regel während der ganzen
Dauer ihres Schiffsaufenthaltes seekrank, die erst endet, bis sie wieder festen
Boden unter den Füssen haben; doch sind die Erscheinungen so lange das
Schiff' sich auf glatter See bewegt erträglich und äussern sich nur in einem
Gefühl von Unbehagen in der Brust und Bauchhöhle in einem eingenommenen
Kopfe und allgemeiner Verstimmung. Sobald aber die See unruhig, die
Schaukelbewegungen des Schiffes grösser werden, steigern sich die angeführten
Symptome. Es tritt Brechneigung, Unruhe, Appetit- und Schlaflosigkeit ein,
und bei orkanartigen Stürmen, bei denen die Wellen sich haushoch erheben,
von ebenso grossen getroffen in ihrer Bewegungsrichtung gestört und geändert
zu feinem und gröberen Wasserstaub zerstäubt werden, tritt ein Zustand ein,
der Collaps-Erscheinungen und eine Agonie vortäuscht, wie dieses später ge-
zeigt werden soll, die jedoch nach meinen Erfahrungen niemals von ernsten
Folgen oder gar von einem letalen Ausgang begleitet sind.
Hier soll nur hervorgehoben werden, dass bei der gelinden Form der
Seekrankheit, wie sie bei massig bewegter zuweilen sogar bei glatter See zu.
beobachten ist, die körperlichen Erscheinungen sich auf ein Unbehagen im
Gebiet des Verdauungstractes, auf eine Eingenommenheit des Kopfes be-
schränken, ohne ausgesprochene Beschwerden oder Schmerzen in einem be-
stimmten Organe oder einem Gewebe hervorzurufen; während die seelischen
Symptome eine Niedergeschlagenheit der Gemüthstimmung, eine Trägheit
und Unlust zum selbständigen Denken, sowie zur Perception der Gedanken
Anderer, wie dies bei der Leetüre, beim Anhören, beim Vorlesen oder beim
Sprechen sich bemerkbar machen, ohne dass für diese geistige Lethargie ein
anderer Grund als die Schwankungen des Schiffes vorhanden wären.
ad IL Ganz anders stellen sich die Erscheinung der Seekrankheit dar,,
beim Vorhandensein grosser Seestürme. Man kann die Behauptung aus-
sprechen, dass es keinen Menschen gibt, der von der Seekrankheit ganz ver-
schont bleibt. Selbst Matrosen und Schiffsofficiere, Schiffsköche, Schiffswärter
und Diener beiderlei Geschlechtes, die den grössten Theil ihres Lebens auf
dem Schiffe zubringen, werden zuweilen, wenn auch nicht bei jedem Sturme-
SEEKRANKHEIT. 487
von der Seekrankheit befallen. Ich kann es aus meinen eigenen Erlebnissen
raittheilen, dass ich auf meinen Fahrten im atlantischen Ocean, in der Ost-
und Nordsee, auf dem mittelländischen Meer, im Quarnero und in einzelnen von
Stürmen heimgesuchten Binnenseen, unter relativ gleichen Stürmen und bei
gleicher Gesundheit und zweckmässiger Diät, das eine mal von der See-
krankheit viel zu leiden hatte, das andere mal ganz von derselben ver-
schont geblieben oder in sehr geringem Grade befallen worden bin. Ich habe
vergebens nach einer genügenden und begründeten Erklärung für diese ver-
schiedene Empfänglichkeit für die Seekrankheit gesucht. Ich vermag auch
jetzt keine Erklärung dafür zu geben. Ich weiss nur, dass auch bei anderen
Menschen eine solche Verschiedenheit in der Empfänglichkeit für die See-
krankheit so wie für die Intensität der Krankheit zu verschiedenen Zeiten bei
derselben Seereise auf demselben Schiffe zu verzeichnen ist.
Das markanteste und lästigste Symptom der Seekrankheit bei stürmisch
aufgewühlter See besteht in einer sich wiederholenden Brech- oder Würg-
bewegung, bei w^elcher unter schmerzhafter Contraction der Bauch- und der
Exspirationsmuskulatur, der Inhalt des Magens nach aussen getrieben wird,
gleichviel, ob derselbe von Speisen und Getränke mehr oder weniger erfüllt
ist, oder ob derselbe nur Schleim und Magensaft enthält. Neben diesen
Brech- und Würgbewegungen, ist eine auffallende Muskelschwäche, zuweilen
Muskelzittern oder Zuckungen einelner Muskeln, ein profuser Schweiss auf
der Hautob erfiäche mit einer Gänsehaut und Horripilation zu beobachten. Die
Befallenen haben während der Dauer der Seekrankheit die Empfindung des
statischen Gleichgewichtes eingebüsst und zuweilen auch das Coordinations-
Vermögen verloren und sind temporär ataktisch geworden, sie vermögen ohne
Stütze sich nicht aufrecht zu erhalten und bei offenen und geschlossenen
Augen sich nicht fortzubewegen. Nur in einzelnen Fällen besteht ein Wider-
wille oder Ekel gegen Speisen; in der Mehrzahl der Fälle besteht ein Ver-
langen oder ein Gefühl des Hungers, aber ein Unvermögen die eingenommenen
Speisen und Getränke zu behalten, und die Empfindung dieses Unvermögens
veranlasst eine Abstinenz gegen jede Nahrung, obwohl Esslust oder Hunger
vorhanden ist. Der Kopf ist eingenommen, schmerzhaft zum Auffassen, zum
Denken und Urtheilen unfähig, das Gedächtnis ist in vielen Fällen intact, in
manchen Fällen geschwächt, oder temporär erloschen. Rauschen in den Ohren
und Funkensehen, Scotome und Mouches volants habe ich wenigstens nie-
mals beobachtet, dagegen Stimmlosigkeit und Unfähigkeit zu schlingen recht
häufig, daher scheint die Vermehrung und Anhäufung des Speichels im Munde,
der nicht verschluckt werden kann. Die Herzbewegung ist geschwächt und
häufig beschleunigt, der Puls klein und unregelmässig. Die Athmung ist eher
verlangsamt, arhythmisch, bald tief, bald oberflächlich. Die Function^der Leber
scheint von der Seekrankheit ganz unberührt zu bleiben, dagegen ist die
Darmfunction fast immer beeinträchtigt. Es ist gewöhnlich eine hartnäckige
Stuhlverstopfung vorhanden, nur selten wird die Verstopfung von einer Diarr-
höe mit Lähmungserscheinungen der Sphinkteren und einem Unvermögen
den Darminhalt zurückzuhalten begleitet sein.
Die Nierenthätigkeit ist während der Seereisen im Allgemeinen ge-
steigert, es wird mehr Harn abgesondert als auf dem Festlande und das
dürfte auch während des Sturmes der Fall sein, doch kommt zuweilen eine
Incontinentia urinae besonders bei älteren Leuten vor, die durch die Bauch-
presse bei den häufigen Brech- und Würgbewegungen hervorgebracht wird.
Auf die Menstruation der Frauen scheint die Seefahrt so wie auf alle vege-
tativen Vorgänge des menschlichen Lebens günstig zu wirken, und sind mir
einige Fälle bekannt, in welchen die ausgebliebenen Regeln sich auf dem
Schiffe eingestellt haben. Ob die Milchsecretion während des Sturmes ab-
nimmt, vermag ich nicht anzugeben, weil Frauen während der Seekrankheit
488 SEEKEANKHEIT.
ihre Kinder nicht trinken zu lassen vermögen; ob Milchkühe während des
Sturmes weniger Milch geben, ist nirgends verzeichnet. Von Metiorhagien
die durch die Schiffsbewegungen eingetreten sein sollen, ist mir persönlich
nichts bekannt. Dort wo solche Blutungen durch Uteruspolypen oder durch
andere entzündliche Processe der Gebärmutter früher bestanden haben, dürften
dieselben auf dem Schiffe fortdauern. Früh- und Fehlgeburten scheinen durch
die Seekrankheit nicht veranlasst zu werden. Im Allgemeinen meiden zwar
die schwangeren Frauen die Seereise, aber auf den Auswandererschiffen, wo
es immer eine grössere Zahl von Schwangeren gibt, sollen Früh- und Fehl-
geburten nicht vorkommen. Riese führt an, er habe auf einem nach Australien
fahrenden Schiffe unter den Sanitätsbehelfen auch eine Zwangsjacke vorgefunden,
weil eine solche gebraucht worden sein soll für einen durch die Seekrankheit in
Tobsucht gerathenen Passagier. Nach meinen Erfahrungen ruft die Seekrankheit
weder Aufregungszustände noch Tobsucht hervor. Ein solches Vorkommnis dürfte
sich einfacher aus dem Umstände erklären, dass ein Potator wegen der Seekrank-
heit viel Alkohol zu sich genommen hat und in ein Alkoholdelirium verfallen sei,
für welches die Zwangsjacke nöthig geworden ist. Die Seekrankheit ruft überhaupt
keine Erregungs-, sondern immer hochgradige Depressionszustände hervor. Die
von Seekrankheit Befallenen sind energie- und willenlos. Sie verlieren das In-
teresse und die Rücksicht für die Umgebung. Es ist charakteristisch, dass
Frauen, die sich im gesunden Zustande nur dann auf dem Verdecke zeigen,
wenn sie vollkommen Tpilette gemacht, ihr Haar gescheitelt und sich voll-
ständig salonfähig gemacht haben, während der Seekrankheit mit vom Er-
brechen beschmutzten Kleidern, mit aufgelösten wirr durcheinander gebrachten
Haaren, mit entblösstem Busen, aufgeschürzten Unterkleidern, entblösstem
Knie auf dem Verdecke liegen, als hätten sie nie Anstand und Decenz gekannt.
Die Seekranken sind unbesinnlich und befinden sich in einem Zustand von
Halbnarkose, damit erscheint die Schilderung über die Aenderung der geistigen
Functionen während der Seekrankheit erschöpfend gekennzeichnet. Alle hier
angeführten körperlichen und geistigen Symptome der Seekrankheit sind mit
dem Aufhören des Seesturmes mit einem Schlage verschwunden, nur bei Frauen
und bei nervösen Männern ist noch ein schwacher Nachklang der Symptome
durch einige Stunden hindurch zu verspüren.
Aetiologie. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass die Seekrankheit mit
dem Schaukeln des Schiffes in einem causalen Zusamm^enhange steht, denn so
lange das Schiff' auf festem Boden ruhet, wird kein Besucher des Schiffes
seekrank werden, wie gross auch der Sturm ist, der das Schiff umbraust. Nun
hat ein Schiff auf der Meeresoberfläche, besonders während des Sturmes eine
sehr complicirte Art zu schaukeln. Es handelt sich also darum, erstens diese
complicirten in einfache Bewegungen aufzulösen, und zweitens nachzuweisen, in
welcher Art diese Bewegungen des Schiffes die Seekrankheit hervorruft. Dieser
Nachweis soll bei der Besprechung der Theorie der Seekrankheit Erledigung
finden. Hier sollen nur die verschiedenen Bewegungen des Schiffes und
die Abhängigkeit der Seekrankheit von diesen Bewegungen besprochen
werden.
Die Bewegung eines Schiffes ist nach den 3 Richtungen eines Coordi-
natensystemes eine dreifache.
1. Eine Bewegung des Schiffes, eine Drehung oder Schwingung um die
Längsachse des Schiffes. Sie wird hauptsächlich durch die Wirkung der Schiffs-
schraube hervorgebracht. Man nennt diese Bewegung das Rollen des
Schiffes. Es scheint, dass in den neueren Schiffen mit 2 Schrauben, wobei
auf jeder Seite des Kieles je eine Schraube angebracht ist, die Rollbewegung
des Schiffes kleiner ist als bei den Schiffen mit 1 oder mit 3 Schrauben.
2. Eine Bewegung, eine Drehung, eine Schwingung des Schiffes um
seine Querachse. Diese Querachse wird in der Regel in der queren Schwer-
SEEKRANKHEIT. 489
punktsebene liegen und durch den Mittelpunkt durch das Metacentrum des
Schiffes gehen. Die quere Drehungsachse kann aber auch nach vorne oder
nach rückwärts von der quer gelegenen Mittellinie des Schiffes zu suchen sein.
3. Ein Auf- und Niedergehen des Schiffes in vertikaler Richtung, wenn
bei ruhendem Schiffe das Metacentrum, der Schwerpunkt des Schiffes vom
Wellenberg ins Wellenthal niedersinkt. Diese Drehung des Schiffes um seine
Querachse und die vertikale Hebung und Senkung des ganzen Schiffes nennt
man das Stampfen des Schiffes. In diese 3 einfachen Bewegungen lassen
sich die complicirten Bewegungen des Schiffes zerlegen, wobei jedoch zu be-
merken ist, dass bei den wirklichen Bewegungen des Schiffes der Ursprung
des Coordinatensystemes nicht fixirt, sondern nach der Richtung aller 3 Coor-
dinaten im positiven oder negativen Sinne verschoben sein kann. Diese
continuirliche Verschiebung des Ursprungs der Coordinatenachsen, neben der
Schwingung in den einzelnen Achsen compliciren die Schiffsbewegungen und
machen es schwer den Einflus der Schiffsbewegungen auf die Seekrankheit zu
präcisiren. Jedenfalls haben diese Schwankungen einen sehr grossen Antheil
auf das Zustandekommen der Seekrankheit, weil eine schaukelnde oder drehende
Bewegung auf dem Festlande, in einer aufgehängten Schaukel, oder im
Caroussel, oder beim schnellen Umdrehen um die Längsachse bei manchen
Tänzen ähnliche Erscheinungen, Schwindel, Uebelkeit, Brechneigung oder
wirkliches Erbrechen hervorruft.
Uebrigens habe ich an mir selbst, beim Stehen auf einem Balcon wäh-
rend eines Erdbebens eine ähnliche Empfindung wie beim Beginne der See-
krankheit wahrgenommen und es ist leicht möglich, dass bei längerer Dauer
des Bebens bei empfindlichen oder disponirten Personen Erscheinungen von
Seekrankheit sich zeigen. Manche Frauen werden bei Fahren in der Eisen-
bahn oder auch im gut federnden Wagen seekrank. Andere werden nur see-
krank, wenn sie beim Fahren rücklings, d. h. mit dem Rücken in der Rich-
tung der Bewegung sitzen. Es sind diese Bewegungen Schwingungen, welche
ähnliche Erscheinungen der Seekrankheit auf dem Festlande hervorrufen. Es
sind aber auch noch andere seelische Momente, welche die Seekrankheit er-
zeugen oder zur Erzeugung derselben beitragen können. So kann das Fehlen
eines Ruhepunktes für das Auge, welche beim Ausblick auf die unermessliche
Meeresfläche keinen Punkt findet, den das Auge fixiren kann, zur Entstehung
der Seekrankheit beitragen. Selbst der Horizont an der Grenze des Sehens
ist schwankend, steigt mit Schwankungen des Schiffes nach auf- und abwärts,
neigt sich nach verschiedenen Richtungen, oder stellt eine sich fortwährend
ändernde krumme Linie dar. Auch das Fehlen des statistischen Gleichge-
wichtes und das dadurch erzeugte Gefühl der Unsicherheit in den Körper-
bewegungen mag zur Entstehung der Seekrankheit beitragen, wie dieses auch
beim Reiten auf Kameelen, Dromedaren und auf Pferden, die auf ungebahn-
ten Wegen sich den Passgang angewöhnt haben, vorkommt. Auch die Angst
und die Furcht für das Leben beim Sturme soll ihren Antheil an der Entste-
hung der Krankheit haben(?).
Endlich ist noch eine Intoxication als ätiologisches Moment für die
Seekrankheit namhaft zu machen. Eine solche Intoxication kann durch den
Genuss eines mitgeführten, schlecht gewordenen Trinkwassers, durch den
Genuss verdorbener Nahrungsmittel, durch Austern, durch Stuhlverstopfung,
durch Autointoxicationen wie bei einer Retention gewisser Excrete, haupt-
sächlich aber durch die Einathmung des zerstäubten Seewassers erzeugt werden.
Durch das Gegeneinanderschlagen der Wellen wird das Seewasser zer-
stäubt und in feinen Dunst umgewandelt, welcher mit der Luft eingeathmet
in die Lungenbläschen gelangt, dort resorbirt und in den Kreislauf gebracht
wird. Die grosse Menge der im Seewasser enthaltenen Salze können eben so
Uebligkeiten und Brechbewegungen hervorbringen, wie die Einathmung oder
490 SEEKRANKHEIT.
die subcutane Injection von Sulfas magnesiae, Diarrhöen hervorzubringen vermag.
Dass eine solche Intoxication mit Seesalzen wirklich vorhanden ist, geht
daraus hervor, dass während eines Sturmes, die Haut, das Barthaar, die Klei-
dung mit einer feinen Schichte von Salzwasser bedeckt wird und auch den
eckelhaft salzigen Geschmack hat. Der Mensch verhält sich beim Sturme
ebenso wie nach dem reichlichen Genuss von Seewasser, welches ja bekannt-
lich Uebligkeiten, Ekel und Erbrechen hervorruft.
Damit sind die ätiologischen Momente, welche zur Entstehung der See-
krankheit beitragen, erschöpft; dabei muss man sich jedoch bewusst sein, dass
die Erklärung wie diese ätiologischen Momente die Krankheit hervorrufen,
durchaus nicht klar ist, und dass die später anzuführende Theorie über die
Entstehung dieser Krankheit noch viel Hypothetisches enthält.
Diagnose. Wenn ein sonst gesunder Mensch beim Betreten des Schiffes,,
oder beim Ausbruch eines Sturmes unter den eben geschilderten Symptomen
erkrankt, so wird wohl kein Zweifel über die Diagnose herrschen, dass es
sich um eine Seekrankheit handelt; dennoch kann es Fälle geben, wo die
Diagnose nicht mit Sicherheit gestellt werden kann und wo auch die Dif-
lerentialdiagnose nicht ganz leicht erscheint.
Da sind zunächst alle jene Vergiftungen mit mineralischen und vege-
tabilischen Giften zu erwähnen, die mit Erbrechen einhergehen. Ich erwähne
die Arsenvergiftung und zwar jene, die durch relativ kleinere Dosen bewirkt
worden ist, und nicht tödtlich, oder wenigstens nicht rasch tödtlich wirkt.
In einem solchen Falle wird die Differentialdiagnose, ob es sich um Seekrank-
heit oder um Vergiftung handelt, hauptsächlich durch das Vorhandensein von
Schmerzen in der Magengegend zu entscheiden sein, die nur bei der Ver-
giftung zu finden ist und bei der Seekrankheit fehlen. Wenn aber zufällig
eine Combination von Seekrankheit mit Cardiagie vorhanden ist, dann bleibt
die Differentialdiagnose zwischen Seekrankheit und Vergiftung unentschieden,
da es auf dem Schiffe schwierig sein dürfte den Arsenik chemisch oder durch
den Spiegel nachzuweisen.
Auch beim Vorhandensein eines Ulcus rotundum des Magens, wird die
Diagnose der Seekrankheit nicht immer leicht sein, besonders dann, wenn im
Erbrochenen wenig oder gar kein Blut vorhanden ist.
Dann kommt die grosse Gruppe der Innern Incarcerationen, der Volvo-
lus, die Intussuseption, die Knickung, Stenosirung des Darmes durch Stränge,
wie sie nach Entzündungsvorgange im Peritoneum zurückbleiben, endlich
durch Geschwülste und Neubildungen hervorgerufen werden. Es würde zu weit
führen die Diöerentialdiagnose aller dieser Krankheiten von der Seekrankheit
detaillirt zu schildern. Es mag genügen auf die Möglichkeit des Vorhan-
denseins von einer inneren und äusseren Incarceration (Leisten- und Schen-
kelhernien) aufmerksam gemacht zu haben, um den Arzt zu veranlassen,
den Unterleib näher zu untersuchen, wobei sich eine Incarceration schnell
erkennen lassen wird.
Nachdem viele Infectionskrankheiten mit Erbrechen beginnen, so werden
auch diese bei der Diagnose zu berücksichtigen sein, doch wird man dieselben
sehr bald an dem vorhandenen Fieber erkennen, welches bei der Seekrankheit
fehlt; auch wird man die Infectionskrankheiten sehr bald durch das Auftreten
eines Exanthems, erkennen und von der Seekrankheit unterscheiden. Bei
Frauen wird man auch daran denken müssen, ob man es nicht mit einer
Gravidität in den ersten Schwangerschaftsmonaten zu thun habe, bei wel-
cher Erbrechen und die anderen geschilderten Erscheinungen vorhanden
sein und eine Seekrankheit vortäuschen können. Auch an verschiedene
Hirnerkrankungen, die mit Erbrechen einhergehen, wird man bei der
Stellung der Diagnose der Seekrankheit zu denken haben. Aber man kann
dennoch sagen, dass in der grössten Mehrzahl der Fälle, die Stellung der
SEEKRANKHEIT. 491
Diagnose der Seekrankheit sehr leicht sein wird, dass man jedoch an die
Möglichkeit einer der hier namhaft gemachten Krankheiten denken muss.
Verlauf und Prognose. Der Verlauf der Seekrankheit ist in der Regel
ein günstiger, indem in der Mehrzahl der Fälle mit dem Nachlass des Stur-
mes, d. h. sobald die aufgeregten Wellen verschwunden sind und die Meeres-
fläche sich geebnet hat, hört auch, wie mit einem Zauberschlage, die See-
krankheit mit allen ihren Symptomen auf.
Indessen gibt es genug Individuen, besonders empfindliche Frauen, die
auch beim Nachlassen des Sturmes, selbst bei ebener spiegelglatter Meeres-
oberfläche an den Erscheinungen der Seekrankheit zu leiden haben, wenn
dieselben auch gelinder sind als bei stürmisch bewegter See. Auch bei diesen
Personen, welche während der ganzen Dauer der Seefahrt seekrank sind, nichts
essen können, und wenn sie essen, das Genossene nicht behalten, sondern bald
wieder erbrechen, auch bei diesen ist der Verlauf der Krankheit ein sehr
glatter. Ich habe einzelne Fälle beobachtet, in welchen die Frauen so lange
sie auf dem Schiffe waren, nichts gegessen und stets erbrochen haben und
doch sobald sie das Schiff verlassen haben, ganz frisch und munter waren.
Die Seedampfer machen ihre Touren ohne Unterbrechung. Sie legen
nur an, um Kohlen oder Lebensmittel zu holen, oder um die Post und
Passagiere ans Land zu setzen und aufzunehmen, sind daher ohne Unter-
brechung durch 10 — 16 Tage unter Dampf, bleiben 1 — 3 Tage im Hafen liegen,
ehe sie wieder ihre Seefahrt fortsetzen, so lange finden sich schwache Frauen
ohne Nahrung, ohne dass ihnen dieses lange Fasten schadet. Viele dieser
Kranken versuchen, theils aus Hunger, theils auf Anrathen des Schiffsarztes
oder anderen Personen, Nahrung zu sich nehmen, um ihren qualvollen Zustand
zu erleichtern, die sie aber bald erbrechen. Es ist ja möglich, dass nicht alles
wieder erbrochen, sondern dass etwas zurückbehalten wird, jedenfalls wird nur
wenig zurückbehalten. Man hat also auf Dampfern reichlich Gelegenheit, Männer
und Frauen zu beobachten, die längere Zeit hungern, ohne einen besonderen
Nachtheil für ihre Gesundheit durch diesen Nahrungsmangel zu erleiden. Auf
Segelschiffen dürfte die Dauer der Seefahrt, bevor das Schiff anlegt, folglich
auch die Dauer des Nahrungsmangels, viel länger dauern als bei Dampfschiffen;
leider fehlen auf den Segel- und Dampfschiffen alle Mittel und Behelfe zu
einer wissenschaftlichen Verwerthung der durch diese langen Hungerperioden
geänderten Functionen des hungernden Organismus.
Nach dem Gesagten ist die Prognose der Seekrankheit als günstig zu
bezeichnen, d. h. die reine Seekrankheit, die mit keiner andern Krankheit
complicirt ist, verläuft sich selbst überlassen, ohne jede Medication von selbst
sehr günstig und endet in Heilung, sobald der Seekranke das Schiff verlässt,
und festen Boden unter die Füsse bekommt. Nur in seltenen Fällen klingen
die Erscheinungen der Seekrankheit auf dem Festlande noch einige Zeit nach.
Die Kranken leiden, nach dem sie das Schiff verlassen haben, noch einige Zeit
an Schwindel, an einem schwankenden, breitspurigen Gang, an Abstinenz, aus
Furcht erbrechen zu müssen.
Nur bei Complicationen der Seekrankheit mit andern krankhaften Zu-
ständen kann die Prognose eine ernste Bedeutung für den Ausgang der Krank-
heit und selbst für das Leben des Kranken erlangen. In allen jenen Erkran-
kungen die zur Heilung absolute Ptuhe des Körpers erheischen, wird, wenn
dieselben mit der Seekrankheit combinirt sind, durch die Bewegungen, Schwan-
kungen, und Stössen des Schiffes die nöthige Ruhe fehlen, wodurch die Pro-
gnose dubiös wird. Es ist nicht nothwendig alle derartigen Fälle detaillirt
aufzuzählen. Es soll nur im Allgemeinen erwähnt werden, dass bei allen
Hirnerkrankungen, bei der Pneumonie, der Peritonitis, bei Hernien, beim
Abortus, bei vielen Gefässerkrankungen etc. wenn dieselben mit der Seekrank-
492 SEEKRANKHEIT.
heit combinirt sind, die Prognose ernst wird; doch ist das Ernstwerden der
Prognose nur auf das mit der Seekrankheit combinirte Leiden zu beziehen,
Prophylaxe. Wenn auch die Seekrankheit von keinen ernsten Folgen
begleitet ist, so wird doch Niemand zweifeln, dass das Leiden an und für sich
unerträglich ist und den Lebensgenuss, während der Dauer der Krankheit sehr
verkümmert; dazu kommt noch, dass beim dermaligen Weltverkehr zur See
relativ viele Menschen von der Seekrankheit befallen werden, dass gegenwärtig
das Seereisen als Heilmittel bei Nervenkrankheiten vielfach empfohlen und
angewendet wird, und dass gegen Tuberculose gewisse klimatische Curorte
benützt werden, die nur mit dem Dampfer zu erreichen sind, wie Lusin,
Corfu, Madeira, Capland etc. Es ist daher begreiflich, wenn vielfach nach Mittel
und Methoden gesucht worden ist, um die Seekrankheit zu verhüten. Ohne der
Theorie über die Seekrankheit vorgreifen zu wollen, so steht doch so viel
fest, dass die Seekrankheit einerseits von den Stossen und Schwankungen
des Schiffes und andererseits von dem Unvermögen des einzelnen Individuums
herrührt diesen Stössen und Schwankungen zu widerstehen, welche Wider-
standslosigkeit sich im Schwindel, Unwohlsein, Brechneigung oder wirkliches
Erbrechen kundgibt. Dementsprechend haben die Versuche der Prophylaxe
sich theils auf die Construction des Schiffes erstreckt, welche die Stösse und
Schwankungen des Schiffes einschränken oder ganz aufheben soll, und theils
auf die Hebung der individuellen Widerstandsfähigkeit ausgedehnt. — Von
den verschiedenen Arten von Schiffen lässt sich nur schwer sagen, welche
Schiffe es sind, die am wenigsten zur Seekrankheit disponiren. Manche geben
an, die Segelschiffe schwanken und stossen am meisten, etwas weniger Schrau-
bendampfer, und die geringsten Schwankungen, sollen die Paddampfer erzeu-
gen, und demnach sollen die Raddampfer am wenigsten, Segelschiffe die
meisten seekranken Passagiere haben, während die Schraubendampfer die Mitte
zwischen Segelschiff und Raddampfer einnehmen soll. Soweit ich die Verhält-
nisse beurtheilen kann, kann ich einen Unterschied zwischen den 3 Katagorien
von Seeschiffen nicht finden, und wird ein zur Seekrankheit disponirtes Indi-
viduum, ceteris paribus, auf Segel-, Schrauben- und Raddampfer gleich oft
und gleich stark erkranken. — Man hat ferner geglaubt darch den Bau sehr
grosser Transportschiffe die Stösse und Schwankungen mildern zu können.
Ein solches RiesenschiÖ' war der Leviathan. Dieses Schiff wurde aber zum
Personentransport, für den es eigens gebaut worden ist, bald wieder aufge-
lassen, und scheint es, dass der Leviathan nicht weniger Seekranke hatte,
als die anderen Dampfer gehabt haben.
Ein weiterer Versuch zur Abschwächung der Stösse und Schwankungen
der Passagierschiffe bestand darin, dass die Schiffe doppelwandig gebaut
worden sind, in der Art, dass das innere Schiff in dem äusseren aufgehängt
war. Meines Wissens ist nur ein einziger derartiger Versuch ausgeführt
worden, und scheint den Erwartungen nicht entsprochen zu haben; aber auch
wenn der Erfolg in Bezug auf die Seekrankheit ein günstigerer wäre, so
stünden die Kosten für die Erbauung eines solchen Doppelschiffes in keinem
Verhältnisse zu den Leistungen, da ja nicht alle Passagiere eines Schiffes und
nicht zu jeder Zeit an Seekrankheit zu leiden haben.
Man hat ferner versucht, den Salon im Centrum des Schiffes so auf-
zuhängen, wie den Schiffs-Compass, in einem Systeme von Ringen, deren
Achsen den 3 Coordinaten entsprechen, so dass der Salon, welche Neigung das
Schiff auch nimmt, doch stets vertical bleibt. Ein so aufgehängter Salon
stellt sich bei den Stössen und Schwankungen des Schiffes immer vertical
ein, die Personen, die in einem solchen Salon leben, empfinden daher das
Rollen und das Stampfen des Schiffes nicht, oder wenig; nur das Auf- und
Niedergehen des Schiffes wird auch im hängenden Salon empfunden.
SEEKRANKHEIT. 493
Man hat endlich versucht die Schlaf cabinen und die Cojen ganz so wie
den Salon zu suspendiren, damit die Stösse und Schwankungen des Schiffes
in denselben paralysirt werden. Nachdem aber diese Methode des Aufhängens
des Salons und der Schlafcabinen wieder aufgelassen worden ist, so musste
sich auch diese Construction nicht ganz bewährt haben. — Ich habe an einen
anderen Vorschlag gedacht, der die Seekrankheit verhüten oder in ihren
Symptomen mindern soll. Man behauptet, dass bei argen Stürmen das Aus-
giessen von Oel um das Schilf, die Wellen in dem Bereich des Schiffs-
körpers ebnen solle. Wenn diese Angabe den Thatsachen entsprechen sollte,
dann hätte man in dem Oelaufguss ein bequemes und nicht sehr kostspieliges
Mittel um die schlimmsten Erscheinungen der Seelvrankheit (die ja der
Intensität der AYellenbewegung entsprechen) zu mildern. Ich muss hinzu-
fügen, dass ich keine Gelegenheit gehabt habe, mich zu überzeugen, ob und
in welchem Grade der Oelguss im Stande ist, die aufgeregten Wogen in der
Umgebung des Schiffskörpers zu beruhigen.
Ich habe nun noch die Vorschläge zu besprechen, die gemacht worden,
um die Widerstandsfähigkeit des Individuums gegen Seekrankheit, zu erhöhen.
Es wurde in erster Linie empfohlen, die Menschen, bevor dieselben zu See
gehen, durch einige Wochen an Schaukelbewegungen zu gewöhnen, um sie
gegen die Schwankungen und Stösse des Schiffes unempfindlich zu machen.
Durch Schaukeln, durch Caroussel, Fahren, Turnen, Reiten und Leibesübungen
sollen die Menschen an Stössen und Schwankungen sich gewöhnen.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese Uebungen wohlthätig wirken,
aber zur Verhütung der Seekrankheit reichen sie nicht aus, weil auch geübte
Turner und Menschen, deren Beruf sie den grössten Theil ihres Lebens auf
dem Schiffe zuzubringen nöthigt, bei heftigen Stürmen seekrank werden.
Man kann sich durch Gewöhnung nicht gegen Seekrankheit festigen. Wir
werden bei der Besprechung der Theorie auf den Gegenstand zurückkommen.
— Weiters ward empfohlen vor der Seereise massig zu leben, besonders den
Alkoholgenuss und das Rauchen einzuschränken; ferner w^ährend der See-
krankheit öfters flüssige und wenn durchführbar auch feste Nahrung zu sich
zu nehmen; wenn die Ingesta auch nicht behalten werden, so ist doch das
Erbrechen von Mageninhalt, weniger schmerzhaft, als das Erbrechen bei
leerem Magen. Auch wird der Kräftezustand mehr geschont, wenn trotz Er-
brechen Nahrung aufgenommen wird, weil ein Theil des Genossenen resorbirt
wird, w'elches dem Körper zugute kommt. Der Vorschlag durch reichlichen
Alkoholgenuss auf dem Lande sich gegen die Seekrankheit unempfindlich zu
machen kann wohl nicht ernst gemeint sein.
Aus dem Gesagten ist zu entnehmen, dass es kein Mittel gibt die See-
krankheit zu verhüten, und dass es auch kein anderes Prophylacticum zur
Linderung gibt, als den Körper zu kräftigen.
Therapie. Nachdem die Naupathie ein Leiden ist, welches mit dem
Verlassen des Schiffes stets oder grösstentheils von selbst aufhört, so gibt
es eigentlich keine Therapie der Seekrankheit. Eine Therapie ist nur bei
solchen Krankheiten indicirt, deren Dauer und Ausgang sich im Vorhinein
nicht bestimmen lässt, die auch mit dem Tode enden kann, das ist nun bei
der Seekrankheit nicht der Fall; aber nachdem diese Krankheit während ihrer
Dauer so ausserordentliche Beschwerden hervorruft, so haben die Aerzte,
deren Berufes ja ist Schmerzen zu lindern, sich von jeher bemüht, und be-
mühen sich noch gegenwärtig das Leiden zu lindern. Jedes neue Mittel, von
dem sie irgend einen Erfolg erwarten konnten, haben sie bei der Seekrank-
heit versucht. Leider ist ein wirksames Mittel, welches die Leiden sofort
zum Schwinden zu bringen vermag, zur Stunde noch nicht bekannt. Alle
bisher angewendeten Mittel sind nur Paliativmittel, die dem Einen nützen.
494 SEEKRANKHEIT,
bei dem Anderen ohne Wirkung bleiben oder gar solche, die den Zustand des
Leidens noch schlimmer machen.
Es sollen zuerst die Verhaltungsmaassregeln während der
Seekrankheit genannt werden, diese sind: während des Sturmes und wäh-
rend der Seekrankheit den Salon, die Schlafcabinen besonders aber den Aufent-
halt im Zwischendeck zu verlassen, und sich wenn thunlich auf dem Deck
aufzuhalten. In allen genannten Räumen ist die Luft mehr oder weniger ab-
gesperrt; ein empfindliches Geruchsorgan nimmt in denselben trotz der ange-
wendeten Ventilation den Geruch der Speisen und Getränke, die Exhalations-
und Perspirations-Producte und, was am schlimmsten ist, den üblen Geruch
der von den Mitkranken erbrochenen Massen wahr, welcher (der üble Geruch)
die Seekrankheit steigert, und dieselbe bei denen hervorruft, die bisher von
dem Leiden verschont geblieben sind. — Der Aufenthalt auf dem Deck in
freier, frischer Luft, ist das beste Mittel, das Leiden zu lindern. Ebenso wird
empfohlen während der Krankheit, besser vor Ausbruch derselben, sich nie-
derzulegen, und zwar möglichst nahe dem Centrum des Schiffes, wo die Roll-
und Stossbewegungen des Schiffes ein Minimum sind; ferner sollen die Augen
geschlossen bleiben, alle Gedanken aus der Seele verscheucht werden und
soll der Kranke bestrebt sein einzuschlafen, wenn dieses möglich ist; es em-
pfiehlt sich dabei irgend eine mechanische, langweilige Denkoperation vorzu-
nehmen, etwa fortwährend bis hundert zu zählen, oder wiederholt das Vater-
unser oder eine beliebige Litanei herunterzuleiern, welche auch auf dem Fest-
lande manchem Schlaflosen den Schlaf bringt. — Ferner empfiehlt es sich halb-
stündlich oder öfter, auch seltener eine kleine Quantität Nahrung zu sich
zu nehmen, welche die Qual des Erbrechens immer etwas mindert; dort wo
Speisen nicht ertragen werden, sollen periodisch kleine Mengen von Flüssig-
keiten eingenommen werden. Die Natur der Flüssigkeit soll den einzelnen
Individualitäten angepasst werden. Manche vertragen am besten den heissen
schwarzen Kaffee, oder einen nicht zu süss gemachten russischen Thee, oder
einen leichten Kamillenthee, Andere werden einen Schluck Sodawasser, oder
eingekühlten Schaumwein oder einen Kaffeelöffel Gefrorenes, und zwar ein
Vanille-, oder Karamel-Eis, auch Eiskaffee wird zuweilen gut vertragen, da
alle diese Eissorten auf den modernen Schiffen, die alle mit Eismaschinen
ausgerüstet sind, leicht zu haben sind. Nicht zu empfehlen sind der Gebrauch
von Eispillen, Rhum, Cognac und anderen Schnäpse, mögen sie noch so ver-
lockende Namen haben wie Kräuter- oder Magenliqueure, Weichselgeist etc. etc.
Von den gegen die Seekrankheit empfohlenen und verwendeten Me-
dicamenten ist zu erwähnen: Die Anwendung von Morphium per os oder
als subcutane Injection hat sich in einigen Fällen als direct nachtheilig erwie-
sen und die Uebligkeit und das Erbrechen verschlimmert, jedenfalls hat das
Morphium die Symptome und die Beschwerden der Seekrankheit in keiner
Weise gelindert. Auch die anderen Narkotica, besonders das Cocain, auf
dessen Wirksamkeit man grosse Hoffnung gesetzt hat, hat sich gegen die
Seekrankheit in keiner Weise als nützlich erwiesen. Ich für meinen Theil
halte das Cocain für schädlicher als das Morphin und zwar nicht nur in
seiner Anwendung gegen die Seekrankheit, sondern auch in seiner Verwen-
dung auf dem Festlande. Der wiederholte Gebrauch des Cocain bringt einen
Zustand von krankhaften Nervenerscheinungen hervor, die man mit dem Namen
des chronischen Cocainismus belegt, der nochernster ist als der bekannte
und allseitig gefürchtete Morphinismus. Auch das Antipyrin wurde bald nach
seiner Einführung in die Therapie vielfach gegen die Seekrankheit verwendet,
hat aber keinen wahrnehmbaren Erfolg gezeigt. Dasselbe lässt sich auch vom
Phenacetin und Salipyrin sagen. Ob von den vielen täglich neu auftauchen-
den, in den chemischen Fabriken erzeugten und gegen die verschiedenen
Krankheiten angepriesenen Mittel eines oder das andere gegen die Seekrank-
. SEEKRANKHEIT. 495
beit versucht, und ob mit demselben irgend ein Erfolg erzielt worden ist, ist
mir nicht bekannt, aber ich möchte den Erfolg bezweifeln, weil wenn ein
solcher erreicht worden wäre, derselbe in unserer schreibseligen Zeit, sicher
nicht verheimlicht geblieben wäre.
Von allen empfohlenen Medicamenten gegen die Seekrankheit ist keines
so populär und so vielfach angewendet worden als die Brompräparate. Beard,
Weir, Mitchel, Riese und Andere empfehlen sehr warm das Bromkali und
das Bromnatrium\ ja Beard empfiehlt dasselbe sogar als wirksames Prophy-
lacticum durch 3 — 4 Tage vor Antritt der Seereise zu nehmen. Gegen die
Empfehlung der Brompräparate, lässt sich weder vom theoretischen noch vom
praktischen Standpunkte etwas einwenden; dagegen kann ich dem Modus appli-
candi in keiner Weise beistimmen. Die begeisterten Anhänger des Broms em-
pfehlen dasselbe nur in grossen Dosen von 4 — 5 g auf einmal zu nehmen
und behaupten das kleine Dosen oder grosse Dosen, die in vielen Tagesgaben
vertheilt genommen werden, unwirksam sein sollen. Dieser Anschauung ver-
mag ich nicht beizustimmen. Ich halte die Brompräparate in grossen Dosen
für entschieden nachtheilig und giftig, und bin überzeugt, dass Vergiftungs-
erscheinungen bei der Anwendung grosser Dosen von Bromverbindungen bei
der Seekrankheit nur deshalb nicht vorkommen, weil bei der Seekrankheit
das Medicament nicht resorbirt, sondern erbrochen wird. Wenn das Brom
wirkt, so sind es kleine Dosen, die vom Körper aufgenommen werden und
in Dosen von O'ö g 3 bis 4 mal täglich verabreicht kann es wohlthätig
wirken; wenn es in dieser Dosis nicht wirkt, ist es überhaupt in dem spe-
ciellen Falle unwirksam, denn auch bei der Verabreichung von grossen Dosen
von Brom, sind es da, wo eine Wirksamkeit beobachtet worden, nur kleine
Dosen, die zur Wirkung gelangt sind, da der grösste Theil der grossen Dosis
von Brom durch das Erbrechen entleert worden ist.
In einigen wenigen Fällen glaubte ich einen Erfolg erzielt haben, wenn ich den See-
kranken Ton einer Lösung von Tinctura nucis vomicae, Tinct. belladonnae ää 0'5, Äquae
destillatae lOO'O in grösseren Zeiträumen 1 Kaffeelöffel nehmen liess.
Selbstverständlich ist die Nux vomica kein Specificum gegen die See-
krankheit, wirkt auch nicht auf alle Menschen und auch nicht zu jeder Zeit,
aber in einigen Fällen veranlasst es wenigstens dass die kleine Menge der
genommenen Nahrung nicht erbrochen wird. Dagegen wirkt das Chloralhydrat,
so wie das Einathmen von Chlor oformdäm]3fen im Anfange sehr aufregend und
beunruhigt den Kranken und bei grösseren Dosen des innerlich genommenen
oder des eingeathmeten Medicam entes tritt nach kurz dauernder Beruhigung
ein desto stärkeres Erbrechen ein, abgesehen davon, dass diese Mittel auch,
wenn sie wirksam wären, nur bei einzelnen Seekranken und niemals allgemein
angewendet werden könnten, weil diese Medicamente eine stete ärztliche Ue-
berwachung des Kranken erheischen.
Endlich ist noch das Amglnürit empfohlen worden, welches bei ein-
zelnen Kranken, halbstündlich zwei Tropfen auf ein Sacktuch geschüttet, ver-
athmet werden kann. Dasselbe soll niemals in der Cajüte, oder im Salon
geathmet werden, weil der Geruch des Medicamentes aus geschlossenen Bäumen,
auch bei guter Ventilation durch längere Zeit nicht beseitigt werden kann,
und weil der Geruch dieses Mittels von manchen Menschen absolut nicht ver-
tragen wird. Eben so ist das Nitroglycerin als ein Beruhigungsmittel bei der
Seekrankheit empfohlen worden.
Dieses Medicament kann nur in sehr geringer Dosis gereicht werden, etwa in der
Formel: Nitroglycerini 001, Tinct. asae foetida, Tinct. cinnamomi, Uä 2'0., Spiritus vini
rectißc. Aquae melissae aä 15'0 ^/^ stündlicli 3 Tropfen in Wasser.
In dieser Quantität kann es ohne Schaden und bei Frauen mit Nutzen
gereicht werden. Dieses Mittel ist weit entfernt davon ein specifische Mittel
gegen die Seekrankheit zu sein, aber es ist für den Arzt angenehm, ein Mittel
verordnen zu können, welches unschädlich ist und in manchen Fällen nützen
496 SEEKRANKHEIT.
kann und für die Frauen ist das Mittel insofern angenehm, weil es, auch wenn
es die Erscheinungen der Krankheit nicht zu beseitigen vermag, das All-
gemeinbefinden, besonders bei Hysterischen, günstig beeiflusst.
Aus dem Bisherigen ist zu entnehmen, dass relativ viele Medica-
mente gegen die Seekrankheit empfohlen und angewendet worden
sind, dass es aber in Wirklichkeit kein einziges Mittel gibt, welches geeignet
wäre, nicht bei dem grössten, sondern bei einem grossen Theil von der See-
krankheit Befallenen, die Beschwerden mit Sicherheit zu coupiren oder zu
mildern.
Aber wenn es auch kein verlässliches, pharmaceutisches Mittel zur Be-
hebung der Seekrankheit gibt, so gibt es doch ein Mittel, welches schneller
und sicherer als jedes Medicament gegen die Seekrankheit wirkt. Es ist der
eiserne Wille und der feste Entschluss die übernommenen
Pflichten zu erfüllen, oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen,
welche die Seekrankheit nicht aufkommen lassen. Auch sehr mächtige Gefühls-
eindrücke können das Schwinden der vorhandenen Krankheitssymptome zu
Stande bringen. So bleiben Matrosen, auch solche die zur Seekrankheit dis-
ponirt sind, während des Sturmes und in den Gefahren, in welchen an die
physische Leistungsfähigkeit und an die rasche und pünktliche Pflichterfüllung
die höchsten Anforderungen gestellt werden, von der Seekrankheit verschont, und
es würden auch die Passagiere weniger von der Seekrankheit befallen werden,
wenn sie auf dem Schiffe irgend eine pflichtmässige Thätigkeit zu erfüllen
hätten. Die körperliche und geistige Unthätigkeit auf dem Schiffe steigert
die Disposition zur Seekrankheit.
Ebenso wie Nelson und Tegettoff, deren Disposition zur Krankheit
schon erwähnt worden ist, werden Schiöscapitäne und Commandanten von ,
Kriegsschiffen im Momente der Gefahr, oder beim Angriff oder Vertheidigung
im Seekriege auch während des grössten Sturmes von der Seekrankheit ver-
schont bleiben, weil die Grösse der auf sie lastenden Verantwort-
lichkeit und der feste Wille, das Schiff ans Ziel zu bringen,
oder den Gegner im Kampfe zu besiegen, die Seekrankheit nicht
aufkommen lässt.
Die körperliche Disposition zur Seekrankheit ist durchaus kein
Hindernis, ein Seeheld oder ein verlässlicher Schiffscapitän zu werden. Die
geistige Energie und ein stark ausgeprägtes Pflichtgefühl bilden das beste
Schutzmittel gegen die Seekrankheit und verleihen dem willensstarken Manne
die Fähigkeit eine leitende und verantwortliche Stelle auf dem Schiffe zu be-
kleiden, wie sehr derselbe auch sonst zur Seekrankheit disponirt ist. Dass auch
starke geistige Eindrücke die Seekrankheit zu überwinden vermögen, habe ich
an mir selbst zu erfahren Gelegenheit gehabt. Bei einer sehr stürmischen
Ueberfahrt von Newhaven nach Ostende war ich heftig von der Seekrankheit
hefallen, die Nacht war finster, das relativ kleine Schiff war, wie aus der
angestrengten Thätigkeit der gesammten Bemannung des Schiffes und aus den
angeordneten Maassregeln des Capitäns zu entnehmen war, in einer gefährlichen
Situation; da wurden in unserer Nähe Nothsignale wahrnehmbar. Unser Schiff
änderte seinen Curs, um einem in Noth gerathenen Schiffe Hilfe zu bringen.
Die Schwierigkeit sich dem schadhaften Schiffe zu nähern und die Schiff-
brüchigen aufzunehmen — es war darunter eine Frau und ein Kind — hat
mich derart ergriffen, dass die Symptome meiner Seekrankheit schwanden,
obwohl der Sturm etwa 3 Stunden in gleicher Heftigkeit dauerte.
Theorie. Ueber den causalen Zusammenhang der Seekrankheit mit den
Schwankungen des Schiffes ist wohl kein Zweifel vorhanden, aber über die Er-
klärung, in welcher Art und Weise diese Schwankungen die Symptome der Krank-
heithervorrufen, ist durchaus keine Uebereinstimmung der Ansichten. Nicht
einmal über den Ort, von welchem die Krankheit ausgeht, herrscht Einigkeit.
SEEKRANKHEIT. 497
Einige halten den Magen, Andere die Unterleibsorgane, Andere das Herz und
die Circulationsorgane, die Dritten endlich das Gehirn und das Rückenmark
als den Ausgangs- oder Angriffspunkt für die Seekrankheit, Ebenso ver-
schieden sind die Ansichten über die Wirkungsweise in den verschiedenen
Organen, die zur Entstehung der Seekrankheit beitragen. Die Einen halten den
Vorgang für einen rein mechanischen. Durch die Bewegung, durch die Stösse,
die der Magen, oder sämmtliche Organe der Baucheingeweide erleiden, oder
die Veränderungen, die das Herz und die gesammte Circulation durch die
mechanischen Insulte betreffen, oder endlich die Stösse und Erschütterungen,
die das Gehirn und Rückenmark durch die Schiösbewegung erhalten, sollen
die Veranlassung zur Hervorrufung der verschiedenen Symptome der See-
krankheit geben. Die Andern halten den Vorgang für einen dynamischen.
Durch die geänderten Vorstellungen, durch die geänderten seelischen Ein-
drücke, die der Schiffspassagier durch Täuschungen seines Gesichts und
Gehörorganes über seine eigenen statischen und Coordinationsverhältnisse er-
hält, so wie durch die Täuschungen, die derselbe von der Lage, Richtung,
überhaupt von der Stabilität der Aussenwelt, des Horizontes erfährt, sollen
jene dynamischen Vorstellungen des Uebelbefindens und jene dynamischen
Bewegungsaufträge für den Magen zum Brechacte, also zur Erzeugung der
Seekrankheit hervorgerufen werden. Mit anderen Worten, der Vorgang
der Seekrankheit soll ein rein seelischer Process sein.
Es ist leicht nachzuweisen, dass alle hier angedeuteten Theorien der
Seekrankheit einseitig sind, aus einzelnen Beobachtungen erschlossen, keine
allgemeine Geltung haben, und auch keine befriedigende Uebereinstimmung
zwischen den beobachteten Symptomen und der sie erklärenden Theorie wahr-
nehmen lassen. Ich will nur einige dieser aufgestellten Theorien näher be-
leuchten. Diejenigen, die den Magen, sowie jene, welche die Unterleibsorgane
als den Ausgangsort der Seekrankheit annehmen, stellen sich vor, dass die
Schwingungen und Stösse, die der Magen und sein Inhalt, so wie die Stösse,
welche die Leber, das Pankreas, die Niere und Därme durch die Schwankungen
des Schiffskörpers erfahren, sei die veranlassende Ursache das Uebelbefinden,
die Würg- und Brechbewegungen hervorzurufen. Wenn diese Anschauungen
eine Berechtigung hätten, so müssten ja ähnliche Erscheinungen beim Reiten
im schnellen Galopp zu beobachten sein, auch müssten die Erscheinungen auch
bei ruhiger See, welche stets von Wellen bedeckt ist, und bei allen Men-
schen auftreten, was bekanntlich nicht der Fall ist. Andererseits kommen
dieselben oder ähnliche Symptome auch beim Fehlen von Stössen auf dem
Festlande vor, bei Diätfehlern, beim Genüsse fetter, unverdaulicher oder ver-
dorbener Speisen vor. Uebrigens sind die Bewegungen des Magens, die Brech-
acte, sowie die Darmbew^egungen niemals selbständige, vom Gesammtkörper
unabhängige Bewegungsvorgänge; dieselben hängen vielmehr vom Vagus,
Splanchnicus und vom Gehirn und vom Rückenmark ab und kommen auch
bei verschiedenen Allgemeinerkrankungen und Läsionen des Gehirns etc. etc.
vor. Mehr Berechtigung scheinen die theoretischen Anschauungen zur Er-
klärung der Seekrankheit zu haben, die auf die geänderten Circulationsver-
hältnisse durch die Schiffsbewegung fussen.
WoLLASTON hat es zuerst ausgesprochen, dass beim Sinken und Heben
des Schiffes im W^ellenthal und im Wellenberge, die Flüssigkeit in einer
Barometerröhre, steigt und fällt, dass dem entsprechend die Blutflüssigkeit
in den Blutgefässen in ihrer Bewegung retardirt oder beschleunigt sein wird,
dass demnach in der Bauchhöhle und in ihren Organen, besonders aber in
der Schädelhöhle abwechselnd eine Hyperämie und eine Anämie sich einstellen
soll, und dieser Wechsel von Blutüberfüllung und Blutmangel soll die Er-
scheinungen der Seekrankheit hervorrufen.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. "^
498 SEEKRANKHEIT.
Aber auch diese Theorie kann der Kritik nicht standhalten. Die durch
Meereswellen erzeugte Hyperämie und Anämie der Bauchorgane und des Ge-
hirns ist viel zu klein, um solche Erscheinungen hervorzurufen. Das wieder-
holte Kauern, die tiefe Kniebeuge, der Kniehang, die Arm und Kniewelle
und andere Turnbewegungen rufen in stärkerem Maasse temporäre Hyperämie
und Anämie der Bauchorgane, des Hirnes und des Rückenmarkes hervor, ohne
dass Symptome wie bei der Seekrankheit zu beobachten wären.
Einen Uebergang von der rein mechanischen zur dynamischen Theorie
bildet jene, welche die Seekrankheit von den Bogengängen herleitet. Mehrere
Physiologen sehen in den Bogengängen ein Orientirungsorgan für die Lage
im Baume. Wenn nun durch die Schiffsbewegungen die Flüssigkeit in den
6 Bogengängen gleichzeitig nach verschiedenen Richtungen gepresst wird, so
verliert der Mensch das Oriientirungsvermögen im Räume, und diese Des-
orientirung soll die Seekrankheit erzeugen. Als Stütze dieser Hypothese
wird die Thatsache angeführt, dass Säuglinge und Kinder, denen der Orien-
tirungssinn fehlt, oder nicht genug ausgebildet ist, von der Seekrankheit ver-
schont oder nur in geringem Grade befallen werden.
Aehnlich ist auch die Hypothese, welche die Seekrankheit vom Seh-
organ herleitet. Durch Schiffsbewegungen wird der Horizont fortwährend
verrückt und verliert seine feste Lage. Nachdem aber die Lage im Räume
stets auf den Horizont bezogen wird, so muss bei steter Aenderung des Hori-
zontes die Orientirung im Räume unsicher werden, mit dieser soll auch die
Vorstellung vom statischen Gleichgewicht unsicher werden, Schwindel ent-
stehen und endlich die Erscheinungen der Seekrankheit erzeugen. Noch
weniger befriedigt die Annahme einer rein psychischen Hypothese für die Ent-
stehung der Seekrankheit. Nach dieser sollen die ballistische oder kinetische
Energie der einzelnen Moleküle des Körpers, sowie die plötzliche Richtungs-
änderung dieser Energie, wie sie durch die Schiffschwankungen hervorgebracht
werden, im Gehirn und im Rückenmark eine moleculare Veränderung und
mit dieser eine Aenderung der Function der nervösen Gebilde erzeugen, welche
zu Seekrankheit führt. — Eine moleculare und eine Functionsänderung des
Centralnervensystems sind abstracte Begriffe, und schöne Worte, unter denen
man sich alles Mögliche aber nichts Bestimmtes und Klares vorstellen kann.
Solche Theorien können allenfalls in einer philosophischen, nicht aber in
einer medicinischen Abhandlung über die Seekrankheit einen Platz finden.
Endlich ist noch die toxische Theorie für die Erklärung der Seekrank-
heit zu erwähnen. Nach dieser Theorie soll die Retention gewisser, zur Aus-
scheidung aus dem Körper bestimmter Stoffe, oder die Aufnahme von schäd-
lichen Substanzen durch die Lunge eine Intoxication im Körper hervorrufen,
die sich unter den Erscheinungen der Seekrankheit offenbart. Der erste Theil
der Annahme ist nicht erwiesen. Kein Mensch hat eine Retention der Galle,
des Harnes, des Speichels, der Darm- oder Hautausscheidung auf dem Schiffe
nachgewiesen, und wenn sie zu erweisen wäre, müsste sie eher als Folge,
denn als Ursache der Krankheit aufgefasst werden. Der zweite Theil der
Annahme, die Resorption von zerstäubten Seewasser durch die Lunge, ist zwar
festgestellt, wie sich jeder Seereisende leicht überzeugen kann, er braucht
nur mit der Zunge einen Theil seines Gesichtes oder seiner Kleider zu be-
rühren, um sich vondem eckelerregenden salzigen Geschmack zu überzeugen,
welcher durch das zerstäubte Seewasser, das sich auf den Körper und seine
Umhüllung ablagert, hervorgerufen wird; aber die Intoxication mit zerstäubtem
Seewasser ist für sich nicht hinreichend, um die Seekrankheit zu erzeugen,
sie kann nur als Theilschädlichkeit im Vereine mit anderen Schädlichkeiten
die Seekrankheit hervorrufen.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass alle bisher entwickelten Theorien
über die Entstehung der Seekrankheit, theils unrichtig, theils einseitig sind,
SEHNEN-REFLEXE. 499
wenig plausibel erscheinen, und class wir über die Theorie der Seekrankheit
ebenso im Unklaren sind, wie über die Theorie der normalen Functionen des
Körpers, für die wir als alltägliche Vorkommnisse gar nicht nach einer Theorie
suchen. So lange uns die Theorie der normalen Functionen unbekannt ist,
werden wir vergebens nach einer Theorie der Seekrankheit suchen.
NEUDÖRFER.
Sehnen-Reflexe. Unter dieser Bezeichnung versteht man jene kurz
verlautenden, einfachen Muskelzuckungen, welche durch mechanisches Beklopfen
der Sehnen, der Gelenkkapsel, des Periostes und selbst der Muskeln ent-
stehen. Es ist das hohe Verdienst Erb'S diese Phänomene zuerst kennen
gelehrt zu haben, ihre pathologische Wichtigkeit wurde hingegen in erster
Reihe durch Westphal nachgewiesen. Die Bedingungen, unter welchen diese
Erscheinungen in physiologischen Verhältnissen eintreten, können bei intacter
Hautbedeckung nicht an allen Muskeln erfüllt werden, deswegen beobachtet
man beim Menschen besonders nur an einer kleineren Anzahl der Muskeln
diese Phänomene, obzwar es wahrscheinlich ist, dass sie an sämmtlichen
Muskeln hervorgerufen werden könnten. Am günstigsten liegen die Ver-
hältnisse für den Muse, quadriceps dessen Sehne zwischen der Kniescheibe
und der Tibia beklopft wird. Es gelingt auch leicht diesen Reflex an den
Kaumuskeln zu demonstriren, etwas schwerer werden sie an den Muskeln
des Unterarmes ausgelöst, oft gelingt der Versuch an den Wadenmuskeln, hie
und da am Pectoralis u. s. w.
Um die Untersuchungsmethoden näher begründen zu können, wollen
wir zuerst das Wesen und die Localis ation dieses Phänomens bespre-
chen. Wie Erb schon in seiner ersten Mittheilung (im Jahre 1875) annahm,
handelt es sich bei dieser Bewegungserscheinung um einen echten Reflexvor-
gang, dessen Bahn, den Patellarreflex betreff'end, hauptsächlich durch Tschir-
JEW festgestellt wurde. Nach Tschirjew entsteht die Erregung an der
Grenze der Sehne und des Muskels und läuft centripetal in den sensiblen
Fasern des Nervus cruralis, gelangt durch die hinteren Wurzelfasern in
das Lendenmark und kommt nahezu in derselben Höhe aus dem Rücken-
mark in die vordere Wurzel des Nervus cruralis und so zum Mus-
culus quadriceps. Wir werden die einzelnen Theile dieses Reflexbogens
eingehend besprechen, doch müssen mir vorerst bemerken, dass einige Autoren
diese Phänomene (Westphal, Waller, Gov^ers, Eulenburg, Ziehen u. A.)
als einfache Muskelerscheinungen und nicht als echte Reflexe betrachten.
Allerdings bestehen manche Verschiedenheiten, wenn man diese Vorgänge mit
anderen Reflexen vergleicht (bedeutend kürzere Reflexzeit, nicht erkennbare
Zweckmässigkeit, verschiedenes Verhalten dieser Phänomene zu den Haut-
reflexen bei Krankheiten etc.). Doch zeigen diese Differenzen nur einen
andersartigen Mechanismus oder auch Localisation, sie können aber nicht
ausschliessen, dass der Sehnenreflex ein wahrer Rückenraarksreflex ist. Es
würde hier zu weit führen, wollte ich in diese Frage näher eingehen; dieses
verschiedene Verhalten wird — so glaube ich — völlig aufgeklärt durch meine
Theorie der allgemeinen Localisation der Reflexe (D. Archiv f. klin. Med.
52 Bd. p. 569). Die Bedingung aber der absoluten Integrität des Reflexbogens
wird auch von diesen Autoren anerkannt, nur glauben sie, dass die Reflex-
bahn zur Erhaltung eines gewissen reflectorischen Muskeltonus nothwendig ist,
ohne welchen die Zuckung ausbleibt. Wir werden es noch betonen, dass
thatsächlich ein gewisser Spannungszustand im Muskel eine absolute Bedin-
gung ist für die Hervorrufung der Phänomene, doch gibt es einige unzwei-
deutige Merkmale, welche die reflectorische Natur der Sehnenphänomene be-
weisen. Unter diesen steht in erster Reihe jene ganz analoge Erscheinung,
welche wir nach dem Beklopfen der Gelenkfläche des manchmal vom Muskel
weit entfernten Periostes beobachten, wobei volle Garantie besteht, dass eine
.32*
500 SEHNEN-REFLEXE.
directe Einwirkung des Schlages auf den betreffenden Muskel ganz ausge-
schlossen ist. Diese Bedingungen können leicht erfüllt werden im Thier-
experiment nach Loslösung der Patellarsehne von der Tibia und Beklopfen
des festgehaltenen Oberschenkelknochens, wobei der Einfluss einer etwaigen
Erschütterung noch leicht controllirt werden kann. Am Menschen sind die
Verhältnisse besonders klar beim sogenannten Unterkieferreflex, indem hier
das Beklopfen des vorderen unteren Theiles des Unterkiefers ganz ohne Zer-
rung oder Erschütterung des Masseters geschehen kann und der Muskel dabei
sehr prompt reagirt. Noch beweisender sind jene, allerdings seltenen Fälle, wo
die Keflexzuckung auf der gekreuzten Seite auch erscheint. Wenn somit eine
directe Reizung des Muskels ausgeschlossen ist — so kann der Bewegungs-
vorgang nur als ein reflectörischer gedeutet werden.
Betrachten wir nun die einzelnen Abschnitte der Reflexbahn.
Als Applicationsstelle des Reizes dient in erster Reihe die Sehne. Es ist schon
vor längerer Zeit durch Sachs nachgewiesen worden, dass in der Sehne
Nervenendigungen zu finden sind. Es scheint, dass die Sehnen nicht in ihrer
ganzen Länge gleich erregbar sind, es gibt, besonders an der Patellarsehne
gewisse Punkte, von denen es viel leichter gelingt den Reflex hervorzurufen,,
immerhin ist gewöhnlich die Patellarsehne überall erregbar, was ich auf Grund
mannigfaltiger Thierexperimente entgegen der oben angegebenen Behauptung
TscHiEjEw's hervorheben möchte. — Es ist eine oft wiederholte und ge-
wöhnlich stark betonte Angabe, dass die Sehne beim Anklopfen in Schwin-
gungen geräth und diese Schwingungen auf den Muskel übertragen werden.
Ich muss aber mit der grössten Bestimmtheit behaupten, dass diese Schwin-
gungen — selbst im Falle dass sie wirklich entstehen würden — gar nichts mit
den Sehnenreflexen zu thun haben. Ich habe in dieser Hinsicht Versuche
angestellt, wobei ich die Patellarsehne von der Tibia loslöste, dann noch den
Muskel soweit freipräparirte, dass ich die Uebergangstelle in die Sehne in
eine Pincette fassen konnte und so dem Muskel die nöthige Spannung ver-
lieh. Nun legte ich die ganz erschlaffte Sehne auf ein kleines Brettchen
(ohne sie anzuspannen) und unter diesen Umständen, wo von einer elastischen
Schwingung keine Rede sein konnte, erfolgte die Reflexzuckung ebensogut wie
bei der natürlichen Lagerung, überhaupt war es von gar keinem Einfluss ob
die Sehne angespannt wurde oder erschlafft blieb. Wir kennen noch keinen
Fall, in welchem eine Läsion der Sehne den Reflex aufgehoben hätte, wohl
fällt es schwerer bei kurzer, mit starkem Fettpolster umgebener Patellarsehne
den Reflex auszulösen, doch gibt dieser Umstand niemals ein absolutes
Hindernis ab, und selbst bei hochgradigen Quetschungen bleibt die Reflex-
erregbarkeit erhalten. — Was die übrigen Reizstellen anbelangt, so sind dies-
bezüglich unsere Kenntnisse noch ziemlich lückenhaft. Es ist gewiss, dass
das Periost an einigen Stellen in hohem Maasse reflexerregbar ist, an anderen
hingegen gar nicht. Diese Stellen scheinen oft in der Nähe des Gelenkes zu;
sein (selbst die Gelenkfläche ist am Knie geeignet), doch oft auch an anderen
Stellen, wie wir das schon oben vom Unterkieferreflex erwähnt haben. Dieser
letztere kann auch von der unteren Zahnreihe her ausgelöst werden u, z.
ohne Zerrung der Kaumuskeln. Weniger bekannt ist es, dass diese Art der
Reflexe an manchen Stellen auch von den Muskeln her auslösbar ist.
Diese Bewegungen entstehen dann gleichzeitig im ganzen Muskel, und
verlaufen als eine einfache Kathodenzuckung, während die sog. idiomusculären
Contractionen gewöhnlich nur auf einzelne Fasergruppen isolirt bleiben und
sich viel langsamer abspielen.
Das centrifugale Ende des Reflexbogens bildet der Muskel, dessen
Reaction theils von der Integrität seiner histologischen Beschaffenheit, theils
aber von einem gewissen Grad der Spannung abhängt. Was das Erstere be-
trifft so ist es bekannt, dass in Entartung begriffene Muskeln schon ziemlich,
SEHNEN-REFLEXE. 501
frühe ihre Sehnenreflexzuckungen einbüssen, dabei scheint es gleichgültig zu
sein, ob die Entartung des Muskels nervösen oder einfach dystrophischen
Ursprungs ist. Von bedeutendem Einfluss auf die Contractionsgrösse ist der
Spannungszustand des Muskels. Löst man nämlich bei einem Thier die Pa-
tellarsehne von der Tibia los und Lässt dadurch den Quadriceps vollkommen
erschlaffen, so bleil)t der Reflex ganz aus, erscheint aber sofort, wenn man den
Muskel mittels einer Pincette passiv dehnt, ja es scheint, wenigstens bis zu einer
gewissen Grenze, dass die Contractionsgrösse mit der passiven Spannung
parallel zunimmt. Beim Menschen erscheint der Patellarreflex kaum bei voll-
kommen gestrecktem Kniegelenk, doch schwächt ihn eine starke, wenn auch
passive Einbiegung des Unterschenkels gleichfalls. Am Unterkieferreflex ist
dasselbe Verhalten zu beobachten.
Ebenso wie im Thierexperiment der passive Spannungszustand
im Allgemeinen in einem geraden Verhältnis zur Zuckungs-
grösse steht: ebenso sehen wir, dass in physiologischen, wie pathologischen
Beobachtungen dieser Reflex umso lebhafter ist je grösser der Muskeltonus.
Diese fast allgemein anerkannte Thatsaclie wurde durch Sternberg angegriffen.
Seine Thierexperimente und Krankenbeobachtungen bezeugen nur, dass der etwas un-
bestimmte Begriff „Tonus" schärfer begrenzt werden müsste. Jene passive Verkürzung
der Muskeln, welche nach Gehirnaffectionen als „permanente Contractur" bezeichnet ist, geht
ausnahmslos mit erhöhten Sehnenreflexen einher, so dass eine contracturähnliche Haltung,
welche ohne erhöhte Sehnenreflexe zu bestehen scheint, nicht als erhöhter Tonus zu be-
trachten ist, höchstens könnte man als Ausnahme das präagonale Stadium gelten lassen,
doch spricht dieser Fall nicht principiell gegen die obige Annahme, da in diesem Zustand
die Irritabilität der nervösen Elemente allmälig sich vermindert. In diese Kategorie fällt
die Mehrzahl Sternberg's Beobachtungen, einige seiner Fälle waren so dement, dass es
kaum möglich erscheint in ihrem Zustande zwischen Contractur und einer Zwangshaltung
unterscheiden zu können. Noch weniger könnte man behaupten, dass in den Experimenten
von Sternberg, als er bei Thieren durch Faradisation des Rückenmarkes oder eines Hüft-
nerven einen länger andauernden Krampf in den unteren Extremitäten hervorrief, die
zurückbleibende und längere Zeit anhaltende Steifigkeit in den betreffenden Muskeln als
echte Tonuserhöhung betrachtet werden könnte.
Die centripetalen und -fugalen Nervenbahnen verlaufen für den Pa-
tellarreflex im Nervus cruralis, es ist selbstverständlich, ist aber auch
experimentell nachgewiesen, dass eine Continuitätstrennung dieser Bahnen den
Reflex sofort aufhebt; ich habe beobachtet, dass nach der Heilung des durch-
schnittenen Cruralis der Reflex wieder erschien. Bei Dehnungsversuchen erhielt
Westphal Resultate, welche mit den meinigen nicht stimmen. Westphal,
gibt an, dass nach ganz geringen Dehnungen des Nervus cruralis, wenn
auch sonst die motorische und sensible Leitung intact blieb, der Reflex
schon verschwand. Ich fand im Gegentheil, dass solange nur die Continuität
des Nerven nicht geschädigt war, der Reflex immer erschien, und habe gleich-
zeitig (D. Archiv f. Hin. Median XXXIII Bd.) auf eine mögliche Fehlerquelle
des Versuches hingewiesen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass bei peri-
pherischen Lähmungen die Sehnenreflexe fehlen, wie dies auch aus den Be-
obachtungen von Nonne u. A. ersichtlich ist.
TscHiRJEw's Untersuchungen beweisen, dass bei Kaninchen jener Theil
des Rückenmarkes, welcher zwischen dem unteren Rande des 5. und dem
oberen des 6. Lendenwirbels ist, den Reflex vermittelt. Die analoge Stelle
beim Menschen wäre jene, wo die 2 — 4. Lendenwurzel (enthaltend den Nervus
cruralis) aus dem Rückenmark hervortritt. Diese Region entspricht der Höhe
der Proc. spinosi des XI — XH Brustwirbels, während die betreffenden Wurzeln
zwischen den 2 — 5 Lendenwirbeln aus dem Rückenmarkskanal austreten.
Zerstörte Tschirjew das Rückenmark unterhalb, oder oberhalb dieser Stelle
so blieb hiedurch der Reflex nicht aus, im Gegentheil erschien er noch
lebhafter. Das gleiche Resultat ergab sich in meinen Experimenten, und
wurde auch von allen Experimentatoren bestätigt. Eine schwierigere und
experimentell kaum lösbare Frage ist es, welche Elemente im Rückenmark
502 SEHNEN-REFLEXE.
diesen Vorgang leiten. Gestützt auf unsere anatomische Kenntnisse können
wir soviel behaupten, class die im Wege der hinteren Wurzelfaser eingetretene
Erregung durch die Collateralen dieser Bahnen in die graue Substanz über-
führt wird, und hier höchstwahrscheinlich (wenn eine einmalige Unterbrechung
im hinteren Spinalganglion nicht genügt) zu den motorischen Ganglienzellen
gelangt, deren Nervenfortsatz sie in die vordere Wurzel und auf peripherische
Bahnen leitet. Erben ist der Meinung, dass die grossen Nervenzellen des
Vorderhorns nicht jene Centren wären, wo die Erregung auf centripetale
Wege umgesetzt wird, er stützt seine Meinung hauptsächlich auf jenen Umstand,
dass es atrophische Processe gibt, welche mit Erhöhung der ßeflexthätigkeit
einhergehen {Ämyotrophische Lateralsklerose). Es scheint uns aber, dass eben
dieser Process nicht zur Entscheidung einer solchen Frage taugt, da ja so-
lange der Quadriceps contractionsfähig bleibt, solange auch noch eine Anzahl
seiner Ganglienzellen intact sein muss, sobald aber der Muskel ganz degene-
rirt ist, könnte man selbst bei intacten Reflexcentren keine Reflexzuckung er-
warten. Es ist kaum zu denken, dass die Reflexzuckung sämmtlicher Fasern
des Quadriceps durch andere Ganglienzellen erfolgen würde, wie bei der inten-
dirten Bewegung. Dass die hintere Wurzelzone die sehnenreflexführenden Fasern
enthält, scheint (wenn man daran überhaupt zweifeln könnte, da man anatomisch
keinen anderen Weg denken kann) eine Beobachtung von Nonne zu beweisen,
in diesem Fall fehlte der Patellarreflex blos auf einer Seite und die Section
wies im Lendenmark nur einen Herd von acuter Myelitis nach, welcher aus-
schliesslich auf die unmittelbar nach hinten und aussen vom einspringenden
Winkel des Hinterhorns gelegene Partie der Wurzeleintrittszone der betreffen-
den Seite beschränkt war. Viel Wichtigkeit hat man aber dem von West-
PHAL zuerst angegebenen, später durch mehrere Autoren auch bestätigten
Befund beigelegt, nach welchem der Patellarreflex bei der Tabes erst dann
verschwindet, wenn die Entartung der Hinterstränge im Lendenmark in der
Wurzeleintrittszone, d. h. in der nächsten Nachbarschaft der durch das Gebiet
der Hinterstränge ziehenden Collateralbündeln auftritt. Es schien eine solche
Annahme dadurch erklärbar, dass man meinte, es wäre der Druck auf die ein-
tretenden Wurzelfasern (richtiger Collateralen), ausgeübt durch die die Dege-
neration der Hinterstränge begleitende Sklerose der Neuroglia genügend um
die Leitung zu unterbrechen. Eine solche Deutung ist heute nicht mehr an-
nehmbar, da die beginnende Degeneration (ja selbst die ausgebildetste) kei-
nen Druck ausübt, die Configuration des Rückenmarksquerschnittes nicht im
Geringsten alterirt, wie es ja auch bekannt ist, dass die Collateralfasern bei
der Tabes sehr lange erhalten bleiben. Es ist aber noch ein anderer Grund
da: die Wiederkehr des Patellarreflexes bei der Tabes nach Hemiplegie, von
welcher war später reden werden. Ferner sah Eichhokst bei einem Tabes-
kranken mit fehlendem Patellarreflex die oben besprochene Wurzelzone im
Lendenmark frei — hingegen fand er eine neuritische Atrophie des Nerv.
cruralis. Delprat, KrausS; Menzel, Hirt beschrieben Fälle, in welchen das
Kniephänomen trotz Entartung der Wurzelzonen im Lendenmark erhalten
blieb. Wir werden versuchen diese scheinbar widersprechenden Daten zu
erklären, müssen uns aber vorerst mit einigen weiteren Eigenschaften dieser
Reflexe befassen.
Eine ganz besondere Beachtung verdient die Reflexzeit, welche bei
dieser Art von Reflexen äusserst gleichmässig ist und sehr kurz gefunden
wurde. Eine ganze Reihe von Autoren befasste sich mit diesen Unter-
suchungen, so dass die erhaltenen Zahlen als genügend sichergestellte zu
betrachten sind. Meine letzten Bestimmungen ergeben für den Patellarreflex
0-031 — 0-033 Secunden, für den Maxillarreflex 0'025— 0-028 See. Die Reflex-
zeit ist ebensolang auch bei Patienten mit sehr erhöhten Reflexen. Mehrere
Forscher wollen eben wegen dieser bedeutenden Kürze der Reflexzeit diese
SEHNEN-REFLEXE. 503
Art der Phänomene nicht als wahre Reflexe anerkennen. Auf Grund der
theilweise schon erwähnten, ganz triftigen Gründe müssen diese Phänomene
trotzdem als echte Keflexc betrachtet werden und es bleibt wohl nichts
anderes übrig als die Reflexzeit für genügend zu finden. Bei der Klein-
heit dieser Zeiten erleiden wir, selbst mit unseren besten Einrichtungen, in
unseren Apparaten einen ziemlichen Zeitverlust, welcher in allen solchen Auf-
nahmen erhalten ist und bei den kleinsten Zeiten am meisten stört und eine
ganz pünktliche Bestimmung der Leitungszeiten nicht ermöglicht. Die Kürze
dieser Reflexzeit im Vergleich zu anderen Arten von Reflexen ist aber ein
wichtiger Grund um in den centralen Bahnen dieser verschiedenen Reflex-
arten auch bedeutende Unterschiede zu vermuthen.
Obgleich es nun nach dem Angeführten ganz sicher erscheint, dass die
Reflexbahn dieser Art der Reflexe der denkbar kürzeste und einfachste Reflex-
kreis ist; so ergeben doch die Beobachtungen, dass der Zustand der langen
Bahnen im Rückenmarke, und somit auch ihre betreflenden Centren
von ganz bedeutendem Einfluss auf diese Reflexbewegung sind. Die
Querdurchtrennung des Rückenmarkes oberhalb des Reflexcentrums hat in
sämmtlichen Vivisectionsexperimenten eine Erhöhung des Sehnenreflexes zur
Folge gehabt; meine eigenen, sowie wenigstens die Mehrzahl der in deut-
scher und französischer Sprache veröffentlichten Fälle von totaler Quer-
durchtrennung des Rückenmarkes beim Menschen ergaben dasselbe Resultat,
während eine Reihe von englischen Autoren (Thorbuen, Bastian, Bowlby,
H. Jackson), sowie einige Deutsche (Bruns) im Gegentheil eher einen gänz-
lichen Mangel der Sehnenreflexe der unterhalb der Läsion liegenden Theilen
annehmen. In der That konnte der Patellarsehnenreflex in ihren Fällen nicht
ausgelöst werden, somit müssen die Fälle in solche mit fehlendem, und in
solche mit erhöhtem Sehnenreflex getrennt werden. Es ergibt sich aus den
betreffenden Beobachtungen, dass im ersteren Fall die Lähmung eine schlaffe
war, während gewöhnlich in solchen Fällen ein erhöhter Tonus zu finden ist.
Die Tonuserhöhung isf eine Folge der Pyramidenbahnlähmung, bezw. Dege-
neration, welche sich in jedem Fall ausbildet. Wenn trotzdem in gewissen
Fällen schlaffe Lähmung bestehen kann, so deutet dies auf eine Erkrankung
des Rückenmarkes auch unterhalb der primären Läsion (wie z. B. im Bruns'-
schen Falle).
Schwieriger ist die Beurtheilung dieser Verhältnisse bei solitären
Strang- oder Centrenläsionen. Die Thierexperimente haben ergeben,
dass der Muskeltonus = Elasticität des passiv gespannten Muskels in geradem
Verhältnis zur Sehnen-Reflexgrösse steht. Das Gleiche sehen wir bei degene-
rativen Processen der Pyramiden bahn; wo immer auch ihr Ausgangspunkt sei,
erscheint der Muskeltonus und mit ihm auch die Sehnenreflexe, besonders
jene, die der lädirten Pyramidenbahn entsprechen, bedeutend erhöht; diese
Erhöhung greift aber, obzwar in kleinerem Grade, auch auf die andere Seite
über. Die gangbare Lehre in der Neuropathologie gibt an, dass die Con-
tracturen, welche das klinische Bild des excessiv erhöhten Muskeltonas sind,
als das Resultat des chronischen Reizzustandes der degenerirenden Pyramiden-
bahnen eintreten, diese Annahme scheint mir nicht plausibel. Es ist gewiss, dass
zwischen Pyramidendegeneration und erhöhtem Tonus ein causales Verhältnis
besteht, doch scheint es mir wahrscheinlicher (wie ich das an anderer Stelle
näher begründe), dass dieses Verhältnis darin besteht, dass in Folge der Aus-
schaltung der willkürlichen Innervationsbahnen der Tonus zunimmt. Diese
Hypothese fordert, dass wir die Bahnen der Tonusinnervation in anderen
Fasern suchen, ich glaube: in den Hinter sträng fasern. Dass der Tonus
und die willkürliche Innervation nicht derselben Quelle entstammen, beweist
jene Thatsache, dass willkürliche Innervation eines Muskels seinen Sehnen-
reflex (z. B. die Contraction des Quadiceps den Patellarreflex) vermindert, ja
504 SEHNEN-REFLEXE.
vollkommen aufhebt. Auf Grund dieser Hypothese wäre zu erwarten, dass bei
durchtrennten Pyramidenbahnen die Sehnenrefiexe erhöht, bei unwegsamen
Hinterstrangsfasern dieselben verschwunden wären, was den Thatsachen genau
entspricht; es scheint aber, dass die Degeneration der Pyramidenbahnen grös-
seren Einfluss auf die Sehnenreflexe hat, als die Erkrankung des Hinterstrangs-
fasern. Ich glaube, diese Hypothese ist im Einklang mit den klinischen Beob-
achtungen und erhält eine höchst interessante Bestätigung durch die Mit-
theilungen von Jackson and Taylor und Goldplamm, diese Autoren sahen
nämlich in drei Tabesfällen, nach langandauerndem Fehlen des Patellarre-
flexes denselben nach einer intercurrenten Hemiplegie wiedererscheinen. Wäre
in der Tabes die Bahn des Patelarreflexes zerstört, dann wäre es unmöglich, dass
der Reflex unter einem solchen, gewiss nicht heilenden Einfluss wieder erschiene.
Wie schon oben erwähnt wurde, vermindert die willkürliche Contraction
im betreffenden Muskel den Sehnenreflex, während (wie ich es zuerst fand)
die willkürliche Innervation der übrigen Körpermuskeln den Sehnenreflex
ganz beträchtlich erhöht. So z. B. erhöht die Contraction der Mm. adduc-
tores und des M. gracilis (Wirkung des N. obturat), also das Zusammen-
pressen der beiden Kniee den Reflex, während die Contraction der vom N.
cruralis versorgten Muskeln den Reflex ganz aufhebt. Eine lange Reihe von
Autoren, besonders Engländer (Bowditch, Wahren, Lombard, Zenner,
Weir Mitchell, M. Lewis u. A.) arbeiteten auf diesem Terrain weiter und
fanden — wie ich es ebenfalls schon andeutete — dass auch die verschieden-
sten sensitiven und sensorischen Reize denselben Effect haben; erst unlängst
beschrieb Dunges die Erhöhung des Sehnenreflexes nach Abkühlung der Kör-
peroberfläche. Die Autoren glauben, dass es sich hiebei um Ablenkung der
Aufmerksamkeit handelt, dem ist aber gewiss nicht so, es ist ja leicht an
uns selbst den Einfluss der Aufmerksamkeit zu beobachten, um constatiren
zu können, dass eine solche Annahme nicht bestehen kann. Ich bin der An-
sicht, dass hiebei der allgemeine Tonus erhöht wird. Man kann sich über-
zeugen, dass wenn man den M. quadriceps nur ganz wenig anspannt der Re-
flex erhöht erscheint, bei stärkerer Innervation hingegen ausbleibt.
Untersuchungsmethoden der Sehnenreflexe.
Das Beklopfen der Sehnen, des Knochens etc. kann zwar mit der Hand,
oder mit den Fingerspitzen gemacht werden, es gelingt aber viel besser, wenn
man dazu den Perkussionshammer verwendet. Einige Forscher construirten
mehr-weniger complicirte Apparate zur Auslösung, Abmessung und Aufzeich-
nung der Sehnenreflexe. Diese Apparate haben keinen praktischen Zweck.
Will man den Patellarsehnenreflex bei einem Patienten prüfen, so fange man
ja nicht an, dem Betreffenden Instructionen zu geben, wie er seine Beine halten
soll, wohin er seine Aufmerksamkeit concentrire, u. s. f. sondern nehme die
Untersuchung beim sitzenden Patienten so vor, dass man einfach eine Hand
(die linke) auf den Bauch des Quadriceps applicire und mit der anderen die
Patellarsehne beklopfe. Ist der Reflex normal oder gar erhöht, dann zeigt
sich das durch eine brüske Erhebung des Muskelbauches. Immer vergleiche
man beide Seiten, da eine Differenz stets pathologisch ist. Erhält man aber
bei dieser Untersuchung keine deutliche Zuckung, so kann man bei überein-
ander geschlagenen Knien, oder besser, sitzend am Rand eines Tisches, oder
am besten sitzend am Rande eines Stuhls, wobei wir mittelst unserer linken
Hand den Oberschenkel in der Höhe des Knies unterstützen, die Prüfung
vornehmen. ^) Der Kranke soll dabei den Oberkörper nach vorne neigen und
sein Knie activ einigermaassen hinunterdrücken, so dass wir etwas mehr als
') Ganz correcte Untersuchung bei kleinem Reflexe kann nicht am Rande eines Bettes
gemacht werden, da an solchen Betten deren Seitenwand etwas höher steht als die Matraze
der Patient seinen Quadriceps (um das Gleichgewicht besser erhalten zu können) innervirt.
SEHNEN-REFLEXE. 505
das Gewicht seines Beines auf unsere Hand bekommen. Hat man so auch
keinen Retiex gefunden, dann erst kommt mein Handgri ff in Verwendung;
wir fordern den Kranken auf seine Hände in einander zu hängen, etwas
nach vorne auszustrecken und nun ohne an der Lagerung seiner zu prüfenden
unteren Extremität etwas zu ändern, recht kräftig die Hände auseinander
ziehen. Im Moment, wo der Patient zu ziehen anfängt, beklopfen wir die
Sehne. Werden diese Bedingungen richtig erfüllt, so zeigt sich hiebei der
ratellarsehnenreÜex, oder aber hat sein Fehlen eine pathologische Bedeutung.
Will man bei einem liegenden Kranken den Patellarreflex prüfen, so hebe
man sein Knie und versuche so den Reflex auszulösen; gelingt das nicht,
dann hebe man die untere Extremität, welche man am Unterschenkel, am
Knöchel angreift, so hoch, dass der Oberschenkel mit dem Körper einen klei-
neren als 90" Winkel, der Unterschenkel mit dem Oberschenkel aber einen
ca. 90*^ Winkel bildet. Nun klopfe man, eventuell in Begleitung des Hand-
griffes, die Sehne, die Zuckung erscheint in einer Streckbewegung des Un-
terschenkels. Befolgt man nicht diese Vorschriften, so kann man sich leicht
irren. Bei der Prüfung einer Extremität beobachte man auch die andere, es
kommt nämlich vor, dass die Reflexzuckung auch am anderen Oberschenkel
erscheint. Meistens zuckt aber hiebei nicht der Quadriceps auf der entge-
gengesetzten Seite, sondern die Adductoren. Man kann dies bei erhöhtem
Reflex, gleichzeitig mit der Contraction des Quadriceps der beklopften Seite
beobachten, P. Marie hat jedoch unlängst einen lehrreichen Fall beschrieben,
in welchem der Reflex nur in den Adductoren der anderen Extremität er-
schien. Neurasthenische und hysterische Patienten bekommen manchmal hef-
tige Zuckungen in der ganzen Körperhälfte, oder auch am ganzen Körper,
besonders aber in der gleichseitigen Schulter, es scheint mir aber unzweifel-
haft zu sein, dass diese Reflexzuckung nicht in die Kategorie der Sehnen-
phänomene gehört; sondern eine Art corticaler Reflexe ist (aus meiner H.
Gruppe in der eingangs erwähnten Arbeit). An der unteren Extremität kom-
men kaum andere Sehnenreflexe zur Untersuchung, ob zwar es von der Achil-
lessehne aus leicht gelingt eine Reflexzuckung auszulösen, wenn man dem
auf einen Stuhl sitzenden Patienten, dessen Fussohle platt am Fussboden liegt,
den Oberschenkel nahe am Kniegelenk anfasst, und so hoch hebt (der Unter-
suchte soll nicht mithelfen, wenigstens nicht mit seinem Soleus), dass die
Ferse 1 — 2cm über den Fussboden komme, die Zehen müssen aber
weiter am Boden ruhen. Nun klopft man am besten innen an der Inser-
tionsstelle der Achillessehne: eine einmalige Zuckung ist der Erfolg (über das
sogenannte Fussphänomen siehe unten). An der oberen Extremität können
mehrere Sehnenreflexe ausgelöst werden, indessen kommt ihnen weniger
Wichtigkeit zu, da ihre Auslösbarkeit theils wegen der grösseren Schmerz-
haftigkeit, theils wegen der tieferen Einbettung der sehnigen Theile im Unter-
hautzellgewebe weniger prompt erfolgt, ausgenommen einige Reflexe am Unter-
arm, welche anscheinend in allen normalen Fällen auslösbar sind. Unter
diesen ist in erster Reihe der Pronatorreflex zu nennen, welchen man bei
unterstütztem Unterarm (in halber Pronationsstelluug) durch Beklopfen der
oberhalb des Proc. styloid. radii liegenden Theile dieses Knochens (d. h. der
ihn bedeckenden Gewebe) auslösen kann. Nach H. Huber ist er in 97*^/0 der
Fälle nachweisbar, ich habe ihn nicht fehlen gesehen. Auch kann man diesen
Reflex von der Ulnarseite auslösen. Noch leichter gelingt es die Flexoren zu
der Reflexzuckung zu bewegen, indem man entweder ihre sichtbaren Sehnen
oberhalb des Ligamentum carpi transversum, oder einige Querfingerbreit unter-
halb des Epicondylus med. beklopft. Sehr schön gelingt es den Reflex im M. ab-
duct. poU. longus, sowie den Flex. poll. long, durch Beklopfen des Radius-
randes (in der Nähe der motorischen Punkte dieser Muskeln) auslösen. Die
Reflexzuckung erscheint oft auch im M. supinat. longus, fernerim Flex. carp.
rad. etc., gelingt aber nur selten auf der Streckseite. Am Oberarm kann
506 SEHNEN-EEFLEXE.
diese Bewegung im Biceps und Triceps (in der Nähe des Oberarm) ausgelöst
werden. Weniger sicheres kann man über die durch Beklopfen ausgelöste
Contractionen der Schulter- und Brustmuskeln sagen, da es hier noch nicht
endgiltig bewiesen ist, ob diese Contractionen reflectorischen Ursprungs sind.
Gewiss haben sie derzeit für die Pathologie keine Bedeutung. Einer der am
besten auslösbaren Sehnenreflexe ist der Maxillarreflex {jaw-jerkWATTE-
ville). Man kann ihn am besten derart prüfen, dass man den Mund öffnen
lässt und zwischen die Schneidezahne 1 — 2 Finger steckt, und nun den zu Un-
tersuchenden auffordert, die Zähne ganz leise an die Finger zu drücken (beis-
sen), hierauf beklopft man entweder vorne das Kinn, oder den Muskelrand
unterhalb des Jochbogens; auch kann man auf die untere Zahnreihe klopfen.
Alle diese Reflexe erscheinen verstärkt bei der Anwendung meines Handgriffes.
Von besonderer Wichtigkeit in der Pathologie ist der Patellar-
sehnenreflex. Wir finden ihn entweder normal, erhöht oder fehlend. Es
gibt kein eigentliches Maass für die normale Grösse, und in dieser Hinsicht
sind individuelle Variationen sehr häufig. Sehr lebhafte Patellarreflexe kommen
entweder mit gleichzeitiger, allgemeiner, hochgradiger Reflexerregbarkeit vor,
besonders bei Neurasthenie und Hysterie, ferner nach acuten Krankheiten,
oder aber wir finden im Gegensatz zu der Erhöhung der Sehnenreflexe die
anderen Arten der Reflexe unverändert, oder sogar vermindert. Eine derar==
tige Differenz in den Reflexarten deutet immer auf Ergriffensein der Pyra-
midenbahnen. Das Fehlen der Patellarreflexe kommt bei richtiger Prüfung
unter normalen Verhältnissen nie vor. Sind bei fehlenden Patellarreflexen
keine eigentlichen Lähmungserscheinungen da, so denkt man in erster Reihe
an Tabes, in zweiter an Diabetes.
Was nun die einzelnen Affectionen betrifft, so finden wir folgende Ver-
änderungen in den Sehnenreflexen. Bei schweren Bewusstseinsstörungen, tie-
fer Narkose verschwinden sie, auch im tiefen Schlafe haben Rosenbach,
Bov^^DiTCH and Warben ihn vermisst, dagegen konnte ich den Patellarreflex
bei einigen Schlafenden — ohne sie zu wecken, aber bei vorsichtiger Lage-
rung des untersuchten Beines — auslösen. Longard beobachtete, dass benom-
mene Typhuskranke bei starker Depression keinen Patellarreflex hatten,
während derselbe in Erregungszuständen bedeutend erhöht war. Strümpell gab
zuerst an, dass Phthisiker oft sehr erhöhte Sehnenreflexe haben, dasselbe
kommt auch nach acuten Krankheiten vor, Marx will ähnliches bei virulenter
luetischer Infection beobachtet haben. Ueber das Verhalten dieser Reflexe
bei peripherischen Nerven und Rückenmarksleiden habe ich schon oben ge-
sprochen, hier will ich nur noch erwähnen, dass bei der Tabes das West-
FRAh'sche Zeichen (Erloschensein des Patellarreflexes) gewöhnlich eines der
allerersten Symptomen ist, und deswegen man sehr selten einen Tabeskranken
mit anwesendem Patellarreflex sieht. Obzwar ich einigemal Gelegenheit hatte,
das allmälige Verschwinden dieser Bewegungserscheiuung an Tabeskranken
beobachten zu können, habe ich nie — wie das früher angegeben wurde —
eine vorhergehende Erhöhung desselben gesehen; in seltenen Ausnahmsfällen
von Tabes vermisst man das WESTPHAL'sche Symptom, d. h. das Fehlen des
Patellarreflexes lange Zeit hindurch. — Von den Intoxicationen, welche in
chronischem Verlaufe die Sehnenreflexe vernichten, sind der Alkoholismus und
der Ergotismus die wichtigsten; ferner gehören hieher die Bleilähmung und
die postdiphtheritische Extremitätenlähmung. Bouchard war der erste, der
das Fehlen der Patellarreflexe beim Diabetes mellitus beschrieb, es ist
dies aber kein constantes Symptom, kommt nicht einmal in der Hälfte der
Fälle vor; bisher hat man keine ganz sichere Erklärung dieses Verhaltens,
die Mehrzahl der Autoren freilich beschuldigt eine peripherische Neuritis.
Noch schwerer zu erklären sind jene Angaben von Bastian, Bom^lby,
Jackson, Ferguson, nach welchen bei Kleinhirntumoren der Reflex fehlend
SEHNEN- REFLEXE. 507
gefunden wurde, es ist gewiss, dass andere Beobachter Kleinhirntumoren, und
verschiedene die Kleinhirnbahnen zerstörende Affectionen gesehen haben, bei
intacten oder selbst erhöhten Patellarretlexen; so habe ich in der letzten Zeit
fünf Fälle von Kleinhirngeschwülste gesehen, in allen waren die Patellar-
reflexe bis ans Ende normal, oder sogar erhöht; dagegen beobachtete ich einen
Fall von Sarkom, wo die Geschwulst den linken Parietallappon zerstörte, und
wo im Leben neben einer rechtsseitigen Hemiparese (deren Ursache die Sec-
tion in einer massigen, ödematiösen Infiltration der inneren Kapsel nach-
wies) das Fehlen des Patellarreflexes blos auf der rechten Seite, ohne
eine Veränderung im Rückenmark oder in den peripheren Nerven, consta-
tiert wurde.
Das sogenannte Fussphänomen oder Dorsalclonus habe ich bisher
vorsätzlich nicht erwähnt. Dieses Phänomen erscheint in der Form von
rasch nach einander eintretenden Zuckungen, und kann in geeigneten Fällen
durch plötzliche Anspannung, oder plötzliche Erschütterung angespannter
Muskeln hervorgerufen werden. Die einzelnen Zuckungen folgen ganz
rhythmisch einander, und erscheinen in minderen Graden nur einigemal, in gut
ausgebildeten Fällen aber fortdauernd, solange bis der Muskel angespannt
ist, hören aber bei der Erschlaffung sofort auf. Man beobachtet dieses Phänomen
am häufigsten in den Wadenmuskeln, wo es, durch brüske Dorsalflexion des
Fusses in Gang gesetzt wird, dabei ist es vortheilhaft gleichzeitig den Fuss
nach aussen zu rotiren, und das Kniegelenk beugen, während die Plantarflexion
es sofort aufhebt. Dasselbe sieht mau in manchen Fällen in den Flexoren
der Finger, wenn man die (in pathologischer Contractur sich befindende)
Hand mit den Fingerspitzen auf eine Tischplatte rasch auflegt, oder die
Hand bei den Fingerspitzen angefasst in Extensionsstellung zu bringen ver-
sucht, ferner hat man ähnliche Phänomene am Quadriceps durch Hinunterziehen
der Patella, in den Kaumuskeln durch Herabdrücken des Unterkiefers, ferner
im Pect, major beschrieben. Die Autoren nehmen in seltener Uebereinstimmung
folgende Hypothese zur Erklärung dieses Phänomens an. Man glaubt, dass
durch die erste brüske Dorsalflexion der Achillessehnenreflex hervorgerufen
wird, wodurch die Wadenmuskeln in Contraction gerathen, und dann würde
durch eben diese Contractionszuckung, infolge der fortgesetzten Dorsalflexion,
in der Sehne ein neuer Reiz ausgelöst werden, welcher die zweite Zuckung
verursachte und derart könnte dieses Muskelspiel solange bestehen, bis man
durch Plantarflexion des Fusses die Möglichkeit einer plötzlichen Zerrung
der Achillessehne aufhebt. Diese Hypothese scheint mir vollkommen verfehlt
zu sein und zwar aus mehreren Gründen, von welchen ich hier nur einige
angeben werde. Erstens wissen wir, dass die Reflexzuckung nach der Be-
klopfung der Sehne in 0'03 Secunden erfolgt, somit müssten, die obige
Hypothese angenommen, in einer Secunde ca. 33 Zuckungen entstehen, that-
sächlich sind es abernur 7—8, die Reflexzeit wäre in diesem letzteren Fall
0-13, eine entschieden viel zu lange Zeitdauer. Zweitens, wenn wir die
Patellarsehne, besonders bei erhöhtem Reflex, mit einer Geschwindigkeit von
nur 1— 2mal in der Secunde beklopfen, so entsteht dadurch eine gleichmässige,
anhaltende Contraction, ohne Intermissionen oder Remissionen. Drittens geht
Erhöhung des Sehnenreflexes und Erscheinen des Dorsalclonus nicht immer
parallel u. s. w. Es scheint mir, dass dieses Phänomen analog mit derjenigen
Art des Zitterns ist, welchen man schon in physiologischen Verhältnissen bei
starker Anspannung der Armmuskulatur, oder beim Heben grösserer Gewichte
und dabei Erhebung auf die Fussspitzen in den Wadenmuskeln, oder bei
erschwerter Erhebung aus der horizontalen Lage in den Bauchmuskeln fühlen
und beobachten kann; nur scheint es, dass dieselben Intermissionen in der
Contraction leichter bei spontanen krampfartigen Zuständen erfolgen. Nach
meiner Ansicht löst die brüske Anspannung des Muskels selbst (möglicherweise
508 SEPTISCHE KRANKHEITEN.
auch seiner Sehne) eine, sei es reflectorische, sei es directe Contraction des
Muskels aus, diese Contraction wird dann durch die einander folgenden
Zuckungstösse erhalten, die Ursache aber der einzelnen Stösse muss in gewis-
sen physikalischen Verhältnissen der Myomechanik gesucht werden. Solche
rhythmische Stösse sehen wir erfolgen z. B. bei nicht ganz dicht gehenden
Wasserleitungs-Schrauben-Hähnen, welche bei Üiessendem Wasser deutlich die
einzelnen Stösse hören lassen, oder wenn der Spielraum zu klein ist, und
hiedurch die Schwingung rascher wird einen Ton geben. Bei sogenann-
ten selbstschliessenden Wasserleitungshähnen kommt der den Hebel hinab-
drückende Arm in ganz analoge Schwingungen. Dieser Vergleich ist um-
so beweisender als die eben erwähnte Schwingung sofort aufhört, wenn der
Hahn ganz hinabgedrückt wird, man weiss, dass der Dorsalclonus bei zu kräftiger
Zurückdrängung des Fusses und bei gestrecktem Knie nicht erscheint. Wenn
man auf einem Stuhl sitzend den Fussboden nur mit der Fussspitze berührt
und das bekannte Fusszittern producirt, so hat man dabei nicht das Gefühl
von Sehnenreflexzuckungen, sondern von einer elastischen Schwingung. Es
ist hier nicht der Ort diese mehr theoretische Frage weiter zu anaiysiren,
ich möchte dieses Phänomen nicht zu den Sehnenreflexen zählen; entschie-
den unrichtig ist es aber, wenn man ihm den Namen „Achillessehnenreflex"
gibt, darunter hat man eine andere Bewegung zu verstehen. Unlogisch ist
es, wenn man schreibt „Patellar- und Fussphänomen verschwunden", da das
letztere in normalen Verhältnissen nicht vorhanden ist, somit auch nicht
verschwunden sein kann.
Dass Fussphänomen hat in klinischer Beziehung dieselbe Bedeutung wie
die Erhöhung der Sehnenreflexe, geht mit ihr im Allgemeinen parallel, und
zeigt auch eine Neigung zu contracturähnlicher Erhöhung des Muskeltonus.
E. JENDRASSIK.
Septische Krankheiten (Septische Infecte). Der Begriff der septischen
Krankheiten hat sich erst in neuester Zeit in die Nomenclatur der internen
Diagnostik eingebürgert. Septische Krankheiten sind Erkrankungen einzelner
Organe, veranlasst durch die Infection mit Eiterungsorganismen.
Solche Organe können sein die Meningen, die Pleura, das Peritoneum, die
Lungen, das Endocard, die Haut und das subcutane Zellgewebe; aber auch
die Parotis, die Tonsillen, eine Struma, die Gelenke und Schleimbeutel, das
Auge und das Ohr können der Sitz einer durch Eiterungsbacterien eingedrun-
genen septischen Erkrankung werden. Als Mikroorganismen der Eiterung
werden bekanntlich der Staphylococcus pyogenes aureus und der Streptococcus
pyogenes angesehen. *) Anderseits muss das Eindringen dieser Coccen nicht
immer Eiterung erzeugen. Auch bei rein seröser Pleuritis findet man den
Streptococcus pyogenes (Goldscheider u. A.), desgleichen ist die Entzündung
des Endocards, welche auf Staphylococceninfection zurückgeführt wird, keine
eitrige, sondern eine ulceröse (Orth und Wyssokowitsch, Ribbert, Weichsel-
BAüM etc.) oder auch eine verrucöse Endocarditis (E. Fränkel und Sänger).
Die wechselnde Form der „septischen Krankheiten" als Folge des
Streptococcen- resp. Staphylococceninfectes zeigt sich am deutlichsten an der
Haut. Die sogenannten septischen Exantheme sind Urticariaformen (Güssen-
bauer), Erytheme (Dennig), Erythemata nodosa (Vinay), Erysipele (Pfuhl),
hämorrhagische Dermatitiden (Finger), pemphigoide Eruptionen (Boinet) und
schliesslich varioliforme Exantheme (J. Weiss). In der Mehrzahl der vor-
stehend citirten Fälle wurde der septische Ohara cter der Hautaffection
*) Ueber die Biologie dieser Mikroorganismen vergl. Artikel „Bacterien^^ im Band
„Hygiene und Gerichtliche Medicin."
SEPTISCHE KRANKHEITEN. 509
durch den bacteriologischen Nachweis von Strepto-, resp. Staphylococcen
sichergestellt.
Es ist nothwendig, den Begriff „Sepsis oder Sejjticopt/ämie" von der Be-
zeichnung „septische Krankheit" zu trennen. Erstere ist eine Allgemeinin-
t'ection mit Eiterungsbacterien, die sich klinisch als eine fieberhafte Er-
krankung mit intermittirenden Temperaturverlauf, Schüttelfrösten und Zeichen
allgemeiner Blutdissolution (Icterus, Petechien, Schleimhautblutungen etc.)
offenbart und sich meist in einer Reihe von Organen localisirt (Entzündun-
gen, Abscesse, Embolien etc.). Als Eingangspforte des Infectes wird meist eine
äussere Verletzung angesehen. Die Septicopyämie bildet ein wohl characterisirtes
Krankheitsbild und wird unter diesem Stichwort in der Disciplin „ Chirurgie^^
ausführliche Behandlung finden. ")
Die septische Krankheit beruht auch auf einer Infection mit Strepto-
Staphylococcen, aber die Localisation des Infectes ist nicht eine allge-
meine, sondern nur auf ein Organ, oder wenigstens vorzugsweise auf ein
bestimmtes Organ beschränkte. Im klinischen Krankheitsbilde herrscht
die Erkrankung dieses Organes allein vor; man bezeichnet die gleich-
sam latente Allgemeininfection als kryptogenetisch und wählt oft den von
Leübe vorgeschlagenen Terminus ^^kryptogenetische Septicopyämie'^ . Meist bleibt
der Charakter dieser Erkrankung intra vitam unerkannt, in anderen Fällen
gelingt (oft freilich erst post mortem) der Nachweis von Eiterungsbacterien.
Einen Anhaltspunkt bietet oft die secundäre AÖection eines zweiten Organes,
so z. B. das Auftreten eines septischen Exanthems im Verlaufe einer En-
docarditis (J. Weiss). Treten zu der ursprünglich auf ein Organ localisirten
septischen Erkrankung eine Reihe von secundären Afi'ectionen in verschiedenen
Organen auf, so resultirt daraus das Bild der Septicopyämie — der bezeichnete
Unterschied ist dann aufgehoben.
Ebenso dunkel, wie der Charakter der septischen Erkrankung, ist oft der
Infectionsmodus. Mit Recht, aber auch manchmal mit Unrecht wird
eine kleine Wunde als die Eingangspforte des Infectes bezeichnet. Eine
grosse Anzahl ' solcher septischer Krankheiten verdient die Bezeichnung
kryptogenetisch.
Nach Paulus' Beobachtungen aus der JüEGENSEN'schen Klinik kann eine
durch eine Endocarditis septica entstandene Klappenaffection der Sitz einer
frischen Endocardentzündung, einer Art Recidive, werden und dann zur sep-
tischen Allgemeinerkrankung führen. Einen ähnlichen Fall habe auch ich
beobachtet. Pfuhl bezeichnet ein von ihm untersuchtes Hauterysipel als
„septisch", weil er in den inneren Organen (Herz, Leber, Lunge, Milz, Nieren)
Streptococcen nachweisen konnte. Derselbe Befund veranlasste. Unna „zwei
unbekannte Processe" je einen Fall von Phlyctaenosis streptogenes und Pustu-
losis streptogenes zu den septischen Krankheiten zu rechnen. Finger, der zu
den zuerst von Escherich klinisch und bacteriologisch untersuchten Fällen
von ^Furunculosis der Säuglinge" eine Reihe weiterer Beobachtungen hinzu-
fügt, ist der Ansicht, dass die zuerst entstehenden Furunkel durch Infection
von aussen zustande kommen, hierauf ein Eindringen des Traubencoccus in
die Blutbahn erfolgt und zuletzt erst die im Blute kreisenden Staphylococcen
in das subcutane Zellgewebe eindringen und hier multiple, kleine Abscesschen
erzeugen.
Ist somit der Infectionsmodus schon bei diesen, an der äusseren Körper-
oberfläche sich darbietenden septischen Krankheiten ein schwer zu deutender,
so gilt dies noch mehr von den local isolirten Staphylococceninfectionen, so
z. B. von den „septischen Lungenentzündungen," die auch in erster
*) Häufig geben Infecte im Wochenbett zur septischen Allgemeininfection Veranlas-
sung. (V. Artikel „Puerperalinfection" im Band „Geburtshilfe-Gynäkologie".)
510 SEPTISCHE KRANKHEITEN.
Linie im frühesten Kindesalter häufig sind; in den einzelnen Fällen dieser
Pneumonien soll der Staphylococcen- Streptococceninfect durch die Nabelwunde,
in anderen aus den „Bacterienreservoirs'' des Magen- und Darmkanals""), in der
dritten Reihe endlich durch Inhalation von den Luftwegen aus eindringen.
Eine weitere Möglichkeit des Infectionsweges bieten Fälle von eitriger Me-
ningitis'"*), indem im Nasenrachenräume vegetirende Eiterreger durch eine
sich hier abspielende Entzündung nach aufwärts bis zu den Meningen vor-
dringen oder ein zufällig hinzugekommenes Trauma direct einen breiten Weg
dahin bahnt. In ähnlicher Weise entstehen septischePeritonitide n** -)
durch das Eindringen der gewöhnlichen Eitermikroorganismen von einer in-
ficirten Nabelwunde, von der Darmhöhle aus, deren Wandungen entzündlich
mit oder ohne Ulcerationen erkrankt sind, von abscedirenden Entzündungen
der in der Bauchhöhle lagernden Drüsen (Leber, Milz, Pankreas) und der
weiblichen Genitalien. Es handelt sich in solchen Fällen keineswegs immer
um einfache directe Verbreitung der Eiterreger und in ihrem Gefolge sich eta-
blirende Entzündungen, sondern ebenso wie bei der Haut ist auch hier die
Möglichkeit vorhanden, dass ein localisirter Eiterherd die Veranlassung des
Eindringens des Eitercoccus in die Blutbahn gibt und vom Blute aus die
secundäre Infection des Peritoneums erfolgt.
Die Erkenntnis „septischer Krankheiten", d. h. der Nachweis, dass eine
klinisch constatirte Meningitis, Pleuritis, Peritonitis etc. durch einen Strepto-
Staphylococceninfect bedingt sei, soll intra vitam durch die bacteriologische
Untersuchung des Blutes und des Harnes sichergestellt werden. Thatsächlich
hat aber der Nachweis von Strepto- und Staphylococcen im Blute und noch
mehr im Harne einen nur problematischen Werth. So entscheidend
der Befund von Milzbrand-, Rotz-, Tuberkel und Typhusbacillen gelten muss,
so wenig beweist der Nachweis von Strepto- oder Staphylococcen. Diese Coc-
cen gehören nicht zu den „specifischen Mikroorganismen." Die bei einer Reihe
von specifischen Infecten im Blute und Harn gefundenen Bacterien können
nicht als die Erreger dieser Infectionen gelten. So fand Sittmann bei
Typhus abdominalis Staphylococcen im Blute, Jakowski und Petruschky
wies bei Tuberc. pulmonum Staphylococcen und Streptococcen im Blute nach,
R. Kraus fand Streptococcen bei Peri-Endocarditis, Staphylococcen bei Tuberc.
pulmon. und Cystitis. Im Harne wurden Streptococcen und Staphylococcen
noch häufiger bei den verschiedenartigsten Infecten (Typhus, Angina, Malaria,
Pneumonie, Polyarthritis, Scarlatina, Tuberculose der Lungen) bacteriologisch
festgestellt. Nach Chvostek-Egger ist hieran gemeinsam die fieberhafte
Alteration des Organismus ursächlich betheiligt.
Nach R. Kraus, auf dessen eingehende „Bacteriologische Blut- und Harn-
unter s^uchungen" (Frager Zeitschrift für HeiUcunde, Jan. 1896) zum speciellen Studium
dieser Frage verwiesen sei, müssen wir unterscheiden: homologe Bakteriaemie (Befund
von dem Infectionserreger identischen Mikroorganismen im Blute, i. e. Diplococcus pneu-
moniae bei croupöser Pneumonie, Typhusbacillus bei Abdominaltyphus) und heterologe
ßacteriaeniie (Befund von Staphylococcen, Streptococcen, Bacterium coli bei Typhus
Tuberc. pulmonum etc.). Analog der Bakteriaemie ist als Bakteriurie der Befund von
Mikroorganismen im Harne zu bezeichnen und heisst homolog, wenn z. B. Typhusbacillen,
Milzbrandbacterien, dagegen heterolog, wenn Staphylococcen, Bact. coli im Harne von
Typhus resp. Milzbrandkranken gefunden werden.
Es dürfte wohl Schwierigkeiten haben, dieses Schema' auf solche Infecte anzuwenden,
bei denen man von keiner specifischen Infection sprechen kann oder die specifischen Er-
reger nicht bekannt sind. So kommt es, dass dem Streptococcen- resp. Staphylococcenbefund
im Blute bei puerperaler Infection und den Infecten nach äusseren Wunden (Phlegmonen)
eine diagnostisch-specifische Bedeutung zuerkannt wird, da wie Kraus sagt der Staphylococcus
resp. der Streptococcus gewöhnlich die Erreger des puerperalen und Wundinfectes dar-
stellen, wahrend man mit Zustimmung desselben Autors nur solche Fälle von Gelenks-
attection als „acuter Gelenksrheumatismus" bezeichnen darf, bei denen die mehrmalige Blut-
*) Vergl. ^Pneumonien im Kiinlesalter^^ Bd. III, ^ag. 277.
**) Vergl. Artikel ,,Meningiti<i'' Bd. II, pag. 696.
***) Vergl. Artikel ^Peritonitis'' Bd. III, pag. 216.
SINUS-THROMBOSE. 511
Untersuchung bezüglich Mikroorganismen negativ blieb und alle Fälle mit Befunden von
Strepto- resp. Staphylococcen im Blute als Septikaemien zu diagnosticiren wären *). Eine
sichere Entscheidung über den diagnostischen Werth einer solcher Stupliylococcaemie, resp.
Streptococcaemie wird erst wohl dann zu fällen sein, wenn die Rolle der Eiterungsbacterien
in der Aetiologie des acuten Gelenkrheumatismus genau festgestellt sein wird, oder ein
specifischer Erreger der acuten Polyarthritis entdeckt wird.
Die klinischen Symptomen einer durch Eitercoccen erzeugten Ent-
zündung der Lungen, der Meningen, des Pericards, der Haut etc. unterscheiden
sich gar nicht von den durch andere Infectionserreger erzeugten Erkrankungen
dieser Organe. Es sei deshalb bezüglich der Symptomatologie der septischen
Krankheiten auf die entsprechenden Artikel in diesem Werke verwiesen. Das
Gleiche gilt bezüglich der Diagnose, da das einzige Hilfsmittel, welches
direct den Staphylo- resp. Streptococceninfect nachweisen könnte, die bacte-
riologischen Untersuchungsmethoden, uns aus den oben angeführten Gründen
im Stiche lassen.
Die Prognose der septischen Erkrankungen ist so lange günstig, als
der septische Process localisirt bleibt und sie ist umso günstiger, je weniger
wichtig das ergriffene Organ ist. Eine septische Endocarditis ist viel ge-
fährlicher als eine septische Dermatitis. Die Hauptgefahr ist die Ueber-
schwemmung der Blutbahn mit den Eiterorganismen, wodurch selbstverständ-
lich des Organismus aufs höchste gefährdet wird.
Die Therapie der septischen Erkrankungen ist identisch mit der
Therapie der einzelnen Organerkrankungen. Nur dann, wenn das klinische
Bild der Septico-Pyämie mit seinen bedrohlichen Erscheinungen offen zu Tage
tritt, treten alle jene Maassnahmen hinzu, welche die Zellen des Organismus
im Kampfe mit den eingedrungenen Eiterungserregern zu unterstützen ver-
mögen. JÜL, WEISS.
Sinus-Thrombose, in ätiologischer, aber auch in pathologisch-ana-
tomischer und klinischer Beziehung müssen wir zwei Gruppen von Sinus-
Thrombose unterscheiden: Die einfache und die entzündliche Sinus-Thrombose.
I. Einfache Sinus-Thrombose,
a) Marantische Thrombosen kommen vor im Laufe von oder nach schweren
Infectionskrankheiten (Typhus, Tuberculose, Pocken, Scharlach bei Carcinom)
im Kindesalter nach langdauernden Diarrhöen, selten bei Chlorose. Die ma-
rantische Thrombose findet sich am häufigsten im Sinus longituinalis superior.
Venöse Stauung scheint ihr Zustandekommen zu begünstigen.
b) Compressions-'lkrombose: Compression des Sinus durch Gehirn- oder
Meningealtumoren, Schädelfracturen u. dgl.
IL Entzündliche Sinus-Thrombose ( Sinusphlebitis)
entsteht in der Piegel durch Fortleitung einer eitrigen Entzündung von der
Nachbarschaft eines Sinus auf die Wand desselben. Am häufigsten ist der
Sinus transversus infolge von Eiterungen im Schläfenbein von der
Erkrankung befallen.
Gewöhnlich ist es die Caries des Warzenfortsatzes, die sich bis in die Fossa
sigmoidea fortsetzt, wo dann ein directer Uebergang des Entzündungsprocesses von dem
kranken Knochen auf die Wand des Sinus transversus stattfindet. In anderen Fällen
pflanzt sich die Thrombose von den Knochen venen des Schläfenbeins, die in den Sinus
münden, auf letzteres fort oder es kommt zwischen dem kranken Knochen und dem Sinus
zur Bildung eines extraduralen Abscesses, der dann die Phlebitis hervorruft.
Seltener als auf den Sinus transversus greift die Zerstörung des Knochens auf die
Sinus petrosus und auf den Sinus cavernosus über. Caries am Boden der Paukenhöhle kann
*) G. Singer will Strepto- und Staphylococcenbefunde im Harne bei Gelenksrheu-
matismus für specifisch erklären, d. h. sie als Erreger des Infectes ansehen — eine Ansicht,
die von Chvostek bekämpft wurde.
512 SINÜS-THROMBOSE.
zu einer Erkrankung des Bulbus der vena jugularis und von da aus zur Sinus-Thrombose
führen.
Ferner können eitrige Entzündungen der Schädeldecken (z, B. nach
Traumen), des Gehirns, der Meningen, des Gesichts und Nackens (Furunkel,
Abscesse, Phlegmonen, Erysipel), des Rachens, der Nase und der Orbita zur
Sinusphlebitis führen.
Die äusseren Schädelvenen stehen durch verschiedene Emissarien, die
Venen des Gesichts infolge von Anastomosen zwischen der Vena facialis
anterior und der Vena ophthalmica, die in den Sinus cavernosus mündet, die
Venen des Nackens infolge der Comraunication zwischen den tiefen Nacken-
venen und dem Sinus transversus durch Emissarien mit den Hirnsinus in
Verbindung.
üeber die relative Häufigkeit der verschiedenen Ursachen für Sinus-
Thrombose kann folgende Statistik von Pitt, citirt nach Körner, Auskunft geben: Unter
44 Fällen fand er als Ursache: Krankheiten des Ohrs und des Schläfenbeins 22 Mal,
andere Eiterungen in der Nähe des Sinus, Pyämie, Carbunkel, Geschwülste 7 Mal,
Trauma 7 Mal, schwächende Krankheiten 8 Mal.
Die pathologische Anatomie der einfachen Sinus-Thrombose
bedarf keiner näheren Schilderung. Man findet beim Aufschneiden des Sinus
einen mindestens theilweise der Wandung adhärenten, meist braunrothen oder
graurothen Thrombus, der sich nicht selten in die benachbarten Sinus und
Venen weiter fortsetzt. Die meningealen Venen — besonders bei der Throm-
bose des Sin. longitudin. super. — stark überfüllt, öfters finden sich auch
kleine Blutungen in den Hirnhäuten und der Hirnsubstanz.
Bei der entzündlichen Sinusthrombose ist gewöhnlich die Wand
des Sinus deutlich verändert: schmutziggrau oder braun, auch grünlich ver-
färbt, zuweilen gangränös oder von mehreren Fisteln perforirt, häufig mit Eiter
bedeckt oder von ihm umspült. Die Wand ist verdickt, eitrig infiltrirt, der
Inhalt des Sinus besteht gewöhnlich nur theilweise aus einem derben Throm-
bus, im Uebrigen aus weichen, eitrigen oder selbst jauchigen Massen. Bei der
Section des übrigen Körpers findet man bei der einfachen Sinus-Thrombose
oft Embolieen, bezw. hämorrhagische Infarcte, besonders in den Lungen, bei
der Thrombophlebitis die Zeichen allgemeiner Septico-Pyämie: Milzschwel-
lung, Abscesse in den Lungen, in den Unterleibs-Organen, in den Gelenken
und Muskeln u. s. w.
Klinische Symptome und Diagnose. Bei Sectionen werden zu-
weilen ausgebreitete Sinus-Thrombosen gefunden, ohne dass während des
Lebens bestimmte Symptome ihr Vorhandensein wahrscheinlich gemacht hät-
ten: Latente Sinus-Thrombosen.
In anderen Fällen bestehen zwar cerebrale Allgemeinsymptome:
Kopfschmerzen, Erbrechen, zuweilen Benommenheit, selten Delirien und Coma,
ferner Neuritis optica, Pupillendifferenzen, Nackensteifigkeit, Convulsionen;
ausserdem nicht selten „ H e r d s y m p t o m e " : Lähmungs- und Reizungserschei-
nungen im Gebiete verschiedener Hirnnerven oder der Extremitäten. Alle
diese Symptome ermöglichen aber eine Diagnose auf Sinus-Thrombose noch
nicht, da einerseits ein Theil derselben bei Schwerkranken auch ohne ana-
tomisch nachweisbare cerebrale Veränderungen auftreten kann, andererseits
Meningitis, Encephalitis, extradurale oder auch Hirnabscesse ganz ähnliche
Erscheinungen machen können.
Erst wenn gewisse locale Symptome auf eine Thrombose bestimmter
Sinus hinweisen, gewinnt die Diagnose an Halt. Solche Symptome werden
hauptsächlich durch eine Thrombose des Sinus transversus und des Sinus
cavernosus, zuweilen auch des Sinus longitudinalis superior hervorgerufen; sie
beruhen 1. auf der Hemmung des venösen Abflusses, die sich durch
eine Rückstauung in dem Zuflussgebiete des betreffenden Sinus documentirt,
2. auf der Compression oder Entzündung der dem Sinus be-
nachbarten Nervenstämme.
SINUS-THROMBOSE. 513
a. Thrombose des Sinus transversus.
1. Zuweilen wird schmerzhaftes Oedem am hinteren Rande des
Warzenfortsatzes beobachtet, (GmEsmGEu'sches Zeichen), nicht selten ver-
bunden mit schmerzhafter Inhltration der Nackengegend. Dieses Symptom
kommt in Folge der Communication der Vv. occipitales und auricul. post. durch
das Foramen mastoideum, bezw. der tiefen Nackenvenen durch das Foramen
condyloideum post. mit dem Sinus zu Stande; freilich wird es oft in Folge
einer durch die Grundkrankheit bedingten, allgemeinen Schwellung der gan-
zen Umgebung des Processus mastoideus verdeckt.
Manchmal erscheint die Vena j ugularis externa auf der kranken
Seite schwächer gefüllt als auf der gesunden (Gerhakdt'sc/z^s Ze/c/zm),
weil bei Verstopfung des Sinus transversus die Jugularis ext. sich auf der
kranken Seite leichter in die collabirte interna entleeren kann — doch wird
dieses Symptom meist vermisst. Setzt sich die Thrombose tiefer in die jugu-
laris interna hinein fort, so kann das thrombosirte Gefäss und seine Um-
gebung als harter Strang fühlbar werden. Bei weiterem Fortschreiten
der Thrombose kann auch die Einmündung der Jugularis ext. verlegt werden,
und dann dieses Gefäss auf der kranken Seite stärker gefüllt sein — also
gerade das Gegentheil des Gerhardt' sehen Symptoms. Häufig tritt indes in
solchen Fällen diffuse schmerzhafte Schwellung der Halsgegend auf, wobei
dann der Füllungszustand der Halsvenen nicht deutlich zu erkennen ist. Bei
Fortpflanzung des Entzündungsprocesses auf den Nacken und Hals sind Be-
wegungen des Kopfes schmerzhaft, und derselbe wird häufig nach
der kranken Seite gebeugt gehalten, um die Spannung zu vermindern.
2. Ferner treten mitunter Reizungs- und Lähmungssymptome seitens
derjenigen Nerven auf, welche mit dem Sinus transversus durch das foramen
jugulare aus dem Schädel austreten, d. i. des Vagus, Accessorius und
Glossopharyngeus : Heiserkeit, Pulsverlangsamung, Respirationslähmung, Krämpfe
im Gebiet der Mm. Sternocleidomastoideus und Cucullaris, Schlucklähmung.
In einzelnen Fällen ist auch Lähmung des benachbarten Nervus hypoglossus
beobachtet worden.
b. Thrombose des Sinus cavernosus.
1. Da dieser Sinus durch die Vena ophthalmica mit der Vena facialis
ant. communicirt, so beobachtet man bei seiner Verlegung nicht nur stärkere
Prominenz des Bulbus, Ueberfüllung und Schlängelung der
Netzhautvenen, Oedem der Netzhaut, eventuell auch ophthalmoskopisch
nachweisbare Thrombose der Vena centralis retinae, sondern auch Oedem
des Augenlides und der Conjunctiva, zuweilen auch des übrigen
Gesichtes.
2. Schädigung der dem Sinus benachbarten Nerven (Oculomotorius,
Trochlearis, erster Ast des Trigeminus) und des durch ihn ziehenden Nerven
abducens: Augenmuskellähmungen, Neuralgie im ersten Ast des Quintus, tro-
phische Veränderungen des Auges {Ophthalmia neuroparalytica).
c. Tlirombose des Sinus longitudinalis superior.
Man hat hier zuweilen, besonders bei Kindern, abnorme Füllung und
Schlängelung der Venen in der Schlaf enge gend (die durch Emissarien
mit dem Sinus communiciren), ferner Blutüberfüllung der Nasenschleim-
haut in starkem Nasenbluten sich äussernd, zuweilen auch circumscripte
Cyanose im Gesicht, anfängliches Einsinken, später abnorme Spannung
und Hervortreten der grossen Fontanelle beobachtet.
Eine dritte Gruppe von Symptomen bilden die Folge -Erscheinungen
der Sinusthrombose, die zum Theil gleichzeitig sehr schwer wiegende Compli-
xjivi -^^A -r[r;,,»»»»»'Un^4-nn Trt4-a^na MofliniTi TiTifl TTiTi/^ArlTTanTrheiten. Bd. III. *J^
Bibl. med. "Wissenschaften. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III.
514 SINUS-THROMBOSE.
cationen darstellen. Bei der nicht entzündlichen Form beschränken sie sich
auf hämorrhagische Infarcte, bei Weitem am häufigsten in den Lungen.
Bei der Thrombophlebitis dagegen kommt es gewöhnlich zu einer pyä-
mischen Allgemein-Infection: unregelmässiges, int ermittirendes Fieber
mit wiederholten Schüttelfrösten, Milztumor, öfters Icterus und profuse
Durchfälle, eitrige Metastasen. Am häufigsten sind auch hier die Lungen
betheiligt: es bilden sich multiple, kleine Abscesse, die, wenn peripher gelegen,
leicht in die Pleurahöhe durchbrechen und so zur Bildung eines Empyems
oder Pyopneumothorax führen können.
Hat eine tuberkulöse Erkrankung des Schläfenbeines zur Sinus-
phlebitis geführt, so kann es von dieser aus zu Miliartuberculose kommen.
Ausser in den Lungen finden sich Metastasen in den Gelenken, Schleim-
beuteln, Muskeln, seltener in den Unterleibsorganen, ferner septische Exan-
theme und Hautblutungen.
Der locale Process, der die Sinusphlebitis hervorruft, — also in der
grossen Mehrzahl der Fälle chronische Eiterung des Felsenbeines — kann
gleichzeitig auch zu extraduralen Abscessen, eitriger Menin-
gitis und Hirn abscessen führen. Diese letztgenannten Erkrankungen
können aber auch Ursachen oder Folgeerscheinungen der Sinus-Phlebitis sein.
Der allgemeine Verlauf der Krankheit kann, wie aus der Symptoma-
tologie ersichtlich, grosse Verschiedenheiten zeigen und lässt eine einheitliche
Schilderung nicht zu. In manchen Fällen tritt der Tod wenige Tage nach
dem Einsetzen der allgemeinen cerebralen Symptome ein, meist beträgt jedoch
die Krankheitsdauer 1 — 4 Wochen, selten länger. Das Grundleiden, die Art
der Thrombose — ob einfache oder entzündliche — die Complicationen sind
selbstverständlich auf Verlauf und Dauer von grösstem Einfluss.
In differentialdiagnostischer Beziehung ist zu erwähnen, dass bei
der eitrigen Sinusphlebitis das Bild der Allgemein-Infection so im Vor-
dergrunde stehen kann, dass eine Verwechslung mit anderen Infectionskrank-
heiten möglich ist. Bezüglich der Unterscheidung vomTyphus und der Miliar-
tuberculose kann auf den Artikel ,,Meningitis"' verwiesen werden, da die-
selben Momente hier wie dort in Betracht kommen. Das Verhalten der Tem-
peratur und die Milzschwellung können an Malaria denken lassen; in zweifel-
haften Fällen wird die Untersuchung des Blutes auf Plasmodien von Ausschlag
gebender Bedeutung sein. Ganz unmöglich ist natürlich die Unterscheidung
der Sinusphlebitis von anderen pyämischen Zuständen, so lange charakteri-
stische locale Symptome der ersteren fehlen. Auch die Ermittlung der häu-
figsten Ursache für Sinusphlebitis, einer Eiterung im Schläfenbein, führt hier
nicht weiter, da Pyämie auch von einer Osteophlebitis des Schläfenbeines
ohne Sinusthrombose ausgehen kann; doch ist letzteres entschieden selten,
zumal bei chronischen Knocheneiterungen.
Ebenso schwierig ist unter Umständen die Unterscheidung der Sinus-
phlebitis von anderen intracraniellen Eiterungen: eitriger Meningitis, extra-
duralem Abscess, acut verlaufendem Hirnabscess. Sehr heftiger Kopfschmerz,
stärkere Benommenheit, Delirien, ausgeprägte Neuritis optica sind bei Sinus-
phlebitis entschieden seltener als bei Meningitis. Doch kann thatsächlich die
Unterscheidung unmöglich sein; da, wo die Unterscheidung praktische Wich-
tigkeit hat, bei der otitischen Sinusthrombose, wird sie nicht selten erst bei
der Operation (vergl. Therapie) möglich. Vielleicht wird sich hier die
Lumbal punction von diagnostischer Bedeutung erweisen. (Vergl. Artikel
Das gleichzeitige Vorkommen zweier (oder mehrerer) der ietzt-
aufgeführten intracraniellen Eiterungen dürfte nur ausnahmsweise zu diagno-
sticiren sein.
SINUS-THROMBOSE. 515
Die Prognose der Sinus-Thrombose ist zwar in der grossen Mehrzahl
der Fälle ungünstig, doch kommen in seltenen Fällen spontane Heilungen
vor. Dies wird einerseits durch freilich vereinzelte und in ihrer Deutung
nicht immer zweifellose, klinische Erfahrungen wahrscheinlich gemacht — man
sah in Fällen, in denen die Diagnose sichergestellt schien, die Symptome
sich zurückbilden — andererseits aber auch durch pathologisch-anatomische
Erfahrungen: man hat bei Sectionen völlige Bindegewebsobliteration eines
Sinus in Fällen gefunden, die früher schwere Erscheinungen otitischer Pyämie
gezeigt hatten.
Die Prognose der otitischen Sinusphlebitis ist in jüngster
Zeit durch die chirurgische Therapie wesentlich besser ge-
worden.
Bezüglich der Prophylaxe kann auf den Artikel ^^Meningitis'-'- verwiesen
werden.
Therapie. Während bis vor Kurzem die Therapie gegenüber der
Sinus-Thrombose für völlig ohnmächtig galt, hat in den letzten Jahren die
operative Behandlung der Thrombophlebitis des Sinus trans-
versus entschiedene Erfolge aufzuweisen. Zaufal empfahl zuerst (1880),
um die Verschleppung infectiösen Materials aus den Sinus in den Kreislauf
zu verhindern, die Jugularis int. zu unterbinden und zugleich mit der Ent-
fernung der erkrankten Theile des Processus mastoideus den Sinus freizule-
gen und eventuell zu eröffnen. Dieser Vorschlag ist im Laufe der letzten
Jahre bereits von zahlreichen Operateuren — in mehreren Fällen mit gün-
stigem Erfolge — ausgeführt worden.
Der gegenwärtige Standpunkt der Indicationsstellung und des Prin-
cips der Operation dürfte folgender sein: Sobald die Diagnose auf Sinusphle-
bitis feststeht, wird gleichzeitig mit der Operation der Knochenerkrankung auch
der Sinus transversus freigelegt. Auch wenn nur der Verdacht auf Sinus-
Thrombose vorliegt, wird die exploratorische Freilegung des Sinus vorge-
nommen. Das Vorhandensein der Thrombose wird aus dem veränderten
Aussehen seiner Wandung, ferner durch Palpation sowie durch den Ausfall
einer Function des Sinus, bezw. einer Eröffnung desselben mit dem Messer
festgestellt. Zeigt sich hierbei, dass der Sinus Eiter oder zerfallene Thromben
enthält, so unterbinden die meisten Operateure zunächst die Jugularis int.
Meist wird das Gefäss doppelt unterbunden und zwischen der Ligatur durch-
schnitten. Freilich kann eine Verschleppung infectiösen Materials auch nach
Unterbindung auf der erkrankten Seite durch das Abflussgebiet der anderen
jugularis stattfinden; aus diesem Grunde und weil in manchen Fällen die
Unterbindung der jugularis die Gefahr der Weiterverbreitung der Thrombo-
phlebitis auf benachbarte; noch intacte Venengebiete zu erhöhen scheintj ist
der Wert der Unterbindung noch strittig. Der thrombosirte Sinus wird w^eit
eröffnet, ausgeräumt, von Einigen auch ausgespült; etwaige Blutung lässt
sich durch Tamponade stillen. Bezüglich der Technik der Operation und der
Nachbehandlung muss hier auf den otiatrischen Theil dieser „Bibliothek" ver-
wiesen w^erden.
Schon bestehendes pyämisches Fieber, selbst metastatische Muskel- und
Gelenkeiterungen gelten nicht als absolute Contraindicationen, da trotz ihrer
nach Beseitigung des primären Infectionsherdes Heilung eintreten kann.
Dagegen werden eventuell der schlechte Allgemeinzustand (z. B. vorgeschrit-
tene Tuberculose), sicher aber eine bereits bestehende diffuse Meningitis und
endlich ausgebreitete infectiöse Lungenmetastasen von der Vornahme der Ope-
ration abhalten.
Was die bisherigen Erfolge der Operation anlangt, so sind nach einer
Zusammenstellung von Köener (1896) von 79 Operirten 41 geheilt. Im
Uebrigen kann die Therapie der Sinusthrombose lediglich eine symptoma-
tische sein (vergl. Artikel Meningitis). R. stern.
33*
516 SITUS VISCERUM IN VERSUS.
Situs viSCerum inverSUS. Unter Situs viscerum inversus s. perversus
s. nmtatus, Transpositio viscerum lateralis versteht man eine angeborene Lage-
anomalie der Eingeweide der Brust- und Bauchhöhle in der Weise, dass
gleichsam bei sonst wohl und normal geformtem Körper das Spiegelbild des
normalen Situs entsteht, dass also eine Umformung und Umlagerung der
einzelnen Organe aus der normalen Seite in die entgegengesetzte Körper-
hälfte stattgefunden hat. Die Transpositio ist vollständig, wenn alle Einge-
weide der beiden grossen Körperhöhlen an dieser Umlagerung und Umformung
Theil nehmen, sie ist unvollständig, wenn entweder nur eine der beiden
Körperhöhlen sich an der Umlagerung betheiligt oder wenn nur einzelne Ein-
geweide transponirt sind, während die anderen Organe ihre natürliche Lage
behalten. Am häufigsten handelt es sich bei dem unvollständigen Situs
transversus um eine Umlagerung und Umformung des Herzens, welchen Zu-
stand wir als Dextrocardia oder Dextrocardie bezeichnen. Sehr selten
ist es, dass nur einzelne Darmabschnitte sich nicht an der Transponirung
betheiligen, wenn die Organe der Bauchhöhle umgelagert sind; es ist eine
äusserste Seltenheit gewesen, zu finden, dass einzig und allein das Coecum
seine normale Lage aufwies; selten ist auch die ausschliessliche Transposition
der Leber und Milz.
Die Pathogenese des Situs viscerum inversus ist dunkel; über den
Bereich der Vermuthung kommen wir auch heute noch nicht heraus. Die
normale Lage der Eingeweide wird bestimmt, indem der Embryo bereits in
einem sehr frühen Stadium der Entwicklung eine Drehung ausführt und dem
Dotter seine linke Seite zukehrt, während er ursprünglich seine Bauchfläche
dem Dotter in der Weise zuwendet, dass die linke und rechte Körperhälfte
dem Dotter gleichmässig aufliegt; geschieht nun die Drehung in der entgegen-
gesetzten Richtung, so kommt die Umkehrung der Lage der Eingeweide zu
Stande, ohne dass die Function derselben behindert wird. Die Ursache der
abnormalen Drehung bleibt aber unaufgeklärt; das wesentlich Bestimmende bei
der Lagerung des Embryo ist das Hervortreten des Herzschlauches nach links
oder in dem abnormen Falle nach rechts, vielleicht in Abhängigkeit von der
verschiedenen Grösse der ursprünglichen beiden Herzhälften. Einen Blick in
das dunkle Reich der Hypothesen erlaubt das Verhalten von Doppelmiss-
geburten, bei denen stets das links gelagerte Individuum die normale, das rechts
gelagerte die abnorme Stellung der Eingeweide besitzt; dadurch wird die Ver-
muthung gestützt, dass nur der Embryo, welcher eine bestimmte seitliche
Lage zur Nabelblase einnimmt, normal angeordnete Eingeweide besitzt und
dass das rechts von der Nabelblase gelagerte Individuum eine abnorme Lage-
rung der Eingeweide erhält.
Das anatomische Bild präsentirt sich in voller Deutlichkeit. Was
zunächst die Brusthöhle anlangt, so liegt das Herz in der rechten Brusthälfte,
anstatt in der linken; aber es handelt sich dabei nicht um eine einfache Ver-
schiebung von links nach rechts, welchen Zustand wir bei grossen Schrumpf-
ungen des rechten oberen Lungenlappens oder im Anschluss an die Folge-
zustände erheblicher rechtsseitiger, pleuritischer Exsudate finden oder um ana-
loge Zustände, welche schon intrauterin durch pathologische Processe ent-
stehen, sondern um eine gänzliche Umkehrung des Herzens: die Herzspitze
ist nach der rechten Doppellinie hingelagert, der linke Ventrikel bildet den
grössten Theil der Herzfläche, welche der Brustwand anliegt, während sonst
der rechte Ventrikel diese Rolle spielt, das linke Ostium venosum hat eine
dreizipfelige Klappe, das rechte Ostium venosum wird zum Mitralostium, die
Lungenvenen ergiessen sich in die rechte Vorkammer, die Hohl- und Kranz-
venen strömen in das linke Atrium. Aus der linken Herzkammer entspringt
die Pulmonalarterie, welche von links nach rechts vor der Aorta verläuft; die
Aorta kommt aus dem rechten Ventriculus, steigt von links nach rechts auf,
SITUS VISCERUM INVERSUS. 517
schlägt sich anstatt über den linken Bronchus über den rechten und verläuft
als Aorta descendens längs der rechten Seite der Wirbelsäule nach abwärts,
rechts von dem ebenfalls rechtsgelagerten Oesophagus und der links liegenden
Vena cava inferior; die Vena azygos ist nach links, die Vena hemiazygos nach
rechts transponirt. Mit der Aorta sind auch ihre grossen Gefässtänime ver-
lagert, der Truncus auonymus, welcher die linke Subclavia und Carotis ab-
gibt, liegt am meisten nnch links, die Subclavia dextra, welche aus dem Arcus
aortae entspringt, liegt am weitesten nach rechts hin. Die linke Brusthöhle
enthält drei Lungenlappen, der rechte Brustraum eine zweilappige Lunge;
dementsprechend ist der linke Bronchus mehr horizontal, kürzer und weiter
als der Bronchus dexter, die rechte Lunge ist schmäler und länger, die linke
breiter und niedriger, der rechte Hauptbronchus spaltet sich in zwei, der linke
in drei Bronchialäste.
In dem Bauchraume liegt die Leber in der linken Seite, die Milz
in dem rechten Hypochondrium; beide Organe zeigen eine vollständige Um-
formung. Der rechte Leberlappen ist nun der kleinere und hat die Gestalt
und Lage des normalen linken, der linke Leberlappen stösst an die linke
Seitenwand an und ist stumpf, links von der Fossa longitudinalis sinistra liegt
jetzt der grössere, linke Leberlappen, rechts von der Fossa longitudinalis
dextra der kleinere, rechte Lungenlappen; der Lobulus Spigelii gehört dem
Bezirk des linken Leberlappens an, die Gallenblase, der Lobulus quadratus
liegen links vom Ligamentum teres. Die Milz hat ihren Platz in der rech-
ten Regio hypochondriaca neben dem Fundus des transponirten Magens. Die
Speiseröhre strebt rechts von der Wirbelsäule nach abwärts, das Foramen
oesophageum cliaphragmatis befindet sich rechts, die Cardia des Magens ist
nach rechts, der Pylorus nach links gerichtet, der Fundus des Magens be-
findet sich in der rechten Seite, die grosse Curvatur schaut nach rechts, die
kleine, concave Curvatur nach links. Das Duodenum folgt der Umlagerung
des Magens, es verläuft von links nach rechts; das Colon ascendens steigt
links hinauf, in der linken unteren Bauchhälfte liegt das Coecum und der
Processus vermiformis, das Colon descendens steigt in der rechten Bauch-
hälfte abwärts, das Colon transversum bewegt seinen Inhalt von links nach
rechts, die Flexura sigmoidea und das Rectum verlaufen in der rechten
Beckenhöhle, das S. Romanum buchtet sich nach links vor; der Anus bleibt
an seiner normalen Stelle. Die rechte Niere ist höher gelagert als die linke,
die rechte Arteria renalis entspringt höher als die linke aus der Aorta abdo-
minalis. Beim Manne zweigt sich die Arteria spermatica interna sinistra von
der linken Arteria renalis ab, während im Normalen die linke Arteria sper-
matica interna unmittelbar aus der Aorta abdominalis und die rechte aus der
Arteria renalis dextra entspringt. Der rechte Hoden hängt tiefer als der
linke. Die umgelagerten Organe sind sämmtlich anatomisch unverändert.
Die subjectiven Symptome des Situs viscerum inversus sind gänzlich
irrelevant; meistens haben derartige Leute gar keine Ahnung von einer solchen
Umlagerung.
Die objectiven Symptome erklären sich leicht aus den physikalischen
Verhältnissen. Wir finden also den Herzspitzenstoss zwischen der 5. und 6.
Rippe, innerhalb der rechten Mamillarlinie, die absolute Herzdämpfung reicht
von der Stelle des Spitzenstosses nach links bis zum rechten Sternalrande
oder bis auf den rechten Theil des Brustbeines. Die Herztöne sind am deut-
lichsten, entsprechend der Herzlage, in der rechten Brusthöhle. In der linken
Brusthöhle fehlt die Herzdämpfung und an der linken Brustwand fehlt der
Spitzeustoss. Die Dextrocardie soll die Linkshändigkeit begünstigen. Die
Umlagerung der Lungen zeigt sich dadurch, dass der Stimmfremitus links
stärker ist als rechts, das Exspirium über der rechten Fossa supraspinata
weniger deutlich zu hören ist als links und in der Höhe des 3. und 4. Brust-
wirbels links das Exspirum an das bronchiale Athmen erinnert. W^enn es
518 SOOR.
möglicli ist, die Trachea bei der laryngoskopischen Untersuchung zu erblicken,
so findet man an der Bifurcationsstelle, dass der linke Hauptbronchus stärker
ist als der rechte. Die Leberdämpfung fehlt in der rechten Thoraxseite,
während links eine der Leber entsprechende Dämpfung auftritt; ist die Leber
palpabel, so fühlt man deutlich, dass die Leberincisur in der rechten Bauch-
hälfte liegt. Rechterseits unterhalb der Herzdämpfung tritt bei der Percussion
der TRAUBE'sche halbmondförmige Raum auf. Die Milz verräth sich durch
die Dämpfungsfigur in der rechten Axillarlinie. Ueber die Umlagerung des
Magens orientirt man sich am besten dadurch, dass man den Magen durch
Kohlensäure aufbläht, weil man dadurch rechts in der normalen Lebergegend
statt des gedämpften Percussionsschalles den dem Fundus ventriculi ent-
sprechenden halbmondförmigen Raum um so deutlicher findet, während an
der normalen Stelle des TRAUBE'schen Raumes, in der linken Bauchhälfte,
Dämpfung besteht. Bei der Auscultation hört man die Schluckgeräusche rechts
neben den Dornfortsätzen der Wirbelsäule lauter als links. Die Transposition
der Nieren zu erkennen, sind wir nicht imstande, der Tiefstand des rechts-
seitigen Hodens spricht für eine Transposition der Testikel.
Die Diagnose des typischen Situs viscerum inversus ist im Ganzen
eine leichte; differentiell diagnostisch kommt für die Dextrocardie in Betracht,
dass eine erhebliche Einsenkung des rechtsseitigen Brustraumes durch recht-
seitige pleuritische Folgezustände oder Schrumpfungen des rechten oberen
Lungenlappens eine solche Verschiebung des Herzens nach der rechten
Körperhälfte hin zur Folge haben kann, dass die Herzdämpfung weit in der
rechten Brusthälfte liegt und der Spitzenstoss selbst in der rechten Axillar-
linie auftreten kann. Die Unterscheidung zwischen dieser Verlagerung und
dem Situs transversus ist aber nicht besonders schwer, weil die Einsenkung
des Thorax sehr erheblich in dem ersten Falle ist, auch bleiben die Töne
über dem Aorten- und Pulmonalostium, wie es der Stellung des einfach ver-
schobenen Herzens entspricht. Schwieriger ist die Diagnosis schon, wenn
grosse linksseitige pleuritische Exsudate das Herz in den rechten Brustraum
verschoben haben und das dislocirte Herz dort fixirt wurde; solche grosse
Exsudate lassen bisweilen nur sehr geringe sonstige Residuen zurück.
Pulsirende Tumoren in der rechten Brusthälfte geben kaum den Anlass
zu Irrthümern, da unabhängig von ihnen das Herz durch seinen Stoss in dem
linken Brustraum seine Stellung verräth. Bei den Unterleibsorganen hat man
bei vollem Situs transversus ebenfalls keine erheblichen Schwierigkeiten, es
können sich aber solche entgegenstellen, wenn nur ein einzelnes Organ z. B.
der Magen transponirt ist oder Neubildungen desselben die Lage verdunkeln.
Die Prognose des Situs perversus ist eine gute; man darf aber nicht
vergessen, dass vor Allem bei der Dextrocardie auch andere angeborene, wirk-
liche Herzfehler relativ häufig beobachtet werden, welche ihrerseits die Pro-
gnose bestimmen. prior.
Soor (Schivänimchen). Diese Affection des Kindesalters und des spä-
teren Alters kommt entweder als selbständiges Leiden vor, besitzt dann
keine besondere Bedeutung, bringt keine besonderen Gefahren für das be-
fallene Individuum mit sich, oder sie tritt auf als Begleitung und unan-
genehme Complication meist schwerer Allgemeinleiden.
Schon HiPPOCRATES soll sie gekannt haben und mit dem Namen a'^5}at, belegt haben.
Man hat sie dann durch mehr als 20U0 Jahre mit allen möglichen anderen Leiden der
Mundhöhle vermengt und verwechselt. Später Hess sie die Pariser „societe royale de me-
dicine" genau studiren und beschreiben. 1839 und 1841 wurde von Langenbeck und
Berger zuerst der mikroskopische Nachweis der Pilzvegetationen in den „Schwämmchen"
erbracht und damit die bereits längst vermuthete parasitäre Natur dieser Krankheit fest-
gestellt. An diesen Nachweis reihten sich mit dem Fortschritte bacteriologischer Forschung
und Technik die entsprechenden Culturversuche und Thierexperimente an, die heute jeden
Zweifel über die wahre Natur des vorliegenden Leidens völlig behoben haben. Trotz alle-
SOOR. 519
dem ist es noch nicht gelungen, die wahre botanische Stellung des Erregers der Soorvege-
tationen zweifellos festzustellen, und sind die bezüglichen Meinungen auch heute noch
trotz vielfacher Untersuchungen getheilt.
Die Krankheit zeigt sich in der Regel in folgender Weise. Auf der
Schleimhaut des Mundes, der Lippen, der Kiefer, der Wangen, der Zunge,
des Gaumens finden sich anfangs einzeln stehende, inselförmige, weisse,
leicht elevirte Belege, mehr weniger dicht beisammen, bald an allen Theilen
gleichmässig dicht stehend, bald blos an einzelnen Partien der sichtbaren
Mundschleimhaut localisirt.
Ihre Grösse variirt von gerade sichtbaren Pünktchen bis zu linsengrossen,
mehrere vim im Durchmesser haltenden Colonien. Sie können coufluiren,
thun dies sehr oft und bilden dann verschieden grosse zusammenhängende
Rasen, deren Farbe bald schneeweiss, bald grauweiss ist. Ohne sonderliche
Schwierigkeiten ist es möglich, die Membranen oder die Pilzcolonien von der
Schleimhaut, auf der sie haften, mit dem Spatel oder mit einem Löffelstiele
loszulösen. Die darunter befindliche Schleimhaut ist entweder scheinbar in-
tact oder sie blutet ein wenig, was nicht selten der Fall ist.
Untersucht man eine solche losgelöste Pilzwucherung mikroskopisch so
findet man nebst Epithelzellen, einzelnen rothen und weissen Blutkörperchen
und verschiedenen Bacterien und Coccen, den gewöhnlichen Parasiten jeder
Mundhöhle, hauptsächlich zweierlei als Hauptbestandtheile derselben; Fäden,
Mycelien und kleine, hefezellenähnliche Gebilde, Co ni dien. Die ersteren
sind verschieden lange, cylindrische Zellen, mit endständigen oder seitlichen
Zweigen, an den Scheidewänden etwas eingeschnürt, leicht ampullenartig
an den Enden aufgetrieben. Ihre Länge ist verschieden, ihre Dicke etwa
0*02ö mm. Sie sind hell, scharf contourirt, enthalten entweder homogenen
Inhalt oder einzelne Vacuolen, die sich durch verschiedenes Lichtbrechungs-
vermögen, oder verschiedene Färbung von den Fäden unterscheiden. Mit-
unter enthalten sie in regelmässigen oder unregelmässigen Abständen liegende
stark lichtbrechende Körner oder Schollen. Die recht- oder spitzwinkelig
abzweigenden Seitenäste sind im Ganzen gleich gebaut, wie die Hauptstämme.
An den freien Enden der Mycelien oder in der Nähe der Septa der-
selben finden sich theils perlschnurartig an einander gereiht, theils in Häuf-
chen beisammen liegende kleine, stark lichtbrechende runde oder ovale Ge-
bilde, in mehr weniger ansehnlicher Zahl, die Knospen, Conidien. Sie sind
stark lichtbrechend, haben eine scharfe, breite Contour, einen klaren oder
leicht gefärbten Inhalt, eine helle Piandzone. Sie können sich leicht von den
Mycelien ablösen und bilden dann allein liegende Körnchenhaufen. Aus ihnen
gehen theils durch Sprossung andere gleichgeartete Gebilde hervor, theils
wachsen sie zu Mycelfäden mit Seitenzweigen aus. Diese Sporen haben grosse
Aehnlichkeit mit Hefezellen. Sie enthalten ein bis drei sich lebhaft bewegende,
stark licht brechende Körner. Ausserdem enthalten losgelöste Soorkolonien
allerlei Detritus.
Der Soorpilz ist unter anderem mit Weigert's Anilinölgentianaviolett-
mischung gut färbbar.
Von anderen Pieagentien und deren Wirkung sei kurz erwähnt, dass die
Fäden von Kalilauge und Alkohol, desgleichen von Glycerin und Wasser oder
physiologischer Kochsalzlösung nicht verändert werden, dass Schwefelsäure sie
bräunt und schliesslich löst, Salzsäure sie violett, Salpetersäure gelb färbt.
Die Sporen sind gegen Pteagentien widerstandsfähiger. Für eine ge-
wöhnliche, diagnostische Untersuchung genügt vollkommen die mikroskopische
Betrachtung der auf dem Objectträger zerriebenen Membran mit einem Tröpfchen
Wasser oder Glycerin. Die Gebilde sind so charakteristisch, dass sie mit
Leichtigkeit erkannt werden.
Fast ausschliesslich kommt der Soor auf den mit Plattenepithel beklei-
deten Schleimhautpartien des menschlichen Körpers vor. Wenigstens zeigt
520 SOOR.
er eine zweifellose Vorliebe für dieses. Man hat ihn denigemäss gefunden,
abgesehen von der Mundhöhle, seinem häufigsten und Lieblingssitze, im Oeso-
phagus. Hier kann er röhrenförmige Abgüsse, Cylinder, bilden von mehreren
cm Länge und solcher Dicke, dass es zur Obturation des Lumens kommen
kann. In 10% aller untersuchten Fälle konnte Haussmann seine Anwesen-
heit in der Yagina Gravider constatiren. Ausserdem ist er nachgewiesen
w^orden in den unteren, vorderen Partien der Nase, im Magen und Darme,
jedoch nur dann, wenn er sich ohnedies im Munde vorfand. Man hat ihn
weiter an den Brustwarzen und Warzenhöfen Stillender nachgewiesen. Er
hat fast überall das gleiche Aussehen, nur mitunter eine gelblichere Farbe.
In den Bronchien fand man ihn nur selten. Und zwar handelt es sich
zum grössten Theile um kleine, lose aufsitzende Efflorescenzen, von denen
es nicht sicher feststeht, ob sie nicht einfach aspirirt worden sind. Zum
Theile handelte es sich jedoch auch hier um röhrenförmige Membranen, die
exspectorirt, sich zum allergrössten Theile zusammengesetzt zeigten aus Soor-
fäden.
Die Soorvegetationen bleiben nicht nur auf der Oberfläche sitzen, sie
sind im Stande das Epithel und das submucöse Bindegewebe zu durchw^uchern
und in die Tiefe zu wachsen. Sie vermögen gelegentlich einmal Blut- und
Lymphgefässe zu arrodiren, gelangen so in den Kreislauf, bilden Metastasen
und zwar in Form von Abscessen. So hat Zenker den Pilz in einem ence-
phalitischen Herde bei einem Soorkinde vorgefunden.
Die Züchtung des Pilzes gelingt leicht. Er gedeiht auf verschiedenen
Nährböden, besonders gut auf zuckerhaltigen. Die Züchtungsversuche haben
ergeben, dass er zu den Hyphomyceten zuzurechnen sei, Genus Oidium
(albicans). Grawitz zählt ihn zu den Myco der men und findet eine grosse
Aehnlichkeit mit dem Mi/coderma vini, dem Kahmpilze, der die Kahmhaut
auf dem Weine zu bilden vermag. PiEes nennt ihn Saccliaromyces albicans.
Stumpf trennt zwei Arten des Pilzes von einander. Die später von Plaut
auf festen Nährböden ausgeführten Culturversuche bestätigten im Ganzen die
Angaben von Grawitz. Klemperer hat durch Thierexperimente die Patho-
genität des Pilzes nachgewiesen. Injicirt man Kaninchen Reinculturen, er-
liegen sie im Verlaufe von 1 — 2 Tagen.
Der Soor kommt in überwiegender Mehrzahl der Fälle bei Kindern
vor. Und zwar sind es hauptsächlich Säuglinge, um die es sich handelt. Am
frühesten wurde er am 3. Tage des Lebens beobachtet. Zumeist findet man
ihn in den ersten Wochen und Monaten. Bei etwas älteren Kindern ist er sel-
tener. Hier wie bei Erwachsenen wird er nur dann beobachtet, wenn es sich
um ein schweres Allgemeinleiden handelt, durch das die Kräfte des Patienten
sehr heruntergekommen sind, hier tritt er zumeist ante exitum auf bei Typhus,
Tuberculose, Sepsis etc. Bei Säuglingen finden wir ihn manchmal bei sonst
völlig gesunden Kindern, ohne eine Spur von Allgemeinleiden^ so dass wir ihn
bei diesen als ein vollkommen, selbständiges Localleiden auffassen müssen. Wir
finden ihn jedoch auch sehr oft und sehr gerne bei Kindern, die durch eine
schwere katarrhalische Affection des Digestionstractes sehr heruntergekommen
sind, die stark atrophisch geworden sind (Frühgeburten). In diesen Fällen
vereinigt er sich häufig mit Ulcerationen der Mundschleimhaut, zumal mit
den bekannten Gaumeneckengeschwüren, den BEDNAR'schen Aphthen.
Es ist noch eine offene Frage, ob der Soor auf einer völlig intacten
Mundschleimhaut Wurzel fassen kann. Wahrscheinlich wird es sich auch in
Fällen scheinbarer Intactheit um kleine Epithelläsionen handeln, sicher ist,
dass in Fällen mit reichlicherer Soorwucherung die Schleimhaut des Mundes
bei Säuglingen röther ist als gewöhnlich, Zeichen eines Katarrhes bietet, der
freilich auch Folge der Soorwucherung sein kann. Man bekommt ja fast
stets das entwickelte Krankheitsbild zu Gesichte,
SOOR, 521
Epidemisch kommt der Soor vor in schlecht ventilirten, nicht völlig
hygienisch gehaltenen Gebär- und Findelanstalten.
Wie kommt der Soor in die Mundhöhle? Die Infection kann
auf zweierlei Weise erfolgen. Erstens durch Uebertragung des irischen Pilzes,
welche Uebertragungsmöglichkeit durch Impfversuche von Bekg, Haubner,
Küchenmeister, Grawitz u. A, zweifellos festgestellt wurde. Sie geschieht
durch die Mammilla der Säugenden, durch die Lutscher und die Gummisäuger
der Saugtlaschen, wenn Soorkranke und Gesunde entweder an die gleiche
Brust angelegt worden, oder wenn Kranke und gesunde Kinder, wie dies in
Anstalten leicht geschehen kann, dieselbe Flasche benützen. Desgleichen
kann Baden gesunder und kranker Kinder in derselben Wanne zur Infection
führen. Sie kann auch bei Vorhandensein von Soor in der Vagina während
des Geburtsactes stattfinden. Die Incubatiouszeit wurde auf ca. 5 Tage fest-
gestellt.
Zweitens kann der getrocknete Pilz aus der Luft in die Mundhöhle ge-
langen, und ist derselbe in der Luft von Wöchnerinnenzimmern nachgewiesen
worden. Dorthin gelangt er durch Vertrocknen theils des Speichels, theils
der Faeces Soorkranker.
Den Umstand, class vorwiegend Säuglinge erkranken^ sucht man dadurch zu erklären,
dass das Alundhöhlensecret dieser in der Eegel saure Eeaction zeigt, dass stets
Spuren von Milchsäure, Essigsäure, Buttersäure in derselben zu finden sind. Doch ist dies
keine völlig feststehende Thatsache. Gewiss gehört die oft stundenlange Ruhe des Mundes
bei Säuglingen sowohl während der Trinkpausen, als auch bei schwer herabgekommenen,
oft somnolenten Kranken mit zu den praedisponirenden Momenten für die Entwickelung
des Pilzes.
Der Soor bildet Erytheme der Mundschleimhaut, bedeckt die-
selbe mit manchmal ausgedehnten Schorfen. In diesem Falle ist er im
Stande das Säugen an der Brust sowohl, wie bei künstlicher Ernährung zu
stören, und man hört gerade dieses Symptom öfter von den Müttern hervor-
heben. Schmerzen und wahrscheinlich Störung der Test- und Geschmacks-
empfindung sind Schuld an dieser Erscheinung. Mitunter kann er durch
Uebergreifen auf die Epiglottis die Picspiration behindern, durch Aspiration
zu Pneumonien Veranlassung geben. Durch Verschluss des Oesophagus kann
er Veranlassung gehen zu sehr ernsten Störungen, ja zur völligen Unmöglich-
keit der Nahrungsaufnahme. Er bildet bei seinem Wachsthum Säuren, und
diese mögen Magen- und Darmkatarrhe überhaupt ernste Störungen der Ver-
dauung in ihrem Gefolge führen. Als Complication schwerer Krankheiten
ist er wohl oft an dem rascheren Ende Schuld. In der PiCgel freilich stellt
er bei sonst gesunden, wohlgenährten Kindern eine nicht sehr ernste Local-
affection vor, deren, bei gehörigen Maassnahmen in Kürze Herr zu werden,
es keine sonderlichen Schwierigkeiten bietet.
Ausser der Localisation und dem sehr charakteristischen Aussehen
bietet das Mikroskop die Möglichkeit der richtigen Diagnose. Milchreste,
die wie Soorcolonien aussehen können, sind viel leichter wegwischbar. Vor
Verwechslung mit Diphtheritis und deren Membranen schützt gleichfalls die
mikroskopische Untersuchung, vor der mit Stomatitis aphthosa die Farbe der
Efflorescenzen und der Umstand, dass die letztere kaum im Säuglingsalter
vor Durchbruch der Zähne zur Beobachtung kommt. In zweifelhaften Fällen
soll die mikroskopische Betrachtung nicht unterlassen werden.
Prophylaktisch soll grösstes Gewicht auf Pieinlichkeit vor Allem
der Dinge gelegt werden, die mit der Mundhöhle der Säugenden in Berührung
kommen. Von diesem Gesichtspunkte aus sollen vor Allem die Schnuller und
Fopper als Beruhigungsmittel der Kinder auf das energischeste und erbar-
mungslos verpönt werden. Ebenso soll man den noch recht verbreiteten Unfug,
den Mund des Kindes mit dem Badewasser im Bade auszuwischen, oder ihn
522 SOOR.
mit Zucker zu reinigen, strenge verbieten. Bei sonst rein gehaltenen, gesun-
den, kräftigen Kindern ist es sicherlich nicht nöthig, öfter im Tage oder etwa
nach jedem Trinken den Mund des Kindes gar mit desinficirenden Lösungen
auszuwischen. Gewöhnlich wird bei der Gelegenheit gescheuert, bis es leicht
blutet, und dadurch das Gegentheil der beabsichtigten Wirkung erreicht.
Gegen ein sehr sanftes, mit einem feinen, weichen Linnen einmal bis zweimal
im Tage vorgenommenes Auswischen des Mundes mit reinem oder gekochtem
Wasser ist nichts einzuwenden. Aber Reiben darf man dabei nicht. Borsäure
und andere desinficirende Lösungen mögen für die Brustwarze der Mutter und
für die Säuger der Milchflasche verwendet werden. Soorkranke und gesunde
Kinder sind selbstverständlich nicht in derselben Wanne zu baden. Kinder-
stuben und Krankensäle mit Wöchnerinnen sind sehr ausgiebig zu lüften. Die
Krankheit ist ja vermeidbar, die Uebertragungsweise ist bekannt und deshalb
ergeben sich die hygienischen Forderungen von selbst. In Gebärkliniken und
Findelhäusern, wo Alles mit Soor inficirt ist oder inficirt sein kann, mögen viel-
leicht öftere Mundreinigungen der Säuglinge nicht zu umgehen sein, doch auch
hier müssen diese in zartester und vorsichtigster W^eise vorgenommen werden.
Gewiss kommt es viel auf das Wie an. Fischl und Kehrer, die nebst anderen
über die Wirkung der öfteren Mundwaschungen Untersuchungen angestellt
haben, gelangten bei denselben zu völlig differenten Schlüssen.
Therapie. Da die Krankheit eine rein locale ist, so ist auch eine
locale Behandlung völlig am Platze. Es handelt sich dabei um zweierlei, um
die Entfernung der bereits vorhandenen Pilzwucherungen, um Verhinderung
neuer Infection, respect. des Wiederauflebens übrig gebliebener nicht mehr
sichtbarer Vegetationsreste. Der letzteren Forderung kann zum Theile durch
Befolgung der oben erwähnten prophylaktischen Maassregeln Genüge geschehen.
Man soll mit den therapeutischen Proceduren so bald wie möglich beginnen.
In je früherem Stadium die Krankheit sich befindet, je weniger weit sie vor-
geschritten ist, je weniger weit sie sich nach hinten in die Mund- und Kachen-
höhle ausgebreitet hat, desto leichter und eher wird man sie beherrschen.
Sich selbst überlassen, heilt der Soor gewöhnlich im Laufe von 3 — 4
Wochen spontan. Diese Naturheilung erfolgt theils durch die unvermeidliche
Abstreifung und Abstossung des Pilzes, theils durch stärkerer Bildung von
Milchsäure, die dessen Entwickelung hemmt. Es ist noch nicht festgestellt,
ob die massenhaft in dem Soorpilz wuchernden Bacterien auch im Stande
sind, das Wachsthum desselben ungünstig zu beeinflussen, ob diese Symbiose
zur Heilung beiträgt. Man behandelt die Krankheit am besten so, dass man
die Membranen und Colonien mechanisch entfernt. Am besten mit Hilfe
eines weichen Läppchens, das in eine desinficirende Flüssigkeit getaucht ist
oder mit Wattebäuschchen, die man um Holzstäbchen wickelt und mit der
entsprechenden Flüssigkeit tränkt. Der mechanische Act der Entfernung
scheint das Wichtigste zu sein, denn man hat dabei als Flüssigkeit eine Reihe
von Lösungen erfahrungsgemäss mit gutem Erfolge verwendet und thut dies
heute noch, die sich später bei exacten Untersuchungen als ganz gute Wachs-
thumsmedien für den Pilz herausgestellt haben. Mit Vorliebe werden verwendet:
Lösungen von Kai. chloricum 2 — 5^0, Borax (5 : 100—2 : 100), schwache wein-
rothe Lösungen von Kai. hypermang., Resorchi 2 : 100, Natr. henzoic. 5 : 100,
Liquor almn. acetic, Pinselungen mit 1 — 2°/o ^4r(/. nitric. Lösung^ 1 : lO'OOO
Sublimat, 5^Jq Bonvasser. Fischl gibt als sehr wirksam und sehr haltbar
folgende Papayotinmischung an: Papayotin O'o, Spir. vin. q. s. ad soluf. aq.
destill. 25-0; ist nicht völlig gelöst, jedoch lange haltbar. Die Waschungen
und Pinselungen werden alle 2 — 3 Stunden einmal vorgenommen. Man wird
so der Affection in wenigen Tagen Herr. Bei Soor des Oesophagus
wird Anregung des Brechactes auf mechanischem Wege angerathen, um so
ein Herausbefördern der Membranen zu veranlassen.
SPUTUM - SPUTUMÜNTERSUCHÜNG. 523
Es bedarf keiner besonderen Erwägung, dass jede constatirte Neben-
krankheit, deren Complication der Soor ist, einer sorgsamen Behandlung
bedarf, zumal es scheint, dass manche sich mit Vorliebe mit ihm verbinden.
LOOS.
Sputum — SputumunterSUChung. Als Auswurf bezeichnen wir mit
BiEKJiER „alle durch den mechanischen Act des Räusperns und Hustens aus
den Respirationswegen entleerten Massen." Die Herausbeförderung erfolgt
unter Räuspern, wenn der ürsprungsort in den Rachengebilden, durch
Husten, wenn er im Kehlkopf oder den Lungen gelegen ist.
Husten ist ein Begleiter fast aller Erkrankungen der Athmungsorgane;
sein Bestehen schliesst jedoch nicht noth wendig die Anwesenheit von Sputum
ein und seine Intensität steht oft in keinem Verhältnis zu der Menge des
gelieferten Secretes. Mitunter ist er quälend und fördert spärliche Mengen
zu Tage; in anderen Fällen ist er geringfügig und liefert trotzdem grosse
Massen f,^maidvoUe Expectoration'-'-).
Bei plötzlichem Durchbruch eines Empyems oder einer Gangränhöhle in
einen Bronchus kommt eine so massenhafte Ueberflutung der Luftwege zu
Stande, dass nicht nur krampfhafte Hustenstösse, sondern auch Brech-
bewegungen zur Entfernung des Secretes ausgelöst werden.
ZuAveilen hat Veränderung der Körperstellung Einiiuss auf die
Entleerung des Sputums, So sah ich beispielsweise bei einem jugendlichen
Kranken, welcher in aufrechter Haltung keinen Husten hatte, sogleich nach
Einnahme der Rückenlage eine Menge dünnflüssigen Eiters aus Mund und
Xase gleichzeitig hervorstürzen. Das Experiment konnte bei diesem Patienten
mit dem gleichen Erfolge mehrmals hinter einander wiederholt werden. Die
leider nur einmal gestattete Untersuchung machte es wahrscheinlich, dass eine
brouchiectatische Caverne an der Vorder-, resp. Seitenfläche des linken Unter-
lappens bestand, deren dünnflüssiger Inhalt bei Rückenlage in den Bronchial-
baum ergossen wurde. Durch Henoch ist ferner ein Fall von Pyopneu-
mothorax beschrieben, bei dem der Kranke, sobald er horizontale Stellung mit
Tieflagerung der oberen Thoraxabschnitte einnahm, einen Theil des Eiters
durch die offene Lungenfistel zu entleeren vermochte.
Der Ausw^urf wurde von den alten Aerzten sehr sorgfältig beachtet, da
er fast das einzige ihnen zugängliche objective Zeichen zur Unterscheidung
der mannigfaltigen Erkrankungen der Lunge w^ar. Auch heute ist seine Unter-
suchung zur Ergänzung und Erweiterung der durch die physikalischen Unter-
suchungsmethoden erhaltenen Befunde von hohem Werth, zumal die mikros-
kopische und bakteriologische Durchforschung einen tiefen Einblick in die
innerhalb des Lungengewebes sich abspielenden Veränderungen gestattet.
Wesentlich erleichtert wird die Untersuchung des Sputums, wenn man
die Kranken anweist, dasselbe — am besten die ganze Tagesmenge —
in einem gläsernen, zur Vermeidung des Verstäubens und Versprengens
kleiner Theile durch einen Deckel verschliessbaren Gefässe zu
sammeln. Besonders die makroskopische Betrachtung wird durch dies Ver-
fahren erheblich gefördert.
Die 3Ieiige des Auswurfs schwankt innerhalb weiter Grenzen. Meist
beträgt sie nur 50 bis 100 ccm innerhalb 24 Stunden, oft weniger bis zu
minimalen Spuren, zuweilen aber auch einen Liter und mehr. Das letztere
ist bei ausgedehnten Bronchiectasien und bei in die Lunge perforirten Em-
pyemen der Fall.
Die Farbe des Sputums richtet sich nach den Bestandtheilen, welche
es zusammensetzen. Blassgrau weisslich glasig findet man sie im Beginn
eines Bronchialkatarrhs, die Beimengung von Eiter zeigt sich durch gelbe
Streifen in dem zähen Schleim an. Rothe Färbung deutet auf Blutgehalt,
524 SPUTUM. — SPUTÜMÜNTERSUCHUNG.
rostbraune wird bei acuter croupöser Pneumonie angetroffen, und ist durch
Anwesenheit von Blutkörperchen und ausgelaugtem Blutfarbstoff bedingt. Im
Lösungsstadium der Lungenentzündung begegnet man citronengelbem,
zuweilen auch grasgrünem Sputum; beide Nuancen sind die Folgen einer
Veränderung (Oxydation) des Hämoglobin. Bei Icterus ist ebenfalls grünes
Sputum beobachtet. Ockergelbe Farbe ist durch Gegenwart von krystalli-
sirtem oder amorphem Hämatoidin (Hämosiderin) verursacht, und bei Lungen-
abscess, oder nach längere Zeit vorangegangenen Lungenblutungen gefunden.
Grau schwärzliche Stellen in den schleimigen Theilen entstehen
durch Beimischung von Kohlenstaub,
Schliesslich ist noch zu erwähnen, dass zuweilen durch Wucherung ge-
wisser Schimmelpilzarten nach längerem Stehen des Auswurfs eigelbe oder
grüne Färbungen erzeugt sind, welche selbstverständlich keine pathologische
Bedeutung besitzen.
Die Consisteiiz hängt vorwiegend von dem Schleimgehalte ab, je grösser
derselbe ist, um so zäher das Sputum. Die zähesten Sputa finden wir zu
Beginn des acuten Lungenkatarrhs und der croupösen Lungenentzündung; sie
kleben fest am Glase, so dass sie auch nach Umkehren desselben nicht ver-
schüttet, und nur mit Mühe daraus entfernt werden können. Ihre Menge ist
gleichzeitig sehr spärlich.
Mit zunehmendem Eitergehalt vermindert sich die Consistenz des Aus-
wurfs. Geringe Mengen Eiter zeigen sich als gelbe Punkte oder Streifen in
dem glasigen Schleim an, grössere Quantitäten bleiben oft als kugliche oder
münzenförmige Gebilde inmitten der hellen Massen liegen (Sputum glohosum
und nummuläre). Man hat die letzteren Formen des schleimig-eitrigen Aus-
wurfs als Zeichen für Vorhandensein von Cavernen angesehen, indem man
annahm, dass die Eiterklumpen die ihnen innerhalb der Hohlräume mit-
getheilte Form bei ihrer Mischung mit dem Schleim der Bronchien beibehalten,
oder durch Abplattung nur unwesentlich ändern. Thatsache ist, dass der-
artige Sputa globosa und nummularia häufig bei Cavernen beobachtet werden,
dass sie aber auch ebenso oft bei Bronchiorrhoen auftreten, mithin an sich
für keinen Zustand Beweiskraft besitzen.
Einen bedeutenden Grad von Dünnflüssigkeit besitzt der Auswurf bei putri-
der Bronchitis und bei Lungengangrän, welcher ebenfalls zu dem schleimig-eitrigen
zu rechnen ist. Derselbe pflegt beim Stehen im Speiglase sich in drei Schichten
zu sondern. Auf dem Boden des Gefässes sammeln sich Eiter und Detritus an,
darüber findet sich eine Schicht wenig getrübter Flüssigkeit, und oberhalb mit
Luftblasen durchsetzte schleimig-eitrige Massen, von welchen aus Schleim-
und Eiterfäden in die zweite Schicht weit herabhängen. Dreischichtiges
Sputum kommt ausser den genannten Krankheiten auch noch bei starken
Bronchorrhoen in Folge von Bronchiectasie vor.
Von geringer Consistenz ist auch das rein eitrige Sputum, welches
bei Durchbruch von Lungenabscessen und Empyemen beobachtet wird.
Die geringste Zähigkeit hat der seröse Auswurf. Er ist ein Zeichen
acuten Lungenödems, seine Consistenz gleicht daher annähernd dem trans-
sudirten Serum. Die Farbe ist blassroth bis bräunlich, pflaum enbrühartig,
in Folge beigemischten Blutes. Wir begegnen ihm bei plötzlicher Erlahmung
des linken Ventrikels in Folge von Herzkrankheiten, besonders Affectionen
des Herzmuskels, in der Krise acuter Lungenentzündung, nach zu rascher
Entleerung pleuritischer Exsudate u. s. w. Sein Auftreten ist von ernstester
Bedeutung und erfordert unbedingt die energischste Anwendung von Excitan-
tien und ev. einen Aderlass.
Meist hat der Auswurf einen faden, wenig markanten Geruch. Bei
mangelnder Pieinhaltung der Mundhöhle kann der daselbst entstehende Foetor
sich ihm beimengen. Bei putrider Bronchitis und bei Lungengangrän ist er
SPüTDiM.
SPDTUMUNTERSUCHDNG.
525
durch penetranten Gestank ausgezeichnet, welcher durch Zersetzung innerhalb
der Lungen bedingt ist. Dieser theilt sich auch der Exspirationsluft der
Kranken mit, vergiftet somit seine ganze Umgebung nnd macht den Aufent-
halt in seiner Nähe zur Qual.
Der Geschmack des Auswurfs wird von dem Patienten als salzig oder
als süsslich angegeben. Das letztere scheint besonders der Fall zu sein, wenn
er vorwiegend aus Eiter oder Blut besteht.
Das specifische Gewicht ist nur festzustellen, wenn durch Erwärmung
im Wasserbade auf 50 bis 60'' eine Auflösung des Mucin und damit eine
innige Vermischung sämratlicher Bestandtheile stattgefunden hat. Es schwankt
nach KossEL zwischen 1004-3 und 1037-5, und ist im allgemeinen um so
höher, je grösser der Eitergehalt. Das höchste specifische Gewicht wurde bei
einem serösen Sputum gefunden.
Die Keaction ist alkalisch.
Die chemische Untersuchung des Auswurfs ist mit bedeutenden
Schwierigkeiten verknüpft, und hat bisher keine für die Diagnostik verwert-
baren Resultate ergeben. Den hauptsächlichsten Bestandtheil bildet Wasser,
dessen Menge zwischen 87-3 und 98-30/0 schwankt. Unter den festen Stoffen,
welche 1-7 bis 12-6*^/0 ausmachen, nehmen die organischen den überwiegenden
Antheil gegenüber den Salzen in Anspruch. Als Beispiel mögen folgende
Analysen nach Bamberger dienen:
Chroni
sehe Bron-
chitis
Bronchi-
ectasie
Chroni-
sche
Tubercu-
lose
Acut. I
Miliar- j
Tubercu-
lose
Pneumonie
Wasser
Organische Stoffe . .
Anorganische Stoffe
darin P, 0
95,622
3,705
0,673
0,068
93,857
5,356
0,787
0,103
94,553
4,671
0,776
0,101
92,380
6,882
0,738
0,104
94,212
4,526
1,262
94,171
5,054
0,775
Von organischen Bestandtheilen sind zu nennen: Serumalbumin,
Mucin, Pepton, Nuclein, Lecithin, Cholestearin, von einigen Autoren
sind Glycogen, Harnstoff, Tyrosin, Fettsäuren gefunden. Unter den
anorganischen Substanzen nehmen die Chloride und Phosphate den ersten
Rang ein. Pneumonisches Sputum soll sich durch höheren. Eiweiss- und ge-
ringeren Mucingehalt auszeichnen.
In neuester Zeit ist von Schmidt der Versuch gemacht, dem makro-
skopischen Verhalten des Sputums gegenüber Farbstoffen eine
diagnostische Bedeutung beizulegen. Schmidt bewirkte zunächst
durch Schütteln eines Sputumpartikels in 2V2 7o Sublimatalkohol eine feine
Zertheilung desselben und Hess sodann nach Abgiessen des Alkohols eine
verdünnte EHRLicn'sche Triacidlösung einwirken, worauf durch Auswaschen
mit destillirtem Wasser der überschüssige Farbstoff entfernt wurde. Bei Pneu-
monie nahmen die Flöckchen einen rothen, bei Bronchitis und anderen Lungen-
krankheiten einen grünlich blauen Farbenton an.
Um einzelne Theile des Auswurfes einer eingehenden Betrachtung unter-
ziehen zu können, giesst man die ganze Menge in einen zur Hälfte schwarz
lackirten Porzellanteller. Man ist so in der Lage, das Aussehen auf hellem
oder dunklem Untergrunde zu prüfen und kleine Theilchen behufs mikros-
kopischer Untersuchung herauszufischen.
Die letztere ergiebt in jedem Sputum die Anwesenheit von Eiter-
körperchen (Fig. 1. a) mit gekörntem, zuweilen stark verfettetem Proto-
526 SPUTUM. — SPÜTÜMUNTERSÜCHÜNG.
plasma und einem resp. mehreren Kernen, welche meist erst durch Essig-
säurezusatz deutlich hervortreten. Sie sind am reichlichsten in den gelben
Stellen, finden sich aber auch vereinzelt in den schleimigen Partien.
Fast immer vv^erden die soge-
a ^^^<^ -^^ nannten Alveolarepithelien an-
^■^C^v--^^^ (pi^^^^f) / getroffen (Fig. 1. ö). Ihr Durchmes-
""■■v^"--^ ^"'^"^^^^'"^ /^^^~~^^ ser ist grösser als der der Eiter-
"" ^ - ^ " ~- - ^^ / ' '•■ .-; 11 körperchen, ihre Gestalt rundlich ;
(^^^^"^ \''''''^'\y sie sind durch einen deutlichen Kern
^^ /si^ö.^-^^ ^^^ Kernkörperchen ausgezeichnet.
/ (^Ä- ^^^ Protoplasma ist feingekörnt, oft
^ ^^ ^'l ^^^^ ^^^ grösseren Fetttröpfchen
^^''' oder mit Myelinkugeln überladen.
Fig. 1. Spatumzellen. a. EUerJ:i!rj, ercnen. l. Alveolar. EinZelUC enthalten KÖmChCU amOr-
epitheiien. c. stauhzeiien. phcu, schwarzcu Pigmcutes in ihrem
Leibe eingeschlossen, welches dem
Lungenpigmente entspricht, mithin aus dem eingeathmeten Kohlenstaub be-
steht (Staubzellen Fig. 1. c). Bei der Herzfehlerlunge ist ein Theil dieser
Zellen mit gelblichem, von dem Blutfarbstoff abstammenden Pigmente an-
gefüllt („Herzfehlerzellen").
Ueber den Ursprung der sogenannten Alveolarepithelien ist viel hin
und hergestritten. Nach einer Ansicht stammen sie von den abgestossenen
und gequollenen Epithelien der Lungenalveolen her, nach einer anderen sind
sie umgewandelte Leukocyten. Viele Gründe sprechen dafür, dass die letz-
tere Ansicht in den meisten Fällen zu Recht besteht und nur für den kleinsten
Theil dieser Gebilde die Abstammung von dem Epithel der Alveolen anzu-
nehmen ist.
Eine diagnostische Bedeutung kommt ihnen mit Ausnahme der Herz-
fehlerzellen, welche auf braune Induration der Lungen hindeuten, nicht zu.
Pflasterepithelien (Fig. 1. d), welche häufig gefunden werden,
stammen von der Auskleidung der Mundhöhle; Cylinder epithelien sind
nur selten vorhanden und dann meist von der Nase aus durch die Choanen
in den Auswurf hineingelangt.
Unveränderte rothe Blutkörperchen sind in den rothgefärbten
Theilen des blutigen Sputums und in den rostbraunen des pneumonischen
enthalten. In letzterem werden auch ausgelaugte rothe Blutkörperchen, so-
genannte Schatten, beobachtet.
Mitunter fallen bei Betrachtung der schleimigen Theile des Auswurfes
auf dunklem Grunde gewundene Fäserchen von weisslicher Farbe, ca. 1 mm
Dicke und 1 cm Länge auf. Bei schwacher Vergrösserung erscheinen sie aus
pfropfenzieherartig gewundenen
Spiralen zu bestehen, in welche
Leukocyten und die unten näher
beschriebenen Leyden-Chaecot-
schen Krystalle eingebettet sind
p, und in deren Mitte ein glänzen-
^^- >.* ^^^ Streifen, der Centralfaden,
;0^' ' ^ V ""^ ' verläuft. Sie werden nach ihrem
Entdecker CuRSCHMANN'sche Spi-
ralen genannt (Fig. 2). Beson-
ders reichlich finden sie sich in
Fig. 2. CuRSCHMANN'sche Spirale. dcm Sputuui, welchcs bcl Asthma
{Eigene Beoiachtung.) brouchiale kurz uach überstan-
denem Anfalle expectorirt wird, sind aber auch vereinzelt bei anderen Krank-
heitszuständen (Pneumonie — acute Bronchitis) beobachtet. Curschmann er-
SPUTUM. — SPUTUMÜNTERSüCHüNG.
527
blickt in ihnen den Ausdruck einer mit Exsudatbildung einhergehenden Ent-
zündung der feinsten Bronchialverzweigungen, einer Bronchiolitis exsudativa.
Die Substanz, aus welcher Spiralen und Centraliaden bestehen, ist wahr-
scheinlich Mucin oder eine verwandte Substanz.
Bisweilen bemerkt man bei Asthma an Stelle der geschilderten und in
Figur 2 abgebildeten typischen Form Schleimfäden von gleicher Länge mit
deutlicher Spiraldrehung, aber ohne erkennbaren Centralfaden, welche ver-
muthlich als unvollständige Exemplare oder als Uebergangsformen an-
zusehen sind.
Aus Fibrin bestehende Bronchialgerinsel von 1 bis 2 cm Länge
werden gelegentlich in spärlicher Anzahl bei der croupösen Lungenentzündung
angetroffen. Sie zeigen meist dichotomische Theilung.
Grössere Gerinn-
sel, welche den Ausguss
eines Hauptbronchus u,
seiner Verzweigungen
darstellen, deuten eine
croupöse Entzündung
der Bronchien an. Aus-
nahmsweise complicirt
eine solche die croupöse
Pneumonie. Figur 3
stammt von einem circa
40jährigen Pneumo-
niker, welcher während
der Dauer seiner Krank-
heit mehrmals Bron-
chialgerinsel von ähn-
licher Ausdehnung aus-
hustete. Vor der Ex-
pectoration derselben
waren die Athmungs-
phänomene fast voll-
kommen verschwun-
den, während nach Her-
ausbeförderung der Ge-
rinnsel Crepitiren u. s. w. auf das Deutlichste wahrgenommen wurden. Gewöhn-
lich ist die croupöse Bronchitis eine selbständige Krankheit. Sie ist im
ganzen recht selten und tritt sowohl acut, wie auch chronisch auf. Die Bron-
chialgerinnsel werden meist zusammengeballt und in Schleim oder Blut ein-
gehüllt herausgebracht, so dass sie durch Schütteln in Wasser entwirrt werden
müssen. Sie sind bis in die feinen Ausläufer hinein röhrenförmige Hohlgebilde.
Bei einer acuten fibrinösen Bronchitis, welche ich vor kurzer Zeit zu beobachten
Gelegenheit hatte, konnte mittelst des Laryngoskops der Uebergang der
Memljranen aus der Trachea auf die Stimmbänder und die Hintertiäche der
Epiglottis festgestellt werden. Verwechslung mit Diphtheritis war in diesem
Falle durch den klinischen Verlauf und den negativen Befund der bacterio-
logischen Untersuchung ausgeschlossen.
Eine vor kurzem von Beschorker publicirte Krankengeschichte lehrt, dass den be-
schriebenen makroskopisch vollkommen gleichende, vimfangreiche Bronchialausgüsse aus-
schliesslich aus Mucin zusammengesetzt sein können.
Bei ulceröser Zerstörung des Lungengewebes erscheinen Bestandtheile
desselben im Auswurf. Am häufigsten begegnet man elastischen Fasern
(Fig. 4); sie zeichnen sich durch besonderen Glanz, geschwungene Form und
dichotome Theilung aus. Zuweilen findet man Netzwerke elastischer Fasern,
welche in ihrer Anordnung den Bau der Alveolen noch erkennen lassen. Die
Fig. 3. Bronchialgerinnsel aus dem Sputum einer Pneumonie.
{Eigene Beobachtung.)
528
SPUTUM. — SPÜTÜMÜNTERSUCHÜNG.
rig 4. Elastische Fasern aus dem Sputum
einer Tuberculose.
(Eigene Beobachtung.)
in Figur 4 abgebildeten stammen von einer sehr acut verlaufenden Phthise.
Ausser dieser Krankheit kommen sie bei Abscess und verhältnismässig
spärlich bei Gangrän der Lunge vor. Ihre Seltenheit bei dem letztgenannten,
mit beträchtlicher Zerstörung von Lungen-
parenchym einhergehenden Leiden wurde von
Tkaube durch die Wirkung eines trypsin-
ähnlichen, elastische Elemente verdauenden
Fermentes erklärt. Wahrscheinlich ist auch
die Fäulnis zum Theil für das Verschwinden
derselben verantwortlich zu machen.
F'etzen abgestossenen Lungen-
gewebes (Lungensequester) werden bei
Abscess und Gangrän ausnahmsweise aus
geworfen. Ebenso gelangen bei Lungentu-
moren manchmal Geschwulsttheile zur Eli-
mination, durch deren mikroskopische Unter-
suchung (nach Härtung, an Schnitten) die
Diagnose gestellt wird.
Ausgehustete Lungensteine sind
äusserst selten; sie rühren von verkalkten
Tuberkeln der Lunge oder von eingedickten
Secretmassen in den Bronchien her.
Von den im Auswurf vorkommenden
Krystallen sind zunächst die LEYDEN-CHARCOT'schen Krystalle zu
erwähnen, auf hexagonaler Grundfläche aufgebaute, langgestreckte, spitze
Doppelpyramiden, (Figur 5) deren eines Ende oft abgebrochen oder ausge-
zackt ist. Mitunter sind sie zu Drusen angeordnet, oder es sind zwei in der
Richtung der Längsaxe ne-
beneinander gelagerte Kry-
stalle mit ihren Enden ver-
schmolzen. Sie bestehen aus
einer organischen Substanz,
sind neueren Untersuchun-
gen zu Folge (von Th. Cohn)
doppelbrechend, und iden-
tisch mit den von Neumann
im faulenden Blute und Kno-
chenmark bei Leukämie ge-
fundenen Krystallen. Im
asthmatischen Auswurf er-
scheinen sie besonders reich-
lich und häufig mit den
CuESCHMANN'schen Spiralen
vergesellschaftet, werden
aber auch zuweilen bei acu-
ter Bronchitis gefunden. Von
Leyden ist ihr Auftreten
mit der Entstehung der asth-
matischen Anfälle in ursächliche Beziehung gebracht.
Fettsäurekrystalle (Fig. 6) sind dünne feine Nadeln, langgestreckt
oder an einem Ende gekrümmt. Bei Erwärmen des Objectträgers schmelzen
sie und an ihrer Stelle erscheinen feine Fetttröpfchen. Sie sind bei putrider
Bronchitis und bei Lungengangrän zahlreich vorhanden.
Hämatoidinkrystalle, feine rhombische Täf eichen oder Büschel
kurzer, dünner Nadeln von rother Farbe sind bei Lungenabscess und nach
^'
/
^^ /
y
Fig. 5. liEYDEN-CHARCOT'sche Krystalle.
SPUTUM. - SPUTUMUNTERSÜCHÜNG. 529
Blutungen im Auswurf manchmal so reichlich, dass sie eine ockergelbe
Färbung verursachen. Letztere kann aber auch durch amorphes Hämatoidin
bewirkt Averden.
Cholestearinkrystalle, grosse, platte,
rhombische Tafeln, kommen bei Lungenabscess und
ausnahmsweise bei Tuberculose vor.
Leucin- und Tyrosinkrystalle, Tripel-
phosphate und oxalsaurer Kalk sind nur in ver-
einzelten Fällen beobachtet.
Von den im Sputum aufgefundenen Spaltpil- ^'^ o. Fettsäurenadeln
zen sind die Tub erkelbacillen ■■) die wichtigsten. ^""'^'^ bikkmeh).
Ihre Anwesenheit beweist das Bestehen von Lungen^, respective von Kehl-
kopftuberculose. Sie sind kurze, schlanke Stäbchen, oft zu zweien angeordnet
oder in Haufen beisammenliegend, mitunter aber auch ganz vereinzelt,
welche nur nach vorangehender Färbung bei starker Vergrösserung unter
Benutzung von Oelimmersion und AsBE'scher Beleuchtung erkannt werden.
Die Tuberkelbacillen sind vor anderen, ähnlich gestalteten Bacterien
dadurch ausgezeichnet, dass sie die Farbstoffe sehr schwer aufnehmen, dafür
aber Entfärbungsflüssigkeiten gegenüber mit grosser Zähigkeit festhalten.
Zur Färbung sind daher nur durch Zusatz von Anilin, Carbol etc. wirksamer
gemachte Farbstofflösungen zu gebrauchen, welche entweder lange Zeit,
24 Stunden, einwirken müssen oder zur Erhöhung der Färbekraft erwärmt
werden. Für die Praxis empfiehlt sich durch seine Einfachheit und leichte
Ausführbarkeit folgendes bewährte Verfahren:
Zunächst werden aus dem auf einem Teller ausgebreiteten Sputum
kleine Partikel der verdächtigen Stellen mit einer durch Glühen von Bacterien
befreiten Nadel herausgefischt. Als suspect sind die gelben Stellen zu be-
trachten, besonders suche man nach kleinen gelblichen Käsebröckelchen,
sogenannten Linsen, welche die Bacillen in grosser Anzahl enthalten. Eine
Verwechselung dieser Linsen mit aus der Mundhöhle beigemischten Speise-
resten (Semmeltheilen u. s. w.) ist bei einiger Uebung leicht zu vermeiden.
Man verreibt sodann die ausgewählten Theile zwischen 2 Deckgläschen zu
einer möglichst dünnen Schicht, zieht die Gläschen von einander ab und lässt
sie an der Luft trocknen. Da die Manipulation mit den leicht zerbrechlichen
Deckgläschen umständlich ist, kann man an Stelle derselben Objectträger zur
Ausbreitung des Sputums benutzen, was noch den Vortheil in sich schliesst,
ein erheblich grösseres Präparat zu liefern. Nach Trocknung in der Luft
werden sie mit der unbestrichenen Seite nach unten gekehrt, dreimal rasch
durch eine Spiritus- oder Gasflamme gezogen, wodurch eine Fixirung bewirkt
ist. Zur Färbung der so vorbereiteten Präparate benutzt man eine Carbol-
fuchsinlösung von folgender Zusammensetzung (Ziehl-Neelsen):
Fuchsin l'O, Alkohol lO'O, Acid. carbol. conctr. 5-0, Aquae destillata lOO'O.
Diese Flüssigkeit wird bis fast zum Sieden erhitzt und auf die bestrichene
Seite des Objectträgers gegossen respective die Deckgläschen auf ihr schwimmen
gelassen. Nach zwei Minuten giesst man die Farbstofflösung ab, spült gut
mit Wasser nach und bringt die Objecte für eine Minute in folgende Lösung:
Methylenblau 2'0, 25^0 Schwefelsäure lOO'O, welche die Entfärbung und
Gegenfärbung gleichzeitig bewirkt. Nach nochmaliger gründlicher Ausspülung
in Wasser und Trocknung kann das Deckgläschen mit einem Tropfen Wasser,
besser Cedernöl oder, wenn dauerde Conservirung erwünscht ist, Canadabalsam
auf den Objectträger gebracht und unter dem Mikroskop betrachtet werden.
Ist die Färbung auf einem Objectträger vollzogen, so empfiehlt sich zum
Schutze der Immersionslinsen auf die zu untersuchende Stelle einen Tropfen
*) Siehe die Farbendi'ucktafehi (Fig. 1 imd 2) am Schlüsse dieses Bandes.
Bibl. med. Wissenschaften. Interne Medicin nnd Kinderkrankheiten. Bd. III, öl
530 SPUTUM. - SPUTUMUNTERSUCHUNG.
der vorgenannten Flüssigkeiten, sodann ein reines Deckgläsclien zu bringen
und nun erst die Durchmusterung vorzunehmen.
Die Zahl der in einem Gesichtsfeld enthaltenen Tuberkelbacillen schwankt
bedeutend. Oft werden nur vereinzelte Exemplare angetroffen, in anderen
Fällen sind sie zahlreich (Fig. 1 der Tafel), ausnahmsweise sind sie so dicht
bei einander liegend wie in Figur 2 der Tafel, wo man eine Reincultur von
Bacillen vor sich zu haben glaubt. Man findet sie am reichlichsten bei den
acut verlaufenden Tuberculosen (Fig. 2 stammt von einem Falle, welcher
das Bild einer tuberculösen Pneumonie darbot) und bei vorgeschrittener Er-
krankung, am spärlichsten bei Beginn und chronischem Verlaufe. Die genaue
numerische Feststellung der in einem Präparat enthaltenen Bacillen ist jedoch
praktisch ohne Werth, . da es immerhin in hohem Grade von Zufälligkeiten
abhängt, ob in dem ausgewählten Theilchen ihre Zahl eine grosse oder
geringe ist.
Zur Auffindung sehr spärlicher Bacillen bedient man sich
folgender Methode: Man verflüssigt einen Theil des Auswurfs durch Kochen
mit Kalilauge, sedimentirt mit Hilfe der Centrifuge und benützt das Sediment
zur Anfertigung der Präparate.
Die Tuberkelbacillen sind nicht immer gleichmässig gefärbt, sondern
zeigen oft helle, ungefärbte Unterbrechungen, deren 3 bis 4 in einem Stäb-
chen vorhanden sind. Sie wurden früher als Sporen gedeutet, doch ist diese
Annahme durch nichts bewiesen. Mitunter findet man Haufen typisch ge-
färbter, aber mehr coccenartig gestalteter Gebilde, welche als Degenerations-
formen angesehen werden.
Bei der acuten croupösen Pneumonie werden coccenähnliche Mikro-
organismen aufgefunden — Pneumococcen ") Zwei verschiedene Arten
streiten um die Urheberschaft dieser Krankheit. Die Fränkel-Weichselbaum-
schen, welche das grössere Ansehen zur Zeit gemessen, sind sehr kurze Diplo-
bacterien mit lanzettförmig ausgezogenen Enden, die FßiEDLÄNDER'schen,
grösser als die vorigen, sind kurze, plumpe Diplobacillen: beide sind von
einem die Farbstoffe nicht aufnehmenden Hof umgeben. Das morphologische
Verhalten bietet für den weniger Geübten geringe Unterschiede, dem Grä.m-
schen Verfahren gegenüber tritt aber eine deutliche Differenz zu Tage, indem
die ersteren durch dasselbe gefärbt werden, die letzteren nicht. Für Thiere
hat nur der FRÄNKEL-WEicHSELBAUM'sche Pneumococcus pathogene Eigen-
schaften.
Die Influenzabacillen im Auswurfe'"*) an katarrhalischer Influenza
leidender sind sehr feine dünne Stäbchen, welche mit ZiEHL'scher Lösung sich
gut färben. Ihre Specificität ist aber nur durch Cultivirung auf hämoglobin-
haltigem Nährboden nachzuweisen.
Von den Fadenpilzen kommen Soor und Aspergillus fumigatus
im Auswurf vor. Sie verdanken meist zufälligen Beimengungen aus der Mund-
höhle oder nach der Expectoration ihr Dasein, doch ist es nicht ausgeschlossen,
dass sie auch innerhalb der Lunge zur Entwickelung gelangen und daselbst
pathologische Processe veranlassen." "")
Bei der seltenen Actinomykose der Lungen gehen die kolbigen An-
schwellungen des Strahlenpilzes in die Entleerungen über. Mitunter findet
man auch die makroskopisch sichtbaren schwefelgelben Körnchen wie in ak-
tinomykoschem Eiter, welche aus den Drusen des Pilzes bestehen.
*) Vide Artikel „Bacterien'^ und ,, Pilze'- im Bande .,Hygiene und Gerichtliche
Medicin".
"*) Siehe die colorirte Figur auf der Farbendrucktafel am Schlüsse dieses Bandes.
*"*) Vid. Artiliel ^Pnenmonomycosis"' in ds. Bd.
SPUTUM. - SPUTUMUNTERSUCHUNG.
531
Wenn in den Bronchien eine Stagnation von Secret stattfindet, z. B.
bei Bronchiectasie und putrider Bronchitis, erleidet dasselbe Zersetzung und
es findet lebhafte Pilzwucherung in ihm statt. In dem expectorirten Sputum
finden wir dann gelbweissliche, hirsekorngrosse, stinkende Pfropfe, die so-
genannte DiTTMCH'schen (mykotischen) Bronchialpfröpfe, welche
fast nur aus Zelldetritus, Fettsäurenadeln und einem dichten Gewirre langer
Pilzfäden bestehen. Die letzteren haben grosse Aehnlichkeit mit dem in der
Mundhöhle vorkommenden Leptothrix huccalis und sind daher von Leyden
und Jaffe Lejjtothrix jndmoncdis genannt. Sie unterscheiden sich von den
Fettkrystallen durch Blaufärbung bei Zusatz von LuGOL'scher Jod-Jodkalium-
lösung, der sie umgebende Zelldetritus wird dabei intensiv strohgelb gefärbt
(Fig. 7).
Ein äusserst seltenes Vor-
kommnis bildet die Expecto-
ration von Ecchinococcusblasen
oder von Theilen der Wand
und von Häkchen dieses Para-
siten. Der Auswurf bei Lun-
genechinococcus enthält ausser
den genannten, die seltene
Krankheit charakterisirenden
Theilen oft Leyden-Charcot-
sche Krystalle. Ein Analogon
zu dieser bemerkenswerthen
Thatsache ist die von Leich-
tensteen veröffentlichte Beob-
achtung, dass die Faeces an
Bandwurm leidender Personen
die nämlichen Krystalle auf-
weisen.
Die Untersuchung des
Sputums in gefärbten Schnitt-
präparaten nach Härtung ein-
zelner Ballen und Einbettung
im Celloidin ist zur Erforschung
des feineren Baues der Cursch-
MANN'schen Spiralen, der Ley-
DEN-CHARCOT'schen Krystalle
und anderer Theile benutzt,
hat aber für die Praxis bisher
keine Bedeutung erlangt.
Fig. 7. Leptotlirix pulmonalis.
(Eigene Beobachtung.)
Zum Schlüsse sei eine kurze Zusammenfassung der Beschaffenheit des Aus-
wurfs bei den wichtigsten Erkrankungen der Athmungsorgane gestattet:
Acuter Bronchialkatai-rh: Der Auswurf ist zu Beginn spärUch, zähe, rem
schleimig, enthält mikroskopisch vereinzelte corpusculäre Elemente. (Sputum cru-
dum.) Später mischen sich aus Eiterkörperchen bestehende gelbe Streifen hmzu,
und schliesslich überwiegen dieselben über die schleimigen Partien. (Sputum coctum.)
Beim chronisclien Katarrh ist der Auswurf schleimig eitrig, seine Menge
nach der Ausdehnung des Katarrhs wechselnd.
Bronchiektasie hefert ein reicMiches, dünnflüssiges, schleimig eitriges Secret,
welches zu gewissen Tageszeiten, besonders morgens in grossen Massen ausgeworfen
wird („maulvolle Expectoration"). Es zeigt die Neigung, bei längerem Stehen in
drei Schichten sich abzusondern.
31*
532 STOFFWECHSELANOMALIEN.
Putride BroncMtis ist durch ein sclieusslich stinkendes, reicliliclies, dünn-
flüssiges, dreischichtiges Sputum gekennzeichnet, in dessen unterster Schicht man neben
verfetteten und zerfallenen Eiterkörperchen und Detritusmassen mykotische Bron-
chialpfröpfe und Fettsäurenadeln findet.
Fibrinöse Bronchitis ist durch Anwesenheit von Bronchialgerinnseln charak-
terisirt.
CroTipöse Pneumonie liefert am Anfang ein äusserst spärliches, zähes, glasiges,
am Speiglase festhaltendes Sputum, welches durch beigemischten Blutfarbstoff rost-
braun gefärbt ist. Ausnahmsweise ist es rein blutig, und noch viel seltener nimmt
die Haemoptoe zu Beginn einer Lungenentzündung grössere Dimensionen an.
Im Stadium der Hepatisation ist der Auswurf noch immer spärlich und zähe,
hat eine gelbe, zuweilen auch grüne Farbe und enthält einzelne, kleinere Bronchial-
gerinsel.
Mit der Lösung vollzieht sich die Entfärbung, dem glasigen Schleim mischen
sich weisse und gelbliche Partien zu, und somit ist der Uebergang zum schleimig
eitrigen Auswurf geschaffen, welcher nach beendeter Resorption erlischt.
Zur Zeit der Krise auftretendes, reichliches, seröses, pflaumenbrühartiges Sputum
beweist den Eintritt von Lungenödem.
Lungenabscess ist durch plötzlich auftretende Entleerung einer grösseren
Menge fast reinen Eiters ausgezeichnet. Die mikroskopische Untersuchung weist
ausser Eiterkörperchen elastische Fasern, Cholestearin- und Haematoidin-Kry-
stalle nach.
Lungengangrän liefert ein dreischichtiges, stinkendes Sputum mit Fettkry-
stallen und Dittrich' sehen Pfropfen wie die putride Bronchitis. Für Gangrän
charakteristisch ist der Nachweis von Lungenge websfetzen, welche in der untersten
Schicht sich absetzen. Die elastischen Fasern sind durch Ferment- oder Fäulnis-
wirkung grösstentheils vernichtet.
Herzfelüerlunge liefert ein schleimig eitriges Sputum, in welchem mit gelbem
Pigment erfüllte Alveolarepithelien, sog. Herzfehlerzellen, eingeschlossen sind. Der
Eintritt eines hämorrhagischen Infarktes thut sich durch massige Haemoptoe kund.
Bei der Tuberculose der Lungen bietet der Auswurf je nach der Art und
Ausbreitung des Processes die grössten Verschiedenheiten dar. Bei acuter MiHar-
tuberculose kann er fehlen oder minimal sein; im Beginn der chronischen Lungen-
phthise ist er spärlich, vorwiegend schleimig, mit geringen streifenförmigen Eiter-
beimengungen, später wird er reichlicher, dünn, schleimig eitrig, bei Bestehen von
Cavernen bleiben die Eiterklumpen oft zusammengeballt und behalten kuglige Form,
oder breiten sich auf dem Boden des Gefässes platt aus. Zu jeder Zeit kann er
Blut enthalten, welches bald in Spuren (Streifen) beigemengt ist, bald den grössten
Theil ausmacht oder sich stromweise aus dem Munde ergiesst.
Von grösster Wichtigkeit ist die Constatirung der Tuberkelbacillen, die nur
bei der acuten Miliartuberculose zu fehlen pflegen. Bei allen übrigen Formen der
Lungentuberculose macht das Auffinden derselben zumeist keine Schwierigkeiten.
Auffallend reichlich erscheinen sie bei den acut verlaufenden Processen. Den Bacillen
gegenüber haben die elastischen Fasern die ihnen früher vindicirte Bedeutung für
die Diagnose eingebüsst, zumal sie verhältnissmässig selten und erst bei vorgeschrit-
tener Erkranliung im Auswurf erscheinen. Grössere Gewirre elastischer Fasern wie
Figur 4 sie darstellt, lassen einen rapiden Zerfall von Lungengewebe vermuthen.
Das nach asthmatischen Anfällen entleerte Sputum ist zäh, glasig, enthält
reichlich CunscHMANN'sche Spiralen, LEXDEN-CHAncoT'sche Krystalle und eosinophile
Leucocyten, welche auch im Blute an Asthma Leidender zahlreich vorkommen.
(Vergl. Band I Seite 551.) hilbert.
Stoffwechselanomalien. Früher hat man die ;, allgemeinen Ernährungs-
störungen" oder, wie man sich auch ausdrückte, die „Constitutionsanomalien''
sehr allgemein als durch „abnormen Austausch von Stoffen zwischen Blut und
STOFFWECHSELANOMALIEN. 533
Geweben begründet" angesehen und dabei stillschweigend meist dem Blute
die wichtigere Rolle zuerkannt. Jetzt ist man aber bereits bestimmt sich
dessen klar, dass die vielfach im Mittelpunkte älterer Auffassungen stehende
Entmischung der Körpersäfte (Dysh-aslen) nur etwas Secundäres bedeutet. Es
hat sich nämlich immer mehr herausgestellt, dass es sich bei den Stoffwechsel-
anomalien "■■) wenigstens anfänglich stets blos um Abweichungen ein-
zelner Richtungen der chemischen Stoftbewegung, nur um Spaltung und
Oxydation (bezw. Synthese) ganz bestimmter Molecüle handelt, z. B.
um erhöhten N-umsatz, um unausgeführte Ausnützung der Kohlehydrate,
u. s. w. Hiedurch ist man aber direct auf die mangelhafte Function gewisser
Organe, von denen wir z. Th. bereits sicher wässen, dass ihnen die Assimilation
und Dissimilirung gerade der betreffenden Molecüle zukommt, hingewiesen
worden. Viele anscheinend „allgemeine" Störungen der Nutrition unterliegen
aus diesem Gesichtspunkte nunmehr bereits dem localistischen Princip (z. B.
der fieberhafte Process, der Diabetes mellitus, die Krebscachexie, die Anämie,
die Leukämie, die Adipositas universalis, die Selbstvergiftung nach Leber-
ausschaltung etc.) Und wenn auch für eine Anzahl von Stoffwechselanomalien
eine solche anatomische Grundlage noch zu erobern bleibt, so ist doch soviel
schon ausser Zweifel, dass die Säftemasse hier blos eine Vertretung der ver-
schiedenen Organe (Gewebe) darstellt. Auch die Stoffwechselanomalien müssen
wir also dem anatomischen Gedanken unterwerfen, sofern derselbe, im Geiste
ViRCHOw's blos die vitale Function hervorkehrt, d. h. es muss dass an der
äusseren oder inneren Körperperipherie gelegene Organ aufgesucht werden,
von wo sie ausgehen, oder es sind doch die Herde festzustellen, in denen die
Nutritionsstörungen unterhalten werden.
Die in den eigenthümlichen Verfassungsverhältnissen des im Organismus
verbündeten Zellenstaates begründete Abhängigkeit der Theile des Körpers
von einander bringt es hiebei mit sich, dass entweder in bestimmten ein-
zelnen Geweben nutritive Function oder trophische Reize für zahlreiche ander-
weitige Theile des Körpers centralisirt sind (ein solches den Stoffwechsel
regulirendes Organ stellt z, B. die Schilddrüse dar), oder es erscheinen für
den Zw^eck der Umsetzung eines ganz bestimmten Molecüles mehrere Organe
synergisch thätig. Ein solches Molecül ist z. B. das Kohlehydratm olecül.
Zur oekonomischen Ausnützung der Energiepotentiale desselben müssen sich
Darm, Leber, Pancreas und neuromuskuläres System verbinden. Auf diese
Weise entsteht das, was ich als „nutritive Systeme'^ bezeichnen möchte. Die
Beziehungen der einzelnen Glieder dieser Systeme im Organismus sind zum
Theil schon in der Phylogenie oder entwicklungsgeschichtlich begründet, so
istz. B. die specifische Leberzelle ein Product der Pfoliferation der verschiedenen
Elemente der Tunica intestinalis. Andererseits sind sie in innigen nervösen,
vasculären oder secretorischen Verbindungen dieser Organe gegeben. Nur
ein Theil dieser (gewiss verschieden combinirten) nutritiven Systeme lässt
sich dermalen überblicken, ihre Aufgaben nur zum Theil erkennen.
Zunächst muss die Zufuhr derjenigen Nährsubstanzen zu den Zellen im
normalen Umfange aufrecht erhalten werden, welche Eiweiss, Fette, Kohlen-
hydrate, Aschenbestandtheile und Wasser im Körper zum Ansatz zu bringen, be-
ziehungsw^eise deren Verminderung daselbst zu verhüten geeignet sind. Da
der Kraft- und der Formwechsel nur Correlate der Stoffbewegung darstellen,
ist die Bedeutung der einschlägigen Vorgänge für die Calorienproduction
und das vegetative Verhalten leicht einzusehen. Ebenso darf auch die Ex-
pulsion der Umsetzungsproducte die physiologischen Grenzen nicht ver-
fehlen. Hinsichtlich der Aufnahme der Nährstoffe in die specifi-
*) Bezüglich der „Physiologie des Stoffwechsels" vergl. Artikel „Stoffwechsel'^ im Bd.
„Medicinisclie Chemie.''
534 STOFFWECHSELANOMALIEN.
sehen Zellen selbst kommt es vor allem darauf an, dass die Einzelglieder
der nutritiven Systeme die nutritive Bewegung in die zweckmässige Richtung
bringen, d. h. dass die Nährstoffe nur in bestimmter Reihenfolge in die ent-
sprechenden Assimilationsorgane geführt werden. Gelangen z. B. die Kohle-
hydratmolecüle der Nahrung nicht aus dem Darm zunächst in die Leber,
sondern direct auf dem Wege der Lymphbahnen in die Säftemasse, so gehen
sie grösstentheils ungenügend ausgenützt aus der Oekonomie verloren. Das
Einhalten des richtigen Weges an den verschiedenen assimilirenden Organen,
die in mehrfacher Reihe stehen, bedeutet also jeweilig geradezu eine
Schutzvorkehrung des Organismus. Die partiellen Umsetzungen
der Nährstoffe in den einzelnen Geweben, die sich zu nutritiven Systemen
combinirt haben, dürfen als (oxydative) Spaltung, Reduction und Synthese
nicht gehemmt oder abweichend gestaltet werden.
Unter pathologischen Bedingungen wird die Störung der soeben ange-
deuteten Leistungen sehr complicirte und vielfache Anomalien des Stoff-
wechsels hervorrufen: Alle einschlägigen Abweichungen lassen sich aber unge-
zwungen aus folgenden 3 Gesichtspunkten betrachten:
1. Es wird die Assimilationsgrenze überschritten, und zwar
erweist sich dieselbe vorübergehend oder dauernd unter dem Niveau des durch
die Ernährung im Gange erhaltenen Stromes eines bestimmten Nährstoffes in
der Säftemasse. Beispiel: Diabetes mellitus.
2. Es gebricht an chemischen Energiepotentialen für die zum knappen
Lebensbetrieb (Respiration, Circulation etc.) nöthigen oder wenigstens für die
durch gewisse Reize über jenes Maass stark erhöhten Dissimilationen im
Organismus. Beispiel: Muskelarbeit bei Anämischen, Herzkranken, Cachek-
tischen.
3. Es resultirt eine toxische Mischung der Säftemasse und des
Zellinhaltes. Ganz irrelevant ist dabei, ob in dem Körper in der Norm fremde,
direct giftige Stoffe entstehen, oder ob in dem Körper adaequate Verbindungen
durch ihre zu reichliche Anhäufung toxische Wirksamkeit entfalten. Vgl.
Artikel „Autointoxication,"' im Bd. I, pag. 140.
Eine genauere Bestimmung der Beziehungen der Glieder der nutritiven
Systeme setzt die genaue Kenntnis der P'unctionen jedes einzelnen voraus,
lieber letztere verfügen wir bisher nur theilweise; die bisher angenommenen
Beziehungen sind vorwiegend hypothetische.*)
a) Stoöwecliselaiiomalieii bei Fimctionsstörimg der Leber.
Was die L e b e r anlangt, so wissen wir^ dass die bedeutungsvollen Leistungen
derselben für den Organismus bestehen:
1. In der Gallenbildung. Die Galle ist ein echtes Secret, dessen
wichtigste Rolle darin besteht, die Alkalinität im Darmcanal herzustellen
(aufrecht zu erhalten) und so die Einwirkung des pancreatischen Saftes zu
ermöglichen. Mit dem antiseptischen Vermögen der Galle ist es schlecht
bestellt. Die (mechanisch oder in Folge nervöser Ursachen) rückgestaute
Galle kann das Ausgangsmaterial für Selbstvergiftungen abgeben, doch ist
die toxische Wirkung der Gallenbestandtheile unter den klinisch in Betracht
kommenden Bedingungen keine so deletäre, wie früher angenommen wurde.
*) Nachfolgend werden nur die Function und Functionsstörungen jener
Drüsen besprochen, die durch besondere Ausführungsgänge specifische Se-
crete dem Organismus liefern: es sind dies die Leber und das Pancreas. Die Function
jener Drüsen, deren Aufgabe darin besteht, dass sie dem Blute Stoffe entziehen und andere
Stoffe wieder an das Blut abgeben, d. i, die physiologische Thätigkeit der Milz, Thyre-
oidea, Nebennieren und Thymus (Drüsen mit sogenunter innerer Secretion) sollen in
den besondern Artikeln „Thyreoideafunctio7i^\ „Su2)rarenaMriisenfunction'' und „Thymus-
drüsefunction" besprochen werden. Red.
STOFFWECHSELANOMALIEN. 535
Sehr bemerkensvverth ist, dass nach Wrrncii die Choledochusunterbindung
(Kaninchen) das Leberglycogcn zum Schwinden bringt. Was man aber einst
als „Aufhebung der Gallenbildung" deutete, besitzt heute einen ganz anderen
Sinn.
2. In der Glycogenbildung. Die Leber hält den ihr vom Darm aus
zuströmenden Zucker zurück. Sie bildet aus überschüssigem Nahrungs-
zucker durch Polymerisation Glycogen. Es ist nun naheliegend anzunehmen,
dass den Leberzellen auch die Function zukommt, das Glycogen wieder in
Zucker zu spalten (Gl. Bernard), Seegen lehrt dagegen, dass die Quelle
des Blutzuckers nicht im Glycogen zu suchen ist, sondern im Nahrungs-
eiweiss. In dieser Gestalt hat Seegen's Theorie jedoch nicht durchzudringen
vermocht. Jedenfalls sind aber die kohlehydratbedürftigen Organe (bes. die
Muskeln) nicht etwa auf das Glycogen der Leber als einzige Quelle ange-
wiesen. In den Muskeln z. B. lagert sich selbst Vorrathsglycogen ab. Und
neben den Muskeln kommen nach dieser Richtung auch Drüsen und noch
andere Gewebe in Betracht. Ueber den zeitlichen Verlauf der Ablagerung
und des Schwindens dieses Glycogens als momentan überflüssigen Vorraths-
materiales im Organismus besitzen wir keine erschöpfende Kenntnis, die An-
wesenheit von Glycogen in den Leberzellen scheint sogar nicht so wichtig zu sein
als in anderen Geweben. Die Leber ist es vielleicht blos, in welcher quantitativ
die grösste Glycogenaufspeicherung erfolgt. Nach Seegen wäre dagegen die
Leber der einzige Bildungsort des Blutzuckers. Den Beweis hiefür sieht er
darin, dass Entleberung das Blut zuckerfrei macht. Das ist aber gewiss nicht
richtig, denn entleberte Hunde werden z. B. mit Phloridzin diabetisch (Hof-
meister). Es muss mehrere physiologische Bildungsstätten für Zucker geben.
Neben den zugeführten Kohlenhydraten stellen auch die Eiweisskörper eine
Kohlehydratquelle dar. Dieselben zerfallen in den Geweben in gewisse
nicht näher bekannte N-freie Stoffe, aus denen sich, später Zucker bildet,
der (in der Leber und anderswo) als Glycogen aufgespeichert werden kann. —
Nach Maassgabe pathologischer Erfahrungen steht die Bildung und Anhäufung
des Glycogens in der Leber in engster Beziehung zu den übrigen Leberfunc-
tionen. Unter dem Einfluss verschiedener, schwerer, anatomischer und func-
tioneller Störungen erleidet sie mehr oder weniger beträchtliche Einbussen
(z. B. in febrilen Infecten). Die Beziehungen der Leber zur klinischen Pa-
thologie des Diabetes, bez. zu dessen sog. leichter Form sind darunter nicht
bestimmt feststellbar. Leberausschaltung und Leberverödung haben Glykurie
nicht im Gefolge. Es geht auch nicht an, die pathologisch gesteigerte, alimen-
täre Glycosurie, wie sie z. B. in gewissen Fällen von vasculärer Lebercirr-
hose beobachtet wird, auf die Leberzellen zurückzuführen.
3. in der ureogenen Function. Dieselbe ist 1866 von Meissner,
1876 von Bkouardel behauptet worden. Von verschiedener Seite sind Ein-
wendungen gemacht worden, so von Gscheidlen, J. Munk, noch in jüngster
Zeit von Münzer. Die Verwendung der Durchblutungsmethode hat bestimmt
nachgewiesen, dass in der überlebenden Drüse Ammoncarbonat durch Syn-
these in Harnstoff übergeht (W. v. Schröder). Andere Organe scheinen zu
dieser Synthese nicht im gleichen Maasse befähigt zu sein. Vermuthlich ver-
lässt der Hauptantheil des Eiweiss-N die Gewebe in Form einer organisch
sauren Ammonverbindung (Ammonlactat?), die beständig in kleinen Mengen
der Leber zugeführt und dort bildet sich zunächst Ammoncarbonat, dann
Ammoncarbamat, schliesslich Harnstoff (Drechsel). Die Ausschaltung der
Leber aus dem Kreislauf, die bei Vögeln leichter ausführbar ist (MiNKOw^sia),
weil bei diesen neben dem Pfortaderkreislauf in der Leber ein ähnliches
Gefässystem in der Niere besteht, hat bei Gänsen ergeben, dass die Haupt-
menge des Harnstickstoffes als milchsaures Ammon erscheint. (In der Norm
überführt die Vogelleber diese Verbindung bekanntlich in Harnsäure.) Auch
536 STOFFWECHSELANOMALIEN.
bei Hunden kann man unter Anwendung einer schwierigen Technik (vorüber-
gehend) die Leber ausschalten, indem man die V. portae unter gleichzeitigem
Ausschluss des Leberhilus mit der V. cava inferior durch Naht in Verbindung
setzt und die A. hepatica unterbindet (Nencki). Nach dieser Operation sinkt
die Harnstoffmenge im Urin rasch ab und es tritt Ammoncarbamat auf.
Nach Hofmeister verödet die Leber durch Säureinjection in den D. choledochus.
Lieblein fand, dass nach diesem Eingriff der Harnstoff im Urin abnimmt und
eine Zunahme der Ammonausscheidung erfolgt. Endlich finden wir im Harn
von leberkranken Menschen Milchsäure, Ammon in vermehrter Menge, Leucin,
Tyrosin. Auch die letztgenannten beiden Verbindungen sind intramediäre
Producte des Eiweisstoffwechsels.
4. In der Pigmentbildung. Für diese Function der Leberzellen be-
sitzen wir dermalen nur die klinisch-pathologische Beweisführung (vergl. die
Artikel über ,, Leberkrankheiten").
5. In der entgiftenden Function. Die toxischen Verbindungen, um die
es sich hiebei handelt, können in den Geweben durch den normalen Stoff-
wechsel erzeugt sein. Hier sind die N-haltigen Vorstufen des Harnstoffes und
gewisser Säuren (der Gruppe CnHgnOg, z. B. Fleischmilchsäure) anzuführen.
Oder die Gifte stammen aus dem DarmcanaL Um diese Schutz kraft
(Retentionskraft) der Leber bewegt sich gegenwärtig bereits eine Reihe be-
sonders von der französischen medicinischen Schule geförderter Publicationen.
Doch kann man die einschlägigen Arbeiten von Schiff, Heyee, Lauterbach,
Roger u. A. doch wohl kaum als abschliessende nach dieser Richtung be-
trachten. Die von Bouchard an verschiedenen Stellen ausgesprochenen Theorien
bedeuten mehr ein Programm. Von besonderem Interesse scheint eine neueste
Arbeit von Kotliar, der sich in folgender Weise für die Existenz dieser
fraglichen Leberfunktion einsetzt. In einer ersten Versuchsreihe legte er die
EcK-NENCKi'sc/ie Fistel an, so dass die Leber aus dem Kreislauf ausgeschaltet
war und brachte den Thieren Atropin bei. Es traten nun weit schwerere
Symptome von Seite der Pupillen und des Herzens ein, als bei normalen
Controlthieren. In einer zweiten Versuchsreihe unterband Kotliar nach
Anlegung der EcK'schen Fistel die untere Hohlvene. Dadurch wurde das ge-
samnite venöse Gebiet der hinteren Körperhälfte gezwungen, den Weg durch
die Leber zu nehmen. Die Thiere wurden darauf von dem Gift weniger als
die Controlthiere getroffen, „weil die Function der Leber durch die Hyper-
ämie gesteigert war." In einer dritten Versuchsreihe spritzte er zwei Thieren,
an welchen die EcK'sche Fistel angelegt war, dem einen das Atropin in die
V. facialis, dem anderen in die A, femoralis. Beim ersteren kamen dann die
Wirkungen des Giftes ungeschwächt, beim letzteren in verringertem Maasse zum
Ausdruck.
Man darf zwei Arten der Giftzerstörung in der Leber annehmen:
1. Aufspeicherung und Zerstörung, 2. Ausscheidung (gegen
den Darm). Roger glaubt, dass eine glycogenarme Leber die Entgiftung nur
mangelhaft zu besorgen vermag (Fieber, Magenaffectionen, Gicht, Fettsucht
etc.). Die französische Schule misst die Beeinträchtigung der Retentionskraft
der Leber auch durch den Nachweis der gesteigerten Toxicität des Harns.
Früher hat man den vermeintlichen oder wirklichen Ausfall der Gallen-
bildung bei gewissen Leberaffectionen („^cAo/ie") als Ursache der begleiten-
den schweren nervösen Symptomen (Chorea, Delirien, Convulsionen) und des
Todes angesehen. Frerichs glaubte, es würden unter diesen Bedingungen
Stoffwechselproducte zurückgehalten, die unter normalen Bedingungen in der
Leber zur Bildung von Galle verwendet werden. In dieser begrenzten Fassung
ist die Frerichs' sehe Theorie ebenso veraltet, wie die von Leiyden, nach
welcher es sich hiebei um Anhäufung von Gallenbestandtheilen, besonders von
Gallensäuren, im Blute {Cholämie) handelt. Jetzt muss man wohl an die
STOFFWECHSELANOMALIEN. 537
Stelle dieser beiden Theorien, diejenige der JiBpatogenen Äutointoxication^^
setzen, d. h. tiefgreifende Zerstörungen des Lebergewebes und
schwere Alteration der früher angeführten Functionen dieses
Organs bewirkt eine Selbstvergiftung. Das Bild dieser Vergiftung, durch
Leberausschaltung und durch Leberverödung experimentell hervorgerufen,
ist von Nexcki, Hofmeister und seinen Schülern und von Denys sehr über-
einstimmend geschildert worden. Es hat eine unverkennbare Aehnlichkeit mit
der Uraemie des Menschen. Auch scheint in der That das Ammoncarbamat
im Chemismus dieser Autointoxication eine hervorragende Rolle zu spielen.
Denn nach Nencki erzeugt Vergiftung mit dieser Substanz Symptome, welche
dem Bilde der Autointoxication nach Leberausschaltung sehr vergleichbar sind.
b) Stoffwechselanomalien bei Fuiictionsstörung des Päncreas.
V. Meeing und Minkowski haben nachgewiesen und Viele haben es
bestätigt, dass die vollständige Exstirpation der Bauchspeicheldrüse bei Hunden
einen dauernden Diabetes nach sich zieht. Wenn sich, wie zahlreiche dies-
bezügliche Experimentaluntersuchungen gezeigt haben, nicht alle übrigen Thier-
gattungen nach diesem Eingriff vollkommen analog verhalten, so ist dies ver-
muthlich nur in vicarürenden Elementen, accessorischen Drüsen, sowie in tech-
nischen Schwierigkeiten, welchen die vollständige Ausschaltung begegnet, ge-
legen: das Organ besitzt aber deswegen doch bei allen Thieren die gleiche
Bedeutung für die Zuckerumsetzung im Organismus.
Nach Minkowski tritt die Zuckerausscheidung bei (vollständiger)
Exstirpation meist im Laufe des 1. Tages auf. Der Höhepunkt wird (ohne
dass Nahrung zugeführt wird) am 3. Tag (bis lO^oO erreicht. Die Intensität
des Diabetes bleibt längere Zeit sehr constant. Der in der Nahrung eventuell
zugeführte Zucker kann vollständig wieder im Harn erscheinen. Bei
kohlehydratfreier Nahrung (und im Hungerzustand) stellt sich Zucker- und
N-excretion in ein constantes Verhältnis (2'8 : 1). Minkowski deutet dies
dahin, dass die Gesammtmenge des im Organismus aus den Eiweisskörpern
herrührenden Zuckers dem Körper verloren geht. So verhält es sich wenig-
stens auf der Höhe des Pancreasdiabetes. Hedon hat demgegenüber zwei
Formen des sog. Pancreasdiabetes aufgestellt: eine schwere, die unter con-
stanter Glykurie in etwa 20 Tagen durch den Tod abgeschlossen wird, und
eine leichte Form mit längerem Verlauf und intermittirendem Zuckerharnen.
Wahrscheinlich handelt es sich bei dem letzteren Typus um zurück-
bleibende Pancreasreste (accessorische Drüsen). Bei partieller Entfernung
des Päncreas, wenn etwa ein Fünftel der Drüse zurüchbleibt, braucht es gar
nicht zur Zuckerausscheidung zu kommen. Tritt Glykurie ein, steht sie in
keinem sichern Verhältnis zur Grösse des zurückgelassenen Drüsenstückes.
Mitunter verhindern sehr geringfügige Reste die Glykurie. Minkowski hat
viele Abstufungen der Intensität des Diabetes erzeugt: alimentäre Glykurie^
leichte Form (Schwinden der Zuckerausscheidung bei Eiweissdiät), schwere
Form. Damit sind auch leichte Diabetesform auf das Päncreas beziehbar
geworden. Auch beweist gerade die partielle Exstirpation, dass der resul-
tirende Diabetes durch das Wegfallen einer Drüsenfunction hervorgerufen ist
und nicht durch begleitende Verletzungen (z. B. von Nerven). Versuche mit
Transplantation von Pancreasstücken unter die Bauchhaut (Minkowski, Hedon,
Thiroloix) haben dies übrigens unumstösslich bewiesen. Doch dürfte die
Function keine speci fische Eigenschaft des Päncreas bilden, sondern, wenn
auch nicht in quantitativ vergleichbarer Weise, auch dem Duodenum (Dünn-
darm), vielleicht selbst noch anderen Organen zukommen (Speicheldrüsen, Schild-
drüse?). Es gibt ja unzweifelhaft Formen des Diabetes, deren Ursache gewiss
nicht in einer Störung der erwähnten Pancreasfunction gelegen ist, z. B. der
sogenannte Phloridzindiabetes. Dass dieser letztere Diabetes wesentlich mit
588 STOFFWECHSELANOMALIEN.
der ISIiere zusammenhänge, glaube ich nicht. Es handelt sich um eine ihrem
Mechanismus nach den anderen Formen vergleichbare Glykurie, nur auf
das Pancreas lässt sie sich nicht beziehen. Die Piqure hat gleichfalls keine
Wirkung auf das Pancreas zur Folge und erzeugt doch Glykurie (Hedon,
Thieoloix).
Das Leberglycogen verschwindet nach der Pancreasexstirpation alsbald
bis auf Spuren (Minkowski, Hedon). Es hängt dies mit dem Umstände des
schweren Diabetes zusammen. Bei den leichten Diabetesformen können auch
beträchtliche Mengen von Glycogen in der Leber nachweisbar bleiben. Die
Muskeln halten ihr Glycogen stärker fest. Die Leukocyten führen im Gegensatze
zur Leber relativ reichlich Glycogen (mikro-chemische Pteaction von Gabeit-
SCHEWSKl).
Neben der Zuckerausscheidung zeigen die operirten Thiere raschen
Kräfteverfall und zunehmende Magerkeit. Dies ist abhängig von einem ge-
steigerten Zerfall der N-haltigen Gewebsbestandtheile. Nach Dominicis und
Hedon läge hier eine Folge der Pancreasausschaltung vor, die selbst dann
regelmässig zur Geltung kommt, wenn die Glykurie ausbleibt (unerheblich ist).
Wahrscheinlich ist jedoch die Ursache dieser schweren Cachexie in der Störung
der Ausnützung der Nahrungsstoffe im Darmcanal zu suchen. Abelmann und
Sandmeyer fanden nämlich, dass nach Exstirpation der Bauchspeicheldrüse die
Resorption der nicht emulgirten Fette sistirt ist und dass auch von den
Eiweisstoffen nur mehr die Hälfte aufgesaugt wird. Auch kann, da im Or-
ganismus der aus den Eiweisskörpern resultirende Zucker ebenso wie der-
jenige aus der Nahrung verloren geht, nur ein Theil der in den Proteinstoffen
enthaltenen Calorien Verwerthung finden. Die genannten Uebelstände er-
scheinen zureichend zur Erklärung der Cachexie. Für die partielle Pancreas-
exstirpation constatirte Sandmeyer trotz beständiger Abnahme des Körper-
gewichts das Vorhandensein von N-gleichgewicht (ja von Stickstoffansatz) (?).
CO
Der respiratorische Quotient —~- sinkt nach Weinteaud nicht mit
Beginn des Pancreasdiabetes, er steigt selbst vorübergehend und erreicht
später den Werth vor der Operation. Darreichung von Dextrose erhöht zwar
den Coefficienten nicht mehr, wie beim normalen Thiere, dies ist nur der Aus-
druck dafür, dass der Traubenzucker nicht mehr verbrannt wird. In den
Organen der diabetischen Thiere erfolgt jedoch eine erhebliche Fettablagerung
(besonders in der Leber) (Minkowski, Boccaedi, Sandmeyee); demgemäss
d. h. der Zurückhaltung C-reichen Materials im Körper entsprechend) fällt
der respiratorische Quotient höher aus. Die Grösse des respiratorischen Stoff-
wechsels ist im Diabetes nicht vermindert.
Aceton, Acetylessig und Oxybuttersäure scheiden die diabetischen Ver-
suchsthiere erst aus, wenn die Glykurie abnimmt. Nach Minkowski hängt
das Erscheinen dieser Verbindungen {Säureintoxication) deshalb mit Störungen
der Zuckerbildung zusammen.
Welcher Art die Einflüsse sind, die das Pancreas auf den
Stoffwechsel ausübt, so dass seine Ausschaltung schweren Diabetes hervor-
ruft, lässt sich bisher nicht bestimmt sagen. Im Pancreas selbst wird der
Zucker normalerweise nicht zersetzt. Vergleichende Zuckerbestimmungen im
zu- und abmessenden Pancreasblute, die Pal ausführte, haben ein negatives
Ergebnis gehabt. Eine derartige Annahme wäre auch von Haus aus unwahr-
scheinlich. Man sieht deshalb den Wegfall eines „internen Secretes" (Fer-
mentes?) des Pancreas als Ursache des Diabetes an. Die Erfolge der früher
erwähnten Transplantationsversuche machen dies sehr wahrscheinlich. Die
Meinung, dass es sich hiebei um Anhäufung einer schädlichen Substanz im
Blute handle, welche sonst in der Bauchspeicheldrüse zerstört werde und nach
Exstirpation des Pancreas den Diabetes verursache, hat nun wenig Anhänger
STOFFWECHSELANOMALIEN. 539
gefunden. Als Minkowski das Blut eines nach Pancreasausrottung diabetisch
gewordenen Hundes einem anderen infundirte, entstand auch nicht einmal vor-
übergehende Glykurie. Das „glycolytische Ferment" von Lepine ist aus der
hier einschlägigen Fragestellungwohl als beseitigt anzusehen. — Die Glycolyse
des Blutes ist kein vitaler Process. Arthaud und Butte haben nach völliger
Unterbindung der Pancreasvenen Diabetes nicht beobachtet. Die Bestrebungen
der aus der vorstehenden Thatsaehen abgeleiteten Substitutionstherapie
(Fütterung mit Pancreas, subcutane Injection von Pancreasextracten) haben
allerdings bisher keinen nennenswerthen Effect erzielt, doch bessert sich
darnach wenigstens die Ausnützung der Nährstoffe im Darm nach Fütterung
mit frischem Pancreas (Abelmann, Sandmeyer).
Die Thatsache des Diabetes nach Pancreasausschaltung hat nun auch
mehrfach Veranlassung gegeben, vermeintliche Beziehungen zwischen Leber
und Pancreas aufzustellen. Ich habe früher gelegentlich darauf verwiesen,
dass hinsichtlich des Kohlehydratstoffwechsels neben mehreren anderen Or-
ganen (Organsystemen) auch Leber und Bauchspeicheldrüsen zu einem „nu-
tritiven System" sich verbinden. Solche Beziehungen zwischen den beiden
letztgenannten Drüsen beanspruchen also grosses physiologisches und patho-
logisches Interesse. Leider ist aber hier fast alles noch hypothetisch.
Nachdem Aldehoff zuerst auch bei Fröschen nach Pancreasausrottung
Diabetes beobachtet, prüfte Marcuse, ob auch noch nach der Entle-
berung dieser Diabetes eintritt. Unter 19 Fröschen, denen nur das Pan-
creas entfernt wurde, liess sich bei 12 bereits am 1. — 2. Tag Polyurie und
Zuckerausscheidung durch den Harn constatiren. Die Obduction der spä-
testens am 8. Tage sterbenden Frösche ergab Blutstauung im Unterleib (in
Folge von Ligatur der V. portarum), Peritonitis, leichte Atrophie der Leber.
Solche Complicationen sind nach Minkowski geeignet, bei Warmblütern das
Zustandekommen der Glykurie aufzuheben. Bei 21 anderen Fröschen hat
dann Minkowski zugleich mit dem Pancreas auch die Leber möglichst voll-
ständig entfernt. Bei keinem dieser Thiere trat Diabetes ein, obwohl meh-
rere 3—5 Tage am Leben blieben und eine ziemliche Polyurie zeigten. Der
früher erfolgende Tod wird erklärlich durch die Verbindung des Leber- und
Pancreasausfalles. Das Ausbleiben des Diabetes erklärt Marcuse so, dass
(bei Fröschen) ein Pancreasdiabetes ohne Leber nicht möglich ist. Er denkt
an die von Seegen aufgestellte zuckerbildende Function der Leber und zieht
dieselbe als den Ort in Betracht, aus welchem der nach Pancreasexstirpation
auftretende Zucker stammt. Der von Minkowski nach Pancreasexstirpation
beobachtete Schwund des Leberglycogens Hesse sich demnach in dem Sinne
deuten, dass das Leberglycogen die Muttersubstanz des in der Leber gebil-
deten Zuckers sei. Durch die Entleberung würde dann der Herd entfernt,
in welchem der nach Pancreasausrottung erscheinende Zucker gebildet wird;
damit fiele natürlich auch der Diabetes fort.
Obzwar wir nun durch F. Pick wissen, dass bei experimenteller Leber-
verödung (nach Hofjieister's Methode) das Leberglycogen in kurzer Zeit
schwindet, ohne dass Glykurie eintritt, und dass das Blut der entleberten Gänse
zuckerfrei wird (Minkowski), ist es doch unmöglich für die Vorstellungen
von Marcuse dermalen eine bestimmte Fassung zu finden. Direct dagegen
scheint neben anderen Gründen zu sprechen, dass nach Minkowski auch zu
einer Zeit (Hunger), wo in der Leber kaum noch Glycogen vorhanden, hoch-
gradiger Diabetes bestehen kann. Ja muss denn aber die Zuckerbildung in
der Leber (blos) auf Kosten des Glycogens erfolgen? Der stärkste Einwand
gegen alle Schlussfolgerungen aus den Beobachtungen Marcusens ist meiner
Meinung nach darin begründet, dass es sich blos um Frösche handelt, bei
welchen die Pancreasexstirpation doch nur einen wenig sicheren Diabetes zu-
folge hat.
540 SUBPHRENISCHER ABSCESS.
Chauveau und Kaufmann sind von der Annahme ausgegangen, dass
die Steigerung des Zuckergehaltes des Blutes im Pancreasdiabetes blos durch
eine gesteigerte Production hervorgerufen werden kann, welche wiederum in
vermehrter Thätigkeit der Leber begründet ist. Eine Störung des Zucker-
verbrauches finde beim Diabetes gar nicht statt, denn das Blut der Femoral-
vene erweise sich nach der Pancreasausrottung im Vergleich zum Blute der
Femoralarterie in demselben Verhältnis zuckerärmer, wie in der Norm(!) Die
normale Regulirung der Zuckerproduction erfolgt nach Chauveau und Kauf-
mann durch eine gemeinsame Wirkung der Leber und des Pancreas. Anfangs
behaupteten die Autoren, dies geschehe unter Vermittlung des Nervensystems.
Es sollten im Centralnervensystem zwei verschiedene Centren existiren, welche
die Zuckerbildung in der Leber zu beeinflussen vermögen, ein Hemmungs-
centrum in der Medulla oblongata und ein Erregungscentrum im oberen Theil
des Cervicalmarkes. Durch die Producte seiner inneren Secretion wirke das
Pancreas im entgegengesetzten Sinne auf diese beiden Centren, erregend auf
das Hemmungs- und mässigend auf das Erregungscentrum. Nach Entfernung
des Pancreas sei die Wirkung des ersteren ausgeschaltet, die des letzteren
gesteigert: daher üeberproduction von Zucker, Hyperglykaemie. Diese Hypo-
these versuchten die beiden Forscher durch verschiedenartige Combination von
experimentellen Eingriffen (Piqüre, Rückenmarkssection, Pancreasausrottung)
zu begründen. Als Kaufmann jedoch nachher fand, dass die Durchtrenung
der Lebernerven beim gesunden Thiere für sich eine Verminderung des Blut-
zuckers bewirkt, während die nachfolgende Pancreasexstirpation gleichwohl
Hyperglykämie hervorruft, nahm er an, dass das Pancreas auch unabhängig
vom Nervensystem durch sein inneres Secret einen hemmenden Einfluss auf
die Zuckerbildung in der Leber auszuüben im Stande ist.
Die Theorie von Chauveau und Kaufmann ist aber ganz unzulänglich,
die gegentheilige, nach welcher der Pancreas-Diabetes auf einer Störung des
Zuckerv e r b r a u c h s beruht, zu erschüttern. Berücksichtigt man nur die Menge
des im Harn der Versuchsthiere erscheinenden Zuckers, so kann von einer
blossen Mehrproduction gar nicht die Rede sein. fr. kraus.
SubphreniSCher AbSCeSS (Pyothorax subphremcus, Empyema hypo-
phrenicum, Pyojmeumothorax subphrenicus) ist eine unterhalb des Zwerchfells
gelegene, den Bereich des knöchernen Thorax jedoch nicht oder nur un-
wesentlich nach unten überschreitende Eiteransammlung; ihr Sitz kann intra-
peritoneal oder subperitoneal sein, in dem ersteren, häufigeren Falle ist sie
eine circumscripte, abgekapselte Peritonitis, im letzteren eine Phlegmone des
Zellgewebes unter dem Bauchfell. In ungefähr der Hälfte der einschlägigen
Mittheilungen enthielt die Abscesshöhle Luft neben Eiter (Pyojmeumothorax
subphrenicus Leyden).
Aetiologie: Das Leiden ist stets ein secundäres und tritt meist als
Folge der Perforation eines geschwürigen Processes im Verdauungstractus
auf. Durchbruch eines Ulcus ventriculi rotundum ist die häufigste Ursache
seines Entstehens. Sitzt das Magengeschwür in der Gegend der kleinen
Curvatur oder am Fundus, so ist eine Localisirung der nach Zerstörung seines
Grundes durch Eintritt von Speisetheilen in die Bauchhöhle verursachten
Peritonitis eher möglich, als wenn die Perforation an der vorderen Wand,
respective an der grossen Curvatur erfolgt; nach Verlöthung von Magen, Darm,
Milz wird der angesammelte Eiter in die linke Zwerchfellwölbung gedrängt.
Peptische Geschwüre im Anfangstheil des Duodenum oberhalb der VATER'schen
Papille erzeugen nach Perforation der Darmwand in der Regel rechts gelegene
subphrenische Abscesse. Carcinome des Magens und des unteren Theiles der
Speiseröhre können zu linksseitigen Eiterungen Veranlassung geben. Abscesse
der Leber, vereiterte Echinococcen dieses Organes, Gallensteine nach Druchbruch
SUBPHRENISCHER ABSCESS. 541
der Blasenwand, Milzabscesse sind in einigen Fällen als Ursache des Leidens
aufgefunden. Häufiger ist es nach Typhlitiden in Folge Perforation des Pro-
cessus vermiformis beobachtet und entsteht dabei wohl in der Weise, dass
die Eiterung in dem lockeren Zellgewebe längs des Colon bis zum Zwerchfell
emporsteigt; die von Leyden in zweiter Linie angenommene Möglichkeit, dass
durch ausgetretene Luftblasen Eiterreger unter das Diaphragma heraufbefördert
werden, hat wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Mitunter kommen sub-
phrenische Eiterungen im Anschluss an Paranephritis und an eitrige, respective
jauchige Endometritis durch Verbreitung der Entzündung in dem retro-
peritonealen Zellgewebe zu Stande. Vereinzelt ist Endocarditis ulcerosa mit
Milzinfarct, Dysenterie, Pneumonie und Trauma als Ursache angegeben und
einige Fälle sind in ätiologischer Beziehung unaufgeklärt geblieben.
Pathologische Anatomie: Sitzt die Erkrankung auf der rechten
Seite, so wird die untere Wand der Höhle von der Leber und Theilen des
Colon transversum gebildet, bei linksseitiger Erkrankung von der Milz, dem
Magen und dem Colon, die Begrenzung nach oben ist stets durch das
Zwerchfell, nach innen durch das Ligamentum Suspensorium hepatis gegeben.
Diese Organe sind je nach der Menge des angesammelten Eiters, respective
Luft in verschieden hohem Grade verschoben, besonders auffallend ist die
Verdrängung von Leber und Milz nach der Bauchhöhle zu und die Aus-
buchtung des Zwerchfells nach oben, welche so beträchtlich sein kann, dass
dessen höchste Kuppe bis zur vierten, ja dritten Rippe emporreicht. An der
Entstehung dieser ist neben dem Druck des Abscesses die Aspirationswirkung
des Thorax auf das in seiner Thätigkeit gehemmte, gelähmte Zwerchfell
wesentlich betheiligt.
Die Menge des Eiters schwankt innerhalb weiter Grenzen, sie kann bis
zu ein bis zwei Litern betragen. Meist ist derselbe dünnflüssig, jauchig, und
oft gelingt es, mikroskopisch Beimengungen von Magen- oder Darminhalt
nachzuweisen.
Sehr häufig gesellen sich zu dem grösseren Abscesse ein oder mehrere
kleinere Eiterabkapselungen zwischen Darmschlingen, von dem ersten getrennt
oder durch enge Gänge mit ihm verbunden. Ihr Vorkommen ist insofern
unerwünscht und ungünstig, als sie nach Entleerung des ersten Herdes
schwer zu en'eichen sind und demnach trotz anscheinenden Gelingens der
Operation den Tod des Patienten verursachen können. Mitunter bestehen
subphrenische Abscesse auf beiden Seiten, ohne dass ein directer Zusammenhang
etwa durch einen Defect im Ligamentum Suspensorium hepatis nachzuweisen
ist; sie können beispielsweise beide von einer Paratyphlitis ihren Ausgang
nehmen, indem die Eiterung im subperitonealen Zellgewebe nach rechts wie
auch nach links emporkriecht.
Bei längerer Dauer pflegen Perforationen in Nachbarorgane
nicht auszubleiben. Durchbruch in den Magen und Darm ist von Eiter-
entleerung durch Erbrechen respective mit dem Stuhl gefolgt. Die Defecte
der Organwandung haben verschiedene Ausdehnung bis zu Zehnpfennigstück-
grösse und darüber, der Substanzverlust aussen ist grösser als der der
Schleimhaut, welche unterminirt erscheint und zuweilen klappenartig über
die Oeffnung sich hinüberlegt.
Durch das Zwerchfell können Perforationen in die Pleura und in die
Lunge zu Stande kommen, die letzteren sind häufiger als die ersteren, da zu-
meist durch adhäsive Entzündung Pleura diaphragmatica und pulmonalis an
der Stelle, an welcher der Durchbruch sich vorbereitet, mit einander ver-
löthen. Durchbruch in die Pleura führt zu jauchiger Pleuritis, respective
Pyopneumothorax, in die Lunge entweder zu Abscess (Gangrän) in derselben
oder zu allmäliger Entleerung des subphrenischen Abscesses durch Ex-
pectoration; auf diesem Wege sind Spontanheilungen des sonst so schweren
542 SüBPHRENISCHER ABSCESS.
Leidens beobachtet, Durclibrucli durch die Bauchdecken nach aussen ist
ebenfalls vorgekommen, dürfte aber kaum zu Spontanheilung führen, da der
Abfluss des Eiters durch die Fistel ungenügend bleibt. Am ungünstigsten ist
Perforation in die Bauchhöhle, welcher rasch letal verlaufende Peritonitis
auf dem Fusse folgt.
Wie schon oben erwähnt, enthielten die Mehrzahl der subphrenischen
Empyeme Luft neben Eiter. Gerade diese Fälle sind es gewesen, welche
durch ihre prägnanten physikalischen Symptome die Aufmerksamkeit Leydens
erregten und diesen genialen Kliniker veranlassten vor nunmehr 16 Jahren
den Symptomencomplex der vorliegenden Krankheit zu studieren und so
scharf zu zeichnen, dass die Erkenntnis derselben, welche bisher fast aus-
schliesslich erst post mortem gelang, intra vitam Jedem die physikalischen
Untersuchungsmethoden beherrschenden möglich war, und mithin auch eine
Erfolg versprechende Behandlung eingeleitet werden konnte.
Das Gas eines Pyopneumothoi ax subphrenicus ist entweder vom Beginn
der Erkrankungen vorhanden, oder secundär in den Abscess eingetreten. Im
ersteren Falle stammt es aus Magen oder Darm, ist bei der Perforation des
Geschwürs, welche zu der Entstehung des Leidens Veranlassung gab, aus-
getreten und hat sich sofort unter dem Zwerchfell angesammelt. Dieser
Ursprung ist auch wahrscheinlich, wenn das Ulcus bei der Section vernarbt
gefunden wird, indem dann ein secundärer Verschluss desselben stattgefunden
hat. Von verschiedenen Forschern ist in solchen Fällen spontane Gas-
entwickelung aus dem jauchigen Eiter durch Wirkung von Fäulnisbacterien
angenommen. Diese Möglichkeit ist nicht von der Hand zu Aveisen, doch
wird man nach den bisherigen Erfahrungen gut thun, sie auf die Beobachtungen
zu beschränken, bei welchen das Eindringen von Luft auf anderem Wege,
aus Darm oder Lunge ausgeschlossen werden kann, wie bei einer von Nowack
angeführten Kranken, bei welcher der Pyopneumothorax hypophrenicus im
Anschluss an jauchige Endometritis zu Stande gekommen war,, Secundärer
Lufteintritt erfolgt nach Durchbruch in Magen, Darm oder Lunge, wenn ein
Theil des Eiters durch diese Organe entleert ist.
Eine sehr häufige Complication ist Entzündung der Pleura auf
der erkrankten Seite, entweder unter dem Bilde trockener Pleuritis oder als
Erguss von massiger Grösse sich darstellend. Der letztere ist meist serös,
seltener eitrig, nie jauchig, ausser wenn das Zwerchfell zerstört ist, da das-
selbe wohl den Entzündungsreiz fortleitet, aber für pathogene Mikroorganismen
undurchlässig ist.
Eine von mir beobachtete Complication, deren ich sonst nicht Erwähnung
gefunden habe, die mithin zu den Seltenheiten gehört, ist hämorrhagischer
Ascites. Ich wurde von einem Kranken consultirt, welcher einen hochgra-
digen Ascites und geringen Erguss der linken Pleurahöhle darbot. Eine Diag-
nose vermochte ich nicht zu stellen, punktirte aber der beträchtlichen Athem-
noth wegen den Ascites, wobei ein Eimer voll dunkler hämorrhagischer Flüssig-
keit entleert wurde. Die weitere Beobachtung des Patienten in der medicinischen
Klinik des Herrn Professor Lichtheim sowie die Section wiesen beiderseitige
subphrenische Abscesse nach, der Ascites war nach einmaliger Punktion ver-
schwunden. Die Ursache desselben dürfte ebenso wie für die Pleuritiden in
der Fortleitung der entzündlichen Pteizung auf das Bauchfell zu erblicken sein.
Symptomatologie: Ist der subphrenische Abscess im anatomischen
Sinne stets eine secundäre Erkrankung, so stellt er sich im Gegensatz dazu
klinisch in subjectiven wie objectiven Symptomen meist
durchaus selbständig dar. Das primäre Leiden ist entweder völlig
symptomlos verlaufen (wie z. B. Magengeschwüre), oder die darauf bezüglichen
Krankheitserscheinungen sind längere Zeit vorhergegangen, so dass ein
directer Zusammenhang nicht ersichtlich.
SUBPHRENISCHER ABSCESS. 543
Der Beginn ist gewöhnlich scharf markirt durch plötzlich einsetzende,
heftige Stiche und Schmerzen in den unteren Partien einer Brusthälfte,
welche von fieberhafter Temperatursteigerung, zuweilen von Erbrechen und
Empfindlichkeit des Abdomens begleitet sind. Das Fieber hält an, die Zunge
wird belegt, trocken, das Allgemeinbefinden verschlechtert sich, so dass die
Kranken das Bett nicht mehr zu verlassen vermögen. Von Seiten des Re-
spirationstractus sind zunächst keine Erscheinungen zu bemerken, insbesondere
nicht Husten, Auswurf, Dyspnoe.
Der plötzliche Anfang zeichnet besonders die durch Perforation von
Magen- oder Darmgeschwüren oder durch traumatische Zerreissung dieser
Organe verursachten Erkrankungen aus; bei Patienten, welche das Leiden im
Anschluss an paranephritische, paratyphlitische oder Beckenzellgewebs-
eiteruugen acquiriren und längere Zeit bettlägerig krank sind, wird die all-
mälige Weiterverbreitung der Entzündung unter das Zwerchfell erst be-
merkbar, wenn die Steigerung der subjectiven Beschwerden und die Ver-
schlechterung des Allgemeinbefindens zu genauerer Untersuchung aufibrdern.
Die physikalischen Symptome sind verschieden, je nachdem ein
einfacher subphrenischer Abscess oder ein Pyopneumothorax subphrenicus be-
steht. Betrachten wir zunächst den letzteren und nehmen wir eine Erkrankung
der rechten Seite an, so finden wir bei der Percussion vorne bis zur dritten
Rippe normalen Lungenschall, von da an lauten, tiefen Percussionsschall,
welcher bis zum Rippenbogen reicht und bei der Stäbchenplessimeterpercussion
Metallklang erkennen lässt. Die Leber ist in das Abdomen tief herabgedrängt,
das Herz dagegen wenig oder gar nicht nach links verschoben. Rechts seitlich
besteht Dämpfung, hinten ist der Befund nicht genau zu erheben, da der
Kranke sich in desolatem Zustande befindet, welcher das Aufsetzen behufs
eingehender Untersuchung nicht gestattet. Wo dieselbe möglich, findet man
von der Mitte der Scapula abwärts lauten tiefen Schall mit tympanitischem
Beiklang und metallischen Phänomenen, und in den unteren Partien Däm-
pfung; gleichzeitig ist beim Aufrichten des Patienten vorne unten Dämpfung
aufgetreten. Die Auscultation ergibt vorne oben reines Vesiculärathmen; von
der dritten Rippe abwärts verschwindet dasselbe plötzlich und macht einem
leisen amphorischen Hauchen Platz ; bei leichten Erschütterungen des Kranken
vernimmt man Succussionsgeräusch. Bei tiefen Athemzügen ist in Folge
Herabtret ens der Lunge das Vesiculärathmen bis zur vierten oder fünften
Rippe zu hören und schneidet hier unvermittelt ab. Der Stimmfremitus ist
im Bereich des Vesiculärathmens erhalten, darunter aufgehoben.
Bei Besichtigung des Thorax fällt ferner auf, dass auf der erkrankten
Seite keine Ausweitung der Brust besteht; die Intercostalräume sind nicht
verstrichen.
Ueberblicken wir die geschilderten Symptome, so finden wir eine Reihe
von Zeichen, welche für das Bestehen eines echten, klassischen Pyopneumo-
thorax sprechen und ausserordentlich charakteristisch sind, obwohl selbst ein
so ausgezeichneter Diagnostiker wie Wintrich, welcher im Jah^e 1854 die erste
einschlägige Beobachtung beschrieb, in vita eine Fehldiagnose stellte. Bei
genauer Ueberlegung sprechen allerdings manche Symptome dagegen, dass
die mit Luft und Flüssigkeit gefüllte Höhle innerhalb des Pleuraraums gelegen
ist, vor allem die fehlende Ausweitung der Brusthälfte, die geringe Verdrän-
gung des Herzens, die durch das Herabtreten des Vesiculärathmens bei tiefen
Respirationen bewiesene Ausdehnbarkeit der Lunge, der Mangel von Husten
und Auswurf, während andererseits für die Lagerung unterhalb des Zwerch-
fells die Herabdrängung der Leber sowie der Beginn mit peritonitischen Er-
scheinungen ins Feld geführt werden können.
Die physikalischen Symptome des nicht lufthaltigen sub-
phrenischen Abscesses sind w'eniger auffallend. Wählen wir eine linksseitige
544 SUBPHRENISCHER ABSCESS.
Eiterung zum Beispiel, so besteht gedämpfter Percussionsscliall vorne etwa
von der vierten bis fünften Rippe, hinten von der Mitte der Scapula an ab-
wärts, vorne bis zum Rippenrande herabreichend, mithin den ganzen Traübe'-
schen Raum einnehmend, während bei einer Pleuritis exsudativa derselbe von
oben her nur bis zur unteren Grenze des Sinus complementarius pleurae ein-
geengt ist. Die Herzdämpfung ist wenig dislocirt, die Milz in das Abdomen
herabgetreten; auch hier werden wir das scharfe Abschneiden des Athmungs-
geräusches an der Dämpfungsgrenze constatiren sowie die Ausdehnbarkeit der
Lunge bei tiefen Athemzügen nachweisen, vorausgesetzt, dass nicht ein pleuri-
tisches Exsudat als Complication besteht. Im letzteren Falle ermöglicht die
Probepunction mitunter die Diagnose, indem sie in den oberen Bezirken der
Dämpfung seröses, resp. eitriges, tiefer jauchiges Exsudat zu Tage fördert.
Gar nicht selten begegnet man ferner an der hinteren Thoraxwand einer bis
zur Lendengegend herabreichenden ödematösen Schwellung der Haut. Schliess-
lich ist das schwer afficirte Allgemeinbefinden mit Benommenheit und hoch-
gradigem Kräfteverfall nicht mit der Annahme einer Pleuritis von verhältnis-
mässig geringer Ausdehnung zu vereinbaren, wie wir sie nach der Grösse der
Dämpfung und der Dislocation des Herzens diagnosticiren müssten.
Wie bereits oben erwähnt, fehlt im Beginn der Erkrankung Husten
und Auswurf; hierin ist eine Aenderung auch nicht nothwendig, falls Pleu-
ritis sicca oder exsudativa massigen Grades hinzutrat; wenn dagegen der
Abscess durch das Zwerchfell in Bronchien oder Lunge perforirt, tritt starker
Husten auf und fördert zumeist reichliche eitrige, resp. jauchige Massen zu
Tage. Durchbruch in den Magen oder Darm kann symptomelos verlaufen,
gelegentlich auch durch Eiterentleerung beim Erbrechen und mit dem Stuhl
gekennzeichnet sein. Perforation in die Peritonealhöhle führt zu rasch töd-
lich endender Peritonitis. In vielen Fällen endlich erfolgt der Tod durch
allmälige Entkräftung.
Diagnose: Die Erkennung einer mit Eiter oder gleichzeitig mit Luft
gefüllten Abscesshöhle innerhalb des knöchernen Thorax ist bei Beachtung
der physikalischen Symptome und dreister, ev. mehrfach wiederholter Probe-
punction leicht; Schwierigkeiten bereitet nur die Entscheidung, ob die Höhle
oberhalb oder unterhalb des Zwerchfells gelegen. Von ausschlaggebender Be-
deutung ist der Nachweis starker Verdrängungserscheinungen an den Unter-
leibsorganen, Tiefstand der Leber und Milz, Ausfüllung des Magenschall-
raumes bis zum Rippenrande oder darüber hinaus, während Zeichen einer
wesentlichen Drucksteigerung im Thorax fehlen und die Lunge ihre Aus-
dehnungsfähigkeit behalten hat. Ergibt die Probepunction jauchigen Eiter,
während die subjectiven Beschwerden von Seiten des Respirationstractus unbe-
deutende sind, so mxuss dieser (Jmstand den Verdacht eines subphrenischen
Abscesses erwecken und zu genauer mikroskopischer Untersuchung des Eiters
auffordern, in welchem dann Magen-, resp. Darminhalt nachgewiesen wird.
Bei complicirender Pleuritis kann die Probepunction insofern ausserordentlich
beweisende Ergebnisse liefern, als oben Serum oder reiner Eiter, an tieferer
Stelle jauchige Massen aspirirt werden. Bestimmte anamnestische Angaben
sind ebenfalls von Werth, wie dass das Leiden mit peritonitischen Erschei-
nungen begonnen und anfangs Husten und Auswurf gefehlt haben.
Von Pfühl und Leyden war die Bestimmung des manometrischen Druckes
in der Höhle während In- und Exspiration vorgeschlagen ; Steigerung desselben bei der
Inspiration, Absinken bei der Exspiration sollte für Zugehörigkeit zur Abdominalhöhle
sprechen, das umgekehrte Verhalten für die Pleurahöhle. Diese Untersuchung führt jedoch
nicht zum Ziele, da einmal schon bei Gesunden oft der Druck in den oberen Theilen der
Bauchhöhle bei tiefer Einathmung sinkt und zweitens das Zwerchfell bei der vorliegenden
Krankheit stets unthätig ist, mithin respiratorische Druckschwankungen unterhalb des-
selben nicht zur Perception gelangen. Aus demselben Grunde ist auch die von Fürbringer
empfohlene Beobachtung des veränderten Ausschlages der Punctionsnadel beim Eindringen
in das Diaphragma nicht für die Diagnose zu verwerthen.
SUDOR ANGLICUS. 545
Prognose: Die Krankheit ist im allgemeinen als sehr ernst anzusehen;
nach einer Zusammenstellung von Nowack ( Schmidt' s Jahrbücher IfiOl)
kommen auf 78 Patienten 23 Pleilungen. Hie von sind drei spontan erfolgt
durch Expectoration des Eiters nach Durchbruch in eine Lunge; die restiren-
den 20 verdanken einem operativen Eingriff ihre Genesung, Für die Zukunft
sind von rechtzeitiger und breiter Eröffnung mit Sicherung des Eiterabflusses
bessere Resultate zu erhoffen. Doch hängt der Erfolg wesentlich davon ab,
ob die vollständige Entleerung des Abscesses möglich ist. Bestehen neben
der grösseren Höhle kleine, unzugängliche Eiterherde, so führen dieselben
gewöhnlich nach kürzerer oder längerer Zeit das ungünstige Ende herbei.
Therapie: Auf Spontanheilung darf nur gerechnet werden, wenn nach
Durchbruch in die Lunge Nachlass des Fiebers, von Tag zu Tag zunehmende
Besserung des Allgemeinbelindens und Verkleinerung des Abscesses zu con-
statiren ist. Da dies nur unter ausnahmsweise günstigen Bedingungen be-
obachtet wird, muss die operative Behandlung als Regel bezeichnet werden.
Ein ausgiebiger Schnitt wird, um Eintritt von Luft und Eitererregern in die
Pleura zu verhindern, an möglichst tiefer Stelle der seitlichen Thoraxwand
angelegt, ein mindestens fünf cm langes Stück Rippe resecirt und nach ein-
maliger, vorsichtiger Ausspülung entweder ein Drain eingelegt oder die Höhle
mit Jodoformgaze angefüllt. Ist eine Verletzung des Zwerchfells nicht zu
umgehen, so versuche man durch Annähen desselben an den oberen Wund-
rand die Brusthöhle abzuschliessen. Nach vollständiger Entleerung verkleinert
die Höhle sich rasch, die Kräfte des Kranken nehmen unter geeigneter Pflege
zu und die Genesung ist in ca. einem Monat vollendet. Leider ist dieser
Ausgang noch relativ selten, nach eingetretener Besserung gehen von abge-
kapselten Herden neue Schübe aus, welche zu Wiederholung der Operation
an anderer Stelle zwingen, und oft ist es auch dadurch nicht möglich, den
Kranken zu retten, indem durch Kräfteverfall oder Perforationsperitonitis das
Ende herbeigeführt wird.
Für Kranke, bei denen aus äusseren Gründen oder wegen hochgradiger
Schwäche eine grössere Operation unthunlich erseheint, ist ein Versuch mit
der BüLÄU'scÄe« Punctionsdrainage (vergl. den Artikel „Pleuritis'-^) zu empfeh-
len. Diese einfache und wenig eingreifende Operation wurde von Renwers
bei subphrenischen Abscessen bereits mehrmals mit günstigem Erfolge aus-
geführt. HILBERT.
Sudor ängliCUS (Sudor britannicus, pica^^dicus^ Siiette miliaere, Morbus
miliaris^ Miliaria, Schiveissßeber, Schtoeissfriesel, Prickly heat).
Ueber die Existenz einer selbständigen Krankheit „Schweissfriesel"
ist bis in die neueste Zeit gestritten worden; namentlich war es Hebeä,
der sich gegen das Vorkommen des „Morbus sudoricus" äusserte. Durch
die historische Forschung ist man zur Kenntnis der in früheren Jahrhunderten
in Form ausgebreiteter Epidemien herrschenden Krankheit gelangt, als deren
Heimat England angesehen wird. Durch die weitere Beobachtung kleinerer
Localendemien in neuester Zeit ist man gegenwärtig unzweifelhaft berech-
tigt, den Schweissfriesel als eine selbständige, wohlcharakterisirte
Inf ectionskrankheit anzusehen. Dieselbe ist gekennzeichnet durch wie-
derholtes Auftreten von Schüttelfrösten — gleichsam inNach-
schüben mit jedesmalig einhergehender, äusserst profuser
Schweissbildung und Eruption eines sehr copiösen, knötchen-
artigen Exanthems bei nicht continuirlichem Fieber, aber auf-
fallenden, ausserordentlichen Schwächezuständen,
Epidemiologie. Die ersten Nachrichten über das Auftreten dieser
Krankheit stammen aus dem 15, Jahrhundert. Im August des Jahres 1486
soll die Krankheit in London zum erstenmal epidemieartig aufgetreten sein
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. oö
546 SUDOR ANGLICÜS.
und Lach den vorliegenden Berichten in geradezu furchtbarer Weise ge-
wüthet haben. Ganze Familien starben aus, binnen wenigen Stunden erlagen
der rapid sich verbreitenden Seuche in strotzender Gesundheit stehende
Männer, namentlich die Soldaten der siegreichen Armee (die Schlacht bei
Bosworth war kurz zuvor ruhmvoll geschlagen worden). Genesene erkrankten
ein zweitesmal, die Aerzte waren rathlos, da die Krankheit eben unbekannt
war und ihr Verlauf den Heilslehren der galenischen Therapie „nicht ange-
passt" schien.
Die nächste Epidemie in England trat im Jahre 1507 auf, die zweit-
nächste 1518, die drittnächste 1529. In den beiden letztgenannten Jahren
war die Zahl der Opfer eine noch viel grössere als das erstemal, in manchen
Orten starb die Hälfte der Bevölkerung, 907o der Erkrankten waren dem
Tode geweiht. Im Jahre 1529 trat die Krankheit das erstemal ihre Reise
auf den Continent an, ein englisches Schiff brachte sie zunächst nach Hamburg,
von wo sie nach allen Richtungen durch ganz Deutschland verbreitet
wurde und als südlichsten Punkt Wien erreichte. Aus den östlichen Provinzen
des Deutschen Reiches wurde die Krankheit nach Russland und von hier
weiter nach Schweden, Norwegen und Dänemark verschleppt.
Im Jahre 1551 trat eine neue Eruption der Krankheit in England auf,
ohne dass deren Heftigkeit den geringsten Nachlass zeigte.
Fast 200 Jahre wird hierauf nichts von dem Sudor anglicus berichtet,
bis zu Anfang des 18. Jahrhunderts plötzlich Frankreich der Sitz einer
Reihe kleiner Localepidemien wurde. Vorwiegend war der Nordosten des
Landes (Normandie, Flandern, Picardie: Der ^^picardische Schweiss'-^) heim-
gesucht. Gleichzeitig wurde Italien von ähnlichen Herdseuchen betroffen, so
Turin (1715), später Modena (1775), Venetien (1790). Zu Anfang dieses
(19.) Jahrhunderts beobachtete man in Deutschland isolirte kleine Epi-
demien, die bis in unsere Tage reichen, so 1801 in Wittenberg, 1802 in
Röttingen (sehr rapider Verlauf der einzelnen Fälle!), 1838 im Kreise Kalau,
1839 in Frauenstein (Sachsen), 1849 in Wegeleben, u. a. in Bayern, Baden, Wür-
temberg. In Belgien herrschte die Krankheit im Jahre 1849 namentlich in
Lüttich, Namur, Mons.
Eine Reihe von Epidemien der letzten Zeit haben ihren Sitz in den
südlichen österreichischen Aipenländern und zwar 1831 in Krainburg,
1863 Narein (politischer Bezirk Adelsberg), 1872 in den Ortschaften des Be-
zirkes Reifenberg bei Görz, 1873 gleichfalls im Bezirke Adelsberg, 1874 und
1878 in Adelsberg und Gurkfeld, 1882 in der Gemeinde Kastelrut des
Bezirkes Bozen, 1891 im politischen Bezirke Stein, 1892 zum zweitenmale im
Bezirke Gurkfeld und 1893 in Aussee.
Aetiologie: Nach dem Charakter der Krankheit wird als deren Erreger
ein parasitärer Mikroorganismus und als dessen Ansiedlungsgebiet
das Blut und die Hautefflorescenzen angenommen. Die hierüber in neuester
Zeit angestellten bacteriologischen Untersuchungen sind jedoch erfolglos ge-
blieben.
Die Frage, ob der Schweissfriesel als eine reine miasmatische Er-
krankung anzusehen, oder ob seine Ausbreitung ganz oder theilweise durch
Contagion erfolge, kann vorläufig nicht entschieden werden, doch kennt man
eine Reihe von Fällen, die für die 2. Auffassung zu sprechen scheint.
In der von mir (Dräsche) beobachteten Epidemie im Bezirke Gurkfeld 1892
kamen wiederholt aufeinanderfolgende Erkrankungen in demselben Hause
wohnender Familienmitglieder vor. F. Schaffer will sogar die Incu-
bationszeit der Inföction (14 Tage) durch die Beobachtung folgenden
Falles gefunden haben: Ein nach Wien reisendes Fräulein machte Abschieds-
besuche, kam hiebei mit Kranken in Berührung, erkrankte jedoch erst in
14 Tagen während der Retourreise von Wien im Waggon und fand nach einer
SüDOR ANGLICUS. 547
Fiebernacht des Morgens ihren Körper mit dem reichlichsten Miliariaexanthem
tibersäet.
In epidemiologischer Beziehung ist es sichergestellt, dass der Schweiss-
friesel, wie kaum irgend eine andere Infectionskrankheit die Neigung hat sich
auf gewisse Ortschaften zu localisiren und sich nur sprungweise über ganze
Länder auszubreiten. Die Dauer der einzelnen Epidemien ist meist kurz 4 — 6
Wochen, äd maximum 3 — 6 Monate.
Die Eruption der meisten Miliariaepidemien fallen in den Frühling und
Sommer. Nach Hecker soll speciell ein nebliges, feuchtes Wetter
den Ausbruch und die Verbreitung der Krankheit begünstigen. Einzelne
Autoren wollen auch die sumpfige Beschaffenheit des Bodens zu den
die Krankheit begünstigenden Umständen rechnen (Barthes, Liverani u. A.)
Auch anhaltendes Regenwetter, wodurch der Boden stark aufgeweicht wird,
wird unter den die Miliariaepidemien beeinflussenden Verhältnissen augeführt.
Durchschnittlich sind Frauen für den Schweissfriesel mehr disponirt
als Männer. So erkrankten beispielsweise in Bayern im Jahre 1844 Frauen
2109 und Männer nur 1535.
Von der Mehrzahl der Autoren wird angegeben, dass die Krankheit
meist Individuen des kräftigen Lebensalters (20. — 40. Jahre) ergreife, Kinder
fast ganz verschone. Eine Ausnahme machte die Miliariaepidemie zu Aussee,
wo gerade am meisten Kinder befallen wurden. Nach dem Berichte F. Schäffer's
erkrankten in 5 Gemeinden mit 14 Ortschaften 17 Männer, 15 Weiber,
128 Kinder; das jüngste Individuum war ein Säugling von 10 Monaten.
Die Krankheit betrifft alle Classen und beschränkt sich keineswegs auf
die ärmere Bevölkerung. Selbst „Personen aus der Umgebung des Königs",
meldet die Chronik über die Epidemie in England im Jahre 1518, wurden
eine Beute des Todes,
Wiederholt wurde ein gleichzeitiges Auftreten anderer Infec-
tionskrankheiten in Miliariaherden beobachtet. So gesellte sich zum
Schweissfriesel Scharlach 1830 in Gmünd, 1855 im Dep. Jura, Cholera
1849 in Belgien und 1854 in Südfrankreich; weniger beglaubigt ist das Zu-
sammentreffen mit Variola- und Flecktyphusepidemien, weil es sich wahr-
scheinlich um diagnostische Irrthümer handelte, da ja Sudamina oder Miliaria-
bläschen bei Schweisseruptionen (spontan oder durch Medicamente erzeugt) im
Gefolge der verschiedensten Infectionskrankheiten vorkommen können.
Von einzelnen Autoren wurde die Ansicht aufgestellt, dass der Schweiss-
friesel eine besondere Art der Cholerainfection sei, daher erkläre
sich die häufige Coincidenz mit Choleraepidemien. Dunun, Keesbaciier
u. A. schlagen direct für die Frieselkrankheit die Bezeichnung ^^HautcJiolera''
vor. Eine beweiskräftige Berechtigung für diese Meinung liegt nicht im Ge-
ringsten vor.
Symptomatologie. Der Verlauf der Krankheit bietet eine Reihe
von Stadien. Dem Ausbruch der Krankheit geht ein Prodromalstadium
voraus in der Dauer von zwei bis drei Tagen. Diese Prodromalerscheinungen
bestehen in Störungen des Appetits, Magendrücken, Ueblichkeiten, Schwindel-
gefühl und endlich insbesondere allgemeine grosse Unruhe und Abgeschla-
genheit. Die Darmfuuction ist meist retardirt, nie bestehen Diarrhoen. Zuel-
zer erwähnt unter den prodromalen Symptomen auch ein starkes Hautjucken.
Im Nachfolgenden sei ein Bild der Krankheit nach den von mir
(Dräsche) gemachten Beobachtungen, die ich im Jahre 1892 anlässlich der Mili-
ariaepidemie in Gurkfeld an Ort und Stelle sammeln konnte, gegeben: DerBeginn
der Krankheit charakterisirt sich mit einem sehr heftigen, selbst mehrere Stun-
den anhaltenden Schutt elf roste bei Ansteigen der Temperatur bis 41 Grad
und unsäglichem Angstgefühle. Hierauf erfolgt der Ausbruch eines überaus
profusen, vom Körper gleichsam herabtriefenden und eigenthümlich riechenden
35*
548 SUDOR ANGLICUS.
Schweisses und die Eruption eines massenhaften, knötchenartigen
Exanthems auf livider oder dunkelgerötheter Haut. Bei nun nachlassendem
oder fortbestehendem massigem Fieber (38°) oder selbst ohne dieses und bei
Andauer geringen Schweisses erblasst etwas die Haut und füllen sich die
Knötchen mit einem hellen Serum milchig trüber oder selbst eitriger Flüssig-
keit und confluiren selbst zu kleineren oder grösseren Pusteln. Bald darauf
erfolgt eine kleienartige Abschuppung.
Na(ih einem solchen Anfall einer Schweiss- und Exanthemeruption bleibt
eine hochgradige Schwäche zurück, die bis in die Reconvalescenzzeit an-
dauert. In leichten Fällen ist die Erkrankung mit einem Anfall beendigt,
in der Mehrzahl derselben treten jedoch nach ein oder mehreren Tagen er-
neuerte Schüttelfröste in derselben Weise, mit ziehenden Schmerzen in den
Gliedern, profuser Transpiration und Miliariaeruption auf. Nach derartigen
weiteren Anfällen zeigen sich alle Grade der Miliariaeruption, Knötchen, Bläs-
chen und Pusteln mit verschiedenem Inhalte nebeneinander vertreten.
In den schwersten tödtlich endigenden Fällen gesellen sich gleich an-
fangs während des Schüttelfrostes Convulsionen, Unbesinnlichkeit, Delirien und
selbst Sopor hinzu.
Die Brustorgane zeigen keine Veränderung, die Milz ist meist wenig
oder gar nicht vergrössert. Der Stuhl durchgehends träge. Die Schwäche
und Prostration sehr hochgradig, die Reconvalescenz erfolgt nur äusserst lang-
sam. Complicationen und Nachkrankheiten kommen in der Regel nicht vor.
Was die speciellen Beobachtungen einzelner Autoren in be-
stimmten Localepidemien betrifft, so sei darüber folgendes erwähnt: Nach
ZuELZER fällt der Beginn der Krankheit meist in die Nachtzeit oder in die
späteren Abendstunden. Die Dauer und Intensität der Schüttelfröste ist
nicht immer die gleiche, oft nur ganz kurze Zeit und in Form eines leichten
Frösteins, oft 4 — 5 Stunden, desgleichen kommt es vor, dass zuweilen an ein und
demselben Tage mehrere Schüttelfröste hintereinander erfolgen. Was die
Seh Weisseruptionen betrifft, so schliessen sich dieselben meist an
vorausgegangene Schüttelfröste an, doch kommt es zuweilen vor, dass starker
Schweissausbruch ohne vorhergehenden Frost auftritt. Die Kranken schwitzen
in mehr oder minder hohem Grade während der ganzen Krankheit. Im Be-
ginne des Seh Weissstadiums tritt in manchen Fällen eine auffallende,
geradezu beunruhigende Anxietas auf. Die Kranken fühlen ein heftiges Pal-
pitiren des Herzens, sie geben das Gefühl an, „als wollte das Herz in einer
Flüssigkeit untertauchen, als hänge es an einem Faden." (Keesbacher).
Als charakteristisch wird der Geruch des Schweisses angesehen, seine
Reaction ist nach Seitz und Stahl sauer, nach Barthes neutral.
Das Exanthem besteht aus Knötchen, Bläschen und Pusteln. Estritt
am häufigsten derart auf, dass sich im Centrum röthlicher Flecke (oft ist
auch die ganze Hautoberfiäche diffus scharlachroth gefärbt) Knötchen und hie
und da aus diesen Bläschen bilden; zuweilen kommt es jedoch auch vor, dass
sich hyaline Bläschen aus normaler gefärbter Haut entwickeln. Keesbacher
betont ausdrücklich, dass das Exanthem durchaus das Bild der Miliaria rubra,
in den seltensten Fällen das der crystallina zeigt. Der Ausschlag befällt
zuerst Hals und Brust, dann Rücken und Extremitäten, seltener das Gesicht.
Französische Autoren beschreiben auch die Eruption von Knötchen und Bläs-
chen auf den Schleimhäuten (Mund, Rachen, Nase, Conjunctiva etc.) Zu
Epidemiezeiten kommen immer auch vereinzelte Fälle vor, die kein Exanthem
darbieten {Suette sans eruption, Nole, Plouvies, Verneüil.)
In leichten Fällen dauert die Krankheit 3—5 Tage, nach Zuelzer soll
sie im Durchschritt 6 — 8 Tage dauern, wovon 1 — 3 auf das Schweisstadium
und 3 — 4 auf das exanthematische Stadium kommen. Andere Autoren spre-
chen von 4 — 6, ja 10—16 Wochen Krankheitsdauer, wozu sie die oft
SUDOR ANGLICUS. 549
langwierige Reconvalescenz-Periode hinzuzählen. In den ersten englischen
Epidemien kamen foudroyante Fälle vor, die unter typhösen Symptomen
und Erscheinungen haemorrhagischer Diathese am 2. — 4. Tage tödtlich en-
deten.
Das Mortali tat sper Cent ist in den einzelnen Epidemien sehr diffe-
rent. Die Seuchen des englischen Schweisses im 15. Jahrhundert hatten
Mortalitätsverhältnisse von 80 — 90%, aber auch in einzelnen späteren Epi-
demien wurden 20 — öO^/o Todesfälle beobachtet. Nach Hirsch-Zuelzer soll
das durchschnittliche Sterblichheitsverhältnis 5— 6% betragen. In den Epi-
demien von 1849 (Dep. Oise) und 1851 (Dep. Herault) starb nicht ein
Kranker! Von Epidemien aus neuester Zeit seien erwähnt die von Adelsberg
(1873) mit 5-97o Mortalität, die von Gurkfeld (1892) mit 24-57o und die von
Aussee (1893) mit O^.
Pathologische Anatomie. Die Berichte über Obductionsbefunde
sind spärlich. Man fand Hyperämie der Lungen, der Magen und Darmschleim-
haut, relativ geringe Intumescenz der Milz, parenchymatöse Herzdegeneration.
Von französischen Autoren werden Bläscheneruptionen auf der Darm-
mucosa, von Seitz auf dem Pericard, von Eller auf dem peritonealen Leber-
überzug beschrieben. Das Exanthem ist an der Leiche verblasst, die einzelnen
Knötchen und Bläschen aber noch immer deutlich sichtbar. Weichselbaum
erwähnt in dem von ihm mitgetheilten Befunde eine Schwellung der Lymph-
follikel des Zungengrundes und Pharynx, sowie des Ileum und in geringem
Grade der Gekrösdrüsen. Kleine hämorrhagische Herde werden an verschie-
denen Stellen der Leichen beschrieben, so in der Trachealschleimhaut, Lungen,
Endocard, Magenschleimhaut, Meningen u. A.
Diagnose und Differentialdiagnose. Das Hauptmoment zur
Diagnosenstellung bildet das endemische Auftreten der Krankheit. Doch
sind sehr oft die ersten Fälle an bestimmten Orten falsch gedeutet worden.
Für die Erkenntnis der Krankheit darf nicht e i n Symptom allein maassgebend
sein, weder die Schweisse, noch die Schüttelfröste, noch auch das Exanthem,
da alle diese Erscheinung einzeln bei einer Reihe anderer Infectionskrank-
heiten vorkommen. Nur das combinirte Vorkommen dieser drei Ca r-
dinal Symptome und deren typischer Verlauf sichern die Diagnose und die
Unterscheidung von Typhus, septischen Krankheiten, Malaria, Variola, Varicellen
und Cholera, wenn auch vielleicht atypische und abortive Formen der letzt-
genannten Infectionskrankheiten in einzelnen Fällen die Differentialdiagnose
schwierig gestalten.
Entsprechend dem wechselnden Mortalitätspercent ist die Prognose der
Krankheit je nach dem Charakter der Epidemie verschieden. Je profuser und
häufiger die Schweisse, je deutlicher die Beeinträchtigung des Sensoriums und
die Reizerscheinungen des Nervensystems (Delirien,Convulsionen), je ausgeprägter
Erscheinungen hämorrhagischer Diathese auftreten, desto schwerer und zweifel-
hafter die Prognose.
Therapie. In den Epidemien der früheren Jahrhunderte glaubte man
die als „Naturheilung" aufgefasste Schweisseruption unterstützen zu müssen und
quälte die Kranken mit den stärksten Diaphoretica. Interne verabreichte man
ferner Antispasmodica und Nervina (Valeriana, Campher, Opium etc.), man
suchte auf die Hautexcretion durch Umschläge mit Kali caustic. einzuwirken
(Schöxlein), man wollte ableitend wirken, indem man Diuretica und Dras-
tica eingab. Alle diese Maassnahmen sind gegenwärtig als mehr oder minder
schädlich erkannt. Die Therapie beschränke sich wesentlich auf Dar-
reichung von Excitantien (Erhaltung der Herzkraft), Bekämpfung des Durstes
(Säuren-medication), fieissigen Wechsel der von Schweiss durchtränkten Wäsche,
locale Application von Salicylpudern. Im Abschuppungsstadium sind lau-
warme Bäder mit excitirenden Uebergiessungen am Platze. Als Sedativa
550 SüPEARENALDRÜSENFÜNCTION.
verwende man, wenn dringende Indication (hochgradige Angstzustände, Delirien,
Convulsionen) vorhanden, kleine Belladonna- oder Opiumgahen.
Von prophylaktischen und sanitätspolizeilichen Maassregeln seien als
durchführbahr erwähnt: Isolirung der Kranken, Desinfection der Wäsche,
Kleider, Betten etc. Zusammenkünfte zwischen Personen, die in durchseuchten
Häusern wohnen, mit den Inwohnern anderer Häuser sind nach Möglichkeit
aufzuheben. Andere, den Verkehr einschränkende Maassregeln sind bei der
derzeit noch fraglichen Contagiosität der Krankheit unnöthig.
DEASCHE-wEiss.
Suprarenaldriisenfunction — Suprarenaldriisenkrankheiten.
(Nehennierenkrankheiten''). Die Rindensubstanz der Nebenniere ist nicht meso-
dermalen, sondern entodermalen Ursprunges. Die Entstehung der Marksub-
stanz ist noch unsicher. Nicht unwahrscheinlich ist es, dass die Markzellen
Drüsenzellen sind. (Der Hauptmasse nach). Es bestehen thatsächlich sehr
innige Beziehungen zwischen den Zellen der Marksubstanz und dem Blute,
Zapfen von Nebennierensubstanz ragen direct in Capillaren und Venen hinein,
so dass nur auf einer Seite des Gefässes ein Endothelbelag zu erkennen ist,
während auf der anderen das Blut direct um die Markzellen spielt. Pfaundler
fand im Nebennierenvenenblut sehr reichlich glänzende Körnchen, Auch braune,
hyaline Schollen finden sich in den Gefässen, die vielleicht ebenso ein in-
travital gebildetes Zellsecret darstellen. Thatsächlich ist es nämlich das Auftre-
ten dieser Massen im Nebennierenvenenblut, welches am sinnenfälligsten für
die Natur der Nebennieren als secernirende Organe (Drüsen mit sogenannter
„mwerer iS'ecre^fow") spricht: die Nebennierenzellen entziehen gewisse
Stoffe dem Blut, um sie verändert wieder dem Blut zurückzu-
geben (v. Brunn, Pfaundler). Und das Secret besitzt hauptsächlich jene
Form von kleinen Körnchen. Die mehr detaillirten Hypothesen, die bisher
nach dieser Richtung sich geltend zu machen versuchten, können höchstens
einen gewissen heuristischen Werth beanspruchen. Lubarsch z. B. glaubt,
auf den regelmässigen Befund von Glycogen in der Neoplasmen der Niere
sich stützend, dass die Umsetzung der zugesetzten Stoffe in der Herstellung
einer besonderen Eiweissmodification unter Glycogenbildung besteht, wodurch
aus dem Organismus Material ausgeschaltet werdC; dass in Haut und Schleim-
häuten zur Pigmentbildung verwendbar wäre und eine gewisse toxische
Wirkung besitze.
Die bisherigen einschlägigen Experimentaluntersuchungen haben uns
leider bisher auch keine vollkommene Klarheit verschaflt. Brown-Sequard
und Nothnagel machten divergirende Angaben. Tizzoni kam zu dem Schluss,
dass (beim Kaninchen) die Nebenniere intime Beziehungen zum Nervensystem
besitze. Die Vermittlung geschehe durch den Sympathicus. Der Tod trete ein,
ob nur eine oder beide Nebennieren entfernt werden. Die Folgen der Neben-
nierenexsirpation bestehen in Gewichtsabnahme, Sinken der Temperatur, Pig-
mentirung um Mund und Nase, Coma, Convulsionen. Der Tod tritt kurz nach
der Operation oder erst spät, selbst nach 1000 Tagen ein. Bei der Section
der Versuchsthiere finden sich degenerative und entzündliche Veränderungen
im Gross- und Kleinhirn, im Rückenmark. Dominicis behauptete dagegen,
dass der Tod der Versuchsthiere ohne Ausnahme wenige Stunden nach der
Operation (in Folge einer nervösen ShocWirkung) eintrete. Stilling wie-
derum läugnete überhaupt die Möglichkeit einer wirklich vollständigen
Exstirpation beider Nebennieren, es sollen stets kleine Reste, die später hypertro-
phiren, zurück bleiben, auch hypertrophiren nach dieser Operation gewisse acces-
*=) Vergl. auch Artikel „Addison' sehe Krankheit'' Bd. I; pag. 27.
SüPRARENALDRÜSENFüNCTION. 551
sorische Nebennieren, welche vorher gar nicht sichtbar gewesen. Nach
Exstirpation einer Nebenniere aber hypertrophire die andere. Die operirteu
Thiere blieben bis 700 und 1000 Tage am Leben. Veränderungen an den
Nervencentren fanden sich keine. Auch beim Hunde genügen sehr kleine
Bruchtheile des Parenchyms für sein sutficientes Functioniren. Dieses be-
steht nach Thikoloix, Lanceraux, Abelous und LANfiLOis in der Neutra-
lisation von aus dem Stoffwechsel stammenden Giften. Frösche und Meer-
schweine bleiben nach Zerstörung einer Nebenniere und des grössten Theiles
der zweiten am Leben. Durch UeberpÜanzung einer anderen Nebenniere oder
durch Injection von Nebennierenextract wird das Eintreten des Todes ver-
zögert. Wenn der Tod erfolgt, geschieht es in Stunden oder in relativ we-
nigen Tagen.
Hinsichtlich der Art der toxischen Stoffe, welche nach Ausschal-
tung der Nebennieren im Blute auftreten, fand Abelous, dass dieselben auf
die motorischen Nervenenden wirken, ähnlich wie Curare, Bei nebennieren-
losen Fröschen ist die neuromusculäre Erregbarkeit herabgesetzt. Die Wir-
kung des Alkoholextractes tetanisirter Frösche ist ähnlich demjenigen eines
solchen, der keine Nebennieren hat. Abelous vermuthet deshalb, dass die
Nebennieren Giftstoffe vernichten, welche bei der Muskelarbeit entstehen (V).
Aus Nebennieren lassen sich leicht giftige Extracte, die Krämpfe, Läh-
mung, Aenderung des Blutdruckes bewirken, gewinnen. Das vorlie-
gende Material bedarf aber noch weiterer, experimenteller Kritik.
Die pathologischen Beziehungen zwischen Nervensystem und
Nebennieren werden zunächst durch gewisse Sectionsbefunde beleuchtet
(Verkleinerung und Fehlen der Nebennieren bei Gehirndefecten). Theils als
vermeintliches Mittelglied zwischen den obengenannten Erkrankungen, theils
in Anbetracht des M. Addisonii ist ferner besonders der Sympathicus in seinen
Beziehungen zu den Nebennieren wichtig geworden. Jacobi hatte in jüngster
Zeit behauptet, dass die Nebennieren Hemmungsapparate für die Motoren des
Darmes sind. Er schloss dies daraus, dass bei Nebennierenausschaltung am
Hungerthiere die vorher unwirksame Vagusreizung wirksam wird, ferner, dass
durch Nebennierenreizung Darmbewegungen aufgehoben werden. Vom Splanch-
nicus treten in die Nebennieren Nerven, nach deren Section die früher un-
wirksame Vagusreizung (Hungerthier) wirksam wird. Bei Nebennierenreizung
sinkt die Harnmenge. Diese Behauptungen sind jedoch auch nicht ohne
Widerspruch geblieben. Ebenso unterliegen anderweitige einschlägige Angaben
noch zu sehr dem Tagesstreite.
Hinsichlich des Verhaltens der Nebennieren zum M. Addi-
sonii ist der Streit gleichfalls nicht beigelegt. Es kommt dabei wohl haupt-
sächlich darauf an, ob die Nebennierenerkrankungen die Function der Organe
schwer zu beeinträchtigen geeignet sind, oder nicht. Die Broncefärbung darf
man hier wohl diagnostisch, aber nicht pathologisch in den Vordergrund stellen.
Symptomatisch im Mittelpunkte sollen vielmehr die intestinalen und die neuro-
muskulösen Erscheinungen stehen. Unter dieser Voraussetzung wird die
Statistik die überaus grosse Häufigkeit des M. Addisoni bei Nebennierenaöec-
tion sicher nachweisen. Das öfter erwähnte Vorkommen von Symptomencom-
plexen, die dem M. Addisoni analog scheinen, ohne anatomische Nebennieren-
erkrankung ist verschiedenen Deutungen fähig. Geht man von der Zusammenge-
hörigkeit des M. Addisoni und der Nebennierenerkrankung aus, könnten die
Allgemeinerscheinungen durch Giftwirkung, die Darmerscheinungen etwa durch
die Verbindungen der Gland. suprarenales mit dem Splanchnicus erklärt
werden. Die Pigmentirung bliebe am meisten fraglich. Die specielle Hypo-
these, dass der M. Addisoni eine Neurinintoxication sei (Maeino-Zucco)
ist kaum noch ernstlich discutirbar.
F. KRAUS.
552 SYMPATHICÜSKEANKHEITEN.
SympathiCUSkrankheiten. Die Pathologie des SympatMcus ist eine
der schwierigsten Probleme, da unsere Kenntnisse selbst über die anatomische
Constitution und physiologische Function dieses Nervengebietes noch sehr
lückenhaft sind, und die Versuche, die sich aufdrängenden Fragen durch Unter-
suchungen, Experimente, pathologische Beobachtungen zu lösen auf fast un-
besiegbare Schwierigkeiten stossen. Unkenntnis ist die Mutter des Glaubens,
so ist es leicht zu verstehen, dass man besonders früher gewagte, ich möchte
sagen leichtsinnige Hypothesen schuf, und Krankheiten, welche man nicht
anderswo placiren konnte, in das Capitel der Sympathicusläsionen einreihte.
In der letzten Zeit nehmen diese Art von Mittheilungen bedeutend ab — ohne
aber dass gleichzeitig die Pathologie des Sympathicus wesentlich bereichert
worden wäre. Eine reelle Einsicht in die Pathologie des Sympathicus kann
aber nur auf Grund der anatomischen und physiologischen Thatsachen erlangt
werden.
Anatomisch besteht das sympathische Nervensystem aus dem Grenz-
strang, und den aus ihm austretenden Fasern. Der Grenzstrang liegt ent-
lang der Wirbelsäule in der Form von zwei parallelen Strängen, die unten
meistens in einem kleineren, oben aber in zwei separaten grossen Ganglien
enden. Dieses obere Ende ist aber nur ein grob anatomischer Ausdruck,
denn eigentlich endet hier das sympathische System nicht, sondern setzt sich
fort im Plexus caroticus und in den GanglieD, die an Kreuzungstellen der
Hirnnerven sich befinden (Gg. ciliare, nasale, oticum, linguale, und geniculat.
(?) [das Gg. Gasseri, petrosum, jugulare, und die Nervenzellengruppen im
Riech-, Seh- und Hörorgan entsprechen den Spinalganglien der hinteren
Wurzeln]). Im Grenzstrange sind in nicht ganz bestimmter Anzahl, doch
nahezu soviel als Wirbelknochen, Ganglien eingereiht. Diese Ganglien
sind eigentlich der Centralapparat des Sympathicus, die Stränge nur die
leitenden Verbindungen, welche nicht nur mit dem peripherischen System
des Sympathicus, sondern auch mit dem cerebro-spinalen Nervensystem zu-
sammenhängen. Die letztere Verbindung wird durch die Rami communican-
tes versorgt, diese „Wurzeln" bestehen aber hauptsächlich in einem Austausch
cerebro-spinaler und sympathischer Fasern. Von den ersteren wissen wir, dass
sie theilweise aus den vorderen Spinalwurzeln stammen, also motorisch sind,
theilweise aber aus den Hinterwurzeln hervorgehen und somit sensible Func-
tion besitzen, ferner, dass jene welche bis zu den 6 — 7. Brustganglien ziehen,
im Grenzstrang hauptsächlich hinaufzu verlaufen und nur ein ganz kleiner
Theil sich hinabzu wendet, während jene spinalen Faserbündel, welche vom
7. Brustganglion an in den Grenzstrang übertreten daselbst besonders ab-
wärts steigen (Onodi). Die Bedeutung dieser weissen Wurzeln ist eine dop-
pelte, ein beträchtlicher Theil betritt die Bahn des Sympathicus blos um sein
peripheres Ziel in Begleitung der sympathischen Fasern zu erreichen, dieser
Theil geht also, — wenigstens soweit dies bekannt ist — nirgends eine
direkte Verbindung mit sympathischen Ganglienzellen ein, so können unter
den hinab tretenden Fasern gewisse Gruppen bis zum Diaphragma, zum
N, splanchnicus major etc. verfolgt werden. Ein anderer Theil scheint aber
nach der Angabe von Kölliker in den Ganglien zu enden und so würde seine
Erregung daselbst durch Zwischenschaltung einer Ganglienzelle in die Bahn
der PtEMAK'schen Fasern überführt werden. Es scheint mir, dass überhaupt
sämmtliche Ganglienzellen in dieser Weise vom Centralnervensystem beeinfiusst
werden. Dies wird bekräftigt durch jenen Umstand, dass überall, wo sympa-
thische Ganglien sind, in dieselbe cerebro-spinale Fasern eintreten, das sehen
wir sehr deutlich an den Ganglien, welche in so grosser Zahl an den Hirn-
nerven sitzen. Diese Verbindung mit den weissen Fasern bedeutet aber nicht,
dass der Sympathicus nur durch seine Verbindung mit dem Centralnerven-
system functionirt: es scheint vielmehr, dass im Wege des Centralnervensy-
SYMPATHICUSKRANKHEITEN. 553
Sterns Dur die Anpassung der Erregung zu bestimmten Zwecken, das Maass
der Erregung regulirt wird, die gleichmässig fortdauernde Function hingegen
von den sympatliischen Elementen ausgeht. Welche Wege im Rückenmark
diese Verbindungsfasern einschlagen, ist nicht l)ekannt, Küllikeü sucht sie
im Seitenstrang, doch ausserhalb der Pyramidenbahn, noch haben wir ein kla-
res Bild von der histologischen Form des Ueberganges von den cerebro-spina-
len Fasern zu sympathischen Ganglien. Die grauen Rami communicantes hän-
gen mit den Ganglien des Grenzstranges zusammen, treten aber schon nach
erfolgter Vereinigung der vorderen und hinteren Spinalwurzeln in die
gemischte Wurzel hinein, so dass es bisher nicht gelungen ist, ihre weitere
Bahn zu ergründen. Es wäre möglich, dass sie auch eine Bahn darstellen,
durch welche der Einfluss des Centralnervensystems auf das sympathische
übermittelt wird, wahrscheinlicher scheint es jedoch, dass sie zur Versor-
gung der Gefässe des Nervensystems und seiner Hüllen dienen, während
jene Ansicht mehrerer Autoren, dass dieselben die eigentlichen Wurzeln des
sympathischen Nervensystems wären, nicht haltbar erscheint. — Die eigent-
liche peripherische Ausbreitung des Sympathicus bildet ein an unregelmässigen
Verflechtungen so reiches Netz, dass es hier unmöglich ist, strenge Sonde-
rungen auszuführen, überdies mischen sich diese sympathischen Fasern mit
allen cerebro-spinalen peripheren Nerven, und laufen entlang sämmtlicher
Arterien und eines grossen Theiles der Venen. Was aber in pathologischer
Hinsicht von grösster Bedeutung ist, ist jener Umstand, dass das Ganglien-
system des Sympathicus nicht nur aus den Ganglien des Grenzstranges be-
steht, sondern dass Ganglienzellengruppen, kleinere Ganglien, Mikroganglien
an den verschiedensten Stellen im peripherischen Verlaufe der sympathischen
Fasern, oder eingebettet in das Gewebe der durch sie versorgten Organe
äusserst zahlreich vorhanden sind, so dass es anatomisch bei den meisten
Organen unmöglich ist, sie von ihren sympathischen Elementen vollständig zu
trennen, andererseits aber kann man sich kaum einen pathologischen Process
oder vivisectorischen Eingriff denken, welcher die Function des ganzen, oder
selbst nur eines grösseren Theiles des Sympathicus vollständig vernichten
könnte, umso weniger da ein Theil der scheinbaren Ausfallssymp-
tome der Leitungsunterbrechung jener Fasern zuzuschreiben
ist, welche als cerebrospinale Fasern durch die Rami commun.
alb. aus dem Rückenmarke oder aus cerebro-spinalen Nerven
heraustreten und die periphere Sympathicusbahn nur begleiten.
Das eigentliche Gebiet des sympathischen Nervensystems sind der Herz-
muskel, die glatten Muskeln der Organe, und besonders die Gefässwände,
u. z. die der kleineren Arterien und Venen, während die Capillaren und die
grossen Gefässe weniger contractile Elemente besitzen. Sind diese Vaso-
motoren alle rein sympathischen Ursprungs? Es scheint, dass die bisher vor-
liegenden Untersuchungen diese Frage noch nicht endgültig entscheiden lassen,
es finden sich auch myelinhaltige, also nicht sympathische Fasern in den
Gefässwänden, welche nur zum Theil in ihrem weiteren Verlaufe die Myelin-
hülle verlieren. Nach Kölliker sind diese myelinhaltige (dunkelrandige) Fa-
sern directe Fortsetzungen des cerebrospinalen Systems, ihrer Function nach
Vasodilatatoren und Visceroinhibitoren, meiner Ansicht nach (s. Virchow's
Archiv Bd. 146) dienen diese dunkelrandige Fasern der Centripetalleitung.
Es ist höchst wahrscheinlich, dass in diesen Verhältnissen weitere Untersu-
chungen mehr gesetzmässige Anordnungen nachweisen werden, da einige phy-
siologische Experimente in klarer Weise dies vermuthen lassen.
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Function des sympa-
thischen Nervensystems aus folgenden drei Elementen besteht:
1. Directe Function der Ganglien im Wege der REMAK'schen Fasern:
Verengerung der Gefässe^ Contraction der Visceralmuskeln. Indirect steht aber
554 SYMPATHICUSKRANKHEITEN.
diese Function mit dem cerebro-spinalen Nervensystem in Verbindung und
wird durch dieselbe wesentlich beeinflusst.
2. Sensible Function der zugesellten cerebro-spinalen sensiblen Nerven-
fasern, deren Zusammenhang mit den Ganglien höchst wahrscheinlich durch
Cöllaterali'asern vermittelt wird.
3. Function der Antagonisten durch sympathische Fasern, die eine etwas
abweichende Bauart, ebenfalls motorischen Charakter haben, aber von
räumlich bedeutend getrennten Theil des Centralnervensystems heraustreten;
die Wirkung dieser Elemente besteht in Erweiterung der Gefässe. Als Beispiel
dieser dreifachen Innervation führen wir die Iris an, der Opticus wäre hier
die centripetale Reflexbahn, die centrifugale wird gebildet durch die betref-
fenden Fasern des Oculomotorius als Ramus communicans ant., durch das
Ganglion ciliare als Grenzstrangganglion, durch die Nn. ciliares br. als peri-
pherische Fasern, endlich stammt die dritte Art der Innervation vom Hals-
theile des Grenzstranges her, also von einem bedeutend entferntem Theil des
Nervensystems, mit dieser ziehen die Fasern des Diktator pupillae zur Iris.
Die physiologische Function des sympathischen Nervensystems wird durch
regulatorische Einrichtungen geregelt, deren Centren zumeist im Centralnerven-
system liegen, und theilweise durch directe Einwirkung des Blutes, theilweise
aber reflectorisch — von der Peripherie aus angeregt werden, Cl. Beenard,
Francois-Feanck u. A. nehmen auch auf Grund ausgedehnter Thierexperi-
mente eine Reflexbahn blos durch das sympathische Ganglion an.
Pathologisch-anatomisch lässt sich sehr wenig über den Sym-
pathicus berichten. Seine peripheren Nerven sind an bindegewebigen Ele-
menten sehr arm, die einzelnen Fasern sind sehr dünn, nnd so beobachtet man
keine Entzündungserscheinungen an ihnen, auch weiss man nichts positives
über eine secundäre Degeneration nach Durchschneidung des Fasern. Sklero-
tisirte Ganglien, ferner Zerstörungen durch maligne Tumoren sind öfters be-
schrieben worden.
Die Symptomatologie der Sympathicus-Krankheiten ist besonders in
den Lähmungserscheinungen ausgesprochen, da krankhafte Contractionen nur
vorübergehend und gewöhnlich durch andere Krankheiten bedingt auftreten.
Wir wollen zuerst die Pathologie des Hals- und Bauchtheiles des Sympathicus
erörtern, und dann noch jene Krankheitsformen erwähnen, welche mit mehr-
weniger Recht zu den Sympathicusläsionen gerechnet werden.' Die Symptome
der Continuitätstrennung des Halssympathicus sind folgende:
1. Die Pupille ist an der betreff'enden Seite bedeutend verengert,
doch ist diese Miosis niemals hochgradig. Die Reaction auf Licht und die
Accommodationsverengerungen bleiben intact, obzwar es manchmal den An-
schein hat, als würde sich die betroffene Pupille weniger ergiebig contrahiren,
indessen ist ein solches Verhalten leicht durch die Differenz in der Pupillen-
grösse zu erklären. Es scheint jedoch, dass durch schmerzhafte Reize auf
der verletzten Seite keine Pupillenerweiterung hervorrufbar ist, klinischen
Werth hat diese Reaction aber nur dann, wenn die Erweiterung auf der ge-
sunden Seite nachweisbar ist. Steil behauptet jedoch auf Grund von Ver-
suchen, dass die schmerzhaften Einwirkungen auch bei durchschnittenem
Halssympathicus Pupillenerweiterung herbeiführen können. Die Reaction der
Pupille auf miotische und mydriatische Stoffe ist noch nicht genügend unter-
sucht. Die Pupillarfasern des Sympathicus stammen aus dem Rückenmark'
wo sie in der grauen Substanz, in der Höhe des 7 — 8 Cervical- und 1 — 2
Dorsalwurzeleintrittes ihr Nervencentrum haben. Durchschneidung des Rücken-
markes oberhalb und unterhalb dieses Centrums hat keinen Einfluss auf die
Pupille, wohl aber die Zerstörung der genannten Wurzeln.
2. Die Lidspalte ist in den meisten Fällen verengert, so dass es oft die
Kranken im Sehen stört; bedingt ist dieses Symptom durch die Lähmung des
MüLLEE'schen glatten Lidmuskels.
SYMPATHICUSKRANKHEITEN. 555
3. Ein weniger in die Augen fallendes Symptom ist das Zurück-
weichen des Bulbus, welches oft den Eindruck macht als ob der Aug-
apfel kleiner geworden wäre. Da in einem solchen Falle eine Veränderung
in der Refraction eintreten müsste, und das bisher noch nicht beobachtet
wurde, scheint das Kleinerwerden des Bulbus nur auf Urtheilstäuschung zu
beruhen. Dieses Symptom erscheint nur längere Zeit nach dem Beginn der
Lähmung und ist \Yahrscheinlich durch eine Abnahme des retrobulbären Binde-
gewebes verursacht, da gleichzeitig die betreffende Gesichtshälfte auch ab-
magert. Vielleicht ist auch die Tension des Auges auf der kranken Seite
manchmal herabgesetzt.
4. Weniger constant ist das Verhalten der Ge fasse, welche zwar
in einigen Fällen erweitert gefunden wurden, doch ist diese Veränderung in
der Ruhe und gleichmässiger Aussentemperatur oft nicht bemerkbar, erscheint
aber als diÖerente vasomotorische Innervation in der Aufregung oder bei zu
hoher, oder zu niedriger Aussentemperatur. In manchen wohlbeobachteten
Fällen waren aber die Gefässe eben auf der Seite der Läsion verengert, dieses
Verhalten, sowie jene Fälle, wo überhaupt kaum Unterschiede gefunden wor-
den sind, erklären sich, wenn wir bedenken, dass in der Sympathicusbahn nicht
nur gefässverengernde, sondern auch erweiternde Elemente sind, über deren
Verhältnis zu einander wenig bekannt ist. Die schönen Untersuchungen Nicati's
zeigen, dass die Veränderungen in der Hauttemperatur infolge der äusseren
Temperatureinflüsse viel kleiner auf der gelähmten Seite sind als auf der ge-
sunden; so bleibt im Winter diese Gesichtshälfte wärmer als die normale.
5. Die Schweissabsonderung scheint ganz unabhängig von dem
Zustande der Gefässinnervation zu sein, man hat bei Sympathicuslähmung
ebenso Hyperhidrosis als Anhidrosis beobachtet, und besonders den letzteren
Zustand auch experimentell (durch Pilocarpininjection) nachgewiesen. Nach-
dem in den bisherigen Beobachtungen die einmal beobachtete Veränderung
stabil blieb, kann man kaum mit Nicati annehmen, dass in der ersten Zeit
der Sympathicuslähmung Hyper-, nach längerer Dauer aber Anhidrosis zugegen
wären, und muss den Schlüssel zur Lösung dieses bisher noch nicht erklärten
Verhaltens, wie ich glaube, in der verschiedenen Localisation der Lähmungs-
ursache suchen. Die vorliegenden Beobachtungen sind aber zur näheren Be-
gründung dieser Annahme noch ungenügend, da in den meisten Fällen der
Krankheitsherd nicht mit Gewissheit localisirt werden konnte.
6. Als trophisches Symptom kann blos die Abmagerung der Ge-
si cht s half te angegeben werden, diese Veränderung ist aber wenig auf-
fallend, wird selten erwähnt, die Atrophie betrifft nur das Fettpolster, und
scheint nie hochgradig zu sein — ist aber unabhängig von dem Zustande der
Gefässinnervation.
7. Von einer Störung in der Herzthätigkeit ist nur soviel be-
kannt, dass im Falle von Moebius der Puls einige Monate minder frequent war
als früher, und der Patient über Herzklopfen klagte.
Ausser diesen Symptomen ist Nichts angegeben, was in directer Beziehung mit
der Läsion des Sympathicus wäre, und die hie und da notirten anderen Erschei-
nungen(Gedächtnisschwäche, Kopfschmerz, Schwindel etc.) müssen theils anderen,
gleichzeitig vorliegenden Affectionen, theils allgemeinen nervösen Störungen
zugeschrieben werden. Von den Erscheinungen der Sympathicusreizung ist
am constantesten die Erweiterung der Pupille, man müsste dabei erwarten,
dass die Reaction der Iris, und die Accommodation unberührt bleiben, doch
gibt EuLENBüRG in seinem Fall Starrheit der Pupille und Accommodations-
parese an, es dürfte wohl eine Complication vorgelegen sein, umsomehr da
in den drei Fällen von seeligmüller die Reaction der Iris, die Refraction
und die Accomodation normal blieben. Ferner wurden beobachtet: Erweite-
rung und Verengerung der Lidspalte, Vortreibung des Bulbus, Kühle, Blässe
und Abflachung der betroffenen Gesichtshälfte.
556 SYMPATHICUSKRANKHEITEN.
Was die Symptome einer Lähmung des Brust- und Bauchtheiles
des Sympathicus betrifft, so sind unsere Kenntnisse darüber äusserst
spärlich. Die Ursache hievon liegt zum grossen Theile darin, dass bedeuten-
dere Störungen nur bei beiderseitigen Läsionen eintreten würden, und diese
kommen kaum vor. Fernerhin werden die Brust- und Bauchorgane vom Vagus,
dann von beiden Arten der Fasern des Sympathicus, weiterhin von verschie-
denen, getrennt verlaufenden cerebrospinalen Nerven, und zugleich durch sym-
pathische Fasern, die in Begleitung des Blutgefässes in die Organe eintre-
ten — versorgt. Ferner finden sich überall, selbst ganz nahe zu den
Nervenendigungen zerstreute sympathische Ganglienzellen, welche nach Tren-
nung von den übrigen Nervencentren, wie das das ausgeschnittene Herz,
ausgeschnittene Darmstücke etc. zeigen, scheinbar die normale Innervation
erhalten können. Immerhin ist aber diese Innervation nicht genügend,
dies zeigen sowohl Thierexperimente, wie Beobachtungen an Menschen. Un-
erklärt ist bisher die scheinbar entgegengesetzte Art der Wirkung des Va-
gus- und Sympathicusreizes in den Brust- und Bauchorganen, wie bekannt
scheint der Vagusreiz hemmend auf die Herzaction, beschleunigend hingegen
auf die Darmbewegungen zu sein, während die physiologischen Versuche
das Gegentheil als das Resultat der Sympathicusreizung beweisen, doch ist
das Verhältnis nicht so einfach und hängt von manchen anderen Umstän-
den noch ab. Theoretisch würde also einer Sympathicusaffection eine Ver-
änderung in der Motilität (mechanische Function) der einzelnen Eingeweide
(bei Lähmung verminderte Frequenz des Herzschlages, erhöhte Darmperi-
staltik) in erster Reihe entsprechen; ferner aber lehren weitere Versuche,
dass die chemischen Functionen der Eingeweide auch unter Nerveneinfluss
stehen, und dass hiebei dem Sympathicus auch eine Rolle zufällt. Leider
sind bisher in dieser Richtung noch keine genügende Untersuchungen an-
gestellt worden. Sowenig aber typische Lähmungserscheinungen in diesem
Bezirk des sympatischen Nervensystems zur Beobachtung kommen, so zwingen
uns doch die klinischen Erfahrungen in manchen Zuständen zu der Annahme,
dass die Ursache der Erscheinungen in fehlerhafter Function des vegetativen
Nervensystems liegt, man bezeichnet diese Symptome als vasomotorische, tro-
phische Neurosen.
Noch unsicherer sind unsere Kenntnisse über die Störungen der
Extremitätenzweige des Sympathicus, es sind zwar Fälle be-
schrieben, in welchen eine Geschwulstbildung im Bereiche der sympathischen
Nervenzweige, die Annahme einer Lähmung derselben wahrscheinlich machte,
dabei zeigte sich ein auf die betroffene Extremität beschränktes Oedem; doch
wenn man bedenkt, dass der Sympathicus in Begleitung der Gefässe verläuft,
und dass in Thierexperimenten solche Oedeme nur bei gleichzeitiger Ligatur
der grösseren Venen sich einstellten: so scheint es wahrscheinlich, dass in
diesen Fällen auch der Abfluss des Blutes behindert war. In dem Fall von
Lewinski waren auch geringere Temperaturdifferenzen vorhanden im Ver-
gleich zur gesunden Seite (was vielleicht auch dem gestörten Blutabfluss zu-
geschrieben werden könnte). " Noch weniger hat man sich bis jetzt bekümmert
um die Pathologie der Kopfganglien und des Kopfgeflechtes.
Früher hatte man eine lange Reihe der Nervenkrankheiten in das
Capitel der Sympathicusläsionen eingereiht (so die Migraine, Cardialgie, An-
gina iJectoris^ symmetr. Gangrän, HemiatrojjJiia facialis, Hydrops intermittens
karticul, Erythromelalgie, Akromegalie, traumatische Neurosen, Basedow^ sehe Krank-
heit, Vitiligo, Tetanus, Wuth, Hysterie, E^nlepsie etc.), doch ohne jeden, oder
ohne genügenden Beweis. Namentlich ist Migraine weder bei Lähmungs-,
noch bei Reizerscheinungen des Halssympathicus beobachtet worden. Die
Empfindlichkeit des N. splanchnicus rührt einfach von den beigesellten spi-
nalen Fasern her.
SYRINGOMYELIE. 557
Als Aetiologie der Sympathicusläsionen ist heute kaum etwas anderes
als Trauma bekannt, sei es dass von Aussen stammende Verwundungen die
Continuitilt dieser Nerven zerstörten, sei es, dass Neubildungen (besonders
Struma) durch Druck, oder Uebergreifen der Tuberculose von den Lungen
den Nerv beschcädigten.
Die Prognose scheint insoferne ungünstig zu sein (abgesehen von der
verursachenden Läsion), da auch einfache, scharfe Continuitätstrennungen,
welche bei peripheren Nerven gewöhnlich gut heilen — hier, wie es scheint,
ganz unheilbar bleiben. Die Lähmung des einen Halssympathicus gefährdet
aber weder das Leben, noch verursacht sie ernstere Unannehmlichkeiten.
Die Therapie der Sympathicuskrankheiten weicht nicht von der Be-
handlung anderer peripherer Nervenläsionen ab, doch scheint hier selbst eine
sorgfältig durchgeführte Cur nur wenig Resultat aufweisen zu können.
ERNST JENDRASSIK.
Syringomyelie. Der Ausdruck „Syringomyelie" bedeutet etymologisch
ein hohles liückenmark {aopi-^i = Röhre) und stammt von Ollivier (1837)
her, der ihn für jedes Fortbestehen des Centralcanales im Rückenmarke er-
wachsener Personen gebrauchte. Es gehörte nämlich zu jener Zeit die
Existenz einer persistirenden Centralhöhle im Rückenmarke zu den wissen-
schaftlichen Streitfragen, trotzdem das Vorhandensein desselben von Etienne
auf das eifrigste vertheidigt wurde. Ein Canal, äusserte sich Calmeil im
Jahre 1828, könne nur dann im Innern des Rückenmarkes bestehen, w^enn
das MeduUarrohr sich embryonal nur an seinen freien Rändern schliesse, nicht
aber in der Mitte.
Als Stilling (1859) die Existenz einer physiologischen, mit Epithel bekleideten
Centralhöhle nachwies und hiedurch die Hypothese förderte, dass die pathologisch weiten
Höhlen nicht Folge des fehlerhaften Schlusses des Centralcanals, sondern aus der abnormen
Erweiterung des letzteren hervorginge, fing man allmälig an unter dem. Einfluss Roki-
tajmsky's, VValdeyer's und Virchow's den pathologischen Höhlenbildungen mehr Auf-
merksamkeit zu schenken. Schon im Jahre 1875 konnte Simon auf ein grosses Material
gestützt, eine strenge Trennung durchführen zwischen der Hydromyelie und Syringomyelie :
unter ersterer soll nach ihm jede abnorme Erweiterung des Centralcanales, unter letzterer
Rückenraarkshöhlen, die neben und unabhängig vom Centralcanale bestehen, verstanden
werden.
In den siebziger Jahren wurde vorwiegend die pathologisch-anatomische und patho-
genetische Seite der Krankheit studirt, wie die klassischen Studien von Hallopeau, Lockhard,
Clarke. Simon, Westphal, Leyden, Schultze, Roth, Kahler, Pick, Charcot und Joffroy
beweisen. Dieser Periode verdanken wir die grundlegenden Theorien über den Bau und
die Entstehung der pathologischen Höhlen: die Theorie der sogenannten periependymären
Myelitis, der der gliomatösen gefässreichen Rückenmarksneubildung, die der angeborenen
Rückenmarksanomalien. Für die Klinik schien aus den sehr spärlichen casuistischen Mit-
theilungen jenes Zeitabschnittes nur soviel hervorzugehen, dass hinter diffusen Sensibilitäts-
und trophischen Störungen der oberen Extremitäten eine Syringomyelie verborgen sein
könne.
Die wirklich klinische Periode beginnt erst mit den Jahren 1882 — 1885, als
Fr. Schultze und Kahler, beide unabhängig von einander, die Cardinalsymptome der
Krankheit aus dem Heer von Erscheinungen hervorzuheben und dadurch die Diagnose des
Leidens im Leben zu ermöglichen suchten. Ihr Verdienst ist es ohne Zweifel auf das
constante Zusammentreffen der charakteristischen Muskelatrophien und der von Schultze
genau studirten pathognomonischen Empfindungslähmung hingewiesen zu haben. Die spä-
teren Arbeiten konnten die ersten Angaben der genannten Autoren in jeder Hinsicht bestäti-
gen. Die Zahl der Beobachtungen häufte sich rasch in unglaublichem Maasse und es
gelang bei genauerem Nachforschen mehrere typische, klinisch richtig beschriebene aber
falsch gedeutete Fälle von Syringomyelie schon bei Aran, Duchenne, Romberg, Erb u. A.,
pathologisch-anatomische Daten über dieselbe sogar schon bei Brünner (1688) und Mor-
gagni (1740) — zu einer Zeit, wo nicht allzu oft vollständige Autopsien vorgenommen
wurden, — aufzufinden. Im letzten Jahrzehnt wurde sowohl die Symptomatologie als die
pathologische Anatomie dieses relativ häufigen Rückenmarksleidens bedeutend erweitert
und vervollkommnet und der genetische Zusammenhang zwischen derselben und mehreren
anderen, scheinbar ganz fernstehenden Krankheitsgruppen auf's genaueste studirt (MoR-
558 SYRINGOMYELIE.
XAjfi^ sclie Krankheit, Lepra, progressive MushelatropUie, Raynaud 'sc/^e Krankheit, Sklero-
dactylie, Sklerodermie, Akromegalie, Haematomyelie u. A.). ^)
Pathologische Anatomie. Bei äusserer Betrachtung erscheint das
syringomyelische Rückenmark entweder gar nicht verändert oder auffallend
plattgedrückt und bandartig. Besonders fällt die manchmal tief eingesunkene
vordere Fissur auf, seltener die Verkleinerung des Rückenmarkes in allen
Durchmessern. Erreicht die Höhle einen bedeutenden Umfang, so sieht man
bei Bewegung der nicht eröffneten Medulla Fluctuationswellen an derselben
ablaufen und hat bei der Palpation gleichzeitig das Gefühl der ausgesprochenen
Fluctuation. Bei intramedullären Gliomen mit Höhlen ist das Rückenmark
häufig geschwollen und gleichförmig oder auch spindelförmig verdickt, die
Consistenz bald eine recht beträchtliche, bald ist die Geschwulstmasse ganz
weich oder fluctuirend.
Das Bild, das sich dem Untersuchenden auf dem Durchschnitt
repräsentirt, ist bei verschiedenen Rückenmarken sehr verschieden und kann
bei demselben Individuum in verschiedenen Höhen sehr bedeutsam wechseln.
In dem einen Falle findet man eine äusserst stark entwickelte, mit klarer
Flüssigkeit gefüllte Höhle, die im Gebiet der Halsanschwellung ihr Maximum
erreicht, nach oben und unten zu sich spindelförmig verschmälert, jedoch von
der Rautengrube der Medulla bis zum Sacralende des Rückenmarkes mit dem
unbewaffneten Auge gut sichtbar ist. In dem anderen Falle bleibt der Canal
nur auf einen kurzen Abschnitt beschränkt und wechselt seinen Umfang von
der Dicke eines starken Gänsefederkieles oder einer Fingerkuppe bis zur
Dicke einer feinen Nadelspitze. In der Mehrzahl der Fälle ist jedoch die
Höhle klein und macht den Eindruck eines in die Quere und besonders nach
hinten hin erweiterten Centralcanals.
Die auf dem Querschnitte meist elliptische oder halbmondförmige Höhle
streckt sich weit gegen die fissura longitudinalis posterior hinein und drängt
die median gelegenen Abschnitte der Hinterstränge, ohne sie anzugreifen,
mehr oder minder auseinander. Die Höhle ist ringsum durch eine überall
gleich dicke, homogen aussehende, zellarme und vorwiegend aus parallel
verlaufenden Fasern zusammengesetzte Wandung umgeben, welche innen
einen, meist nicht vollständig erhaltenen Epithelsaum trägt. Solch' eine
Höhle ist in der Regel als ein Zeichen embryonaler Entwicklungsanomalien,
als ein beim Schluss der Medullarplatte zu weit gebliebener Centralcanal
aufzufassen. Wenigstens spricht dafür sowohl das Epithel der Wandung als
die Gestalt der Höhle, wie sie foetal stets anzutreffen ist. In der unmittel-
baren Nähe der Höhle liegen oft zu hunderten in einem Querschnitte Zellen,
welche sowohl nach ihrer Structur als nach den tinctoriellen Fähigkeiten
grosse Aehnlichkeit mit den den Centralcanal zusammensetzenden Ependym-
zellen besitzen. Nicht selten sind neben der Centralhöhle diverticuläre,
ebenfalls erweiterte Fortsätze derselben zu finden, die parallel der
Mutterhöhle verlaufen und auf verschiedenen Höhen verschieden ausgebildet
sein können (oval, kreisrund, viereckig, spalt-, stern- und sanduhrförmig).
Entsendet der Centralcanal schief nach auf- oder abwärts verlaufende
Divertikel, so zeigt ein Querschnitt, welcher den bereits räumlich von seinen
Divertikeln geschiedenen Canal, sowie erstere trifft, einen anscheinend doppelten
oder mehrfachen Centralcanal. Ein von vornherein doppelt angelegter Central-
canal ist eine ziemlich seltene Erscheinung. Die geschilderte Dilatation des
Centralcanals — Hydromyelus — combinirt sich gelegentlich mit patho-
logischer Erweiterung der Hirnventrikel — Hydrocephalus internus.
') Als bekannteste und erschöpfende Monographien über die Syringomyehe aus dem
letzten Decennium sind zu nennen die von A. Bäumler (1887), R. VVichmann (1887),
W. Roth (1887, 1890), E. Brühl (1889, 1890), J. Hoffmakn (1891, 1892) und H. Schlesinger
(1895). In der letzteren ist auch sämmtliche Literatur zusammengestellt.
SYRINGOMYELIE. 559
In einer weiteren Reihe von Fällen findet man auf dem Querschnitte
den Centralcanal nicht erweitert, dagegen in weiterer Ausdehnung eine
intensive Wucherung der Neuroglia der grauen Substanz: Gliosis. Die
Wucherung des Gliagewebes beginnt fast stets in der Gegend des Central-
canals, sie ist in der Regel sehr kernreich und vernichtet das normale
Nervengewebe völlig. Nimmt das neugebildete, derbe Gewebe eine um-
schriebene, in der Länge gezogene centrale Strecke ein, so pflegt man diesen
Process als periependymäre Sklerose zu benennen. Die nach dem
Centrum hin gelegenen Kuppen der GoLL'schen Stränge werden gewöhnlich
von dem neugebildeten Gewebe zerstört, wobei die Grenze zwischen dem
normalen und pathologischen Gewebe eine sehr scharfe bleiben kann. Im
weiteren Verlaufe des Krankheitsprocesses zerstört das neugebildete Gewebe
nicht blos die periependymäre Region, sondern greift die excentrisch ge-
lagerten Rückenmarkstheile an, besonders die Hinterhörner, die hintere
Commissur und den Hinterstrang einer oder beider Seiten und erreicht zu-
weilen die Rückenmarkshäute. In extremen Fällen ist die graue Substanz
bis auf kleine Reste der Yorderhörner zerstört und der weisse Markmantel
nur zum Theil erhalten. Die durch den Verfall des pathologischen Gliagewe-
bes entstehenden Höhlen stellen die eigentliche Syringomyelie dar. Der
Querdurchmesser derartiger Höhlen kann bis 12 mm und darüber betragen,
der sagittale 3 — 5 mm in maximo (Schlesinger).
Hie und da entstehen durch Zerfall von pathologischem, gliösem Gewebe
mehrere, zum Theil mit einander communicirende, zum Theil durch Scheide-
wände von einander getrennte Höhlen, die kein Epithel tragen (Hoffmaxx)
und mit dem hydromyelisch erweiterten Centralcanal Nichts gemeinsames
besitzen. Zuweilen sind die in der Längsrichtung des Rückenmarkes sehr
erheblich ausgedehnten Höhlen plötzlich durch einen festen Gliastreifen ab-
geschlossen, um erst mehrere Centimeter höher oder tiefer neuerlich im
Querschnitte zu erscheinen. Der Centralcanal liegt entweder seitlich und
vor der Höhle oder ist im allgemeinen Zerfallsprocess aufgegangen.
In vereinzelten Fällen sind in einem Rückenmarke vereinigt: Hydro-
myelie leichten Grades, periependymäre Sklerose und excentrische Rücken-
niarksgliose mit consecutiver Höhlenbildung (Syringomyelie).
Von den meisten Autoren wird mit Recht neben der Gliose noch eine
Gliomatose unterschieden, bei der der Tumorcharakter des Gewebes schon
makroskopisch scharf hervortritt.
ScHULTZE, dem wir die Einführung dieser Terminologie verdanken, will
zur Gliose nur diejenigen Fälle gezählt wissen, wo die Nervenelemente unter
dem Einfluss der diffusen Hyperplasie der Neuroglia allmälig zu Grunde
gehen, ohne räumlich verschoben zu werden, zur Gliomatose dagegen —
Fälle, wo die intensiv wuchernde Glia mehr oder minder umfangreiche Herde
bildet, die normale Nervensubstanz en masse verschiebt und den fort-
schreitenden Schwund der Nervenelemente veranlasst. Von der gewöhnlichen
Sklerose sollen sich die Gliose und Gliomatose in mehrfacher Hinsicht be-
deutend unterscheiden: bei jener soll die Hyperplasie der Neurogliafasern,
bei diesen die der Neurogliazellen überwiegen; bei jener sollen constant
Amyloidkörperchen anzutreffen sein, bei dieser Tendenz zur Nekrobiose und
zur Höhlenbildung.
Auf den extremen Stufen der Intensität sei nach Schultze die Glio-
matose mit dem Gliom ganz identisch. Solches, bald rundlich oder oval er-
scheinendes, bald sehr unregelmässig sich gestaltendes Gliom afficirt ebenfalls
hauptsächlich die graue Substanz, wächst ebenfalls in die Länge, das Rücken-
mark wird jedoch bei ihm in der Regel viel voluminöser als bei der Gliose,
da das Wachsthum desselben bedeutend rascher vor sich geht, dagegen Er-
weichungen, Einschmelzungen und Blutungen sich relativ spät einstellen.
560 SYRINGOMYELIE.
Die Neiibiklimg kann gelegentlich auch auf die graue Substanz einer Seite,
selbst auf ein Hinterhorn beschränkt sein und dieses auf eine lange Strecke
seines Verlaufes in Geschwulstgewebe verwandeln. Bei dem echten Gliom
ist die ganze Structur des Rückenmarkes mehr minder verwischt oder voll-
ständig verschwunden und ein grauröthliches Gewebe nimmt das Centrum
des Querschnittes ein. Die Neubildung grenzt nirgends vollkommen scharf
ab, sondern es dringen ganze Zapfen derselben in die umgebende Nerven-
substanz ein.
Die langgestreckten Gliome sind meist gefässreiche Spinnenzellengliome,
seltener Mischformen mit anderen Geschwulstarten (Myxo- oder Neurogliom,
Gliosarcom). Hie und da tritt das Gliagewebe derart zurück, dass man von
heterotoper Rückenmarksgeschwulst mit Höhlenbildung sprechen kann (Spindel-
zellensarcom, Angiosarcom). Ein Uebergang von Gliawucherung in Gliom
wird nur ausnahmsweise beobachtet.
Für alle Abarten der Hydro- und Syringomyelie gilt beinahe als Regel,
dass der pathologische Process central im Rückenmarke Inder
Gegend des Centralcanals oder hinter ihm sich localisirt und
von da aus auf die angrenzende graue Substanz und dann auf
die weissen Bahnen überschreitet, den unteren Abschnitt des
Halsmarkes und den oberen des Dorsalmarkes bevorzugend.
Weshalb die Hinterhörner und die hintere graue Commissur häufiger und
intensiver vom Krankheitsprocess afficirt werden, die vordere Commissur da-
gegen beinahe constant intact bleibt, weshalb die Höhle dem Verlauf des
Septum posticum häufig folgt, weshalb die blosse oder vorwiegende Affection
der Lumbalintumescenz zu den Seltenheiten gehört, ist nicht mit Bestimmt-
heit definitiv zu entscheiden.
Das mikroskopische Bild des syringomyelischen Rückenmarkes ist folgendes.
Der mehr centrale, im Zerfallen begriffene Theil des gliösen Gewebes ist meist äusserst
zellarm, während der periphere, gefässreiche, im Fortschreiten begriffene Theil, gewöhnlich
reich an Kernen und Gliazellen ist. Im allgemeinen ist das Gewebe als hyperplastische
Nearoglia zu betrachten mit ihren langen und feinen, in verschiedenen Richtungen sich
durchkreuzenden Fasern, an deren Knotenpunkten sich äusserst protoplasmaarme Zellen
finden. Zwischen den Fasern sind in variabler Menge abgerundete, polyedrische, pyramidale
und sogenannte Spinnenzellen zerstreut. Neben der Hyperplasie der Neuroglia ist Hyper-
trophie derselben gelegentlich vorhanden, die sich darin äussert, dass die einzelnen
Fibrillen das 5-fache des normalen Volumens erreichen. Je nachdem die Gewebselemente
mehr oder weniger dicht aneinander gedrängt sind, sprechen manche Autoren von Gliom
und Gliose, respective Gliomatose. Amyloide und Celloidkörperchen sind in der wuchernden
Neuroglia nicht nachzuweisen.
Das gliöse Gewebe kann an verschiedenen Stellen, gleichzeitig und unabhängig von
einander, hyalin oder gelatinös degeneriren und zerfallen und zu pathologischen Höhlen
führen, die einen trüben, dünnflüssigen, durch veränderten Blutfarbstoff schwach tingirten
Inhalt beherbergen. Die Höhle ist regelmässig von einer scheinbar homogenen Wand um-
geben, die feine, fibrilläre Structur aufweist. Der normale oder hydromyelisch erweiterte
und verdrängte Centralcanal ist meist durch eine Brücke nervösen Gewebes von der
gliösen Neubildung getrennt. Greift der Zerfallsprocess diese Brücke an, so kann der
Centralcanal mit seinen embryonal vorgebildeten, durch starke Wucherung alterirten
Divertikeln, respective mit den pathologischen, intrauterin nicht vorgebildeten Höhlen in
directe Communication treten. Die Wand ist entweder glatt, oder von warzenartigen Vor-
sprüngen besetzt und von abgeschuppten Epithelzellen und flottirenden Fäden, resistenten
Resten des aufgelösten Gewebes durchzogen. Das angrenzende Gewebe leidet unter dem
Druck der Neubildung, durch collaterale Oedeme, durch Blutungen und durch secundär
eintretende Entzündungsprocesse. Als Vorläufer der sich ausbildenden Höhlen findet man
zwischen der wuchernden Neuroglia Herde beginnender Nekrobiose, frische Ekchymosen
und Exsudate längs der Gefässe.
Bei der reinen Hydromyelie sind die nervösen Elemente einfach räum-
lich verschoben, erhalten ihre normale Form und können bis ins spätere Lebensalter
normal functioniren.
In sehr vielen Fällen ist die Abgrenzung der Hydro- von Syringomyelie,
der Gliose von Gliomatose auf pathologisch-anatomischem Wege kaum streng durchzu-
führen.
SYRINGOMYELIE. 561
Was die einzelnen lUickenmarkssäulen betrifft, so ist zu
merken, dass in den vorgeschrittenen zur Autopsie gelangten Fällen (97 von
AxNA Baumlek zusammengestellte Beobachtungen) relativ am hcäuligsten die
Hinterhörner (32), die Vorderhörner (24) und die Hinterstränge, seltener die
Seitenstränge und nur ausnahmsweise die mit den CLAiüvE'schen Fäulen in
intimem Zusammenhange stehenden Kleinhirnseitenstrangbahnen betroffen
waren. Von den häufig, schwer und frühzeitig in Mitleidenschaft gezogenen
Hintersträngen sollen von der Gliose besonders stark drei bestimmte Stellen
afficirt werden (Schlesingek): die an die graue Commissur angrenzenden
Kuppen des Hinterstranges (ventrales Hinterstrangsfeld (Flechsig's), die dem
hinteren Septum anliegenden Theile der GoLL'schen Stränge (ovales Feld
Flechsigs) und eine zwischen dem Funiculus gracilis und cuneatus lie-
gende Zone (kommaförmiges Feld Sciiultze's). Sowohl die Wurzeleintritts-
zone als die hinteren Wurzeln bleiben in der Regel intact. Sind sie dagegen
ausnahmsweise betroffen, so lässt sich meist eine gleichzeitig bestehende
Tabes nachweisen (Eisenlohe, Nonne, Redlich, Schlesinger, Oppenheim),
wobei die centrale Gliose von der tabetischen Hinterstrangssklerose ausgehen
event. durch dieselbe in ihren Rückbildungsvorgängen stark beeinÜusst
werden mag.
Weniger gekannt ist die gliose Affection in der Medulla oblongata
und dem Cerebrum. Sie ist entweder secundärer Katur, aufsteigende Dege-
neration vom Rückenmarke aus (Degeneration der aufsteigenden Trigeminus-
wurzel, des Corpus restiforme, der Schleife,) oder direct von Propagation der
gliösen Wucherung, resp. der gliomatösen Geschwulst auf das verlängerte
Mark abhängig. Im letzteren Falle kann beinahe der halbe Querschnitt von
den wuchernden Massen zerstört und durch eine Höhle ersetzt sein, wobei
selbstverständlich der grösste Theil der motorischen und sensiblen Nerven-
kerne, seltener die weisse Substanz stark lädirt sind.
Sehr intensive Veränderungen findet man au den innerhalb des gliösen
Gewebes reichlich vorhandenen Gefässen. Sie sind oft geschlängelt, stark
verdickt, manchmal thrombosirt oder obliterirt. Die Adventitia ist stark ver-
dickt, concentrisch gestreift, zuweilen structurlos, die Media homogen,
glasig. Am wenigsten verändert ist die Intima. Gelegentlich kommt es zur
Ruptur der hyalin degenerirten Wandungen mit nachträglichen Haemorrhagien.
Sehr gefässreiche Gliomatösen zählen manche Autoren (Simon) zum Glioma
teleangiectaticum.
Chronische, meningitische und myelitische Veränderungen mit auf- und
absteigenden Degenerationen sind in den späteren Stadien der Syringomyelie regelmässig zu
finden, besonders oft die cervicale, hypertrophische Pachymeningitis. Veränderungen, die
man gelegentlich an den peripheren motorischen und sensiblen Hautnerven, resp. an den
Spinalganglien und den hinteren Rückenmarkswurzeln trifft, dürfen, insofern sie nicht ta-
betischer oder meningitischer Natur sind, als secundäre, vom Rückenmarksprocesse abhän-
gende aufgefasst werden.
Das Verhalten der afficirten Muskulatur ist bei der Gliose wenig charakteristisch:
die Muskelfaser ist hochgradig atrophisch, dünn und zeigt neben deutlicher Querstreifung
eine leichte Zunahme der Kerne; vereinzelte hypertrophische Fasern sind ebenso selten, wie
leere Sarcolemmaschläuche wahrzunehmen. Das Fettgewebe ist normal, das intermuskuläre
Bindegewebe ist leicht gewuchert, die Gefässe sind von normalem Kaliber, von gewöhn-
licher Zahl und ohne Zeichen eines entzündlichen Processes, die intramuskulären Nerven
sind zuweilen stark atrophisch.
Pathogenese. Ueber die Entstehungsursache der gliösen Neubildung
und der Höhlen im Rückenmark gehen zur Zeit die Meinungen einzelner
Autoren sehr auseinander. Als bekannteste Theorien sind die Leyden-
ViRCHOw'sche und die GRiMM-SiMON'sche. Die erstere fand einen besonders
eifrigen Vertheidiger in Kahler, für die zweite trat sehr energisch
Schultze ein.
Lryden lässt die Syringomyelie aus der Hydromyelie hervorgehen, indem
er die bei Erwachsenen gefundenen Syringomyelien als pathologisch moditicirte
Bibl. med. Wissen Schäften. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 36
562 SYRINGOMYELIE.
Ueberbleibsel eines angeborenen Hydromyelus auffasst. In der Mehrzahl der
Fälle entwickelt sich, nach Kahler, um den congenital erweiterten Canal ein,
der gewöhnlichen Sklerose des Centralnervensystems provisorisch anzureihender
chronisch-entzündlicher Process. Das Verharren des Centralcanals auf einer
fötalen Entwicklungsstufe, in welcher er einen Fortsatz nach hinten sendet.
Abschnürungen dieses Divertikels u. dgl. congenitale Entwicklungsanomalien
aufweist, bilden aus dem Ptückenmarke geradezu ein locus minoris resis-
tentiae für verschiedene gliöse Processe pathologischer Natur.
Grimm und Simon wollen das Primäre in einer centralen Gliose oder
Gliomatose des Rückenmarkes sehen: durch Zerfall dieser, dem Gliom nahe-
stehenden Neubildung sollen Höhlen und Spalträume erst später hinzukommen.
Es seien nach Schultze keineswegs nothwendig die vorgebildeten Dilatationen
des Centralcanals oder irgend welche andere Entwicklungsanomalie: die Gliose
könne sehr gut ohne dieselben von der periependymären centralen Nerven-
substanz, von den Hinterhörnern, von der Substantia gelatinosa ßolandi oder
sogar von der Grundsubstanz der weissen Stränge ausgehen. Die nach ihm
vom Gliome nur quantitativ verschiedene Gliose unterscheide sich einzig und
allein durch den grossen Zellreichthum und die Neigung zu Verdrängungs-
erscheinungen von der gewöhnlichen Sklerose. Bei der letzteren fehlt auch
gänzlich die Tendenz zur Necrobiose und Höhlenbildung. Die langgestreckte
Form der centralen Gliose sei dadurch zu erklären, dass das Ependym als
Matrix derselben dient.
Hoffmann suchte späterhin, im Anschluss an Miura, die primäre cen-
trale Gliose Schultzens von der geschwulstartigen centralen Gliomatose zu
trennen. Beide sollen seiner Meinung nach zu Syringomyelie führen können,
jedoch sei nur die erstere regelmässig an congenitale Entwicklungsanomalien
des Centralcanals gebunden.
Weigert, auf seine neue Methode der electiven Neurogliafärbung ge-
stützt, sucht ebenfalls eine strenge Grenze zwischen der Gliose und dem Gliom
durchzuführen; erstere stelle eine pathologische Vermehrung der Gliafasern,
das letztere eine Vermehrung der Gliaz eilen — der echten DEiTERs'schen
Zellen — dar; der Unterschied gleiche hier der Differenz zwischen einer ent-
zündlichen Bindegewebswucherung event. Fibrom und einem Sarcom. Die
Unkenntnis der Thatsache der reichlichen Entwickelung der Neuroglia in der
Umgebung des Centralkanals habe zur Verwirrung in der Lehre von Syrin-
gomyelie geführt. Bei der letzteren kann sogar die Neurogliafaserung um
den Centralkanal vermindert sein, umgekehrt findet man eine reichliche Ver-
mehrung derselben — Gliose — bei multipler Sclerose.
Schlesinger will zwischen Hydromyelie und Syringomyelie keinen prin-
cipiellen Unterschied sehen, indem er auf Grund des Studiums von Serien-
schnitten die Mehrzahl der Fälle als Misch- und Uebergangsformen betrachtet.
Sowohl die mit excessiver Gliawucherung einhergehenden, als auch mit
completer Cylinderepithelauskleidung versehenen Höhlen bilden anatomisch
eine Ptcihe, an deren einem Ende die vollständig mit Epithel ausgekleidete
Hydromyelie, an dem anderen die nur mit Bindegewebe und Glia umgebene
Syringomyelie steht. Die Glianeubildung nimmt ihren Ausgangspunkt stets
von Centralcanalepithelien oder den unmittelbaren Abkömmlingen derselben,
entweder vom Centrum des Rückenmarkes oder vom Centrum weit weg lie-
genden Partien des Rückenmarkes, in welchen aber Centralcanalelemente
vorhanden sind.
In Rückenmarken, in welchen sich zur Gliose später Syringomyelie hin-
zugesellt, sollen in der Regel Anomalien des Centralcanals bestehen, die sich
anatomisch in verschiedener Weise kundzugeben pflegen: als einfache Er-
weiterung des Centralcanals (partielle oder totale Hydromyelie), als einfache
SYRINGOMYELIE. 563
oder multiple Divertikelbildung, als Duplicatur des Canals mit Verlagerung
desselben nach hinten in die graue, zuweilen auch in die weisse Substanz.
Schlesinger will den regelmässig in einiger Erlernung von der Neu-
bildung zu findenden Getassanomalien eine der centralen Gliose coordinirte
Rolle beimessen und dieselben für den Einschmelzungeprocess und die conse-
cutive Höhlenbildung verantwortlich machen.
JoFFROY und Achard huldigen den alten Ansichten von Ollivieu (;; cen-
trale Myelitis") und von PIallopeau („periependymäre Sklerose"), indem sie
die Bezeichnung „Gliose" für unrichtig halten und an dessen Stelle chronische
interstitielle diffuse Myelitis zu setzen suchen. Die Entzündung ziehe be-
sonders schwer in Mitleidenschaft die Neuroglia, Ependymzellen und Gefässe
der grauen Substanz. Nach Maassgabe der Obliteration der Gefässe ent-
wickeln sich necrobiotische Herde, die allmälig zur Resorption gelangen und
auf dieser Weise zur Cystenbildung Veranlassung geben („Myelite cavi-
taire"). Die Grenzmembran der Höhle ist als Terminaläsion, gleichsam als
Narbe aufzufassen. Neuerdings haben sich manche Neurologen dieser Ansicht
angeschlossen (Müller, Meder), indem sie die Gefässveränderungen als pri-
märe, selbständige Erscheinung, ,die in vielen Fällen spärlich vorhandene
Gliawucherung als secundären, nicht immer nachweisbaren Regenerations-
vorgang auffassen.
Berücksichtigt man die Thatsachen, dass die hauptsächliche Gewebs-
alteration bei der Syringomyelie die graue, an Gefässen sehr reiche Substanz
betrifft; dass intensive Circulationsstörungen (Unterbindung der Aorta abdo-
minalis) zunächst und am stärksten in der grauen Substanz sich kundgeben;
dass das Bild der traumatischen centralen Hämatomyelie in allen Einzelheiten
mit dem der Syringomyelie übereinstimmen kann; dass die Propagation des
gliösen Processes im Bulbus gewöhnlich in der Richtung des Gefässverlaufes
geschieht und dass die Höhle dasjenige laterale Gebiet der Oblongata vorzuziehen
pflegt, wo gewöhnlich Blutungen und Thrombosen stattfinden (acute Bulbär-
paralyse) ; dass die relativ häufigen Lepto- und Pachymeningitiden der Syringo-
myeliker kaum anders als durch Gefässläsionen bedingt sein können; dass
schliesslich unzweifelhafte Fälle von Syringomyelie vorkommen, wo die Gliose
gegen die starken Gefässdegenerationen ganz zurücktritt, — so muss man
ohne Weiteres zugeben, dass für eine nicht unbedeutende Zahl von Rücken-
markshöhlen die vasculäre Theorie durchaus zutrifft.
Ein vermittelndes Glied zwischen den besprochenen Grundhypothesen
bildet die Annahme derjenigen Autoren, die als Grundlage des Processes Nester
von Gliazellen auffassen, welche in der Umgebung des Centralcanals resp.
in der hinteren Schliessungslinie aus der Foetalzeit liegen geblieben sind und
die Tendenz besitzen, spontan oder durch irgend einen Reiz (Trauma) ange-
regt zu wuchern und durch Vermehrung jene langgestreckten Geschwülste
zu bilden. Die bei der periependymären Sklerose central gelegene Höhle ist
in der Regel der erweiterte Oentralcanal, jede andere, excentrisch gelagerte
Höhle ist entweder durch Zerfall der Neubildung entstanden oder ist als ein
foelal abgeschnürter, dilatirter Divertikel zu betrachten. Die Höhlen, welche
in dem stark deformirten Rückenmarke liegen, brauchen mit dem oft in der
Neubildung völlig aufgegangenen Oentralcanal in gar keiner Beziehung zu
stehen, sondern können das Product centraler Einschmelzungsprocesse sein,
die ihrerseits durch chronische Unterernährung des central gelegenen Ge-
schwulstgewebes oder auch in Folge gänzlicher Absperrung des Blutzuflusses
eingeleitet werden.
Am meisten Widerspruch hat die Stauungshypothese von Langhans her-
vorgerufen, die, eine Saftströmung von der Medulla spinalis zur Schädelhöhle
supponirend, die Syringomyelie als Folge gesteigerten Druckes in der hinteren
Schädelgrube auffasst. Gegen diese Hypothese spricht jedoch die Thatsache,
36*
564 SYRINGOMYELIE.
dass weder bei von Kindheit an bestehenden Scoliosen noch bei Tumoren im
Wirbelcanale resp. in der hinteren Schädelgrube Syringomyelien regelmässig
gefunden werden. Viel richtiger ist die auf Experimente und klinische
Beobachtungen gestützte Ansicht Kkonthal's, derzufolge eine massige Er-
weiterung des Centralcanals, die durch Wucherung des Epithels zur Syringo-
myelie führen kann, oberhalb der comprimirten Stelle sich findet. Jedenfalls
sind die Stauungshypothesen von vornherein nur für eine geringe Gruppe von
Fällen berechnet.
Dasselbe lässt sich von der Syringomyelie, die im Anschluss an Traum en
der Wirbelsäule sich entwickelt, sagen. Will man nicht die sehr nahe liegende
Vermuthung aussprechen, es bestände eine latente Syringomyelie resp. eine
Entwickelungsanomalie schon vor dem Trauma, so muss man selbstverständlich
eine traumatische Blutung mit Zerstörung des Nervengewebes annehmen. Dass
acute, centrale Hämatomyelien (Minor) und Röhrenblutungen klinisch das Bild
der Syringomyelie liefern können, unterliegt keinem Zweifel. Unverständlich
bliebe nur einerseits die Brüchigkeit der Gefässwand und andererseits der
üebergang eines acuten Processes in ein par excellence chronisches Leiden.
Noch weniger durchsichtig sind diejenigen Fälle, wo Rückenmarksgliose
im Anschluss an eine periphere Verletzung — Arm, Bein — zur Entwicke-
lung gelangt.
Ganz neu und vorderhand noch nicht nachgeprüft sind die interessanten
Angaben und die daran geknüpften Schlussfolgerungen Schultze's über die
Beziehungen zwischen der angeborenen Haeraatomyelie und den Spaltbildungen
bei Dystokien einerseits, resp. der Syringomyelie andererseits. Schultze weist
auf ein bis dahin nicht berücksichtigtes, dennoch ganz wahrscheinliches
Moment für die erste Entstehung der Syringomyelie: die intra partum, be-.
sonders bei schweren, protrahirten und Zangengeburten stattfindenden Blu-
tungen in die Rückenmarkssubstanz. Auffallender Weise gleicht die gewöhn-
liche Localisation der Syringomyelie derjenigen der Blutungen und Spalten
der Neugeborenen ganz frappant. Schultze erwähnt auch die Thatsache,
dass mit der Syringomyelie schwere intelectuelle Störungen sich zu vergesell-
schaften pflegen, woraus er weiterhin den Schluss zieht, dass für beide Sympto-
mencomplexe wahrscheinlich Blutungen als anatomisches Substrat zu beschul-
digen sind. Ueber den Mechanismus derartiger Gliosen- und Höhlenbildungen
meint er: „es könnten doch in Fällen ausgedehnter Verletzungen sehr wohl
Risse und Spalte zurückbleiben, die sich zum Ersätze des verloren gegangenen
Gewebes mit Gliazellen und Fasern umkleiden, so dass sie zum Theil offen
bleiben, oder es könnten an der Zerreissungsstelle Gliastäbe und Gliaplatten
entstehen, welche nun ihrerseits in einem Ruhezustande verharren können,
oder bei Gelegenheit weiterer Schädlichkeiten ins Wuchern gerathen, und so
zu Gliosebildung mit erneuter Spalt- oder Höhlenbildung oder gar zu aus-
geprägter Gliombildung führen. Möglicherweise könnten auch derartige Spalten
mit dem Centralcanal sofort oder später in Verbindung treten und, wie an-
genommen worden ist, sogar mit Epithelzellen von ihm aus bekleidet werden,
so dass der Anschein einer fötalen Missbildung entsteht."
Nach Redlich sei in solchen Fällen von Dystokie der Anstoss zur Höh-
lenbildung durch eine intra partum entstandene Blutung in ein Divertikel
des Centralcanals gegeben, eine Blutung, welche in Folge abnormer Druck-
verhältnisse sich röhrenförmig entlang der grauen Substanz erstrecken und
eine grössere Ausdehnung erreichen kann.
Die Pathogenese der Syringomyelie ist somit, wie man sieht, keine ein-
heitliche, da nicht jede Höhlenbildung im Rückenmarke die gleiche Bedeu-
tung und den gleichen Ursprung hat. Entwickelungsstörungen, Gefässver-
änderungen, Hämorrhagien, einfache Gliawucherung, Tumorbildung jede für
sich oder in Combination mit einander kommen beim Syringomyelus in Be-
SYßINGOMYELIE. 565
tracht. Die Hauptrolle in der Genese spielen jedoch ohne Zweifel die Ent-
wickelungsanomalien der Medulla spinalis.
Actiolog'ie. Ein directes aetiologisches Moment für das Zustandekommen
der Syringomyelie ist nur ausnahmsweise zu ermitteln. Unter den Gelege n-
h ei ts Ursachen spielt wohl die Hauptrolle das Trauma, besonders Stoss
und Sturz auf den Piücken, seltener Verletzungen einer Extremität. Zuweilen
treten die ersten Krankheitserscheinungen einige Zeit nach Ablauf acuter
Infectionskrankheiten (Typhus, Malaria, Gelenkrheumatismus, Pneu-
monie), nach Erkältung, nach Puerperien, nach vorausgegangenen
Kückenmarksblutuugen und Wirbelsäule Verkrümmungen auf Syphilis und
Alkoholismus spielen keine nennenswerthe Piolle. Ein familiäres Vorkom-
men ist nicht mit Sicherheit bewiesen.
Das männliche Geschlecht scheint doppelt so häufig be-
troffen zu werden, als das weibliche. Mehr als Sö^/o der Patienten
datiren den Beginn der Erkrankung auf das 10 — 40. Lebensjahr. Ein Beginn
nach dem 60. Lebensjahre gehört zu den grossen Seltenheiten. Weitaus am
häufigsten tritt die Erki'ankung in den 20. Jahren auf. Nach der tabella-
rischen Zusammenstellung Schlesinger's scheint beim weiblichen Geschlecht
ein später Beginn der Erkrankung ein häufigeres Vorkommnis zu sein, als
beim männlichen. Die wohlhabendere Classe soll seltener als die arbeitende
an Syringomyelie leiden. Das häufigere Heimgesuchtwerden von der Krank-
heit des männlichen Geschlechts, des jugendlichen Alters und der arbeitenden
Classen ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass dieselben mehr Insulten und
Schädlichkeiten ausgesetzt sind als das weibliche Geschlecht, das Kindes- und
Greisenalter und die wohlhabenden Classen.
Für die meisten Fälle müssen unbedingt embryonale Entwicke-
ln ngs an om allen in dem Rückenmark und zwar im Centrum desselben
vorausgesetzt werden. Die Annahme, dass die Disposition in der grossen
Mehrzahl der Fälle angeboren, der Krankheitskeim latent vorhanden ist,
schliesst eben in sich, dass die Krankheit — analog manchen Tumoren (Der-
moide) und den hereditär-familiären Myopathien und Myelopathien — durch
ein Trauma, Lues, Infectionskrankheit etc. oder auch spontan jederzeit begin-
nen kann.
Was die Häufigkeit der Syringomyelie anbelangt, so ist diese Krankheit
die früher als Curiosum galt, viel häufiger als die spinale progressive Muskel-
atrophie und steht in dieser Hinsicht zvdschen der amyotrophischen Lateral-
sklerose und der multiplen inselförmigen Sklerose. Dimitkofp (1896) konnte
aus der Literatur der letzten sieben Jahre (1887 — 1894) 297 Fälle von Sy-
ringomyelie zusammenstellen.
Symptomatologie. Ein auf alle Fälle passendes klinisches Bild lässt
sich aus mehreren Gründen, die aus der Betrachtung der Pathogenese und
der pathologischen Anatomie sich von selbst ergeben, kaum entwerfen. Als
„typisch" pflegt man diejenigen, relativ häufigsten Fälle zu bezeichnen, bei
welchen die Krankheit ganz schleichend in den 20. Jahren beginnt, langsam
verläuft, durch eine Gliose der grauen Substanz anatomisch repräsentirt wird
und sich in der Halsanschwellung des Rückenmarkes localisirt. „Atypische"
Formen entstehen sowohl durch ungewöhnlich raschen Beginn, resp. Verlauf
oder durch ungew^öhnliche Localisation des Processes z. B. in einer Rücken-
markshälfte eventuell in einem Rückenmarkshorne, oder durch alleinige Er-
krankung der Oblongata oder des Lendenmarkes etc. Das Krankheitsbild
ergibt sich somit in jedem Falle ohne Weiteres aus der Localisation der Gliose
und den physiologischen Functionen der afficirten Spinal- und Oblongatabahnen.
Da sich die mit Vorliebe vom Halsmarke ausgehende Afiection schrittweise
nach oben und unten verbreitet, so darf man als allgemeine Regel hinstellen,
dass bei den typischen Fällen in einzelnen Nervengebieten um so seltener
566 SYßINGOMYELIE.
Störungen wahrgenommen werden, je weiter ihr Ursprungssegmeiit cerebral-
oder caudalwärts von der Halsanschwellung entfernt liegt.
Folgende Trias von Symptomen soll nach Schultze und Kahlee bei-
nahe in allen typischen Fällen — mag es sich anatomo - pathologisch um
einfache Gliose oder um ausgebildete Höhlen handeln — zu finden sein:
1. Die progressive Muskelatrophie spinalen Ursprungs mit den ihr entspre-
chenden Lähmungen und Deformationen.
2. Die „partielle Empfindungsstörung" , d. h. suhjective oder ohjective
Alteration des Schmerz- und Temperatursinnes hei völliger Intactheit oder ganz
geringer Störung des Tastsinnes.
3. Die vasomotorischen Anomalien und trophischen Veränderungen an der
Haut, dem Unterhautzellgewebe, dem, Muskel-, Knochen- und Gelenkap)parat.
Um diese äusserst charakteristische Combination von Krankheitserschei-
nungen gruppirt sich regelmässig eine Reihe anderer, weniger häufig anzu-
treffender, die das wechselvolle und reichhaltige Bild der Syringomyelie
schaffen helfen. Meist finden sich die 3 Symptomencomplexe entweder ziem-
lich gleichzeitig oder nacheinander ein, so dass verschieden lange Zeit die
partielle Empfindungslähmung oder eine der vielfachen vasomotorisch-trophi-
schen Störungen für sich allein bestehen kann. Zu dieser Zeit gehört die
Stellung der Diagnose zu den sehr schweren Problemen, die eine genaue
Kenntnis der klinischen Details unbedingt voraussetzen,
I. Die Erkrankung der Muskeln, auf Alteration der motorischen
V Order hornganglien beruhend, beginnt meist an den Händen, seltener
an einem anderen Abschnitt der oberen Extremität und der Schultermuskula-
tur. Die Atrophie der kurzen Handmuskeln ist im Beginn selten symmetrisch,
sie tritt an der einen Hand etwas früher und stärker hervor. Gelegentlich
bleibt sie jahrelang auf das Gebiet eines einzelnen Nerven beschränkt und
macht den Eindruck einer isolirten Ulnaris-, Medianus- oder Radialislähmung
mit den eigenthümlichen Difformitäten und Abnormitäten der Hand und Fin-
ger {Klauenhand, Affenhand, Predigerhand etc.). km charakteristischsten ist
die Krallenhandstellung, bei der zuerst die kleinen Handmuskeln atro-
phisch und functionsunfähig werden: der Daumen- und Kleinfingerballen abge-
magert, die Spatia interossea stark eingesunken. Die zeitliche Aufeinander-
folge in dem Befallenwerden der einzelnen Muskelgruppen wechselt und in
folge dessen kann bald die eine, bald die andere Handstellung dominiren.
Seltener bleibt der Muskelschwund an dem Verbreitungsbezirk einzelner Ner-
ven geknüpft, sondern es werden regellos von verschiedenen Nerven ver-
sorgte Muskeln befallen, insofern letztere von einem und demselben Rücken-
markssegmente innervirt werden.
Fehlen zur Zeit des sich entwickelnden Muskelschwundes jede sensible
und vasomotorische Anomalie, so ist das Krankheitsbild mit der gewöhnlichen
DucHENNE-AEAN'schen progressiven spinalen Muskelatrophie ganz identisch
und von derselben klinisch kaum zu trennen. In weiterem Verlaufe der
Krankheit, falls die Atrophie nicht stationär bleibt, werden die Schulter-,
Hals-, Rücken-, Intercostal-, Bauch- und Beinmuskeln ebenfalls heimgesucht.
Ein einheitlicher Typus lässt sich für ihr Fortschreiten nicht aufstellen: mit-
unter schreitet die Atrophie regelmässig proximalwärts, ohne eine einzige
Muskelgruppe zu überspringen (atrophie en masse), in anderen Fällen
macht sich die Atrophie nebst dem Daumenballen im Deltoideus geltend, in
noch selteneren Fällen werden die degenerativen Atrophien an den Beinen
nur um Weniges später manifest, als an den oberen Extremitäten. Der
Muskelschwund in den Beinen kann ebenfalls diese oder jene Muskelgruppe
bevorzugen und je nachdem eine Varoequinus-, Calcaneus- und Krallenzehen-
stellung verursachen. In vereinzelten Fällen mit Localisation der Muskel-
atrophie an den oberen Extremitäten bleiben die kleinen Handmuskeln ganz
SYRINGOMYELIE. 567
intact und es entsteht ein Bild, das an den sog. Oberarm- und Scapulohume-
ralen Typus der Dystrophie erinnert. Hie und da beginnt der Muskelschwund
in der Zunge, im weichen Gaumen, im Kehlkopf, in den Gesichtsmuskeln.
Sowohl die Atrophie als die consecutive Lähmung entwickeln sich
sehr langsam und erreichen nur an den Pländen ihre extremsten Grade. An
einzelnen voluminösen Muskeln (Deltoideus, Cucullaris) lässt sich sehr deut-
lich die bündelweise vor sich gehende Zunahme der Atrophie demonstriren, so
dass mitunter einzelne Abschnitte desselben Muskels gänzlich geschwunden sind,
während andere beinahe intact erscheinen. Gelegentlich kommt es bei der
Syringomyelie zu acuter Lähmung einer Extremität (Monoplegia spinalis),
beider Beine (Paraplegia inferior) oder beider Extremitäten einer Seite
(Hemiplegia spinalis). Solche, der Atrophie vorausgehende Lähmungen
sind nicht selten passagerer Natur und auf mehr minder umfangreiche Blu-
tungen in dem neugebildeten Gewebe oder auf collaterales Oedem der Rücken-
markssubstanz zurückzuführen. Prognostisch von besonderer Wichtigkeit sind
unter den genannten Muskelgebieten die Intercostal- und Zwerchfellsmusku-
latur, deren fortschreitende Atrophie oder acute Lähmung direct lebensbedroh-
liche Zustände hervorrufen kann. Dass neben der degenerativen, von
Affection der motorischen Vorderhörner abhängigen Lähmung der oberen
Extremitäten spastische, durch Ueberschreiten der Gliose auf die Pyramiden-
bahn entstehende Paralysen an den unteren Extremitäten vorkommen, er-
hellt ohne Weiteres.
Die von der Atrophie heimgesuchte Muskulatur zeigt in
der Regel Schwäche nebst Abnahme der Function, fibrilläre
Zuckungen, Abweichungen vom normalen electrischen Verhalten
sowohl quantitativer als qualitativer Natur, von einfacher
Herabsetzung der Erregbarkeit bis zur typischen, partiellen
oder completen Entartungsreaction.
Die in den atrophirenden Muskeln selten fehlenden fibrillären Zu-
ckungen steigern sich gelegentlich zu fasciculären Zuckungen oder zu einem
continuirlichen Tremor der Finger. Hie und da werden die Zuckungen vom
Kranken subjectiv ^vahrgenommen, wo sie durch reichlichen Fettpolster dem
Auge des Beobachters entgehen. In denjenigen Muskeln, wo die Atrophie
und Schwäche von der Erkrankung der seitlichen Pyramidenbahn herrührt,
fehlen fibrilläre Zuckungen und statt ihrer sind spastische Muskelspannungen
vorhanden. In den atrophischen und paretischen Gliedern kommt es nicht
selten zu eigenthümlichen motorischen Reizerscheinungen, die sowohl
klonischer (gleichförmige, unregelmässige, choreiforme Schüttelbew^egungen)
als tonischer Natur (Oberarm- und Wadenkrämpfe, Opisthotonus, Laryngo-
spasmus, Intentions- und paramyotonische Krämpfe) sein können.
Die Muskeln sind nie hypertrophisch, die Nerven nie verdickt oder druck-
empfindlich. Mitunter wird der Muskelschwund durch mächtige Entwickelung
des Fettgewebes oder durch brettharte Infiltrationen ausgeglichen.
Die mechanische Muskelerregbarkeit verhält sich ganz analog
der elektrischen und, wo sie gesteigert ist, erfolgt auf Beklopfen des Muskel-
bauches eine ausgiebige und zugleich träge Contraction der Muskelsubstanz.
Die mechanische Nervenerregbarkeit ist, wenn überhaupt verändert,
herabgesetzt.
Der Gang ist, je nach dem Verhalten der Muskulatur der
Beine, normal, paretisch, hinkend, spastisch, ataktisch, oder
ganz unmöglich. In anderen Fällen ist er spastisch-paretisch oder spastisch-
ataktisch. Meist ist die Lähmung in den Armen eine schlafie, in den Beinen
eine spastische oder ataktische. W^o die absteigende Degeneration der Pyramiden-
bahnen rasch vor sich geht, dominiren die spastischen Phaenomene an den Bei-
nen: die Muskeln sind dann stark rigide, die Beine im Kniegelenlve gestreckt
568 STRINaOMYELIE.
und aneinander adducirt, die Füsse in Spitzfussstellung, die Gelenke durcli
veraltete Muskelcontracturen theilweise fixirt. In diesem Stadium vermögen
die Patienten nur mühsam, auf einen Stock gestützt, einzelne Schritte vorwärts
zu machen. Localisirt sich der Krankheitsprocess primär oder erst in seinem
weiteren Verlaufe in der Oblongata, so kann es zu dem äusserst typischen,
taumelnden Gange der Kleinhirnkranken führen.
n. Die Sensibilitätsanomalien sind bei der Syringomyelie ver-
schiedenster Natur. Pathognomonisch gilt für dieselbe die oben erw^ähnte
partielle Empfindungslähmung (Analgesie und Thermoanästhesie),
nach Chaecot „dissociation syringomyelique de la sensibilite"
genannt.
In den frühen Stadien, bevor noch sensible Ausfallserscheinungen
vorhanden sind, erwecken schon den Verdacht auf Syringomyelie die mannig-
fachen subjectivenPteizungsphänomene seitens der Sensibilitätssphäre,
wenn sie sich vorwiegend auf dem Gebiete des Schmerz- und Tempe-
ratursinnes abspielen, sich wenig um bestimmte periphere Nervenbahnen
kümmern, sondern bestimmte Glied- und Körpersegmente oder eine ganze
Extremität mit zugehörigem Piumpfabschnitt heimsuchen. Auch in den Schleim-
häuten und den inneren Organen — Nasen-, Rachen- und Mundschleim-
haut, Zähne, Brust, Abdomen, Blase, Rectum — herrschen ähnliche lästige,
theils permanente, theils paroxysmal auftretende Parästhesien. Jucken, Bei s-
sen,Brennen, Hitzegefühl, Frösteln, Kälte und ähnliche, schwerer oder
leichter detinirbare Sensationen werden an den betroffenen Körperabschnitten
empfunden. Der Eine macht sich wochenlang heisse Umschläge um den Arm
oder trägt den Sommer hindurch Winterhandschuhe, der Andere sucht sich
das unbehagliche Hitzegefühl an der Brust durch Eisumschläge zu lindern.
Gelegentlich beginnt das Leiden mit stechenden, reissenden und zie-'
h enden, den Charakter von Neuralgien tragenden Schmerzen. Treten die-
selben paroxysmenweise auf, so sind sie in keiner Weise von den tabischen
Krisen zu unterscheiden. Hie und da werden Hyperaesthesien mit leb-
haften Nachempfindungen als Prodromalsymptome der partiellen Sensibilitäts-
lähmung beobachtet.
Parästhesien des Tastsinnes scheinen viel seltener vorzukommen
— Formicationen, Eingeschlafensein, Kriebeln, Pelzigsein —
und localisiren sich sowohl am Rumpfe und den Extremitäten als am Kopfe
und Gesichte.
öbjectiv lässt sich bei genauer Untersuchung dissociirte Empfindungs-
lähmung feststellen: Herabsetzung bis zum völligen Erloschensein des Schmerz-
und Temperatm^sinnes bei Integrität des Tastgefühls. Man kann bei com-
pleter Empfindungslähmung schmerzlos tief in die Haut incidiren, die Inte-
gumente mit brennendem Eisen berühren, ohne von der Haut aus oder von
den tieferen Gewebspartien mehr als eine Tastempfindung auszulösen. Solche
Patienten brechen gelegentlich Knochen und subluxiren sich Gelenke, ohne
dass sie es selbst merken. Operationen an den aificirten Schleimhäuten
können ebenfalls schmerzlos ausgeführt werden.
In der Regel fällt das Gebiet der Empfindungslähmung mit dem der
Amyotrophie zusammen.
Zu sehr seltenen Erscheinungen der Syringomyelie gehört Analgesie der
ganzen Hautoberfläche und sämmtlicher Schleimhäute.
Perverse Empfindung der Temperaturen ist relativ häufig, d. h.
heiss wird als kalt oder umgekehrt empfunden. Sehr selten ist die gleich-
zeitige Perversion beider Qualitäten des Temperatursinnes. Zuweilen lässt
sich eine der beiden Qualitäten überhaupt nicht hervorrufen, indem auf ther-
mische Reize jeder Art in bestimmten Grenzen stets Temperaturempfindungen
einer Qualität ausgelöst werden, während die höher, resp. tiefer temperirten
SYRINGOMYELIE. 569
Eeize als blosse Tastempfindung percipirt werden. Diese klinische Thatsache
der thermischen Dissociation gab manchen Autoren die Veranlassung zu der
physiologisch kaum berechtigten Annahme einer gesonderten spinalen Leitung
der Kälte- und Wärmesinnesreize.
Viele Syringomyeliker erhalten bei vollständigem Verlust der thermischen
Sensibilität dennoch das subjective Gefühl für Wärme und Kälte. In dieser
psychologisch interessanten, von Schlesixger besonders betonten Uncorrigir-
barkeit der Vorstellung über thermische Eeize ist wohl die Erklärung für den
auflallenden Umstand zu suchen, dass die Kranken gern mit warmen und
heissen Gegenständen hantiren und sich hiebei stets wieder schwer verletzen.
Analog den Parästhesien tritt die Empfindungslähmung glied- oder seg-
mentweise auf, wobei der Verlust des Temperatursinnes oft genau auf das-
selbe Gebiet beschränkt bleibt, wie der des Schmerzsinnes. Xur selten sind
ihre Territorien vollkommen räumlich von einander getrennt. Fälle von iso-
lirter Analgesie oder Thermoanästhesie gehören zu den seltenen Ausnahmen.
Verspätung der Schmerz- und Temperaturempfindung ist ausserordentlich
selten. Analgesie der Gesichtshaut, der Conjunctiva bulbi, der Mund- und
Nasenschleimhaut lässt auf eine Affection des sensiblen Trigeminus schliessen,
dessen aufsteigende Wurzel längs des oberen Theiles des Halsmarkes ver-
läuft. Sensibilitätsstörungen in BEowN-SEQUAEü'scher und in hemiplegi-
scher Form gehören bei der Syringomyelie ebenfalls zu den Earitäten.
Störungen des Tast-, Lage-, Druck- und stereognostischen
Sinnes sow^ie des Localisationsvermögens gehören zu den sel-
tenen Erscheinungen. Jedoch erweist sich bei subtileren Untersuchungs-
methoden die tactile Hautsensibilität viel häufiger gestört, als es die früheren
Autoren anzunehmen geneigt waren. Zu empfehlen ist in solchen Fällen die
vergleichende Prüfung symmetrischer Körperabschnitte vermittelst eines dünnen
Fadens oder Haares, Prüfung der elektrischen Hautsensibilität (Letde^t-Eeb),
Messung der Grösse der sogenannten Tastkreise mittelst eines genauen Tast-
zirkels (Webek), Prüfung der Perception successiver, tactiler Eindrücke
(Vierordt-Leube), Prüfung der Unterschiedsempfindlichkeit der Haut ver-
schieden dichten Flüssigkeiten gegenüber (Critzma^N'-PiUmm) etc.
Das Gebiet der ta etilen Hypästhesie deckt sich in der PtCgel mit den
am schwersten afiicirten, analgetischen und thermoanästhetischen Zonen, ist
somit besonders stark ausgesprochen an der Peripherie. Gürtel-, westen-,
manchetten-, handschuhförmige und hemilaterale Anästhesien,
wie sie besonders für Hysterie charakteristisch sind, werden nicht selten
bei der S}Tingomyelie beobachtet. Als Unicum gilt totale, tactile Anästhesie
des ganzen Körpers.
Bezüglich der Details aus dem Verhalten der sonstigen Sinnesqualitäten
verdienen besondere Erwähnung manche Eigenthümlichkeiten aus dem Ge-
biete des Muskelsinnes und Drucksinnes. Von den, den Muskelsinn
zusammensetzenden Grundqualitäten — Empfindung activer Bewegung, Empfin-
dung passiver Bewegung, Lagewahrnehmung, Empfindung der Schwere und
des Widerstandes — kann jede für sich, beziehungsweise alle gleichzeitig in
hohem Maasse alterirt sein. In letzterem Falle ist spinale xitaxie regel-
mässig anzutreflen.
Der Drucksinn ist bei der Syringomyelie ziemlich selten gestört und
zuweilen mit dem Tastsinn incongruent, indem ersterer stark lädirt ist, wäh-
rend letzterer an denselben Stellen völlige Intactheit zeigt. Mitunter ergibt
die Untersuchung mittelst eines präcisen Algesimeters (Schlesi:n:ger-Heez),
dass das Gefühl für den auf die Haut allein ausgeübten Druck erloschen oder
hochgradig herabgesetzt ist, während der Tastsinn noch intact ist und der
Drucksinn, nach gewöhnlicher Weise geprüft, keine Anomalie zeigt: bei solcher
Dissociation des Drucksinnes können minimale Druckdifferenzen stets
570 SYRINGOMYELIE.
richtig erkannt werden, während einfaches Aufheben und stärkstes Kneifen
von Falten derselben Hautstellen vollkommen gleich gefühlt werden.
Was die Pathogenese der partiellen Empfindungslähmung anbetrifft, so ist letztere
nach der Ansicht der meisten Autoren von der Affection der grauen Substanz der
Hinterhörner abhängig. Schon Schiff schloss aus seinen physiologischen Experimenten,
dass die tactilen Reize durch die weissen Hinterstränge, die Schmerzperception durch die
hintere graue Substanz geleitet wird.
Die bei Rückenmarlisgliose gelegentlich anzutreffende, isolirte Analgesie ohne Thermo-
anästhesie, resp. die Dissociation im Bereiche des Temperatursinnes selbst veranlasste manche
Kliniker zur weiteren Differenzirung der Leitungsbahnen, indem sie specielle Fasern für
Schmerzreize, für Wärme- und Kälteleitung voraussetzten (Dejerine). Roth vermuthet,
dass dieselben Fasern, sämmtlichen Sinnesqualitäten dienend, die Leitungsfähigkeit in pa-
thologischen Zuständen für diese oder jene Qualität einbüssen, je nach der Intensität und
dem Charakter des Krankheitsprocesses.
Nach GoLDSCHEiDER erscheint die graue Substanz nicht als ein speciell zur Fort-
leitung des Schmerzes bestimmtes Organ, sondern als ein Cumulationsorgan, welches auf
Grund der summirenden Wirkung ganz besonders zur Schmerzerzeugung angepasst ist.
Die Fortleitung schmerzhafter Eindrücke wäre somit nur eine Erscheinungsweise einer all-
gemeineren Eigenart der Function der grauen Substanz, nämlich der Summations Wirkung.
CiAGLiNSKi ist geneigt, aiif seine Experimente an Hunden gestützt, als Leitungsbahn
der thermischen und Schmerzreize ein umschriebenes Bündel weisser Nervenfasern auf-
zufassen, das er regelmässig in der grauen Substanz zwischen dem Centralcanal und den
Kuppen der Hinterstränge nachweisen konnte.
III. Die vasomotorischen und trophischen Störungen gehören
neben den Muskelatrophien und der partiellen Empfindungslähmung zu den
allerhäufigsten und lästigsten Erscheinungen im Verlaufe der Syringomyelie
und lassen eine ausserordentliche Mannigfaltigkeit in dem klinischen Bilde
erkennen. Sie localisiren sich mit Vorliebe an den Händen, werden aber
nicht selten auch an anderen Körperregionen gesehen. Sowohl die Epidermis,
das subcutane und Fettgewebe als die Muskulatur, Knochen und Gelenke
werden von den trophischen Störungen schwer ergriffen.
Was die trophischen und vasomotorisch-secretorischen Affectionen der
Haut betrifft, so werden beinahe alle Formen derselben bei der Gliose be-
obachtet: von einfacher Hyperämie, Atrophie und Anidrosis der Haut bis zu
den schwersten entzündlichen Dermatosen und gangränösen Phlegmonen mit
nachträglichen Osteo-Arthropathien. Kleinere oder grössere, röthliche bis
zinnoberrothe, circumscripte oder diffuse Fl ecke an den oberen Extremitäten,
am Rumpfe oder an einer Gesichtshälfte; bläuliche bis schwarzblaue Ver-
färbung der Hände; blasse und kalte indolente Oedeme der Hände und
Vorderarme; gesteigerte artificielle, vasomotorische Reizbarkeit der Haut —
Erytheme, vesiculöse und bullöse Urticaria — bis zum exquisitesten
Dermographismus; permanente und passager auftretende, spontan oder
nach geringer Anstrengung ausbrechende umschriebene, diffuse und halbseitige
Hyperidrosis und Anidrosis mit den consecutiven Ekzemen, Suda-
minis und Efflorescenzen im Bereiche der übermässig secernirenden
Hautpartien, resp. mit der spröden verdickten Epidermis in den mangel-
haft beölten Regionen; Herpes zoster; calorische und refrigeratorische
exsudativ-desquamative Dermatitiden; tiefe schuppende, seltener
nässende Schrunden und Risse ekzematösen Ursprungs; Atrophie der
Haut und des subcutanen Bindegewebes; pergamentartige, glänzende, stark
gespannte, über den Gelenkbeugen der Finger fest und faltenlos anliegende,
zu Necrosen, Blasen- und Geschwürsbildungen neigende Haut {Glossy-Skin,
'peau lisse, Glanzhand), DuPUTTREN'sche Contractur der Palmarfascie;
in Furchung, Blätterung, Brüchigwerden und Verkrümmung sich kundgeben-
den Ernährungsstörungen und Stellungsanomalien der atrophi-
schen oder hypertrophischen Nägel; auf geringfügige Anlässe sich ent-
wickelnde mulden- und kraterförmige, in der Umgebung kaum entzündlich
infiltrirte Hautgeschwüre von sehr schlechter Heilungstendenz; Talg-
drüsenfurunculose; schmerzlose oft recidivirende Phlegmonen an den
SYRINGOMYELIE. 571
Fingerspitzen (panaria analgesique Moüvan's), an den Händen, Zehen
und Füssen; oberflächliche, subcutane und tiefe subfasciale Geschwüre
mit Uebergang der Entzündung auf die Knochen und nachträglicher Aus-
stossung ganzer Gewebsbestandtheile (Syringom yelia mutilans), con-
secutive narbige Verziehungen der Haut; arthropathische Contra c-
t'uren und sonstige schwere Difformitäten der Hände; hochgradige locale
Asphyxie der Extremitätenspitzen (Raynaud's c h e r S y ra p t o m e n c o m p 1 e x)
mit gelegentlicher ausgedehnter feuchter Gewebsnekrose oder trockener
Mumification; spontan recidivirende Gangrän der Fingerkuppen;
chronisch sich entwickelndes Mal perforant du pied; acuter tropho-
neurotischer letaler Decubitus;Blasenausschläge verschiedenster Natur
von acut entstehenden, an einer bestimmten Körperregion localisirten bis zum
typischen, über die ganze Körperoberfläche ausgedehnten Pemphigus
foliaceus chronicus; schwielige Verdickung der Oberhaut der Hohlhand
und Finger, Warzenbildungen, Pigmentflecke, Sklerodermie der
Haut, echte und Narbenkeloide u. A.
Von den trophischen Anomalien der Muskulatur war bereits oben,
bei Betrachtung der degenerativen Muskelatrophien, die Ptede. Weniger häufig,
aber mannigfaltiger sind die bei der ßückenmarksgliose anzutreffenden Gelenk s-
erkrankungen und Knochenaffectionen trophischer Natur.
Der Beginn der neuropathischen Gelenkserkrankung ist oft
ein acuter mit bedeutendem Erguss in das Gelenk und mächtiger, meist
schmerzloser Schwellung des periarticulären Gewebes (Hydarthros). Der
Erguss kann sich mit der Zeit vollkommen resorbiren oder es bleiben auf
den Gelenkflächen fibrinöse Ablagerungen zurück, die durch das Knarren bei
Bewegungen eine Arthritis sicca vortäuschen. In der That gibt es auch
trockne Gelenkentzündungen hypertrophischer und atrophischer
Natur, die zu den schrecklichsten Verwüstungen und schauderhaften Diffor-
mitäten sowohl der knöchernen Antheile als auch der Kapsel und Bänder
führen: zur Auftreib ung und Exostosenbildung an den Knochen, Usuration der
Knorpel, Zottigwerden der Synovialis, später zur P.arefaction des Gelenkkopfes,
Zerstörung der Pfanne, Diastase der Gelenkenden, Ausdehnung und Erschlaf-
fung der Kapsel und des sämmtlichen Bandapparates, Infiltration der Weich-
theile etc. Dass durch die eben angeführten Momente Schlottergelenke, spon-
tane Gelenkluxation, Ankylosirung, Epiphysenlösung und Spontanfracturen der
Knochen zustande kommen können, ist ohne Weiteres ersichtlich.
Wie aus der Zusammenstellung Beuhl's und Schlesinger' s hervorgeht,
werden die Gelenke an beiden Körperhälften annähernd gleich stark bethei-
ligt, wobei der Häufigkeit nach das Schultergelenk den ersten, das Ellen-
bogengelenk den zweiten, das Handwurzelgelenk den dritten Platz
einnimmt. Die kleinen Fingergelenke leiden viel öfter in Folge geschwüri-
ger Hautprocesse, was selbstverständlich nicht als idiopathische Arthropathie
aufgefasst werden darf.
Während bei der Tabes, die sich hauptsächlich im Lendenmark loca-
lisirt, etwa 80 7o der Arthropathien auf die unteren Extremitäten entfallen, ist
das Verhältniss bei der, mit Vorliebe das Cervicalmark afficirenden Syringo-
myelie ganz entgegengesetzt, indem über 80% der Gelenks er kran-
kungen die oberen Extremitäten befallen.
Das Gelenkleiden gehört mitunter zn den ersten Krankheitserscheinungen
und ist thatsächlich in solchen Fällen die Natur desselben nur bei sehr ein-
gehender Untersuchung festzustellen. In der Piegel beginnt die Arthropathie,
deren Häufigkeit bei der Gliose auf 10% geschätzt wird, in den
40. Jahren, entweder ganz spontan oder auf traumatischem Wege. Letzteres
Moment erklärt vielleicht die sonst auffallende Thatsache, dass Männer etwa
572 SYRINGOMYELIE.
3 — 4mal häufiger von den Gelenkerkrankungen betroffen werden als Frauen:
Männer sind eben in ihrem Berufe viel eher Verletzungen ausgesetzt.
Analoge Bevorzugung des mänolichen Geschlechts, der oberen Extre-
mitäten und des rechten Armes findet sich bei den Knochenaffectionen
der Syringomyeliker. Die Veränderungen an den Knochen sind meist atro-
phische mit Rareficirung der compacten Substanz und Zunahme der spon-
giösen Knochenräume. Die Fragilität der Knochen wird in Folge dessen
derart erhöht, dass in den vorgerückten Perioden ein geringer Insult genügt,
um eine gewöhnlich schmerzlose Fractur zu verursachen. Disproportion
zwischen der Schwere des Traumas und dem erfolgten Resultate dürfte ge-
legentlich bei jugendlichen Individuen auf das Bestehen einer latenten Rücken-
marksgliose aufmerksam machen.
Ab und zu begegnet man multiplen Spontanfracturen, die
einen mächtigen Callus bilden und nicht langsamer, als bei gesunden Leuten
heilen. Etwas seltener ist die sogenannte hypertrophische Varietät der
Knochenaffection mit Zunahme des Knochens in allen Dimensionen oder in
bestimmten Abschnitten. Durch den letzten Umstand lassen sich die man-
nigfachen Skeletdifformitäten erklären: die Exostosen, multiplen Oste-
ophyten, Hypertrophie des Metacarpus, der Epiphysen der Ünterarmknochen,
die Wirbelsäuledeviationen.
Besondere Aufmerksamkeit beanspruchen in klinischer Hinsicht die
Hypertrophie einzelner Skeletabschnitte der Extremitäten und die
Wirbelsäuleverkrümmungen. Was die erstere anbetrifft, so combinirt sie
sich zuweilen mit gleichzeitiger Grössenzunahme sonstiger, den Knochen be-
deckender Gewebsbestandtheile, um das Bild des partiellen Biesemvuchses oder
der Äkromegalie vorzutäuschen. Akromegalisch kann sowohl ein einziges
Fingerglied, ein einziger Finger, die ganze Hand, eine ganze Extremität oder
sogar mehrere Gliedmaassen werden. Ist die Hand vergrössert, tatzenförmig,
die Handwurzel breit, die Finger dick und plump, so kann man diesen Zu-
stand nach Charcot und Maeie Cheiromegalie nennen; sind nur die
Nagelphalangen kolbenförmig aufgetrieben (Trommelschlägelfinger der Bron-
chiektatiker), so erinnert das Bild sehr an die MARiE'sche Osteo-arthro-
pathie Jiypertrophiante pneumique.
Indem die meisten Kliniker die Knochenaffectionen als trophoneurotischer
Natur auffassen, gehen über die Genese der Verkrümmung und Verbildung
der Wirbelsäule die Meinungen einzelner Autoren sehr auseinander. Manche,
die an den Wirbelgelenken Veränderungen gefunden zu haben glauben, be-
trachten die Wirbelsäuleskoliosen als Folge einer vertebralen Polyar-
thritis, andere wollen dieselbe als myopathische auffassen, indem sie sich auf
einen Befund von degenerativen Veränderungen in den kurzen Rückenmuskeln
berufen. Am wahrscheinlichsten sind jedoch die, in 30^0 der Fälle nach-
weisbaren Deviationen, analog den sonstigen trophoneurotischen Skelett-
veränderungen, osteo-arthropathischer Natur. Nicht ohne Einfiuss auf die Aus-
bildung der Wirbelsäuledeviation und deren Richtung dürfte auch der überwiegende
Gebrauch der oberen Extremität einer Seite sein, bei herabgesetzter Func-
tion der anderen, vom Leiden frühzeitiger und stärker ergriffenen Extremität.
Zumeist trifft man Verkrümmungen in der Brustwirbelsäule und zwar
eine bogenförmige reine Skoliose oder Kyphoskoliose mit entsprechen-
den compensatorischen Abweichungen. Bei extremen Kyphoskoliosen tritt
durch die übermässige Krümmung der Wirbelsäule beträchtliche Deformation
des ganzen Thorax ein. Gewöhnlich ist die Krümmung ein Symptom
der vorgeschrittenen Stadien, selten die allererste Erscheinung. Die Em-
pfindlichkeit der Wirbelsäule auf Druck ist zuweilen an denjenigen
Stellen stark ausgesprochen, wo die Krümmung den höchsten Grad erreicht.
Excessiver Schmerz spricht entweder für eine gliomatöse Neubildung oder für
SYRINGOM YELIE. 573
eine begleitende Pachymeningitis. Die Wölbung' der Wirbelsäule soll auf dem
Niveau der grössten lUickenmarkslüsion am stärksten sein.
Hie und da kommt bei angeborener Hydromyelie eine Hemmungsbildung
der Wirbelsäule vor, die sich in knöchernen Defecten (Spina bifida) zu
äussern pflegt, wie sie als Folge des unvollkommenen Abschlusses des Wirbel-
säulencanals beobachtet werden.
Was das pathologisch-anatomische Substrat der besprochenen trophischen und vaso-
motorischen Störungen betrifft, so wird allgemein die Degeneration im Bereiche der hin-
teren grauen Commissur und der CLARKE'schen Säulen beschuldigt. Eine geringere,
dennoch nicht zu unterschätzende Rolle dürfte in dieser Hinsicht unzweifelhaft auch der
Empfindungslähmung zugeschrieben werden, die den Patienten fortwährend der schädlichen
Wirkung des Traumas und der zu hohen oder zu niedrigen Temperatur etc. aussetzt.
Von hohem localdiagnostischen Werth bei der Syringomyelie sind
schliesslich die umfangreichen Gruppen: der Bulbärerscheinungen, der
Sympathicusaffectionen und der recto-vesicalen Anomalien,
die sämmtlich eine eingehendere Besprechung erheischen.
Was zunächst die Bulbärerscheinungen, oder allgemein die Erschei-
nungen seitens der Hirnnerven betrifft, so gehören sie sämmtlich zu
den Cardinalsymptomen, indem sie motorischer, sensibler oder trophischer
Natur sind. Sie sind in 307o der Fälle nachzuweisen und hängen
meist von krankhafter Affection des Bulbus ab. Abgesehen von den allgemeinen
Erscheinungen, die sich herausbilden, wenn der Krankheitsprocess zu einer
stärkeren raumbeengenden Geschwulstbildung in der Oblongata und im Pons
führt — Kopfschmerz, cerebellares Taumeln, Erbrechen, Stauungspapille, Seh-
störungen, Krämpfe, — sind es besonders die Symptome seitens der umschrie-
benen, auf gliöser Wucherung beruhenden Herdläsionen des Bulbus, die
klinisch beachtet zu werden verdienen. Atrophische degenerative Parese im
Hypoglossus- und Facialisgebiet; einseitige Posticus- oder Pte-
currenslähmung mit Stimmbandaffectionen, Hustenparoxysmen, Heiserkeit,
Arythmie und Anomalien der Pulsfrequenz; Abschwächung des Würgreflexes;
Atrophie im Bereiche des äusseren Accessorius; paroxysmales Erbrechen;
Salivation; infolge ein- oder doppelseitiger motorischer und sensibler Lähmung
der Zungen-, Gaumen- und Kehlkopfmuskulatur entstehende P h o n a t i o n s-, E, e-
spirations-, Deglutitions-undArticulationsanomalien; dissociirte
Empfindungsstörungen (Reiz- und Ausfallssymptome) im Haut- und Schleim-
hautgebiete des Trigeminus; motorische und trophische Störungen desselben
Ursprungs — Lähmung der Kaumuskeln, Ausfallen der Haare, Zähne, Atrophie
des Gesichtsskelettes (Hemiatrophia facialis); Nystagmus und nystag-
musartige Zuckungen, Abducensparese, Diplopie, Pupillen diffe-
renz etc.
Sehr selten sind die Sinnesorgane angegriffen: Herabsetzung des
Gehörs mit subjectiven quälenden Sensationen, ein- oder beiderseitige Ge-
schmackslähmung, Perversion und Dissocation des Geruchsinnes, Abnahme
der Sehschärfe infolge ophthalmoskopisch nachweisbarer, partieller oder totaler
Opticusatrophie idiopathischer Natur. Hie und da ist eine mehr minder
ausgesprochene Gesichtsfeldeinschränkung für Farben vorhanden, die
weder von nachweisbaren Augenhintergrundläsionen noch von begleitender
Hysterie abhängig zu machen ist.
Vorübergehende functionelle Läsionen von Hirnnerven durch
Druckwirkung oder durch Circulationsstörungen sind bei intensiver Glia-
wucherung recht häutig. Jedes einzelne Symptom seitens der Hirnnerven kann
im Beginne der Krankheit vorübergehend beobachtet werden, mitunter apo-
plectiform durch Schwindelanfälle und Erbrechen einsetzen und dauernd
bleiben, öfters jedoch ein terminales Symptom darstellen. Nach der Häufig-
keit des Befallenwerdens der Bulbär nerven folgen einander der
Trigeminus, Facialis, Vago-Accessorius.
574 SYRINGOMYELIE.
Was die, von der Bulbusaffection nicht abhängigen Hirnsvmptome
(Störungen im Bereiche des Opticus und Olfactorius, exteriore Ophthalmoplegie,
reflectorische Pupillenstarre) und ihre Stellung zum syringomyelischen Processe
anbelangt, so gehen die Ansichten der Kliniker stark auseinander. Am wahr-
scheinlichsten stehen die genannten Erscheinungen in innigem Zusammen-
hange mit einer, die Syringomyelie complicirenden Tabes, bezw, progressiver
Paralyse oder Hydrocephalie. Die bulbären Gliosen überschreiten
bekanntlich niemals die hintere Grenze der VAROL'schen Brücke
(Schlesinger): weder die lateralen, auf vasculärer Läsion beruhenden, ge-
wöhnlich von der Gegend des Hypoglossuskernes in der Richtung der aus-
tretenden Vaguswurzeln ziehenden Spalten und Gliastreifen, noch die medi-
anen, genau in der Mittellinie des Bulbus gelegenen, durch entwickelungs-
geschichtliche Vorgänge verursachten, meist von Cylinderepithel ausgekleideten
Spalträume.
Ein weiteres Symptom, das seltener bei der Syringomyelie vorkommt
(IS^o) und auf den Sitz der Gliose im oberen Brustmark hinweist, ist die
Lid spalten- undPupillenverengerungbeinormalerßeactionder
Pupille auf Licht und Accommodation. Zuweilen besteht gleichzeitig
ein Zurückgesunkensein des Augapfels und vasomotorische Störungen an der-
selben Gesichtshälfte. Die genannten Erscheinungen sind meist einseitig und
beruhen auf Zerstörung des Centrum cilio-spinale und nachträg-
licher Lähmung des Sympathicus, dessen in Betracht kommenden
Fasern — für den Dilatator pupillae und für den glatten MüLLER'schen
Muskel — mit dem Ramus communicans des ersten Brustnerven das Rücken-
mark verlassen.
Störungen der Blasen-, Mastdarm- und Genital functionen ge-
hören zu den ziemlich seltenen Symptomen der Syringomyelie und sind meist
vorübergehender Natur. Als passagere oder bleibende Erscheinungen leiten
dieselben gelegentlich die Krankheit ein, als terminales Symptom werden sie
viel öfter beobachtet. Ihr frühzeitiges Erscheinen ist entweder von der Lo-
calisation der Gliose im Lendenmark oder von dem raschen Wachsthum eines
malignen Glioms abhängig. Die Anomalien seitens der Urinabsonderung sind
sehr mannigfaltig: von der einfachen Poly-und Pollakiurie bulbärer Natur
bis zu den typischen Blasenstörungen spinaler Natur (Harndrang, Harn-
träufeln, Retentio urinae, Ischuria paradoxa). Manchmal ent-
stehen an der unempfindlichen Blasenwand spontan oder durch häufiges Kathe-
terisiren Ulcerationen, die den tödtlichen Durchbrach herbeifüliren können.
Eitrige Cystitiden pflegen ganz schmerzlos zu verlaufen.
Etwas seltener und in ihren Folgen weniger für den Patienten verhäng-
nisvoll sind die Mastdarmstörungen: Retentio et Incontinentia alvi,
die nicht immer mit den Blasenanomalien parallel zu gehen brauchen. Das-
selbe gilt von der gelegentlich anzutreffenden Störung der Geschlechtssphäre:
Impotentia ejaculandi et coeundi, Verlust det Libido sexualis, er-
höhte Erregbarkeit der geschlechtlichen Functionen bei vorhandenem oder
verloren gegangenem Schmerzsinn des Penis und der Hoden.
Die reflectorische Thätigkeit bleibt bei der Syringomyelie im
Laufe der Krankheit selten ungestört. Von den Sehnenreflexen fehlen
in der Regel die der oberen Extremitäten schon recht früh. Seltener
findet man bei fehlenden Tricepsreflexen die der Vorderarmbeuger gesteigert.
Besonders frühzeitig erlöschen die Reflexe bei jener Varietät, die mit Muskei-
atrophie an den Armen verbunden ist, wo somit der spinale Reflexbogen ge-
schädigt ist. Eine Ausnahme von dieser Regel sollen nur diejenigen, der
amyotrophischen Lateralsklerose sehr ähnelnden Fälle machen, bei denen die
Abmagerung der Arme acut eintritt und die Muskeln en masse betrifft: bei
diesen Formen ist eine hochgradige Steigerung der Sehnen- und Periost-
SYRINGOMYELIE. 575
reflexe beobachtet worden. Eine Erhöhung der Sehnenreflexe an den Armen
kann weiterhin bedingt sein durch einen ausgedehnten Process im Halsmark,
somit durch eine Läsion der cerebralwärts vom Reflexbogen verlaufenden
Pyramidenseitenstrangbahn.
An den unteren Extremitäten sind die Sehnenreflexe in der Mehr-
zahl der Fälle bedeutend gesteigert. Zuweilen sind die Ileflexe an einem
Beine geschwunden, am anderen bis zur Spinalepilepsie und Fussclonus ge-
steigert. DerspastischeSymptomencomplex — Steigerung der Sehnen-
reflexe mit spastischer Parese — ist jedenfalls ungleich häufiger
an den Beinen als der tabische, Fehlen der Reflexe mit Ataxie.
Für die typische cervicale Gliose ist der spastische Complex geradezu patho-
gnostisch. Nur bei der lumbalen Gliose oder bei der mit Tabes sich com-
binirenden Syringomyelie pflegen die Reflexe an den unteren Extremitäten
gänzlich zu fehlen. Der Unter kieferrefl ex kann gesteigert sein.
Das Verhalten der Haut- und Schleimhautreflexe ist sehr ver-
schieden. Zumeist sind sie auch bei Analgesie des betreffenden Territoriums
leicht auslösbar, sogar gesteigert und gehen im allgemeinen mit der tactilen
Sensibilität parallel.
Die geistigen Fähigkeiten bleiben bei der Syringomyelie bis zum
Lebensende vollkommen erhalten. Manche Autoren wollen geringe Altera-
tionen des Seelenlebens beobachtet haben, die sie als begleitende Hypochon-
drie, Neurasthenie und Hysterie auffassen (Hoffmann), andere sehen in den
atypisch ablaufenden und besondere Züge darbietenden Intelligenzstörungen
etwas der Syringomyelie eigenthüraliches (Oppenheim). Schultze, der in der
Aetiologie der Gliose den intra partum entstehenden Rückenmarksblutungen
eine Stellung zu schaffen sucht, vermuthet, dass die Demenz und andere inte-
lectuelle Anomalien der Syringomyeliker sich auf analoge Blutungen in die
Rindensubstanz resp. in die Hirnhäute werden zurückführen lassen. Schle-
singer, der psychische Störungen bei der Gliose leugnet, sieht in der ge-
legentlich vorübergehenden Verwirrtheit und Desorientirung ein Symptom der
rasch zunehmenden Gliomatose des Bulbus und sucht sie den intellectuellen
Störungen gleichzusetzen, wie man sie bei anderen intracraniellen Tumoren
beobachtet.
Beinahe regelmässig findet man tiefe Intelligenzstörungen bei Hydro-
resp. Syringomyelie, die sich mit progressiver Paralyse, Epilepsie, angeborenem
Blödsinn, Porencephalie combiniren. Sowohl die Syringomyelie als die sie be-
gleitenden organischen Hirnkrankheiten pflegen dann in der Regel entweder
Folge einer hereditären Syphilis (Gliose der grauen Hirnrinde und der grauen
Rückenmarksubstanz) oder Folge einer fehlerhaften Entwickelung des cen-
tralen Nervensystems zu sein.
Ueber die relative Häufigkeit der wichtigsten Krankheitserscheinungen
bei Syringomyelie geben am besten folgende, in Dimitroff's Zusammenstellung angeführte
Daten Aufschluss. Unter 297 Fällen werden erwähnt:
, Störung des Temperatursinnes 88 mal
Störung des Schmerzsinnes 79 „
Lähmungen und Paresen 71 „
Muskelatropliie 134: „
Fibrilläre Zuckungen 13 „
TrophiscJie Störungen der Haut und des
ünterJuiutzeÜgeicebes 98 „
Vasomotorische und Secretionsanomalien . 25 „
Osteo- und Arthropathien 46 „
Wirbelsäulendevivationen 63 mal
Ungleichheit der Pupillen 21 ,,
Nystagmus 1" ;i
Sphincterenlähmung 30 „
576 SYßlNGOMYELIE.
Die relative Häufigkeit der einzelnen Btilbär- und Hirnsymptome
erhellt aus folgender Tabelle Lamacy's, in der 52 einschlägige Beobachtungen zusammen-
gestellt sind:
Anästhesie im Gebiet des Trjgeminus 28 mal Störungen der Stimmbänder . . . 21 mal
Anästhesie der Conjunctivq ... 4 „ Beizhusten 2 ,,
Neuralgie im Trigeminus .... 3 „ Dyspnoe 13 ,,
Lähmung des Facialis 9 „ Tachy- und Bradycardie 5 .,
Atro])hie des Facialis 2 „ Nystagmus 1 ,,
Hyperhidrose im Gesicht ..... 7 „ Amaurose 8 „
Lähmung der Zunge 8 „ Diplopie 5 „
Atrophie der Zunge 15 „ Thränenträufeln 7 „
Schling Störungen ,..•..... 21 „ Geschmacksstörungen 2 „
Störung des Kauens 1 „ Geruchsstörungen 3 „
Uebelkeiten und Erbrechen .... 5 „ Gehörstörungen 6 „
Fehlen des Pharynxreftexes .... 5 „ Kopf- und Nackenschmerzen ... 17 ,,
Speichelfluss 3 „ Schwindel 13 „
Lähmung des Gaumensegels .... 12 „ Polyurie = 3 „
Fehlen des Larynxreflexes .... 10 „
Combinationeii mit anderen Krankheiten sind bei der Gliose sehr häufig.
Am ersten Platze steht, wie überall bei organischen Nervenkrankheiten, die
Hysterie mit ihrem wechselvollen und Symptomenreichen Krankheitsbild.
Weniger häufig ist die Epilepsie. Nur ausnahmsweise werden andere Neu-
rosen gefunden (Tetanie, chronische Chorea etc.).
Sehr zahlreich sind die Mittheilungen über die Coincidenz mit organi-
schen Nerven- und Seelenkrankheiten. So sind beispielsweise Combinationen
bekannt mit chronischer Pachymeningitis, Tabes dorsalis, Syphi-
lis des Centralnervensystems, hereditärer Ataxie, Hydrocepha-
lie, Tumoren desGehirns, angeborener Demenz, Paranoia, pro-
gressiver Paralyse etc.
Eine eingehendere Besprechung erfordern die Combinationen mit der
cerebro-spinalen Lues, den Hirntumoren, der Tabes dorsalis und der Demenz.
Ob die luetischen Gefässveränderungen und die gummösen
Neubildungen der grauen Substanz imstande sind, durch Zerstörung des
Nervengewebes eine typische Syringomyelie zu verursachen, muss vorderhand
unbeantwortet bleiben. Ganz unmöglich wäre es a priori nicht. Bei älteren
Leuten findet man zuweilen (Gowers), dass Atheromatose der Gefässe eine
chronische Unternährung im Bereiche der gefässreichen centralen grauen Sub-
stanz hervorruft und zum Zerfall derselben und nachträglicher Resorption
führt. In solchen Fällen ist die Entstehung eines Hohlraumes ohne Gliawu-
cherung mehrfach beobachtet worden. Wollte man eine ähnliche Genese der
syphilitischen Syringomyelie zumuthen, so muss bei der ausserordentlichen
Häufigkeit der syphilitischen Meningomyelitis höchst befremdend erscheinen
die äusserst seltene Coincidenz der Syringomyelie mit Lues.
Von den, die Syringomyelie complicirenden Hirntumoren ist besonders
das Hirngliom erwähnenswerth, für das ein mit der Rückenmarksgliose ge-
meinsamer Ursprung zu vermuthen ist. Angesichts der Thatsache, dass in
der gliomatösen Substanz des Grosshirns sich, unweit vom Ependym der Ven-
trikel, eine ganze Reihe von kleinen, mit Cylinderepithel besetzten Höhlen
gelegentlich vorfinden, meint Schultze, es liege die Auffassung am nächsten,
dass auch ein Theil der Hirngliom e vom Ependym und von dessen Umgebung
aus entstehen, mit Vorliebe dann, wenn abnorme Ventrikelbildung vorliegt,
analog den abnormen angeborenen Spaltbildungen im Rückenmarke.
Die Tabes und Syringomyelie sind einander meist coordinirt. Die
Tabes, als parenchymatöse Erkrankung, scheint nie aus derGliose, die eine inter-
stitielle Erkrankung ist, hervorzugehen; das umgekehrte kann eher der Fall
sein, besonders wenn die secundäre Gliawucherung bei der Tabes sehr ex-
cessiv wird.
SYRINGOMYELIE. 577
Das Zusammentreffen der Demenz mit Syringomyelie und ihre gegen-
seitige pathogenetische Stellung ist bei der Besprechung der geistigen Fähig-
keiten der Syringomyeliker näher erörtert worden.
Classification. Versuche, die verschiedenen Formen der Hydro- und
Syringomyelie zu classificiren, gab es im Laufe der letzten zwei Decennien
eine Menge. Manche derselben suchten eine zweckmässige Sonderung nach
ätiologischen und pathogenetischen, andere nach anatomischen und
klinischen Principien durchzuführen. Zur ersten Gruppe gehören die be-
kannten Eintheilungen Leyden's, Ekb's und Charcot's.
Leyden zählt in seiner „Klinik der Rückenmarkskrankheiten '^ (1874j
7 ätiologisch und pathogenetisch verschiedene Formen der Höhlenbildung auf:
1. Hydromyelie (am häufigsten) 2. Cysten nach Hämatomyelien, 3. Cysten
nach Myelitis acuta und chronica, 4. Rückenmarksblutung mit Resorption des
Herdes, 5. Myelitis mit Erweichung, 6. Ausfüllung des Centralcanals mit
Serum, 7. Einschmelzung eines intramedullären Tumors.
Erb erwähnt in seinen, aus derselben Zeit herstammenden ;;Krankheiten des
Rückenmarkes" ebenfalls 7 Ursachen der Syringomyelie: 1. Nekrobiose und
Erweichung des Centrums von Tumoren mit Resorption der degenerirten
Elemente, 2. Erw^eichung und Verschwinden apoplectischer Herde, 3. mehr
weniger ausgespochene centrale Erweichung mit chronischer Myelitis, 4. Rücken-
marksdurchtrennungen, 5. secundäre Erweiterung consecutiv an die periepen-
dymäre Myelitis von Hallopeau, 6. chronische Meningitis, 7. Obliteration des
Centralcanals, die Höhle resultirend aus einer Aenderung des Druckes.
Charcot lässt die syringomyelischen Höhlen entstehen: 1. durch Er-
weiterung des Centralcanals, 2. durch die Myelite cavitaire, 3. durch glio-
matöse Bildungen.
Mit dem Studium des klinischen Bildes beginnt die symptomatologische
Gruppirung. Charcot verdanken wir die erste, ziemlich geistreiche, anato-
misch-physiologische Eintheilung der klinischen Symptome. Von
der verschiedenen physiologischen Function einzelner Abschnitte der weissen
und grauen Substanz des Rückenmarkes ausgehend, stellte er zwei Haupt-
gruppen auf:
I. Symptömes intrinseques (Symptome seitens der grauen Substanz, sog.
Cardinalsymptome) und
II. Symptömes extrinseques (Symptome seitens der weissen Substanz, sog.
Begleitungssymptome).
Die S. intrinseques theilt er ein in: 1. S. poliomyeliques antirieurs
(Muskelatrophien), 2. S. poliomyeliques posterieurs (partielle Empfindungslähmung)
und 3. S. poliomyüiques mMians (trophische Störungen).
Zu den S. extrinseques gehören: 1. S. leucomyäiques lateraux (si^sisü-
sche Lähmungen) und 2. S. leucomyüiques posterieurs (tabetische Erschei-
nungen).
Brühl hat neuerlich in seiner grundlegenden Dissertation eine grössere
Zahl von rein klinischen Formen zu unterscheiden versucht: 1. Forme
mixte commune s. classique, 2. F. sensitive., 3. F. motrice, 4. F. trophique,
5. F. fruste, 6. F. latente. Unter der „F. motrice" versteht er diejenigen
Gliosen, die nach dem Typus der progressiven spinalen Muskelatrophie, der
amyotrophischen Lateralsklerose und der cervicalen Pachymeningitis verlaufen.
Schlesinger unterscheidet in seiner bekannten Monographie neben
zahlreichen Misch- und Uebergangsformen fünf morphologische Grundtypen,
indem er an Stelle der 2 letzten Formen des BRUHL'schen Schemas den
tabischen Typus von Roth anführt.
I. Syringomyelie mit den classischen Symptomeji (1. Cervicaltypus, 2. Dorso-
Lunibaltypus) ;
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten, Bd. III. •'•
578
SYRINGOMYELIE.
II. Syringoniyelie mit vorwiegend motorischen Erscheinungen (1. Typus der
amyotrophischen Laiei-cdsMerose, 2. Typus der spastischen Spinalparalyse ^ 3. Hu-
mero-scapularer lypiis) ;
III. Syringomyelie mit vorwiegend sensiblen Erscheinungen;
IV. Syringomyelie mit vorwiegend trophischen Störungen, bezw. Morvan-
scher Symptom.encomplex ;
V. Tahischer Typus.
Den bulbo -me-
dullären Typus der
französischen Autoren
führt Schlesinger ab-
sichtlich nicht an, da
er ihm bisher durch
Obductionen nicht veri-
ficirt erscheint.
Wie leicht einzu-
sehen, umfasst wohl
keine einzige der an-
geführten Classifica-
tionen alle Varietäten
der Syringomyelie, so-
gar wenn man schon
Uebergangsformen
zwischen den einzelnen
Typen zulässt. Daraus
erklärt es sich, dass
manche Kliniker und
gute Kenner der Sy-
ringomyelie jedes
Schema bei der Grup-
pirung zurückweisen
und überall, sich auf
physiologische That-
sachen stützend, the-
oretisch das klinische
Bild für einzelne spi-
nale und bulbäre Re-
gionen zu reconstrui-
ren suchen. Und that-
sächlich lässt sich ohne grosse Schwierigkeit der Sitz der Gliose in jedem
einzelnen Falle auf Grund unserer Kenntnisse über die topische Diagnostik
mit genügender Wahrscheinlichkeit deduciren.
Als Anhang zu diesem Capitel sei ein Wort über die Syringomyelie
nach dem MoRVAN'schen Typus, resp. über die sog. Morvaii'sche Krankheit
und über ihre klinische und anatomo-pathologische Stellung zur Syringomyelie
und Lepra gesagt.
Der französische Arzt Morvan beschrieb im Anfange der 80-ger Jahre,
zu einer Zeit, wo das klinische Krankheitsbild der Syringomyelie noch sehr
wenig ausgebildet war, einen eigenthümlichen, unter kein einziges der bisher
bekannten Krankheitsbilder unterzubringenden Symptomencomplex, den er mit
dem Namen: ,.Paresie analgesique äpanaris des extremites supe-
rieures" belegte (MoRVAN'sche Krankheit). Als wichtigste Veränderungen
erwähnt Morvan: Muskelatrophie an den Händen und Vorderarmen, Sensibili-
tätsstörungen verschiedenster Natur und schwere trophische Anomalien. Letztere
sollen im Vordergrunde des Krankheitsbildes stehen und sich klinisch als
Fig. 1. Syringom yelia mutilans, Morvan'scher Typus. (Nach J. Hoffmann.)
SYRINGOM YELIE.
579
■^^
schmerzlose Panaritien, Phlegmonen, Schwielen, Skoliosen, indolente Arthro-
pathien und Spontanfractiiren äussern.
Nachdem die Syringomyelie, dank den Untersuchungen von Schultze
und Kahler, in ihre klinische Entwicklungsphase eintrat und die Identität
der Syringomyelie und des MoRVAN'schen Symptomencomplexes immer wahr-
scheinlicher wurde, suchte Morvan auf manche wichtige Unterscheidungs-
merkmale hinzuweisen. Als solche betonte er für seine Pareso-analgesie:
die Affection der taktilen Sensibilität, das Dominiren der trophischen Störungen
mit Mutilationen, die Häufigkeit der Skoliose und die autoptisch nachweisbare
(Monod-Romboul) hypertrophische
Degeneration der peripheren Nerven.
Spätere genauere Untersuchungen
Roth's und Bernhard's haben je-
doch die interessante Thatsache er-
geben, dass alle diese Unterschei-
dungsmerkmale keinen grossen Wert
besitzen, da sie alle — sowohl die
klinischen als anatomischen — auch
bei der Syringomyelie gar nicht sel-
ten vorkommen. Endgiltig gelöst
schien die Controverse zu sein, als
in manchen Fällen, die intra vitam
nur als MoRVAx'sche Krankheit diag-
nosticirt werden konnten, bei der
anatomischen Untersuchung Höhlen
im Päickenmark gefunden wurden.
In den letzten Jahren hat man
sich aber zu wiederholten Malen
überzeugt, dass thatsächlich, wie
Morvan behauptete, auch gelegent-
lich chronische Neuritiden —
speciell lepröse — den MoRVAx'schen
Symptomencomplex verursachen kön-
nen, was manchen Autoren (Zam-
baco-Pascha, DtJHRiNG) die Veran-
lassung gab, die in der Bretagne
sehr häufige MoRVAN'sche Krankheit
als eine Abart der Lepra aufzufassen.
Die Identification der leprösen Neu-
ritis und der MoRVAN'schen Krank-
heit lag übrigens sehr nah, da bei genauerer Nachforschung in derselben
Bretagne neue Lepraherde aufgefunden werden konnten. Ganz unbegründet und
principiell falsch ist jedoch die Ansicht derjenigen Enthusiasten, die das
entwicklungsgeschichtliche Moment gänzlich vernachlässigend, mit Zambaco
glauben, jeden Fall von Syringomyelie als atypische, abortive Form von Lepra
auffassen zu können.
Der Nachweis des Leprabacillus in der Haut oder im Blute und die
Vertheilung der Sensibilitätsstörungen entsprechend den entsprechenden Ner-
venbahnen, entscheidet in der Ptegel die Diagnose.
Nicht unerwähnt mag hier die Vermuthung mancher Autoren (Tedeschi,
Prus) bleiben, dass die Leprabacillen, die als Anaeroben sauerstoffarme Ge-
genden des Körpers gern aufsuchen und in den Nervencentren, resp. im
Liquor cerebro-spinalis die vortheilhaftesten Bedingungen zu ihrer Entwicke-
lung und zur Stärkung ihrer Lebenskraft finden, von den peripheren Nerven,
längs der grossen Nervenstämme oder ihrer Lymphgefässe in das Rückenmark
37*
Lepra aüaesthetica mutilans, Morvan'scher Typus.
(Nach J. Prus.)
580 . .SYRINGOMYELIE.
gelangen, wo sie Wucherung der Neuroglia und Zerfall der grauen Substanz
mit consecutiver Höhlenbildung nach sich ziehen. Man müsste selbstver-
ständlich, sollte sich diese Hypothese bestätigen, neben der „gewöhnlichen''
eine ;,lepröse" Syringomyelie zulassen. Vorderhand lässt sich jedoch Nichts
Definitives über diese Ansicht aussagen. Der Leprafall Chassiotis', den
DüHEiNG anführt, und die, bei Schlesinger citirte Beobachtung Souta-
Maetin's sprechen jedenfalls für die Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese, da
man bei derselben den HAxsEN'schen Bacillus in der grauen Substanz des
Rückenmarkes nachweisen konnte. Intra vitam darf nur der Nachweis des Le-
prabacillus die entscheidende Rolle bei der Diagnose spielen.
Jedenfalls bleibt es fraglich, ob neben der Existenz des
leprösen und des syringomyelischen MoRVAN'schen Symptomen-
complexes noch die Zulassung einer selbständigen MoRVAN'schen
Krankheit überhaupt berechtigt ist.
Diagnose. Berücksichtigt man die pathognomonische Sympto-
mentrias, so wird die Diagnose der Syringomyelie eine der leichtesten in
der Rückenmarkspathologie. Als Hilfsmomente, wo nicht alle 3 Cardinal-
symptome vorhanden sind, gelten bei der Diagnosestellung: das Fortschreiten
der Muskelatrophien und Sensibilitätsstörungen entsprechend den Rückenmarks-
segmenten, halbseitige oder wenigstens asymmetrische Lähmungen im Gebiete
der höher oder tiefer liegenden Rückenmarksabschnitte, spastische Erschei-
nungen an den Beinen, Skoliosen und Arthropathien.
Für den typischen, cervicalen Sitz der Gliose spricht die Localisation
der Grundsymptome an den oberen Extremitäten, die stark hervortretende
Krümmung des cervico-dorsalen Abschnittes der Wirbelsäule, die Steigerung
der Patellarreflexe, die oculo-pupillären Halssympathicuserscheinungen auf
einer oder beiden Seiten. Sind die dissociirten Sensibilitätsanomalien und die
trophischen Haut- und Muskelstörungen an den unteren Extremitäten erheblich
ausgesprochen, bestehen gleichzeitig Blasen-Mastdarmaffectionen nebst Verlust
der Kniescheibenreflexe, so ist die Diagnose mit grosser W^ahrscheinlichkeit auf
lumbale Gliose zu stellen. Gürtelgefühl und Verlust des Hodenreflexes
sollen bei Läsionen des Brustmarkes — dorsale Gliose — vorkommen. Eine
bulbo-medulläre Syringomyelie darf nur dann diagnosticirt werden, wenn
neben motorisch-sensiblen Störungen an den oberen, oder spastischen Er-
scheinungen an den unteren Extremitäten, einseitige oder asymmetrische Hirn-
nervenlähmungen und sensible Affection des Trigeminusgebietes bestehen, resp.
das Krankheitsbild beherrschen.
Die klinische Sonderung der zwei Hauptformen der Höhlenbildung — der
aus Gliose und der aus Gliomatose entstandenen — ist nicht immer leicht.
Für Gliomatose sprechen im allgemeinen Symptome einer rasch
wachsenden centralen Geschwulst: rasch einsetzende und fortschrei-
tende Schwäche der motorischen und sensiblen Functionen, die je nach dem
Sitze der Geschwulst sich zunächst in den Beinen, Armen oder Kopfe kund-
geben, Vorwiegen der Reizerscheinungen auf dem motorischen und sensiblen
Gebiete, enorme Schmerzhaftigkeit der Wirbelsäule und der Intercostalräume
auf Druck und spontan, frühzeitig auftretende Blasen-Mastdarmstörungen,
rascher Wechsel der Erscheinungen und rapider Verlauf.
Differentialdiagiiose. Das Symptomenreiche Bild, der mannigfache ana-
tomische Sitz und der wechselvolle klinische Verlauf der Syringomyelie be-
dingen die häufige Uebereinstimmung des Krankheitsbildes mit dem der
meisten organischen und functionellen Nervenleiden.
Bevor man die dissociirte Sensibilitätslähmung kannte, pflegte die Ver-
wechslung mit der progressiven spinalen Muskelatrophie besonders
oft vorzukommen. Bei der letzteren, da ausschliesslich die grauen Vorderhörner
degenerirt sind, kommen weder die bekannten sensiblen und vasomotorisch-
SYRIXGOMYELIE. 581
trophischen Störungen der Haut vor, noch die Lähmungen des Sympathicus und
die Deviationen der Wirbelsäule.
Dieselben differentiell-diagnostischen Momente gelten im Grossen und
Ganzen gegenüber der Poliomyelitis ant. ehr., die analog dem Lumbai-
typus der Gliose mit Lähmungen und Muskelschwäche in den Beinen beginnt,
jedoch nie Blasen-Mastdarmstörungen aufweist.
Noch mehr Aehnlichkeit mit der Syringomyelie besitzt die, durch pro-
gressive Amyotrophie, spastische Parese, Reflexsteigerung und Bulbär-
symptome charakterisirte amyotrophische Lateralsklerose, besonders
in denjenigen atypischen Fällen, wo sie unter heftigen Schmerzen beginnt
oder, wie es ausnahmsweise geschieht, mit dauernden Sensibilitäts- und Blasen-
störungen verläuft. In solchen Fällen sind besonders der ungleichmässig
progressive Gang, die starke Ausbreitung der Sensibilitätsanomalien, die Halb-
seitigkeit der Bulbärparalyse und die umfangreichen, trophischen Störungen der
Haut und tieferen Gewebe für die Gliose entscheidend.
Viel leichter gelingt die Trennung von der ERB'schen progressiven
Muskeldystrophie, für die neben der Atrophie der Muskeln enorme Hy-
pertrophien charakteristisch sind und die nie qualitative Abweichungen des
elektrischen Verhaltens, trophisch-vasomotorische Störungen der Haut und
Reflexsteigerung aufweist.
Die neurotischeForm der progressiven Muskelatrophie ist
durch ihr familiäres Vorkommen, durch das Fehlen der syringomyelischen
Dissociation und sensibler Reizerscheinungen ohne Weiteres zu unterscheiden.
Mit der spastischen Spinalparalyse kann die Syringomyelie nur
solange verwechselt werden, als Alterationen der Sensibilität und der Muskel-
ernährung fehlen.
Die Differentialdiagnose zwischen centraler Gliomatose und subacuter
Myelitis ist zumeist sehr schwierig und lässt sich nur bei Berücksichtigung
der Aetiologie und bei längerer Beobachtung des klinischen Verlaufes mit
Bestimmtheit durchführen.
Die multiple Sklerose, besonders ihre atypische mit Muskelatro-
phien, Sensibilitätsanomalien und Blasenmastdarmstörungen verlaufende Varie-
tät besitzt viele gemeinsame Züge mit der Gliose. Entartungsreaction kommt
jedoch bei derselben nicht vor, ebenfalls nur ziemlich selten typische partielle
Empfindungslähmung mit trophischen Störungen der oberflächlichen und tieferen
Gewebe.
Die centrale Hämatorayelie und centrale acute Myelitis liefern
in der Mehrzahl der Fälle das Bild der Syringomyelie und unterscheiden sich
von der letzteren nur durch den acuten Beginn und rapiden, gelegentlich
günstigen Verlauf.
Von der klassischen Tabes dorsal is mit dem vorwiegenden Sitze der
Krankheitssymptome in den unteren Extremitäten — Ataxie und Muskelsinn-
störungen an den Beinen, Romberg's und Westphal's Phänomen — lässt
sich der typische, cervicale Typus der Gliose ohne Weiteres unterscheiden.
Schwieriger wird die Trennung derselben, wo es sich um eine cervicale Tabes
resp. um eine lumbale Syringomyelie handelt. Reflectorische Pupillenstarre,
Opticusatrophie, Ataxie ohne Retiexsteigerung, doppelseitige Posticuslähmung,
Hinzutreten der Muskelatrophien im Spätstadium der Krankheit, Lues in der
Anamnese sprechen mit grosser Wahrscheinlichkeit für Tabes.
Unüberwindliche Schwierigkeiten kann zuweilen die Diff'erentialdiagnose
zwischen der Syringomyelie und der bedeutend selteneren Pachymenin-
gitis cervicalis hypertrophica bereiten. Nur genaue Berücksichtigung
der Entwicklung und der zeitlichen Aufeinanderfolge der Krankheitssymptome
kann hier zum Ziel führen. Bei der Pachymeningitis leidet das Gefühl
in allen seinen Qualitäten und trophische Störungen der Finger bis zur Muti-
582 SYRINGOMYELIE.
lation sind dabei nicht beobachtet worden. Mehrmals werden Combinationen
beider Krankheiten bei der Autopsie gefunden.
Von anderen Leiden, die durch Compression des Rückenmarkes
das klinische Bild der Gliose bis aufs Genaueste vortäuschen können (sensible
Reizphänomene,partielle Empfindungslähmung, spastische Paraparese,DüCHENNE-
ARAN'sche oder scapulo-humerale Muskelatrophie, oculo-pupilläre Symptome)
sind zu erwähnen die Spondylitis tuberculosa und die extramedul-
lären Neubildungen. Die charakteristische Form der Wirbelsäule, die
starke Empfindlichkeit dei'selben bei Druck, Belastung und spontan, die steife
Körperhaltung, die sehr vorsichtig ausgeführten Körperbewegungen, die zu-
meist gleichniässige Erapfindungsstörung, die neuralgiformen Schmerzen in
einem bestimmten Nervengebiete machen in der Regel auf den extramedullären
Sitz der Affection aufmerksam. Der Nachweis von Tuberculose, resp. von
Tumoren an anderen Körperstellen kann die Diagnose in hohem Maasse
stützen In vorgeschrittenen Fällen von Compression pflegen Stauungshöhlen
in Folge des andauernden Druckes zu entstehen.
Intramedulläre Tumoren, wenn sie nicht Gliome sind und keine
Höhlenbildung verursachen, lassen sich auf klinischem Wege kaum von der
Syringomyelie unterscheiden. Metastasen entscheiden zuweilen die Differen-
tialdiagnose.
Die syphilitsche Meningomyelitis kann ziemlich viele gemein-
schaftliche Züge mit der Gliose aufweisen. Das intercurrente Auftreten von
Gehirnerscheinungen, die auf multiple Herde hinweisen, das Fehlen von
Nystagmus trotz sonstiger Augenmuskelstörungen, die Unvollständigkeit der
Ausfallserscheinungen, das fortwährende Schwanken der einzelnen Symptome
und schliesslich der Nachweis luetischer Erscheinungen am Körper sprechen
mit Entschiedenheit für Syphilis. Wo das klinische Bild und der Verlauf
die Diagnosestellung nicht zu erleichtern vermögen, löst zuweilen das Räthsel
eine energische Jod-Quecksilbercur.
Die toxischen, infectiösen und traumatischen Affectionen
der peripheren Nerven, Nervenplexus und Nervenwurzeln
pflegen rasch und im Anschluss an bestimmte ätiologische Momente zu ent-
stehen, eine an bestimmten Nerven gebundene Localisation der Reiz- und
Ausfallserscheinungen zu haben, kaum je partielle Empfindungslähmung, da-
gegen intensive Druckschmerzhaftigkeit der Nerven und Muskeln aufzuweisen,
rückgängig oder wenigstens stabil zu werden. Diese Momente dürften genügen,
um die Lähmungen des Brachialplexus, die sacrolumbalen Neuritiden, die
traumatischen Verletzungen der Nervenwurzeln und die multiple Neuritis von
der Gliose zu unterscheiden.
Unter den multiplen Neuritiden ist von besonderer diagnostischer Dig-
nität die chronische lepröse Neuritis, die in allen Einzelheiten den
MoRVAN'schen Symptomencoraplex oder die Syringomyelia mutilans vorzu-
täuschen vermag. Der Nachweis der HANSEN'schen Leprabacillen im Secrete
der Panaritien, im Blute oder in ausgeschnittenen Hautpartien entscheidet
definitiv die Diagnose. Einen ganz eindeutigen Befund stellt das Vorhanden-
sein der unverkennbar leprösen Hautaffectionen dar: Knoten, ülcerationen,
schmerzlose weisse Narben, starke Wulstung der Augenbrauen und Ausfall
der Cilien. Weniger zuverlässig sind die inselförmigen Sensibilitätsstörungen
und die Druckempfindlichkeit peripherer Nerven bei der Lepra. Oculo-pupilläre
Symptome, gleichmässig über einen grossen Theil der Körperoberfläche ver-
lireitete partielle Empfindungslähmung, spastische Erscheinungen an den
Beinen und Blasenmastdarmstörungen sprechen für Syringomyelie und gegen
Lepra. Die Diagnose einer leprösen Neuritis bei einem Individuum, das stets
in leprafreien Gegenden gelebt hat, bleibt immer sehr gewagt.
SYRINGOMYELIE. 583
Bei der chronischen progressiven Bulbärparaly se und der
acuten cerebralen Pseudobulbcärparalyse fehlen die Sensibilitäts-
anomalien am Gesicht und die Asymmetrie im Befallenwerden der motorischen
Gebiete — was bei der bulbo-medullären Varietät der Syringomyelie nie ver-
misst wird.
Die Hysterie kann ebenfalls gelegentlich differentialdiagnostisch in
Frage kommen, da auch bei ihr livide iSchwellimgen der Hände, partielle
Emptindungslähmung, Musicelatrophien und trophische Hautstörungen hie und
da beobachtet werden. Das erhebliche Schwanken und die Vielgestaltigkeit
der Symptome, die somatischen Stigmata der Hysterie, das psychische Verhal-
ten und die Beeinflussbarkeit der Empfindungs- und Bewegungslähmungen auf
dem Wege der Suggestion sprechen in der Regel für Hysterie, welche eine
gleichzeitig bestehende Syringomyelie selbstverständlich nicht auszuschliessen
braucht.
Dass manche schwere, sowohl angeborene als erworbene Hau t äffe c-
tionen {Sklerodermie, Slderodachjlie, Äinhum, Pemphigus foliaceus, Ray-
'NAVD'sche Krankheit), chronische Gelenk- und Knochenleiden {defor-
mirende Arthritis, Akromegalie, Osteo-arthropathie hypertrophiante prieumique)
und specifische Intoxicationen {Pellagra, Lathyrismus, Ergotismus) ab
und zu differentiell-diagnostisch in Frage kommen können, wird von den
meisten Autoren mit Recht betont. Das Aufsuchen der pathognostischen sy-
ringomyelischen Trias ermöglicht jedoch in der Mehrzahl der Fälle die Stel-
lung der Diagnose.
Beginn, Verlauf mid Prognose. Der Beginn des Leidens ist Inder
Regel sehr schleichend, nur selten acut. Am häufigsten sind es Parästhesien
auf dem Gebiete des Schmerz- oder Temperatursinnes, die die Krankheit ein-
leiten. Seltener dürfte der Beginn durch Affection der motorischen oder tro-
phischen Functionen, am seltensten durch Bulbärerscheinungen eingeleitet
sein. Das Stadium der sensiblen Reizungssymptome kann Jahre hindurch
bestehen, bis anderweitige Krankheitserscheinungen hinzutreten.
Der Verlauf ist stets progressiv. Im Allgemeinen nehmen die hyper-
plastischen, gliösen, zu langgestreckten Höhlenbildungen führenden Formen
der Syringomyelie einen sehr chronischen Verlauf, von wenigen bis zu
40 Jahren; dagegen führen die Tumor bildenden Gliömatosen meist nach
2 — 3 Jahren zum Tode.
Jahrzehnte dauernde Stillstände und auf Exacerbationen fol-
gende Besserungen sind keine Seltenheiten. Die Remissionen sind nur
in der Weise zu erklären, dass manche Rückenmarksabschnitte functions-
unfähig werden können, bevor sie noch organisch von der Gliose betroffen
sind. Rapider Wechsel des Krankheitsbildes ist ungewöhnlich und in der
Regel auf stattgefundene Blutungen in das neugebildete Gewebe oder auf vor-
übergehende Druckschwankungen der Flüssigkeit innerhalb der Höhle zurück-
zuführen. Trotz der langdauernden Unterbrechungen und der häufigen Inter-
valle im Verlaufe der Krankheit, besteht jedoch im Grossen und Ganzen
eine unableugbare Tendenz zum Fortschreiten.
Die beste Prognose muss in denjenigen, glücklicherweise häufigsten
Fällen gestellt werden, wo die Gliose ausschliesslich die cervico-dorsale Region
betrifft und die Kranken lange Zeit fähig sind, ihrem Beruf einigermaassen
nachzugehen. Ungünstiger wird die Vorhersage, wenn das Uebergreifen des
Krankheitsprocesses auf die Lumbalintumescenz mit Blasenstörungen und
nachträglicher Pyelonephritis droht. Am ungünstigsten gestaltet sich die
Prognose, sobald die gliose Wucherung an den lebenswichtigen Centren der
Medulla oblongata beginnt, resp. auf dieselben übergreift. Quoad valetudinem
completam ist die Vorhersage bei Syringomyelie absolut schlecht.
584 SYSTEMERKRANKUNGEN.
Die meisten Syringomyeliker, bei denen die Widerstandsfähigkeit des
Organismus in den vorgeschrittenen Stadien stark herabgesetzt ist, sterben
an intercurrenten Infectionskrankheiten oder an Sepsis, die von
den trophischen Störungen der Haut oder von der purulenten Cystitis ihren
Ausgangspunkt nimmt. Seltener macht die Schluckpneumonie oder
Herzlähmung dem Leben ein Ende.
Therapie. Lassen schmerzhafte Parästhesien oder sich einstellende par-
tielle Empfindungslähmung eine in Bildung begriffene Syringomyelie ver-
muthen, so ist zunächst in prophylaktischer Hinsicht darauf zu achten,
dass die Kranken keine schwere Arbeiten verrichten, keinen stärkeren calo-
rischen Einflüssen sich aussetzen und vor Traumen sich in Acht nehmen.
Solche Patienten pflegen leider die schwersten Verletzungen wegen der Schmerz-
losigkeit ohne ärztliche Hilfe zu lassen und auf dieser Weise das Eindringen
septischer Substanzen in den Körper wesentlich zu erleichtern.
Symptomatisch zu behandeln sind die quälenden Schmerzen durch
lauwarme Bäder, faradische Pinselung, Chloralhydrat, Antineural-
gica, seltener durch Morphiumeinspritzungen; die exsudativen Gelenkent-
zündungen — durch Massage event. durch Function des Gelenkes; die
Muskelatrophien — durch Elektrisation. Die trophischen Hautstörungen, die
Phlegmonen, Panaritien etc. müssen streng antiseptisch behandelt werden.
Bei intensiven Nacken- und Rückenschmerzen, die zuweilen auf begleitende
pachymeningitische Processe zurückzuführen sind, erweisen sich Derivati-
onen auf die Haut sehr brauchbar.
Gegen die Krankheit selbst pflegen jene Mittel versucht zu werden, die
in dem Rufe stehen, einen resorbirenden Einfluss auf krankhafte Gewebs-
wucherung zu äussern, in erster Linie Jodkali. Der Erfolg ist jedoch bei
der spinalen Gliose mehr als zweifelhaft. Wichtiger ist die Steigerung der
Widerstandsfähigkeit des Kranken durch allgemeine Kräftigung des Organismus.
HIGIER.
Systemerkrankungen. Eutwicklungsgeschichtliche, experimenteile und
pathologisch-anatomische Untersuchungen der letzten Jahre haben die Möglich-,
keit nachgewiesen, in der scheinbaren Homogenität des weissen Markmantels
des Rückenmarks bestimmte scharf abgegrenzte Fasergruppen zu unterscheiden.
Pathologisch-anatomische Beobachtungen waren es zuerst die hier bahn-
brechend wirkten. Es fand zuerst TtJRCK, dass bei Hirnläsionen sich Körn-
chenzellenbildung vom Gehirn hinunter durch die Pyramidenkreuzung in die
entgegengesetzte Rückenmarkshältte in einem ganz bestimmten Faserzug des
gekreuzten Seitenstrangs verfolgen lasse, ferner dass bei Rückenmarksläsionen
die Körnchenzellenbildung in ganz bestimmten Faserpartien der Hinter-
und Seitenstränge erfolge und zwar aufsteigend d. h. über der Läsion; ab-
steigend nur in jener Partie des Seitenstranges, welche bei Hirnläsionen eben-
falls absteigend entartet. Zugleich nahm TtJECK an, dass diese „secundäre
Degeneration'-'' in gleicher Richtung mit der Innervationsleitung erfolge, dass
also die absteigende Degeneration der motorischen, die aufsteigende den sen-
siblen Bahnen entlang erfolge und legte mit diesen Beobachtungen den
Grund zur heutigen Rückenmarkspathologie. Diese Untersuchungen Tükck's
vielfach nachbestätigt und durch experimentelle Untersuchungen erweitert
fanden eine hochbedeutende Ergänzung in den entwicklungsgeschichtlichen
Untersuchungen Flechsig's. Dieser Forscher wies nach, dass die von Tüeck
entdeckten Bahnen sich auch entwicklungsgeschichtlich scharf charakterisiren
durch den Umstand, dass die Markscheidenbildung in den dieselben con-
stituirenden Nervenfasern später erfolge als im übrigen Markmantel. Diese
Fasergruppen nun oder „Systeme", wie sie die neuere Pathologie zu
nennen pflegt (vid. das Figurenschema auf pag. 392 ds. Bd.), sind folgende:
SYSTEMERKRANKUXGEN. 585
1. Die Pyramidenseitenstranghahn. Sie tritt aus der Pyramide in den
gekreuzten Seitenstrang und verläuft unter beständiger Faserabnahme bis in
die unteren Partien des Lendenmarks. Ihr Ursprung ist mit grösster Wahr-
scheinlichkeit in der grauen Substanz der Centralwindungen, ihre Endstation
in den grossen Zellen des Yorderhorns der gekreuzten Seite zu suchen. Sie
degenerirt absteigend.
2. Die Pi/mmidenvorder Stranghalm verläuft ungekreuzt mit bedeutender
Variabilität der Faseranzahl aus der Pyramide in den Vorderstrang derselben
Seite. Ursprung wie bei der Pyramidenseitenstranghahn. Endstation wahr-
scheinlich die Vorderhornzellen derselben Seite. Sie degenerirt absteigend
und kann gewöhnlich nur bis in das untere Brustmark verfolgt werden.
0. Die KleinhimseitenstrangbaJm. Sie nimmt die hintere, äusserste Partie
der Seitensträuge ein, degenerirt aufsteigend und lässt sich bis in die soge-
nannten Corpora restiformia verfolgen, durch welche sie in das Kleinhirn ein-
tritt. Sie entspringt in den CLAßKE'schen Säulen.
4. Der Tractiis anferolateralis, zuerst von Gowers abgegrenzt, sich nach
vorn an die Piückenmarksperipherie der Kleinhirnseitenstrangbahn anschlies-
send, degenerirt aufsteigend. Ursprung und Ende unbekannt.
5. Die „Systeme" der GoiäJ sehen und BuRDAcn'sc^ew Stränge. Sie
verlaufen beide in den Hinter strängen, degeneriren aufsteigend und es ist durch
experimentelle Untersuchungen zuerst von Singer, in letzter Zeit besonders
von Singer und Münzer mit grösster Wahrscheinlichkeit nachgewiesen worden,
dass beide nichts sind als die directen Fortsetzungen hinterer Wurzeln. Sie
entspringen demnach aus den Zellen der Spinalganglien und endigen zum
Theil in der grauen Substanz des Rückenmarkes. Die längsten von ihnen treten
in die Kerne der zarten und BuRDAcn'schen Stränge.
Ob im Hinterstrang eigene Fasern d. i. solche, welche aus der grauen
Substanz des Rückenmarkes entspringen, verlaufen, ob ferner mehrere von ein-
ander gesonderte „Systeme" daselbst zu unterscheiden sind, ist noch ungewiss;
ersteres aber durch experimentelle Thatsachen wahrscheinlich gemacht.
Diejenigen Erkrankungen des Rückenmarkes nun, in welchen im Gegen-
satze zu den in zerstreuten Herden auftretender Myelitiden oder Sklerosen der
pathologische Process primär eines oder mehrere der oben genannten Faser-
systeme ergreift, hat man neuerdings mit dem Namen der Systemerkrankungen
bezeichnet. Es handelt sich dabei, wie man sieht, in erster Linie um einen
anatomischen Begriff und es erhebt sich die Frage, inwiefern diesem durch
bestimmte klinische Symptomeiicomplexe entsprochen wird.
Die secundäre Degeneration, die reinste Form des anatomischen
Begriffes der Systemerkrankungen kann insofern nicht unter den Rahmen einer
klinischen Analyse fallen als sie die anatomische Folgeerscheinung mannig-
faltiger, eine Continuitätstrennung im Centralnervensystem ver-
anlassenderprimärerProcesse sein kann, deren Symptomatologie dann
das ganze Bild beherrscht. Indessen ist eine Erscheinung von Wichtigkeit,
nämlich das häufige Auftreten von spastischen Erscheinungen und Contrac-
turen in der gelähmten Muskulatur, welches gleichzeitig mit der Degeneration
der Pyramidenbahnen aufzutreten pflegt. Dasselbe wird bei der Beurtheilung
der Symptomatologie der uns zunächst beschäftigenden Krankheit von Wich-
tigkeit sein.
1. Die amyotrophische Lateralsklerose. Unter dieser Bezeichnung
wurde von Charcot seit 1865 ein Symptomencomplex beschrieben, der sich
folgendermaassen charakterisirt. Unter spastischen Erscheinungen,
Rigidität bis zu vollständiger Contractur, entwickeln sich bei gleichzeitiger Stei-
gerung der Sehnenreflexe und intensivem Auftreten fibrillärer Zuckun-
gen in der ergriffenen Muskulatur paretische Erscheinungen in den
erkrankten Theilen. Es kommt im Verlauf der Erkrankung zu vollständigem
Schwund der erkrankten Muskulatur.
586 SYSTEMERKRANKÜNGEN.
Diese Muskelatrophie beginnt meist an den Oberextremitäten, besonders
den Händen am Thenar und Hypothenar sowie an den Interossei, so dass es
im Anfange der Krankheit zu einer charakteristischen Deformität der Hand
kommt, indem die Handfläche stark abgeplattet erscheint, die erste Phalanx
gestreckt, die beiden anderen flectirt sind: „Klauenhand, '•^ „Affenhand." Später
werden die Vorderarme und in geringem Grade die Oberarme ergriffen. Auch
die Halsmuskulatur erkrankt häufig, sehr spät die Muskulatur der Unter-
extremitäten. Das schwerste Symptom bilden die sogenannten bulbären Symp-
tome. Oft sehr frühzeitig erscheint die Lippenmuskulatur ergriffen, beson-
ders am Kinn zeigen sich bald fibrilläre Zuckungen, so dass das Gesicht den
Eindruck eines weinenden Kindes macht. (Marie.)
Bei fortgeschrittener Atrophie können die Lippen nicht mehr geschlossen
werden, der Speichel fliesst aus dem weit offenen Munde, es besteht Unmöglich-
keit zu blasen oder zu pfeifen und die Vocale r und i auszusprechen. Auch
an der Zunge zeigen sich fibrilläre Zuckungen sehr frühzeitig. Später nimmt
dieses Organ ein geschrumpftes gefurchtes Aussehen an, in den letzten Sta-
dien der Krankheit bleibt die Zunge unbeweglich hinter den Zahnreihen liegen,
so dass die Sprache fast ganz unverständlich wird. Das Gaumensegel ist
schlaff, hängt herab, oft mit zähem Schleim bedeckt. Seine Parese führt
Phonationsstörungen herbei, besonders Schwierigkeit in der Ä.ussprache des
b und p. In vorgerücktem Stadium kommt es natürlich zu Schlingbeschwerden.
Es wäre hervorzuheben, dass paretische Erscheinungen von Seite des Gaumen-
segels eines der ersten Symptome der Krankheit bilden können. Ich selbst
habe einen Fall beobachtet, in welchem bei einem Hausierer, einem Manne
also, dessen Beruf ihn nöthigte viel zu sprechen, näselnde Sprache das erste
Symptom war, welches den Kranken veranlasste ärztliche Hilfe zu suchen, ohne
dass man an den Bewegungen des Gaumens irgend welche Abnormität nach-
zuweisen im Stande war. Ebenso war von den sonstigen Symptomen der
Krankheit, fibrillären Zuckungen, Steigerung der Reflexe, nichts nachzuweisen.
Nur eine eigenthümliche Erscheinung mahnte zur Vorsicht in der Prognose,
nämlich die aufi'allende Neigung des Kranken zu krampfhaftem Lachen, ein
Symptom das bekanntlich gern bei bulbären Erkrankungen aufzutreten pflegt.
Ein Jahr nach seiner ersten Vorstellung kam dieser Kranke wieder mit den
ausgesprochenen Symptomen der Krankheit, Atrophie der Zunge, der Mus-
kulatur, der Oberextremitäten, spastischer Parese und Steigerung der Reflexe.
Schreiten die atrophischen Veränderungen weiter, so kommt es zu Schwierig-
keit im Kauen und Parese der Kaumuskeln später noch zu Störungen im
Vagusgebiet, Erstickungsanfälle, Athembeklemmung, Circulationsstörungen als
Tachycardie, Synkopen, welche tödtlich enden können. Schluckpneumonien be-
enden gewöhnlich diesen traurigen Symptomencomplex. Sphincteren und die
Sensibilität zeigen keinerlei Störung.
Welche anatomische Grundlage entspricht nun diesem Symptomen-
bild? Die auffallendste Veränderung im Rückenmark bilden atrophische
Processe in der grauen Substanz, be-sonders sind es die grossen Vorderhorn-
zellen, welche deutliche atrophische Veränderung zeigen, sie sind kleiner, ver-
lieren ihre Fortsätze und verschwinden stellenweise gänzlich. Doch be-
schränken sich die atrophischen Processe nicht ausschliesslich auf die Zellen,
sondern die graue Substanz erscheint überhaupt tief verändert, zeigt Kern-
wucherung, Vermehrung des interstitiellen Gewebes und starke Abnahme der
Nervenfasern. In der weissen Substanz zeigen die Pyramidenstränge und
der gekreuzte zwar sowohl als der ungekreuzte deutliche Sklerosen. Jedoch
beschränkt sich diese Sklerose nicht ausschliesslich auf die Pyramidenstränge,
sondern sie ergreift auch die umliegenden Faserpartien, sie ergreift in
einzelnen Fällen auch die an die graue Substanz angrenzenden Schichten, ja
was für die Auffassung des ganzen Processes als „Systemerkrankung'' von
^YSTEMERKRANKUNGEN. 587
eingreifender Bedeutung ist, in einzelnen Fällen sollen auch die GoLL'sclien
Strcänge von der Erkrankung befallen werden. Entsprechende Veränderungen
finden sich in der MeduUa oblongata, es sind in erster Linie die motorischen
Kerne, besonders der des N. hypoglossus, welche Atrophie und Schwund der
Ganglienzellen zeigen, auch am motorischen Trigeminuskern, dem des
Facialis und Vagus wurden Atrophien constatirt. In der weissen Substanz
sind es abermals die Pyramiden, welche degenerirt sind, doch ist die Ver-
änderung nicht so intensiv wie bei den secundären Degenerationen nach Hirn-
läsionen. In vielen Fällen nimmt die Sklerose nach oben entschieden ab, doch
sind Fälle beobachtet, wo dieselbe durch die Brücke nud die Grosshirnschenkel
ins Gehirn sich fortsetzt. In der Brücke und den Grosshirnschenkeln nimmt
sie dann die Stelle der Pyramidenbahn ein, im Gehirn wurde bisher in
einzelnen Fällen das Vorhandensein von Körnchenzellen in der Capsula
interna und in den Centralwindungen, ferner Atrophie der Pyramidenzellen
in den letzteren constatirt.
Die vorderen Wurzeln sind atrophisch, hingegen wurde an den Stämmen
der motorischen Nerven, welche die atrophischen Muskeln innerviren Be-
obachtungen gemacht, welche mit unseren jetzigen Anschauungen nicht ver-
einbar sind. Während nämlich die bulbären Nerven atrophisch sein sollen,
hat Kronthal in einigen Fällen an den spinalen Nerven gar keine Atrophie
bemerkt. Hingegen sollen die intramusculären Nervenstämme sklerotisch sein.
Die erkrankten Muskeln zeigen das Bild der einfachen Atrophie. Die
elektrische Untersuchung ergibt, wohl nach dem Stadium, das zur Beobachtung
kommt, verschiedene Ptesultate. Während einige Forscher die Entartungs-
reaction als charakteristisch für die Erkrankung auffassen, haben andere nur
einfache Herabsetzung der Contractilität für beide Stromarten gefunden.
Was nun die Theorie der Erkrankung betrifft, so hat man sie als
systematische Erkrankung des grossen motorischen Systems:
Centrahüindungen — Pijramidenhahnen — Yorderhornzellen — vordere Wur-
zeln — willkürUche Muskulatur — darzustellen versucht.
Sollte dieses Schema wirklich zutreffend sein, dann müsste das Krank-
heitsbild einem degenerativen Process entsprechen, welcher z. B. in den
Ganglienzellen der Centralwindungen beginnend, die Pyramidenbahn herab-
steigt, die Yorderhornzellen angeht und von da auf vordere Wurzeln und
Muskulatur übergreift. Dieses einfach verlockende Schema stimmt aber mit
den Thatsachen der pathologisch-anatomischen und klinischen Beobachtungen
leider nicht überein. Erstens ergreift, wie schon erwähnt wurde, die intra-
medulläre Degeneration der Pyramidenbahn auch eine grosse Faseranzahl, die
nicht zur Pyramidenbahn selbst gehören, welche Anomalie allerdings damit
erklärt werden kann, dass es sich um secundäre Degeneration von kurzen
Commissurfasern handelt, welche in Folge der Erkrankung der grauen Substanz
aufgetreten ist. Was sich aber in das obige Schema gar nicht hineinpassen
lässt, das ist die Thatsache, dass die Degeneration der Pyramidenbahn in
vielen Fällen sich blos auf den Päickenmarksantheil derselben beschränkt
und vor der Medulla oblongata Halt macht. Ferner der Umstand, dass die
klinischen Beobachtungen lehren, dass die fragliche Degeneration sowohl auf-
steigend (Beginn an den Extremitäten, consecutives Erkranken des Bulbus)
als absteigend (primäres Ergriftensein des Bulbus, secundäres der Extremitäten)
auftreten kann, was mit unseren bisherigen Anschauungen über die Theorie
der degenerativen Processe ebenfalls nicht übereinstimmt, da eine Entartung
einer Nervenfaser ohne primäre Erkrankung ihrer Ursprungszellen bisher
unverständlich ist. Einen ferner fraglichen Punkt betretten die oben er-
wähnten Beobachtungen, nach denen in einzelnen Fällen auch die GoLL'schen
Stränge entartet gewesen sein sollen. Indess wäre, die Richtigkeit der Be-
obachtung vorausgesetzt, in diesem Fall die Möglichkeit gegeben auf die
588 SYSTEMERKEANKUNGEN.
neuerdings von anatomischer Seite gebildete Anschauung zurückzugreifen, dass
GoLL'sche Stränge und Pyramidenbahnen einen zusammengehörigen Reflex-
apparat darstellen, daher auch einer gemeinschaftlichen Erkrankung unter-
liegen können.
Von diesen Punkten, welche an der Auffassung der sogenannten amy-
otrophischen Lateralsklerose als Systemerkrankung zweifeln lassen, müssen
wir uns zu der noch weiter gehenden Ansicht eines anderen bedeutenden
Neurologen wenden, dass nämlich dieser ganze Symptomencomplex mit der
Sklerose des Seitenstranges direct nichts zu thun hat. Diese Anschauung
ist von Leyden vertreten worden und kam gelegentlich einer Debatte über
einen Vortrag von Senator über einen Fall, welcher den Symptomencomplex
der amyotrophischen Lateralsklerose zeigte und bei der genauesten mikro-
skopischen Untersuchung keinerlei Veränderung der Seitenstränge erkennen
liess, zur lebhaften Erörterung in der Berliner medicinischen Gesellschaft.
Letden lässt nur die Atrophie der Vorderhornzellen mit der darauf folgenden
Muskelatrophie als charakteristisch gelten. Die Sklerosen der Seitenstränge
fasst er nur als secundär auf, ohne dafür eine bestimmte Erklärung aufzu-
stellen. Die spastischen Erscheinungen haben nach seiner Anschauung mit
der Erkrankung der Seitenstränge nichts zu thun, sondern wären nur Aus-
druck des gesteigerten Muskeltonus, welcher überall dort auftritt, wo eine
Unterbrechung der willkürlichen Bahnen vom Grosshirn zum Rückenmark
vorhanden ist. Es ist also hervorzuheben, dass von maassgebenden Seiten ge-
wichtige Zweifel an der Berechtigung des ganzen, von Charcot construirten,
Krankheitsbildes erhoben wurden, die Frage daher nicht als endgiltig ent-
schieden zu betrachten ist.
Die Differentialdiagnose kann erstens die verschiedenen Formen
von Amyotrophien betreffen. Die progressive Muskelatrophie des Typus Du-
chenne-Aran, die Atrophien bei den multiplen Polyneuritiden. Die primären
Myopathien kennzeichnen sich durch die Verminderung der Sehnenreflexe so,
dass auf die übrigen Symptome kaum Rücksicht zu nehmen ist. Jene Fälle
von Syringomyelie, welche mit Steigung der Reflexe einhergehen, charakteri-
siren sich durch die der Syringomyelie eigenthümlichen Sensibilitätsstörungen
insbesondere die dissociirten Sensibilitätsstörungen (Thermo- Anästhesie), sowie
durch die trophischen Störungen (Ulceröse Panaritien, Ausfall der Nägel u. s. f.)
Die Pachymeningitis cervicalis hypertrophica ist durch das Fehlen der bul-
bären Symptome, sowie durch das Auftreten von neuralgischen Schmerzen cha-
rakterisirt.
Von einfachen, spastischen Paraplegien, welche bei der Differentialdiagnose
in Betracht kommen könnten, ist nur die einfache Quermyelitis zu erwähnen.
Dieselbe führt meist zu Störungen der F'unction der Sphincteren und lässt die
unterhalb der Querläsion liegenden Theile intact. Jene Form der multiplen
Sklerose, die auch zu dem Symptomenbild amyotrophischer Lateralsklerose füh-
ren kann, ist sehr selten.
Die Pseudobulbärparalysen cerebralen Ursprunges endlich zeigen keine
amyotrophischen Symptome und charakterisiren sich durch ihren mehr weniger
mit cerebralen Symptomen (Hemiparese) einhergehenden Verlauf.
Die Aetiologie der Krankheit ist dunkel, die Therapie aussichtslos.
2. Tabes dorsalis. Neben der Erkrankung des grossen motorischen
Systems der amyotrophischen Lateralsklerose wäre einer unter den neuro-
logischen Forschern viel verbreiteten Ansicht gemäss die Tabes dorsalis als
die ;; Systemerkrankung" der sensiblen Bahnen aufzufassen. Anschliessend
an älteren Beobachtungen der französischen Schule, nach denen der degenera-
tive Process der Tabes immer in gewissen Partien der Hinterstränge der so-
genannten hanclelettes externes beginnt, nach welcher ferner gewisse Partien
der Hinterstränge und zwar die Kuppe derselben, welche an die graue Sub-
SYSTEMERKRANKÜNGEN. Ooy
stanz angrenzt, von dem degenerativen Process freibleiben, an Beobachtungen
ferner, dass auch in den Hintersträngen sich nach den Stadien der Mark-
scheidenbildung verschiedene „Systeme" von Fasern nachweisen lassen, dem-
entsprechend bei frühzeitig zur Obduction gelangten Tabesfällen sich auch ver-
schiedene Degenerationsbilder vorfinden, im Anschluss ferner an die Thatsache,
dass in manchen Fällen von Tabes auch die Kleinhirnseitenstrangbahnen
erkranken, hat man in den Hintersträngen verschiedene „Systeme" angenom-
men und die Tabes dorsalis als combinirte Systemerkrankung darzustellen
versucht. Ist diese Autfassung berechtigt? Experimentelle Untersuchungen
der neuesten Zeit scheinen gewichtige Gründe gegen diese Ansicht beizu-
bringen. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass es für das Thier
(Hund, Katze, Kaninchen) nachgewiesen ist, dass die Trennung des Hinter-
stranges in zwei Fasersysteme BuuDACH'scher und GoLL'scher Strang eine
künstliche ist und dass dieselbe nichts sind als hintere Wurzelfasern. Jede
hintere Wurzel zerfällt in drei Partien, von denen die eine sich direct
in das Hinterhorn begibt, die zweite sich nach längerem oder kürzerem Verlauf
in die graue Substanz des Rückenmarkes einsenkt, die dritte zu den Kernen
der zarten oder BuKDAcn'schen Stränge zieht. Dementsprechend werden die
BuKDACu'schen Stränge im Lendenmark von den kurzen Antheilen der
hinteren Wurzeln gebildet, während im Halsmark auch die langen Bahnen
an deren Aufbau theilnehmen. Es sprechen ferner sich häufende Beobachtungen
dafür, dass die Grunderkrankung bei der Tabes die sensiblen Fasern des
Nervensystems auch extraspinal ergreift, ferner sind neuerdings Veränderungen
der Spinalganglien bei Tabes dorsalis beobachtet worden. Sollte die letzte
Veränderung sich als regelmässig und als primär in allen Fällen nach-
weisen lassen, so würde es sich bei der Tabes um eine einfache, secundäre
Degeneration der Hinterstrangfasern handeln. In jedem Fall ist es aber nicht
unbedingt nothwendig auch mit Rücksicht auf die erwähnten anatomischen
Befunde in den Hintersträngen bei frühzeitig obducirten Tabesfällen an eine
systematische Erkrankung zu denken, denn das primäre Ergriffensein dieser
oder jener Wurzelgruppe dürfte vollständig genügen, um diese verschiedenen
Bilder zu erklären.
So erscheint denn auch die Auffassung der Tabes dorsalis als sogenannte
combinirte Systemerkrankung nicht unanfechtbar sichergestellt und müssen
diesbezügliche weitere Untersuchungen abgew^artet w^erden. ")
3. Die sogenannten combinirten Systemerkrankungen. In einer An-
zahl von Rückenmarkserkrankungen findet sich ein anatomischer Befund, welcher
degenerative Veränderungen in allen oben erwähnten Fasersystemen erkennen
lässt. Die GoLL'schen Stränge sind ihrer ganzen Länge nach ergriffen.
Die BuKDACH'schen Stränge weniger vollständig und immer mehr in ihrem
Rückenmarktheil als im Lendenmark. Die gekreuzte Pyramidenbahn ist nicht
vollständig und nicht ihrer ganzen Ausdehnung nach, die Pyramidenvorder-
strangbahn ist gar nicht oder nur wenig betheiligt. Die Kleinhirnseitenstrang-
bahn ist immer und stark erkrankt. Auch das GowEEs'sche Bündel pflegt,
wenn auch schwächer, erkrankt zu sein.
In der grauen Substanz sollen die Zellen der Vorderhörner und die der
CLARKE'schen Säulen hie und da atrophische Veränderungen zeigen. Ausser
der gleichmässigen Betheiligung sämmtlicher Fasersysteme sind Combination
von Erkrankung einzelner derselben beobachtet worden und zwar Erkrankung
der Hinterstränge und Pyramidenbahnen, der Pyramidenbahnen und Kleinhirn-
seitenstrangbahnen und der Hinterstränge und Kleinhirnseitenstrangbahnen.
Diese Degenerationen sollen die genannten Fasersysteme primär ergreifen,
sie beginnen ohne jede Regel an irgend einen Punkt des Systems, um auf- oder
*) Die ausführliche Schilderang der Tabes geschieht im Artikel „Tabes dorsalis^
590 SYSTEMEEKEANKUNGEN.
abwärts oder nur einseitig fortzuschreiten. Gegenüber dieser vor einer Anzahl
Neurologen getheilten Ansicht ist die Ansicht Letden's zu erwähnen, welche
die geschilderte Erkrankung zu der diffusen Sklerose rechnet, besonders ge-
stützt auf die Thatsache, dass die Sklerose niemals die Grenze der genannten
Bahnen vollständig einhält. Es hat ferner Marie auf die Möglichkeit auf-
merksam gemacht, dass primäre Gefäss Veränderungen im Rückenmark durch
die eigenthümliche Anordnung der Rückenmarksgefässe zu der Sklerose der
combinirten Systemerkrankungen Veranlassung geben könnten. Die Symptoma-
tologie ist begreiflicherweise wechselnd je nach der vorwiegenden Betheiligung
dieses oder jenes der beiden Systeme, sie wird auch wechseln, je nachdem
der sklerotische Process früher oder später in diesem oder jenem System
beginnt. Hervorzuheben ist, dass die Functionen der Kleinhirnseitenstrang-
bahn bisher gar nicht bekannt sind, dass Erkrankung der Pyramidenbahn vor-
wiegend spastische, die der Hinterstränge anästhetisch-ataktische Symptome
hervorzurufen pflegt. Wir werden also zwei Gruppen unterscheiden können,
eine spastische und eine ataktische, so dass, wenn die Erkrankung mit spa-
stischen Symptomen beginnt, zu denen sich später atactische hinzugesellen,
die Möglichkeit einer combinirten System erkrankung in Betracht gezogen werden
muss. Bei früherem Auftreten der ataktischen Symptome wird die Differen-
tialdiagnose mit Tabes dorsalis grosse Schwierigkeiten machen.
Dass wir noch weit davon entfernt sind, ein scharf umschriebenes
Symptombild zu kennen, welches sich mit den oben genannten Veränderungen
vollkommen deckt, das lehrt wohl am besten die Thatsache, dass bei einem
klinisch genau studirten Krankheitsbilde wie bei der FmEDREiCH'schen Ataxie
bis jetzt eben auch nur die obgenannten Erkrankungen der Fasersysteme des
Rückenmarks bekannt worden sind.
Die FEiEDEEiCH'sche Ataxie ist eine familiäre, d. i. meist mehrere
Geschwister ergreifende Erkrankung mit mehr oder weniger ausgesprochener
Heredität, welche folgende Symptome zeigt. Der Gang ist taumelnd, geschieht
mit gespreizten Beinen, doch sind die Bewegungen einerseits nicht so heftig
stossweise, wie bei den Tabetikern, andererseits incoordinirter wie bei
der cerebellaren Ataxie, so dass Chaecot diese Gangart als tabetocere-
bellare bezeichnet hat. Dabei zeigt der Kopf Oscillationen, ähnlich denen
bei der Herdsklerose. Es besteht ferner, während das RoMBERG'sche Phänomen
gewöhnlich fehlt, das was Feiedeeich als „statische Ataxie'' bezeichnet hat.
Der Kranke kann nämlich auch mit gespreizten Beinen sich nicht ruhig auf-
recht halten, sein Körper wird beständig von unregelmässigen Oscillationen
durchzuckt, sein Kopf oscillirt und er ist genöthigt häufig Stellung zu wech-
seln, um sein Gleichgewicht zu erhalten. Hie und da besteht Intentionszittern
und choreiforme Bewegungen, welche Oberextremitäten Hals und Gesicht ein-
nehmen, aber nie so ausgedehnt sind, wie bei der Stdenham' sehen Chorea.
Sehr wenig ausgesprochen sind merkwürdigerweise die Störungen der Sensi-
bilität. Weder Analgesie, noch Anästhesie, noch die bei Tabes so häufigen
Störungen der höheren Sinnesorgane, Opticusatrophie z, B. sind beobachtet.
Ebenso soll der „Muskelsinn" keine bedeutende Störung zeigen. Die Sehnen-
reflexe fehlen gewöhnlich. In der Mehrzahl der Fälle besteht Nystagmus,
Von cerebralen Störungen ist ausser einer zögernden Sprache nichts ver-
zeichnet. Von Seiten der Genital- und Harnorgane sind keine Abnormitäten
bekannt. Trophische Störungen fehlen (vergl. Artikel „ Feiedeeich 'scAe Krank-
heit% Bd. I, pac/. 688).
Es ist nun auffällend, dass diesen scharf charakterisirten Symptomen-
complex pathologisch-anatomisch ein Befund zu Grunde liegt, der sich im
Wesentlichen mit den bei den oben beschriebenen combinirten . System-
erkrankungen deckt. Man fand degenerirt die GoLL'schen Stränge ihrer
ganzen Länge entlang; die BüEDACii"schen in verschiedener Intensität und
TABES DORSALIS. 591
Ausdehnung, die Kleinhirnseitenstrangbahn in abnehmender Intensität von
ihrem Beginn nach oben mit Betheiligung des Tractus antero-lateralis. Die
Pyramidenseitenstrangbahn wurde ebenfalls degenerirt gefunden. Wohl ist
Marie der Ansieht, die im Seitenstrang degenerirten Fasern wären mit der
Pyramidenbahn nicht identisch, doch scheinen die Gründe, die er dafür anführt
nicht sehr zwingender Natur zu sein. Die Veränderungen der grauen Substanz
zeigen nichts charakteristisches. Atrophie der Zellen der CLAKKE'schen
Säulen, auch der Vorderhornzellen sind hie und da beschrieben. Es ist voll-
ständig unklar, wie dieser von den der übrigen Systemerkrankungen so ver-
schiedene Symptomencomplex durch einen im Wesentlichen identischen ana-
tomischen Befund sich erklären lassen soll. Man kommt unwillkürlich auf
den Gedanken, es möchten wohl noch Veränderungen in den höheren Centren
vorhanden sein, die bisher der Untersuchung entgangen sind und welche zur
Erklärung herangezogen werden könnten. Dafür spräche der von allen
Beobachtern betonte cerebellare Charakter der Ataxie, ferner der Nystagmus,
vielleicht auch der Umstand, dass das Rückenmark in allen bisher unter-
suchten Fällen ein auffallend geringes Volumen gezeigt hat. Es ist dies
jedenfalls der Punkt, wo zukünftige Forschungen einzusetzen haben werden,
um Licht in diese dunkle Frage zu bringen. singer.
Tabes dorsaliS. Unter dem etwas obsoleten Namen der Tabes dor-
salis, welcher von den alten Schriftstellern wahrscheinlich zur Bezeichnung
verschiedener Kückenmarkserkrankungen promiscue gebraucht wurde, bezeich-
nen wir seit 1851 mit Komberg eine ganz bestimmte chronische Rücken-
markserkrankung, deren wichtigstes Symptom, die mit dem Namen der
Ataxie bezeichnete Störung der Motilität und deren anatomische Grundlage
eine Degeneration der Hinterstränge des Rückenmarkes bildet. Von den
sonst noch im Gebrauch befindlichen Namen ist nur der von Duchenne 1858
gebrauchte Ataxie locomotrice progressive zu erwähnen, welche sich an das
Hauptsymptom der Erkrankung, das von Duchenne sehr richtig beschrieben
wurde, anlehnt, aber auch in der französischen Literatur dem allgemein üblichen
der Tabes Platz gemacht hat.
Pathologische Anatomie.
Bei entwickelten Fällen erscheint nach Eröffnung des Duralsackes das
Rückenmark dünn und hinten abgeflacht. Zwischen den hinteren Wurzeln
ist die Pia oft verdickt und trübe. Die hinteren Wurzeln erscheinen
im Vergleich zu den runden, weissen vorderen Wurzeln flach, dünn, grau-
röthlich durchscheinend. Diese Veränderungen sind gewöhnlich im Lenden-
mark am intensivsten und nehmen nach oben ab, doch gibt es Fälle wo das
Lendenmark weniger ergriffen ist und das Halsmark vorwiegende Erkrankung
zeigt {Tabes cervicalis o. superior). Auf dem Querschnitte des frischen
Markes sieht man in den Hintersträngen statt der normalen weissen Substanz
ein helles, graues oder grauröthliches Gewebe, das unter die Schnittfläche
einsinkt, welches in vorgeschrittenen Fällen fast den ganzen Querschnitt der
Hinterstränge einnimmt; nur an der Kuppe der letzteren, der grauen Co-
missur anliegend, ebenso an die Hinterhörner angrenzend, finden sich Reste
normaler Rückenmarksubstanz. Meist erscheinen die GoLL'schen Stränge
am intensivsten erkrankt, doch fand Leyden, was für die Theorie der Krank-
heit sehr wichtig ist, in Fällen von Tabes cervicalis den BuRDACn'schen Strang
vorwiegend ergriffen. Die Degeneration beschränkt sich meistens auf die
von den hinteren Wurzeln eingefasste Region, in einzelnen Fällen überschreitet
sie diese Grenze jedoch und erstreckt sich auf die Kleinhirnseitenstrangbahn,
ja greift auch auf die Vorder- und Seitenstränge über. Indess gehören diese
Fälle wohl in die Kategorien der „combinirten Systemerkrankungen." An dem
592 TABES DORSALIS.
in Chromsalzen gehärteten Organ ist die Degeneration durch die hellgelbe
Färbung der erkrankten Partien schärfer zu erkennen und deutlicher abgrenzbar.
Diese degenerativen Veränderungen erstrecken sich bis zu den Kernen
der zarten Stränge. Weiter nach oben sind dieselben mit Sicherheit
nicht nachgewiesen worden.
Bei mikroskopischer Untersuchung der veränderten Partien
findet man dieselben an Nervenfasern verarmt, die vorhandenen Nervenfasern
im Querschnitt verschmälert, markarm, das Grundgewebe erscheint von netz-
förmiger Structur mit ovalen Kernen. Die hinteren Wurzeln bilden dünne,
faserige Streifen mit nur vereinzelt erhaltenen Nervenfasern. Die graue
Substanz erscheint besonders in den hinteren Partien atrophisch, die vor-
deren meist normal. Die Ganglienzellen sind in den seltensten Fällen
atrophisch gefunden worden, wo Combination mit progressiver Muskel-
atrophie bestand. Häufig tritt zugleich mit dem spinalen Process Dege-
neration peripherer Nerven und zwar insbesondere der sensiblen Nerven auf.
Diese periphere Neuritis tritt nicht continuirlich mit der Erkrankung des
Rückenmarkes, sondern herdweise auf.
Will man dem Wesen dieses eigenthümlichen Processes etwas
näher treten, so muss man die Vertheilung desselben in Fällen studiren, wo
derselbe sich erst in den Initialstadien befindet, und zur Vergleichung die
Resultate der Experimentaluntersuchungen über den Aufbau der Hinterstränge
heranziehen. Es wurde schon in dem Artikel ,^ Systemerkrankungen'''' darauf
hin gewiesen, dass in F'ällen von initialer Tabes im Lendenmarke die soge-
nannten bandelettes externes, im Halsmarke die GoLL'schen Stränge er-
krankt sind; in Fällen von sogenannter Tabes cervicalis sind hingegen vor-
wiegend die BuRDACH'schen Stränge erkrankt, die GoLL'schen hingegen
frei. Nun sind die sogenannten bandelettes externes nach den obgenannten
Experimente nichts als die Eintrittsstellen der hinteren Wurzeln der Lumbar-
nerven. Die letzten treten aber höher oben in den GoLL'schen Strang, während die
Wurzeln der Cervicalnerven nicht mehr an dem Aufbau desselben Theil nehmen.
Es erklären sich also die Befunde bei initialer Tabes sehr gut durch die An-
nahme der primären Erkrankung der hinteren Wurzeln. Die mannigfachen
Localisationen der Entartung, die insbesondere von Strümpell in Fällen von
initialer Tabes constatirt wurden, bedürfen vorläufig nicht der Annahme be-
sonderer Systeme in den Hintersträngen, sondern lassen sich vielleicht am
Besten erklären, wenn man die Theilnahme verschiedener Wurzeln in ver-
schiedenem Grade an dem Processe supponirt. Die totale Degeneration des
Hinterstranges bei vorgeschrittenen Fällen, erklärt sich durch Betheiligung
sämmtlicher Wurzeln. Auch für das Freibleiben der Kuppe der Hinterstränge
haben neuere experimentelle Forschungen eine Handhabe der Erklärung
geliefert. Singee und Münzer fanden bei Wiederholung der Ehruch-Brie-
GER'schen Untersuchungen über die Folgen des STENSON'schen Versuches, an
der Kuppe der Hinterstränge, welche nach Untergang der grauen Substanz
des Rückenmarkes sonst ganz intact bleiben eine schmale Zone degenerirter
Fasern. Diese Fasern würden also in der grauen Substanz selbst entspringen,
also in pathologischen Processen, die, wie die Tabes, die Wurzeln oder ihren
Ursprungsort die Spinal-Ganglien primär ergreifen, intact bleiben.
Symptome.
1. Motilität. Das charakteristischste, ja pathognomonische Symptom, von
dem die Krankheit einige Zeit ihren Namen trug, ist die Ataxie, am häufigsten
und frühzeitigsten an den Unterextremitäten zur Entwickelung gelangend und
daher sich in erster Linie und in höchst charakteristischer Weise am Gange
manifestirend. In den weit vorgeschrittenen Fällen, in denen die Kranken
nicht mehr zu gehen im Stande sind, obgleich die Motilität der Unterextre-
TABES DOIiSALIS. 593
niitäten erhalten ist, kann man die Grundursache dieses merkwürdigen Symp-
toms dessen Erklärung lange Discussionen veranlasst hat, leicht zur Demon-
stration bringen. Sie besteht in dem, was man den „Verlust der Lagevor-
stellungen" der Unterextremitäten genannt hat. Ohne auf die noch bestrit-
tene psychologische Seite der Frage einzugehen, wollen wir nur die Beobach-
tungsthatsache verzeichnen. Bringt man bei geschlossenen Augen des Kranken
seine Unterextremität, nachdem man ihr, um den Kranken zu täuschen,
mehrere passive Bewegungen mitgetheilt hat, in eine bestimmte Lage, hält
man sie z. B. hoch in der Luft, so ist er nicht im Stande diese Lage richtig
zu beurtheilen, glaubt z. B. dass dieselbe nach wie vor im Bett liegt. In den
weniger vorgeschrittenen Fällen sind es Störungen im Stehen und Gehen in
denen sich dieser „Verlust der Lagevorstellungen" frühzeitig manifestirt und
deren frühzeitige Diagnose oft nicht ganz leicht und praktisch sehr wichtig ist.
Lässt man den Patienten sich gerade hinstellen und fordert ihn auf mit ge-
schlossenen Beinen ganz ruhig zu stehen, so stellt sich die vollkommene Un-
möglichkeit dieser Forderung gewöhnlich sofort heraus. Die schon beim nor-
malen Menschen in diesem Falle bestehenden, geringen Schwankungen des
Kopfes, welche man aber nur durch Anwendung der graphischen Methode
deutlich zu machen im Stande ist, treten hier in heftigeren Oscillationen,
welche den Kranken jeden Augenblick aus dem Gleichgewicht bringen und
ihn nach kurzer Zeit zwingen die Beine von einander zu entfernen, um das-
selbe zu erhalten, zu Tage. Esmuss hier gleich eines wichtigen Symptomes
Erwähnung gethan werden, welches besonders in initialen Fällen die Diagnose
erleichtert. Lässt man nämlich den Patienten die Augen schliessen, so er-
folgt eine derartige Verstärkung der erwähnten Schwankungen, dass der
Kranke, wenn nicht sofort unterstützt, hinzustürzen droht. In geringerem
Grade kann diese Erscheinung — das sogenannte UouBERG'sche Symptom her-
vorgerufen werden, wenn man den Kranken den Anblick ihrer Füsse durch
einen vorgehaltenen Schirm entzieht. Seine Erklärung findet diese Erschei-
nung darin, dass die bestehende Unsicherheit, welche wie wir sehen werden,
wahrscheinlich durch den Ausfall der centripetalen Impulse von den Unter-
extremitäten bedingt ist, zum Theil durch den Gesichtssinn compensirt wird.
Das erw^ähnte Symptom findet oft schon in den Anamnesen der Kranken seinen
Ausdruck in der Angabe, dass dieselben bei Nacht besonders unsicher gehen,
oder früh beim Waschen des Gesichtes oder beim Anziehen des Hemdes über
den Kopf, in Gefahr sind hinzustürzen. Im Gange der Kranken kennzeichnet
sich dieses Fehlen der Lagevorstellungen oder die Störung des „Muskelsinnes"
ebenfalls in höchst charakteristischer Weise. Bei vollständig normalen Muskel-
contractionen erfolgt das Zusammenwirken der Muskeln nicht in der noth-
wendigen Harmonie, die einzelnen Bewegungen erfolgen mit einem Uebermaass
von Kraft, dabei unsicher, schwankend, durch zahlreiche Mitbewegungen gestört.
In entwickelten Fällen gehen die Kranken die Füsse hoch hebend und setzen
sie, mit übermässiger Kraft mit dem Hacken stampfend, auf den Boden. Das
Aufstehen und Niedersetzen, das Stehenbleiben, Umkehren, sich schneller in
Gang setzen ist gefährlich. Einmal in gleichmässigen Gang gebracht, können
die Kranken bei sorgfältiger, beständiger Controle ihrer Füsse durch den Gesichts-
sinn noch ziemlich gut gehen, in späteren Stadien der Krankheit machen die
Füsse so uncoordinirte Bewegungen, dass sie sich gegenseitig stossen. Das Gehen
wird immer schwieriger, endlich, immer bei ziemlich gut erhaltener grober
Muskelkraft, unmöglich. Das Symptom der Ataxie, so charakteristisch in den
entwickelten Fällen, kann in den Anfangsstadien der Krankheit nur so schwach
angedeutet sein, dass es besonderer Kunstgriffe bedarf um es zum Vorschein
zu bringen. Es hat insbesondere Fourxier in seinen ausgezeichneten Vor-
lesungen über das „präatactische" Stadium der Tabes sich durch die Angabe
solcher diagnostischer Kunstgriffe verdient gemacht.
Bibl. med. Wissenschaften. I Interne Medicin und Kinderkrankheiten; Bd. III. 38
594 TABES DORSALIS.
Dieses „exercice a la Foiirnier^ wie es Marie bezichnet, besteht in folgenden
Proceduren:
1. Man lässt den Kranken schnell vom Sessel aufstehen und sich sofort in Bewe-
gung setzen; bei noch so geringer Ataxie erfolgt durch einige Secunden deutliches Schwanken.
2. Plötzliches Stelaenbleiben während des Ganges.
3. Schnelle Wendung während des Ganges oder auf dem Platze.
4. Man lässt den Kranken auf einem Fusse hüpfen oder stehen.
5. Man beobachtet den Kranken, während er eine Treppe hinabsteigt.
An den Oberextremitäten charakterisirt sich die Ataxie durch die
Unfähigkeit feine Objecte zu erfassen; die Handschrift verändert sich, Hand-
arbeiten, Ciavierspiel, wird zuerst gestört, dann unmöglich. Die Kranken
können sich nicht waschen, rasiren, nicht die Knöpfe zumachen, bei geschlos-
senen Augen lassen sie die Objecte fallen, und schliesslich erinnern die Bewe-
gungen der Arme an die der Choreakranken insbesondere beim Zugreifen. Das
Fassen der Gegenstände wird vollständig unsicher, die Hand kreist über dem
zu greifenden Objecte und fasst dasselbe mit einem Ruck zugreifend als
könnte dasselbe entfliehen.
Ausser den atactischen Störungen der Extremitäten ist ein sehr häu-
figes und wichtiges Frühsymptom zu erwähnen, nämlich das „giving way of the
legs'^ der Engländer, deswegen wichtig, weil es der Ataxie oft zeitlich vor-
angeht. Während des scheinbar normalen Ganges nämlich knicken die
Beine plötzlich ein und in manchen Fällen stürzen die Kranken vollständig
hin, um meistens in den nächsten Secunden wieder aufzustehen und normal
weiterzugehen. Neben diesen charakteristischen Symptomen von Seite der Mo-
tilität sind noch Lähmungserscheinungen in den verschiedensten
Muskel gebieten zu erwähnen, von denen die Augenmuskellähmun-
gen"") die wichtigsten sind, weil sie zwar kein regelmässiges, aber ein sehr
häufiges und frühzeitiges Symptom der Tabes bilden, so dass man in vielen
Anamnesen von Tabeskranken die Angabe finden wird, dass zu. einer Zeit
Doppeltsehen vorhanden war.
Sie treten als Abducenslähmung, als Oculomotoriuslähmung mit den
bekannten Symptomen auf, und haben die Eigenthümlichkeit meistens rasch
wieder vorüberzugehen, in wenigen Wochen, Tagen, selbst Stunden. Neigung
zu Recidiven ist vorhanden.
Dieselbe Eigenthümlichkeit, nämlich des raschen Einsetzens und der
relativen Gutartigkeit zeigen auch die anderen bei der Tabes beobachteten
Lähmungen, von denen die Paraplegien die häufigsten sind. Seltenerund
daher auch weniger genau studirt sind die Hemiplegie und Lähmungen
in einzelnen Nervengebieten, so z. B. die Facialislähmung, die Peronaeus-
und Radialislähmung, welche theils leichte, theils schwere Formen dar-
stellen können, der Krankheit Jahre lang vorangehen oder im Verlauf der-
selben auftreten.
2. Sensibilität. a)Subjective Störungen der Sensibilität. Siege-
hören, trotz der Unmöglichkeit einer objectiven Controle, zu den wichtigsten
diagnostischen Anhaltspunkten, wegen ihres meist frühzeitigen Auftretens. Das
wichtigste, hierhergehörige Symptom sind die sogenannten blitzartigen Schmerzen,
meist in den Unter extremitäten localisirt. Es sind dies ausserordentlich heftige
wie der Name sagt, mit der Schnelligkeit eines Blitzes auftretende und wieder
verschwindende Schmerzen, welche meist im dicken Fleisch der Extremitäten
ihren Sitz haben, gewöhnlich in Anfällen („Älvsew") von verschiedener Dauer
auftreten, der Entwicklung der Krankheit oft Jahre lang vorangehen und von
den Kranken meist als rheumatische Schmerzen aufgefasst werden. Neben diesen
„Blitzen", welche, wenn typisch entwickelt, nicht leicht zu verkennen sind, können
bohrende, reissende Schmerzen, mehr weniger dauerhafter Natur, in den Unter-
Vergl. Artikel „ÄugemmisJcellähmungen/- im Bd. „Aiigenki^ankheiten".
TABES DORSALIS. 595
extreraitäten vorhanden sein, den Kranken das Leben zur Qual machen und
sie frühzeitig dem Morpliinismus in die Arme treiben. Ein weiteres wichtiges
subjectives Symptom ist das Gefühl der Umschnürung des „umgelegten Reifens."
Es kommt meistens am Stamme zur Beobachtung, ist aber auch schon an den
Extremitäten constatirt worden und besteht, wie der Name sagt, in einem
schmerzhaften Gefühl des Zusammenziehens, welches so hochgradig werden
kann, dass es zu Athembeklemmungen Veranlassung gibt.
Von anderen subjectiven Störungen ist das Gefühl von Pelzigsein
der Fussohlen zu erwähnen. Die Kranken haben die Empfindung als gingen
sie auf Filz, im Sande. Häufig ist auch das Gefühl von Ameisenlaufen,
Einschlafen der Extremitäten, welches, oft im Gebiet des N. ulnaris,
manchmal einhergehend mit Ulnarisparese beobachtet wird.
b. Objective Sensibilitätsstörungen. Sie sind ausserordentlich
mannigfaltig. Die einfache Anästhesie, Herabsetzung oder Verlust aller Em-
pfindungsqualitäten, findet sich häufig. Sie folgt niemals den anatomischen
Verbreitungsbezirken der Nerven, sondern tritt in Plaques, die eine verschie-
dene Localisation haben können, auf. An den Unterextremitäten sind es am
häufigsen die Fussohlen, die Ferse und die Zehen, die betheiligt sind, an den
Oberextremiäten die ulnare Seite des Vorderarmes. Die Anästhesie resp.
Analgesie betrifft nicht blos die Haut, sondern fast immer auch die tieferen
Gebilde, Muskeln, Sehnen, Knochen und Gelenke.
Hyperalgesie kommt bei Tabes in verschiedenen Formen vor. Die Lo-
calisation erfolgt ebenfalls meist in Form von Plaques, welche sich oft im Laufe
der Krankheit in Plaques von Anästhesie verwandeln. Sie kann so hoch-
gradig sein, dass einfache Berührung, der Druck des Kleides, der Bettdecke,
ja selbst einfaches Anblasen den Kranken Schmerz verursacht. In einzelnen
Fällen bilden diese hyperalgetischen Plaques den Ausgangspunkt von Krisen
blitzartiger Schmerzen. Die Phänomene der relativen Htjperästhesie, der disso-
ciirten Empfindungslähmung, der verlangsamten Empfindungsleitung,
der Polyästhesie, der Nachempfindungen, der leichten Erschöpfbarkeit der Em-
pfindung, kommen alle bei Tabes vor und sind ihr zum Theil eigenthümlich.
Dieselben sind im Artikel „Empßndungsstörunc/en" des Nähereu behandelt
worden und verweisen wir bezüglich aller näheren Details auf denselben.
3. Störungen von Seiten der Reflexe. Diese gehören zu den wichtigsten
diagnostischen Anhaltspunkten. Wenn man bei übereinandergeschlagenen
Beinen auf die Patellarsehne des herabhängenden Beines eines normalen
Menschen mit dem Percussionshammer oder der Kante der Stethoskopplatte
einen kurzen Schlag applicirt, so erfolgt eine kräftige Zuckung des M. triceps
mit Emporschnellen des herabhängenden Unterschenkels. Dieses Phänomen
fehlt bei Tabeskranken fast immer und zwar schon in frühen Stadien der
Krankheit, bevor noch die Ataxie deutlich erkennbar ist. Fast zu gleicher
Zeit wurde auf dieses Phänomen von Erb und Westphal aufmerksam gemacht
und dasselbe von ersterem als Patellarsehnenreflex, von letzterem als Kniephä-
nomen in die klinische Terminologie eingeführt. In diesen beiden Namen
geben sich auch die theoretischen Ansichten beider Kliniker kund, von denen
Erb den Ausfall desselben bei Tabes durch Erkrankung des centripetalen
Theiles des Pteflexbogens, welcher von der Patellarsehne durch die hinteren
Wurzeln zu den Vorderhornzelleu und vorderen Wurzeln derselben Seite zieht,
erklärt, während nach Westphal das Phänomen dadurch zu Stande kommt,
dass die Erschütterung der Sehne auf den Triceps fortgepflanzt, denselben
direct zur Contraction anregt. Der Wegfall desselben bei Tabes fände seine
Erklärung durch das Fehlen des normalen Tonus, welcher zu dem Zustande-
kommen desselben nothwendig ist. Klinische und experimentelle Unter-
suchungen in grosser Zahl sind über diese Frage angestellt worden, die Mehr-
zahl der Forscher neigt sich heute der Ansicht Erb's zu und fasst das „Bein-
38*
596 TABES DORSALIS.
phänoinen" als Reflex auf. Es fehlt überall da, wo die Erkrankung im Lenden-
mark localisirt ist(vergl. Artikel ,,Schnenreßexe^^, Bd. III, pag. 499). Beachtens-
wertli ist, dass es einseitig fehlen kann, bei vorwiegend einseitiger Localisation
der Krankheit. Der Patellarreflex fehlt hie und da beim normalen Menschen
und meistens bei neuritischen Lähmungen der Unter extremitäten. Er kann
ferner sehr schwach, oder durch unwillkürliches Anspannen der Muskulatur
schwer erkennbar sein. Am besten ist dann der jENDRASSiK'sche Kunst-
griff anwendbar, den Kranken während der Untersuchung im Momente der
Percussion die ineinandergehakten Finger beider Hände kräftig von einander
ziehen zu lassen, am zweckmässigsten bei gleichzeitiger Fixation der Augen
nach oben.
Zu den Störungen der Reflexfunctionen ist auch das Argyll-
Robertson 'scÄe Si/mptom zu rechnen, oder die reflectorische Pupillen-
starre. Nähert man dem Auge des normalen Menschen eine brennende
Kerze oder entfernt man von dessen Auge schnell die dasselbe
deckende Hand, so contrahirt sich die Pupille schnell. Bei der Tabes geht
der Lichtreflex oft frühzeitig verloren, bei Erhaltenbleiben des Accommodations-
reflexes. Während das Auge auf Accommodation prompt reagirt, also beim
Nahesehen die Pupille sich verengt, bleibt dieselbe auf Lichteinfall vollständig
regungslos. Der Accommodationsreflex kann ebenfalls in vorgerückten Stadien
der Krankheit verloren gehen. Auch der Schmerzreflex der Pupille, die Di-
latation derselben auf Schmerzreize fehlt in manchen Fällen von Tabes.
4. Sym/piome von Seite der Sinnesorgane. Von Seite des Auges ver-
dient der Zustand der Pupillen Beachtung. Sehr oft sind sie ungleich, und
zeigen dabei oft sehr auffallende Veränderungen ihres Durchmessers. Bald
besteht Miosis, welche verschiedene Grade haben kann, oft bis zur Verenge-
rung der Pupille zur Stecknadelkopfgrösse, bald Midriasis verschiedenen Grades.
Der Sehnerv spielt eine hervorragende, oft sehr traurige Rolle in der Patho-
logie der Tabes. In vielen Fällen kommt es zu einer sklerotischen Atrophie
desselben, welche mit einer progressiven, zur vollständigen Erblindung füh-
renden Amblyopie einhergeht. Sie tritt in 10 — 30 Procent der Fälle auf und
scheint insbesondere in den Fällen vorzukommen, in denen die cerebralen
Symptome vorwiegen, so dass bei frühzeitigem Auftreten der Amaurose, die
Ataxie weniger prononcirt ist, während bei stark entwickelter Ataxie die Amau-
rose keine höheren Grade erreichen soll. Neben der Abnahme der Sehschärfe
wurden im Verlaufe der Krankheit, Farbenblindheit, Einengung des Gesichts-
feldes und hemiopische Scotome beobachtet.
Störungen von Seite der Gehörorgane kommen sowohl als einfache
Taubheit, als subjective Geräusche, wie als MENiER'scher Schwindel vor.
Störungen des Geruches und Geschmackes sind wenig gekannt.
5. Trophische Störungen. Zu den wichtigsten, theoretisch aber dunkel-
sten Symptomen der Tabes gehört eine Reihe von Erscheinungen, welche sich
an verschiedenen Geweben, so an den Knochen, den Gelenken, der Haut ab-
spielen und sich in schweren Ernährungsstörungen derselben manifestiren.
Am auffallendsten sind die Ernährungsstörungen der Knochen, welche sich
durch das Auftreten der sogenannten Spontanfracturen, wie man dies mit
einem wenig glücklich gewählten Namen zu bezeichnen pflegt, verrathen. Sie
charakterisiren sich durch vollkommene Schmerzlosigkeit und durch ihr Ein-
treten bei einer ganz unbedeutendenden Körperanstrengung so z. B. beim
Ausziehen der Stiefel und verdanken ihre Entstehung einer rareficirenden
Ostitis.
Eine sehr interessante und diagnostisch wichtige Complication der Tabes
bilden die vom Charcot zuerst studirten Gelenkserkrankungen. Am
häufigsten im Kniegelenk entwickelt sich plötzlich oder wenigstens sehr schnell
starke Anschwellung des Gelenkes meist ohne jeden Schmerz, In den gut-
artigen Formen bilden sich diese Erscheinungen wieder zurück, in den bös-
TABES DORSALIS. 597
artigen kommt es zu Hydartliros, Auftreibung der Gelenksenden deformirender
Atrophie des Knochens und der Knorpel. Hierher gehört auch die unter dem
Namen des pied tahetique beschriebene Deformation des Fusses. In welcher
Weise die hier beschriebenen Aftectionen mit der Erkrankung des Nerven-
systemes bei Tabes zusammenliängen, ist noch ziemlich dunkel. Man hat wohl
wiederholt den Versuch gemacht dieselben direct mit den Degenerationen
peripherer Nerven oder Erkrankungen der grauen Substanz in Zusammenhang
zu bringen, doch sind diese ^'ersuche nicht als gelungen zu betrachten. Am
wahrscheinlichsten ist noch die Ansicht, dass Tabes und Knochenerkrankung,
beide der Ausdruck einer gemeinsamen unbekannten Ursache sind, denn auch
die xVnnahme Yolkmanns, die tabetische Arthropathie sei nur die Folge der
heftigen atactischen Bewegungen, also gewissermaassen nur eine traumatische
Affection erscheint nicht haltbar.
Von den trophischen Störungen der Hautorgane isfe ausser dem
Ausfallen der Nägel und der Zähne, welcher oft frühzeitig erfolgt, das Vor-
kommen des Mal perforant, einer mit Schwielenbildung an der Fussohle be-
ginnenden, später zu tiefer Ulceration führender Affection Erwähnung zu
thun. Spontane Ekchymosen sind im Anschluss an Krisen von blitzartigen
Schmerzen beobachtet worden. Hyper- und Anhidrosis, sowohl einseitig als
beiderseitig, kommen ebenfalls vor.
Die bei der Tabes beobachteten Muskelatrophien sind noch nicht
genügend studirt, um ein abschliessendes Urtheil zu gestatten. Es scheinen
dabei zwei Typen vorzukommen, von denen der eine einer peripheren, der an-
dere einer centralen Erkrankung des Nervensystems entspricht. Letzterer
tritt in Form des DucHENXE-ARAN'schen Typus der progressiven Muskelatrophie
auf mit oder ohne Betheiligung der bulbären Nerven.
6. Erscheinungen von Seite der Eingeiveide.
a) Von diesen sind in erster Linie die Symptome von Seite des M a g e n s
zu nennen. Von Chaecot zuerst genau beschrieben, hat der Symptomen-
complex der „gastrischen Krisen" bald eine grosse Bedeutung erlangt, da er
zu den frühesten Symptomen der Tabes gehört. Er besteht in meist plötzlich
auftretenden Anfällen von ausserordentlich heftigen Magenschmerzen mit un-
stillbarem Erbrechen. Zuerst werden die genossenen Speisen erbrochen, dann
gallige Flüssigkeit, oft nur ein zäher Schleim. Sie dauern wenige Stunden bis
zu mehreren Tagen, ja Wochen und verschwinden ebenso schnell als sie auf-
getreten sind. Neuere Beobachtungen scheinen zu lehren, dass es sich dabei
um wirkliche Hyperacidität und Hypersecretion des Magensaftes handelt.
Von Seiten des Darmes ist "hartnäckiger und häutiger Tenesmus be-
schrieben worden, ferner häufige und äusserst hartnäckige Diarrhoen. In den
neuerdings von Steinach und Wiener in den hinteren Wurzeln allerdings erst
für den Frosch nachgewiesenen, motorischen Fasern für die Eingeweide wäre
eine Grundlage für die Erklärung dieser Symptome gewonnen.
h) Wichtiger wenn auch seltener zu beobachtende Erscheinungen sind
von Seite des Kehlkopfes beobachtet worden. Unter dem Namen der La-
rijnxkrisen wurden zuerst von Fereol dann von Charcot und Krishaber
Anfälle von Dyspnoe mit und ohne heftigen Husten besehrieben mit geräusch-
voller Inspiration wie beim Keuchhusten.
Diese Dyspnoe kann in schweren Fällen dahin führen, dass die Kranken
in hochgradiger Cyanose oft unter leichten epileptiformen Convulsioneu be-
wusstlos zu Boden stürzen — y^ictus larijnge" Charcot's. Nach wenigen
Secunden kehrt die Besinnung wieder und die Kranken erholen sich rasch
In einigen Fällen soll in dem Anfalle der Tod erfolgt sein. Die Theorie des
Anfalles ist noch nicht klargestellt. Charcot und Krishaber haben es wahr-
scheinlich gemacht, dass es sich um einen Krampf der Glottis handelt, bedingt
durch H}^erästhesie der Larynxschleimhaut, da es ihnen gelungen ist die An-
598 TABES DORSALIS.
fälle durch Berührung der letzteren mit einem Sonde hervorzurufen. Ausser-
dem sind Stimmbandlähmungen im Verlaufe der Tabes vielfach beobachtet
worden. Als anatomische Grundlage dieser Symptomen sind Degene-
rationserscheinungen im Kerngebiet des Vagus und Accessorius wiederholt
gesehen worden. Unter dem Namen der Pharynxkrisen wurden neuerdings
von Oppenheim Anfälle von krampfliaften Schluckbewegungen beschrieben.
c) Harnorgane. Störungen im Uriniren gehören zu den gewöhnlichsten
Erscheinungen der Tabes. Die Harnentleerung geschieht unterbrochen, dauert
längere Zeit, während welcher die Kranken stark drängen müssen, ohne doch
die Blase vollständig zu entleeren. Vorübergehend kommt es wohl auch zu
vollständiger Retention. Incontinenz ist ebenfalls ein häufiges Symptom.
Ausserdem wurde Anästhesie der Harnröhre, und schmerzhafte Symptome von
Seiten derselben und zwar als blitzartige Schmerzen und als permanentes
Gefühl eines Fremdkörpers, ferner Schmerzanfälle in der Form veritabler
Blasenkoliken beobachtet. Schmerzanfälle, deren Verlauf und Localisation an
Nierenkoliken erinnert, sind neuerdings beschrieben worden.
d) Genitalapparat. Geschlechtliche Excitation kommt meist im Initial-
stadium, Impotenz in den späteren Stadien der Krankheit vor. Unter dem
Namen der Klitoriskrisen hat Pitres bei weiblichen Kranken Anfälle beschrie-
ben, welche mit Kitzelgefühl in der Klitoris beginnend mit einem wahren
erotischen Spasmus und Ejaculation enden.
7. Erscheinungen von Seiten des Circulationsapparates. Erhöhte Pulsfrequenz
ist bei Tabes häufig. Anfälle von Angina pectoris wurde ebenfalls in ein-
zelnen Fällen constatirt. Auf das Vorkommen von Klappenfehlern insbeson-
dere der Aorta hat sich neuerdings die Aufmerksamkeit der Beobachter ge-
richtet, ohne indessen eine bestimmte Gesetzmässigkeit darin nachweisen zu
können. Hingegen wurde in mehreren Fällen das Vorkommen von Morbus
Basedow gemeinschaftlich mit Tabes beschrieben.
8. Cerebrale Symptome. Combination mit Dementia paralytica wird bei
Tabes oft beobachtet. Die Symptome können sich fast gleichzeitig entwickeln,
so dass die tabischen Erscheinungen wenig in den Vordergrund treten, in
anderen Fällen treten die Erscheinungen der Dementia paralytica später zu
den Symptomen der Tabes hinzu. Apoplektiforme Anfälle mit unvollständiger
Hemiplegie sind vielfach beschrieben, ihre anatomische Grundlage noch nicht
genügend aufgeklärt. Combination mit milderen Formen von Geistesstörung
kommt ebenfalls nicht allzuselten vor.
Verlauf, Formen und Prognose.
Die Tabes dorsalis ist eine exquisit chronische, progressive Erkrankung,
deren Verlauf sich immer über mehrere Jahre, selbst Jahrzehnte erstreckt.
Man kann im Wesentlichen drei Stadien der Krankheit unterscheiden.
1. Das präataktische Stadium. Es ist dies die Periode, in welcher
von den Symptomen der Tabes die blitzartigen Schmerzen oder die Schmerzen
überhaupt das Krankheitsbild beherrschen. Meist gelten während dieser Zeit
die Patienten als ;;Ptheumatiker" und die Diagnose wird erst dann gemacht,
wenn eine Augenmuskellähmung Störungen in der Harnentleerung oder eine
der oben beschriebenen „Krisen" eine genauere Untersuchung veranlasst.
Doch kann auch in diesem Stadium bereits leichte Unsicherheit des Ganges
im Dunkeln, Ungeschicklichkeit beim Herabsteigen von der Treppe, den Ueber-
gang zum nächsten Stadium andeuten.
2. Ataktisches Stadium. Es besteht ausgesprochene Incoordination
der Bewegungen und zwar anfänglich fast ausschliesslich der Unterextremi-
täten. Erst später, oft nach langen Jahren, erreicht die Ataxie die Ober-
extremitäten, die übrigens in einer grossen Zahl von Fällen verschont bleiben.
Der Uebergang vom ersten Stadium zum zweiten geschieht meist allmälig,.
TABES DORSALIS. 599
mancliraal aber auffallend rasch, so dass wohl auch von einer „acuten Tabes"
gesprochen wurde.
3. Das paralytische oder paraplektische Stadium. Die Coor-
dination hat so hohe Grade erreicht, dass die Patienten nicht mehr im Stande
sind zu gehen und genöthigt sind das Bett zu hüten. Cystitis und Decubitus
pflegen in diesem Stadium das Krankheitsbild zu compliciren. Der Tod erfolgt
an einer intercurrenten Krankheit. Der Ausgang der Krankheit ist bei der
vollständigen Unmöglichkeit dem derselben zu Grunde liegenden Processe
Schranken zu setzen, immer derselbe, doch kann man im Verlauf derselben
einige Varianten unterscheiden, so dass aus der Gesammtzahl der Fälle eine
Anzahl als Tabes benigna ausgeschaltet werden konnte. Es sind dies Fälle,
in denen die Initialsymptome der Erkrankung blitzartige Schmerzen, Trägheit
der Pupille, Fehlen der Sehnenreflexe, RoMBEEG'sches Zeichen, durch Jahre-
lang unverändert fortbestehen, ohne zu schwereren Symptomen zu führen.
Ein Stillstand der Krankheit oder gar eine Heilung derselben wurde zwar
behauptet, ist aber bis jetzt nicht absolut sichergestellt. Eine relativ gün-
stigere Prognose sollen ferner die von PtEMAK als Tabes dolorosa unterschiedenen
Fälle geben, die sich durch ausserordentliche Heftigkeit der Schmerzattaken
auszeichnen. Es soll in diesen sehr spät zur Ataxie kommen. Von
aberrirenden Formen wäre der schon oben erwähnten Tabes superior oder cer-
vicalis Erwähnung zu thun, bei der die Symptome an den oberen Extre-
mitäten beginnen, wobei die Patellarreflexe oft erhalten bleiben. Sie disponirt
zur Complication mit Muskelatrophien, ferner die cerebrale Form, bei welcher
die cerebralen Symptome in auffallender Weise das Bild beherrschen.
Diagnose.
Die Diagnose der Tabes kann nur im präataktischen oder paraplektischen
Stadium Schwierigkeiten machen. Im präataktischen indessen können diese
sehr gross sein, weil insbesondere die verschiedenen Symptome von Seite der
inneren Organe sehr geeignet sind die Aufmerksamkeit auf eine falsche Fährte
zu lenken. So können gastrische Krisen oder Harnbeschwerden sehr leicht
zu Fehldiagnosen Veranlassung geben. Es sind in diesem Stadium besonders
die Störungen von Seiten der Pteflexe, also das Fehlen der Patellarreflexe und
das Verhalten der Pupillen, welche als sicherster Anhaltspunkt bei Stellung
der Diagnose zu betrachten sind. Im paraplektischen Stadium wird es bei
genauer Untersuchung oft noch geliogen Ataxie nachzuweisen, doch ist hier
die Diagnose oft recht schwierig. Differentialdiagnostisch kommen in Betracht
die acuten Ataxien, welche nach Inf ectionskrankheiten auf-
treten können und im Verein mit der Anamnese wohl kaum zu einer
Verwechslung führen dürften und die als Pseudotabes beschriebenen
Formen der peripheren Neuritis insbesondere die nach Alkoholmissbrauch be-
obachteten. Auch bei der Pseudotabes alcoholica bestehen meist heftige Schmer-
zen in den Unterextremitäten bei P'ehlen der Patellarreflexe und Abschwächung
des Sehvermögens, sowie Gehstörung. Jedoch ist letztere charakterisirt durch
das Vorwiegen von Peroneusparesen, die Schmerzen haben einen mehr fixen
Charakter und werden meist durch Druck verstärkt, ferner zeigen die Pupillen
keine Veränderung ihrer reflectorischen Functionen. Auch bei Diabetes
bestehen oft an Tabes erinnernde, ziehende und bohrende Schmerzen in den
Unterextremitäten und die Patellarreflexe können fehlen. Die Harnunter-
suchung gibt dann die Entscheidung, indess ist nicht ausser Acht zu lassen,
dass Glykosurie und Tabes combinirt vorkommen können. Am häufigsten
Veranlassung zur differential diagnostischer Untersuchung geben indess die als
Pseudotabes neurasthenica oder Tabes iUusoria bezeichneten Zustände. Bei sehr
nervösen, überangestrengten, oder auch durch sexuelle Exe esse erschöpften
Individuen kommt es oft zu Erscheinungen, welche eine beginnende Tabes
600 TABES DOESALIS.
vortäuschen können. Blitzartige oder fixe Schmerzen in den Beinen und im
Kreuz, Impotenz, Unsicherheit im Gehen, leichte Blasenstörungen beunruhi-
gen den Kranken, selbst Abschwächung der Patellarreflexe kann vorhanden
sein. Trifft dieser Symptomencomplex, wie dies leider oft der Fall ist, einen
Arzt, oder wie dies noch öfter der Fall ist, einen durch Leetüre populärer
Schriften orientirten Patienten, so gesellt sich zu den sonstigen Symptomen
der Neurasthenie auch noch eine verzweifelte hypochondrische Stimmung hinzu,
welche zu beseitigen eine der schwierigsten ärztlichen Aufgaben bildet.
Wiederum sind es die Patellarreflexe, welche mit den oben angegebenen
Kunstgriffen gewöhnlich auch bei bedeutender Abschwächung, hervorzurufen
sind, sowie die Pupillarreflexe, welche hier die Entscheidung liefern. Die
hereditäre Ataxie Friedeeichs wird sich durch ihr „familiäres" Auftreten,
durch ihre Combination mit Nystagmus, die geringe Betheiligung der Sen-
sibilität, das Fehlen von Störungen der Pupillarreflexe, sowie die Betheiligung
der Oberextremitäten und das Bestehen choreiformer Bewegungen meist leicht
unterscheiden lassen.
Aetiologie.
Während man früher der Erkältung, dem Trauma der Heredität in der
Aetiologie der Tabes eine grosse Rolle zuschrieb, bemüht man sich seit Four-
nier's diesbezüglichen Untersuchungen die Frage zu entscheiden, ob die Tabes
eine syphilitische Erkrankung oder wenigstens eine Nachkrankheit der Syphi-
lis ist. Wie schon erwähnt hat Fournier zuerst diese Lehre aufgestellt,
welche dann in Deutschland von Erb aufgenommen und verfochten wurde.
Es sind vor Allem statistische Untersuchungen, auf welche sich diese An-
schauung stützt. Während Fournier bei seinen Tabeskranken in 91 bis 98
Procent vorangegangene syphilitische Infektion angibt, hat Erb bei 300 Kranken
aus den höheren Ständen 89, bei 50 Kranken aus den niederen Ständen
76 Procent syphilitischer Infection nachgewiesen, während bei 5500 Spitals-
kranken, welche nicht tabetisch waren, 77*5 Procent sicher nicht syphilitisch
waren. Dieser gewiss bedeutende Procentsatz vorangegangener syphilitischer
Infection ist jedenfalls im höchsten Grade beachtenswerth und eine ganze
Reihe bedeutender Neurologen halten heute schon den Zusammenhang der
Tabes mit Syphilis für erwiesen. Indessen darf nicht verschwiegen werden,
dass andere Forscher gegen diese Ansicht entschieden Stellung genommen
haben. So Hess Charcot die Syphilis nur als Gelegenheitsursache bei here-
ditär praedisponirten Individuen gelten, während Leyden eine vollständig
ablehnende Stellung in der Frage einnimmt. Der Werth statistischer Unter-
suchungen für Lösung dieser Frage wird stark angefochten und insbesondere
die Nutzlosigkeit antispecifischer Curen bei der Tabes betont. Den letzteren
Einwurf gegenüber heben die Vertreter der syphilitischen Aetiologie hervor,
dass es eine Reihe syphilitischer Erkrankungen gibt, die von der specifischen
Therapie nicht beeinflusst werden und ausserdem sind in letzter Zeit einige
Beobachtungen beigebracht worden, welche zu lehren scheinen, dass in ver-
einzelten Fällen eine energische antisyphilitische Therapie nicht ohne Nutzen
geblieben ist. Die Frage muss also noch immer als eine offene betrachtet
werden. Sehr erwähnenswerth scheint mir indessen die Thatsache, die dem
Schreiber dieser Zeilen bei der allerdings geringen Menge von Tabeskranken
die er seit der letzten ERB'schen Statistik zu sehen Gelegenheit hatte, auf-
gefallen ist, dass häufig bei noch relativ jugendlichen Individuen kurze Zeit
nach vorangegangener syphilitischer Infection, sich sehr schnell die Symp-
tome der Tabes entwickeln.
Therapie.
Sie ist nach dem bereits Gesagten ziemlich aussichtslos. Im Anschluss
an die oben besprochene Theorie und an die Thatsache, dass von einigen
Seiten die Wirksamkeit antisyphilitischer Curen bei Tabes behauptet wird,
TABES DORSALIS. 601
bei der Aussichtslosigkeit so ziemlich alle anderen therapeutischen Proceduren
wird, wenn der sonstige Gesundheitszustand des Kranken keine Contraindica-
tion bietet, die vorsichtige Einleitung einer Schmiercur oder die innere Ver-
abreichung von Jodpräparaten statthaft sein. Von den übrigen inneren Medi-
cationen ist das Argentum nitricum und das Seeale conmtum zu erwähnen.
Das letztere wurde von Chakcot zur Bekämpfung der Harnbeschwerden bei
Tabes warm empfohlen. Er Hess dasselbe in Dosen von O'S zwei bis dreimal
täglich an den ersten drei Tagen der Woche durch einen Monat oder sechs
Wochen hindurch nehmen. Man wird bei Wiederholung dieses therapeutischen
Versuches mit der neuerdings festgestellten Unwirksamkeit der nicht ganz
frischen Seealepräparate zu rechnen haben. Von den übrigen in der Behand-
lung der Tabes ange\Yendeter innerer Mittel verdient kaum eines einer be-
sonderen Erwähnung.
Von den äusseren Medicationen wurden 2')oints de fer längs der Wirbel-
säule von Chakcot warm empfohlen.
Von der electrischen Behandlung, allgemeiner Faradisation, gal-
vanischer Behandlung der Wirbelsäule und der peripheren Nerven kann man
hie und da mit Nutzen Gebrauch machen. Die blutige und unblutige Nerven-
dehnung hat einige Zeit viel von sich reden gemacht um alsbald den Schau-
platz wieder zu verlassen. Dasselbe gilt von der Suspension, weiche vor
einiger Zeit in Anwendung kam und von verschiedener Seite warm empfohlen
wurde. Wie bei jeder so lange Zeit in Anspruch nehmenden chronischen
Erkrankung wird man vielfach von Badecuren bei der Tabes Gebrauch machen
und hie und da, wenigstens was Besserung einzelner Symptome betrifft, gute
Erfolge zu verzeichnen haben. Hydrotherapeutische Proceduren sowohl als
Thermalbäder sind in der balneotherapeutischen Behandlung der Tabes
im Gebrauch und können bei gehöriger Vorsicht von Nutzen sein. Zu ver-
meiden sind bei ersteren allzu eingreifende Manipulationen, als z. B. ener-
gische Douchen, bei letzteren zu hohe Temperaturen oder zu hoher Kohlen-
säuregehalt des Bades. Die indifferenten Thermen: Teplitz, Gastein, Ragatz
u. s. f. finden ihr ludication bei vorwiegenden Reizerscheinungen. Die Sool-
bäder und kohlensäurehältigen Bäder in Fällen, wo bereits Anästhesie und
Muskelschwäche entwickelt sind. Wiesbaden, Kissingen und insbesondere
Oeynhausen und Nauheim erfreuen sich einer gewissen Beliebtheit. Massage
und Elektromassage scheinen auf die Muskelschwäche sehr günstig einzu-
wirken. Schliesslich ist der orthopädischen Behandlung Erwähnung zu thun.
Besonders wurden neuerdings die von Hessing construirten Apparate gerühmt,
welche selbst in Fällen vorgeschrittener Ataxie das Gehen der Kranken er-
leichtern sollen.
Theorie der Ataxie.
Es ist vielleiclit nicht überflüssig auch in einem für praktische Aerzte
bestimmten Werke mit wenigen Worten auf die Theorie dieses merkwürdigen
Symptomes, welches für die Physiologie sowohl wie für die Psychologie so ausser-
ordentlich wichtig ist einzugehen. Es bestehen drei Theorien der Ataxie: 1. Die
Theorie Leyden's, die Ataxie ist die Folge des Ausfalles der sensiblen Erregungen,
2. die Theorie Eres, welche eine Erkrankung besonderer ceutrifugaler coordina-
torischer Bahnen in den Hintersträngeu annimmt, 3. die Beown-Sequards, die Ataxie
ist die Folge einer Störung der reflectorischeu Functionen des Rückenmarkes. Die
Theorie Eres muss mit Rücksicht auf die wiederholt citirten neuen Untersuchungen
über den Aufbau der Hinterstränge als beseitigt betrachtet werden. Die Hinter-
stränge bestehen, wenn nicht ausschliesslich aus hinteren Wurzeln, so doch aus-
schliesslich aus centripetal degenerirenden, also fast sicher aus nur centripetal
leitenden Fasern. Die einzigen centrifugal leitenden Fasern, welche bisher beim
602 TETANIE.
Frosche in der hinteren Wurzel nachgewiesen wurden, sind wie schon erwähnt
motorische Fasern der Eingeweide. Es bleiben daher nur die Theorien Leyden's
und Beown-Sbquaeds zu erörtern. Es hat schon Leyden- selbst darauf hingewiesen,
dass ein principieller Unterschied zwischen diesen beiden Theorien nicht besteht,
dass die BEOWN-SEQUAED'sche Theorie nur eine Modification seiner sensorischen
Theorie ist, als Haupteinwand gegen die letztere aber hervorgehoben, dass das
Rückenmark nicht Sitz der Coordination sei, und dass man von so einer neben-
sächlichen Affection, wie die Erkrankung der grauen Substanz nicht das Haupt-
symptom der Krankheit ableiten könne. Was den ersten Einwand betrifft, so muss
hervorgehoben werden, dass neue Untersuchungen lehren, dass das Rückenmark
doch einen wesentlichen, selbständigen Antheil an dem Zustandekommen der Coor-
dination hat. Die Beobachtungen von Fkeusbeeg an Hunden, deren Rückenmark vor
längerer Zeit durchschnitten wurde, von Singee an Tauben insbesondere aber die
schönen Versuche von Taechanow an Enten lehren, dass das Rückenmark Sitz
coordinirter Bewegungen ist, welche, und das ist hier wichtig, sämmtlich unter dem
Einfluss centripetaler Erregungen stehen. Ja einige Beobachtungen Singees und
Taechanows lehren, dass gewisse Bewegungen und Bewegungscomplexe nur auf
sogenannte adäquate Reize hin ausgelöst werden. Die Taube mit durchtrenntem
Rückenmark macht Steuerbewegungen mit dem Schwanz, wenn man ihren Körper um die
Horizontalaxe dreht, die decapitirte Ente macht Schwimmbewegungen, wenn man sie
auf das Wasser legt. Es ist ferner gar nicht nothwendig eine Erkrankung der
grauen Substanz zu supponiren, ist doch die graue Substanz von der weissen nicht
principiell getrennt. Es genügt anzunehmen, dass die kurzen Antheile der hinteren
Wurzel, welche nach kurzem Verlauf in die graue Substanz einstrahlen und gewiss
mit den oben genannten Functionen in Verbindung stehen, erkrankt sind. Es würde
dies erklären, dass auch in Fällen, in welchen noch keine objective Sensibilitätsstörung
besteht, Ataxie existiren kann. So scheint mir die LEYDEN'sche Theorie in Ver-
bindung mit der Beown-Sequard' sehen die einzige zu sein, welche das Phänomen
der Ataxie zu erklären im Stande ist. Es ist der Ausfall der centripetalen Bahnen
in den Hintersträngen, welche die Ataxie hervorruft. singee.
Totanie. Die Tetanie ist eine Nervenkrankheit, deren Hauptkenn-
zeichen in anfallsweisen tonischen Muskelkrämpfen zumeist ohne Bewusst-
seinstrübung besteht, welche Krämpfe das Charakteristische haben, dass sie
sich in der anfallsfreien Zeit durch Druck auf die Nerven und Arterien der
Extremitäten willkürlich hervorbringen lassen.
Geschichte. Der erste, der überhaupt über Tetanie schrieb, war 1830 der praktische
Arzt Dr. Steinheim in Altena. Er schilderte Fälle von Tetanie aus seiner Praxis unter
dem Namen „eine seltene Form des hitzigen Rheumatismus" und zwar als „Rheumatismus
des Rückenmarkes und der Nacken gegend". Ihm folgte der Franzose Dance 1831 mit der
Krankheitsbezeichnung: Tetanos intermittent. Corvisart erfand den Namen Tetanie, der
seitdem angenommen wurde (1852). Nach und nach wendete man dieser Krankheit mehr
Interesse zu; doch wurde sie noch unter sehr verschiedenen Bezeichnungen beschrieben.
Als solche Synonyme haben gegolten: Contracture essentielle (Constant); Retraetion nius-
culaire spasniodique (Murdoch); Spasmes musculaires idiopathiques (Delpech); Contractures
des extremites (Gourbeyre); Brachiotonus rheumaticus (Eisenmann); Dactylotonus
iJ. F. Weisse); spasmodische Myelomeningitis (Ferrario); Pseiido- Tetanos (Marfan); Con-
tracture des nourrices ; contracture rhumatismale iniermittente ; la tetanille (Trousseau);
Artrogryposis (Nimeyer); Schiisterkrampf (Clemens); tonischer Beschäftigungskrampf
(Benedikt).
Aetiologie. Die Tetanie kommt in jedem Lebensalter vor; doch sind
einzelne Altersabschnitte bevorzugt. Ihr Vorkommen bei Säuglingen wurde
noch vor wenigen Jahren von hervorragenden Autoren in Abrede gestellt.
Es ist auch wohl sicher, dass eine Reihe von Fällen von sogenannter Tetanie
der Säuglinge eher zur Eclampsie zu rechnen sein dürften. Gov^ers hat
142 Fälle aus der Literatur dem Alter nach zu einer Tabelle zusammen-
TETANIE. 603
gestellt und gefunden, dass das Leiden bei kleinen Kindern und in der
zweiten Decade des Lebens am häufigsten ist.
Alter 1—4 5—9 1—9 10—19 20—29 30—39 40—49 50—61
Männer 26 5 31 23 9 4 5 4 = 76
Frauen 8 3 11 13 15 19 8 0 = 66
Summa 34 8 42 3G 24 23 13 4 = 142
Vielleicht sind diese Zahlen für das Jahresalter 1 — 4 doch zu hoch. Jedenfalls
kommen die meisten Tetanie-Fälle zwischen den 15 und 30. Jahre vor.
Der Unterschied bei Männern und Frauen ist bei Betrachtung grösserer
Zahlenreihen nicht beträchtlich; doch überwiegen die Erkrankungen der
Männer im Ganzen und speciell in dem oben angegebenen Zeiträume. Auf-
fallend ist dabei, dass die meisten Männer, welche erkranken, dem Arbeiter-
stande angehören, und einzelne Berufsarten disponiren ganz besonders. So
gibt von V. Jaksch an, dass unter seineu männlichen Kranken fast 507o
Schuster waren. Dies war schon früher aufgefallen und hatte zu der Be-
zeichnung Schusterkrampf Anlass gegeben, v. Frankl-Hochwaet fand unter
314 männlichen Tetanie-Kranken 141 Schuster und 41 Schneider. Oppenheim
glaubt, dass „das Handwerk nicht direct, sondern dadurch, dass es die
Individuen mit einer uns noch unbekannten ±soxe — die etwa den Thier-
häuten anhaften könnte — in Berührung bringt, die Gelegenheit zur Er-
krankung schafft". Häufiges Vorkommen der Tetanie bei stillenden Frauen
war schon Trousseau aufgefallen und hatte ihn die Bezeichnung: Contradure
des nourrices {Äinmmcoyitrudur) erfinden lassen. Mau könnte auf den ersten
Blick auch das Stillen als ein Geschäft und die Tetanie der Ammen als eine
Art Berufs- oder Beschäftiguugskrankheit auffassen, wie man es mit jenen
Fällen der Schuster und Schneider gethan hat. Ich glaube aber, man darf
die Beschäftigung im Allgemeinen bei der Tetanie nicht hoch in der Aetiologie
anschlagen. Bei der Lactation spielen wohl eher Veränderungen der Blut-
beschaöenheit die ätiologische Rolle und sehr wohl könnte in jenen Berufen
statt der Ueberaustrengung der Muskeln durch ähnliche in Folge Intoxication
mit unbekanntem Virus hervorgebrachte Blutveränderungen die Tetanie hervor-
gerufen sein.
Gehen wir bei der Betrachtung der Aetiologie der Tetanie von dem
aus, was wir sicher wissen. Wir wissen an der Hand des Experimentes
folgendes (v. Eiselsberg): Nach totaler Schilddrüsenexstirpation tritt häufig
echte Tetanie auf, die nicht selten tödtlich verlauft. Unter 11 Fällen von
totaler Kropfexstirpation der BiLLROXH'schen Klinik mit nachfolgender Tetanie
trat Smal der Tod an Tetanie ein; 2mal heilte sie und 2mal nahm sie einen
chronischen Zustand an; alle waren Weiber. Unter 53 Totalexstirpationen
der Struma trat 12mal Tetanie auf, nach 115 partiellen Exstirpationen aber
niemals. Diese Ergebnisse beim Menschen wurden durch Thierexperimente
gestützt und erweitert. Bei Katzen verursacht totale Exstirpation der Schild-
drüse stets Tetanie, halbseitige Exstirpation der Drüse dagegen nicht. Unter-
bindung sämmtlicher zur Drüse gehenden Gelasse und Nerven bewirkte immer
Tetanie, die nur hier und da heilte. Diese durch Thierexperimente erzeugte
Tetanie hat auch deren charakteristische Symptome: TEOUSSEAü"sches Phä-
nomen und gesteigerte mechanische und elektrische Erregbarbeit der Nerven.
Es beweist dies also, dass man echte Tetanie vor sich hat. Es liegt an der
Hand dieser Ergebnisse nah, zu sagen, dass das Aufhören der normalen
Drüsenfunction in dem Körper die Tetanie erzeugt. Die Function der Schild-
drüse ist zwar noch nicht ganz sicher aufgedeckt; immerhin darf man jetzt
wohl sagen, sie hat das im Körper gebildete Mucin weiter zu verwandeln,
weiter zu verdauen, das sich beim Myxödem, w^o ja die Function der Schild-
drüse ebenfalls aufgehoben ist, im Körper abnorm ansammelt. Deshalb kann
auch Tetanie und Myxödem beim selben Individuum vorkommen (Brissaud
604 TETANIE.
und SoüQUEs), wo dann die Tetanie dem Myxödem vorausgeht, gleichsam die
^'orstufe darstellt. Hiernach muss man also die Tetanie als eine Stoffwechsel-
krankheit betrachten und sagen: Tetanie ist die Folge von im Körper an-
gehäuftem Mucin oder ihm ähnlichen Stoffen, welche auf das Nervensystem
toxisch wirken, seine Erregbarkeit erhöhen und es zu tonischen Krämpfen
disponiren. Wird diese Ansicht nun durch geeignete Beobachtungen gestützt ?
In der That. Es gelang Wagner durch Einspritzen von Mucin bei Katzen
tetanoide Symptome zu erzeugen. Ob beim tetaniekranken Menschen Mucin
in abnormer Weise im Blute respective den Geweben nachgewiesen ist, konnte
ich in der Literatur nicht auffinden. Jedenfalls ist diese Annahme aber
schon gemacht und therapeutisch von Kaspaeek verwendet. Dieser injicirte
während des Tetanie-Anfalles dem Kranken Pilocarpin, um durch den Schweiss-
ausbruch und die vermehrte Speichelsecretion das im Körper als vermehrt
angenommene Mucin zu entfernen. Es gelang die Anfälle zu beseitigen, was
also für die theoretische Annahme spricht. Noch ein weiteres Moment aber
spricht für obige, angeführte Theorie, nämlich die heilende Kraft der Schild-
drüsensubstanz respective ihres Extractes, wie sie so auffällig beim Myxödem
zu beobachten ist, zeigt sich auch in manchen Fällen von Tetanie. Wenn
bei einer Katze die Schilddrüse blos halb exstirpirt und die exstirpirte Hälfte
in die Bauchhöhle eingeheilt wird, so kann dadurch das Auftreten der Tetanie
nach später erfolgender total Exstirpation auch der anderen Drüsen-Hälfte
am Halse verhindert werden. Es tritt nämlich die in die Bauchhöhle ein-
plantirte Drüsenhälfte statt der am Halse in Function. Wird nun aber die
Schilddrüse in der Bauchhöhle zuletzt auch wieder exstirpirt, so tritt Tetanie
auf (v. Eiselsberg).
Das ist es, was wir positiv über die Tetanie wissen. Es betrifft
aber nur einen Bruchtheil der Fälle. Sie bilden nur eine besondere Gruppe:
als Tetanie in Folge von Schilddrüsenexstirpation, die von den Autoren von
den übrigen Fällen und Gruppen abgetrennt ist. Man hat (Schlesinger) die
Tetanie in zwei grosse Gruppen in epidemische Tetanie {acute recidivi-
rende Tetanie, Jaksch) und in symptomatische Tetanie oder Pseudo-
Tetanie oder tetanoide Zustände unterschieden. Und man hat die oben
abgehandelte Tetanie nach Schilddrüsenexstirpation unter die 2. Gruppe der
symptomatischen oder Pseudo-Tetanie gerechnet. Ich möchte mich dieser
Eintheilung nicht anschliessen, da ich der Ansicht bin, dass die Zukunft nur
eine echte wahre Tetanie kennen wird, der man eine Pseudotetanie nur in
jener Form gegenüber stellen kann, welche auf Hysterie beruht und die also
thatsächlich keine Tetanie ist. Da hätten wir es also mit einer Hysterie zu
thun die, wie man sich ausdrückt die Tetanie nachahmt oder vortäuscht. Bas
einzig echte Erkennungszeichen der Tetanie bildet immer noch das sogenannte
TEOussEAu'sche Phänomen, d. h. Hervorbringung der Krampfanfälle in der
Zwischenzeit durch Druck auf Nerven und Gefässe der Extremitäten. Nun
muss aber darauf hingewiesen werden, dass es Charcot gelungen, bei seinen
Versuchen mit hypnotisirten Hysterischen in dem lethargischen Stadium durch
Druck auf den Nervus ulnaris eine Contractur in den von diesem Nerven ver-
sorgten Muskeln hervorzurufen. Es fragt sich nur, ob diese Contractur ein-
tritt, ohne dass die Lethargischen Bewusstsein davon vorher erlangten, dass
man bei ihnen durch Druck auf jene Nerven eine Contractur zu erzielen
beabsichtigte. Wäre das nicht der Fall, so läge eine Analogie mit dem
TROussEAü'schen Zeichen vor, welches dann nicht mehr ganz unzweideutig zur
Entscheidung echter Tetanie von jener Pseudo-Tetanie der Hysterie dienen
könnte. Diese hysterische Tetanie kann nun natürlich auch in der Form von
Hysterie-Epidemien auftreten und scheinen solche Epidemien von Pseudo-
Tetanie mehrfach beobachtet zu sein. So erkrankten z. B. 1876 in einer
Mädchenschule zu Frankreich 30 Mädchen (Simon, Mattraits, Theise de
TETANIE. 605
Paris 1877). Damit sei die Pseudo-Tetanie oder die hysterische Tetanie ab-
gethan.
Die echte Tetanie — ich lasse die Fälle nach Strumaexstirpation jetzt
ausser Betracht — ü'itt am häufigsten in den Monaten Februar, März, April
auf, sie zeigt ein auffallendes geographisches Verhalten, indem sie nämlich in
einzelnen Städten sehr häufig, in anderen sehr selten ist. In ganz Xord-
deutschland, aber auch in Strassburg, ist die Tetanie sehr selten, in Wien,
Prag, Heidelberg u. a. ist sie ziemlich häufig, ja in Wien tritt die Tetanie
in der Form echter Epidemien auf, was den Gedanken an ein Virus nahe
legt, welches die Krankheit erzeugt, in dem es entweder die Function der
Schilddrüse zeitweilig aufhebt, oder in dem es direct im Blut toxische Sub-
stanzen, von ähnlicher Zusammensetzung und Wirkung wie das Mucin bildet.
Vielleicht steht auch hiermit im Einklang, dass die Tetanie in schlechten
und feuchten Wohnungen vorkommt (Schlesinger) wo sich ein solcher Virus
leichter bilden könnte. Man könnte sich die Infection als vom Magen aus-
gehend denken, weil gerade bei einer Reihe von Magenaffectionen (Gastrec-
tasien) und Darmaffectionen das Auftreten von Tetanie öfters beobachtet ist.
Dies ist so häufig, dass manche Autoren eine besondere Gruppe von Tetanie
in Folge von Darm- und Magenaffectionen gebildet haben, (v. Fkaxkl-Hoch-
WART.) In dem stagnirenden Mageninhalt können sich toxisch wirkende Sub-
stanzen bilden, die resorbirt Tetanie erzeugen und dies bei Magendilatation
gebildete Gift könnte mit dem unbekannten Gift identisch sein, welches sonst
Tetanie erzeugt. Daraufhin hat man Untersuchungen des Mageninhaltes ge-
macht. Man hat bei Tetanie im Gefolge von Magendilatation eine Substanz
gefunden, die dem Peptotoxin Briec4er's ähnlich war und in kleinen Dosen
bei Kaninchen Krämpfe, in grösseren Tod verursachte. (Bolveret und Devic.)
In einem Falle, den Ewald darauf untersuchte, wurde im Magen keine Toxine ge-
funden. Auch die Untersuchungen Sghlesinger's in dieser Hinsieht (Mageninhalt und Urin
betreffend) waren negativ. Ewald fand in zwei Fällen von Tetanie im Urin ein Picrat,
welches in büschelförmlichen Nadeln krystallisirte und welches in Controlurinen anderer
Nervenkranken fehlte. In diesen Fällen traten die Anfälle nur auf, wenn der Stuhl fest
oder breiig war, blieben aber aus, wenn er diarrhoisch war. Ewald meint deshalb: Es
bilden sicli auf Grund unvollkommener Darmverdauung Giftstoffe, die bei prompter Stuhl-
entleerung unter der Pieizschwelle bleiben, weil sie wenig oder nicht resorbirt werden, erst
bei der ßetention des Darminhaltes und stärkerer Piesorption dieser Stoffe werde die Pieiz-
schwelle überschritten und es entstehen die spontanen Anfälle der Tetanie.
Die Beobachtung von Tetanie bei Magendilatation in Folge von
Carcinom des Pylorus gehört auch hierher. Es spricht für diese Ansicht
noch die Beobachtung Schlesinger's, dass Ausspülung des Magens bei einem
Kranken mit Pyloruscarcinom und Magendilatation die Tetanie-Anfälle stets
beseitigte. Und es scheint mir die Beobachtung Ewald's durchaus nicht
gegen diese Ansicht zu sprechen, welcher die Anfälle durch Einführung der
Magensonde auslöste, was sich reflectorisch durch die gesteigerte Pteizbarkeit
des Magens und der Speiseröhre leicht erklärt, und mit der gesteigerten
Reizbarkeit der motorischen und sensiblen Kerven überhaupt in Parallele zu
setzen wäre. Dass man auch sonst leicht auf dem Wege des Reflexreizes
einen Tetanie- Anfall bei einem Kranken auslösen kann, ist bekannt. So löste
Friedmann den Anfall aus, indem er auf die Haut des Kranken irgend wo
einen Eisbeutel auflegte, oder dort heisses Wasser oder Nadelstiche applicirte.
Ich sah den Anfall nach dem Auscultiren des Herzens, Gerhardt durch Per-
cussion der Magenwand bei Magendilatation. Ich rechne hierher auch die
Fälle von Tetanie, welche bei Rachitis, Osteomalacie und bei Helmin-
thiasis kleiner Kinder beobachtet werden.
Ob echte Tetanie bei kleinen Kindern*) Säuglingen überhaupt vorkommen,
darüber hatte man sich vor einigen Jahren als Bagüs'sky eine Reihe solcher Fälle schil-
derte, gestritten. Eine Anzahl solcher Fälle ist sicher Tetanie, aber es kommen wohl auch
*) Vergl. Artikel ,, Tetanie im Kindesalter''.
606 .TETANIE.
Fälle vor, die als Tetanie aufgefasst werden und es nicht sind. Escherich fand, dass bei
30 Kindern mit Laryngospasmus sich Trousseau's Phänomen und mechanische Uebererreg-
barkeit des Facialis nachweisen liess; in einigen Fällen war auch die galvanische Erreg-
barkeit erhöht. In der Hälfte der Fälle bestanden daneben tonische intermittirende Krämpfe
der Arme und Beine. Gay hält die bei Kindern mit Laryngospasmus oft beobachteten
Contracturen im Fussgelenk für echte Tetanie. Auch der Laryngospasmus ist als ein Symp-
tomder Tetanie aufgefasst und Gay meint, er könne leicht refiectorisch ausgelöst werden, wenn
z. B. ein Schleimklumpchen während der Nacht im Kehlkopf sich festsetzt. Heilung der
Tetanie nach Abtreibung von Helminthen spricht ebenfalls für die reflectorische Ursache.
Eine besondere Gruppe der Tetanie ist schon seit längerer Zeit als
toxische Form beschrieben, nämlich die Fälle, welche nach Ergotin, Chloro-
form, Alkoholvergiftung entstanden, Gowees sah Tetanie nach Bleivergiftung.
Nach Ergotin ist ja öfters die Kriebelkrankheit, deren Symptome allerdings
grosse Aehnlichkeit mit Tetanie haben, beobachtet, und es scheinen zu Zeiten
von Ergotismus-Epidemien auch einzelne echte Fälle von Tetanie mit darunter
vorzukommen (Bauer, Moxon), aber im Allgemeinen wird man doch die
Krankheiten trennen können und müssen.
Sehr interessant ist die Angabe von Oppenheim, er habe Tetanie im
Anschluss an eine Spermainj ection und nach Genuss von
Krebsen eintreten sehen. Auch in allen diesen Fällen lässt sich ungezwun-
gen annehmen, dass die toxischen Substanzen in ähnlicher Weise wirken, wie
die Operation der Exstirpation der Schilddrüse, also die Function dieses Or-
ganes zeitweilig aufheben. Damit wäre ja der Grund zum Ausbruch der
Tetanie gelegt. Bestimmtes ist aber darüber nicht bekannt.
Genau so könnte man sich auch die Entstehung der Tetanie bei einer
Eeihe von Infectionskrankheiten erklären, ja das Auftreten der
Tetanie im Gefolge dieser, also nach Malaria, Typhus, Scharlach, Cholera,
Pocken, Gelenkrheumatismus, Masern, Pneumonie, Diptherie und Angina ton-
sillaris bestätigen meiner Ansicht nach die Anschauungen, welche oben über
die toxische Tetanie entwickelt wurden,
Frauen erkranken an Tetanie entweder nach Strumaexstirpation oder, und
das bildet gleichsam noch eine weitere neue Gruppe, während der Gravidität
resp. Lactation, Dies ist so häufig, das Teousseau in Folge dessen die Krank-
heit Contractures des Nourrices nannte, denn er fand die Tetanie unter 41
Fällen 40 mal bei säugenden Frauen Man hat eine Zeitlang geglaubt, eine
hinzukommende Erkältung löst die Tetanie aus und Gowers ist noch heute
dieser Ansicht, Andere meinten die puerperale Albuminurie und Urämie
ständen mit der Tetanie in Verbindung, doch erwies sich dies als irrig, wenn
auch verschiedentlich Tetanie bei gleichzeitiger Nephritis beobachtet wurde.
Wieder andere Beobachter glaubten die im Gefolge des Stillungsgeschäftes
auftretende Anämie sei die Ursache, Andere die Ermüdung, welche das auf
dem Arme gehaltene Kind verursache, bewirke die Tetanie, doch ist dem
wohl nicht so. Vielmehr glaube ich, erklärt sich das Alles, weit ungezwun-
gener durch den so gewaltigen Umschwung des Stoffwechsels des ganzen
Körpers mit seinen unausbleiblichen Wirkungen auf die Schilddrüse, so dass
andere Erklärungsversuche unnöthig erscheinen. Die Menstruation hat jeden-
falls keinen Einfluss bei dem Entstehen der Tetanie. In einem beobachteten
Falle wird das erstmalige Auftreten der Menstruation als Ursache der Tetanie
angeführt; in zwei anderen Fällen gibt Tonnele an, dass zwei 15jährige
Mädchen von der Tetanie genasen, als bei ihnen die Menses begannen.
Zum Schluss bleibt noch die Erkrankung des Gehirns als ätiolo-
gisches Moment der Tetanie zu erwähnen. Sehr hochgradig ausgeprägte Fälle
von Tetanie sieht man bei manchen Geisteskranken und zwar bei Melan-
cholischen und aus Melancholie hervorgegangenen Zuständen von secundärem
Blödsinn (Arndt, v. Krafft-Ebing.) Diese Tetanie dürfte durch Reizzustände
in den psychomotorischen Centren hervorgerufen werden, wahrscheinlich durch
sensiblen Pteflex (Schule). Aber als Ursache für die Reflexerhöhung muss
TETANIE. 607
man wohl auch eine Functionsstörung der Schilddrüse annehmen. Tritt bei
dieser Gruppe schwerer Psychosen die Tetanie lediglich als ein Symptom auf,
die bei der hochgradig darniederliegenden Ernährung der Melancholischen
sich ja leicht durch Functionsstörung der Schilddrüse erklären lässt, so gibt
es andererseits eine Reihe von Fällen von Tetanie, die mit leichteren Bewusst-
seinsstörungen, Hallucinationen, Verwirrtheit etc. einher gehen. Daraufkomme
ich noch zu sprechen, weil das nicht in die Aetiologie gehört. Aber erwähnt
muss an dieser Stelle noch werden, jene Tetanie, welche in Folge von Ge-
mütsbewegung, von Schreck, wenn auch selten, beobachtet wird, und ich stehe
nicht an auch hier die einseitige Aetiologie die Schilddrüse zu nennen, da
wir die Schreckwirkung als eine Wirkung auf Drüsen durch Vermittlung der
Nerven und Gelasse sehr wohl uns vorstellen können, die gegebenen Falls so
hochgradig werden mag, dass sie die Function der Schilddrüse zeitweilig
aufhebt, ebenso gut wie sie die der Brustdrüse aufzuheben vermag.
Symptomatologie. Die Tetanie mit ihren charakteristischen tonischen
Krampfanfällen der Muskeln kann mit und ohne Vorboten auftreten. Sie
kann sich plötzlich wie aus heiterem Himmel einstellen. Nicht selten gehen
ihr aber Vorboten in Form nervöser Symptome Parästhesien, Kriebeln,
Schmerzen im Kopf, in der Wirbelsäule, oder den Extremitäten voraus. Auch
Störungen des allgemeinen Befindens wie Abgeschlagenheit und Schwindel
können vorausgehen.
Der Krampf selbst beginnt an dem distalen Ende der Extremitäten also
an den Händen und an den Füssen, gewöhnlich werden die Hände zuerst
ergriffen; oft bleibt auf sie der Krampf allein beschränkt. Durch Contractur
der kleinen Handmuskeln und der Vorderarmflexoren wird eine eigenartige
Pfötchenstellung der Hand und Finger gebildet, die vergleichbar ist der
Stellung der Hand, welche der Geburtshelfer beim Eingehen in die Vagina
macht. Nicht immer braucht die Hand diese charakteristische Stellung zu
zeigen, sie kann auch zur Faust geballt sein, wie ich es sah; es liegt dann
der Daumen neben den übrigen Fingern, ist also nicht eingeschlagen wie bei
Epilepsie.
Die Finger sind in den interphalangealen Gelenken gestreckt, in den
metacarpophalangealen Gelenk stark gebeugt, dabei liegen sie eng nebeneinander,
die Hohlhand ist kahnförmig etwas gekrümmt, indem der Daumenballen
dem Kleinfinger opponirt wird. Durch Contractur der Flexoren des Carpus
kann die Hand noch zum Vorderarm in Winkel gestellt werden, ebenso wie
der Vorderarm mit dem Oberarm im Ellbogen gebeugt und beide Arme meist
über der Brust gekreuzt werden. Diese Stellung ist so charakteristisch, dass
aus ihr allein schon die Diagnose Tetanie gestellt werden kann. Beide Arme
werden gewöhnlich zugleich so ergriffen. In diesem Bilde kann die Krankheit
sich erschöpfen. Häufig aber greift sie über auf die Beine, ja auch auf
Rumpf- und Kopfmuskeln. Auch an den Füssen sind die Beugemuskeln
betroffen. Die Zehen sind plantarwärts gebeugt, die Füsse hohlfussartig zu
einem Equino varus gekreuzt, die Wadenmuskeln sind gespannt, die Knie
meist gestreckt, selten gebeugt; die Oberschenkel im Fussgelenk aneinander
gepresst durch Adductorenkrampf, mitunter auch etwas gebeugt. In schweren
Fällen betheiligt sich die Muskulatur des Rumpfes ebenfalls am tonischen
Krampf, dann entsteht in Folge Contractur der Beuger der Wirbelsäule und
der Bauchmuskeln ein Emprostotonus, selten kommt durch Contractur der
Wirbelsäulenstrecker einmal ein Opistotonus zustande.
Die Bauchmuskeln fühlen sich bretthart an. Die seitlichen Halsmuskeln
— sternocleidomastoidei — springen vor, der Kopf ist auf die Brust geneigt.
Der Thorax wird fixirt, selbst das Zwerchfell kann mit in Krampf gerathen,
wodurch starke Athemnoth entsteht. Diese wird durch Krampf der Kehlkopf-
muskeln mitunter noch verstärkt und der Zustand sehr bedrohlich. Todes-
608 TETANIE.
fälle sind durch Erstickung in solchem Zustande einigemal beobachtet. Auch
im Gesicht zeigt sich der Krampf, die Masseteren sind contrahirt, die Kiefer
in folgedessen geschlossen, die Mundwinkel nach aussen verzogen, mitunter
besonders bei Geisteskranken ist der Mund schnauzenförmig nach vorn
geschoben. Die Augenlider können halb geschlossen, die Bulbi durch Krampf
ihrer Muskeln verdreht sein, so dass Strabismus entsteht. Dabei ist das
Schlucken und Sprechen unmöglich oder behindert, zumal wenn auch die
Zunge noch am Krampf betheiligt ist.
Es kann vorkommen, dass die tonische Starre der Muskulatur durch
zeitweilig auftretende tonische Muskelzuckungen, oder besser gesagt Stösse
unterbrochen wird; immer aber beherrscht der tonische Krampf das Krank-
heitsbild.
Passive Versuche, die vom Krampf befallenen Extremitäten zu strecken,
stossen auf grossen Widerstand und verursachen heftigen Schmerz, ja sie
können direct den Krampf verschlimmern. Uebrigens schmerzen die Extre-
mitäten in Folge der starken Muskelcontractur gewöhnlich und mitunter sehr
stark, wenn auch in leichten Fällen die Tetanie ohne Schmerz verlaufen kann.
Die Dauer der tetani sehen Anfälle ist verschieden; sie kann sich
von Minuten bis zu Stunden, ja mitunter sogar auf Tage erstrecken. Oppen-
heim gibt die Dauer eines Anfalls bis zu 10 Tagen an. Meist dauert der
Anfall kurze Zeit, Bruchtheile einer Stunde oder einige Stunden, um allmä-
lig nachzulassen und nach und nach zu schwinden. Ein plötzliches Aufhören
scheint nicht vorzukommen. Mit dem einmaligen Anfall kann es sein Be-
Avenden haben; gewöhnlich aber tritt nach kurzer oder längerer Zeit nach
einem Intervall von Stunden oder Tagen ein neuer Anfall ein, der meist dem
vorhergehenden gleicht.
Der Kranke fühlt sich bei leichteren Anfällen in der Zwischenzeit
gewöhnlich ganz gut; bei schwereren kann grosse Abgeschlagenheit, Schmerz-
haftigkeit in den Extremitäten, Steifigkeitsgefühl, Parästhesien bestehen bleiben.
Es kann auch vorkommen, dass der Krampf sich nur theilweise löst, so dass
partielle Krämpfe in den Armen oder selten in den Beinen oder den Augen-
muskeln andauern.
Für gewöhnlich ist das Bewusstsein während des Tetanieanfalls ungetrübt.
Mitunter wird Schwindel, Eingenommenheit des Kopfes, Ohrensausen,
Funkensehen, Miosis, Midriasis, Pupillendifferenz beobachtet. Es gibt aber
eine Reihe von Fällen die mit Anomalien der Psyche mit Verwirrtheit,
Delirien, Hallucinationen und Aufregung einhergehen, ganz abgesehen von
jenen Fällen, wo die Tetanie als Symptom bei schwerer Melancholie und
secundärem Blödsinn auftritt. Bei Kindern soll nach Oppenheim's Angaben
eine Bewusstseinsstörung bei Tetanie indessen nicht ungewöhnlich sein. So
theilt z. B. FßiEDMANN einen Fall bei einem 14-jährigen Jungen mit, der
unter 12 Anfällen 8 mit Bewusstseinsverlust hatte. In manchen Fällen kommt
es nicht zu völligem Verlust, sondern zur Trübung des Bewusstseins; dann
werden die Kranken leicht aggressiv und gefährlich.
Ein Fall der zu drei Dissertationen benutzt wurde, ist der folgende:
Ein Seminarist hatte Sonnabend Nachmittags einige Glas Bier getrunken; er kam
nüchtern nach Haus. Abends 7^/2 Uhr war im Seminar Betstunde, von der er schon nichts
mehr weiss. Bis 7 Uhr bemerkten seine Kameraden noch nichts an ihm.
Da gerieth er über die Bemerkung eines Kameraden über seinen Gesang in grosse
Aufregung, tobte und schrie, wurde aggressiv gegen die Anwesenden, ergriff einen der An-
wesenden am Halse ixnd erwürgte ihn, jedoch nicht seinen Beleidiger, sondern einen Un-
schuldigen. Er bekam bei der Rauferei mehrere Schläge auf den Kopf, wurde zu Boden
geworfen, dann ins Bett geschafft und verfiel bei scheinbar mangelndem Bewusstsein in
eine Anzahl von convulsivischen Anfällen, bei denen er mit den Extremitäten, sowie mit
dem Piumpfe ausgiebige Bewegungen machte, sehr aufgeregt athmete und im Laufe des
Abends nicht mehr zu sich gebracht werden konnte. Nachts wurde er ins Spital transportirt.
Hier verfällt er plötzlich in einen Krampfanfall, der etwa 2 Minuten dauert. Während des-
TETANIE. 609
selben ist die Athmnng nahezu sistirt, hochgradige Cyanose ist bemerkbar. Die Anfälle
folgen sich nach Pausen vollständiger Ruhe von 5—10 Minuten, das Sensorium scheint da-
bei benommen, jedoch ist Patient nicht vollständig bewusstlos. Eindringliche Ansprache
gelangt theilweise zur Perception, er zeigt die Zunge auf Verlangen, macht auch Schmer-
zensäusserungen, spricht aber keine Silbe.
In einem anderem Falle, den Friedmann beschreibt, stand der Kranke bei fortdau-
ernder Benommenheit des Sensoriums auf und packte einen anderen Kameraden an. Dann
legte der Kranke, der das Herannahen des Anfalls fühlte sich abermals zu Boden und be-
kam einen neuen Anfall, der sich nur auf die imteren Extremitäten beschränkte und nur
2 Minuten dauerte. Alsdann erhob sich der Kranke abermals, ergriff einen Stuhl, schlug
mit denselben zuerst auf den Tisch, alsdann einen anderen Kranken auf den Kopf; hierauf
setzte er sich, phantasirte noch etwa 1/4 — ^2 Stunde; hierauf Wiederkehr des Bewusstseins.
Nicht selten mag der Alkoholismus bei solchen Störungen des Bewusstseins eine
Rolle mitspielen.
Die Körpertemperatur ist gewöhnlich normal, in einzelnen Fällen, soweit
man sie gemessen hat, ist auch eine geringe Steigerung der Körpertemperatur
bei Tetanie beobachtet. Gowers gibt an, dass 38-5^ C selten überstiegen
werde. Auch subnormale Temperaturen sind beobachtet. Nach v. Jaksch
erscheint und verschwindet die Steigerung der Körpertemperatur zugleich mit
den übrigen Symptomen.
Starke Schweissausbrüche werden angeblich öfter beobachtet.
Auch zuweilen eine locale vasomotorische Störung, Röthe und
selbst leichtes Oedem der afficirten Partien (Gowers).
Der Urin ist gewöhnlich normal; es ist aber ab und zu Nephritis und
Albuminurie beobachtet, einmal auch gleichzeitig mit dem Anfall Glycosurie. —
Veränderungen des Pulses sind häufig; meist ist die Zahl erhöht. Hoffmann
hat die Pulsbeschleunigung (120—164) auch ausserhalb der Anfälle mit systo-
lischem Geräusch am Herzen, aber ohne sonstigen wesentlichen Herz-
befund beobachtet. Bezüglich der Menstruation ist eine Notiz von Hoche
bemerkenswerth, es traten danach bei den betreffenden Kranken die schwersten
Anfälle während der Menses ein. Die Kranke hatte innerhalb 13 Monaten
300 Anfälle.
Untersuchung des B 1 ut e s ergab in einem Falle (Gottstein) Schrumpfung
der rothen Blutkörperchen,
Mitunter bietet die anfallsfreie Zwischenzeit bei Tetanie interessante
Symptome ausser den bereits angeführten dar. Dahin gehören fibrilläre
Muskelzuckungen. Teousseau will sie nie gesehen haben. Dagegen wird
ihr Vorkommen angeführt oder bestätigt von Kussmaul, der sie in den
Gesichtsmuskeln seines Kranken sah, bei welchem die Masseteren von Trismus
befallen waren; ferner von Riegel, Feiedmann, Raab, Chvostek u. A.
N. Weiss sah bei einem Kranken in den anfallsfreien Zeiten jedesmal neben
tonischer Starre der Wadenmusculatur fibrilläre und fasciculäre Zuckungen im
Quadriceps cruris u. Vastus externus, welche fast fortwährend andauerten und
auch während der Zeit der Anfälle persistirten. Eine andere Erscheinung ist
das Bestehen tonischer Krämpfe in einzelnen Muskeln auch in der anfallsfreien
Zeit. So bestand in einem Fall Chvostek's in der Zwischenzeit der Tetanie-
anfälle ein fast beständiger tonischer Krampf in Muse, orbicular. palpebrarum.
In einem anderen Falle desselben Autors bestanden neben diesem tonischen
Krampf im musc. orbicul. palpebrar. darin auch noch fibrilläre Zuckungen.
Diese tonischen Krämpfe in der Zwischenzeit sind aufzufassen als Rück-
bleibsel aus dem Anfall; es haben sich die Krämpfe sämmtlicher im Anfall
ergriffenen Muskeln nicht völlig gelöst.
Die Nerven und Muskeln sind bei Tetanie während des Anfalls und in
der Zwischenzeit abnorm erregbar. Darauf beruhen einige „Zeichen" oder
Phaenomene. Das wichtigste ist das TßOussEAü'scAe Zeichen, benannt nach
seinem Entdecker. Man machte früher bei Tetanie einen Aderlass; als nun
Trousseau eines Tages bei einer an Tetanie leidenden Frau die Aderlass-
binde anlegte, brach in diesem Arme der Krampf aus. Er versuchte dann
Bibl. med. WIbscd Schäften. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 39
610 TETANIE.
die Binde am Beine anzulegen und da brach auch dort der Krampt aus. Es
besteht das TEOussEAu'sche Zeichen darin, dass man bei einem Kranken, der
an Tetanie leidet, in der anfallfreien Zeit, so lange eben noch keine dauernde
Heilung eingetreten ist, ganz beliebig willkürlich einen Anfall hervorbringen
kann, dadurch, dass man eine Zeitlang die grossen Nervenstämme oder Ar-
terien der Extremitäten comprimirt. Bis heute ist dies TROussEAu'sche Zeichen
noch nicht sicher aufgeklärt; man weiss noch nicht genau, worauf es beruht.
Es scheint, dass weniger die Arterien dabei eine Rolle spielen, als vielmehr
die Nerven. Der Anfall tritt oft schon ein, wenn der Druck nur V2 Minute
lang ausgeübt wird. Uebrigens genügt es mitunter auch durch Druck auf
solche Stellen, wo keine grösseren Nervenstämme und Arterienstämme ge-
troffen werden, den Krampf zu erzeugen z. B. durch Druck auf das Hand-
gelenk. GowERS und Schlesinger führen an, dass in manchen Fällen das
Zeichen nicht zu beobachten sei; jedenfalls ist dieses TROussEAu'sche Symptom
noch bei keiner anderen Krankheit beobachtet worden. Bei Kindern bewirkt
der Versuch, das TROussEAu'sche Zeichen hervorzubringen, oft athetotische
Bewegungen der Finger (Schlesinger).
2. Die Steigerung der mechanischen Erregbarkeit der moto-
rischen Nerven. (Chvostek'scä^^s Zeichen). Die motorischen Nerven
(rein motorische oder gemischte) zeigen eine abnorme Steigerung ihrer Er-
regbarkeit auf Druck und Beklopfen, am stärksten ist dies gewöhnlich ausge-
prägt am Facialis, der auch am bequemsten darauf zu prüfen ist. Wenn man
mit dem Percussionshammer oder Finger auf den Facialisstamm vor dem Ohr
klopft, ja selbst wenn man einfach mit dem Finger über seine Verzweigun-
gen (Pes anserinus) hinwegstreicht, so treten in der Gesichtsmuskulatur leb-
hafte Zuckungen auf (Facialisphänomen). Dies kann auf der einen Seite
stärker ausgeprägt sein als auf der anderen.
Man muss (Schlesinger) beim Beklopfen der Wange mit dem Per-
cussionshammer vor dem aufsteigenden Unterkieferaste es vermeiden, diesen
oder das Jochbein zu berühren, weil es sonst durch Erschütterung der Sehnen-
ausbreitungen der Muskeln zu Zuckungen des Mundwinkels kommt, die mit
dem Facialisphänomen nichts zu thun haben. Bei Tetanie der Kinder fehlt
das Facialisphänomen oft.
Die mechanische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln kann so gestei-
gert sein, dass schon die leiseste Betupfung der Nerven der Extremitäten eine
Zuckung in der von ihnen versorgten Muskulatur hervorbringen kann. Die
mechanische Erregbarkeit der übrigen motorischen Nerven konnte Schlesinger
unter 13 Tetaniefällen 10-mal feststellen.
Uebrigens ist das Facialisphänomen nicht pathognomonisch. Es kommt
ausser bei Tetanie auch vor bei Hysterie, Neurasthenie und Tuberculose.
Dieser Steigerung der mechanischen Erregbarkeit geht nicht immer auch
eine Steigerung der galvanischen Erregbarkeit genau parallel,
sondern höchstens annähernd. (Chvostek). v, Jaksch hat nach dem Erlöschen
des Facialisphänomen die durchschnittliche Dauer der Tetanie auf 2 — 3 Tage
berechnet.
3. Steigerung der elektrischen Erregbarkeit der moto-
rischen Nerven. Die Steigerung der elektrischen Erregbarkeit der moto-
rischen Nerven bei Tetanie beobachtete zuerst Erb. Die Minimalcontraction
des Facialis tritt bei faradischer Prüfung schon bei grösserem Rollenabstand
ein, als unter normalen Verhältnissen, statt bei 45 mm Abstand, wird sie schon
bei bOmm, ja bei 75 und 80 mm Abstand beobachtet. Die Eumpfnerven ver-
halten sich ähnlich.
Ganz vereinzelt kommt eine faradische Steigerung der Erreg-
barkeit ohne gleichzeitige galvanische Steigerung vor.
TETANIE. 611
Auch der constante Strom zeigt Steigerung der galvanischen Erregbar-
keit. Die Ka S Z tritt schon bei ganz geringer Stromstärke auf z. B, des
Ulnaris bei 0*1 MA; die Ka S Z geht bei geringer Vergrösserung der Strom-
stärke z. B, bei 0'5 MA schon in Ka S Te über. Ja bei Tetanie wurde zuerst
An 0 Te und sogar Ka 0 Te beobachtet.
Auch die Steigerung der elektrischen Erregbarkeit besteht bei Tetanie
fort in der anfallsfreien Zeit, so lange nicht völlige Heilung eingetreten ist.
Ja die elektrische Erregbarkeit kann noch zu einer Zeit gesteigert ge-
funden werden, wenn es schon nicht mehr gelingt, das TROussEAu'sche Zeichen
zu erzielen. Uebrigens gibt es auch Fälle von Tetanie, "bei denen die elek-
trische Erregbarkeit nicht erhöht ist.
Am häufigsten fand sich Erhöhung im Ulnaris, dann folgten der Reihe
nach Radialis, Medianus, Facialis, Peronaeus. Uebrigens ist diese Steigerung
der elektrischen Erregbarkeit der motorischen Nerven natürlich nicht charak-
teristisch für Tetanie. Sie kommt bei einer ganzen Reihe anderer Nerven-
krankheiten auch vor z. B. bei frischer Neuritis und Facialislähmung, im
Initialstadium der Tabes; bei Chorea minor, bei Scrophulose u. s. w.
Bechterew hatte gefunden, dass tonische Krämpfe ausserdem bei ein-
fachen Durchleiten eines galvanischen Stromes durch einen Nerven ohne Unter-
brechung und ohne Veränderlmg der Stromstärke, auftreten. Schulze prüfte
dies in anderen Fällen nach und fand, dass die gleiche Erscheinung eintrete,
wenn die Elektroden nur aufgelegt und gar kein Strom durchgeleitet wurde.
Von Oppenheim ist aber neuerdings die Beobachtung von Becheterw bestä-
tigt worden.
4. Steigerung der mechanischen Erregbarkeit der sen-
siblen Nerven. Uebt man beim Gesunden einen starken Druck auf einen
rein sensiblen oder gemischten Nerven aus, so stellt sich eine kriebelnde
Empfindung, die sich bis zum Schmerz steigern kann, ein. Dasselbe tritt bei
Tetanie schon bei sehr leisem Druck oder Beklopfen eines sensiblen Nerven
z. B. am Supraorbitalis, Ulnaris, Auricularis magnus, Saphenus major. Es
entstehen dann Parästhesien im Verbreitungsgebiet des betreffenden sensiblen
Nerven. Die mechanische Uebererregbarkeit der sensiblen Nerven findet sich
nach Chvostek während der Krampfanfälle an allen Nerven, nur manchmal
tritt sie blos an den vom Krampf betroffenen Extremitäten auf, oder ist
wenigstens dort deutlicher. Mit Zurückgehen der Tetanie schwindet diese
Uebererregbarkeit der sensiblen Nerven und zwar zuerst die der Hautnerven
des Kopfes.
5. Steigerung der elektrichen Erregbarkeit der sensiblen
Nerven. Beim normalen sensiblen Nerven gesunder Personen tritt zuerst
bei einer Prüfung mit dem galvanischen Strom ein leichtes Brennen bei Ka S
ein (Ka S E Kathoden-Schliessungs-Emptindung). Diese geht bei stärkerem
Strom über in Ka S Dauer-Empfindung (Ka S D); dann folgt bei stärkerem
Strom ASE und AS-DE. Wird der Strom noch mehr gesteigert, so strahlt
die Empfindung schmerzhaft im Bereich des Nerven aus. Bei Tetanie nun
tritt schon bei sehr geringen Stromstärken die unverhältnismässig starke
Empfindung im Nerven auf (Chvostek).
Steigerung der Erregbarkeit ist in einzelnen Fällen auch an dem Nerven
höherer Sinnesorgane, am Acusticus und Opticus beobachtet. Chvostek
beobachtete diese abnorme Erregbarkeit des Acusticus, wie er meint elektrische
Hyperästhesie in 6 von 7 Fällen. Lugeois sah Hyperästhesie des Opticus
im Anschluss an die Anfälle. Hyperämie der Opticuspapille beobachtete
einmal Neüsser.
Unbestimmte und Nebensymptome. Als solche sind seltener
beobachtete Abweichungen in der Hautempfindung, Anästhesie im Bereich
einzelner Nerven, Neuritiden sensibler Nerven, mitunter auch Paresen einzelner
39*
612 TETANIE.
Muskeln beschrieben. Die bei solchen Neuritiden gewöhnlichen Symptome
Avie Oedem, Haarausfall, Herpes, Pigmentirung u. s. w. können natürlich dann
auch bei Tetanie vorkommen.
Die Reflexe verhalten sich meist normal; manchmal verstärkt oder ab-
geschwächt, worauf nichts zu geben ist. Fehlen des Kniereflexes wurde
einigemale beobachtet, ebenso auch, dass er sich nach Beendigung der Krankheit
wieder einstellte. Secretionsanomalien, besonders abnorme Schweissabsonderung
nach dem Anfall, kam öfters zur Beobachtung.
Diagnose. Die Erkennung der Tetanie gründet sich auf die ganz eigen-
artigen, anfallweisen tonischen Krämpfe, die mit Hilfe des TüOussEAu'schen
Versuchs hervorgerufen werden können.
Pathologische Anatomie. Die bisherigen Obductions-Ergebnisse haben
keinen Anhalt über die Ursache und das Wesen der Tetanie ergeben.
Verlauf und Prognose. Im Allgemeinen verläuft die Tetanie in einigen
Tagen, und geht in Genesung über. Freilich können immer leicht Recidive
eintreten, jedenfalls so lange, als die abnorme Erregbarkeit der Nerven besteht.
Diese allzuhäufig darauf zu prüfen, scheint für die Abkürzung des Falles mir
nicht gerade zweckmässig zu sein. Man muss somit die Prognose der Tetanie
im Allgemeinen als eine gute und günstige bezeichnen. Aber die Krankheit
wird oft durch Nebenumstände beeinflusst, so kann ein dabei bestehender
chronischer Darmkatarrh, besonders bei Kindern, gefährlich werden und
der Fall tödtlich enden.
Eine weniger gute Vorhersage geben die Fälle von Tetanie mit Magen-
erweiterung. LoEB fand, dass von 13 Fällen von Tetanie mit Magenerweiterung
10 tödtlich endeten. Die Tetanie, welche im Anschluss an Infectionskrank-
heiten und Intoxication entsteht, soll nach Oppenheim einen besonders schnellen
und kurzen, aber günstigen Verlauf nehmen. Bei den Schwangeren kann die
Tetanie ebenso schnell verschwinden, mitunter aber auch bis zur Entbindung
andauern. Die Tetanie, welche nach Kropfexstirpation eintritt, gibt eine un-
günstige Prognose, indessen ist man ja in der Lage, dem vorzubeugen.
Die ungünstigsten Zufälle werden durch Krampf der Athmungsmuskeln
hervorgebracht und sind mitunter Todesfälle durch so veranlasste Erstickung
bei Tetanie beobachtet.
Therapie. Die Prophylaxe der Tetanie erstreckt sich nur auf jene
Möglichkeit, dass sie nach Total-Exstirpation der Schilddrüse entstehen kann.
Man wird also in solchen Fällen die Schilddrüse nur theilweise entfernen,
oder eventuell vorher eine Transplantation vornehmen. In allen anderen
Fällen handelt es sich um die Heilung der Tetanie selbst. Handelt es sich
um Tetanie nach Strumaexstirpation, so werden die Schilddrüsentabletten inner-
lich, oder frischer ScJiilddrüsenextract subcutan, oder eine Implantation einer
frischen Schilddrüse vom Schafe in Frage kommen. Aber auch bei Tetanie,
die nicht auf Grund einer solchen Operation entstanden ist, sind diese Prä-
parate immer in erster Linie und mit Vorsicht zu versuchen. So sah Levy-
DoRN bei einer 26 jährigen Person mit typischer Tetanie Besserung durch
Gaben von 0*2 5 Thyreoidin innerlich; desgleichen Gottschall, Beissaud und
SouQUES. Andererseits beobachtete Schultze durch Thyreoidin keine Besserung.
Führten Schilddrüsenpräparate keine Besserung hervor, so muss vor allem
eine Grundkrankheit, falls sie vorhanden ist, bekämpft und beseitigt werden.
Also eine bestehende Osteomalacie oder eine Rachitis ist mit Phosphor zu
bekämpfen und dabei heilt nach Kassowitz die Tetanie aus. Darmkatarrh
muss beseitigt werden und eine Lactation ist auszusetzen; Helminthen sind
abzutreiben.
Bei Magenerweiterung muss man mit der Magensonde sehr vorsichtig
sein, weil deren Einführung die Anfälle auslösen kann.
TETANIE IM KINDESALTER. 613
Von dem Gedanken ausgehend, dass durch Pilocarpin erzeugte Schweiss-
absonderung und Speichellluss eine stärkere Mucinausscheidung bewirken
könnten, hat Kasparek dieses Mittel zu (r02 im Anfall injicirt und damit
die Anfälle beseitigt. Bei starken schmerzhaften Krämpfen und besonders bei
bedrohlichen Krämpfen der Respirationsmuskeln und der inneren Kehlkopf-
muskeln, wodurch lebensgefährliche Dyspnoe bewirkt wird, hat man Curare
angewandt. Von den krampfstillenden Mitteln Brom, Chloral und Morphium
wird man häufig Gebrauch machen müssen und man kann sie auch neben
den obigen gleichzeitig anwenden. Die Anwendung des faradischen Stromes
ist contraindicirt, die des schwachen galvanischen Stromes am liücken und
durch die Extremitäten ohne Stromschwankungen kann nützlich sein; ebenso
kann schwache Massage — keine Hackungen natürlich — wohlthuend wirken,
während stärkere Massage meist verschlimmernd wirkte. Eis auf den Rücken
oder Kopf mag versucht werden, es löst mitunter aber den Anfall aus. Pro-
trahirte warme Bäder oder hydropathische Einpackungen sind dem Kranken
oft angenehm. In zwei Fällen (Hauber), die wochenlang Morphium, Chloral,
lauen Bäder und Galvanisiren trotzten, führte energische Massage der Körper-
musculatur in prolongirter Chloroformnarkose in wenig Tagen Heilung herbei.
Der früher vorgenommene Aderlass ist, ob mit Recht sei dahingestellt,
nicht mehr im Gebrauch. Weil bei Tetanie nicht selten plötzliche Delirien
und Aufregungszustände mit Tobsuchtsanialien eintreten können, muss der
Kranke beständig überwacht werden. e. wichmajo:.
Tetanie im Kindesalter. Die Tetanie der Kinder unterscheidet
sich in ihrem Wesen durch gar Nichts von der gleichen Krankheit bei
Erwachsenen. Sie unterscheidet sich jedoch von demselben Leiden bei Er-
wachsenen dann, wenn es sich um Kinder unter 2 Jahren handelt, in zwei
sehr wichtigen Punkten, diese sind: erstens die Symptome, durch die sie
sich äussert und verräth, zweitens die Prognose, welche das Leiden in
diesem Alter bietet. Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass Kinder der
Tetanie erliegen können, was bei Erwachsenen wohl nicht vorkommt.
Der Umstand, dass man bis vor einigen Jahren fast allgemein geneigt
war, den Laryngospasmus (s. diesen Artikel), den wir heute als eines der
diagnostisch wichtigsten Symptome der Tetanie im Kindesalter betrachten
müssen, als ein Zeichen der Rachitis zu deuten, ihn mit dieser Krankheit
in directen Zusammenhang zu bringen, ist wohl Schuld daran, dass der Tetanie
im Kindesalter nicht die entsprechende Aufmerksamkeit geschenkt worden
war, dass diese Krankheit in sehr vielen Fällen nicht erkannt worden ist.
Leider ist der Laryngospasmus auch das böseste Symptom derselben.
Meine über diese Krankheit gemachten Studien habe ich im Jahre 1892
im deutschen Arch. f. klin. Medic. veröffentlicht. Seit dieser Zeit von mir
gemachte weitere Erfahrungen und Beobachtungen haben meine damaligen
Ansichten in nichts geändert, trotzdem die Anzahl meiner diesbezüglichen
Krankenbeobachtungen sich weit über das Doppelte vermehrt hat.
Wir müssen die Tetanie der Kinder als eine Neurose betrachten.
Wenigstens sind, trotz bestimmter Organ erkrankungen in vielen Fällen, trotz
des Umstandes, dass ein grosser Theil der Kinder bis zu zwei Jahren rachi-
tisch ist, keine pathologisch-anatomischen Veränderungen, keine sonstigen
Störungen im Organismus bekannt, die jedem Falle der Krankheit gemeinsam
wären, und die man als Ursache der Symptome in jedem Falle annehmen
müsste. Dasjenige, was sich in allen Fällen vorfindet, was auch im Stande
ist, sämmtliche bisher erkannten und prüflDaren Symptome der Krankheit zu
erklären, ist die auch durch Messungen festgestellte Thatsache, dass sich
sämmtliche Nerven und Muskel zur Zeit des Vorhandenseins der Krankheit
bei den betreffenden Individuen in einem Zustande ungewöhnlich erhöhter
614 TETANIE IM KINDESALTER.
Erregbarkeit befinden. Von dieser Erregbarkeit sind auch die Sinnesnerven
nicht ausgeschlossen. Diese Erregbarkeit scheint Reizen aller Art gegenüber
zu bestehen, lässt sich durch elektrische und mechanische am leichtesten er-
kennen und demonstriren. Sie ist der rothe Faden, der sich durch das
Krankheitsbild durchzieht, sie schwindet, um normalem Verhalten Platz zu
machen, wenn dasselbe abklingt.
Die Kinder werden eigentlich nur zweier Symptome wegen mit dieser
Krankheit zur Untersuchung gebracht, d. h. die Diagnose einer Störung wird
in diesen Fällen schon von dem Laien gestellt. Das eine, das allarmirendste,
ist der Spasmus glottidis, der Laryngospasmus, das sich „Verziehen." Die
Anfälle von Stimmritzenkrampf können sehr heftig sein, bis zum Stillstand
der Respiration, zu heftiger Cyanose mit sich anschliessenden allgemeinen
Convulsionen führen, ja es kann geschehen und unter einer grösseren Zahl von
Fällen geschieht es nach dem übereinstimmenden Berichte der meisten Au-
toren, dass das eine oder das andere Kind während des Anfalles in Folge
desselben trotz aller angewendeten Therapie stirbt. Die Anfälle treten bei
Tag und bei Nacht mit und ohne äussere Veranlassung auf. Sie stellen sich
bei den erkrankten Kindern meist plötzlich ein, ohne besondere Vorboten.
Sie werden leicht hervorgerufen, wenn die Kinder schreien wollen und weiter»
während der Nahrungsaufnahme. Die Zahl derselben kann über 80 während
24 Stunden betragen. Man versäume nie bei laryngospastischen Anfällen
nach den übrigen Symptomen der Krankheit zu fahnden.
Zweitens bekommt man die Kinder zu Gesichte wegen der tonischen
Contracturen, der Carpopedalspasmen\ die Hände in typischer TROussEAu'scher
Stellung (main d'accoucheur), die unteren Extremitäten in Plantarflexion;,
Hand- und Fussrücken öfter ödematös, wahrscheinlich in Folge der durch die
tonische Muskelcontractur behinderten Circulation. Diese Spasmen können
stunden- bis tagelang dauern, schwinden und kommen im Verlaufe der Krank-
heit wieder. Es sind die seltenen Fälle, die mit tonischen Contracturen be-
hafteten.
Während der Laryngospasmus bei Kindern, die das zweite Lebensjahr
überschritten haben, selten gesehen wird, kommen tonische Contracturen bis-
hinauf in das spätere Alter vor. So lange die Carpopedalspasmen vorhanden
sind, lassen sich selbstverständlich Prüfungen der Nerven- und Muskelerreg-
barkeit in den betreffenden Gebieten nicht vornehmen, weil zu deren Vor-
nahme eine Erschlaffung der entsprechenden Muskulatur unbedingte Noth-
wendigkeit ist.
Die weiteren Symptome, die bei der Tetanie der Kinder zu constatiren
sind, gleichen völlig den bei Erwachsenen und sollen hier blos in Kürze
aufgezählt werden.
Es sind hier zu nennen das Facialisphänomen, auf dem Höhe-
stadium der Krankheit besonders lebhaft, schon durch leichtes Streifen der
Wange auslösbar, hervorzurufen vom Stamme des Facialis aus und von dem
CnvosTEK'schen Punkte, das TßOussEAu'sche Phänomen, durch Druck im
Sulcus bicipitalis von mehr minder grosser Intensität und mehr minder langer
Dauer, je nach der Heftigkeit des Falles und dem Stadium der Krankheit
auslösbar. Es unterscheidet sich in nichts von demselben Phänomen Erwach-
sener. Weiter sind anzuführen die Zuckungen, die man mit Leichtigkeit er-
hält bei Beklopfen des Peroneus am Köpfchen der Fibula (P eroneu s-
Zuckung), des Radialis am Oberarme (Radialis -Zuckung), des Ulnaris im
Sulcus ulnaris (Ulnaris-Zuckung) etc., kurz jedes Muskels und jedes leicht
erreichbaren Nerven. Wegen der Bequemlichkeit und Leichtigkeit der Prüfung
haben wir die erwähnten speciell genannt. Hier tiberall ist Muskelruhe un-
bedingtes Erfordernis der Prüfung, und da diese bei kleinen Kindern oft nicht
TETxVNIE IM KINDESALTER. 615
leicht erreichbar ist, ein weiteres Erfordernis seitens des untersuchenden
Arztes Geduld.
Der Unterschied, den Muskel und Nerven tetaniekranker Kinder gegen-
über gesunden aufweisen, besteht vornehmlich darin, dass die Zuckung bei
gleich grossem Heize in dem einen Falle entweder fehlt oder sehr gering ist,
oder dass Reize, die bei Gesunden keine Reaction hervorrufen, bei Kranken
bereits deutlich beantwortet werden, ist also im Wesen ein quantitativer.
Ein grosser Theil der Kinder, die an Tetanie leiden, ist rachitisch, und
zwar zweifellos. Man kann sagen, mehr als -/g dieser Kinder unter 2 Jahren
sind mit deutlichen Zeichen der Rachitis behaftet. Unter diesen ist wieder
ein Theil, welcher Craniotabes mehr weniger deutlichen und intensiven
Grades aufweist. Die Frage, ob die Rachitis und die Tetanie mit einander
in einem ursächlichen Zusammenhange stehen, ist bereits zu wiederholtenmalen,
mitunter mit Heftigkeit discutirt worden. Sie ist heute noch nicht erledigt.
Ich kann mich nicht dazu entschliessen, einen solchen causalen Zusammen-
hang anzunehmen. Ich lasse mich hiebei von folgenden Erwägungen leiten.
Erstens von der völligen Gleichheit der Krankheitsbilder auch in seinem Ver-
laufe bei kleinen Kindern, grossen Kindern und Erwachsenen. Zweitens setzt
die Krankheit in der Regel bei schon länger bestehender Rachitis, besonders
Craniotabes, plötzlich mit allen Symptomen ein und kann weiterhin schwinden,
ohne dass sich an den bestehenden rachitischen Veränderungen bei vorur-
theilsloser Beobachtung und Beurtheilung des Vorhandenen irgend welche
Besserung oder Aenderungen finden Hessen. Die Tetanie ist also eine Episode
im Leben des Rachitikers. Dann gibt es zahllose Rachitiker mit Craniotabes
schwerster Art, die keine Spur von Tetanie irgend einmal zeigen oder gezeigt
haben, auch nicht rudimentäre Formen dieser Krankheit, ebenso wie es Te-
taniekranke ohne Rachitis gibt. Der Zahl der Rachitiker gegenüber ist
die Zahl der an Tetanie leidenden Rachitiker eine sehr geringe zu nennen.
Und schliesslich ist es doch merkwürdig, dass auch bei Kindern, gleichgiltig,
ob sie nun Rachitis haben oder nicht, die Tetanie, ganz seltene und ver-
einzelte Ausnahmen abgerechnet, wie bei Erwachsenen, gehäuft, und gebunden
an gewisse Zeiten des Jahres auftritt, die Monate October etwa bis April, in
den Somermonaten fehlt, wie dies u. A. v. Jaksch für Erwachsene, ich für
Kinder zweifellos festgestellt haben.
Auf dem XI. internationalen Congresse in Rom hat sich Comby in ähn-
licher Weise über die Beziehungen zwischen Laryngospasmus und Rachitis
ausgesprochen.
Ausser der Rachitis und neben derselben kann man bei den tetanie-
kranken Kindern noch die mannigfaltigsten Krankheiten vorfinden. Ich sah
noch folgende: leichte Grade von Anaemie (Tö^o Hb.), Catarrhus pharyngis,
laryngis, bronchialis, Pertussis, Pneumonia lobularis, Pleuritis fibrinosa, Darm-
katarrhe, Ekzeme, Morbilli, Herpes, Poliomyelitis, Rhinitis etc. und bin über-
zeugt, dass man gelegentlich noch manche andere Krankheiten wird fest-
stellen können, von denen vielleicht, die eine oder andere eine recht unan-
genehme und unerwünschte Complication des Leidens bilden mag.
Mit Hilfe galvanometrischer Untersuchungen lassen sich quantitative
Messungen der zur Erregung von Nerv und Muskel nöthigen Stromstärken
anstellen und sind bereits oft ausgeführt worden. (Erb, v. Frankel Hochwart,
HoFFMANN, Fr. ScHULTZE, Chvostek, Stewart ctc). Uns ist es beispiels-
weise gelungen mit relativ geringen Stromstärken A S Te (mit 3'5 M-A.
EüELMANN'sches Galvanometer) hervorzurufen.
Das Alter der von mir untersuchten Patienten schwankte zwischen
4 Monaten und der Grenze des Kindesalters 13 Jahren. Die Hauptzahl
bilden die Kinder unter 2 Jahren. Unter den letzteren waren Brustkinder
und künstlich Genährte annähernd gleich vertheilt.
616 TETANIE IM KINDESALTER.
Für das Fieber, welches öfter im Beginne der Krankheit vorkommt,
bietet nicht stets eine der erwähnten Nebenerkrankungen einen ausreichenden
Erklärungsgrund, doch bleibt die Zahl der ohne Nebenerkrankungen fiebernden
Fälle eine zu geringe, um dieses Symptom zu sicheren Schlüssen zu ver-
werthen.
Mit Entozoen, die oft anwesend waren, (Ascäriden, Oxyuren, Tricho-
cephalus) Hess sich kein Zusammenhang feststellen.
Hingegen findet sich ein auffällig häufiges Vorkommen von Acetonurie
und Diaceturie bei dieser Krankheit.
In der meisten Fällen finden sich gesteigerte Patellarsehnen-
reflexe.
Die Dauer der Krankheit betrug ohne laryngospastische Anfälle
2 Tage, mit laryngospastischen Anfällen 5 Tage in den rasch ablaufenden
Fällen, 3 Monate in den Fällen mit protrahirtem Verlaufe. Als Durch-
schnittsperiode kann ich 3 — 4 Wochen angeben. Sicher schwindet die Krank-
heit mit dem Eintritt der warmen Jahreszeit.
Der Verlauf pflegt so zu sein, dass zuerst das TROUssEAu'sche Phä-
nomen, oft schon nach 2^3 tägiger Beobachtung schwindet, d. h. nicht mehr
künstlich hervorzurufen ist, dann pflegen die laryngospastischen An-
fälle aufzuhören, und als letztes sich das Facialisphänomen und die Muskel-
und Nervenübererregbarkeit zu verlieren. Recidiven kommen häufig vor,
mit allen oder blos einigen Symptomen.
Die Prognose ist wegen der Gefährlichkeit der laryngospastischen
Anfälle bei kleinen Kindern mit Vorsicht zu stellen. — Sie wird schlecht, bei
complicirender Pneumonie, Morbillen, Bronchitiden, hartnäckigen Darm-
affectionen, kurz den Leiden, die schon an und für sich eine bekannte Gefahr
für das Leben der ersten Kindheit bedeuten.
Die Diagnose ist aus den Symptomen mit Leichtigkeit zu stellen. —
Zweifel kann man bei rudimentären Formen der Krankheit hegen, bei denen
das eine oder andere Symptom fehlt oder blos mangelhaft entwickelt ist. —
Ich glaube mich hier über diesen Punkt nicht näher auslassen zu sollen, will
nur darauf aufmerksam machen, dass man auch diese Krankheit in ver-
schiedenen Entwicklungsphasen zu Gesichte bekommen kann, und dass der
Ablauf der Symptome, das Nacheinanderschwinden derselben, uns einen
Schlüssel zum Verständnisse derartiger unausgesprochener Zustände bieten kann.
Aetiologie und pathologische Anatomie der Tetanie stehen auf
sehr schwachen Beinen — für keine der bisher aufgestellten Theorien sind
zwingende Beweise erbracht worden. Am meisten Aussichten auf Glaub-
würdigkeit scheint die Lehre von der Autointoxicationfür diese Krankheit
zu besitzen, für die neuerlich Jakobson-Ewald eingetreten sind. Doch ist
dieses Capitel heute noch nicht spruchreif und wird es bis zur Kenntnis der
eventuellen chemischen Noxe bleiben müssen. — Und solange diese Frage
nicht erledigt ist, halte ich es für verfrüht, eine symptomatische und
eine idiopathische Form der Krankheit zu unterscheiden.
Für eventuelle chemische Einflüsse sprechen die der Tetanie ähnlichen
Krankheitsbilder, die Bauer bei Vergiftung mit Ergotin gesehen und be-
schrieben hat, sprechen des weiteren die Erscheinungen, welche Schild-
drüsenexstirpationen bei Thieren und Menschen zu folgen pflegen. Es
sind dies selbstverständlich heute blos Analogien, die aber sicherlich be-
achtenswerthe Fingerzeige für die künftige Forschung nach der Aetiologie der
Tetanie abgeben. — Merkwürdig bleibt die Coincidenz der Krankheit mit
gewissen Zeiten des Jahres. Diese Coincidenz ist eine derartige, dass von
einem blossen Zufalle nicht die Ptede sein kann — doch muss man sich
heute blos mit der Notirung dieser merkwürdigen Thatsache begnügen.
TETANUS. 617
Von pathologisch-anatomischeu Veränderungen sind bis heute folgende
beschrieben: (Es ist sehr natürlich und naheliegend, dass man vorerst sich
mit der Untersuchung des Nervensystemes in erster Linie näher befasste)
Erweichungsherde im Halsmarke (TifOussEAu und Fkkuaiü), Verdickungen der
Adventitia an den Gelassen des Nervensystems nebst Ansammlung von
lymphoidcn Zellen um dieselbe (Langiians), Hyperämie der grauen Substanz
des Itückenmarkcs, capilläre Blutungen, Veränderungen der Ganglienzellen in
demselben nebst manchem Anderen (N. Weiss), myelitische Veränderungen,
Hyperämie der Hüllen des liückenmarkes, Erweichungsherde in demselben
(Bouciiut). Dem gegenüber stehen die Untersuchungen von Fkitz Sciiültze,
Bergek und mir, die, ausgeführt zum Theile bei der Krankheit erlegenen
Kindern, ergaben, dass mit unseren gebräuchlichen Untersuchungsmethoden
histologische Veränderungen irgendwelcher Art weder am Rückenmarke, noch
an den peripheren Nerven, noch an der Muskulatur der im Höhestadium der
Krankheit gestorbenen Individuen gefunden werden konnten. — Mit Rücksicht
auf den Verlauf und den gewöhnlichen folgenlosen Ausgang der Krankheit
müssen wohl die oben genannten positiven Ergebnisse als zufällige, mit der
Krankheit als solcher nicht zusammenhängend betrachtet werden.
Gegen eine Krankheit, deren Wesen und Ursache man noch so wenig
kennt, wird es vorläufig kein Specificum geben, und so ist es auch. Dass
man begleitenden und complicirenden Nebenleiden, also auch der Rachitis
seine vollste Aufmerksamkeit schenken soll, dass man diese Leiden lege artis
behandeln soll, ist nicht erst näher zu begründen. — Wir rathen im Hin-
blicke auf die Wahrscheinlichkeit einer Autointoxication vom Darme aus
jedenfalls der Verdauung der Kinder die vollste Aufmerksamkeit zu schenken.
Gegen die tonischen Contracturen haben sich uns laue, eventuell etwas
protrahirte Bäder bewährt. Frische Luft und hygienische Wohnungsverhält-
nisse tragen viel zur Genesung bei und von diesem Gedanken geleitet
empfiehlt wohl mit Recht Roberton den Aufenthalt an der Seeküste für
Kinder, die an Laryngospasmus leiden. Schade nur, dass diese Therapie
schwer durchführbar bleibt. Die Intubation bei Laryngospasmus heftiger Art,
Thyreoidinpräparate gegen dieses Leiden angewendet, gehören vorläufig in
das Gebiet therapeutischer Versuche, die, wenn auch noch nicht abgeschlossen,
nicht allzuviel versprechen.
Gegen den gefürchteten Laryngospasmus möge man die Nervina sensu
strictiori ins Treffen führen. Ich verweise diesbezüglich nochmals auf den
entsprechenden Artikel dieses Werkes. Um sich und andere vor Täuschungen
zu bewahren, möge man dessen eingedenk bleiben, dass mit dem Eintritte
der warmen Jahreszeit selbst langdauernde und hartnäckige Fälle von Tetanie
bei Kindern zu schwinden pflegen. loos.
Tetanus. Der Tetanus ist eine Infectionskrankheit, die durch den von
Nicolaier im Jahre 1885 entdeckten Tetanusbacillus hervorgerufen wird.
Bacteriologisches. Nachdem Carle und Rattone (1884) gezeigt hatten,
dass der menschliche Tetanus sich auf Thiere übertragen lässt, fand Nico-
laier bei Untersuchungen über die Mikroorganismen des Erdbodens, die
er unter Flügge's Leitung im Göttinger hygienischen Institute anstellte, dass
Erdpartikelchen, auf Mäuse, Meerschweinchen, Kaninchen übertragen, bei
diesen Thieren häufig tödtlich endenden Tetanus hervorrufen. Durch Ueber-
impfung des an der Infections-Stelle gebildeten Eiters Hess sich die Krank-
heit weiter übertragen. Neben anderen Mikroorganismen fand sich in dem
Eiter stets ein langer, schlanker, borstenförmiger Bacillus mit
einer endständigen Spore (Stecknadel -Form). J. Rosenbach fand bald
darauf dieselben Bacillen im Eiter tetanuskranker Menschen. Dieser Befund
wurde seitdem vielfach bestätigt, ebenso wurde constatirt, dass der Bacillus
618 TETANUS.
an den verschiedensten Orten in der Erde, im Staub, Kehricht, in thierischen
Excrementen (Rind, Pferd) anzutreffen ist.
Trotz vielfacher Versuche gelang die Reinzüchtung dieses Bacillus,
der sich als exquisit an aerob erwies, nicht, bis Kitasato (1889) auf folgen-
dem Wege zum Ziele gelangte: Tetanus-Eiter wurde auf schräg erstarrtem
Agar oder Blutserum ausgestrichen und die inficirten Röhrchen 48 Stunden
im Brütofen (ca. 37" C) gehalten. Nach 48 Stunden fanden sich im Aus-
strich-Präparate dieser Misch-Culturen neben anderen Mikroorganismen
auch zahlreiche borstenförmige Bacillen. Nun kamen die Culturen auf ca. 1
Stunde in ein auf 80^ C erhitztes Wasserbad, wodurch alle Bacterien, auch die
Tetanus bacillen abgetötet wurden, während die gegen Erhitzen — wie auch
gegen andere, schädigende Einflüsse (Austrocknen, Antiseptik u. s. w.) — ausser-
ordentlich resistenten Tetanussporen am Leben blieben. Nunmehr Hessen
sich diese durch alle für anaerobe Bacterien geeignete Culturmethoden (Züch-
tung in Wasserstoff-Atmosphäre etc.) in Reincultur weiterzüchten. (Die
Methode führt natürlich nicht zum Ziel, wenn im Ausgangsmaterial neben
den Tetanussporen noch andere sehr widerstandsfähige Dauerformen vorhan-
den sind). Der Tetanusbacillus wächst gut auf allen gebräuchlichen Nährböden,
in Gelatine und Agar zeigen die Culturen feine, strahlige Ausläufer (feder- oder
distelartiges Aussehen); Gelatine wird langsam verflüssigt. Alle Tetanus-
Culturen zeigen einen eigenthümlichen, widerwärtigen Geruch. Die Bacillen
haben schwache Eigcnbewegung, die sporentragenden sind jedoch unbeweglich.
Mit den gebräuchlichen Anilinfarben, auch mit der GEAM'schen Methode sind
sie gut färbbar.
Uebertragung auf Thiere. Sowohl durch unreines Infections-
Material (Erde etc., Tetanus-Eiter) als durch Reinculturen lässt sich der Tetanus
auf zahlreiche Thierarten übertragen. Besonders empfänglich sind Meer-
schweinchen, Mäuse, weniger Kaninchen und Ratten; von grösseren Thieren
sind namentlich Pferde leicht zu inficiren. Dagegen sind Hammel, Hunde,
Tauben, Frösche sehr wenig, Hühner fast gar nicht für Tetanus empfänglich.
Die Incubationsdauer ist bei verschiedenen Thierarten verschieden; sie beträgt
z. B. bei Mäusen 1—2, bei Pferden 4—5, bei Kaninchen 8 — 14 Tage. Dann
beginnt, zunächst in der Nähe der Impfstelle, der tonische Krampf der Mus-
culatur, der sich besonders in Streckkrämpfen äussert. Mehr oder minder
rasch breitet sich der Tetanus auf den übrigen Körper aus und führt bei den
empfänglicheren Thierarten gewöhnlich zum Tode. Anderenfalls folgt ein
langsames Zurückgehen der Erscheinungen; bis zur völligen Wiederherstellung
können Wochen und Monate vergehen.
Bei der Section der verendeten Thiere findet man, wenn die Infection mit einer
Eeincultur geschah, nur eine leichte Hyperämie an der Infections-Stelle. Die Bacillen selbst
sind dort nicht mehr aufzufinden, ihr Nachweis gelingt bereits 10 Stunden nach den In-i
fection nicht mehr (Kitasato). Erfolgte die Infection durch unreines Material, so findet
man an der Infectionsstelle Eiter, der neben anderen Mikroorganismen sporentragende
Tetanusbacillen enthält. In das Blut und die inneren Organe, gehen die Bacillen gewöhn-
lich nicht über.
Die Wirkungsweise der Tetanusbacillen ist im Wesentlichen eine to-
xische. Die Krankheits-Erscheinungen entstehen durch ein schon in mini-
malen Mengen höchst intensiv wirkendes Gift, welches die Bacillen sowohl im
Thierkörper als auch ausserhalb desselben zu produciren vermögen. Den
Beweis hierfür liefert die Thatsache, dass man durch das keimfreie Filtrat
von Tetanusbouillon-Culturen genau das gleiche Krankheitsbild erzeugen kann
wie durch die Bacillen selbst.
Vaillard und Vincent haben sogar neuerdings behauptet, dass die Tetanusbacillen
und Sporen allein, nachdem sie durch Abwaschen von der ihnen anhaftenden Giftmenge
befreit sind, nicht mehr im Stande seien, Tetanus zu erzeugen. Erst, wenn gleichzeitig
eine Schädigung des Gewebes an der Infectionsstelle — durch traumatische oder chemische
Einflüsse (z. B. Milchsäure oder Trimethylamin) oder andere Bacterien (Saprophyten, Eiter-
erreger) — erfolgt, könnten die ungiftig gewordenen Bacillen wieder Gifte produciren. Der
TETANUS. 619
natürliche Tetanus sei stets eine Misch-Infection. Richtig ist jedenfalls, dass bei dem ge-
wöhnlichen Modus der „Infection" mit Reinculturen so viel (iift miteingeführt wird, dass
dieses allein zur Tödtung der Thiere völlig ausreicht. Bei der natürlichen Infection wird
— wie im Thierexperiment — das Auswachsen der Tetanusbacillen durch die Misch-Infec-
tion und die traumatische Gewebs-Schädigung begünstigt werden. Wie bei anderen Infec-
tionen genügt auch hier die blosse Einführung der Bacillen nicht oder jedenfalls nicht
immer zur Entstehung der Krankheit. Gegenüber den Versuchen der beiden genannten
französischen Autoren ist jedoch hervorzuheben, dass durch die von ihnen zur Entfernung
des Giftes benützten Methoden auch gleichzeitig eine Schädigung der lebenden Bacillen her-
vorgerufen wird (Klipstein.)
Die chemische Natur des Tetanusgiftes ist uns noch fast völlig
unbekannt. Buieger hat aus Fleischbrei-Culturen des Tetanusbacillus vier
verschiedene basische Toxine hergestellt, von denen zwei {Tetanin und Tetano-
toxin) Thiere unter tetanusähnlichen Symptomen tödteten. Indes können diese
Körper keinen wesentlichen Antheil des Tetanusgiftes bilden, da sie erst in
relativ sehr grossen Mengen wirksam sind, während das in den Culturen vor-
handene Gift schon in minimalen Mengen tödtliche Wirkung entfaltet. (Kita-
SATO fand, dass von einer filtrirten Bouilloncultur bereits 0,000.005 ccm hin-
reichten, um eine Maus zu tödten.) Auch die spätere Annahme von Bkieger
und C. Fränkel, dass es sich um ein Toxalbumin handeln möchte, ist unwahr-
scheinlich geworden, seitdem sich gezeigt hat, dass die Bacillen ihr Gilt auch
auf eiweissfreien Nährböden zu bilden vermögen. Demnach ist dasselbe jeden-
falls kein Eiweisskörper (Brieger.)
Auch die Wirkungsweise des Tetanusgiftes ist noch nicht völlig
aufgeklärt. Wurden einem Thiere vor der Impfung mit Tetanuscultur sämmt-
liche Nerven einer Extremität durchschnitten, so blieb diese vom Tetanus
verschont. Auch Curarisirung scheint die tetanische Spannung der Muskeln
zu beseitigen. Bei successiver Zerstörung des Rückenmarks an tetanisch ge-
machten Thieren sah man die Starre in den entsprechenden Muskelgebieten
schwänden. Diese Erfahrungen machen es wahrscheinlich, dass das Gift wesent-
lich central, insbesondere auf das Rückenmark wirkt. Doch ist — aus
hier nicht näher zu erörternden Gtünden — daneben auch eine periphere
Wirkung anzunehmen.
Vorkommen beim 3Ieiischeii. In der Mehrzahl der Fälle folgt beim
Menschen die Erkrankung an Tetanus im Anschluss an eine nachweisbare
Verletzung: Tetanus traumaticus; er ist dann eine Wundinf ections-
krankheit. Fälle, in denen dieses aetiologische Moment nicht nachweisbar
war, nannte man früher rheumatischen oder idiopathischen Tetanus, je
nachdem vor dem Ausbruche der Krankheit eine starke Erkältung erfolgt war,
oder auch dieses besonders früher so beliebte Erklärungsmoment fehlte. Von
unserem heutigen Standpunkte ist es richtiger, die Fälle von Tetanus, in
denen die Invasionsstätte der Krankheitserreger nicht nachweisbar ist, als
kryptogenetischen Tetanus zu bezeichnen, ähnlich wie dies bei den
septischen Erkrankungen bereits allgemein üblich ist.
Im Allgemeinen wird das männliche Geschlecht häufiger befallen
als das weibliche, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass das erstere häu-
figer Verletzungen ausgesetzt ist. Nach einer grösseren englischen Statistik
ist für den traumatischen Tetanus das Verhältnis der Männer zu den Frauen
etwa wie 6:1. In den Tropen, so z. B. auf den westindischen Inseln, ist
die Krankheit weitaus häufiger ist als bei uns. Dass auch in unserem Klima
Witterungseinflüssen eine gewisse Bedeutung zugeschrieben wird, wurde be-
reits oben erwähnt.
Von Racenunterschieden ist zu erwähnen, dass Neger viel häufiger
erkranken als Weisse. Auch die Beschäftigung scheint nicht ohne Ein-
fluss zu sein: nach Verneuil sollen besonders diejenigen gefährdet sein, die
viel mit Pferden zu thun haben (Cavalleristen, Stallknechte u. s. w.).
620 TETANUS.
Auch bei Gärtnern und Erdarbeitern hat man relativ häufig Tetanus beobachtet.
Diese Erfahrungen sind nach dem, was oben über das Vorkommen der Bacillen
gesagt wurde, leicht verständlich.
Psychische Einflüsse (Schreck, deprimirte Gemüthsstimmung) sollen
das Entstehen der Krankheit begünstigen können. Sicherer begründet und
leichter verständlich ist der Einfluss ungünstiger äusserer Verhält-
nisse (mangelhafte Ernährung und Pflege). So hat man besonders in
Kriegen geradezu epidemisches Auftreten von Tetanus gesehen.
Beim traumatischen Tetanus kommt dann die Beschaffenheit der
Wunden in Betracht. Riss- und Quetschwunden scheinen häufiger zum
Tetanus zu führen, als Hieb- und Stichwunden. Besonders gefährlich sind
Wunden, die mit Erde verunreinigt wurden oder in die Fremdkörper (z. B.
Holzsplitter) eingedrungen sind. Die Ausdehnung und Grösse der Verletzung
stehen in keinem directen Zusammenhange zur Erkrankung. Im Allgemeinen
führen jedoch kleine, selbst völlig übersehene Verletzungen (z. B. das Ein-
dringen eines Holzsplitters in die Fusssohle) häufiger zum Tetanus als aus-
gedehnte offenliegende Verwundungen — eine Thatsache, die aus dem ledig-
lich ana eroben Wachstum des Tetanusbacillus erklärlich ist.
Der Tetanus kann sowohl bei auch anderweitig inficirten, eiternden,
gangränösen als auch bei völlig aseptischen Wunden auftreten. Selbst wenn
die Wunden bereits primär verheilt sind, kann nachträglich noch Tetanus aus-
brechen (Narbentetanus). Ort und Art der Verletzungen, die zu Tetanus
führen, können sehr verschiedene sein; man hat nach Zahnextractionen,
Schröpfköpfen, Bienenstichen, nach den verschiedensten Verwundungen Tetanus
auftreten sehen, doch scheinen Wunden an den Enden der Extremi-
täten (Finger, Zehen, Handteller, Fusssohle) relativ häufiger von Tetanus
gefolgt zu sein, was wohl darauf zurückzuführen sein dürfte, dass Wunden
an diesen Körpertheilen besonders leicht mit Erde u. dgl. verunreinigt werden.
Manche Autoren geben an, dass Verletzungen besonders nervenreicher Körper-
theile, Quetschung von Nervenstämmen u. dgl. den Ausbruch der Krankheit
besonders begünstigen sollen.
Zu erwähnen ist noch, dass auch nach Traumen ohne nachweis-
bare äussere Verletzung (nicht complicirten Fracturen oder Luxationen
etc.) wiederholt Tetanus beobachtet wurde.
Als besondere Arten des Tetanus, die aber lediglich als Fälle von trau-
matischem Tetanus mit besonderer Invasionsstätte anzusehen sind, hat man
früher den Tetanus puerperalis und den Tetanus neonatorum ange-
führt. Bei ersterem handelt es sich um eine Infection von den Genita-
lien aus, theils nach Aborten oder operativ beendeten Geburten (Placentar-
Lösungenl), theils aber auch nach ganz normal verlaufenen Entbindungen.
Beim Tetanus der Neugeborenen handelt es sich um Infection der Nabel-
wunde durch Tetanusbacillen, wie durch bacteriologische Untersuchung des
Eiters bereits mehrfach festgestellt wurde.
Besonders früher hat man in manchen Gegenden eine ausserodentlich grosse Mor-
talität darch Tetanus neonatorum beobachtet; so existiren Berichte, nach denen in ge-
wissen Neger-D istricten zeitweise mehr als die Hälfte der Neugeborenen an Tetanus gestor-
ben sein soll. Einzelne Autoren (u. A. Ziemssen) beobachteten, dass zu heisse Bäder
bei Neugeborenen die Erkrankung an Tetanus begünstigten.
-X-
Die Ermittlung der Infectionsstelle beim menschlichen Tetanus und damit
die bacteriologische Untersuchung kann auf erhebliche Schwierigkeiten stossen.
Wie beim künstlich inficirten Thier, finden sich die Tetanusbacillen auch bei
der natürlichen Infection des Menschen lediglich an der Invasionsstätte. Diese
kann aber offenbar — ganz wie im Thier-Experiment — völlig reactionslos
und daher unbemerkt bleiben, falls nicht gleichzeitig Eitererreger mitein-
TETANUS. 621
gedrungen sind oder ein Fremdkörper, der als Träger der Infectionserreger
diente, den Ort der Infection verräth.
Im Tetanus-Eiter sind die Bacillen mikroskopisch, durch das Thier-
Experiment und die Cultur — vergl. oben das KiTASATo'sche Verfahren —
nachzuweisen, und ebenso halten sich die Sporen an eingedrungenen Fremd-
körpern (z. B. Holzsplittern) sehr lange — wie Versuche ausserhalb
des Körpers zeigen, jahrelang — lebensfähig und virulent. Fehlt aber jeder
Anhaltspunkt bezüglich des Ortes der Infection, dann ist auch eine bacteri-
ologische Untersuchung nach unseren bisherigen Erfahrungen aussichtslos, der
Fall ist „kryptogenetisch." Je genauer man untersucht, umso seltener wer-
den diese Fälle werden.
So war in einem Falle meiner Beobachtung der Tetanus angeblich im Anschluss an eine
heftige Erkältung entstanden. Bei der Besichtigung des Kranken fand sich ein kleiner
Furunkel in der rechten Fossa infraclavicularis ; der bei der Incision desselben entleerte
Eiter enthielt — ausser Staphylococcen — sehr spärliche Tetanusbacillen und rief bei einer
Maus typischen Tetanus hervor.
In anderen Fällen fand man erst bei der Section — bei systematischer Untersuchung
oderj zufällig — die Infectionsstelle, z. B. durch einen tief in der Planta pedis steckenden
Holzsplitter kenntlich, ohne dass äusserlich noch eine Verletzung nachweisbar war.
Auf etwa vorhandene Narben ist — nach dem oben über den „Narben-Tetanus"
Gesagten — besonders zu achten. So erzählt Rose eine lehrreiche Anekdote: Nach der
Section eines jungen Menschen, der an Tetanus von unbekannter Aetiologie gestorben war,
schnitt Dupuytren zufällig eine kleine knotige Narbe am Arm des Todten an. Zu seinem
Erstaunen fand sich der Knoten einer Peitschenschnur darin, der im Nervus ulnaris ein-
gebettet war, worauf weitere Ermittlungen einen Peitschenhieb als Ursache feststellten.
In Fällen, in denen die Eingangspforte des Krankheitserregers und daher
auch dieser selbst nicht aufzufinden ist, wird öfters doch das von ihm pro-
ducirte specifische Gift intra vitam im Blute, (zuweilen auch im Harn)
bei der Section auch in den inneren Organen durch das Thierexperiment nach-
weisbar sein. Injicirt man das Blut eines Tetanuskranken subcutan einer
Maus oder einem Meerschweinchen, so bewirkt dasselbe häufig — zuweilen schon
in Mengen unter 1 ccni — typischen, tödlich endenden Tetanus, ohne dass
bei Culturversuchen Bacillen darin nachweisbar wären : es handelt sich also
hier um eine Intoxication der Versuchsthiere durch Tetanusgift. Die Menge
desselben im Blute kann allerdings erheblich schwanken, so dass man ander-
seits selbst in schweren, tödtlich endenden Fällen mit den zum Versuch ver-
wendeten Blutmengen negative Resultate erhalten kann. Die Menge des im
Blute circulirenden Giftes ist keineswegs der Schwere des Falles proportional.
Bei Untersuchung des Harns ist das Ergebnis selbst bei Verwendung grösserer
Mengen öfters negativ.
In einem von mir untersuchten Falle von puerperalem Tetanus zeigte die intra
vitam ausgekratzte Decidua im Thierexperiment specifische, toxische Wirkung, enthielt
jedoch keine lebenden Bacillen. In einem weiteren, kürzlich mitgetheilten Falle hat Heyse
in der Decidua auch Tetanusbacillen gefunden.
Wenn man bedenkt, wie häufig Schrunden und Verletzungen an Händen
und Füssen mit Erde u. dgl. verunreinigt werden und wie selten anderseits
der Tetanus trotz der grossen Verbreitung seines Erregers im Erdboden ist,
so muss man den Schluss ziehen, dass die Empfänglichkeit für diese Infection
beim Menschen nicht sehr verbreitet sein dürfte.
Die pathologische Anatomie hat bisher noch keine sicheren, für
Tetanie charakteristischen Befunde ergeben. Die diesbezüglichen älteren An-
gaben über Veränderungen im Centralnervensystem (Rokitansky, Demöie u. A.)
haben sich bei Nachprüfung mit besseren Methoden nicht bestätigt (Fr.
SciiULTZE u. A.). Die Stauungs-Hyperämie und die kleinen Blutungen, die
man — wie auch in anderen inneren Organen — im Hirn und Rückenmark
und ihren Häuten öfters findet, sind Folgen der Convulsionen und der häufig
terminal auftretenden Erstickungs- Anfälle. In einigen Fällen von trau-
matischen Tetanus hat man Neuritis in der Nähe der Wunde, zuweilen bis
zum Rückenmark aufsteigend gefunden. Beim Kopf-Tetanus (s. u.) fand
622 TETANUS.
neuerdings Nerlich Yacuolisirung der Ganglienzellen im motorischen
Quintuskern, in den Kernen des Facialis und Hypoglossus.
Klinische Symptome und Verlauf. In den Fällen von traumatischem
Tetanus, in denen sich der Zeitpunkt der Infection genauer ermitteln lässt,
beträgt die Dauer der Incubation gewöhnlich einige Tage, zuweilen aber
bis 3 Wochen und länger. Bevor die charakteristischen Symptome beginnen,
treten öfter unbestimmte prodromale Erscheinungen (Mattigkeit, Kopf-
schmerzen, Unruhe, Angstgefühl) auf. Dann bemerken die Kranken ein all-
mälig zunehmendes, oft von leichten Schmerzen begleitetes Spannungs-Gefühl
in der Kau-, Schlund- und Gesichts-Musculatur. Bald kommt es dann zu den
für die Krankheit charakteristischen tonischen Muskelkrämpfen, die
mindestens in der ersten Zeit am deutlichsten an den Masseteren ausgespro-
chen zu sein pflegen (Trismus). Im w^eiteren Verlauf werden die Zähne mit
solcher Gewalt auf einander gepresst, dass actives und passives Oeffnen des
Mundes ausserordentlich erschwert und bald nur noch in sehr geringem Um-
fange möglich wird. Damit werden auch die Nahrungsaufnahme und das
Sprechen schwierig. Kommt noch ein Krampf der Schlingmusculatur hinzu,
so kann erstere fast unmöglich werden.
Das primäre Auftreten des Trismus, welches beim menschlichen Tetanus
auch in den Fällen, in denen die Infection an weit entfernten Körperstellen, z. B. Hand oder
Fuss, erfolgt ist, die Regel bildet, stellt eine bemerkenswerthe, bisher nicht erklärte Abwei-
chung von dem — sonst so ähnlich verlaufenden — Impftetanus unserer Versuchsthiere
dar. Denn beim letzteren ergreift, wie bereits oben erwähnt, die tetanische Starre zunächst
die der Infections-Stelle benachbarten Muskeln und schreitet von da allmälig fort — ein
Verhalten, das sich beim Menschen nur zuweilen — besonders bei leichten, mehr chronisch
verlaufenden Fällen — findet; doch pflegt sich auch bei diesen mindestens ein leichter
Grad von Trismus einzustellen.
In den schwereren Fällen breitet sich die tetanische Starre auf weitere
Muskelgebiete aus; gewöhnlich wird bald die Nacken- und Rückenmuskulatur
ergriffen; der Kopf wird steif nach rückwärts gebeugt gehalten, die Wirbel-
säule nach vorn gekrümmt, so dass man zwischen ihr und dem Bett die
Hand durchschieben kann (Opisthotonus). Gewöhnlich ist auch die Bauch-
musculatur bretthart gespannt.
Nimmt die Betheiligung der mimischen Musculatur zu, so entwickelt
sich ein eigenthümlicher Gesichtsausdruck, der Jedem, der ihn einmal gesehen,
unvergesslich bleibt (Facies t et a nie a). Die Stirn wird hoch gezogen, in
horizontale Falten gelegt, die Lidspalten sind oft verengert, die Nasenlöcher
erweitert, der Mund in die Breite, die Mundwinkel nach aussen und unten ver-
zogen, die Masseteren treten nicht selten deutlich hervor. Dieser starre,
ein Gemisch verschiedener Empfindungen wiederspiegelnde Ausdruck des Ge-
sichtes hat verschiedene Vergleiche erfahren; am bekanntesten ist die frei-
lich nur in manchen Fällen zutreffende Bezeichnung „Risus Sardonicus".
In den schweren Fällen ist fast regelmässig auch die Musculatur der
Extremitäten betheiligt.
Die continuirliche Starre der Musculatur wird nicht selten von zeit-
weisen spontanen Remissionen oder Intermissionen unterbrochen. Andererseits
sieht man besonders bei den schwereren Fällen stossweise eine stärkere
Contraction der ergriffenen Musculatur, zuweilen auch klonische Zuckungen
eintreten, wobei es zu heftigen Erschütterungen des ganzen Körpers kommt.
Nach einigen Secunden oder wenigen Minuten tritt wieder ein Nachlass ein.
Derartige Anfälle erfolgen theils spontan, theils werden sie durch un-
bedeutende sensible Reize (leichte Berührungen oder Erschütterungen, plötz-
liche Geräusche u. dgl.) ausgelöst - - eine Thatsache, die das Vorhandensein
einer gesteigerten Reflexerregbarkeit beweist. Im Schlafe — im
natürlichen wie im künstlichen — lässt die tetanische Starre nach.
TETANUS. 623
Die von den Krämpfen befallene Musculatur bereitet den Kranken ge-
wöhnlich Schmerzen, die sich namentlich bei den tetanischen Anfällen zu
beträchtlicher Höhe steigern können. Die Sensibilität ist gewöhnlich
normal; vereinzelte Beobachter wollen Herabsetzung der Tast- und Tem-
peraturempfindung gefunden haben.
Die Haut-Reflexe sind gewöhnlich gesteigert, öfters auch die Sehnen-
Reflexe. Das Sensorium bleibt meist bis zum Tode erhalten. „L'infor-
tune atteint de cette maladie se voit mourir" sagt Larrey. In schweren
Fällen besteht gewöhnlich Schlaflosigkeit. Der qualvolle Zustand der
Kranken wird hierdurch und durch heftigen Durst noch verschlimmert.
Die Körpertemperatur ist häufig während des grössten Theils der
Krankheit normal; erst kurz vor dem Tode beginnt sie in der Mehrzahl der
Fälle zu steigen und kann excessive Werthe (bis 44° C.) annehmen. Auch
postmortale Temperatursteigerung ist nicht selten beobachtet. Der
Puls ist meist etwas beschleunigt, in schweren Fällen findet man ihn sehr
frequent und klein, zeitweise etwas unregelmässig. Oft sieht man reichliche
Schweisssecretion. Stuhl- und Harn-Entleerung sind — in Folge
der tonischen Starre der Bauchmusculatur und der Sphincteren — gewöhnlich
erschwert. Die Harnmenge ist meist vermindert, das specifische Gewicht
erhöht, zuweilen hat man Eiweiss oder Zucker (oder andere reducirende
Substanzen) gefunden; in seltenen Fällen wurde eine complicirende Nephritis
beobachtet.
Die Harnstoff- Ausscheidung ist nach Senator nicht gesteigert, ebensowenig die
Ausfuhr von Kreatin oder Kreatinin. Indes genügen die früheren Beobachtungen nicht
allen Anforderungen, die wir heute an Stoffwechsel-Versuche stellen müssen.
Störungen von Seiten der inneren Organe fehlen meist. Die starke
Athemnoth und Cyanose, die sich namentlich im letzten Stadium nicht selten
entwickelt, beruht auf der tetanischen Contraction der Athmungs-Musculatur.
Wegen der erschwerten Expectoration sammelt sich Secret in den Luftwegen
an, das zu secundärer Bronchitis oder Bronchopneumonie Veranlassung
geben kann.
Eine besonders zu erwähnende Abart bildet der sog. ;,Kopftetanus."
Er entsteht in Folge von Verletzungen des Gesichts und Schädels — mehr-
fach ist er nach solchen des Orbital-Randes beobachtet. Ausser dem Trismus
zeigte sich hier eine Facialis-Lähmung auf der Seite der Verletzung,
ferner eine besondere Betheiligung der Schlingmuskeln, meist auch
der Kehlkopf-, Hals- und Nacken- Muskulatur. Die Schlingkrämpfe bedingen
zuweilen eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Krankheitsbilde der Lyssa, daher
auch der Name Tetanus hydrophobicus. In einzelnen Fällen der im
Ganzen recht seltenen Krankheitsform hat man auch Hypästhesie oder Hy-
perästhesie im Gesicht gefunden.
-X-
Der allgemeine Verlauf und die Dauer der Krankheit zeigen
sehr grosse Verschiedenheiten. In den schweren Fällen nehmen die Er-
scheinungen rasch zu, und der Exitus erfolgt häufig schon nach 2 — 7 Tagen,
unter den Zeichen der Herzschwäche oder in Folge von Erstickung bei einem
tetanischen Anfall. Es sind sogar Fälle beschrieben, in denen der Tod in
wenigen Stunden, ja in weniger als einer Stunde eintrat.
Die Mortalität ist im Allgemeinen eine sehr hohe. Die Statistik
verschiedener Autoren zeigen ausserordentlich grosse Differenzen: zwischen
507o (und noch weniger) und 90% Mortalität. Das ist leicht verständlich,
da in der Schwere der Fälle sehr grosse Unterschiede vorkommen und manche
Angaben — besonders solche, die die Wirksamkeit therapeutischer Eingriffe
beweisen sollen — sich auf relativ kleine Zahlen stützen.
Dauert die Krankheit länger als 10 Tage, so tritt nur selten später
noch ein ungünstiger Ausgang ein. Die tetanischen Erscheinungen nehmen
624 TETANUS
ganz allmälig ab, bis häufig erst nach mehreren Wochen völlige Wiederher-
stellung eintritt. In den leichten Fällen (Tetanus mitis) bleibt die teta-
nische Contraction lange auf die zuerst ergriffenen Muskeln (am häufig-
sten Kaumuskeln, zuweilen auch die Muskeln des verwundeten Körpertheiles)
beschränkt und erreicht gewöhnlich keinen sehr hohen Grad; man beobachtet
hier von vornherein einen mehr chronischen Verlauf.
Die Prognose des Tetanus ist nach dem Gesagten in allen schwere-
ren Fällen eine sehr ungünstige. Aber auch anfangs leicht aussehende Fälle
können sich binnen Kurzem zu schweren umgestalten. Dass der traumatische
Tetanus eine schlechtere Prognose gebe als der „ rheumatische '^ oder „idio-
pathische", wurde von manchen Autoren behauptet, von anderen bestritten.
Für die Beurtheilung der Aussichten im Einzelfalle kommen erfahrungs-
gemäss hauptsächlich in Betracht:
1. (beim traumatischen Tetanus) die Länge des Incubations-Stadiums.
2. Die Schnelligkeit, mit welcher, die tetanische Starre auf weitere
Muskelgebiete fortschreitet.
Je kürzer die erstere, je grösser die letztere ist, um so schlechter ist die
Prognose. Fälle mit einem Incubationsstadium von 14 Tagen oder darüber
sind von vorneherein als relativ leicht zu bezeichnen. Fälle, in denen der
anfänglich nur in der Kau- und Nacken-Muskulatur localisirte Krampf rasch
(in 1 — 3 Tagen) auf die Rücken-, Bauch- und Extremitäten-Muskulatur über-
greift, enden fast letal. Je acuter der Verlauf, um so ungünstiger.
Dass mit der Dauer der Krankheit die Prognose besser wird, ergibt sich
hiernach von selbst. Als ungünstige Zeichen gelten Temperatursteigerung,
hohe Pulsfrequenz, zahlreiche tetanische Anfälle, anhaltende Schlaflosigkeit.
Die Diagnose des Tetanus macht in der grossen Mehrzahl der Fälle
keine Schwierigkeiten. Verwechslungen mit localen Affectionen der Mund-
höhle und der ihr benachbarten Organe, die reflectorisch zu Trismus führen
(Zahn-Abscesse, Parotitis, Angina, Kiefergelenks-Erkrankungen) können bei
genauer Untersuchung kaum vorkommen. Auch bei den leichteren Fällen von
Tetanus pflegt überdies der Krampf sich nicht — oder jedenfalls nicht dau-
ernd — auf die Masseteren zu beschränken, sondern auch auf die Nacken-
und Gesichts-Muskulatur u. s. w^ zu erstrecken. Dieses Moment ist auch für
die Unterscheidung des Tetanus von den sehr seltenen Fällen idiopathischen
Kaumuskelkrampfes („masticatorischen Gesichtskrampfes") maassgebend.
Sind beim Tetanus vorwiegend die Nacken- und Rücken-Muskeln be-
theiligt, so ist in seltenen Fällen die Differential-Diagnose gegenüber der
Meniugitis spinalis und cerebrospinalis in Erwägung zu ziehen. Das Fehlen
von Kopfschmerz, Erbrechen, Bewusstseinsstörungen, Fieber, das Vorwiegen
des Trismus (der besonders im Anfangsstadium der Meningitis selten ist)
werden die Diagnose des Tetanus meist bald sichern.
Hysterische Krampfzustände mit Trismus und Opisthotonus können zwar
zuweilen ein auf den ersten Blick dem Tetanus ähnelndes Krankheitsbild
bieten. Aber jeden einigermaassen erfahrenen Arzt wird der Gesammt-Ein-
druck und, wenn nöthig, das Aufsuchen der „hi/sterischen Stigmata^'' zur rich-
tigen Diagnose leiten.
Ein sehr heftiger, acut auftretender Rheumatismus der Nacken- und
Rückenmuskeln kann zu einer ähnlichen Haltung des Kopfes und Rumpfes,
wie beim Tetanus, führen. Aber das Fehlen des Trismus, andererseits die
grosse Schmerzhaftigkeit der Muskeln bei jeder Bewegung — die beim Tetanus
durchaus nicht beträchtlich zu sein pflegt — werden vor einer Verwechslung
schützen.
In seltenen Fällen von Kopftetanus können, wie bereits erwähnt wurde,
die Schlingkrämpfe so ausgeprägt sein, dass man an Lyssa erinnert wird.
(Rose). Die Anamnese sowie manche Unterschiede im Krankheitsbilde — so
TETANUS. 625
besonders das Fehlen der bei Lyssa gewöhnlichen krampfireien Intervalle,
der starken psychischen Erregung, der Wuth-Anfälle werden die Difterential-
Diagnose gegenüber der Hundswiith ermöglichen.
Endlich kann unter Umständen die Ditterential-Diagnose gegenüber dem
„Tetanus toxicus," wie er vor Allem durch Strychnin-Vergiftung her-
vorgerufen wird, in Frage kommen. Vor Allem wird natürlich auch hier
die Anamnese von Wichtigkeit sein. Bei der Strychnin-Vergiftung treten
ferner von vornherein anfalls weise allgemeine Krämpfe, getrennt durch
völlig freie Intervalle, auf; die Krämpfe betreffen in hervorragendem Maasse
die Extremitäten; der Verlauf ist meist ein sehr rascher, er führt in wenigen
Stunden zum Tode oder zur Besserung.
Tlieraine. Aus der Erkenntnis, dass der Tetanus in der grossen Mehr-
zahl der Fälle eine Wundinfectionskrankheit ist, ergibt sich die Möglichkeit
einer rationellen Prophylaxe. Die antiseptische Wundbehandlung hat den
Tetanus nach Operationen zu einem glücklicherweise extrem seltenen Er-
eignis gemacht. Sorgfältige Behandlung der Nabelwunde verhütet den Tetanus
neonatorum. Jede Wunde, die durch Erde u. dgl. verunreinigt ist, oder
in der sich Fremdkörper befinden, muss möglichst bald einer breiten Er-
öffnung, gründlichen Reinigung und Desinfection unterworfen w-erden. Bei
der überaus grossen Resistenz der Tetanus-Sporen gegen Antiseptika —
KiTASATO fand z. B., dass sie einen Aufenthalt in 5% Carbolsäure 10 Stunden
lang aushalten, — wird von einer ausgiebigen, mechanischen Reinigung mehr
zu erwarten sein als von der Desinfection.
Ist der Tetanus schon ausgebrochen, dann ist eine chirurgische Be-
handlung der Infections-Stelle — in den Fällen, in denen dieselbe fest-
zustellen ist — von sehr zweifelhaftem Nutzen. Man hat die Cauterisation
oder Excision der inficirten Wunde, die Amputation des verletzten Gliedes
vorgenommen. In manchen Fällen ist nach diesen operativen Eingriffen, —
denen wir noch die Durchschneidung oder Dehnung eines oder mehrerer
Hauptnervenstämme des inficirten Körpertheiles (z. B. des Ischiadicus) an-
reihen könnten, — Heilung beobachtet worden, in vielen anderen Fällen trat
trotzdem der tödtliche Ausgang ein.
Die experimentellen Ergebnisse sind nicht geeignet, an die Entfernung des inficirten
Körpertheiles bei schon ausgebrochenem Tetanus grosse Hoffnungen zu knüpfen. Bei
kleinen Versuchsthieren (Mäusen) wird schon in den ersten Stunde nach der Infection
soviel Gift resorbirt, dass, wenn die Impfstelle nach dieser Zeit entfernt wird, die Erkran-
kung nicht aufgehalten werden kann. (Kitasato). Doch handelt es sich hier von vorn-
herein mehr um Intoxication als um Infection.
Indessen ist die Prognose beim Tetanus so schlecht, dass der Versuch
einer chirurgischen Behandlung durch radicale Entfernung der Stelle, an der
die Bacillen nisten und ihr Gift produciren, unseres Erachtens nicht ohne
Weiteres verworfen werden kann. Je frühzeitiger nach Stellung der Diag-
nose dies erfolgt, um so eher wird man sich einen Erfolg davon versprechen
können. Dagegen erscheint der Nutzen einer Nerven-Durchschneidung oder
-Dehnung überaus problematisch. Das gleiche gilt von der localen Anwendung
von Antisepticis (Carbolsäure, Jodoform, Sublimat u. A.), wie sie nament-
lich von manchen italienischen Autoren neuerdings empfohlen wurden.
Die allgemeineBehandlungdes Tetanus besteht in absoluter Ruhe,
Fernhaltung aller Reize (Isolirung, verdunkeltes Zimmer, Vermeidung jeder
Erschütterung u. s. w.), dann in der Sorge für möglichst ausgiebige Ernäh-
rung. Nicht selten ist es dem Kranken möglich, mittelst eines durch eine
Zahnlücke eingeführten Glas- oder Gummi-Röhrchens Flüssigkeiten (Milch,
Wein, Nähr-Präparate) zu sich zu nehmen. So kann der oft sehr quälende
Durst der Kranken befriedigt und der Inanition vorgebeugt werden. Ist
wegen des heftigen Trismus oder wegen des Krampfes der Schlingmuskeln
die Ernährung per os unmöglich, so muss man zu Nähr-Klystieren seine
Bibl. med. "Wissenschaften. 1 Interne Medicin und Kinderkrankheiten; Bd. III. 40
626 TETANUS ET TßISMUS NEONATORUM.
Zuflucht nehmen. Die Einführung der Sonde durch die Nase ruft häufig
stärkere tetanische Anfälle hervor. Einige Aerzte haben den in der Narkose
eintretenden Nachlass des Krampfes benutzt, um durch die Sonde Nahrung
zuzuführen. — Stuhlverstopfung und Harnverhaltung müssen symptomatisch
behandelt werden.
In manchen Fällen bewirken protrahirte warme Bäder eine vorüber-
gehende Erleichterung.
Die medicamentöse Behandlung war bisher ebenfalls lediglich eine
symptomatische. Vor allem wurden die Narkotika besonders Chloro-
form, Chloralhydrat (mehrmals täglich 1 — 2 g)^ Bromsalze (10— löf?- pro die),
Opium oder Morphin in grossen Dosen, Belladonna, das Extract der Cala-
barbolme, Tabaks-Klystiere, Amylnitrit und andere mehr) angewandt; besonders
die erstgenannten Mittel führen zwar gewöhnlich einen Nachlass der Muskel-
starre, ein Seltenerwerden der Anfälle herbei, doch ist die Wirkung nur eine
vorübergehende und der Nutzen für den weiteren Verlauf der Krankheit
durchaus fraglich; trotzdem Avird man sie bei schweren Fällen nicht entbehren
können, da sie die Leiden des Patienten wenigstens zeitweise lindern.
Von Terschiedenen Seiten wurden subcutane Injectionen von Curare zu therapeu-
tischen Zwecken versucht — mit sehr zweifelhaftem Nutzen. Di8 Dosirung wird hier dadurch
erschwert, dass die verschiedenen Präparate verschieden starke Wirkung zeigen. Es ist daher
rathsam, sich znnächst durch einen Thierversuch von der Wirksamkeit des zur Verfügung
stehenden Präparates zu überzeugen. Empfohlen wird, von einer f/o Lösung zunächst
0'25 ccm, dann stündlich oder öfters allmälig grössere Dosen (1 ccm und mehr) zu injiciren.
Zeigt sich beginnende Herzschwäche, so müssen Excitantien (Campher,
Aether) angewandt werden.
Noch zahlreiche andere Mittel sind gegen Tetanus empfohlen worden; früher hat man,
von der Anschauung ausgehend, dass es sich um eine entzündliche Affection des Nerven-
systems handle, Blutentziehungen, sowie „Derivantien" (an der Wirbelsäule) und „Anti-
phlogistica" angewandt. Besonders gegen den „rheumatischen" Tetanus wurde Natrium
salicylicum verordnet. Nur des historischen Interesses halber sei noch erwähnt, dass wie-
derholt Tetanus-Kranke mit Elektricität behandelt und zum Theil „geheilt" worden sind
In jüngster Zeit sind mehrfach Versuche einer specifischen Be-
handlung des Tetanus mit dem Blutserum immunisirter Thiere gemacht
worden. Hinsichtlich der experimentellen Grundlagen und des gegenwärtigen
Standes dieser von Behring inaugurirten „Blutserumtherapie" kann ich
auf den diesbezüglichen Aufsatz im I. Bande verweisen. Beheing selbst hat
inzwischen (seit 1894) weitere Versuche mit „Tetanusheilserum" nicht mit-
getheilt, wohl aber auf der Naturforscherversammlung (September 1896) von
der gelungenen Bereitung eines wirksamen Tetanus- Antitoxin gesprochen.
Das bei Merk (Darmstadt) zu sehr hohem Preise käufliche TizzoNi'sche „Teta-
nus-Antitoxin" ist im Thierexperiment erheblich minder wirksam als das frü-
her von Behring hergestellte. Seine Wirkung beim Menschen ist höchst
zweifelhaft, in einem Falle, den Verfasser kürzlich beobachten konnte, war es
gänzlich wirkungslos, ßoux und Vailland (Paris, Institut Pasteur) ver-
sprechen sich von ihrem Serum keinen Erfolg bei ausgebrochenem, schwerem
Tetanus, hoffen aber, dass dasselbe sich prophylaktisch — bei mit Erde u. s.
w. verunreinigten Wunden — bewähren wird. r. stern.
Tetanus et TriSmUS neonatorum. {Starrkrampf der Neugeborenen,
Kinnbackenkrampf, Sjmsdius maxillae inferioris, Tortura oris, Eklampsia teta-
niformis neonatorum, Todtenkrampf, Mundklemme, Kappzaun, Kopfgichter etc.)
Wenn auch diese Kinderkrankheit eine schon seit Alters her bekannte
ist, so bleibt es doch das Verdienst erst neuerer Untersuchungen, das Ver-
dienst der bakteriologischen Periode der Medicin, über Wesen und Ursache
derselben Aufschluss gebracht zu haben. Heute steht es völlig fest, dass auch
der Trismus neonatorum eine Infectionskrankheit ist, dass sämmtliche andere
Momente, die seine Entstehung veranlasst haben sollen, kaum ins Gewicht
i
TETANUS ET TRlSMürf NEONATORUM. 627
fallen. Und diese Erkenntnis hat wenigstens ein Gutes mit sich gebracht,
die Möglichkeit einer auf rationeller Basis beruhenden Prophylaxe, leider noch
nicht die Möglichkeit einer sicheren und erfolgreichen Therapie, trotzdem,
modernen Grundsätzen folgend, auch in dieser Beziehung mehrfache Versuche
unternommen worden sind. Diese Versuche sind wohl im Stande, Ausblicke
in die Zukunft zu gestatten, heute jedoch gehört der Trismus und Tetanus
der Neugebornen noch immer zu den gefürchtetsten Kinderkrankheiten, führt
zumeist schnell und sicher zum tödtlichen Ende. Wahrscheinlich wird es
noch recht lange nicht anders werden.
Der Umstand, dass besonders manche Autoren früherer Zeit die Krank-
heit für nicht so gefährlich hielten, dass sie über eine erkleckliche Procent-
zahl von Heilungen zu berichten wissen, lässt wohl keine andere Deutung
zu, als die, dass dieselbe oÖ'enbar mit anderen, harmloseren Leiden der ersten
Lebenstage der Kinder (Koliken, eklamptischen Anfällen etc.) verwechselt
worden ist.
Der Trismus beginnt in der Regel in den allerersten Tagen des
Lebens, entweder am selben Tage, an dem der Nabel abfällt, sehr selten noch
früher, zumeist 1-2 Tage nach dem Abfall der Nabelschnur, selten, und diese
Fälle sind die verhältnismässig günstigsten, mehrere Tage nach Abfall des
Nabels. Er tritt also zumeist am 5. — 12. Lebenstage der Kinder auf. Wir
sind heute verpflichtet, ihn für eine Wundinfectionskrankheit zu halten, fast
stets ausgehend von der Nabelwunde und dadurch entstanden, dass durch
unreine und unvorsichtige Behandlung derselben, durch die mit ihr in Be-
rührung kommenden Hände oder Verbandstoffe, die oder der Infectionserreger
auf dieselbe gebracht worden sind. Dieser führt nach offenbar nur sehr kurzer
Incubationszeit und wohl in Folge der von ihm gebildeten, heute auch bereits
zum Theile bekannten und isolirten Toxine das im nachfolgenden zu schil-
dernde Krankheitsbild herbei. Allein es muss durchaus nicht immer die
Nabelwunde die Eingangspforte für die Krankheitserreger bilden. Jede an-
dere Verletzung bei Neugeborenen kann gelegentlich dasselbe Krankheitsbild
im Gefolge haben. So sind z. B. Trismusfälle bekannt nach Circumcision
oder Ohrläppchenstechen. Seit der Einführung strenger Antisepsis in Gebär-
anstalten ist der Trismus daselbst eine Seltenheit und müsste eigentlich aus
solchen Anstalten endgiltig zu bannen sein, genau so wie die Blenorrhoea
oculorum.
Jahreszeit und das Geschlecht der Kinder haben wohl auf die
Krankheit und deren Entstehung keinen Einfluss. Wenn in den meisten
Statistiken mehr Knaben als Mädchen unter den Befallenen aufgeführt werden,
so kann es sich wohl nur um einen Zufall handeln betreffs dieses Punktes.
Symptome. Es werden verschiedene Stadien des Leidens beschrieben,
verschiedene Phasen desselben als Prodrome abgegrenzt. Die Krankheit kann
verschieden lange dauern, bald dieses, bald jenes Symptom kann besonders
auffällig hervortreten, und doch haben derartige Abgrenzungsversuche eines
ununterbrochen ablaufenden Processes ihre Schattenseiten, weshalb wir hier
von einer solchen absehen.
Zu den ersten Erscheinungen der Krankheit gehört die erschwerte
Saugmöglichkeit. Das Kind fasst gierig nach der Brustwarze, um sie
jedoch bald schreiend, sein Gesicht verzerrend, loszulassen. Dies offenbar in
Folge von hiebei empfundenen Schmerzen. Dabei kommt es vor, dass die
Milch bei der Nase herausfliesst, das Kind niesst, hustet, weil es sich ver-
schluckt hat. Gleichzeitig merkt man, wohl eigentlich nur beim Weinen, eine
von der gewöhnlichen abweichende Beschaffenheit des Gesichtsausdruckes des
Kindes. Dieser ist bei dieser Krankheit so bezeichnend, dass man nach einem
typischen Falle mit Leichtigkeit jeden zweiten erkennen kann. Die besonders
heftige tonische Contractur der Gesichtsmuskulatur, die namentlich an den
40*
628 TETANUS ET TRISMüS NEONATORUM.
leicht tastbaren Masseterenwülsten sich kenntlich macht, ist die Ursache der
veränderten Mimik des Säuglinges. Darum ist die Stirne so deutlich gerun-
zelt, die Augenbrauen nach aufwärts gezogen, die Lider fest zusammen-
gekniffen, so dass die Augen nicht geöffnet werden können. Das Charak-
teristischeste jedoch ist die Form des Mundes und der Lippen. Sie sind bfim
Versuche zu schreien rüsselförmig vorgespitzt, fischmaulartig vorgestreckt, von
strahlenförmig angeordneten Hautfalten umgeben; der Mund kann anfangs nur
sehr wenig, später fast gar nicht mehr geöffnet werden. Dabei klingt das
Schreien der Kinder nicht hell und laut wie gewöhnlich, sondern gepresst, wie
wenn man es ersticken wollte. Im Schlafe und während es ruhig ist, kann
ein solches Kind seinen gewöhnlichen Gesichtsausdruck aufweisen.
Versucht man den Mund des Kindes zu öffnen, dann stösst man auf
einen heftigen Widerstand. Der Unterkiefer ist fest gegen den Oberkiefer
gepresst. Man kommt kaum mit dem kleinen Finger und dies nur mit Ge-
walt in die Mundhöhle. Inspection oder Reinigen derselben ist nicht möglich.
Anfangs kann man bei solchen Gelegenheiten noch kurzdauernde Saugversuche
bemerken, die in den späteren Stadien der Krankheit völlig fehlen. In der
ersten Zeit der Krankheit kann es zeitweilige Remissionen geben, während
welcher das Kind auch spontan den Mund weit öffnet.
Auch die übrige Körpermuskulatur befindet sich in gleicher Verfassung
wie die des Gesichtes. Man merkt dies an dem sich einstellenden Opistho-
tonus, der brettharten Spannung der Bauchmuskel, der Beugung und Adduc-
tion der oberen Extremitäten, der Flexion und rigiden Beschaffenheit der
unteren Extremitäten. Dabei kann um diese Zeit jedes heftigere Geräusch,
jede Berührung des Kindes klonisch- tonische, oft blitzartig schnell ablaufende,
oft längere Weile dauernde Zuckungen der Gesammtmuskulatur des Körpers
auslösen. Dieser Zustand steigert sich im Verlaufe des Leidens. Dann kann
die Respiration während der Anfälle sistiren, oft beängstigend lange bis zum
Auftreten der heftigsten Cyanose. Ein solch heftiger Anfall ist oft die un-
mittelbare Ursache des Todes. Aehnlich, nur verschieden in der Intensität
der Symptome, verlaufen alle Fälle der Krankheit.
Die Patellar reflexe sind stets sehr lebhaft, die Respiration im
Verlaufe der Krankheit und besonders gegen Ende beschleunigt, (70) des-
gleichen der Puls (160 — 200). Nahrungsaufnahme anfangs schon sehr er-
schwert, wird gegen Lebensende ganz unmöglich.
Ein sehr wechselndes Verhalten zeigt die Temperatur. Afebril ver-
laufen in der Regel die wenigen Fälle, die mit Genesung enden. Viele
fiebern erst gegen Ende des Processes, dann meist plötzlich und sehr hoch.
Schliesslich gehen einige vom Beginne der Beobachtung an mit hohem
Fieber einher, mit Temperaturen bis 43*^0. Sie verlaufen und enden regel-
mässig sehr rasch. Der Tod kann sich schon nach 1 — 2 Tagen einstellen,
5 — 6 Tage beträgt die gewöhnliche Krankheitsdauer, so dass die Kinder meist
in der zweiten Lebenswoche sterben. Doch sind auch Todesfälle nach 25 bis
50 tägiger Krankheitsdauer bekannt. Bei den seltenen Genesungsfällen
schwinden die Symptome oft erst nach wochenlangem Verweilen.
Man hat im Harne mitunter Eiweiss gefunden, bei einigen Fällen auf
die Diarrhoen eigens aufmerksam gemacht. Das junge Alter der Kinder er-
klärt wohl an und für sich den als Complication aufgefassten Icterus neona-
torum.
Man unterlasse es nicht, den Nabel der Kinder mit Trismus neonatorum
zu untersuchen. Die Resultate können sehr wechseln. Es können an dem-
selben eitrig belegte Geschwüre verschiedener Grösse gefunden werden mit
Röthung und Infiltration des Nabelringes und dessen Umgebung, aber auch
blos an irgend einer Stelle verborgene, unscheinbare, nur wenig secerni-
rende Substanz Verluste, die man bei flüchtiger Betrachtung selbst übersehen kann.
TETANUS ET TRISMÜS NEONATORUM. 629
Einen völlig normalen Nabel haben wir noch nie gefunden, wohl jedoch
ähnliche Verhältnisse wie beim Trismus bei Sepsis der Neugeborenen oder
auch gelegentlich ohne irgend welche Erscheinungen allgemeiner Erkrankung.
Pathognomonisch ist dies Verhalten also nicht. Die Untersuchung der tiefer
gelegenen Gewebspartien und der Nabelgefässe ist während des Lebens un-
möglich.
Die pathologische Anatomie ergibt kaum etwas blos für diese
Krankheit bezeichnendes. Einen häufigen Fund bilden serös-blutige Extra-
vasate in den Rückenmarkshäuten und gleiche Extravasate in der Schädelhöhle,
kleine Hämorrhagien in den Scheiden der Centralorgane und in diesen selbst.
Sie sind wohl hier wie in den serösen Häuten bei solchen Kindern Folgen
der heftigen Krämpfe und gehören erst secundär zu der Krankheit. Gleichen
Rang nehmen wohl auch die Infarcte der Nieren, Hyperämie der inneren Or-
gane, Atelektasen der Lungen und die einigemale gefundene beginnende Pachy-
meningitis ein. Sehr oft lässt sich Arteriitis und Phlebitis urabicalis con-
statiren. Mitunter ist der pathologische Anatom nicht im Stande, etwas Be-
stimmtes festzustellen.
In der Aetiologie der Krankheit spielten früher Angaben über Trau-
men beim Geburtsacte eine grosse Ptolle (Sicus, Schulmann, Wilhite u. A).
Nebst frühzeitigen Angaben über Angaben nach Circumcision und Ohrläpp-
chenstechen wurde jedoch auch schon lange an einen Zusammenhang mit dem
Nabel gedacht. Und zwar glaubte man an eine reflectorische Entstehung der
Krankheit durch Alteration der durch die Narbenbildung am Nabel compri-
mirten Nerven. Man übersah die vor einer Vernarbung des Nabels entstan-
denen Fälle. Auch jäher Temperaturwechsel und Zugluft galten als Erklärung.
Keheer berichtet von einer Hebamme, die durch zu heisse Bäder in 2 Jahren
bei 380 Entbindungen 99 Kinder an Trismus verloren hatte. Des weiteren
wurden gastrische Reize schlechte Milch, heftige Gemüthsbewegungen der
Mutter, Racendisposition (Negerkinder) als Ursache betrachtet. Schliesslich
die Eigenthümlichkeit des Nervensystemes der Neugeborenen, bei denen eine
verhältnismässig unbedeutende Zahl von Reizen genügt, um Tetanus zu er-
zeugen (Soltjiann) u. s. w. Epidemien in Entbindungsanstalten führten zur
Aufstellung der miasmatischen und Infectionstheorien.
Die Tetanusbacillen wurden 1884 von Nicolaier gefunden, der auch Impftetanus bei
Thieren experimentell erzeugte. Rosenbach stellte 1886 die Gleichheit des Impftetanus
Nicolaier's mit dem Wundtetanus des Menschen fest, 1889 züchtete Kitasato die Ba-
cillen rein; Brieger stellte aus ihnen 4 verschiedene Toxine dar, von denen das Tetanin,
das wirksame, auch bei Menschen constatirt wurde. Beumer und Peiper zeigten die Gleich-
heit des Impftetamis Nicolaier's mit dem Trismus neonatorum.
Baginski und Kitasato züchteten die Bacillen von der Nabelwunde. Seither wurden
diese Angaben bestätigt. Die Tetanusbacillen verbreiten sich nicht im Körper. Sie bleiben am
Orte der Infection und wirken durch die Toxine. Sie sind nicht die einzigen Mikroorga-
nismen, die sich auf der Nabelwunde vorfinden. Die Frage, in wie weit die anderen auch
an dem Krankheitsbilde theilnehmen, es umgestalten oder compliciren, ist heute noch nicht
gelöst und fordert zur bacteriologischen Untersuchung jedes auf Kliniken zur Beobachtung
kommenden Falles von Trismus und Tetanus auf, wenn auch die Schwierigkeiten derartiger
Untersuchungen keine geringen sind.
Die "Prognose der Krankheit ist schlecht. Die seltenen Heilungen
sind wie bei Wundtetanus in erster Linie abhängig von der Dauer der Incu-
bation, der Langsamkeit der Entwickelung der Symptome, der Hochgradigkeit
derselben. Je langsamer die Krankheit sich entw^ickelt, desto besser für den
Patienten. Da alle diese Factoren von unerforschten Umständen abhängen,
entziehen sie sich der Möglichkeit unseres Eingreifens.
Die Kenntnis der Krankheitssymptome und deren rasche Entwicklung
in den meisten Fällen ermöglicht stets eine frühe Diagnose. Wir wollen
hier nur noch das Strychnintetanus, also einer eventuellen Vergiftung ge-
dacht haben.
630 TETANUS ET TßISMÜS NEONATORUM.
Therapie. In erster Linie ist Bedacht zu nehmen auf die prophylak-
tischen Maassregeln, das Einhalten der strengsten Antisepsis bezüglich aller
Gegenstände, die mit dem Neugeborenen, besonders mit dessen Nabel in Be-
rührung kommen können. Aerzte und Hebammen haben hier dieselbe Auf-
gabe zu erfüllen. Dass man auf eine entsprechende Badetemperatur achtet
(28*^ K.) und sich hiebei nur vom Thermometer controlliren lässt, ist selbst-
verständlich.
Alle Autoren berichten über einzelne Heilungen, jeder mit einem an-
deren Medikamente. So sind denn verschiedene Mittel in den Ruf eines
Specificums bei dieser Krankheit gelangt, um diesen Ruf zumeist ebenso schnell
zu verlieren wie er erworben worden. Narcotica und Hypnotica theilten sich
gleicher Weise in dieses Schicksal. Nicht besser erging es den antiseptischen
Mitteln. Empfohlen wurden; die Faha Calabar, namentlich in Form von In-
jectionen des Extractes {6 mg. pro Inject, mehrmals pro die), das Chloral-
hydrat entweder intern oder als Klysma (O'O — 10 pro die), Chloroforminhala-
tionen, die für die Dauer der Narcose mit Sicherheit die Krämpfe zum
Schwinden bringen, mehr aber auch nicht leisten können, das Amylnitrit zu
Inhalationen; Eine Zeit lang erfreute sich der Moschus grösserer Beliebtheit
{Tinct. ambrae. c. Moscho, 3-stündlich 3 — 5 gtts.). Weiter sind hier noch an-
zuführen Curare, Kai. hromatum (1 — og pro die), Kai. jodat., Sulfonal, Ure-
than, subcutane Injectionen von Phenol, die Elektricität, ja auch die Tracheoto-
mie wurde empfohlen und ausgeführt.
Als die Erkenntnis der bacteriellen Natur der Krankheit sich Bahn ge-
brochen hatte, änderte sich, ihr entsprechend, die Therapie. Der Nabel
wurde entweder excidirt oder sammt seiner Umgebung mit dem Thermocauter
so weit und tief wie möglich zerstört. Die Idee beruht auf einleuchtenden
Ueberlegungen und hat an sich viel rationelles. Leider hält hier wieder ein-
mal die Theorie mit der praktischen Erfahrung nicht gleichen Schritt, und
die Erfolge sind nicht bessere, als die der übrigen Behandlungsmethoden. Sie
können es auch nicht sein, hat man es einmal mit dem ausgesprochenen
Krankheitsbilde zu thun. Auf diese W^eise sind die schon resorbirten Toxine
nicht zu beeinflussen. Trotzdem kann man die Behandlung empfehlen, weil
man auf diese Weise eventuelle Toxinnachschiibe hindern kann. Sie ist leicht
durchzuführen und ungefährlich. Sahli hat, von ähnlichen Erwägungen ge-
leitet, versucht, durch Anregung der Diurese rascher die Krankheitsstoffe aus
dem Organismus zu schaffen. Zu diesem Behufe werden grössere Mengen
physiologischer Kochsalzlösung subcutan infundirt. Auch diese Ideeist
bereits ausgeführt worden und weiter verfolgenswerth.
Die Antitoxinbehandlung des Trismus und Tetanus, auf ähnlichen
Principien fussend, wie die heutige der Diphtherie, verdankt ihre Ausbildung
TizzoNi und Behring. Auch sie wurde mehrfach angewendet (Kitasato,
Baginski, Escherich). Ueber das Stadium des Experimentes am Kranken-
bette sind diese Heilungsversuche noch nicht gediehen. Den vorurtheilslosen
und in wissenschaftlichen Dingen berechtigten Skepticismus, weil er schliess-
lich zur Wahrheit führen muss, sind sie nicht im Stande zu bannen. Man
muss sich immer und immerwieder vor Augen halten, dass es Fälle von
Trismus und Tetanus neonatorum gibt, die milde beginnend ebenso verlaufen
und die ohne oder mit selbstverständlicher symptomatischer und hygienischer
Behandlung genesen. So haben wir es und andere erlebt und beobachtet.
Wir sind also heute bei dieser Krankheit, wie bei manch anderer, in
erster Linie auf symptomatische Behandlung angewiesen. Sie soll nicht ausser
Acht gelassen werden. Wir dürfen nicht einfach die Flinte ins Korn werfen.
Hier leisten die oben genannten Beruhigungsmittel gute Dienste. Sie mildern
die Anfälle, verschaffen dem Kinde Ruhe, helfen ihm vielleicht damit über
eine kritische Zeit heil hinweg. Daneben sorge man jedoch auch für eine
THIERORGANTIIERAPIE. 631
Isolirung des Kindes, wenn schon nicht aus anderen Gründen, so doch des-
halb, weil ein solcher Patient unbedingte lluhe benöthigt. Wird doch in ge-
wissen Krankheitsstadien jeder Sinnesreiz mit heftigen Zuckungen und An-
fällen beanwortet. In die gefüllten Kinderkrankensäle mit ihrem unvermeid-
lichen Lärm gehören derartige Patienten nicht hinein. Geht es, wie zumeist,
mit der Ernährung auf gewöhnliche Weise nicht, dann muss man zur Sonde
greifen oder zu Klysmen, oder man versuche nach Einführen eines weichen
Katheters durch den unteren Nasengang die Milch in den Magen gelangen
zu lassen, ein besonders in diesem Alter leicht durchführbares Verfahren.
Die Versuche, die unter die Scheitelbeine geschobene Hinterhauptsschuppe
(wohl nur ein Austrocknungsphänomen) zu eleviren, in ihre natürliche Lage
zu bringen, die Application von Blutegeln lasse man lieber bleiben. Ein
Heilmittel für die Krankheit zu finden, bleibt der Zukunft vorbehalten, die
Prophylaxe müsste heute schon im Stande sein, sie zu einer historischen
zumachen. ^^^^_
Thierorgantherapiß. (Organtherapie, Organeitracttherajpie, Gewehs-
safttherapie, Substitutionstherapie) .
In der Materia medica der alten Völker spielten die Thiere eine bedeu-
tende Rolle. Laut schriftlicher Ueberlieferung kannten und besassen von den
herrschenden Nationen des Alterthums nicht nur die Römer und Gallier,
sondern auch die Germanen allerlei Heilmittel aus dem Thierreiche. Eine
noch viel grössere Rolle spielten die Thierheilmittel im Mittelalter, zur Zeit
als der weltberühmte Doctor Brimborius von der hohen Schule zu Salern auf
den Jahrmärkten sein Laboratorium aufschlug, der alte Hexenmeister Para-
CELSus den Koth einer schwarzen Amsel gegen die schwarzen Blattern ver-
ordnete und der berühmte Dr. Michaelis zu Leipzig gegen die Wassersucht
Frösche verspeisen liess. Ellenlang sind die Recepte, in denen der Magen des
Storches, das Gehirn des Sperlings, das Geweih des Hirsches, die Zähne des
Flusspferdes, die Hoden des Hasen etc. eine wichtige Ingredienz bilden.
Die Zähne mancher Thiere wurde als Anralete, aber auch innerlich in Pulverform
gegeben. So trank man gepulvertes Narwalszahn in Wein als herzstärkendes Mittel und
als Mittel gegen die Hundswuth. Grosse Heilkraft schrieb man dem Elfenbeinpulver zu,
das in Wein gelöst gegen die Gelbsucht, mit Bocksblut gemischt gegen das Steinleiden
getrunken wurde, aber auch zum Stillen des Nasenbluten geschnupft, mit Rosenöl gemengt
gegen den Wurm verwendet wurde. Von Thierzungen galten Schlangenzungen als
VVundheilmittel, während Fuchszungen, in heissen Wein gelöst, zum Ausziehen von Split-
tern aufgelegt wurden. Der Magen des Wolfes, der Gans, des Strausses, des Huhnes
wurden gegen verschiedene Verdauungsbeschwerden eingegeben, der Magensaft von Raub-
thieren sollte die Geschwüre zum Heilen bringen. Häufig wurde die Leber und Galle
verordnet, gepulverte Igelleber galt als Tonicum und Excitans, die Leber einer alten schwar-
zen Henne war ein Heilmittel für verschiedene Leberleiden, während Husten durch gepul-
verte Wolfsleber vertrieben werden sollte. Gesucht war die Bärengalle gegen Epilepsie,
Krebs und — grauen Staar. Mäusegalle mit Oel träufelte man in das Ohr, wenn sich ein
Insect dahin verkrochen hatte. Die Rehgalle wurde als Schönheitsmittel gebraucht. Die
Rindsgalle wurde in Getränken bei übermässiger Magensäurebildung getrunken, die Schwind-
sucht, das Asthma, der Keuchhusten wurden mit Pulver von geräucherten Lungen des
Wolfes und Fuchses behandelt. Das Herz des Affen ass man zur Stärkung des Gedächt-
nisses, während das Herz des Esels gegen die Fallsucht gerühmt wurde.
Eine bedeutsame Ptolle spielt das Blut in der alten Materia medica. Dass ein Bad
im Blute einer Jungfrau den Aussatz heilen könne, wird schon im Poem vom „armen
Heinrich" des Hartmann von der Aue erzählt. Einreibungen mit Maulwurfsblut sollte den
Haarboden stärken, während das Blut der Fledermäuse als Enthaarungsmittel galt. Htis-
blut innerlich genommen wirkte schweisstreibend, während Wieselblut, äusserlich an-
gewendet Halsschmerzen vertreiben sollte. Die Dresdener Apothekentaxe vom Jahre 1652
enthält noch „Tüchlein in Hasenblut gemacht." Es waren dies Leinwandtücher, die in das
Blut von Hasen getaucht, dann getrocknet wurden unl als Heilmittel gegen Rothlauf Ver-
wendung fanden. Vielfach wurden die Knochen verschiedener Thiere verwendet. Gepül-
632 THIEROßGANTHERÄPIE.
verte Fusswurzelknochen des Hasen in Wein sollten diuretisch wirken, die Pulver von
Wolfsknochen gegen Seitenstechen helfen und der Schädel des Hirsches gegen Eingeweide-
würmer Wirkuno- haben, in der mannigfachsten Weise wurde das Fleisch von Thieren
arzneilich verwendet. Gegen Gelbsucht ass man gebratene Ratten, gegen Ruhr Rehbraten
und o-eoen Magencatarrh wurde Rindfleisch mit Essig und Brantwein gedünstet zu essen
empfohlen, das Fleisch des Habicht sollte die Augen stärken, was aus dem ausgezeichne-
ten Gesichtssinn dieses Vogels zu erklären war. Der Braten eines Rebhuhnes sollte bei
Frauen als Lactagogum wirken. Welch bedeutsame Rolle die thierischen Fette bis in
die neueste Zeit in der Materia medica spielten, geht daraus hervor, dass die Kopenhage-
ner Apothekentase vom Jahre 1872 noch 41 und die sächsische vom Jahre 1823 cca. 20
verschiedene Fettarten aufzählt; da findet man: Storchfett, Reiherfett, Kapaunenschmalz,
Affenfett, Löwenfett, Wolfsfett, Bärenfett, Dachsfett u. a. Das Mark aus den Röhren-
knochen, das bekanntlich auch in aller neuester Zeit Empfehlung fand, galt auch im
Mittelalter als kräftigendes und den Organismus stärkendes Arzneimittel. Thierische
Gehirne wurden je nach den individuellen Eigenschaften des Betreffenden gegen ver-
schieden krankhafte Affectionen verwendet. So sollte das Gehirn des Eichhörnchen schwin-
delfrei machen, das Gehirn des Bären Tapferkeit einflössen, das Hirn der Katze ein Aphro-
disiacum bilden, während es wohl ganz unerklärlich ist, wieso das gepulverte Hirn des
Haifisches den Geburtsact erleichtern sollte. Die Geschlechtsorgane wurden in erster
Reihe als Aphrodisiaca angewendet, so ass man die Hoden vom Hahn, Hasen und Eber
gegen Impotenz, der Penis des Pferdes galt als Stimulans, während die Heringsmilch selbst
noch am Ende der 20er Jahre unseres Jahrhundertes als Mittel gegen die Schwind-
sucht in den officiellen Pharmakopoen zu finden ist.
Wie man sieht, steckt in der alten Materia medica eine ungeheure Menge
phantastischen und mystischen Aberglaubens und doch wird vielleicht eines
oder das andere der oben erwähnten Thierheilmittel nicht mehr lächerlich
erscheinen, wenn man hiemit die Producte der modernen Organtherapie ver-
gleicht.
Die moderne Organtherapie hat in Beown-Sequabd ihren Schöpfer
zu suchen. Im Jahre 1889 überraschte der französische Physiologie die medi-
cinische Welt mit der Entdeckung, dass die Hoden dem Organismus einen
Stoff liefern, der excitirende Eigenschaften auf das gesammte Nervensystem,
die Muskelkräfte und den gesammten Körperzustand ausübe; demzufolge ge-
linge es durch die Injection von Hodensecret bei alten und geschwächten
Individuen, wie sich Browx-Sequard an sich selbst und bei anderen Personen
überzeugen konnte, eine Erhöhung der allgemeinen Körperkräfte, eine Stei-
gerung der cerebralen Functionen, ja sogar ein Erwachen des bereits trägen
Geschlechtstriebes zu erzielen.
Trotz dieser „glänzenden Aussichten" hat die Medicatio orchitica
bis heute wenigstens keine bemerkenswerthe Erfolge errungen. Namentlich
haben deutsche Kliniker sich direct abfällig über den Werth dieser thera-
peutischen Methode geäussert, so Senator, Ewald und namentlich Für-
bringer, indem letztere einen eventuell eintretenden Effect ausschliess-
lich auf Autosuggestion zurückzuführen suchten. Im Gegensatz dazu hat
Fr. Kraus sich neuester Zeit (1896) für die unzweifelhafte Wirkung der
Testicularflüssigkeit") bei Muskelschwäche von Neurasthenikern (Cerebrasthenie
und Myelasthenie) ausgesprochen, anderseits vertheidigt Poehl auf Grund
einer eigenen Theorie, nach der das Spermin in fast allen Geweben zu finden
sei und daselbst, solange es nicht an Phosphorsäure gebunden werde, die
Oxydationen in den Geweben fördere, sehr energisch die Spermin-Therapie
d. i. die Anwendung des wirksamen Principes der Testicularflüssigkeit. Voll-
kommen geklärt ist somit die Frage der Medicatio orchitica bis zur Gegen-
wart nicht.
Das gleiche kann von fast allen anderen Formen der Thier-
Organtherapie gesagt werden. Es gilt zunächst für die Medicatio
pancreatica, Darreichung von Pancreas in Substanz (als Hachee) in Form
von Pastillen, in subcutaner und rectaler Application. Dieselben wurden mit
zweifelhaftem Erfolge gegen Diabetes angewandt.
*) Das Laboratorium von W. Vogt in Genf fabricirt und versendet dasselbe.
THIERORGANTI-IERAPIE. 633
Aehnlich Verhaltes sich mit der Medicatio prostatica, Darreichung
von Prostatapastillen zur Erzielung einer Verkleinerung der hypertrophirten
Prostatadrüse. E. Rheinert sah nach Fütterung mit Prostatadrüsen eine
wesentliche Grössenabnahme des hypertrophirten Organs. Hingegen sind die
in neuester Zeit (1896) von Englisch mitgetheilten llesultate über die Erfolge
von Einnahme der Prostatapastillen bei Kranken mit Harnbeschwerden in
Folge Hypertrophie der Vorsteherdrüse keineswegs ermunternd; nur in zwei
Fällen konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Drüse etwas kleiner, in
einem, dass sie etwas weicher geworden, bei den anderen Kranken, war der
Erfolg entweder ein vollkommen negativer oder bestand nur in Erleich-
terung der Harnentleerung. Englisch verabreichte 2 Pastillen pro Tag und
stieg wöchentlich um eine weitere Pastille bis auf 8 pro Tag.
Die Medicatio renalis haben Mairet und Böse versucht, indem sie
Glycerinextracte von Rindernieren Epileptikern injicirten. Der Erfolg war,
wie vorauszusehen, ein negativer. Hingegen lautet der Bericht von Schipe-
RO WITSCH über die Erfolge der Nephrotherapie bei Kranken mit Morbus
Brightii äusserst günstig; nach Einnahme frischer Schafs- und Schweinsnieren
sowie der daraus bereiteten pulverförmigen Extracte [Ren. extr. pulv. Merck)
trat eine Steigerung der Diurese und eine Verringerung des Eiweissgehaltes
ein; selbst bei uraemischen Zuständen, ja auch bei Schrumpfniere war diese
Behandlung von Erfolg begleitet.
Die bisher spärlichen Mittheilungen über die Medicatio supra-
renalis beim Morbus Addisoni haben ein zweifelhaftes therapeutisches
Resultat ergeben. Ueber angebliches Zurückgehen der Hautverfärbung und
Besserung des Allgemeinbefindens berichten Sanson und Olliver. Der ein-
zige sichtbare Effect war der einer gesteigerten Diurese. Das von Merck
dargestellte Pulvis gland. suprarenal, sicc. wird aus den Nebennieren frisch
getödteter Rinder und Schafe bereitet. Die von Merck dargestellten Tabletten
enthalten pro Stück 0-2 des getrockneten Organes d. i. die gewöhnlich zu
verabreichende Einzeldosis. Nach Untersuchungen von Olliver, Schaefer
und Moore erzeugt die innerliche Verabreichung von Nebennierensubstanz
eine Verengerung der peripheren Arterien, eine hiedurch erzielte Steigerung
des Blutdruckes und Tonisirung der Herzthätigkeit. Olliver empfiehlt die
Darreichung von Nebennierensubstanz für alle jene Zustände, die mit einem
Sinken des Blutdruckes und Verringerung des vasomotorischen Tonus ver-
bunden sind (Albuminuria cyclica, Diabetes mellitus et insipidus, Morbus
Basedowii, Herzkrankheiten, Molimina climacterii und Neurasthenie.)
Die Verwendung des Nebennierenextractes scheint auch in Hinsicht seiner
gefässcontrahirenden Eigenschaften Anwendung zu finden. So empfiehlt Bates
Instillation von Nebennierenextract in's Auge als ein die Cocainisirung zum
Theil ersetzendes, zum Theil unterstützendes Mittel. Die von Biedl-Fränkel
und von Velich mitgetheilten Thierexperimente, wonach die intravenöse In-
jection von Nebennierenextract eine geradezu exorbitante Steigerung des Blut-
druckes zur Folge hat (eine Steigerung die selbst dann sich zeigt, wenn
man dem Thiere das ganze Rückenmark exstirpirt hat), lassen eine weitere
therapeutische Verwendung des Nebennierenextractes möglich erscheinen.
Babes und CoNSTANTiN Paul haben eine Reihe von Versuchen angestellt,
welche Aussicht auf eine Medicatio cerebralis bieten. In England und
Amerika wird ein aus der grauen Hirnsubstanz bereitetes Extract (Liquor ce-
rehri sterilisatus) in Form von Injectionen bei Neurasthenikern verabreicht.
Die Erfolge lauten, nachdem es sich um Neurastheniker handelt, wie voraus-
zusehen, günstig.
Die Blutkrankheiten wurden durch Fraser's Empfehlung der Einnah-
me von Knochenmark gegen schwere Anämien in das Gebiet der Organtherapie
eingeführt, obwohl eigentlich schon die Medication von Blut (Bluttrinken, Blut-
634 THIERORGANTHERAPIE.
bäder, Blutklystiere) und der aus Blut dargestellten Arzneipräparate (Haemol,
Haemogallol, Sanguinal u. A.) dazugehört. Aus dem rotlien Knochenmarke von
Piindern wird die Medulla ossium rubra sicc. pulv. in Form von Tabletten, die
0-2 der Substanz enthalten, in den Handel gebracht. Nebst Feaser haben
Drummond, Billings und Bares über günstige Erfolge berichtet. Combe sah
nicht nur eine Besserung von Chloroanämien, sondern auch eine Heilung von
Rachitis und Anämia infantum pseudoleuka^emica.
Auch die Behandlung der Leukämie mittels Milzpastillen wurde
ernstlich empfohlen, ohne dass man bisher von verwerthbaren Beobachtungen
sprechen könnte. Die Londoner Firma „Borroughs, Wellcome und Co."
bringt sowohl ,yMeduUa Bone laUoids^^ (rothes Knochenmark), als „Lymphatic.
Cervical Gland Tabloids'-' (Lymphdrüsensustanz), als endlich „Spleen Substance
Tabloids" in den Handel, so dass man nöthigenfalls alle drei bei der leukä-
mischen Erkrankung befallenen Organe mittels „Substitutionstherapie" zu
„ersetzen" vermag.
Die Verordnung von Eierstocksubstanz wurde gegen jenen Complex
von Beschwerden empfohlen, die sich nach operativer Entfernung der Ovarien
(Castration) oder nach vorzeitiger und seniler Atrophie der Eierstöcke (Kli-
macterium) zeigen. Chrobak sah nach Einnahme von 12 — 40 je 0'2 Ova-
rialsubstanz enthaltender Pastillen eine Abnahme der Beschwerden bei castrirten
Frauen. Diesbezüglich günstige Erfahrungen liegen ferner von Mainzer und
MoxD vor. Letzterer sah eine bedeutende Milderung der erwähnten Erschei-
nungen nach 25 — 30 Ovariintableften, nach circa 100 Stück ein vollständiges
Schwinden derselben. Die Tagesdosis betrug in diesen Fällen 6 — 8 Stück.
Das Ovariin wird von E. Merck (Darmstadt) aus den Eierstöcken von Kühen
dargestellt.
Die Verwendung von Thymus in der Thierorgan-Therapie
fand bald nach der ausgebreiteten Verordnung von Thyreoideapräparaten
Empfehlung, da ja die Thymus entwicklungsgeschichtlich und topographisch
der Schilddrüse nahe steht. Nach J. Mikulicz gelingt es sowohl bei Kropf
als auch bei Morbus Basedowii ähnliche Resultate wie bei der Verabreichung
von Thyreoidea zu erzielen, nur mit dem Unterschiede, dass die Thymus-
fütterung keinerlei Nebenerscheinungen zeigt. Man verordnet die ge-
trocknete Thysmus in Form von Tabletten, deren jede 0'3 der getrockneten
Drüse enthält und lässt täglich 12—15 Stück davon nehmen.
Von allen bisher angewandten Methoden der Thierorgantherapie hat
sich nur eine einzige einen sicheren, wohl nicht mehr bestrittenen Platz in
unserer arzneilichen Vorrathskammer erobert, das ist die Behandlung
mit Schilddrüsenpräparaten.
Unsere gegenwärtigen Kenntnisse von der Schilddrüsenthätigkeit, welche
im Artikel „Thyreoideafunction — Thyreoideakrankheiten" vorliegenden Bandes
ausführlich besprochen werden, haben zu der nothwendigen Consequenz ge-
führt, bei allen jenen Krankheiten, denen eine mangelhafte oder abnormale
Function der Schilddrüse als ätiologisches Moment zu Grunde liegt oder gar
durch eine erkennbare pathologische Veränderung derselben ihren sichtbaren
Ausdruck finden, Schilddrüsensubstanz zu therapeutischem Zwecke in den
Organismus einzuführen. Demzufolge wurde zunächst bei folgenden Krank-
heiten die Thyreoideabehandlung versucht: 1. Myxoedem; 2. Cachexia
et Tetania thyreopriva; 3. Tetanie; 4. Morbus Basedowi; 5. Stru-
ma parenchymatosa; 6. Akromegalie.
Für das Myxoedem liegt gegenwärtig ein Arbeitsmaterial von über
200 Einzelfällen vor, wodurch die eclatante Wirkung der Thyreoideapräparate
sowohl gegen die spontane als auch gegen die operative und selbst conge-
nitale Form dieser Krankheit mit Sicherheit erwiesen ist. Der Erfolg tritt
selbst dann ein, wenn auch schon ein jahrelanges Siech thum vorherbestand
THIERORGANTHERAPIE. 635
(L. Bruns), fraglich ist nur bisher die Dauer der erzielten Heilung (Besserung).
So hat Ewald in seinem Referate auf den XXI. Congresse für innere Medicin
ausdrücklich betont: „Wer sich einmal der Schilddrüse verschrieben hat,
bleibt ihr zeitlebens verfallen." Längere Beobachtungen haben nämlich ge-
zeigt, dass, wenn man die Schilddrüsentherapie nach Erzielung eines gewissen
Heilungserfolges aussetzt, die Erscheinungen des Myxoedem sich bald wieder
mehr oder weniger stark ausprägen, aber sofort wieder verschwinden, wenn
man mit der Medication auf's neue beginnt.
Gering sind die Erfahrungen über die Wirkung der Thyreoideabehand-
lung beim endemischen Cretinismus. Ewald schlägt vor die Cretinen
in möglichst jungen Jahren aus dem Bezirk der Endemie herauszubringen
und sie dann mit Schilddrüsenpräparaten zu behandeln, weil eben der
endemische Cretinismus das Resultat zweier Factoren sei, des fortdauernden
miasmatischen Infectes und der secundär hiedurch veranlassten Schilddrüsen-
erkrankung.
Aus der Beobachtung von Tetaniekrämpfen beim operativen Myxoedem
schloss man auf die Möglichkeit einer Wirkung von Thyreoideapräparaten auf
die spontane Tetanie. Dieser gewagte Schluss hat sich auf Grund des vor-
liegenden Beobachtungsmaterials als nicht richtig erwiesen. Doch was für
die Mehrzahl der Fälle gilt, kann für einzelne eine Ausnahme sein. So be-
richten Byeon, Bromwell, Gollsteust, Lewy, Dorx, Beeisach über günstige
Resultate von der Thyreoidinbehandlung der Tetanie. Die letztgenannten
therapeutischen Erfolge führen jedenfalls zu der praktischen Regel in Fällen
von Tetanie, welche lange andauern und jeder anderen Behandlung trotzen,
die Thyreoideaverordnung zu versuchen.
Die Aehnlichkeit, welche die Akromegalie mit dem Myxoedem bietet,
gab die Veranlassung auch hier Schilddrüsenpräparate anzuwenden, obwohl
gegenwärtig die Verordnung eines anderen thierorganischen Präparates, der
Hypophysis cerebri, durch die jüngst mitgetheilten Mittheilungen von Caeton,
Mendel u. A. mehr Erfolg errungen haben.
Da die mit dem Myxoedem zusammenhängenden Psychosen sich durch
die Thyreoideabehandlung beeinflussen Hessen, glaubte man auch bei anderen
Geisteskrankheiten einen Versuch hiemit machen zu müssen (Marcphel, L.
C. Bruce). Ausgedehntere Erfahrnngen liegen über diese Behandlungs-
methode von Psychosen nicht vor.
Ebenso unsicher ist der Erfolg der Schilddrüsentherapie beim Morbus
Basedow i. Silex sah nach Verbrauch von 12'0 Thyreoidin ein Herabgehen
der Pulsfrequenz von 160 auf 90 Schläge, ein Aufhören des Zitterns, und eine
wesentliche Abnahme der Struma. Kraus glaubt in einem wenig ausgebil-
deten Stadium dieser Krankheit eine Heilung durch Fütterung mit Schild-
drüsensubstanz beobachtet zu haben.
Demgegenüber verhalten sich Mendel, Semator, Ewald, Stabel u. A.
vollkommen ablehnend gegen die Thyreoideabehandlung des Basedow. Bircher
verspottet derartige therapeutische Versuche und heisst sie „den Teufel
mit dem Beelzebub austreiben wollen." Der Praktiker wird jedenfalls, wenn
er sich zu einem Versuche mit Thyreoideapräparaten entschliesst, sehr vor-
sichtig zu Werke gehen müssen, da einzelnen Autoren wie F. Kraus,
Ewald, Lemche und Stabel directe Verschlimmerung der BASEDOw-Symp-
tome nach dem Gebrauche von Thyreoideatabletten auftreten sahen.
Das einfachste Object zur Untersuchung über den Werth der Thyreoi-
deabehandlung bildet die Struma, der parenchymatöse Kropf.
Das reichlichste Material hat diesbezüglich Bruns zur Erforschung der
therapeutischen Beeinflussung des Processes benützt. Nach Brüns' Mitthei-
lungen auf dem XIV. Congress für innere Medicin betrifft dasselbe 350
Fälle und einen Zeitraum von 2 Jahren. Die Behandlung bestand zuerst
636 THIEEORGANTHERAPIE.
in der Verfütterung von rohen Drüsen von Kälbern und Hammeln, später in
der Eingabe von englischen Tabletten und zuletzt in der Verwendung des
BAUMANN'schen Thyreojodin. Die grosse Mehrzahl der Strumen zeigt
sich nach Beüns' Erfahrungen den Schilddrüsenbehandlungen zugänglich, indem
sowohl die Geschwulst als auch die secundären Beschwerden zurückgehen. Nur
ein Viertheil der Kröpfe bleibt ganz unbeeinflusst. Der Erfolg tritt umso ra-
scher ein, je jünger das Individuum ist. Unter 300 Fällen trat Verkleinerung
in 60% nach 2 Wochen, in 40% nach 3 — 4 Wochen ein. Leider zeigt sich
aber auch hier dasselbe, was schon bei der Thyreoideabehandlung des Myxoe-
dems erwähnt worden: Es treten in mehr oder weniger grossen Zeiträumen
nach dem Aussetzen der Behandlung ßecidiven ein. So sah Bruns dieselben
in mehr als % seiner Fälle schon nach 1 — 2 Monaten. Um dieselben zu ver-
hüten ist es nothwendig in bestimmten Zwischenräumen kleine Gaben darzu-
reichen.
Ebenso günstig wie die Resultate von Bruns sind jene von Stabel und
von Angerer, Stabel berichtet über 83 Fälle, Angerer über 78, Immerhin
sehr beachtenswerthe Beobachtungsreihen, deren günstige Resultate zur all-
gemeineren Verwendung der Schilddrüsentherapie beim parenchymatösen
Kröpfe auffordern.
Noch viel grössere praktische Anwendung hat schon gegenwärtig
eine weitere Indication der Thyreoideabehandlung errungen: Die Schilddrüsen-
behandlung der Adipositas universalis. Die zuerst von Leichtenstern
mitgetheilten Erfolge über die entfettende Wirkung der Schilddrüse hat
gegenwärtig schon mehrfache Bestätigung gefunden. Nach F. Kraus
werden nur gewisse Formen der Corpulenz wesentlich beeinflusst. Die Fett-
leibigen jugendlichen Alters „mit frischrothen Lippen, guten Appetit und aus-
reichenden Muskelkräften" nehmen nur wenig ab, während die anämischen
Fettleibigen mit einer ziemlich raschen Abnahme des Körpergewichtes auf
diese Medication reagiren.
Die Anwendung von Schilddrüsenpräparaten bei Hautkrankheiten
haben bisher noch keineswegs beachtenswerthe Erfolge gegeben. Günstige
Resultate werden namentlich bezüglich der Psoriasis behauptet (Paschkis
und Grosz.)
MoRRiN hat vorgeschlagen tuberculöse Individuen mit Schilddrüse zu
behandeln, weil bei Phtisikern durchaus die Schilddrüse atrophisch sei. Dem
gegenüber warnen Marefall und Gruse vor der Thyreoidinbehandlung der
tuberculösen Lungenaffectionen und F. Kraus konnte bei Eingabe von Merck'-
schen Thyreoidintabletten zwar keine Abmagerung, aber auch nicht die ge-
ringste Beeinflussung des localen Lungenprocesses wahrnehmen.
Heubner berichtete über erfolgreiche Anwendung von Schilddrüsen-
präparaten bei Rachitis und zwar insbesondere solcher Formen, welche mit
schwerer Anämie einhergehen. In Fällen von sclerosirender Otitis media sah
VuLPius durch Schild drüsenmeditation Besserung der Hörschärfe eintreten.
Die pharmakodynamischen Eigenschaften der Thyreoidea-
präparate sind durch eine Reihe von Untersuchungen sichergestellt. Die-
selben betreflen einerseits objectiv nachweisbare Stoffwechselveränderungen,
anderseits gewisse subjective Symptome, die als ..Thyreoidismus'-'- bezeichnet
werden. Die Schilddrüsenpräparate haben eine mächtige Oxydationssteigernde
Kraft. Durch intensive und dauernde Einnahme von Schilddrüse wird bei
gesunden Menschen und Thieren eine Steigerung der Stickstoffausscheidung
über die Einfuhr, eine Erhöhung des Sauerstoffsverbrauchs und der Kohlen-
säureproduction, eine Erhöhung der Chlornatriumexcretion und eine beträcht-
liche Erhöhung der Phosphorsäureausfuhr bewirkt.
Nach Treitel gelingt es durch die Thyreoidinnahme entstehende Zer-
setzung von stickstoffhaltigem Körpermaterial durch eine entsprechende ge-
wählte Kost zu beschränken. Durch die Arbeiten von Scholz, Gross und
THIERORGANTHERAPIE. 637
Burger ist es erwiesen, dass die Schilddrüse eine wichtige Rolle bei der
Zurückhaltung und zweckmässigen Verwendung der Phosphorsäure im Orga-
nismus spielt. Die normale Schilddrüsensecretion beeinüusst die normale
Assimilation der Phosphorsäure und die nothwendige Verwerthung derselben
für das Nerven- und Knochengewebe. Ist die Drüsenfunction beeinträchtigt,
so leidet darunter die Verwerthung der Phosphorsäure für die vegetativen
Processe in letztgenannten Geweben. Ist dieselbe jedoch gesteigert, dann
findet eine abnormale Ausscheidung von Phosphorsäure statt, ein P2 05-L)ia-
betes.
Als Nebenerscheinung der Schilddrüsentherapie wurde ferner Gly-
kosurie beobachtet (v. Noorden, Ewald, Denick u. A.). Nach v. Xoorden
beeinüusst die Schilddrüse hemmend die Zuckerverarbeitung im Organismus,
indem sie die Fettbildung aus Kohlehydraten aufhält. Die Darreichung von
Schilddrüsenpräparaten wäre somit ein Mittel, um zu untersuchen, inwiefern
sich der Organismus in seiner Zuckerverarbeitung stören lässt, ein diagno-
stischer Behelf zur Frühdiagnose der leichten Formen des Diabetes. Beim
Basedow^ sei der Organismus mit Thyreoideaproducten überladen und daher
trete unter dem EinÜusse dieses Factors leicht alimentäre Glycosurie ein.
Die Symptome, die bald nach längerer S'childdrüsen darreich ung
bei einzelnen Individuen sichtbar wurden, äussern sich in Pulsbeschleunigung,
Schwäche, Ohnmacht, ja sogar Collapszuständen. Als weitere unangenehme
Symptome wurden epileptische und stenocardische Anfälle, Krämpfe in den
Extremitäten und die bekannten toxischen Exantheme (Urticaria, Erytheme)
beobachtet. Nicht jeder Organismus reagirt in gleicher Weise auf die Ein-
führung von Schilddrüsenpräparaten und darum ist eine vorsichtig indivi-
dualisirende Anwendung derselben geboten. Nach den Erfahrungen Ewald"s
scheint das BAUMANN'sche Thyreojodin „nicht so scharfe Wirkung zu haben,
wie die älteren Präparate."
Nach Ewald lassen sich unsere bisherige physiologisch-pathologischen Erfahrnngen
über die Schilddrüsenwirkuug folgendermaassen zusammenfassen. „In der Schilddrüse wird
ein specifisches Secret erzeugt, das aus einer organischen Jodverbindung besteht, worin das
Jod in fester Bindung aufgespeichert wird. Der Jodgehalt der Verbindung kann bis zu
107o betragen. Dieses Secret wird fortwährend in kleinsten Mengen in den Kreislauf
geworfen und dient zur Zerstörung gewisser Giftstoffe unbekannter Natur, deren Existenz
wir aus den toxischen Erscheinungen schliessen, und die nach Verlust der Schilddrüse,
respective ihrer Function (Athyreosis oder Ekthyreosis) auftreten. Hiebei kann es sich, wie
aus den Folgeerscheinungen hervorgeht, nicht um blosse Ausfallserscheihungen handeln,
vielmehr wirkt die Drüsenabsonderuug wie ein Antitoxin gegenüber gewissen Toxinen, die
als NebenprodiTcte des Stoffwechsels auftreten, fehlt das Secret, so häufen sich diese Toxine
an und setzen den Stoffwechsel herab."
Die ursprünglichste Form der Thyreoideabehandlung war die
Implantation gesunder Schilddrüsen in die Bauchhöhle von
mit Cachexia thyreopriva behafteten Kranken. So empfahl Wölfler auf Grund
der experimentellen Untersuchungen Horsley's, v. Eiselsberg's u. A.
unmittelbar nach der wegen Struma maligna vollzogenen Totalexstirpation der
Schilddrüse die Implantation einer Lamms-, Hund- oder Katzenschilddrüse
unter die Hals- oder Bauchdeckenfascie vorzunehmen.
Statt dieses operativen Verfahrens schlug Mürrat, Bouchard u. X. die
subcutane Inj ection eines Glycerin-Carbolextractes aus thie-
rischen Schilddrüsen bei Myxoedem und Cretinismus vor. Dazu kam schliess-
lich eine dritte Methode: die Fütterung mit roher Schilddrüsen-
substanz (H. Mackenzie). Kaum war nun die Schilddrüsentherapie einiger-
maassen auf fester Grundlage, als sich auch die pharmaceutische Industrie des
neuen therapeutischen Agens bemächtigte. Apotheker und chemische Fabriken
aller Staaten wetteiferten in der Darstellung „wirksamer, unschädlicher Schild-
drüsenpräparate." Am bekanntesten wurden vor allen das Thyreoidinum
siccatum, aus Schafsschilddrüsen verfertigt von E. Meeck in Darmstadt, wovon
638 THOMSEN'SCHE KRANKHEIT.
0-6 (/r dem wirksamen Bestandtheil einer Drüse entsprechen. (Man verordnet :
Tliyreoidin. sicc. Merck 2-0, Sacch. lad. lb-0, M. f. trochisci Nr. XX. S. 1 — 6.
Pastillen pro die.) Ein anderes Schilddrüsenpräparat, das ebenfalls „Thy-
reoidin" genannt wurde hat Veemer (Kopenhagen) durch Fällen des Gly-
cerinextractes von Schilddrüsen gewonnen. Noch mehr Verbreitung erlangten
die englischen Thyreoideapastillen (Tabloids of. compressed dry thijroid.
(/land, 1 Tablette = 1 Schafschilddrüse) fabricirt von der Firma „Borroughs,
Wellcome and Co." und verabreicht in Tagesdosen von 1—6 Tabletten.
Das modernste Schilddrüsenpräparat ist das Thyreojodin, eine Substanz,
welche von Baumann aus der Schilddrüse isolirt und als die wirksame Sub-
stanz derselben erkannt worden. Das Thyreojodin wird von den Elberfelder
Farbenfabriken als vollkommen von Eiweisskörpern freie Substanz, als leicht
assimilirbares und vollkommen bacterienfreies Präparat in den Handel gebracht;
neuester Zeit führt es auch den Namen Jodothyrin.
Es stellt eine organische Jodverbindung dar und findet deshalb auch bei
jenen Krankheiten Empfehlung, bei denen Jod indicirt ist (Hautkrankheiten
und Syphilis), obwohl hierüber noch ausgedehnte Erfahrungen fehlen. Nach
Ewald wirkt das Thyreojodin viel weniger toxisch als andere Schilddrüsen-
präparate, nach Bruns steht dasselbe in seiner Wirksamkeit bei Strumen den
euglischen Tabletten nicht nach, wirkt aber auch keineswegs schneller wie diese.
Das Gebiet der Thierorgantherapie befindet sich gegenwärtig noch immer
im Stadium der Experimente. Die Zeit des blinden, therapeutischen Enthusias-
mus für die neuen und neuesten Fabrikate der pharm aceutischen Industrie
muss erst ablaufen, bevor auch eine ruhige, nüchterne Beurtheilung des Wer-
thes der Thierorgantherapie ermöglicht wird.
JÜL. WEISS,
Thomsen'SChe Krankheit. (Myotonia congenita). Unter THOMSEN'scher
Krankheit versteht man eine eigenthümliche, meist angeborene und fa-
mliär-hereditär auftretende Affection, welche durch vorübergehende tonische
Krämpfe charakterisirt ist, die sich in den willkürlichen Muskeln bei Beginn
einer Bewegung einstellen.
Die Kenntnis dieser, sowohl in wissenschaftlicher Beziehung als in prak-
tischer Hinsicht sehr merkwürdigen Krankheit verdanken wir dem Arzte
Thomsen, der im Jahre 1876 zuerst das interessante und ziemlich seltene
Leiden als besondere Krankheitsform beschrieben hat. Es finden sich
jedoch schon bei Charles Bell (1832) und bei Leyden in der „Klinik
der Ptückenmarkskrankheiten" (1874) typische, mit den meisten charak-
teristischen Merkmalen ausgestattete Fälle angeführt. Eine fest begründete,
wohl abgegrenzte individuelle Existenzberechtigung hat die TnoMSEN'sche
Krankheit erst durch die deutschen Arbeiten von SEELiGMtJLLER, SxRtJM-
PELL, Bernhardt, Eulenburg, Westphal und besonders Erb erreicht.
Von SxRtJMPELL stammt die ziemlich populäre Bezeichnung der Krankheit:
Myotonia congenita. ^)
Aetiologie. Die sich in abnorm und eigen thümlich gesteigerter
Muskelerregbarkeit kundgebende Krankheit beruht stets auf angeborener
Anlage, meist auf gleichartiger Vererbur.g. Es kann einmal die Krank-
heit selbst auf dem Wege der Zeugung auf die Descendenz übertragen
') Synonima: THOMSEN'sche Krankheit (Westphal\ Myotonia congenita (Strümpell),
Paralysis spinalis spastica hypertrophica (SeeligmüllerI, Myotonia congenita intermittens
(WeichmaknJ, Myotonia ineunte moto (Süsskand), Myotonia transiens (Gowers), Dysmyotonie
congenitale (Longuet), Spasme musculaire au debut des mouvements volontaires (Ballet-
Marie.)
THOMSEN'SCHE KRANKHEIT. 639
werden, ein anderes Mal blos die Disposition dazu. Die congenital-erbliche
Tendenz spricht sicli in dem Auftreten der Erkranliung bei mehreren Gliedern
derselben Familie und in mehreren Generationen sehr deutlich aus. In der
Familie Thomskx's litten an der Myotonie innerhalb 5 Generationen mehr als
20 Personen. Die Familiarität äussert sich in dem Vorkommen des Leidens
in der collatcralen Verwandtschaft, wie dies beispielsweise in dem Falle
Beunhakdt's illustrirt wird, wo eine Tante des Patienten, zwei Kinder und
ein Enkel seines Vetters von der Krankheit afficirt waren, und in der Beob-
achtung PoNTcrpiDAN's, wo zwei Vettern des Patienten Myotonie darboten.
Blutverwandtschaft der Eltern scheint im Allgemeinen nicht ganz
ohne Bedeutung zu sein (Bernhardt).
Die wenigen Fälle, wo der Eintluss der Heredität nicht nachzuweisen
ist, vertheilen sich hauptsächlich auf die in der frühesten Jugend ent-
stehenden Formen — ebenfalls ein Beweis für die immanente embryonale An-
lage. Ueber vereinzelte Fälle von im jugendlichen Alter (12 — 16 Jahren) oder
erst im Anfang des Mannesalters acquirirter Myotonie finden sich in der
Literatur manche Angaben (SEELiGMtJLLER, Fischer, Banham, Engel, Meyer,
Schönfeld, StJssKAND). Gelegentlich treten ziemlich plötzlich die myotoni-
schen Erscheinungen bei älteren, hereditär nicht belasteten Individuen auf:
Myotonia acquisita (Talma, Fürstner. Jolly). G em üth s er schüft er ung,
somatische Leiden werden hie und da als den Ausbruch des Leidens
begünstigende Momente angeführt: die Atfection wird durch die Steigerung
der Erscheinungen aus ihrer Latenz geradezu herausgerissen.
Das männliche Geschlecht wird etwa um das Dreifache häufiger von
der Krankheit befallen als das weibliche.
Symptomatologie. Als wesentlichste klinische Erscheinung der Myotonie
gilt das Auftreten von tonischer Spannung und krampfartiger
Starre in den willkürlichen Muskeln im Beginn gewollter Be-
wegungen. Durch den mehr oder weniger lange dauernden Contractions-
z-ustand wird die zu jeder geordneten Bewegung nöthige Fähigkeit, einen
angespannten Muskel jeder Zeit sofort wieder erschlafien zu lassen, aufge-
hoben. Die Steifigkeit, die nur die gerade in Thätigkeit gesetzten Muskeln
betrifft, lässt bei fortgesetzter Bewegung in derselben Richtung und auf der-
selben Ebene gänzlich nach, so dass die Muskeln dann ziemlich ungehindert
gebraucht werden können, und die Kranken die Empfindung ganz normaler
Beweglichkeit haben. Ist die Rigidität vorbei, so kehrt sie, so lange die
Thätigkeit dauert, nicht zurück.
Am häufigsten und schwersten werden die Extremitäten von der
Affection betroffen, namentlich die unteren. Erhebt sich solch' ein Kranker
vom Stuhl, so wird ihm das Gehen infolge plötzlich eintretender Starre der
Extensoren fast ganz unmöglich. Ist er eine Zeit lang im Gange, so lässt
die Starre nach und das Gehen geschieht in ganz normaler Weise. Die be-
treffende Person kann dann Stunden lang ohne Ermüdung und ohne eine Spur
von Steifigkeit und Wackeln marschiren. Wird das Bein vom Kranken kräftig
gebeugt, so ist das Strecken nicht sofort möglich. Der Arm, den Patient
nach einem Glase ausstreckt, kann starr extendirt bleiben. Gegenstände, die
der Patient in den Fingern hat, kann er nicht ohne Weiteres loslassen und
hinlegen. Das Schreiben und Klavierspielen macht ihm grosse Schwierig-
keiten. Ein Händedruck hält trotz Nachlass des Willensimpulses ziemlich
lange an, und man muss förmlich die gereichte Hand wie aus einer Zange
mit einiger Mühe befreien. Zuweilen ist der Spasmus auf einer Seite stärker
als auf der anderen ausgesprochen. Laufen, Turnen, Tanzen, die Vornahme
der Griffe bei den militärischen Hebungen sind für den Kranken absolut un-
möglich, verursachen ihm die fatalsten Empfindungen und bringen ihn in die
peinlichsten Situationen.
640 THOMSEN'SCHE KRANKHEIT.
In leichteren Fällen ist der Spasmus schwer auszulösen, klingt schneller
ab und betrifit nur bestimmte Muskelgruppen der Extremitäten, in den
schweren dagegen werden die meisten Rumpfmuskeln und die, von cerebralen
Nerven innervirte Muskulatur deutlich afficirt. Der Eine hat gewisse Schwie-
rigkeit, beim Zukneifen der Augen, dieselben mit einem Schlage wieder zu
öffnen, der Andere kann bei Beginn des Essens oft die halbgeöffneten Kiefer
einige Secunden nicht schliessen. Der Nacken wird beim Drehen des Kopfes
für eine kurze Zeit ganz steif, der Gesichtsausdruck bei Gähnen und Lachen —
ziemlich starr, maskenartig. Der erste Schluck Wasser ist von einem lauten
Constrictionsgefühl im Pharynx begleitet, die Sprache ist langsam, stockend,
dem Scandiren ähnelnd. Der Augapfel vermag dem vorgehaltenen Gegen-
stande beim raschen Wechsel der Blickrichtung nicht conti nuirlich, sondern
nur „absatzweise" zu folgen. In manchen Fällen (Raymond, Nonne) sind die
associirten Augenbewegungen sehr intensiv gestört. Die eigentlichen Respi-
rationsmuskeln, die Muskulatur der Stimmbänder, die Schliessmuskeln der
Blase und des Afters und die bei der Samenejaculation in Wirksamkeit tre-
tenden Muskeln scheinen sich an der Myotonie nur ausnahmsweise zu
betheiligen.
Weniger constant als die ausserordentliche Verlängerung des Stadiums
der Wiederausdehnung der contractirten Muskeln ist das ziemlich lange La-
tenz Stadium, das bis zum Zustandekommen einer aufgegebenen Bewegung
vergeht. Es wird somit den Patienten oft überaus schwer, beispielsweise auf
Commando rasch den Arm zu strecken, die Schulter zu erheben, den Dau-
men zu opponiren, die Stirnhaut in Falten zu legen, die Zehen zu beugen:
die Bewegung erfolgt langsam, stossweise und ruckweise, in mehreren Absätzen,
um von einer noch langsameren Erschlaffung gefolgt zu werden. Das er-
schwerte und verlangsamte Zustandekommen willkührlicher Bewegungen lässt
sich beinahe an allen quergestreiften Muskeln wahrnehmen, die Inial-
erscheinung bei der THOMSEN'schen Krankheit bildend.
Die willkürlichen Muskeln werden nicht blos durch die Willens-.
Innervation in den erwähnten Zustand eines nachdauernden Tetanus versetzt,
in weiterem Sinne wirkt auch jeder ref lectorischer Reiz, sowohl
psychischer als somatischer Natur. Wo ein reflectorischer Reiz in
Scene tritt, dort befällt der Spasmus weit ausgedehnte Muskelgebiete, gele-
gentlich die gesammte Musculatur.
Ein Fehltritt, Schreck, grelles Geräusch, angespannte Aufmerksamkeit
vermögen allgemeinen Spasmus hervorzurufen, insbesonbere, wenn das myoto-
nische Individuum reizbar und leicht erregbar ist. In schweren Fällen kommt
es vor, dass das Individumm bei einem Fehltritt zu Boden stürzt und steif.
wie ein Stock daliegt, bis die Muskeln erschlaffen und ihm freie Bewegung
gestatten. Bei manchen sehr nervösen Personen genügt die blosse Vor-
stellung, der Gedanke an den krankhaften Zustand, um eine absolute Un-
möglichkeit zur freien Fortbewegung hervorzubringen (Thomsen). Von einem
berühmten Violinvirtuosen, der nur einen sehr geringen Grad von Myotonie
in den Beinen hatte, erzählt Oppenheim, dass er beim Ordensfeste, in dem.
Moment, als er herantreten sollte, um einen Orden in Empfang zu nehmen,
wie festgewurzelt dastand und sich nicht vom Fleck rühren konnte. Je mehr
ein Myotoniker versucht die Steifigkeit zu überwinden, je weniger ist er dazu
imstande — eine Thatsache, die in der Regel im Militärdienste den Verdacht
auf Simulation zu erwecken pflegt.
Abgesehen von den individuellen Eigenthümlichkeiten gibt es
mehrere äussere Momente, die die myotonische Disposition quantitativ
und qualitativ zu mildern, eventuell zu steigern im Stande sind. Heitere
Stimmung vermindert, gemüthliche Erregung vermehrt die Disposition zu den:
Spasmen. Kälte, regnerisches Wetter üben einen verschlimmernden, Wärme,
THOMSEN'SCHE KRANKHEIT. 641
heiteres Wetter einen begünstigenden Einfluss auf die Spasmen aus. Gefühl
der Sättigung-, massiger Allcoholgonuss und besonders öftere Wiederholung
einer Bewegung vermindern die Disposition, körperliche Ermüdung, Infections-
krankheiten, manche organische Gifte — Strychnin, Digitoxin — erhöhen
dieselbe. Nicht alle Myotoniker sind für dieselben Momente gleich empfind-
lich: auf den einen Patienten wirkt sehr intensiv die äussere Temperatur,
auf den anderen psychische Erregung und physische Ermüdung.
Die Muskeln befinden sich stets in einem guten Ernäh-
rungszustand, häufig sind sie sogar grösser und stärker als normal, manch-
mal geradezu athletisch. Die Palpation ergiebt in der Regel eine derbe
Consistenz, die als Ausdruck eines erhöhten physiologischen Muskeltonus,
nicht eines tetanischen Zustandes imponirt. Ganz besonders auffallend ist das
Hypervolum und die Consistenz der Muskeln an der Wade, am Unterschenkel,
am Beckengürtel und an der Wirbelsäule, seltener am Thenar und Hypothe-
nar. Die regelmässig nachweisbare starke Entwickelung der Muskeln lässt
nicht ohne Grund die Klagen der Kranken, dass sie unbeholfen und in ihren
Bewegungen behindert seien, zweifelhaft erscheinen.
Die grobe Kraft der Muskeln entspricht selten ihrem Volum. Paresen
werden nicht beobachtet. Passive Bewegungen in den Gelenken verur-
sachen nie Starre, bieten auch keinen Widerstand, wenn die Muskeln nicht
gerade myotonisch contrahirt sind.
In vereinzelten Fällen von angeborener und acquirirter Myotonie war
fettige Pseudohypertrophie (Vigoroux) disseminirte einfache Amyotrophie
(Raymond), circumscripte degenerative Atrophie der Muskeln (PIoffma^^n,
Jolly) zu constatieren. Letztere scheint jedoch von einer coexistirenden
Neuritis abhängig zu sein.
Pathognostisch sind weiterhin für die TnoMSEN'sche Krankheit die me-
chanische und elektrische Reactionsverhältnisse der Muskulatur — m y o-
tonische Reaction (MyR) — , in ihren Einzelheiten von Erb studirt und
von mehreren zuverlässigen Untersuchern bestätigt. Die Erregbarkeit der
Muskeln für mechanische Reize ist qualitativ und quantitativ von der
Norm abweichend. Es genügt ein einziger Schlag mit der Fingerkuppe auf
einen Muskel (z. B. Pectoralis), um sofort eine idiomusculäre Contraction der
getroffenen Faserbündel auszulösen. Der erzeugte Muskelwulst schwillt jedoch
langsam und träge an, verharrt auf seiner Höhe etwa ^4 — V2 Minute,
um dann ebenso langsam abzuschwellen. Die Nachdauer der Contraction
pflegt desto länger zu sein, je stärker der ausgeübte Reiz war, und kann
sogar 3 Minuten erreichen. Die Erscheinung der trägen mechanischen Con-
traction mit Nachdauer ist an den meisten willkürlichen Muskeln hervorzurufen,
wenn auch klinisch die myotonische Starre an denselben nicht in Erscheinung
tritt. Wo das genannte Contractionsphänomen — wulstförmige Contraction
mit dellenförmiger Vertiefung in der Umgebung — gut ausgesprochen ist,
darf es als beweisend für die TnOMSEN'sche Krankheit angesehen werden.
Fibrilläre Muskelzuckungen werden ausnahmsweise beobachtet.
Die elektrische Erregbarkeit der Muskeln ist ebenfalls in sehr
deutlicher Weise alterirt. Bei schwachen faradischen Strömen sind die Con-
tractionen normal, bei stärkeren werden sie träge und nach dauernd.
Einzelne faradische Oeffnungsschläge geben, selbst wenn der Strom sehr intensiv
ist, nur kurze, blitzähnliche Zuckungen. Die galvanische Muskel-
erregbarkeit ist sehr erhöht, so dass es wegen der Stromschleifen nicht
immer gelingt isolirte Contractionen eines einzelnen Muskels zu erzielen,
Oeffnungszuckungen werden, wie normaliter, sehr schwer erhalten. Die
AnSZ tritt abnorm leicht ein und in manchen Fällen ist sie intensiver als
die KaSZ. Das „latente Intervall" nach der Reizung wird manchmal ver-
grössert gefunden. Trägheit und Nachdauer der Zuckungen sind
Bibl. med, WisscDschaften. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. I. Bd. III. 41
642 THOMSEN'SCHE KRANKHEIT.
ebenso constant, wie die gesteigerte Erregbarkeit. Die Zuckungsträgheit
tritt besonders leicht und früh auf bei AnS, die Nachdauer ist dagegen so-
wohl an der An, als an der Ka nach Schliessung galvanischer Ströme zu con-
statiren. Wird die Elektrode nur momentan applicirt, so sind selbst bei
starken Strömen noch kurze Zuckunge:>i auszulösen.
Eine weitere Erscheinung, die von Erb constant festgestellt werden konnte,
sind die wellenförmigen Contractionen, die in rhythmischer Folge über
bestimmte Muskelgruppen von der Ka zur An hinlaufen. Zur Erzeugung
dieses Phänomens ist die stabile Anwendung starker galvanischer Ströme
(bis zu 20 M. A) erforderlich. Man setzt etwa die eine grosse Elektrode in
die Nackengegend, die andere kleinere in die Vola manus, nach einer Weile
stellt sich das genannte rhythmische Unduliren ein. Interessant ist weiterhin
die Thatsache (Jolly, Huet), dassbei wiederholter Reizung mit beiden
Strömen — ohne zu lange Pausen zwischen zweien Reizen — die Nachcon-
traction geringer und weniger deutlich wird, bis sie ganz schwindet, durchaus
analog dem Verhalten der willkürlichen Muskelcontractionen.
Was die motorischen Nerven anbelangt, so ist ihre mechanische
Erregbarkeit nirgends erhöht, das Verhalten derselben dem faradischen Strome
gegenüber ist dem der directen Muskelreizung sehr ähnlich. Bei Reizung mit
Constanten Strömen ist auffallend das leichte Auftreten der Oeffnungszuckung,
so dass die AnOeZ gelegentlich früher als die AnSZ, die KaOeZ eher als
der KaSTe auftritt. Nachdauernde Contraction wird ausschliesslich bei labilen
absteigenden Strömen beobachtet.
Zu merken ist schliesslich, dass in vereinzelten Fällen der TnoMSEN'schen
Krankheit die „myotonische Reaction" ganz fehlen kann. Das genannte
„rhythmische Unduliren" wird geradezu in der Mehrzahl der Fälle vermisst.
Die Reaction für statische Elektricität soll sich nach Oppenheim
nicht verändert zeigen; nach Eulenburg, soll das Verhalten der Franklin-
schen Muskelreizbarkeit, namentlich bei Prüfung mit directen Entladungen,
dem der faradischen Muskelerregbarkeit fast völlig parallel gehen.
Die Haut- und Sehnenreflexe werden normal gefunden. Trophische und
Sensibilitätsstörungen sind abwesend. Hie und da wird über abnorme Sen-
sationen — Kriebeln, Ameisenlaufen — geklagt. Schmerzen werden bei der
Muskelstarre nicht empfunden. Von Anomalien des Stoffwechsels erwähnt
Moltschanoff deutliche Verringerung im Urin der 24stündigen Harnmenge,
des Chlors und der Harnsäure. Psyche und Sensorium bleiben intact. Die
Sinnesorgane werden in der Regel nicht aöicirt. Die von Raymond in
2 Fällen bei brusquen Bewegungen des Kopfes constatirte transitorische
Amaurose ist durch Circulationsstörungen zu erklären und zwar entweder
durch solche, die in der Retina durch die contracturirten Muskeln des Auges
hervorgerufen werden (es bestand Hypertrophie der äusseren Augenmuskeln),
oder durch plötzliche Aenderungen der Circulationsverhältnisse innerhalb der
Gefässe an der Basis cranii, bedingt durch krampfhafe Bewegung der Kopf-
und Halsmuskeln.
Der Krankheitsverlauf ist ziemlich einförmig. Nach einem Stadium
der Progression, das etwa bis in das Pubertätsalter hineinreicht, bleibt
das Leiden bis ans Lebensende auf der erreichten Höhe sta-
tionär. Dasselbe gilt im Grossen und Ganzen auch für die in den Puber-
tätsjahren acquirirten Fälle von TnOMSEN'scher Krankheit. Complicationen
des Leidens mit Epilepsie, Hysterie, Hemicranie, psychischen Störungen, Bil-
dungsanomalien etc. sind nicht ungewöhnlich.
Diagnose. Die Diagnose der Myotonie gehört zu den ziemlich leichten.
Berücksichtigt man den eigenthümlichen Zustand von Muskelspannung, die
sich nach langer Ruhe bei den ersten intendirten Bewegungen einstellt, sich
bei bestimmten psychischen und somatischen Reizen steigert und bei fort-
THOMSEN'SCHE KRANKHEIT. 643
gesetzter Bewegung schwindet; beachtet man ferner den Einfluss der günstig,
resp. ungünstig cinwirlvenden äusseren Gelegenheitsursachen, das familiär-
hereditäre Moment, das jugendliche Alter, die gleichmässig kräftig entwickelte
Muskulatur, die Abwesenheit von Atrophien und Paresen, — so ist man
imstande, schon ohne Zuhilfenahme der mechanischen und elektrischen myo-
tonischen lieaction, eine promute Diagnose zu stellen. Und tliatsächlich genügt
auch in ausgesprochenen Fällen ein einfacher Händedruck seitens des Patienten,
um über das Bestehen des Leidens sofort im Klaren zu sein.
Erweckt die tetanische Steifheit bei willkürlicher Muskelcontraction
Verdacht auf Simulation, so kann die charakteristische MyPi. der Mus-
keln sofort jeden Zweifel über das Bestehen oder Nichtbestehen der Tiiom-
SEx'schen Krankheit endgültig aufheben. Fehlen der myotonischen Reaction
spricht jedoch nicht mit absoluter Sicherheit gegen Myotonie (Mills, KuAFP^r-
Ebinci). Die vollständige Abwesenheit jeder anderen Anomalie — Sensibili-
tät, Beflexe, Sphincteren, Psyche — erleichtert in den meisten Fällen die
Difterentialdiaguose.
Die spastische Spinalparalyse besitzt bei oberflächlicher Unter-
suchung mehrere Berührungspunkte mit der THOMSEN'schen Krankheit: die
allmälige Entwickelung, den langsamen Verlauf, das gelegentliche Auftreten
von Muskelspannungen in den Beinen bei intendirter Locomotion, das Fehlen
von Muskelatrophien und Sensibilitätsstörungen. Es lässt sich dennoch ohne
Schwierigkeit eine scharfe Grenze zwischen beiden Krankheitsformen ziehen.
Bei der Spinalparalyse sind die Spasmen nicht als Effect des abnormen
Willensreizes, sondern der gesteigerten Reflexthätigkeit aufzufassen: es tritt
deshalb der Spasmus bei jedem Versuch einer Bewegung auf, selbst nach
wiederholter Fortsetzung einer und derselben Bewegung. Der spastisch-
paretische Gang ist bei der Spinalparalyse dauernd, der wackelnde, steifbeinige
Gang der Myotoniker nur für die ersten Schritte charakteristisch. Bei der
Spinalparalyse können dieselben Spasmen auch durch passive Bewegungen
ausgelöst werden, bei der TnoMSEx'schen, von Seeligmüller als Paralysis
spinalis spastica hypertrophica bezeichneten Krankheit ist dagegen unbedingt
ein activer Willensreiz zur Hervorrufung des Tetanus nothwendig. Die
gesteigerten Sehnenreflexe, das Fehlen des Hypervolums der Muskeln und
endlich das Intactbleiben solcher Muskeln, welche von cerebralen Nerven
innervirt werden, können als weitere differentiell-diagnostische Momente dienen.
Die der spastischen Spinalparalyse sehr nahe stehenden cerebralen
Diplegien und die LiTTLE'sche Krankheit sind, der Myotonie analog, con-
genital oder dem kindlichen Alter eigenthümlich. Die Muskelstarre ist jedoch
permanent und schwindet nicht bei wiederholten Bewegungen, Die Steigerung
der Reflexe, das Vorhandensein verschiedener Gliederdeformationen (pes varus)
und eigenthümlicher unwillkührlicher Gliederbewegungen (Athetose) erleich-
tert in bedeutendem Maasse die Stellung der Ditferentialdiagnose. ^)
Die Dystrophia muscularis progressiva zeigt ebenfalls mehrere
Analogien mit der TiiOMSEx'schen Krankheit. Das Auftreten in neuropathi-
schen Familien, der Beginn in frühester Kindheit, bei mehreren Geschwistern
zu gleicher Zeit, die Prävalenz des männlichen Geschlechts, die Volumzunahme
der Muskeln an den unteren Extremitäten und am Beckengürtel sind beiden
Krankheiten gemeinsam. Die genaue Analyse der klinischen Erscheinungen
überzeugt jedoch sofort von der völligen Verschiedenheit dieser beiden endo-
genen Leiden. Bei der Dystrophie fühlen sich die hypervoluminösen Muskeln
weich und schwammig an, bei der Myotonie prall-elastisch; die mechanische
und elektrische Erregbarkeit ist dort stark herabgesetzt, hier bedeutend ge-
steigert und in typischer Weise verändert ; die Bewegungsstörung ist dort ein
^) Vgl. Artikel ,J\^inderlähmungen''-.
41*
644 THOMSEN'SCHE KRANKHEIT.
dauernder Zustand, der sich bei Fortsetzung derselben Bewegung durch
Ermüdung verschlimmert, hier wird die Bewegung bei fortgesetzter Wieder-
holung immer prompter und besser.
Noch leichter geschieht die Unterscheidung der Myotonie von der Te-
tanie, mit der sie gelegentlich verwechselt wird. Letztere ist eine acut auf-
tretende, zu einem endlichen Abschluss gelangende Krankheit, die sich in
periodischen Anfällen kundgibt und deren tonische Krämpfe bestimmte Loca-
lisation und Form besitzen. Die Contractionen sind bei derselben sehr inten-
siv und schmerzhaft und lassen sich durch Druck auf den Nervenstainm hervor-
rufen. Bei der Tetanie fehlt die mechanisch-elektrische Uebererregbarkeit
der Muskeln, dagegen ist die" Erregbarkeit der Nerven — selbst in der krampt-
freien Zeit — erheblich gesteigert. Das Auffinden des TROUssEAu'schen Phä-
nomens erleichtert in der Regel das Erkennen der Tetanie, die ein transito-
risches, heilbares Leiden ist.
Bei der ischämischen Lähmung und dem intermittirenden
Hinken existiren die Rigidität und Schwäche nicht im Beginn der Bewegung
sondern, gerade umgekehrt, bei eintretender Ermüdung; die Parästhesien sind
stärker ausgesprochen und die wirklichen Muskelkrämpfe sind ziemlich schmerz-
haft. Beide Atfectionen entwickeln sich übrigens auf dem Boden chronischer
Circulationsstörungen (angiomyopathische Lähmungen) und werden deshalb
nur im vorgeschrittenen Alter constatirt.
Die Hysterie (Maeina), spinale Muskelatrophie (Remak), die paroxys-
mal-familiäre Lähmung (Goldflam), manche Intoxicationen mit pflanzlichen Al-
kaloiden (Jollt) — liefern gelegentlich ein, dem myotonischen sehr ähnliches
elektrisches Verhalten des neuro-muskulären Apparates. Eine präcise Analyse
der einzelnen klinischen Erscheinungen (Latenzzeit, partielle Entartungsre-
action mit indirecter Zuckungsträgheit (neurotonische Muskelreaction), lässt
jedoch in der Mehrzahl der Fälle ohne weiteres die richtige Diagnose stellen.
Pathologische Anatomie. Der anatomische Muskelbefund war in allen
zur mikroskopischen Untersuchung gelangten Fällen ziemlich übereinstimmend.
Der erste genaue Befund, in vivo erhoben, stammt von Erb, die erste, und
zur Zeit einzelne Autopsie verdanken wir Dejerine und Sottas.
An den am wenigsten afiicirten Stellen findet sich einzig und allein
Vermehrung der Kerne der Muskelfasern; dieselben liegen dicht
unter der Sarcolemmscheide angeordnet und weisen deutliche Zeichen eines
Wucherungsprocesses auf: Vergrösserung, Einschnürungen etc. In
einem nächst höheren Grade der Veränderungen findet sich Hyperplasie
des Protoplasma mit anfangs deutlicher, später mehr und mehr ver-
schwindender Querstreifung, Vacuolenbildung und Vergrösse-
rung der einzelnen Fibrillen, die wie gebläht erscheinen. Der Quer-
schnitt kann den einer normalen Faser etwa um das 3-fache übertreffen.
Die Grenzwerthe der Fasern schweben zwischen 5 und 200 [x. Der Zusammen-
hang der einzelnen Muskelprimitivfibrillen unter einander ist gelockert, die
Muskelelemente (Sarcous elements) innerhalb der Primitivfibrillen ver-
mehrt, verkleinert und dichter aneinander gelagert (Jacoby).
Auf den Längsschnitte erscheinen die Conturen der Fasern vielfach eingekerbt,
eingeschnürt, auf dem Querschnitte meist abgerundet. An den Stellen der am
weitesten vorgeschrittenen Veränderungen ist das Gefüge des Protoplas-
mas sehr locker, die Muskelelemente liegen in einer trüben amorphen
Masse, die Anordnung der Kerne wird ganz unregelmässig, schliesslich finden
sich deutliche Substanzverluste, gekennzeichnet durch scharf contourirte Va-
cuolen und völlig leere Sarcolemmschläuche.
Nirgends finden sich ausgesprochene Wucherungsprocesse des Binde-
gewebes, die intramusculären Gefässe und Nerven zeigen keine Veränderung,
das interstielle Fettgewebe ist atrophisch. Die motorischen Nervenendplatten
THOMSEN'SCHE KRANKHEIT. 645
sollen etwas alterirt und hypertrophisch sein (Babes-Mak'Ixesco). Periphere
Nerven, Kückenmark und Medulla oblongata zeigten in dem secirten Falle
keine Veränderungen (Dkjeuixe-Sottas).
Pathogenese. Ueber das eigentliche Wesen der Krankheit wissen wir
heutzutage absolut Nichts. Keine der existirenden Hypothesen ist imstande,
über das eigenthümliche physiologische Verhalten des Muskelsystems uns
Aufschluss zu geben.
TiiOMSEN zählt die Krankheit zu den Psychopathien, indem er eine Willenshem-
mung, eine mangehafte Auslösung des Willensimpulses beschuldigt. Gegen eine Willens-
heramung spricht jedoch das präcise Erfolgen gerade der ersten intendirten Bewegung
aut den Willensimpuls. Den consecutiv sich einstellenden transitorischen Tetanus erklärt
die von Tiiomsen supponirte Willensanomalie nicht.
Ebenso wenig stichhaltig ist die Meinung Bartels, der eine durch psychische Erre-
gung veranlasste perverse Innervation motorischer Elemente in der Myotonie sehen
will. Die psychische Erregung ist bekanntlich keineswegs ein notbwendiges Moment beim
Zustandekommen des nachdauernden Tetanus.
Seeligmüller, Peters und Rieder setzen eine angeborene Affection der Seiten
stränge im Paickenmarke voraus. Dass es sich hier jedoch um eine materielle Läsion
nicht handeln kann, liegt auf der Hand : auf ein unveränderliches anatomisches Substrat
im Centralnervensystem kann nicht ein Krankheitsbild mit solchen veränderlichen moto-
rischen Erscheinungen basiren. Uebrigens spricht weder die klinische Analyse (normale
Sehnenreflexe, Abwesenheit von Paresen, mechanisch-elektrisches Verhalten der Nerven)
noch der autoptische Befund (Intactsein der Seitenstränge) für den spinal-neuropathischen
Ursprung des Leidens.
Petrone glaubt, in der motorischen Leistungsfähigkeit ein Hindernis voraussetzen zu
dürfen und sucht dasselbe ohne überwiegenden Griind in der peripheren Nervenend-
platte zu localisiren.
Nach Westphal und Skppilli handelt es sich um eine angeborene Anomalie des
Muskeltonus, bedingt durch eine fehlerhafte Anlage der Nervencentren, deren
Hyperexcitabilität die Starre und Hypertrophie der Muskeln eben erklären soll.
GowERS spricht ebenfalls von einer verlängerten und erhöhten Activirung der Mus-
keln durch primäre Functionsstörungen der Nervenzellen des B,ückenmarkes.
Danillo sieht in der THOMSEN'schen Krankheit eine Folge functioneller Störung in
den psycho-motorischen Piindencentren, Engel eine Folge vorübergehender
Circulationsanomalien in der VAROL'schen Brücke.
Am meisten Anhänger besitzt die myopathische Theorie (Bern-
hardt, Strümpell, Ballet, Marie). Schon LEyDE>;r fasste die Affection
myopathisch auf, indem er eine, dem Rigor mortis ähnliche derbere Con-
sistenz des Muskelinhaltes voraussetzte. Nach Erb handelt es sich bei dieser
Myopathie um eine Tropho-Neu rose, bei der das Hypervolumen der Muskeln
als Folge „trophischer ReizzQstände" aufgefasst werden muss, nach Bernhardt
um eine primäre, selbständige Erkrankung des willkürlichen Muskel-
systems. Die Anomalie des Muskelsystems besteht nach ihm in dem Ver-
harren desselben auf dem j ugendlichen Zustande, wo die Muskeln
eine von der Norm abweichende Zuckungscurve darbieten — Abflachung des
Gipfels und zunehmende Streckung des auf- und absteigenden Schenkels.
Bernhardt macht weiterhin auf die Analogie mit den rothen
Muskeln der Kaninchen aufmerksam, die bei einer bedeutenden Ver-
mehrung der Kerne und einer undeutlichen Querstreifung eine langgezogene
Zuckungscurve und nachdauernden Tetanus zeigen.
Die myopathische Theorie findet weiterhin eine starke Unterstützung
einerseits in der Aenderung der anatomischen Structurverhältnisse und der
mechanischen und elektrischen Erregbarkeit ausschliesslich der Muskeln,
andererseits in den interessanten Experimenten Rieger's und Sainsburg's,
welche fanden, dass bestimmte Salze (phosphorsaures Kalium) beim Frosche
tonischen Spasmus hervorrufen können, der mit dem in der Thomsen 'sehen
Krankheit auftretenden grosse Aehnlichkeit besitzt und dass derselbe nicht
nur andauert, wenn der Nerv durchschnitten wird, sondern auch nachdem
die intramuskulären Nervenendigungen durch Curare gelähmt sind.
646 THOMSEN'SCHE KRANKHEIT.
Dieses Experiment beweist selbstverständlich nur soviel, dass ein myo-
tonischer Zustand in dem Muskelgewebe seinen Ursprung haben kann, nicht
haben muss.
Neuerdings findet besonders die Ansicht Vertretung, dass man es bei
der TnoMSEN'schen Krankheit, ebenso wie bei der pathogenetisch zweifelhaf-
ten periodischen familiären Paralysen und den asthenischen Lähmungen ver-
muthlich mit den Ergebnissen specifischer, wenn auch noch nicht näher be-
kannter Autointoxicationen zu thun habe. Als gewisse Stütze dieser
Ansicht dient der häufig herangezogene Vergleich der eigentlichen Thomsen'-
schen Functionsanomalie mit den durch Einwirkung einzelner Muskelgifte
(Physostigmin, Digitoxin, besonders Veratrin) bei Thieren experimentell her-
vorgerufenen Zuständen (Jolly). Insbesondere scheint die Annahme nahe zu
liegen, dass gewisse abnorm vermehrte oder in ihrer Ausscheidung behin-
derte Producte des Muskelstolfwechsels selbst zur Ursache der krankhaft ver-
änderten Muskelthätigkeit werden können, ähnlich wie die sogenannten
Ermüdungsstoffe ja bei gewissen functipnellen Störungsformen eine derartige
Piolle zu spielen scheinen.
EuLENBUEG hält die vergleichsweise Heranziehung der experimentellen
Muskelgifte bei näherer Ueberlegung für verfehlt und auf einer nur ober-
flächlichen Würdigung der Thatsachen beruhend. Fast alle klinischen Zeichen
sprechen blos für ein längeres örtliches Beschränktbleiben, eine erschwerte
Verbreitung des einwirkenden Reizes im Muskel. Im speciellen entspricht
die Zuckungscurve bei Myotonie durchaus und in fast allen wesentlichen
Punkten derjenigen des ermüdeten oder absterbenden Muskels, während sie
sich zugleich, was die trägere und langsamere Zusammenziehung betrifft,
derjenigen des glatten Muskels annähert. Für die Aufstellung einer einheit-
lichen Theorie der TnoMSEN'schen Krankheit scheint nach Eulenburg einst-
weilen der Zeitpunkt noch nicht gekommen zu sein.
Prognose. Die Vorhersage ist quoad valetudinem eine recht ungünstige.
Die Krankheit macht in der Regel bis in das Pubertätsalter hinein Fort-
schritte und bleibt dann bis ans Lebensende auf einer bestimmten Höhe
ziemlich stationär. An die Beschwerden des Leidens, das die Kranken in
der Ausübung ihrer Berufsarbeiten fortwährend stört, gewöhnen sich die
Kranken bis zu einem gewissen Grade, rechnen damit und lernen ihre Un-
beholfenheit verdecken. Manche Myotoniker verstehen mit der Zeit allen an
sie herantretenden hauswirthschaftlichen Anforderungen Genüge zu leisten.
Seltener kommen sie selbst in scheinbar schwierigen Berufen und Beschäf-
tigungen ganz leidlich durch, wie die drei Brüder-Zahntechniker Eulenburg's
beweisen. In praktischer Hinsicht ist zu merken, dass die Patienten zum
Militärdienst durchweg untauglich sind. Quoad vitam ist die Prognose
absolut gut.
Therapie. Keine Behandlungsweise scheint auf das Leiden irgend einen
nennenswerthen Einfluss zu haben. Von vereinzelten spontanen Besse-
rungen wird berichtet, Heilungen sind nicht bekannt. Fernhalten der die
myotonische Disposition steigernden Momente (psychische Aufregung, körper-
liche Strapazen, Kälte), methodische Muskelübung, systematische Gym-
nestik und leichte Massage der Muskeln sind die einzigen rationellen Maass-
regel, über die wir verfügen. Remissionen kommen auch bei indifferen-
ter Therapie gelegentlich vor und dauern mehrere Wochen an.
•JC-
Anliang.
Paramyotoiiia congenita (Eulenbueg). Mit der Thomsen 'sehen Krank-
heit in sehr naher Verwandtschaft steht eine von Eulenburg (1886) unter dem
Namen „con genitale Paramyotonie" beschriebene Affection, die zweifellos auf
I
THOMSEN'SCHE KRANKHEIT. 647
einer angeborenen, durch Vererbung übertragenen Functionsanomalie des
Muskelsystems besteht und in einer aussergewöhnlichen Empfindlichkeit fast aller
willkürlichen Muskeln gegenüber der Kälte sich äussert. Eulknburg konnte die
Affection durch 6 Generationen verfolgen.
Am meisten leiden durch die transitorische ßigidität die am stärksten der
Kälte ausgesetzten Körpertheile: die Hand-, Gesichts- und Halsmuskeln.
Die Finger sind in den Metacarpo-phalangealgelenken gestreckt, in den Inter-
phalangealgelenken gebeugt, in mittlerer Beugestellung fixirt. Der Kranke kann
seine Finger nicht gebrauchen, mit denselben nichts festhalten.
In der willkürlichen Musculatur der Augenlider, der Lippen tritt eine Starr-
heit auf, die jede Bewegung aufhebt, und die anhält, so lange Patient der Kälte
ausgesetzt ist, auch noch einige Zeit darüber hinaus. Die Orbiculares palpebrarum
und oris werden derart „starr", dass das Sprechen und Augenrunzeln sehr er-
schwert, das Lachen und Weinen ganz ausdruckslos ist.
Manchen Kranken gelingt es zuweilen, dem Auftreten der Starrheit dadurch
vorzubeugen, dass sie sich hüten, mit ihrer, der Kälteeinwirkung am meisten expo-
nirten Musculatur auch nur die kleinste Bewegung, Zuckung auszuführen, dass sie
ihre Muskeln selbst gewüssermaassen starr in Ruhe halten (Hlawaczek) — eine
interessante Thatsache, die dafür sprechen dürfte, dass zum Zustandekommen der
Paramyotonie wie bei der Thomse:n-' sehen Krankheit, eine vorausgegangene, wenn
auch noch so kleine Bewegung der betreffenden Muskeln nöthig ist.
Insofern langsame Bewegungen ohne bedeutenderen Kraftaufwand zuweilen
ungestört fortgesetzt werden können, tritt bei rasch und energisch ausge-
führten Bewegungen eine motorische Störung ein, die sich hauptsächlich darin
äussert, dass nach wenigen Wiederholungen der Patient ausser Stande wird die con-
trahirten Muskeln wieder sofort erschlaffen zu lassen. Bei erneuten Contractionen
wächst die Zeit, die der Muskel nach Aufhören des Willensimpulses noch in Con-
traction verharrt, bis zu etwa ^4 Minute. Gleichzeitig stellt sich mit jeder Con-
traction zunehmend im erschlafften Muskel ein L ä h m u n g s z u s t a n d ein, der weitere
Bewegungsversuche immer mühsamer, langsamer und unnachgiebiger ablaufen und
schliesshch überhaupt für kurze Zeit keine Contraction mehr zu Stande kommen
lässt. Der, mit einem peinlichen Gefühl von Abgestorbensein der Extremitäten und
der Gesichtsmuskeln verbundene Schwächezustand hält Stunden bis Tage an. Manche
Autoren (Soldek) fassen denselben als wirkliche Lähmung auf, andere dagegen
glauben (Hlaw^aczek), das Aufgehobensein der Bewegungsfähigkeit der Muskeln sei
nicht durch Erloschensein der Functionsthätigkeit hervorgerufen, sondern durch eine
länger anhaltende, gesteigerte Functionsthätigkeit, durch längere Zeit anhaltende
Contraction. Bei der Myotonie würde somit die Starre nach wenigen Secunden, bei
der Paramyotonie erst nach Stunden schwinden.
Wärme und Alkoholica üben einen krampflösenden Ein-
fluss aus.
Als Unterscheidungmerkmale von der THOMSEN'schen Krankheit
werden von den meisten Autoren hervorgehoben: die Unabhängigkeit der
MnskelsteifigkeitvonWillensimpulsen, die grosse Erschöpfbarkeit
der Muskeln, das Auftreten von Parese bis zu vollkommener Läh-
mung und von Contracturen schon nach relativ geringfügiger Ein-
wirkung von Kälte, die Herabsetzung des Muskeltonus, die Ver-
minderung der elektrischen Erregbarkeit mit Neigung zu STe, die
Abwesenheit der myotonischen Eeaction. Weniger constant bei der Para-
myotonie sind functionelle Störungen von Seite des Gefässystem: Hyperidrose, Schwindel,
Ueberempfindlichkeit der Hautcapillaren gegenüber Kälte u. Ae.
Kernes der genannten Merkmale ist jedoch für die Paromyotonie pathognostisch.
Als allen Fällen gemeinsames und daher wesentliches Zeichen bleibt nur die Herab-
setzung der Muskelerregbarkeit gegen den physiologischen und gegen den elektrischen
Reiz unter Einwirkung von Kälte. Der Unterschied der Frosterscheinungen am Muskel
648 THROMBOSE.
des Gesunden und des Paramyotonisclien sei nacli den Versuchen Soldee's wesentlich
nur ein quantitativer; eine Abicühlung, die beim Gesunden noch unwirksam ist, rufe
beim Paramyotonischen schon Lähmung und die übrigen Symptome hervor. Auf
einen Fall gestützt, wo keine Spur von Ptigidität oder Nachdauer der Contractionen
bestand, glaubt er das Specifische der Paramyotonie eher in den Lähmungserschei-
nuugen als im Krampfzustande suchen zu müssen.
Nach Hlawaczek ist der das Bild der congenitalen Paramyotonie zusammen-
setzende Symptomencomplex nur als graduelle und temporäre Steigerung des myo-
tonischen Zustandes, die unter einem bestimmten äusseren Einflüsse — der Kälte —
in den derselben am meisten .ausgesetzten willkürlichen Muskeln auftritt. An einer
Eeihe von Fällen aus der Literatur weist er die fliessenden Uebergänge zwischen der
Paramyotonie und der typischen Thomsen 'sehen Krankheit nach. Die Paramyotonien
und Myotonien sind in ihrer ununterbrochenen Kette „verbunden durch den charak-
teristischen pathologischen Zustand, verschieden durch die Umstände, unter welchen
sie auftreten, durch ihre Verbreitung über einzelne Muskelabschnitte oder die ganze
willkürliche Musculatnr, durch die mehr weniger tiefgreifenden Veränderungen im
Verhalten der Muskeln gegenüber mechanischen und elektrischen Reizen, Verschie-
denheiten, die sich endlich auch wieder als nur graduelle erweisen lassen." Die
Varietäten sind theilweise durch das Alter der Patienten, durch das Entwickelungs-
stadium der Krankheit, durch die grössere oder geringere Empfindlichkeit der
Musculatur äusseren Reizen gegenüber, durch AVillensstärke, Uebung und Aufmerk-
samkeit bedingt. Die Grundursache des Leidens bleibt jedoch vorläufig in Dunkel
gehüllt.
Für die nahe Verwandtschaft der TH0MSEN'sc/ie?2. Krankheit und congenitalen
Paramijotonie sprechen besonders diejenigen Fälle, die als Misch- oder TJehungsformen
zioischen beiden aiifgefasst tverden müssen. Zu diesen sind zweifelsohne zu zählen.:
die Beobachtung von Delpeat (1892), wo die Myotonie bei Descendenten einer
paramyotonischen Familie auftrat (unter 50 paramyotonischen Mitgliedern aus vier
aufeinanderfolgenden Generationen war die THOMSEisr'sche Krankheit 3mal vorhan-
den); der von Kollmann (1894), unrichtig als reine Myotonie diagnosticirte Fall,
wo 8 Familienmitglieder betroffen waren (der Vater des Patienten und zwei Ge-
schwister desselben, der Sohn, eine Tochter eines Vaterbruders, zwei Söhne und
ein Enkel einer Vaterschwester); der SöLDEE'sche Fall, wo neben den Patienten
seine Mutter und 5 Stiefgeschwister und die Beobachtung von Hlawaczek_, wo eine
Mutter nebst 3 Söhnen afficirt waren.
Eulenbüeg fasst die Paramyotonie als vasomotorische Reflexneurose
des willkürlichen Muskelapparates auf, indem er eine spastische Coutraction der
Muskelgefässe und Verminderung des Blutzuflusses unter der Einwirkung von Kälte
annimmt. Das klinische Bild der künstlich hervorgerufenen Ischämie nach EsMAEcn'schen
Unterbindungen stimmt thatsächlich in seinem ersten Stadium mit dem der Para-
myotonie einigermaassen überein. Die Häufigkeit vasomotorischer Störungen bei der
Paramyotonie macht die Voraussetzung einer besonders leichten reflectorischen Er-
regbarkeit die Muskelgefässe ziemlich wahrscheinlich.
Ueber der Classificirung der zur Zeit vereinzelt dastehenden Beobachtungen
von ,^atactischer Paramyotonie,^'' (Gow^ees), von ^^circnmscripten myotonischen Spasmen'"''
(Schultze), von ,, Myotonie congenita intermittens'''' (Maetius-Hausemann), von
acquirirter (Talma, Jolly) und heilbarer (Füestnee) Myotonie — lässt sich nichts
Definitives aussagen. higiee.
Thrombose. Unter „Thrombose" (i>po[jiß6£'.v gerinnen machen) ver-
steht man die intra vitam eintretende Gerinnung des Blutes
innerhalb des Gefässystemes. ""„Thrombus" heisst das prämortale
Blutgerinnsel, welche das Product der Thrombose darstellt.
Die Thromben bestehen aus verschiedenen Bestandtheilen, erstens aus
Blutplättchen, welche sich bei diesen Gerinnungsvorgängen zuerst an der
THYMÜSFÜNCTION - THYMUS-KRANKHEiTEN. 649
Gefässwancl ansetzen und so gerade die Grundlage des Thrombus bilden,
zweitens aus Fibrin, welches in Form eines Netzes den Thrombus durch-
zieht und nach dem WEiGER'r'schen Färbe verfahren leicht darstellbar ist.
drittens aus Leukocyten, welche die Hauptmasse des Thrombus bilden und
viertens endlich aus rothen Blutkörperchen, deren Zahl in verschie-
denen Thromben ungemein wechselt. Zur Thrombusbildung gehören zwei
Hauptbedingungen, eine verlangsamte Strömung des Blutes und eine
Läsion der Endothelbekleidung der Gefässe. Der Endothelverlust
oder die Endothelerkrankuug kann durch verschiedene Ursachen bedingt sein:
Durch mangelhafte Ernährung der Gefässwände, durch chemische, mechanische
und thermische Einflüsse auf die Gefässe, durch die Einwirkung pathogener
Mikroorganismen und endlich durch andere Erkrankungen der Gefässwände
nicht bacteriellen Ursprunges.
Je nach dem Wachsthum des Thrombus spricht man von einem
„partiell obturirenden" und „total obturir enden," „wandstän-
digen" und „klappenständigen" (Venenklappen.) Geht die Thromben-
bildung in der Richtung des Blutstromes weiter, so spricht man von „fort-
gesetzten Thromben," geschieht die Absetzung der gerinnenden Massen
in der Breitenausdehnung in Intervallen, so entstehen geschichtete
Thromben.
Der Thrombus kann erweichen, mit oder ohne Beihilfe von Mikroorganis-
men oder er kann sich organisiren, indem von der endothelberaubten Stelle
der Gefässwände Bindegewebe in den Thrombus hineinwächst. Das früher
vorhandene Fibrin wird theils resorbirt, theils mit Kalksalzen imprägnirt
(Bildung von Veuensteinen, Phlebolithen.)
Die Thromben sind wohl zu unterscheiden von dem postmortalen, resp.
agonalen im Herzen und grösseren Gefässen bei der Leicheneröffnung zu fin-
denden Blutgerinnsel {Herzpohjpen., Cruor sanguinis, Speckhautgerinnsel.)
Die Thrombusbildung innerhalb des Herzens kommt bei Herz-
muskel- und Herzklappenerkrankungen, sei es nun dass dieselben primärer,
sei es dass sie secundärer Entstehung sind, vor. (Vergl. hierüber die Artikel
„Embolie der Arterien" Bd. J, pag. 530 und ^^Herzthrombose'-'' Bd. II, pxig. 77).
Relativ selten kommen Thromben in der Aorta vor, trotzdem dort gerade der
atheromatöse Process ein häufiger ist, die Ursache hiefür liegt w^ohl in der
starken Blutströmung daselbst.
Thrombosen finden sich ferner in den kleinsten arteriellen Verzweigun-
gen und kommen namentlich bei Lues vor. Charcot beschreibt sie als Ur-
sache vorübergehender Aphasie und Lähmungen {Claudication intermittente.)
Am häufigsten kommt die Thrombose in den Venen vor. Sie ist klinisch so
wichtig, dass hierüber ausführlich in dem Artikel „Venenthrombose" gespro-
chen wird. R.
Thymusfunction — ThymUS-Krankheiten. Die Thymusdrüse hat seit
einigen Jahrzehnten nur für eine Kuriosität gegolten, sowohl nach ihrer regel-
mässigen Existenz, aus der man nichts Rechtes zu machen wusste, als nach
ihren Unregelmässigkeiten, die nur noch hie und da halbzufällige Beachtung
fanden, nachdem ihre generelle Bedeutung für Hervorrufung von Athemnoth
im Allgemeinen, wie der anfallsweise als Asthma thymicum auftretenden im
Besonderen abgethan schien. Neuerdings, wo man verkannte Drüsensäfte in
ihrem Werthe für den Organismus höher zu stellen anfing, ist auch von dem
der Thymus als einem der zur Bekämpfung der Infectionen geeigneten Körper-
safte die Rede gewesen (Ehrlich und Brieger), und die Lehre, dass Athem-
störungen durch die Thymus ins Bereich der Fabeln gehören, die von dem
für das Gebiet der Thymus zu einer Art von Galenus gewordenen Fried-
leben begründet wurde, hat einige merkliche Erschütterungen erfahren.
650 THYMÜSFÜNCTION - THYMÜS-KRANKHEITEN.
Nichtsdestoweniger ist für das Meiste, was wir von der Thymus wissen, die gründ-
liche Arbeit, welche I8b8 dieser Frankfurter Arzt darüber geliefert, immer noch die Haupt-
qiielle. Nach ihm besteht die Thymus aus 2 getrennten Längstheilen, wovon der rechte
länger ist, und die nur manchmal oben unter dem Manubrium sterni durch einen weiteren
Lappen verbunden sind. Durchschnittlich ist die Thymus mit ihrem oberen Rand 2^2 cm
von der Thyreoidea entfernt, sie kann aber an diese heran und darüber hinausragen
(Triesethau). Die Substanz besteht aus Bindegewebe mit einliegenden, maulbeerförmig
zusammengesetzten, geschlossenen Follikeln von dem Bau der Lymphdrüsen, in einem
Eeticulum Lymphzellen enthaltend, die in einem molkigen Secret schwimmen, zugleich mit
eigenthümlichen von Friedleben für regressive Follikel erklärten „concentrischen Körpern"
(Ecker). Ein mit den Follikeln communicirender Centralcanal, welchen auch Jendra.ssik
und jetzt wieder Hennig erwähnt,' wird von ersterem Forscher, wie es scheint, mit Recht
geleugnet. Das Secret geht aus den Follikeln wieder ins Blut.
Das Durchschnittsmaass der Thymus ist beim Neugebornen 57, bis zum
9. Monat 59, bis zum 2. Jahr 69 mm Länge und steigt noch bis zum 25. Jahr auf 106 mm.
Aber das Gewicht steigt von 14 g hei der Gebu.rt nur auf 20 bis zum 9. Monat und 27
bis zum 2. Jahr, um nachher wieder zu sinken. Die Dicke beginnt also schon nach dem 1.,
besonders aber nach dem 2. Jahr bei dem in der Fläche nachwachsenden Organe erheblich
abzunehmen, und wir werden gerade dieser Dimens i on n och eine besondere
Wichtigkeit zuerkennen müssen. Auch die stärkste Secretabsonderung findet im
2. Lebens-Halbjahr statt. Der Rückgang der Thymus geht mit Verfettung und Vermehrung ■
des Bindegewebes, Verminderung des Secretes einher. Ein völliges Fehlen der Thymus
von Anfang an wird selten — zuerst von Bischof — wahrgenommen. Andererseits wird
ein bis in die höchsten Altersstufen verspäteter Schwund, sowie auch ein weit über die
oben angegebene Zahlen erhöhtes Gewicht (500 g bei einem Ißjährigen Mädchen nach
Albert von Hennig berichtet) beobachtet.
Unter dem Einfluss schlechter Ernährung, sowie schwächender acuter
und mehr noch chronischer Erkrankung tritt eine krankhafte Atrophie
der Thymusdrüse ein, die viel bedeutender ist, als der entwicklungs-
gemässe normale Schwund, und sich von diesem auch dadurch unterscheidet,
dass nicht Bindegewebsneubildung, Arterienobliteration und Nervenverfettung
damit Hand in Hand gehen, wohl aber einfache Verminderung des Secretes,
Vermehrung der EcKER'schen concentrischen Körperchen, besonders anfangs,
dann Collaps und endlich Schwund der Follikel auftreten.
Dabei soll nach Friedleben dem Rückgang der Thymus eine Zunahme der Milz
während derselben Krankheiten entsprochen haben. Ein dadurch angedeutetes Vicariiren
beider Organe in der Mitwirkung bei der Blutbildung wird auch in der Thatsache aus-
gedrückt, die Landois erwähnt, dass bei R,eptilien und Amphibien, die keine Lymphdrüsen
besitzen, die Thymus als ein durch das ganze Leben functionirendes Organ bestehen bleibt.
Merkwürdig ist nun, dass nach Friedleben's experimenteller Exstirpation keine Ver-
grösserung der Milz iDehufs Ausübung einer solchen Vertretung, wie oben angenommen und
wie sie auch die Vergrösserung der Milz neben dem Rückgang der Thymus beim normalen
Wachsthum erwarten Hesse, erfolgt. Ebenso ist nicht recht verständlich, die Annahme
Friedleben's, dass die Thymus der Ernährung und Blutbereitung, sowie dem Anbilden der
Gewebe diene, während doch in seinen Versuchen gerade auf deren Exstirpation ein
stärkeres Wachsthum der Versuchsthiere folgte. Dies würde vielleicht eher annehmen
lassen, dass die Thymus hiefür eher hinderlich, mindestens aber bedeutungslos sei —
dasselbe was auch neuerdings Langerhans und Savelievv aus ihren Thymusexstirpationen
folgerten. Dass Friedleben bei den „entthymusten" Thieren das Blut wässeriger und die
rothen Körperchen vermindert fand, kommt wieder auf meine vorhin gemachte Ver-
muthung, dass sie parallel der Milz etc. an der Erzeugung der Formbestandtheile des
Blutes mitarbeitet, dass sie aber nie unentbehrlich sei und später überhaupt durch andere
Organe ersetzt wird.
Entsprechend diesen Ausführungen über die Function der Drüse ist
denn auch bei den Krankheiten der Thymus von Functionsstörungen als
Symptomen derselben wenig zu bemerken. Ausser etwaigen mit dem be-
sonderen Charakter des Leidens verbundenen allgemeinen Erscheinungen
kommt hauptsächlich das Raumverhältnis gegenüber den krankhaften Volums-
änderungen der Drüse und die Folge dieses Verhältnisses für die benach-
barten Organe der Athmung, des Kreislaufs und für die Nerven in Betracht.
Im Mittelpunkt steht das alte Asthma thymicum.
Was zunächst den pathologisch-anatomischen Charakter der Erkrankungen
angeht, so ist die leichteste:
THYMUSFÜNCTION — THYMUSKRANKHEITEN. 651
die Hyperämie und Hämorrliagie, die Entzündung der
Thymus, Thymitis. Dieselbe entsteht in Folge von Blutstauungen, durch
Lungen- und Herzkrankheiten, Krampf- und Keuchhusten, Ersticken, Er-
trinken, endlich bei Neugeborenen durch Störungen des Geburtsverlaufes,
welche Asphyxie hervorrufen. Webeh in Kiel hat 1852 diesen Zustand als
capilläre Injection der Drüse und ihrer Umgebung mit stecknadelkopfgrossen
frischen Blutergüssen in der Drüsensubstanz beschrieben. Nicht minder
finden sich Hyperämie und Ekchymosen bei Säuglingen mit noch zu er-
wähnender Thymushypertrophie, die erstickten. Aehnliche Zustände linden
sich auch bei älteren Kindern (jAConi), z. B. nach Masern (Pean), Diph-
theritis u. s. w. mit zum Theil noch grösseren Apoplexien, wie auch bei Er-
w^achsenen. Teiesethau berichtet in einer unter Pott 1893 verfassten
Inaug.-Diss. eine Beobachtung von Nordmaxn bei einem ertrunkenen
Soldaten, dessen Thymus dunkelroth und faustgross waren, und 3, wie es
scheint, ähnliche Fälle von Piecklinghausen. Die ausgebildete Entzündung
ist in einzelnen Fällen in Form der
Vereiterung und Abscedirung der Thymus beobachtet worden.
Noch öfter ist wohl stärkere Ansammlung von Drüsensecret mit Eiter ver-
wechselt worden, wovon neben der Mikroskopirung die sauere Keaction des
ersteren schützen könnte. Die ersten, sicheren, eiterigen Thymitiden bringt
Friedleben bei, den einen Fall nach Professor v. Wittich, der einen
18jährigen jungen Mann daran sterben sah und in dessen Leibe eine
0'5 — 1 kg schwere Thymus, theils aus Drüsengewebe theils aus Eiterhöhlen
bestehend, neben complicirender Pericarditis und Pleuritis gefunden wurde.
Dazu kommen diejenigen von Elsässer und 2 neuerdings von Hennig berichtete
Abscedirungen bei Neugeborenen, beziehungsweise ganz jungen Säuglingen,
Während diese pyämischer Natur waren, ist die Ursache bei den WiTTiCH'schen
Kranken nicht klar, selbst ein Uebergreifen von primärer Pericarditis nicht
ausgeschlossen. Ebenso unbekannt ist die Ursache für eine von DeMxME bei
einem 2%-jährigen Knaben beobachtete Thymitis mit multiplen Abscessen,
wenn nicht ein früherer Fall durch Gefässzerreissung den ersten Anlass zu
der später heftig eintretenden Entzündung gegeben haben soll. Bestimmter
wird die Herkunft von entzündlich-nekrotischen Heerden in der Thymus von
Diphtheritis, ähnlich der nach Oertel in den der Lymphdrüsen vor-
kommenden, und von Syphilis seitens Dubois' und Jacobi's behauptet. Einen
Uebergang zur
Hypertrophien der Thymus machen solche Fälle, in denen man
schleichende chronische Thymitis annehmen muss wegen Verwachsung
mit der Umgebung, z. B. dem Herzbeutel in 2 Fällen von Pott. Einen
durch Grösse der Thymus ausgezeichneten Fall theilt Fkiedleben mit,
wo die 500 g schwere, auf dem Durchschnitt einem Kuheuter ähnliche
Drüse mit der Brustwand und der V. cava fest verwachsen war und durch
Blutstauung ihre Trägerin, eine 27jährige Frau, getödtet hatte. Wenn die
Entzündung nur durch Infection auf dem Weg der Blut- und Lymph-
gefässe, auch durch Berührungsübertragung aus der Nachbarschaft erklärlich
ist, so würde eine einfache Hypertrophie entweder auf ursprünglicher Anlage
oder auf wiederholter Einwirkung der bei der Hyperämie angedeuteten Ur-
sachen beruhen können. Friedleben schon führt 8 Beobachtungen an mit
der ersten 1614 bei F. Plater beginnend, in denen manchmal mit entzünd-
lichen Verwachsungen, meist ohne entzündliche Erscheinungen die Drüse
schon im Alter von 5 — 8 Monaten das ungewöhnliche Gewicht von 37 — 57 g
erreichte, sich von der Schilddrüse bis zur 5. Rippe abwärts, seitlich auf den
Herzbeutel ausdehnte, die Lunge zurückdrängte, den grossen Gefässen anhieng,
beziehungsweise sie überlagerte, die Luftröhre umfasste. Auch Blutüber-
füllung der Lunge und Pleuragefässe wurde dabei einmal angegeben. Wenn
652 THYMÜSFUNCTION — THYMUSKRANKHEITEN.
nur solclie Thymusdrüsen, wie die vorher genannten, mit wirklich gegen unser
obiges normales übergrosses Gewicht als hypertrophirt anerkannt werden, so
ist die Hypertrophie sehr selten und die Hauptmasse der Fälle, wo eine
solche krankhafte Erscheinung Asthma gemacht haben sollte, als nicht
abnorm anzusehen. Hennig will unter 300 Kindersectionen 2mal die Thymus
vergrössert gesehen haben, gibt aber wieder Maasse noch Gewicht an. Von
YiECHOw führt er die Angabe an, dass bei Leukämie die Drüse Er-
wachsener auf 134 (/, bei einem 5jährigen Kind colossal geworden. Unter
anderen, neueren Beobachtern, die vergrösserte Drüsen fanden, geben Trie-
SETHAU bei einem Gewicht von 32 (/ (9 monatlichem Mädchen), Scheele bei
einem solchen von 50"2 (16monatlichem Kind) die Dicke der Drüse auf
rö und 2 cm an. Die anderen neueren Beobachter geben nur das letzte
Maass, das wir allerdings noch erheblich finden werden, auf 1 — 1"5 — 2 cm an.
Die Tube reu lose der Thymus ist nach Hennig's dahin gehörigen
Beobachtungen aus dem Alter von 74 — ^ Jahren immer mit Tuberculose der
Bronchialdrüsen oder der Lunge vergesellschaftet; meistens ist die Thymus-
tuberculose Theilerscheinung allgemeiner Miliartuberculose. Dagegen hat
Demme L8S5 einen Knaben von der Zeit der Ernährung mit Kuhmilch ab-
magern und nach 42 Tagen an primärer und isolirter Tuberculose der Thymus
sterben sehen. Die sehr vergrösserte Drüse enthielt Tuberkel von Erbsen-
bis Haselnussgrösse mit Bacillen. Auch mehrere ältere Kranke sollen sehr
grosse Thymen gehabt haben bis zu 270^ (Toketti); bei Hennig wenigstens
wird das anerkannt, während Friedleben V4 Jahrhundert vorher den Aus-
gang von der Thymus zugunsten von Mediastinopericarditis und Pleuritis,
bezw. Lymphdrüsenaffection abgeleugnet hatte. So bliebe ausser dem Demme'-
schen keine erhebliche Anschwellung der Thymus durch Tuberculose sicher
beglaubigt. Aehnlich hat Friedleben auch mit den
bösartigen Neubildungen, den Carcinomen und Sarcomen
der Thymus aufgeräumt und weist bei dieser Arbeit ein von A. Cooper
berichtetes Carcinom der Thymus den normalen Thymushypertrophien
zu. Bemerkenswerth ist aber, dass erhiefür von Suffocationsersch ei-
nungen in Folge Compression der umwachsenen Trachea und
Kreislaufstörung durch Beengung der umwachsenen grossen
Gefässe bei dem 19 jährigen Mädchen zugibt. Ob das von Hennig nach
Zanteson und Key citirte Sarkom der Thymus bei einem 4V2 jährigen Knaben
der FRiEDLEBEN'schen Kritik besseren Widerstand geleistet haben würde, da
auch hier der ausdrückliche Nachweis von in dem Convolut noch vorhandenen
Thymusresten nicht erwähnt ist, bleibe dahingestellt. Dagegen sind in der
Dissertation von Triesethau eine Anzahl Sarkome zusammengestellt, deren
Ausgang von der Thymus durch ihre Beobachter Grützner, Steüdener,
Rosenberg, Bollat u A. in den Jahren 1869—1883 gut belegt erscheint
und wahrscheinlich macht, dass auch sonst noch Mediastinaltumoren, z. B. das
Medullarcarcinom A. Vogel's, öfters von da aus entstehen und die bei Coo-
per erwähnten Folgen haben.
Die Folgen und Erscheinungen der Thymuskrankheiten
sind selten einmal, wie in dem DEMME'schen Fall in einer Allgemeinwirkung,
bis jetzt noch nie, wie schon eingangs hervorgehoben, als Functionsstörung
erkennbar gewesen. Demme's 2^2 jähriger Knabe mit eitriger Thymitis ging
unter heftigem Fieber, Cyanose und Sopor plötzlich zu Grunde. Regelmässig
bemerkbar machen kann sich die erkrankte Thymus nur durch die Wirkung,
welche ihre Anschwellung ausübt, z. B. durch die enormen Blutstauungen,
die Athem- und Schluckbeschwerden in dem eben erwähnten Fall, die bei
manchen anderen Schwellungen, sei es durch Entzündung, Neubildung oder
einfache Hypertrophie, ihr gradweise verschiedenes Analogon finden.
THYMUSFUNCTION — THYMDSKRANKHEITEN. 653
Friedlehen Stellt solche Folgen der einfachen Hypertrophie ganz in
Abrede, ohne indes klare Darlegungen dafür aus den von ihm selbst ange-
führten Beobachtungen zu bringen, unter denen vielmehr eine bei einer Kinder-
section ausdrücklich Stauungserscheinungen aufweist, 2 Kinder im Leben an
Laryngospasmus, 2 Erwachsene an Suttbcationserscheinungen litten. Fried-
leben glaubte, dass an allmälige Hypertrophie die Kinder sich schadlos ge-
wöhnen. Es ist aber undenkbar, dass bei allen Kindern dies der Fall sein
soll, während bei dem unter den Carcinomen erwähnten 19 jährigen Mädchen,
dessen Leiden aber Fkiedlehen für einfache Hypertrophie erklärt, dieser selbst
alle jene schweren Folgeerscheinungen einräumt. Auch Henxic4 gibt Blut-
stauungen als Folge an, die wie bei der Drüse der DEMME'schen Kinder,
welche 16 cm Länge, dem Breite und nur 1'2 cm Dicke maass, sich in stro-
tzender Blutfülle des rechten Herzens, der Hals-, Lungen- und Unterleibs-
venen, der Hyperämie und dem Oedem des Mediastinum sich im höchsten
Maasse äussern sahen. Ausser auf die Gefässe ist aber offenbar auch auf die
Möglichkeit einer Beeinträchtigung der hier liegenden, den Kehlkopf und das
Herz beherrschenden Nerven Bedacht zu nehmen. Dass zudem eine hierorts
erfolgende DrüsenschAvellung die Luftröhre so comprimiren kann, dass eine
Verstopfung des Spaltes raschen Tod herbeiführt, habe ich erst laryngos-
kopisch, dann durch Section bei einer erwachsenen Tuberculosen feststellen
können, bei der das mächtige Paket allerdings mindestens grösstentheils aus
Lymphdrüsen bestand. Eine Compression der Trachea bestand auch in dem
A. CooPER'schen von Feiedlebex als einfache Hypertrophie gedeuteten Fall.
Bei 2 Kindern, die in meiner Behandlung die Krankheit überstanden, blieb
es dahingestellt, ob ein hinter dem gedämpften Sternum in der Luftröhre
entstehendes Stenosengeräusch durch die Thymus oder die Bronchialdrüsen be-
dingt war.
Der physikalische Nachweis einer vergrösserten Thymus wurde
durch Auffinden einer Dämpfung hinter dem oberen Theil des Brustbeins ge-
liefert, w^elche sie allerdings mit der Bronchialdrüsenschwellung gemein hat.
Es wird nun angenommen, dass die Thymusdämpfung nicht so oft, wie die
der Bronchialdrüsen, über die Seiten des Sternums hinausragt, doch wird dies
von der Grösse der Thymusschwellung abhängen; dagegen kann ich nach
meiner Erfahrung als besonderes Kennzeichen für die Bronchialdrüsendämpfung
das überwiegende Vorragen nach einer Seite, vielleicht mehr nach links
anführen, ferner dass diese meist in der Höhe der 2. Rippe endet und dass
sie öfter auch auf dem Rücken zwischen den Schulterblättern nachweisbar ist.
Für Schwellung der Bronchialdrüsen spricht Vorhandensein geschwollener
Lymphdrüsen in der seitlichen untern Halsgegend, die man manchmal von
der Seite her, hinter Clavicula und Brustbeinseite in die Tiefe sich fortsetzen
sieht, während eine geschwollene Thymusdrüse in der Mittellinie über der
Incisura sterni als gewölbte, elastische nach oben convexe Geschwulst vor der
Luftröhre fühlbar werden kann, mehr oder weniger gegen die Schilddrüse
hinaufsteigend. So in dem Fall Demme's und vielleicht bei einem 15 jährigen
Knaben, den ich zur Zeit beobachte und bei dem eine starke Dämpfung hinter
dem Brustbein dafür spricht, dass eine Herzdilatation ohne richtigen Klappen-
fehler mit absolut uncorrigirbarer Pulsbeschleunigung über 120, Brustschmerzen
und Beengungsgefühle auf Compression des Vagus durch eine an der Dära-
pfungsstelle sitzende Geschwulst beruhe. Daran, dass diese Geschwulst der
Thymus angehören könne, lässt das Fühlen der eben beschriebenen über dem
Brustbein vordringenden Schwellung denken. Athmen und Fremitus habe ich
über der Bronchialdrüsengeschwulst gewöhnlich abgeschwächt gefunden; viel-
leicht würde bei der gleichmässigen, nicht vieltheiligen Thymusgeschwulst,
die besser leiten muss, ersteres bronchial, letzteres verstärkt sein. Bei heftiger
Thymitis kann Fieber auftreten, und es kann Hals- und Brustbeingegend
ödematös, bei starker Schwellung letztere vorgetrieben sein.
654 THYMDSFÜNCTION — THYMÜS-KRANKHEITEN.
Bei der Frage, ob Thymusschwellung durch Druck Circulations- und ins-
besondere Athemstörung verursachen könne, scheint mir früher viel zu
wenig der Umstand berücksichtigt worden zu sein, dass die Thymus hoch
oben und mitten im Raum zwischen oberen Brustbeinende und der hier vor-
springenden Wirbelsäule liegt und durch Beengung dieses Raumes drücken
kann, während die Bronchialdrüsen weiter unten und seitlich dieses weniger
thun. Ganz verkehrt ist der Versuch eines neueren Autors, den Druck der
Thymus nach ihrem Gewicht zu bemessen. Auf die Einpressung ihrer Masse
in jenen Raum kommt es an! Nun haben Sänne und viel ausgiebiger Pott
durch Messungen bestimmt, dass jener Raum zwischen Manubrium sterni und
Wirbelsäule im Alter von 0—2 Jahren im Durchschnitt nur 2"5 cm misst, in
einem Alter, wo wir eingangs die Thymus gerade im Verhältnis zu ihrer
Länge und Breite am schwersten, d. i. am dicksten gefunden haben, also eine
relativ geringere Vermehrung ihrer Dicke schon ein beengendes Missverhält-
nis hervorrufen kann. Dass dies thatsächlich entsteht, zeigen die Messungen von
ViECHOw, Geawitz, Scheele, Pott u. A. an vergrösserten Thymen, die in
diesem Alter 2 X 1^ 2 X 1'5 und 5X sogar 2 cm dick gefunden wurden.
Dass in dem verbleibenden Raum Trachea und Gefässe, Herz- und Kehlkopf-
zweige des Vagus gedrückt werden können, lässt sich kaum in Abrede stellen.
Dies scheint mir Feiedleben bei der Kritik des Asthma thymicum
in seinem klassischen Buche zu übersehen und dabei sich behufs Würdigung der
Folgen der Thymusstörungen zu sehr an die Frage gehalten zu haben, ob diese
eine ausreichende Ursache für den gewöhnlichen Laryngospasmus seien oder
nicht. Wenn er dann auch bei grosser Thymus gewöhnlich keine nachweisbar
bleibenden Spuren einer Einwirkung auf die benachbarten (Luft- und Blut-)
Canäle, sowie die Nerven zur Erklärung einer krankhaften Alteration der-
selben und durch dieselben findet, so berücksichtigt er nicht, dass in den
Centralorganen sich ebenso wenig davon findet und er dennoch aus diesen
den Laryngismus erklärt. Aus Feiedleben's eigener Tabelle auf S. 274
aber führt Abelin nach Hennig's Citat den Nachweis, dass unter 60 Fällen
mit kleiner Thymus nur 5, unter 20 Fällen mit grösseren, über 9*6^ schweren
Drüsen 8mal Laryngismus vorgekommen und die meisten Kinder schnell ge-
storben sind. Es ist ja nun wohl zweifellos, dass die bewegende Ursache für
die spasmodischen Anlalle dieser Krankheit nicht mit der, wenn auch etwas
veränderlichen, doch immerhin dauernden Schw^ellung der Thymus oder Bron-
chialdrüsen sich decken kann, vielmehr allgemeine Ursachen (Rachitis) als
solche und wohl auch öfter ohne stärkere Thymusschwellung wirken. Aber
auf der anderen Seite führen die allgemeinen Ursachen oft auch wieder nicht
zu Laryngismus und es kann nicht abgewiesen werden, dass locale Herdzu-
stände die Kraft jener allgemeinen Ursachen nach den Athmungsorganen hin
lenken und dass Thymusschwellung, wie vielleicht auch andere Drüsenerkran-
kungen und sonstige Abnormitäten dieser Gegend solche Wegweiser sind.
Es könnte wohl sein — ist aber bei genauerer Aufmerksamkeit doch
auch noch etwas anders — , dass der Antheil der Thymus auf das Verhält-
nis reducirt ist, das Feiedleben sich dadurch ausdrückt, dass er unter 75
Laryngospasmen nur 7 Thymen über Mittelgrösse fand. Gewiss ist aber, dass
die bekannten mehr oder weniger plötzlichen Todesfälle bei Kindern
durch Thymuskrankheiten hervorgerufen werden können, wie in dem mehr-
fach erwähnten ausgezeichneten Fall vou Demme. Solche Fälle haben nach
älteren Angaben von F. Platee u. A. sich neuerdings in den Beobachtun-
gen von Geawitz, Jacobi, Scheele, Pott und dessen Schüler Teisethau
u. A. gehäuft, wo bei gesunden oder an Laryngospasmus leidenden
Kinder nach plötzlichen Todesfällen nichts gefunden wurde, als Thymen, die
an Gewicht oder Dicke die oben angegebenen Maasse überschritten und zu-
gleich durch Blutfülle und Apoplexien acute Turgescenz zeigten. Es
THYMÜSFÜNCTION — THYMUS-KRANKHEITEN. 655
könnte letztere als Folge und dann wieder neu verstärkte Ursache
des Stickanfalles gelten. So fand sich auch bei dem plötzlich im Wasser
gestorbenen 20 -jährigen Rekruten Noädmaxn's (Schweiz. Corr. - Bl. 1889)
nur eine faustgrosse dunkelrothe (vielleicht durch die Kälte des Wassers zu-
nächst hyperämisch gewordene) Thymusdrüse als Todesursache, der gleiche
Mechanismus in 3 Fällen v. 1ii:cklingiiausj:n's (cit. bei Pott und Tkiese-
THAu). Besonders schlagend scheinen die plötzlichen Todesfälle nach Tracheo-
tomie, wo bei Auelin (cit. von Hennig) nach schwierigem Decanulement
4 Wochen nach der Operation Erstickung eintritt, Wiedereinführung der Ca-
nüle trotz Erweiterung der Trachealwunde nicht gelingt und sich dann bei
„gesunden Athemwegen" „übergrosse Thymus" tindet, noch mehr derjenige
von Kruse und Cahen (D. M. W. 21/90), in dem die Bedingungen des Todes
ungemein klar liegen. Trotz gelungener Tracheotomie am hängenden Kopf
erstickt das Kind, indem die 1-7 cm dicke Thymus das einzige Athemhinder-
nis in einer nur 2*1 cm weiten Brustapertur, in der neben jener noch die
Trachea, Vaguszweige und Oesophagus (und Gefässe) Platz finden sollten,
bildet; durch das Hängen wurde die Thymushyperämie, durch die Aspiration
die Schwellung der Tracheaischleimhaut vermehrt und durch die lordotische
Haltung der Halswirbelsäule jener Raum zwischen ihr und Sternum noch ver-
engt. Die geknickte und gedrückte Trachea Hess keine Luft mehr passiren.
Mit einerebenso auffälligen Beobachtung kann ich selbst
das Beweismaterial verstärken, die ich, bei einem 10 monatlichen
Knaben gemacht, eng an die vorhergehende anschliesst. Derselbe kam mit
stark stenotischem Athem, aber heller Stimme und freiem, auch bei Züchtung
von Diphtheriebacillen sich frei erweisenden Rachen ins Spital. Nach 4 Stunden
wegen Erstickuugsnoth vorgenommene Intubation ändert nichts, der obere
Theil des Sternums ist stark vorgewölbt, gedämpft, es wird Thymusschwellung
vermuthet, aber doch wegen zunehmender Cyanose auch die Tracheotomie
gemacht, die ebenfalls wirkungslos bleibt und auch an dem eingeführten
und wenig eindringenden elastischen Catheter keine Membranen in der Trachea
zeigt: Tod. Die alsbaldige Section ergibt eine stark geschwollene Thymus,
die in der Gegend der Incisura jugularis einen tiefen Eindruck vom oberen
Sternalrand zeigt. Die Drüse ist 7^2 ojHang und reicht oben an die Schild-
drüse, 7 cm breit, 21*6^ schwer und im rechten Lappen 1% im linken 1 cm
dick. Die Thymus umgreift die Trachea etwas. Der Abstand der Wirbel-
säule vom Sternum nach Entfernung aller Weichtheile und Wieder-Ein-
passung des vorher weggenommenen Sternum beträgt TS — 2 cm. Um die
beiden Bronchien herum, sich an die Thymus anschliessend, liegen links eine
wallnussgrosse, rechts ein Paket Drüsen, so gross wie eine Mandel mit Schale.
Die Lungen sind oben gebläht, unten atelektatisch, das Herz ist sehr gross
und auch der linke Ventrikel mit Blut gefüllt. Obwohl an der Luftröhre
keine Compressionsmarke sichtbar ist, war dieselbe doch nach der Tracheo-
tomie für eine dünne Sonde unpassirbar, offenbar wegen Einkeilung
zwischen Sternum, Wirbelsäule und geschwollener Thymus,
wozu hier noch die Bronchialdrüsenschwellung trat, und der Tod
hatte keine andere Ursache als diese Einkeilung.
Während auch Rauchfuss diese unmittelbare Verlegung der Lutt-
wege annimmt, legt Demme nach seinem Fall auf Blutstauung und Gefäss-
compression den Nachdruck. Pott fügt dazu noch Beinträchtigung
der Nerven, um auch mehr aus der Blutstauung im Herzen, als dem Athem
hindernis (Glottisschluss) den Tod zu erklären, was alles theils für sich theils
zusammen wirken kann. Pott hat den Verlauf des tödtlichen Stick-
anfalles wiederholt in folgender Weise beobachtet: Die Kinder biegen plötz-
lich den Kopf nach hinten zurück (Zutritt der Lordose nach Kruse und
656 THYMUSFÜNCTION — THYMUS-KRANKHEITEN.
Cahen), machen lautlose, schnappende Inspirationsbewegung, die Augen ver-
drehen sich, das Gesicht wird blitzblau, die ebenfalls cyanotische Zunge klemmt
sich zwischen die Kiefer, die Halsvenen schwellen an. Die Hände sind geballt,
die Vorderarme pronirt und adducirt, die Beine gestreckt, die grosse Zehe
abducirt und dorsalflectirt, die Wirbelsäule im Bogen nach hinten gekrümmt.
Die Herzthätigkeit, Herztöne und Puls hören mit Eintritt des Anfalls sofort
auf, nach einigen weiteren vergeblichen Inspirationsbewegungen wird das
Gesicht aschgrau und das Kind ist in höchstens 1—2 Minuten eine Leiche.
Pott glaubt, die Stimmbänder mitten an einander liegend gefühlt zu haben,
nimmt aber trotzdem nicht einen Glottisverschluss, sondern einen plötztli-
chen Herzstillstand als Todesursache an, weil zweimal sofortige Tracheoto-
mie mit einem Schnitt ganr erfolglos blieb. Da bliebe in der That nur
der Herzstillstand oder die Compression unterhalb, wie bei Kruse und Cahen
anzunehmen übrig. Der Glottisschluss könnte aber nach meiner
obigen Annahme durch Suff ocationsstauung in Herz und Thy-
mus das Ganze einleiten und auf seine Höhe bringen, DieHals-
wirbellordose beim unwillkürlichen Zurückwerfen des Kopfes
tritt hinzu.
Die Behandlung des Anfalles, die immerhin noch nach Möglichkeit
Momentantracheotomie oder Intubation ins Auge zu fassen hätte, würde damit
noch etwas zur Aufklärung der Ursache beitragen. Vorwärtsbeugen des
Kopfes kann vorausgehen und künstliche Athmungen müssen zutreten. —
Wenn man mehr oder weniger lang vorher eine Tumorbildung hinter dem
Sternum mit oder ohne Athembeschwerden nachweist, so ist bei acuteren
Symptomen lebhafte Antiphlogose mit Eis auf das Sternum, graue Salbe,,
Calomel oder ein anderes Laxans innerlich, bei Kräftigen einige Blut-
egeln am Platz. In chronischen Zuständen kann man von Jodpinselung, Jod-
kalisalbe oder ganz besonders, w^ie ich erfahren zu haben glaube, den Kopenir'-
schen Schmierseife-Einreibungen (^2 — 2 Kaffeel. tägl. auf die Brust) sich etwas
versprechen.
Die einzige umfassende, an Macht des studirten Materials, wie kritischer
Schärfe alle ihre Vorgänger und Nachfolger meist übertreffende Bearbeitung
der Physiologie und Pathologie der Thymus von Friedleben (die Physiologie
der Thymus in Gesundheit und Krankheit, Frankfurt a/M 1858), ist durch
ihre, wie es scheint, über das Ziel schiessende Negation in Bezug auf letztere
zu einem gewissen Verhängnis für die Beobachtung der Thymusanomalien
geworden. Deren Erkenntnis ist dann durch eine eingebürgerte förmliche Ver-
achtung, die jene seitdem erfahren, bei uns Allen nicht gefördert worden. Erst
nach und nach, besonders in den letzten Jahren, haben zahlreichere Mitthei-
lungen wieder etwas mehr Interesse dafür geweckt und sind in der unter Pott
geschriebenen In.-Diss. von Triesethau (Halle 1893), dem 3. Nachtrag zu
Gerhart's Handb. d. Kinderkr. von Hennig (Tübingen 1893), am bemer-
kenswerthesten in der Arbeit von Pott selbst (Jahrb. f. Kinderheilk. XXXIV.
1892) zusammenfassendere Darstellungen versucht worden, die indess alle das
vorhandene Material nicht aus allen Perioden und Zweigen genügend gleich-
massig und erschöpfend bringen, um als eine breite und sichere Unterlage
für weitere Beobachtungen zu dienen. Vielleicht kann die vorliegende kurze
systematische Darstellung dafür einigen Nutzen stiften, den wohl jedenfalls,
dass die Kenntnis der bisherigen Thatsachen ein Verlangen erweckt, in allen
geeigneten Fällen (wie z. B. in dem meinen) zu untersuchen, wie viel wirklich
Beachtenswerthes für die Pathologie von dem bis jetzt Bekannten in Geltung
bleibt oder zu ihm hinzukommt.
biedert.
THYREOIDEAFÜNCTION-THYßEOIDEAKRANKHEITEN. 657
Thyreoideafunction-Thyreoideakrankheiten. Die Schilddrüse wurde
bis in die neueste Zeit als ein räthselhaftes Organ unbekannter Function
bezeichnet. Die liäthsel ihres Zweckes sind durch die Forschungen der Gegen-
wart einigennaassen geklärt, ihre genaue physiologische Thätigkeit aber
noch keineswegs bekannt.
Die unbedingte Wichtigkeit der Thyreoidea für das Leben des Organis-
mus hat zwar schon der Physiologe Schiff im Jahre 1856 betont, die Be-
deutung dieses Ausspruches lernte mau jedoch erst würdigen, als Revkkdix
im Jahre 1882 auf jenes schwere Krankheitsbild aufmerksam machte, das
nach totalen Kropfexstirpationen auftritt: das Myxoedeme operatoire. Eine Reihe
experimenteller Untersuchungen, chirurgischer Beobachtungen und endlich
Erfahrungen der Organtherapie haben einiges Licht auf die functionellen Auf-
gaben der Schilddrüse geworfen. Dass in dieser Richtung wieder ein wenig
zu viel „im freudigen Taumel über die neue Entdeckung" geleistet wurde,
wird eine besonnene Kritik der vorliegenden Thatsachen zeigen.
Die Schilddrüse, Glandula tliijreoidea. liegt mit ihren paarigen Lappen anf der Car-
tilago thyreoidea, während das verbindende Stück, der Isthmus, auf den obersten Luft-
röhrenknorpelringen aufruht. Das gefässreiche Parenchj^m ist in eine fibröse Hülle, Tunica
propria glandulae thyreoideae eingeschlossen und besteht histologisch aus Läppchen, die
durch die von der Bindegewebskapsel ausgehenden Septa von einander geschieden werden.
Jedes dieser Läppchen ist aus kugeligen Zellen (Bläschen) zusammengesetzt. Jedes Bläs-
chen (B'ollikel) besteht aus einer Membrana propria, einer cubischen Epithellage und
enthält in seinem Binnenraum eine coUoide Masse. Zwischen den Follikelbläschen findet
man Lymphcapillaren, die in interlobäre Lymphgefässe einmünden. Ausführungsgänge,
von welchen, wie Hyrtl sagt, eine Reihe von Autoren „träumten", existiren weder beim
Erwachsenen noch beim Embryo. Auch von einer Communication zwischen Bläschen und
Lymphbahnen ist nichts bekannt.
Die Vorderfläche der Schilddrüse bedeckt der Musculus sternothyreoidalis, die Hinter-
fläche der Seitenlappen kreuzt der Stamm der Carotis communis. Vom Isthmus aus geht
zuweilen ein unpaariger Fortsatz Processus pyramidalis s. Cornu medium (die Seitenlappen
werden auch als Cornua lateralia bezeichnet) zum oberen Rand einer der Schildknorpel-
platten.
Das Organ entwickelt sich aus dem Epithel der Schlundwand in der Höhe des
zweiten Kiemenbogens. Die vergleichende Anatomie lehrt, dass das Organ nicht blos bei
complicirt organisirten Wirbelthieren sich findet, sondern auch bei den niedrigsten Gattun-
gen der Fische z. B. beim Petromyzon. Nebenschilddrüsen finden sich häufig bei Säuge-
thieren, aber auch beim Menschen.
Die Thyreoidea kann denselben pathologischen Veränderungen
unterliegen wie jedes andere Organ, worunter gewisse Processe durch die
damit verbundenen Folgen den Stempel specifischer Eigenheiten tragen.
Entzündungen der Thyreoidea führen meist zu Abscessen und
sind hei richtig eingeleiteter Behandlung prognostisch günstig zu beurtheilen.
Von den chronischen Infecten kann die Schilddrüse betreffen: die
Tuberculose, die Lues und die Actinomykose — sehr seltene Erkran-
kungsformen.
Viel häufiger sind Tumoren*) man beobachtet Carcinome und Sarcome.
Am häufigsten ist jene Erkrankung der Schilddrüse, die wir als Kropf
{Struma), schlechtweg eine Hypertrophie, die in verschiedenen Formen und
Typen auftritt, als einfache Parenchymvergrösserung (Ä^rw»ia^are^?t;%ma^osa),
als Volumszunahme bedingt durch Erweiterung der G^ik^SQ : {Struma vascu-
losa), als durch Confluenz der Follikel bedingte Cystenbildung {Struma cystica),
als Bindegewebswucherung mit oder ohne Knochen-Knorpeleinlagerung {Struma
^brosa, calcißcans, ossißcans).
Als Ursache der Hypertrophie der Schilddrüse werden sexuale
Leiden, namentlich Erkrankungen der weiblichen Fortpflanzuugsorgane, ferner
ene Momente, welche gleichzeitig zum Emphysem führen können (lautes
Schreien, Trompetenblasen etc.), endlich gewisse miasmatische Einflüsse ange-
sehen. Was speciell die letztere betrifft, so sollen gewisse Formationen des
*) Vergl. Artikel „Neubildungen innerer Oxgane" Bd. III, pag. 34.
Bibl. med. Wissen Schäften. Interne Medicin und Kinderkrantheiten. I. Bd. III. 4^
658 THYREOIDEAFÜNCTION-THYREOIDEAKRANKHEITEN.
Bodens an einzelnen Orten unserer Erde zu den bekannten, schweren Kröpf-
end emien Veranlassung geben.
Die Atrophie der Schilddrüse kann das Endstadium eines Ent-
zündungsprocesses bilden, kann aber auch direct und spontan vermöge here-
ditärer Anlage, bei schweren Constitutions-, Nerven-, Geschlechtserkrankungen
entstehen.
Durch Baumann's Untersuchungen wurde das Thyrojodin als der specifisch wirk-
same Stoff der Schilddrüse festgestellt, wodurch freilich nicht ausgeschlossen ist, dass auch
andei'e Producte der Drüse physiologisch wirksam sein können. Die characteristische
Wirkung des Thyrojodins ist 1. sein Einfiuss auf Kröpfe, 2. die Beeinflussung des Stoff-
wechsels (Vermehrte Ausscheidung, von Chlor, Stickstoff und Phosphorsäure — Zersetzung
von Körpereiweiss und Fett — diuretische Wirkung.), 3. Intoxicationsymptome bei grösseren
Dosen, 4. Specifische Wirkung bei Myxoedem. Dagegen soll Thyrojodin nach Notkins Erfah-
rungen unwirksam sein gegen die Tetaniekrämpfe trotz des gegentheiligen Berichtes Hof-
meisters. Fränkel hat aus der Schilddrüse einen Stoff gewonnen, das Thyreoantitoxin
welcher die nach Thyroidectomie auftretenden Krampte beseitigen soll. Notkin ist es gelun-
gen, aus den Schilddrüsen einen Eiweisstoff darzustellen, das Thyroproteid, den er
aber nicht für ein Schilddrüsensecret, sondern für ein Product des allgemeinen Stoffum-
satzes ansieht. Die Function der Schilddrüse bestehe nur darin, dieses giftige Stoffwechsel-
product aus dem Blute zu sammeln und. in ungiftige Bestandtheile zu spalten, wobei die
Eiweisscomponente sich zur Thyrojodinverbindung Baumann's vereinigt.
Der Functionsstörung nach theilt man die Thyreoideaaffectionen ein in
Athyrea, die Schilddrüsenfunction ist beschränkt oder aufgehoben, Hyper-
thyrea, die Secretion der Thyreoidea ist abnorm vermehrt und Dysthyrea,
die Schilddrüse secernirt nur qualitativ nicht quantitativ, verändert.
Die durch Atrophie bedingte Athyrea findet sich bei jenem Krank-
heitsbild, das wir als Myxoedem "^) bezeichnen. Es ist gegenwärtig unzweifel-
haft festgestellt, dass diese seltene, namentlich in England, in vereinzelten
Fällen auch in Frankreich und Deutschland beobachtete Krankheit ursächlich
auf einen Functionsverlust der Schilddrüse zurückzuführen ist. Dasselbe Bild
des Myxoedems entwickelt sich nach totaler Exstirpation des Kropfes: Mi/x-
oedeme operatoire (Reverdin, Kochee, Miculicz, Bircher, v. Eiselsbeeg u. A.)
Zwischen den Symptomen des operativen und spontanen Myxoedem
zeigt sich jedoch insoferne ein Unterschied, als bei ersterem, dem ein plötz-
licher Verlust der Schilddrüsenfunction zu Grunde liegt, heftige ßeizerschei-
nungen des Nervensystems unter dem Bilde der Tetanie auftreten, während
beim spontanen Myxoedem, der eine allmälige Atrophie der Drüse zu Grunde
liegt, das Symptom der Tetanie fehlt.
Die Ursache der eben besprochenen Atrophie, die zu Myxoedem
führt, ist in der Mehrzahl der Fälle unbekannt, in einigen war ein Infect
nachweisbar, so in zwei Fällen Köhler's, einmal Syphilis, ein andermal
Actinomykose. In diesen Fällen führte die antisyphilitische Cur resp. Aus-
kratzung der erkrankten Partien zur Besserung der Myxoedemerkrankung.
Interessant sind die von Hofmeister, Rogowitsch, Stieda, Gley u. A. aufgedeckten
Beziehungen zwischen Schilddrüse und jener räthselhaften Drüse, die, an der Basis des
Gehirns auf der Sella turcica gelegen, als Hypophysis cerebri bezeichnet wird. Die-
selben gründen sich wesentlich auf zwei Thatsachen. 1. Die Thyreodectomie wird von jenen
Thieren „besser vertragen", welche eine grosse, gut entwickelte Hypophyse besitzen. 2. Nach
experimenteller Thyreodectomie tritt eine deutliche, progressive Vergrösserung der Hypo-
physis auf. Nach Hofmeister muss man annehmen, dass „die Hypophyse im Stande ist,
den Ausfall der Schilddrüse durch vikariirende Hypertrophie mit der Zeit wenigstens theil-
weise zu compensiren."
Als Hyperthyrea, abnorme starke Schilddrüsensecretion wird jene
Krankheit aufgefasst, zu deren Hauptsymptomen die Entwicklung einer soge-
nannten Struma vasculosa (s. o.) gehört: der Morbus Basedowii s. Gravesii.
Die überwiegende Mehrzahl der Autoren so insbesondere Möbius, Greenfield ^
u. A., sehen das Wesen des Basedow in einer gestörten Function der Thyre-
oidea im Sinne einer abnorm gesteigerten Drüsenthätigkeit, Rehn im Sinne]
•=) Vergl. Artikel „Myxoedem'', Bd. IL pag. 809.
THYREOIDEAFÜNCTION-THYREOIDEAKRANKHEITEN. 659
einer qualitativ veränderten Secretion (Dystliyrea), während andere wie
z. B. BusciiAN die Meinung vertreten, der Basedow sei eine allgemeine
Neurose und die Schilddrüse sei dabei nicht immer, gewiss aber nicht primär
sondern nur secundär erkrankt. *) Die sichere Entscheidung über diese Streit-
frage liegt in dem Etiect der bei Basedow ausgeführten Operationen. Die-
selben bestehen in Ligatur der Arterien und hiedurch erzielte Verkleinerung
der Drüse reps. Beschränkung ihrer Secretion und in theilweiser Excision des
erkrankten Organs. Leider sind aber bisher die damit erzielten Resultate
zweifelhaft und unsicher. Dasselbe gilt von den Erfolgen der bei der Krank-
heit angewendeten Schilddrüsentherapie (Bruns, u. A.) man will normales
Schilddrüsensecret einführen, um die vorhandene Dysthyrea (eine Hyperthyrea
anzunehmen wäre von diesem therapeutischen Standpunkte aus unsinnig) zu eli-
miniren.
Auf eine abnorme Function der Schilddrüse hat man ferner den ende-
mischen Cretinismus einerseits und die Rachitis foetalis anderseits zurück-
zuführen gesucht, indem man eine gewisse Zusammengehörigkeit dieser patho-
logischen Processe mit dem Myxoedem zu entdecken glaubte (Gull, Charcot,
HüKSLLY, Kocher u. A.)
Als Cretins bezeichnet man mangelhaft entwickelte Individuen mit
schweren Störungen des Intellectes. Nach Bircher wäre für das spora-
dische Vorkommen derartiger „Missgestalten des Körpers und der Psyche"
die Bezeichnung Idiotie zu wählen, während der Cretinismus eine ende-
mische Krankheit darstellt, entstanden durch eine Infection, die während der
„Wachsthumsperiode irreparable Veränderungen im Körper verursacht." Nach
Bircher's Untersuchungen, rührt der Infect von gewissen Ablagerungen auf
der Erdrinde her und stellt wahrscheinlich ein organisches Miasma dar,
welches durch das Trinkwasser in dem Körper gelangt. Eine gewöhnliche
Folge dieses Infectes ist die Entwicklung eines Kropfes und daherkommt es,
dass auch der Kropf in gewissen Gegenden endemisch auftritt. Anderseits
ist es aber auch unzweifelhaft, dass die Cretins normale und gut functio-
nirende Schilddrüsen besitzen können, die cretinische Degeneration also
keineswegs auf einen Wegfall der Schilddrüsenfunction zurückgeführt wer-
den kann.
Was die Rachitis foetalis betrifft, so wissen wir seit E. Kaufmann's
Untersuchungen, dass es sich um eine mangelhafte Ossification im Foetalleben
handelt, die Kaufmann als Chondrodysthrophie bezeichnet und in 2 Formen auf-
tritt, als hypoplastisches, torpides Wachsthum und endlich als hyper-
plastisches, ungeordnetes Wachsthum. Die mit Rachitis foetalis behafteten
Früchte zeigen einen plumpen Körper, grossen Kopf und kurze, missgestaltete
Extremitäten. Im 5. — 8. Monate des Extrauterinlebens zeigt sich an zahl-
reichen, derartigen Kindern die cretinische Degeneration. Es sind dies jene
Fälle, in denen das Wachsthum hyperplastisch vor sich gegangen. In den
Fällen von hypoplastischer Chondrodystrophie kommt es nicht zum Cretinis-
mus, den Endausgang des Krankheitsprocesses bildet ein mehr oder minder
entwickelter Zwergwuchs. Nach Bircher müssen erst weitere Untersuchun-
gen lehren, inwiefern die beiden genannten Formen von Knorpelwachs-
thumsstörungen zwei verschiedene Processe sind.
Wenn wir nun auch durch Hofmeister's experimentelle Arbeiten wissen,
dass bei thyreoidektomivten Kaninchen Knorpelerkrankungen auftreten, so ist
doch eine Identität dieser experimentell erzeugten Chondro-
dystrophie mit derfoetalen nicht zu erweisen. In einer Reihe von
Fällen foetaler Chondrodystrophie (Rachitis foetalis), in denen das Verhalten
der Schilddrüse untersucht wurde; zeigt sich in der Mehrzahl, das Thyreoidea-
*) Vergl, auch Artikel „BASEDOw'ÄcZje Kranhheit'^ Bd. I, j^^ff- lö3.
42*
660 TIC CONVÜLSIF.
gewebe unverändert, in der Minderzahl war die Tiiyreoiddrüse etwas ver-
grössert.
Hiemit wären in grossen Zügen jene Thatsachen hervorgehoben, welche
die Beziehungen der Schilddrüsenfunction und ihrer Störungen zu schweren
Allgemeinerkrankungen des Organismus darstellen oder wenigstens in diesem
Sinne gedeutet wurden. Es ist zu hoffen, dass noch weitere Arbeiten die
nöthige Aufklärung bezüglich mancher Punkte und Streitfragen in diesem noch
dunklen Forschungsgebiete bieten werden. jul weiss.
Tic COnVUlsif= Gesiditskrampf^ mimischer Gesichtskrampf, Facialis-
krampf, Prosopospasmus, ein seltenes Leiden, welches, wie der Name sagt, in
einem Krampf der Gesichtsmuskulatur besteht, welcher sich aus zeitlich un-
regelmässigen, tonischen und klonischen Contractionen verschiedener Dauer
mit mehr oder weniger langem Intervallen zusammensetzt. In einem Falle,
welcher den Typus für die Form dieses Leidens bilden dürfte, sieht die be-
treffende Gesichtshälfte aus, als ob der zu ihr gehörige Facialis-Stamm durch
einen starken faradischen Strom gereizt würde. Es wird fast immer nur
eine Gesichtshälfte von diesem Krampf befallen; der Lieblingssitz, an dem
auch meistens das Leiden seinen Anfang nimmt, ist die Umgebung des Auges
und der Musculus zygomaticus. (Der tonische, nicht selten für sich allein
bestehende Krampf im Gebiet des orbicularis palpebrarum heisst als solcher
Blepharospasmus, als klonischer Krampfspasmus Nictitatio).
Wenn eine Erkältung einen Gesichtskrampf auslösen sollte {idiopathische
Form), so gehört dazu eine ganz besondere Disposition des betreffenden Indi-
viduums für krampfartige Zustände. Das gleiche ist der Fall bei dem eine
Trigeminus-Neuralgie begleitenden oder einer Paralyse {Hemiplegie^ Paralysis
agitans, Tetanie) folgenden Tic convulsif. Anämie, Chlorose, Neurasthenie
haben ebensowenig wie die Hysterie, was Gowees in seinem trefflichen Lehr-
buch der Nervenkrankheiten von den letzteren besonders betont, als Nährboden
Einfluss auf diese Krankheit. Und wenn von einigen Fällen behauptet wird,
dass sie bei Arbeitern unter der Einwirkung grosser Hitze aufgetreten sind,
so spielt auch hierbei die individuelle Anlage des Nervensystems zu Krank-
heiten in Krampfformen die allererste Rolle. Dementsprechend stellen auch
die Frauen, besonders in den mittleren Lebensjahren (30 bis 60 nach Gowers)
das grösste Contingent dazu. Erwähnt soll es werden, dass unter der eben
genannten Vorbedingung von heissblüthigen Elektrotherapeuten, die für die
Anwendung starker Mittel schwärmen, Kunstformen dieser Krampfart durch
Faradisation gelähmter Facialis-Gebiete hervorgerufen worden sind.
Die reizbare Schwäche der Nerven, welche den Eintritt des Gesichts-
krampfes voraussetzt, macht es erklärlich, dass die daran leidenden Kranken
den Einfluss geistiger und körperlicher Erregungen, sowie von Luft-, Geräusch-
und Kälteeinwirkungen sofort durch gesteigerte Muskelaktionen beantworten.
Der nahe Zusammenhang mit neuralgischen Zuständen andererseits lässt es
nicht Wunder nehmen, wenn auch hierbei einige charakteristische Symptome
der Neuralgie in Gestalt der bekannten VALLEix'schen Schmerzdruckpunkte
nicht vermisst werden.
In jedem Falle ist es nothwendig, sich über den Sitz der Affektion
möglichst Klarheit zu verschaffen. Unter Zuziehung des ätiologischen Mo-
mentes ist vorerst zwischen „primär" (idiopathisch) oder „secundär" zu unter-
scheiden. Die letztere Diagnose wird gestützt durch vorangegangene oder
folgende Neuralgieen oder Lähmungen. Ist der Krampf einseitig, — er kann
auch nur partiell, z. B. auf den Musculus zygomaticus beschränkt sein — so
ist an eine kortikale Läsion zu denken, und zwar an der bekannten Stelle
der vorderen Centralwindung der entgegengesetzten Seite. Auf die gleiche
TOXICOSEN. 661
Ursache dürften auch die nach Zangengeburten und nach Kopfcontusionen
zuweilen auftretenden Gesichtskrämpfe zurückzuführen sein.
Einige Fälle sind bekannt, in welchen diese Krankheit durch ein Chole-
steatom (Rosentiial), ein Sarkom oder ein Aneurysma der arteria vertehralis,
welche auf den an der Basis cerebri liegenden Stamm des Facialis drückten,
hervorgebracht wurde.
Wenn, wie bei den der Trigerainus-Neuralgie folgenden Formen, ein
Retlexkrampf anzunehmen ist, so muss der Sitz der Affection in den bulbären
Facialiskern verlegt werden (Hitzig) und auch die bei Epilepsie, Eclampsie,
Chorea auftretenden Krämpfe dürften das gleiche Vermittelungscentrum be-
anspruchen. Die periphere Reizung des Facialis, z. B. im FALLOPi'schen Canal-
durch die vielen liekannten Ursachen, scheinen verhältnismässig selten Gesichts-
krärapfe auszulösen.
Die Therapie dieses hartnäckigen Leidens ist zwar vielseitig, aber
wenig aussichtsvoll, besonders natürlich in den organischen Fällen, falls sie
keiner Operation zugänglich sind, aber auch in den anderen, vielleicht man-
gels der gehörigen Erkenntnis über den Ort, an dem die Therapie recht
eigentlich einzusetzen hat. Ich selber bin bei Behandlung des Facialiskrampfes
immer sehr unglücklich gewesen. In einem Falle, so erzählt Gowers, haben
Arsen, Brom und Canuabis indica eine Heilung herbeigeführt, in einem
anderen subcutane Strychnininjectionen; auch Atropin- und Morphium-Ein-
spritzungen sollen sich bewährt haben. Von der Elektricität sagt Gowers,
dass sie bei 9—10 der Fälle nicht einmal Erleichterung verschaffe — alles
in allem trostlose Aussichten für die armen Kranken! Besser in der Prognose
sind natürlich die partiellen Krämpfe (Blepharospasmus, Nictitatio).
In der Episode des Furor für die Nervendehnung, dehnte man auch den
Facialis, wenn er sich im Krampfzustand zeigte. Die darauf gesetzten Hoff-
nungen haben sich nicht erfüllt. Unter 34 von Godlee und Keex gesam-
melten Fällen (Gowers) war die Krankheit einmal 2 Jahre und ein andermal
6 Monate weggeblieben, während im übrigen kein Resultat erzielt wurde.
Gowers meint, man solle den Versuch der Nervendehnung nur auf Fälle
beschränken, in denen eine Affection des Facialiskernes anzunehmen ist.
ARTHUR SPERLIX6.
ToxiCOSen. {Toxische Krankheiten, Intoxicationen, Vergiftungen). Der
Begriff „Gift" im Sinne des Laien deckt sich keineswegs mit den Anschau-
ungen der Medicin über das Wesen eines „Giftes." Der Laie spricht jene
Substanzen als giftig an, bei denen die Einnahme schon relativ geringer
Mengen schwere, das Leben bedi^ohende Erscheinungen hervorruft. Die wissen-
schaftliche Toxikologie hat hingegen die Erkenntnis geschaffen, dass zahlreiche
Substanzen nur gelegentlich und unter gewissen Umständen toxisch wirken
und dann als „Gifte" bezeichnet werden müssen. Auch das Moment der Ein-
führung in den Organismus kann entfallen, da es auch Gifte gibt, die im
Körper selbst unter gewissen Verhältnissen ihre Entstehungsbedingungen
finden. Nach Kobert wären die Gifte zu definiren „als theils unorganische,
theils organische im Organismus entstehende oder von aussen eingeführte,
theils künstlich dargestellte, theils in der Natur vorgebildete, nicht organisirte
Stoffe, welche durch ihre chemische Natur unter gewissen Bedingungen irgend
welches Organ lebender Wesen so beeinträchtigen, dass die Gesundheit oder
das relative Wohlbefinden dieser Wesen dadurch vorübergehend oder dauernd
schwer beeinträchtigt wird."
Ihrer Herkunft nach stammen die Gifte aus dem Mineral-, Pflanze n-
und Thierreiche. Sie werden zu technisch-gewerblichen und arzneilichen
Zwecken aus verschiedenen Substanzen künstlich dargestellt. Sie entstehen
endlich im Körper der Organismen durch Krankheitsprocesse.
662 TOXICOSEN.
Die Bedingungen der Giftwirkung gehen von zwei Hauptfactoren aus:
I. Von Seiten der Substanz und zwar:
1. Chemische Constitution,
2. Quantität.
3. Physikalische Eigenschaften (Temperatur, Lösung, Concentration.)
4. Alter des Stoffes.
IL Von Seiten des Organismus.
1. Disposition der Race und Nation.
2. Disposition der Familie.
3. Disposition des Alters..
4. Disposition des Individuums.
III. Von der Äpplicationsart des Giftes:
Interne, subcutane, intravenöse, rectale, vaginale Einverleibung.
V. Jaksch, der den Begriff „Toxicose" statt des Terminus, „Intoxi-
cation" vorgeschlagen hat, unterscheidet exogene Toxicosen d. h. jene, bei
denen das Gift von aussen dem Organismus zugeführt wurde und endogene
Toxicosen jene, wobei der Giftstoff sich im Innern des Körpers bildet.
Zu den exogenen Toxinen gehören die Vergiftungen mit Säuren,
Alkalien, Metalloiden, Metallen, Alkaloiden etc., ferner mit Schlangengift,
Muschelgift, Wurst-, Fleisch-, Käsegiften etc.
Die endogenen Toxicosen theilt v. Jaksch ein in
1. Retentionstoxicosen, dadurch entstehend, dass normale Producte
des Stoffwechsels unter bestimmten Bedingungen im Organismus angehäuft,
VergiftuDgserscheinungen erzeugen, {hidol-, Skatol-, Schicefelwasserstoß'vergif-
tungen hei incarcerirten Hernien oder Enterostenose, CO Anhäufung im Blute
hei Herz- und Lungenafedion, urämische Symptome hei Harnorganerkran-
kungen).
2. Nosotoxicosen, die entweder dadurch zu Stande kommen, dass
die Zersetzung der eingeführten Nahrungsstoffe (Kohlehydrate, Fette, Eiweiss-
körper) qualitativ oder quantitativ abnorm abläuft {Bildung von Aceton,
Acetessigsäure, Fettsäuren) oder ein in den Organismus eingedrungenes Con-
tagium vivum aus den vorhandenen Nährsubstanzen giftige Stoffe bildet
[Bildung von Toxalbumitien, Pliytalbuminen, Diaminen.)
3. Auto toxicosen, Processe, bei denen sich im Körper aus normalen
oder pathologischen Producten, die an und für sich keine Giftstoffe sind,
giftige Substanzen entwickeln oder bei welchen in einem bestimmten Körper-
abschnitte normale aber giftige, physiologische Producte in so grosser Menge
sich (bilden, dass trotz normaler Excretion Intoxicationserscheinungen auf-
treten. {Guaninintoxication hei Eiterretention, Amoniaemiej H^S Vergiftung hei
abnormer Darmgährung .)
In eine specielle Besprechung einzelner Vergiftungen können wir an
dieser Stelle nicht eingehen, da dies wiederholt an anderen Orten dieses
Sammelwerkes geschehen ist. Bezüglich der exogenen Toxicosen verweisen
wir auf den Artikel „ Vergiftungen'-^ und auf die in alphabetischer Reihen-
folge auch rücksichtlich ihrer toxikologischen Eigenschaften abgehandelten
Stoffe im Bande „ Pharmakologie- loxikologie.'"''
Die Retentionstoxicosen, Nosotoxicosen und Autotoxicosen
sind in den Artikeln ^^Amoniaemie" (Bd. I, pag. 46), „ Autointoxication" (Bd. I,
pag. 140), „Cachexie'' (Bd. I, pag. 238) C^/cmose (Bd. I, pag. 351), Harnsäure-
dyskrasie (Bd II pag. 1), Icterus (Bd. II pag. 194:), Infect und Autointoxication
(Bd. II, pag. 300 1, Intoxicationspsychosen (Bd. II, pag. 340), Säurevergiftung
(Bd. III, pag. 410), Stofwechselanomalien (Bd. III, pag. 532), Suprarenal-
TOXICOSEN. 66^
drUsenfunction (Bd. III, pag. 550), Thjmnsfunction, (Bd. III, pag. 649), Thp^oi-
deafunction (Bd. III, pag. 657) zur speciellen Besprechung gekommen. Die
Wirkung der Stoftwecliselgifte sind in den die einzelnen tStotiwechselkrank-
lieiten beliaudelnden Artikeln beschrieben, während die Einflüsse von Infec-
tionsgiften auf den Organismen in den die Infectionskraiikheiten besprechenden
Artikeln geschildert werden.
Die Gifte beeinflussen mehr oder minder alle Organe, stärker oder schwächer
je nach dem Ort ihrer Genese resp. der Möglichkeit innerhalb des Organis-
mus die einzelnen Organe zu erreichen. Doch haben anderseits einzelne Gifte
ganz besondere Neigung bestimmte Organe anzugreifen, so entstehen
Krankheitstypen, welche geradezu selbstständige Geltung haben.
So haben gewisse Gifte eine specielle Afflnität zum Nervensystem und
erzeugen speciflsche, für den Internisten wichtige Krankheitsbilder und zwar
wirken vorzugsweise peripher: der Alkohol (Alkohollähmung), das Blei
(Bleilähmung), das Arsen (Arsenlähmung), das Diphterietoxin (Diphterieläh-
mung), die septischen Puerperalgifte (Puerperal-Lähmung) etc. Dagegen vor-
zugsweise central: Das Mutterkorn (Ergotismus convulsivus) das Latyrusgift
(endemische, spastische Myelitis bei Völkern Afrikas und Indiens) das Pella-
gragift (Bild der amyotrophischen Lateralsklerose) etc.
Die wichtigsten Ciiaracteristica der toxischen Lähmungen seien folgendermaas-
sen gegenübergestellt.
AlkoholUihmiiiig: Vorzugsweise betroffen werden die Extensoren der Unterarme und
Unterschenkel, insbesondere das Peroneusgebiet. Lancinirende Schmerzen in den erkrank-
ten Extremitäten. Mehr oder minder schwere atactische Bewegungsstörungen {Pseudotabes
alcoholica). Typische Contraciuren in den Gelenken.
Arseniklähmung: betrifft die unteren Extremitäten, beginnt mit intensiven Schmerzen
und führt zxir vollständigen Paraplegie mit hochgradiger Abmagerung der gelähmten
Muskeln.
Beri-Berilähmung vid. Artikel „TropenJcrankheiten^
Bleilälimung : betrifft überwiegend die oberen Extremitäten in erster Linie das
Radialisgebiet (Musculi extensores) später die Musculi interossei doch werden auch isolirte
Handmuskellähmungen (Interossei, Thenar, Antithenar) und isolirte Schulterarm-
lähmungen (Deltoideus, Biceps, Bracliialis) beobachtet. (Vergl. Artikel ^Bleilälimung"
Bd. I, pag. 165).
Diphtherieiähmixng: betrifft vorzungsweise Gaumen, Augenmuskeln, und Muskeln der
unteren Extremität. (Vergl. Artikel „Diphtherie'' Bd. I, pag. 4iH0).
Dysenterielähmiuig beobachtet nach schweren Enteritiden, auch im Kmdesalter
vorkommend.
Infectionslähmimg: ohne specielle Kennzeichen auftretende Lähmungen nach Typhus,
Piheumatismus, Cholera, Variola, Morbilli, Scarlatina, Erysipel.
Malarialähmung : im Quotidian- oder Tertiantypus auftretende intermittirende Läh-
mungen, oft nur von stundenlanger Dauer.
Mutterkornlähmung: atrophische Lähmung ohne bestimmte Localisation meist mit
hochgradigen Contracturen einhergehend.
Phosphorlähmung in der Form von Mono- und Paraplegien nach acuten und chro-
nischen Phosphor-Vergiftungen beobachtet.
Schwefelkohlenstofflähmung kommen bei Arbeitern von Kautschukfabriken vor
und besitzen keinen bestimmten Typus.
Von allen vorstehend aufgezählten toxischen Lähmungen ist nicht vollkommen klar
gestellt, in wie weit dieselben den Polyneuritiden oder den Spinalaffectionen beigezählt
werden sollen, wenn auch in neuester Zeit eine gewisse vermittelnde Anschauung zwischen
Nerven- und Rückenmarkserkrankung zur Geltung gekommen ist. (Vergl. Artikel ^Poly-
')tßiii'itz^ m Qs Bei 1
Toxische Aflinitäten zum Intestinaltract haben Blei, Nicotin, Alkohol
u. A., während die Leber neben dem syphilitischen Infect gleichfalls der
Alkohol am häufigsten toxisch beeinflusst.
Auch auf das Auge") wirken die letztgenannten Gifte mit besonderer
Frequenz ein {Tabaks- und Ällcoholamhlyopie)
Die Blutgefässe werden in specitischer Weise durch die Mutterkorn-
vergiftung beeinflusst {Ergotismus gangränosus).
*) Vergl. Artikel ..Intoxicationsamhlyopien'-'' im Bd. „Augenkrankheiten."
664 TRIGEMINÜS-NEURALGIE.
Inhalation giftiger Gase erzeugen Kehlkopf- und Lungenaffectionen.
Einwirkung ätzender Substanzen auf die Haut bedingen Dermatitiden, Ek-
zeme, Panaritien.
Gewisse Berufsarten sind je nach ihrer Beschäftigung zu gewissen toxischen
Krankheiten prädisponirt, so entstehen die sogenannten ^Getverblichen Ver-
giftungen." R.
TrigeminUS-Neuralgie. Die Trigeminus-Neuralgie (Prosopalgie, Tic
douloureux) (A^BRE n 66), Fotheegill's „2^ainful affection of the face" (1773)
ist ein häufig vorkommendes, sehr schmerzhaftes Leiden, welches öfter Frauen
wie Männer befällt und die Jahre zwischen dem 30. und 60. bevorzugt.
Einmal sah ich eine sehr heftige 'Trigeminus-Neuralgie bei einem skrophulösen
Mädchen von 13 Jahren, durch Ueberanstrengung beim Turnen entstanden,
einmal bei einem Greise von 70 Jahren; doch das sind im Allgemeinen seltene
Fälle.
Aetiologie. Die Trigeminus-Neuralgie zählt zu den „constituti-
nellen Neuralgien" (vgl. d. Art. ^^Neuralgie^^), als deren Typus sie
gewissermaassen zu betrachten ist. ¥/ahrscheinlich gibt es sehr wenige Tri-
geminus-Neuralgien, welche nicht eine constitutionelle, d. h. ererbte oder
erworbene Schwächung oder Störung des Blutes oder der Gewebe, insbesondere
des Nervensystems zum Nährboden haben. Im späteren Alter spielen, wie
GowERS sehr richtig betont, ausser Syphilis, Diabetes, Tuberculose u. s. w.
besonders auch Gicht und Rheumatismus die grösste Rolle. Die Ursache,
welche die Trigeminus-Neuralgie wirklich auslöst und zum Ausbruch bringt,
ist meistens nur als eine accidentelle Schädlichkeit zu betrachten. Dies ist
der leitende Gesichtspunkt, von welchem bei der Diagnose, bei der Prognose,
und bei der Therapie ausgegangen werden muss.
Als accidentelle Schädlichkeiten dienen oft winzige Zufälle: eine Er-
kältung, ein Stoss, eine psychische Erschütterung, eine forcirte Kaltwasser-,
Bade- und Trinkcur.
Ebenso wichtig wie die Feststellung einer Constitutionsanomalie und
deren entsprechende Behandlung ist die diagnostische Sicherheit über den
Sitz der Krankheitsursache. Es ist nämlich durch die Erfahrung erwiesen
worden, dass nicht allein eine Erkrankung des Trigeminus selber zur Neu-
ralgie führen kann, sondern dass auch auf dem Wege des Reflexes das Bild
einer Trigeminus-Neuralgie hervorgebracht werden kann. So sahen Cerise
und V. Holst heftige Trigeminus-Neuralgien nach Entfernung eines uterinen
Tumors, bezw. nach der Amputation der indurirten Vaginalportion schwinden.
Ich selber heilte eine schwere Trigeminus-Neuralgie durch mehrere Galvani-
sationen des Magens (Sperling, „Elektrotherapeutische Studien" 1891). Fälle
von Neuralgien, welche nach Extraction eines kranken Zahnes aufhörten, sind
nicht selten.
Symptome. Die bohrenden, brennenden, stechenden, hämmernden
Schmerzen, welche von den Kranken öfter so beschrieben werden, als ob
glühende Nadeln in den schmerzenden Theilen wühlten, treten in Paroxysmen
auf, deren Zahl zwischen zwei und mehreren hundert am Tage schwankt.
Danach richtet sich auch die Dauer der Anfälle; zwischen denselben liegen
Pausen, in denen die Kranken entweder ganz schmerzfrei sind oder nur
leichte Schmerzen empfinden. Die Anfälle selbst entstehen spontan oder
werden durch geringste Bewegungen (kauen, schlucken), durch leiseste Be-
rührungen (wie durch Speisen und Getränke), durch Zugluft oder psychische
Beilegungen hervorgerufen. Gewöhnlich sieht man dann den Kranken Hände
oder Taschentuch auf die schmerzende Gesichtshälfte drücken; die Mienen
verzerren sich in dem Ausdruck der Schmerzempfindung, das Gesicht wird
TßIGEMINüS-NEÜRALGIE. 665
roth. die Augen stier, feucht, glänzend, thränenvoll; Nasenschleim und Speichel
iiiessen reichlich; der Oberkörper wird pendelnd vor- und rückwärts bewegt,
der Kranke krampft die Plände zusammen, ein mühsam verhaltenes Stöhnen
zeigt die Heftigkeit des Anfalles an. Nach wenigen Minuten oder auch nur
Secunden belebt sich das Antlitz des Kranken wie erfreut über den Nachlass
der Schmerzen, er athmet erleichtert auf, tritt wieder in die Unterhaltung
ein. um plötzlich nach wenigen Minuten von einem neuen Schmerzanfall ge-
packt zu werden.
Gewöhnlich wird nur ein einzelner Ast des Trigeminus von der Neu-
ralgie befallen, zuweilen sogar nur einer der kleinen Zweige; selten erstreckt
sich der Schmerz auf alle drei Aeste. Manchmal kommen Ausstrahlungen auf
benachbarte Nervengebiete vor.
Man unterscheidet die Neuralgia ophthalmica (supraorhitalis), infraorU-
talis und inframaxillaris. Im Verlauf der schmerzenden Nerven findet man
Schmerzdruckpunkte, welche in der Incisura supraorhitalis, über dem
Foramen infraorbitale und an der Austrittsstelle des Nervus dentalis am meisten
constant und ausgeprägt sind. Von Valleix wird noch eine grosse Zahl
anderer aufgeführt; in jedem einzelnen Falle mag man danach suchen. Die
Natur und Bedeutung der Schmerzdruckpunkte ist noch dunkel (vgl. den
Artikel „Neuralgie'')] bemerkenswerth ist, dass dieselben häutig nur während
der Anfälle erscheinen, und dass die Nerven zuweilen durch Fingerdruck nicht
nur nicht schmerzhaft erregt sondern sogar beruhigt werden, was bereits
Romberg bemerkte. Den „Points douloiireux"- Valleix's nahe verwandt sind
die j^Points apophysaires" (Trousseau), ebenfalls Druckschmerzpunkte, welche
bei Trigeminus-Neuralgien an den Dornfortsätzen der Halswirbelsäule oder
am Hinterhaupt gefunden werden.
Während der schmerzfreien Zeit haben die Kranken das Gefühl der
Taubheit und Steifheit in denjenigen Theilen, welche eben der Sitz des An-
falles gewesen waren. Gehör und Gesicht können im Laufe der Zeit an-
gegriffen werden. Von den vasomotorischen und secretorischen Erscheinun-
gen ist bereits gesprochen worden.
Pathologische Anatomie. Der Trigeminus-Neuralgie liegt keine
einheitliche pathologisch -anatomische Störung zu Grunde; es wechselt dieselbe
vielmehr mit den jeden einzelnen Fall auszeichnenden individuellen Bedin-
gungen.
Die ganz leichten, bald vorübergehenden Fälle mögen wohl nur auf einer
Störung des molekularen Gefüges der Nervensubstanz beruhen. Je schwerer
und hartnäckiger die Neuralgie, um so mehr dürften organische Verände-
rungen in den Nerven anzunehmen sein. Thatsächlich sind auch an excidirten
Nervenstücken die Erscheinungen der Entzündung in verschiedenen Graden
gefunden worden (vgl. den Artikel „Neuritis''). Dazu kommt nun eine Reihe
von Fällen, in denen dadurch eine Complication geschaffen wird, dass jene
Störung, die wir als molekulär-functionell oder als neuritisch bezeichnen
mögen, nicht primär in den Nerven entsteht, sondern andere Ausgangspunkte
hat, welche aufzusuchen das V^^'erk der guten Diagnostik ist. So finden wir
zuweilen einen kranken Zahn, der den Nerven reizt und Ursache der Neu-
ralgie wird, eine Schwellung oder Entzündung des Periosts oder des Knochens,
die besonders in den Knochencanälen verhängnisvoll wird, eine Otitis interna,
eine basale Meningitis, eine Erkrankung des Trigeminus -Kerns u. s. w.
Noch schwieriger wird die Diagnose, wenn der Ausgangspunkt weit
entfernt vom anscheinenden Sitz der Krankheit liegt und wir es mit einer
sogenannten Reflexneuralgie zu thun haben. Ich erwähnte bereits, dass Fälle
bekannt sind, in denen eine Operation an der Portio vaginalis uteri oder die
Beseitigung gewisser Magenstörungen eine Trigeminus-Neuralgie heilte.
666 TRIGEMINUS-NEÜRALGIE.
So hat man also nach der Aetiologie bezw. nach dem Ausgangspunkt
mehrere Formen von Neuralgien zu unterscheiden:
1. Die Krankheit ist im Nerven selbst entstanden. Functionelle oder
neuritische Gewebsveränderung — idiojMthische Form.
2. Benachbarte Organe übertragen die Krankheit auf den Nerven.
a) Druck, Compression,
b) Entzündung — secundäre Form.
3. Fernliegende Organe rufen die Neuralgie auf dem Wege des Reflexes
hervor — Reflex7ieuralgie.
4. Die Neuralgie ist ein Symptom einer offenbaren, Constitutionen en
Krankheit (Diabetes, Tabes u. s. w.) — symptomatische Form.
Therapie. Soweit es sich ermöglichen lässt, muss natürlich die Therapie
causal sein, so dass der Nährboden der Neuralgie in erster Linie zu be-
kämpfen ist. Lues, Diabetes, Malaria z. B. sind mit den erprobten Mitteln
zu behandeln. Liegt eine constitutionelle Krankheit nicht so offen zu Tage,
so ist vielleicht die chronische Schwäche einzelner wichtiger Organe wie z. B.
vom Magen und Darm die Ursache von Stoffwechselstörungen, welche den
neuralgischen Zustand begünstigen und unterhalten.
In der Beurtheilung der Reflex-Neuralgien ist grosse Vorsicht geboten.
Vor etwa einem Jahr behandelte ich ein junges Mädchen, für deren Trige-
minus-Neuralgie man die Zähne beschuldigte; man entfernte deren zwölf
kranke und gesunde, und trieb damit den neuralgischen Schmerz zu einem
fürchterlichen Grade. Eine elektrische Behandlung von etwa viermonatlicher
Dauer stellte die Kranke wieder her.
Hat man in einem Falle die Ueberzeugung gewonnen, dass die betreffende
Neuralgie zu der secundären Form gehört, so wird man versuchen, die ur-
sächlichen Exostosen, Canal-Verengerungen, Gefäss- Varikositäten u. s. w. zu
beseitigen.
Wie wenig zugänglich unsere Therapie für die central entstandene
Trigeminus-Neuralgien ist, braucht kaum besonders betont zu werden.
Für alle diejenigen Fälle, bei welchen sich constitutionelle Ursachen
nicht auffinden lassen, bleibt uns eine Behandlung in doppelter Hinsicht
übrig, nämlich
1. in allgemein hygienischer Beziehung, in Betreff von Wohnung, Klei-
dung, Diät, Waschen, Baden u. s. w.
2. Bezüglich der Nerven, der, dem Sitz des Schmerzes nach auch als der
Sitz der Krankheit angenommen wird.
Betreffs des ersten Punktes verweise ich auf den Band „Hygiene'-'' die-
ses Sammelwerkes, sowie auf die Artikeln „Cur und direkt" (Bd. I. der „Int.
Med.'' pag. 294) und „Krankendiät" (Bd. IL der „Int. Medicin" pag. 432).
Auf Nr. 2 muss ich näher eingehen.
Zuerst die medicamentöse Therapie. Jeder Arzt kennt die Masse von
„Antineuralgicis," welche die chemischen Fabriken in den letzten zehn Jahren
auf den Markt geworfen haben. Jeder neue Ankömmling wurde mit neuem
Jubel aufgenommen, und nach kurzer Zeit warf man ihn dorthin, wohin er
gehörte, in den Strom der Vergessenheit. Die überschwenglichen Anpreisungen
konnten nicht der Wahrheit entsijrechen ; der gesunde ärztliche Menschen-
verstand müsste sich schon sagen, dass nicht zwei Fälle von Neuralgien ein-
ander gleich sind, und dass es kein Universalheilmittel dagegen geben kann.
Der frohen Hoffnung folgte eine sehr bittere Enttäuschung. Heutzutage haben
sich nur noch wenige der Antineuralgica: Antipyrin und Phenacetin vor allem,
in der Gunst der Aerzte erhalten. Bestimmte Indicationen für das eine oder
andere lassen sich kaum aufstellen; es wird aber darauf los probirt. Dasselbe
lässt sich von dem „Antineuralgicum" Bromidia sagen, welches in einigen
Fällen genützt haben soll.
TRICHINOSIS. 667
Wenn man eine „causale" Therapie für die beste hält, und wenn man
Heilmittel bevorzugt, welche dieser causalen Therapie, welche sich die Auf-
gabe stellt, die gestörten Functionen des Nerven zu beseitigen, entsprechen,
so ist es sehr fraglich, ob man mit diesen Mitteln dem beabsichtigten Zweck
nahe gekommen ist; meiner Ansicht nach sind sie in diesem Sinne „Heil-
mittel" nich t.
Ausser den genannten Medicamenten sind Aconitin und Atropin manch-
mal hilfreich befunden worden. Im schlimmsten Falle muss man zu Mor-
phium seine Zuflucht nehmen.
Vorübergehende Linderung mögen wohl die Einreibungen mit Veratrin-
und Aconitsalbe, mit Chloroform, Ol. Hyoscyami u. s. w. machen. Auch den
sogenannten Pflastern aller Art, meist hinter den Ohren applicirt, ist zuweilen
eine gute Wirkung nachgerühmt worden.
Den ersten Rang unter den Heilmitteln der Trigeminus-Neuralgie nimmt
entschieden die Elektricität ein. v. Frankl - Hochwart bevorzugt den
mittels einer Doppelpinsel- Elektrode angewandten faradischen Strom, andere
Elektrotherapeuten lieben mehr den galvanischen Strom, ich speciell in sehr
kleinen Dosen (0"5 bis O'l MA.). Die Franklinisation hat mir bei typischen
Neuralgien verhältnismässig geringe Dienste geleistet, (vergl. Artikel „Eledro-
therapie"- Bd. L, pag. 512.)
Die Wasserbehandlung leistet, soweit meine Erfahrung reicht, nicht soviel
bei den Neuralgien des Trigeminus, wie bei anderen, doch dürfte immerhin
die eine oder andere Procedur, zweckmässig angewandt, sich als nützlich
erweisen. Aehnliches gilt von der Massage. Zu erwähnen ist noch die
mechanische Erschütterung, welche mit der Hand oder mit Maschinen ausge-
führt, wenigstens vorübergehende Erfolge bringt, (vergl. Artikel „Mechano-
therapie'- Bd. H.; pag. 650.)
Auch die Hypnose hat wohl hin und wieder einen Fall geheilt, der
anderen Behandlungsmethoden gegenüber sich hartnäckig zeigte, sperliistg.
TrichinosiS. im Jahre 1881 wurden von Hilton in den Muskel des
Schweines kleine Knötchen beschrieben, welche von diesem Autor als Cysti-
cerken gedeutet werden, während in 1835 Owen in denselben die Muskeltri-
chine entdeckte. Erst Zenker theilte im Jahre 1860 einen Fall mit, in welchem
ein 20-jähriges Mädchen unter typhusähnlichen Erscheinungen gestorben war,
und bei welchem im Darme zahlreiche Trichinen und in den Muskeln eine
grosse Anzahl Muskeltrichinen gefunden wurden.
Nachdem keinerlei andere pathologische Veränderungen vorhanden waren,
musste der Tod auf die Invasion dieser Parasiten zurückgeführt werden. Zu
gleicher Zeit konnte Zenker auch nachweisen, dass im Wohnorte der Be-
treffenden zu gleicher Zeit mehrere leichtere Erkrankungen vorgekommen
waren, und dass dort vorgefundenen Würste und Schinken, zahlreiche einge-
kapselte Trichinen beherbergten.
Alsbald wurden diese Beobachtungen von verschiedenen Seiten zunächst
in Deutschland und dann in verschieden anderen Ländern, in England, Euss-
land, Frankreich, Schweden, Italien, Rumänien, aber auch in Amerika, Afrika
und selbst in Australien bestätigt, und in kurzer Zeit wurden Dank der Unter-
suchungen von Leukart und Virchow, die Aetiologie und Pathologie der
Krankheit derart aufgeklärt, dass in letzter Zeit kaum mehr wesentlich neues
über die Trichineukrankheiten vorgebracht werden konnte.
Die Trichinose ist offenbar die gefährlichste durch Würmer erzeugte
Krankheit, namentlich in Schweden, Norddeutschlaud und Schottland konnten
zu Zeiten bei 1 — 272*^/0 der Leichen Trichinen gefunden werden. Nicht in
demselben Verhältnisse konnten die Würmer bei Thieren entdeckt werden,
nachdem die Infection wesentlich von der Art der Zubereitung oder von
668 TRICHINOSIS.
den Bezugsquellen des Fleisches abhängt. Unter den Thieren, welche Trichinen
beherbergen, sind in erster Reihe Schweine, Wildschweine, dann auch Ratten,
selten Mäuse, Katzen, Füchse, Hamster zu nennen, während aber diese
Thiere gewöhnlich an natürlicher Infection nicht zu Grunde gehen, kann man
durch Verfütterung bei denselben, sowie auch bei Kaninchen und Meer-
schweinchen, schwere und selbst tödtliche Trichinose erzeugen.
Nachdem die Trichinen etwa bei 60° C getödtet werden, diese Temperatur
aber selbst bei Stunden langem Kochen oder Braten von dicken Fleischstücken
sowie bei Zubereitung von frischen Blut- und Bratwürsten im Innern der
Stücke nicht immer erreicht wird, ebensowenig durch massiges Räuchern
oder Einsalzen der Schinken oder Würste und nachherigem massigen Erhitzen
die Trichinen zu Grunde gehen, wird dort, wo derartiges Schweinefleisch,
namentlich aber ganz wenig geräuchertes rohes Fleisch genossen wird, die
Trichinenkrankheit auftreten, sobald in solchen Gegenden die Schweine an
Trichinen leiden oder trichinöses Fleisch eingeführt wird. Namentlich die
amerikanischen Schinken und Speck enthalten häufig etwa in 4 — 5% der
untersuchten Fälle, Trichinen, welche aber gewöhnlich in Folge des energischen
Einsalzens oder Trocknens abgestorben angetroffen werden.
Beschreibung der Trichine. Die Trichine ist ein haardünner weisser
Wurm mit gestrecktem etwas verdicktem Hinterleibe, das Männchen 1-6 mm
das Weibchen 0-3 mm laug.*) Man erkennt zwischen den konischen Endzapfen
4 Papillen und der Chylusdarm des Weibchens ist länger als beim Männchen,
der Zellkörper, welcher den Verdauungscanal umgibt, hingegen kürzer. Die Eier
entwickeln sich wenige Tage nach der Befruchtung im Innern des Weibchens
und die Embryonen werden etwa 4 — 5 Tage nach der Befruchtung in grosser
Anzahl geboren, zweifellos gelangen die Embryonen gewöhnlich zunächst in
den Darm, nach Pekfontanie aber können sich die Weibchen auch in die
Tiefe der Schleimhaut einbohren, namentlich in die Mesenterialdrüsen gelangen,
um dort ihre Embryonen in den Chylus- und Lymphgefässen abzusetzen. Die-
selben durchsetzen alsbald die Darm wände des Wirthes oder gelangen direct
in die Lymphbahn, um in die Muskulatur einzudringen und sich daselbst
binnen wenigen Wochen in Larven oder Muskeltrichinen zu verwandeln, welche
von einer Chitinkapsel umgeben, Jahrzehnte lang lebend bleiben, während die
geschlechtsreifen Thiere nach etwa .5 Wochen zu Grunde gehen. In manchen
Fällen können die mit dem Stuhle abgehenden Embryonen in einen neuen
Wirth gelangen und auch zu Muskeltrichinen Anlass geben.
Die Muskeltrichine stellt einen spiralig gewundenen cylindrischen
Wurm von 0*6 — 1 m Länge mit einem etwas zugespitzten Kopfende dar.
Nach Verfütterung der Muskeltrichine entwickeln sich in 2 — 3 Tagen
die geschlechtsreifen Würmer. Gewöhnlich findet man im Dünndarm tausende
derselben und wenn man bedenkt, dass jede einzelne derselben etwa 1000
Embryonen erzeugt, so wird es begreiflich, dass die in die Muskulatur ein-
dringenden Embryonen Millionen betragen können.
Was die Wanderung derselben betrifft, ist dieselbe jedenfalls eine sehr
schnelle und konnte Viech ow die Embryonen in den Mesenterialdrüsen, Bauch-
drüsen, im Pericardium, selten auch im Blute nachweisen. Noch während
der Wanderung wachsen die Embryonen und haben etwa in 14 Tagen fast die
Grösse der ausgewachsenen Trichine erreicht, nachdem sie in die Primitiv-
fasern des Muskels einwandern und sich auf Kosten der Muskelsubstanz nähren,
erfolgt alsbald deren Einkapselung. Die Trichine umgibt sich in 3—5 Wochen
nach der Einwanderung mit einer hellen feinkörnigen Masse, sowie mit einer
eigenen Kapsel und ist noch von dem Reste des Sarcolemms umgeben, ein
*) Siehe die diesbezüglichen Abbildungen im Artikel „Eingfeiveideivürmet^ des Men-
-dien", Bd. L, loag. 485.
TRICHINOSIS. 669
eigenthümliches citrouenilhnliclies Gebilde darstellend, etwa dreifach so dick
wie eine Muskelfaser und noch von gewucherten Kernen, später von Fett-
tropfen eingehüllt. Zugleich erkennt man an der entsprechenden Muskel
Zeichen einer parenchymatösen Degeneration und einer interstitiellen Entzün-
dung, welchen eben die hauptsächlichsten Erscheinungen der Krankheit zu-
geschrieben werden muss. Später etwa nach 3 — 4 Monaten beginnen die
Kapseln zu verkalken. Die Einw^anderung der Trichinen geschieht in schweren
Fällen in alle Muskel des Körpers mit Ausnahme des Herzens. Am meisten
sind aber gewisse Muskelgruppen ergriffen, welche sich in der Nähe des
Bauchfelles namentlich der grossen Lymphwege des Mediastinums befinden, so
das Diapliragma, die intercostalen Muskeln, die Hals-, Kehlkopf- und Augen-
muskulatur, gewöhnlich auch der Biceps.
Der Cyklus der Wanderung der Trichinen ist genug einfach, die Schweine
werden wohl gewöhnlich in der Weise angesteckt, dass dieselben embryonen-
hältiges Material oder Muskeltrichinen verschiedener Provenienz namentlich
wieder von Schweinen oder Hatten herrührend verschlingen. Letztere Thiere
sind in der That sehr häufig trichinös und werden von den Schweinen oft
mit Vorliebe gefressen. Immerhin ist die Ansteckung von Schwein zu Schwein
die häufigste.
Symptomatologie. Während sich gewisse Thiere so z. B. Schweine
selbst bei starker Lifection oft indifferent verhalten, indem hier seltener
Fieber, Leibschmerzen, Dyspnoe und selbst der Tod eintritt, ist der Mensch
gegenüber der Trichineneinwanderung ziemlich empfänglich. Allerdings gibt
es zahlreiche Fälle, in welchen blos nach dem Tode zufällig, in manchen
Muskeln Trichinen gefunden werden, welche keinerlei Symptome erzeugt
hatten. Dies weist aber immer auf den Genuss einer ganz geringen Quan-
tität trichinenhaltigen Fleisches hin, während nach dem Genuss von selbst
massigen Mengen solchen Fleisches, schon während des ersten Stadiums der
Krankheit also wenige Tage darnach wenigstens Indigestionserscheinung,
Appetitmangel, Kopfschmerz, Abgeschlagenheit, leichtes Fieber, gewöhnlich
massiger Durchfall nicht zu fehlen pflegen. Handelt es sich hingegen um
eine starke Infection, so steigern sich die Darmerscheinungen schon nach
wenigen Tagen zu reichlichen Diarrhöen, welche in seltenen Fällen unter
algiden, choleraähnlichen Erscheinungen nach wenigtägiger Dauer zum Tode
führen können. Nur das bedeutende Fieber, welche diese Erscheinung begleitet,
sowie in manchen Fällen die Gegenwart reichlicher Trichinen im Stuhle
schützen vor Verwechselung.
Das 2. Stadium setzt mit einer mehr oder minder ausgesprochenen
Schwellung der Stirn- und Augengegend, Erweiterung der Pupillen, Augen-
schmerzen und Conjunctivitis ein.
Diese Erscheinungen, finden wohl zum Theil ihre Erklärung in der Ver-
stopfung der Blut- und Lymphwege durch Embryonen, wahrscheinlich auch
in der Wirkung giftiger Stotfwechselproducte, welche während der Wande-
rung der Parasiten auftreten, endlich in der Einwanderung derselben in die
Augenmuskel.
Je reichlicher die Zahl der wandernden Embryonen ist, desto schneller
erscheint das Oedem. Oft schon etwa 8 — 10 Tage nach der Infection, wäh-
rend in leichteren Fällen dasselbe oft erst nach zwei Wochen eintritt. In
solchen Fällen entwickelt sich ein schmerzhaft spannendes Gefühl, beson-
ders in den Flexoren, schwere Beweglichkeit der Gliedmaassen, Schweiss, ver-
minderte Harnabsonderung, Schlaflosigkeit und Fieber, während auch die
Diarrhoe oft anhält. Nach ferneren 2—3 Wochen sind die Kranken gewöhn-
lich genesen. Zunächst nimmt das Fieber ab, die Schweissbildung ist geringer,
die Harnbildung reichlicher, besonders Appetit und Körperfülle kehren allmälig
zurück; blos die Schwäche und Dyspnoe bleiben noch längere Zeit bestehen.
670 TRICHINOSIS.
In schweren Fällen verstärkt sich das Fieber, der Puls und die Athmung
sind stark beschleunigt und die Haut mit reichlichen Schweiss bedeckt, das
Oedem breitet sich auf Nacken, Rücken, Arme und Beine aus. Die Muskel
werden bretthart, die Kranken liegen regungslos mit spitzwinkliger Contractur,
im Schultern- und Ellbogengelenke und Streckung im Hüft- und Kniegelenke.
Es bestehen Schwerhörigkeit, Heiserkeit, Dyspnoe, Trismus, der Bauch ist
empfindlich, aufgetrieben, der Urin roth, die Kranken sind schlaflos und
magern rapide ab. Die Diarrhoe macht manchmal einer Verstopfung Platz.
Nach etwa 2 Wochen entwickelt sich Anasarca der unteren Extremitäten von
den Knöcheln aufsteigend, während das Gesichtsödem schwindet. Bronchitis
und katarrhalische Pneumonie treten auf und haben nach wenigen Tagen den
Tod zur Folge. Aber auch ohne Complicationen ist dieser Ausgang nicht sel-
ten, indem bei Mangel jeder Nahrung, die Schmerzen zunehmen, der Puls bis
140 Schläge, die Temperatur 40° erreicht. Das Fieber nimmt einen typhösen
Charakter an, es entwickelt sich Decubitus, Delirien und der Tod erfolgt
an Erschöpfung der Respiration.
Auch in schweren Fällen ist anderseits die Genesung nicht selten und
tritt in diesem Falle zu Ende der 4. Woche eine merkliche Besserung ein.
Pathologische Anatomie. Die an Trichinosis Verstorbenen sind ge-
wöhnlich stark abgemagert mit lange dauernder Todesstarre und contrahirten
Muskel, oft cyanotisch. Das Oedem des Gesichtes ist geschwunden, hingegen
ist Anasarca der unteren Extremitäten vorhanden, besonders der Darm bietet
eine mehr oder weniger heftige Enteritis mit geschwellter Schleimhaut kleinen
Ecchymosen mit Schwellung des Lymphapparates des Peyerischen Plaques
besonders der Mesenterialdrüsen, welche besonders in der 4 — 5 Woche wul-
stig geschwellt angetroffen werden. Selten fehlten Bronchitis sowie broncho-
pneumonische und hypostatische Pneumonie oder Splenisation, manchmal beste-
hen hämorrhagische Infarcte oder Abscesse. Die grossen Abdominaldrüsen, die
Leber und Nieren zeigen gewöhnlich Charaktere einer heftigen parenchyma-
tösen Entartung, namentlich die Leber ist verfettet und die Zellen sind hell-
gelb mit Fettröpfchen erfüllt.
Im Schleime, welcher den Darm bedeckt, können oft bis zur 7. — 8. Woche
Trichinen nachgewiesen werden, selten auch im Inneren der Peyerischen Plaques
und selbst in den Mesenterialdrüsen. Die wichtigsten Veränderungen sind natür-
lich jene der am meisten inficirten Muskeln, welche entzündet, injicirt, dunkel-
roth, oder durchscheinend blass gelblich, geschwellt, zerreisslich sind und nament-
lich in der Nähe der Insertion, zahlreiche schon mit freiem Auge sichtbare
Muskeltrichinen beherbergen. Vom Ende der 5. Woche treten in den Muskeln
feine grauweisse Streifen als Zeichen der Degeneration der Muskelfasern auf.
Unter dem Mikroskope erkennt man zahllose Trichinen in verschiedenen
Stadien der Wanderung, sowie die durch die Parasiten gesetzten Veränderung
der Muskelsubstanz. Auch von Trichinen freie Muskelfasern können körnige,
fettige, wachsartige und vacuoläre Entartung aufweisen. Zugleich erkennt
man hier Zeichen parenchymatöser und interstitieller Zellwucherung.
Diagnose. Nach den beschriebenen Symptomen wird es leicht sein die
ausgesprochenen Fälle zu diagnosticiren.
Doch gibt es Fälle, wo die Symptome wenig charakteristisch sind, und
wo es sich empfiehlt die Darmentleerung, auf Trichinen zu untersuchen und
mittelst einer Muskelharpune, besser mittelst Excision kleine Muskelstück-'
chen aus den Stellen, welche am reichsten von Trichinen durchsetzt zu sein
pflegen, also etwa aus den Intercostalmuskeln oder den Ansatzpunkten des
Biceps oder des Sternocleidomastoideus zu gewinnen. Aber auch bei einem
negativem Befunde ist der Verdacht auf Trichinen nicht auszuschliessen,
nachdem eben in zweifelhaften Fällen oft wenig Trichinen in den Muskeln
vorkommen.
il
TßlCHINOSIS. 671
Immer ist in Fällen oder Verdacht von Trichinen eine Enquette geboten,
indem Speisereste oder jene Orte, welche wenige Tage vor der Erkrankung
dem Kranken Schweinefleisch geliefert haben, auf trichinenhaltiges Fleisch
untersucht werden sollen.
Beluiiidluiig. Am wichtigsten ist offenbar die prophylaktische Behand-
lung, welche eines Theils darin bestehen muss, zu verhüten, dass die Schweine
selbst durch Trichinen inficirt werden, was eben durch rationelle und rein-
liche Ernährung angestrebt werden darf. Ferner muss die Einführung von
trichinenverdächtigen Schweinen, sowie verdächtigem Schweinefleisch möglichst
eingeschränkt werden. Es ist wichtig das Halten von Schweinen auf Ab-
deckereien, sowie das Verfüttern von Schweineabfällen, an Schweine zu ver-
bieten.
Eine andere wichtige Aufgabe der Sanitätspolizei besonders in Gegenden,
in welchen die Trichinose häutig ist, ist die Einführung einer regelmässigen
Trichinenschau. Nachdem die Trichinen mit freiem Auge nur im Zustande
der Verkalkung sicher erkannt werden können, muss die Untersuchung mit
etwa üO— SOmaliger Vergrösserung vorgenommen werden. Für die Probeent-
nahme ist bei lebenden Thieren die Gegend der Sehnen, der Vorderschenkel,
Streckmuskeln die Hinterschenkel, Beugemuskeln ferner die Halsgegend zu
benützen. Für das geschlachtete Schwein sind noch Proben aus den Bauch-
muskeln, dem Zwerchfell, dem Intercostalmuskel, aus den Kehlkopfmuskel, und
der Lunge je eine Probe von der rechten und der linken Seite zu entnehmen.
Dieselben sind zu zerzupfen, zwischen Deckglas und Objectträger zu pressen
und im Wasser zu untersuchen.
Die Trichinenschauer müssen in eigenen Cursen unterrichtet werden,
nicht nur die Schlachthäuser, sondern auch die Polizei und das Publicum
sollen das Recht haben Schweinefleisch untersuchen zu lassen, und die con-
fiscirten Schweine müssen entschädigt werden. Die trichinösen Schweine
dürfen zum Abhäuten, Ausschmelzen des Fettes und zur chemischen Ver-
arbeitung zugelassen werden. Natürlich werden trotz der Fleischschau manche
Fälle unerkannt bleiben und zu Infection Anlass geben. Wenn man aber be-
denkt, dass z.B. im Jahre 1884 2624 Schweine als trichinös erkannt wurden,
so ist es ganz unzweifelhaft, dass durch die Trichinenschau zahlreiche Menschen
vor Krankheit und Tod bewahrt wurden. Allerdings darf über die Fleisch-
schau die Belehrung des Publicums, nicht ungenügend erhitztes, gesalzenes
oder geräuchertes Fleisch zu gemessen, nicht versäumt werden.
Eine eigentliche Therapie der ausgesprochenen Trichinenkrankheit ist
kaum denkbar, und nur äusserst selten ist man in der Lage bei Beginn der
Darmerscheinungen durch Brech- und Abführmittel das inficirte Fleisch oder
auch die eben befreiten Trichinen, herauszubefördern. Später ist keine bisher
angewendete Darmdesinfection im Stande die Trichinen sicher zu tödten,
höchstens das Glycerin scheint in manchen Fällen seine wurmtödtende Wirkung
auch im Darme auszuüben. Immerhin scheinen heftige Diarrhöen, welche
einen Theil der Trichinen herausbeförderU; den Verlauf der Trichinose gün-
stiger zu gestalten, namentlich dürfte sich Calomel, Senna und Glycerin in
grösseren Gaben bewähren.
Sobald einmal die Invasion in die Muskeln erfolgt ist, muss man sich
auf eine symptomatische Behandlung beschränken. Die Muskelschmerzen wer-
den durch salicylsaure Präparate, durch Application von warmem Oel, narko-
tischen Mitteln, Einreibungen mit Quecksilbersalbe gelindert. Gegen die
Schmerzen, den Schweiss und das Fieber nützen oft kalte Einreibungen und
Bäder, gegen Schlaflosigkeit werden Opiate und Chloral nicht zu entbehren
sein, während bei Dyspnoe, Bronchitis und Pneumonie reizende Mittel und
Expectorantien angewendet werden müssen.
672 TROPENKRANKHEITEN.
Die ungemeine Abmagerung und Schwächung wird, wenn eine Wendung
zur Besserung eintritt durch tonische Mittel, kräftigende Diät, Wein, nament-
lich auch Chinapräparate, später durch Eisen behoben und noch späcer werden
gegen die lange andauernde Schwäche, sowie gegen Muskelschmerzen Mas-
sage und warme Bäder indicirt sein.
BABES.
Tropenkrankheiten. Die Summe unserer Kenntnisse von der Tropen-
pathologie, welche in den jüngstvertiossenen 18 Jahren durch fortgesetzte,
experimentelle Forschungen und durch exacte, klinische Beobachtungen, we-
sentlich geklärt und bereichert wurden, setzt uns heute in den Stand, das
Wesen der Tropenkrankheiten' gegenüber den Krankheiten der gemässigten
und kalten Zone bestimmter zu definiren und abzugrenzen.
Wir wissen nicht nur, wie früher, dass der eine oder andere uns in
Europa fremde Symptomcomplex, mit eigenartigem Verlauf, sich in den
Tropen zu dem Bilde einer eigenthümlichen Krankheit vereinigen lässt, bei
welcher man entweder ähnliche, oder nur wenig von anderen in Europa vor-
kommenden Krankheiten, verschiedene, pathologisch-anatomische Veränderungen
kannte, vielmehr wissen wir solche exquisite Tropenkrankheiten, als auch die
in der heissen und gemässigten Zone zugleich vorkommenden Leiden, jetzt,
in ihrem Wesen besser zu unterscheiden. Dabei berücksichtigen wir die pa-
thologische Anatomie und die feineren Gewebsveränderungen, sowie bei den
Infectionskrankheiten, den von Europa verschiedenen Nährboden in und ausser-
halb des Organismus.
So zeigt die Autopsie von Malarialeichen in Europa Veränderungen der
Milz, der Niere, der Herzmusculatur, welche sich auch bei den gewöhnlichen
tropischen Malariaformen finden. Aber schon bei dieser Gruppe von Malaria-
fiebern fällt der Unterschied auf, dass in ihrem späteren Verlaufe häufig Leber-
abscesse, auch eitrige Ergüsse in die serösen Säcke vorkommen, welche bei
gleichen Formen in Europa fehlen, oder doch hier in ihrem Vorkommen und
Ausbreitung im Gewebe, den tropischen gegenüber, minimal erscheinen. Auch
zeigt die mikroskopische Untersuchung des Blutes von Personen, welche in
den Tropen an hämoglobinurischen Fiebern leiden, ganz bedeutende Unter-
schiede der Veränderungen, welche die formalen Elemente des Blutes durch
die Malariaerreger erleiden, Veränderungen, welche wir in Europa nicht beob-
achten und welche sich besonders in der Art der Zerstörung der rothen Blut-
körperchen aussprechen.
Andere Krankheiten wieder, welche von den Tropen ausgehen, dort ihren
Herd haben und sich über aussertropische Länder verbreiten, wie Cholera
und Pest treten hier wie dort, in gleicher Weise auf. Von den Infections-
krankheiten wären diese aber die einzigen ihrer Art, bezüglich ihres unver-
änderten Auftretens.
Hingegen sind, vice versa, Krankheiten der gemässigten Zone nach den
Tropen übertragbar, finden aber dort keinen so günstigen Nährboden und
ihren Krankheitserregern so zusagendes Klima, sie gewinnen daher in den
Tropen wenig Ausbreitung und schwächen sich in ihrem Auftreten und ihrer
Intensität sehr ab. Solche Krankheiten sind z. B. Typhus, Diphtherie, Scharlach.
Abgesehen von solchen Krankheiten, welche von den Tropen aus auf
Europa übertragen werden, gibt es innerhalb der Wendekreise und in specie
im äquatorialen** Theil des Tropengürtels, Krankheiten, welche nur auf diej
tropischen Länder beschränkt bleiben und darüber hinaus nicht mehr vor-
kommen, oder sich dahin verbreiten können und deren Krankheitsursachen,|
ohne die eigenartigen Bedingungen, welche durch Klima und Boden und deren]
Wechselwirkungen in den Tropen gegeben sind, nicht wirksam werden können^
TROPENKRANKHEITEN. 673
Diese Krankheiten haben wir schon Eingangs als exquisite Tropenkrank-
heiten bezeichnet, dabei kann man aber auch im Hinblick auf eigene Krank-
heitsformen, welche nicht aussertropisch angetroffen werden und wo, wie bei
Malaria, morphologisch und vorzüglich biologisch von denen in Europa ver-
schiedene Protozoen im Blute erscheinen, von tropischen Malariaformen und
mit ganz besonderer Berechtigung, von tropischer Dysenterie sprechen, da dessen
Krankheitserreger, wie Layeran nachwies, sich nur in den Stühlen von Dy-
senteriekranken in den Tropen constant nachweisen lassen, ausserhalb der
Tropen aber nicht.
Immer begegnen wir, und dieses muss hier hervorgehoben werden, in
der Tropenpathologie, dem bestimmten Gesetze von der Eigenart der ent-
weder durch den Tropennährboden veränderten Krankheitserreger und Krank-
heitsbilder, oder der ausschliesslich in und durch die Tropen bedingten pa-
thologischen Processe, welche sich, entgegengesetzt als dies bei dem Weissen der
Fall, im Organismus der pigmentirten Rassen meistens in geringerem Grade
abspielen. Nur wenige Krankheiten, so die Beri-Berikrankheit zieht den
Organismus des Europäers nicht so häufig und so intensiv in Mitleidenschaft,
als die des pigmentirten Eingebornen.
Ohne eine Erörterung solcher fundamentalen Begriffe ist für den euro-
päischen Arzt eine Einsicht in die Differenzirung der Tropenpathologie von
der Pathologie der gemässigten Zone kaum möglich, aus diesem Grunde wurde
diese kurze Abhandlung vorangestellt. Wir unterscheiden ferner im fol-
genden speciellen Theile, die nicht infectiösen internen Krankheitenn von den
Infectionskrankheiten der Tropenländer. Von den auch nach Europa sich ver-
breitenden Krankheiten kann nur eine kurze Uebersicht gegeben, Krankhei-
ten, welche schon wie Malaria, Pest, Gelbfieber, Denguefieber unter dem betref-
fenden Buchstaben in diesem Sammelwerke abgehandelt sind, durften nur ge-
streift werden.
I. Nicht infectiöse Tropenkraiikheiten.
1 . Magendarnikatarrhe der Tropen, Magendarmerkrankungen katarrhalischen
Charakters, kommen in den Tropen, sowohl bei Eingeborenen als Europäern
häufiger vor, als in Europa. Sie unterscheiden sich in ihren Symptomen nur
durch grössere Intensität, längere Dauer, öfteres Vorkommen von Gallener-
brechen und durch anhaltendes Fieber.
Pathologisch-anatomisch weisen Magendarmkatarrhe, Duodenitis, Dick-
darmkatarrhe in den Tropen, wenig Unterschiede in den erkrankten Gewebs-
theilen, gegenüber den gleichen Zuständen in der gemässigten Zone, auf. Nur
bemerkt man bei Sectionen von an langwierigen chronischen Magendarm-
katarrhen Verstorbener zuweilen Abscesse der Bauchhöhle, welche sich im
Coecum abkapseln. Da indessen, besonders bei Weissen, intercurrente Krank-
heiten, wie Malaria, solche Abscesse auch veranlassen können, so ist dieser
Befund für tropische Magendarmkatarrhe nicht voll beweisend. Auch die
Anguillula stercoralis, (ein ^j^ mm langer Parasit) kann nicht als Ursache der
öfter letal endigenden Tropendiarrhoen angesehen werden, denn sie fehlt oft
im Stuhl der Kranken und kommt in den Darmwänden, aus ganz anderen
Ursachen Verstorbener, auch vor.
Betreffs der A e t i o 1 o g i e der tropischen Magendarmkatarrhe kann Fol-
gendes gesagt werden.
Die tropischen Magendarmkatarrhe coincidiren mit Wechsel der Witte-
rung und beim Uebergang der Regenzeiten in die trockene Jahreszeit und um-
gekehrt, bei Diätfehlern kommen sie leichter vor als in Europa unter gleichen
Verhältnissen.
Naturgemäss sind die aus letzteren Ursachen entstehenden Leiden ver-
einzelt und sind, gerade so wie in Europa, von kurzer Dauer. Dagegen treten
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 4o
674 TROPENKRANKHEITEN.
die mit Witterungseinflüssen coincidirenden Fcälle in grosser Anzahl auf und
zeigen das oben beschriebene Krankheitsbild und Charakter. Die tropischen
Magendarmkatarrhe unterscheiden sich also weniger durch ihre Symptomato-
logie als dadurch, dass sie den Witterungseinflüssen sich anschliessen und dann
in grosser Anzahl, plötzlich, wie epidemisch, auftreten. Bisher suchten viele
Autoren in der nunmehr widerlegten Hypothese vom verminderten Sauerstoff-
gehalt der Tropenluft, da diese Verminderung Kohlensäureanhäufung im
Blute verursache, die Ursache der en masse auftretenden tropischen Magen-
darmkatarrhe. Helferich ging so weit anzunehmen, dass durch Witterungs-
einflüsse eine acute Anhäufung von Kohlensäure im Blute von Europäern
entstände, auf die Centralorgane einwirke und Krämpfe, auch Diarrhoen, wie
bei Cholera, verursache. Man hätte es dann also mit einer Art Kohlen-
säurevergiftung zu thun, welche auf Eingeborene nicht oder nur wenig
wirkte. Bei dem reichen Material aus den englischen und holländischen
Tropenhospitälern, woraus wir unsere Kenntnis schöpften, auf Grund der
täglichen Operationen und der Sectionsbefunde, ist nicht daran zu zweifeln,
dass sowohl bei Schwarzen, noch mehr bei Weissen, ein grösserer Blutreich-
thum der Baucheingeweide in den Tropen physiologisch ist. Bringt man diese
Thatsache in Verbindung mit der Coincidenz des Auftretens der tropischen
Diarrhoe bei Witterruogswechsel, so dürfte man eher annehmen, dass dieser
constante Blutreichthum der Baucheingeweide sich dann zu stärkerer Hyperämie
steigert und so leichter Darmkatarrhe mit Temperatursteigerung entständen.
Man unterscheidet in Indien Diarrhoea catarrhalis, dann die seröse Diarrhoe
bei kleinen Kindern und die Diarrhoea marasmatica. Die souveränen Mittel
gegen diese Erkrankungen des Magendarmtractus in den Tropen sind Ol. ricini
und Wasserklystire, sowie leichte Bauchmassage, bei stärkerem Fieber, Eis-
pillen und Eiswassereinwicklungen. Choleratropfen oder Opium nützen nichts.
Die Mortalität bei tropischer Diarrhoe ist an sich, wie schon angedeutet, nicht
beträchtlich. Da aber die Tropenhygiene möglichst die Schwächung des Or-
ganismus, vorzüglich der Weissen verhüten muss, weil sie in diesem Zustande
den überall lauernden und besonders den nach Beendigung der Regenzeiten
oder wie in Indien während der trockenen Zeit in verstärktem Maasse auf-
tretenden Malariaerregern zum Opfer fallen, so sollten Europäer davon unter-
richtet sein, zu solchen Zeiten und bei anderen Witterungsschwankungen,
keine Diätfehler zu begehen und die in Englisch-Indien eingeführte leichte
Flanellkleidung anzulegen.
Auf Expeditionen und Bivaks muss ein gemeinsamer, passender Abort
angelegt und für Kleidungswechsel nach Durchnässungen des Körpers gesorgt
werden. Gleichmässige, einfache Nahrungsweise, am besten Reisnahrung und
gekochtes Fleisch, ist anzuordnen. Die Erkrankten sind häufig so angegriffen
und fieberhaft, dass sie sogleich das Spital aufsuchen, wo auch bei langwierigen
Darmkatarrhen, in Folge deren viele zu Grunde gehen, eine roborirende Be-
handlung besser gehandhabt werden kann.
2. Aphtae tropicae. Eine ausschliesslich in den Tropen, besonders
in Ostindien vorkommende Krankheit, welche sich niemals nach Ländern der
gemässigten Zone überträgt. Von den Engländern wird sie Diarrhoea alba,
hill diarrhoe genannt, von dem Holländer van der Bürg Indische spruw.
Ausser durch van der Bürg ist sie in bemerkenswerther W^eise von den Eng-
ländern Grant, Chevers, Morchead, Manson beschrieben worden. Andere
englische Autoren trennen die chronische Tropendiarrhoe in Bengalen,
Morbus Bengalensis.
Aphthae tropicae oder die indische Spruw ist eine eigenartige Magen-
darmkrankheit, deren Krankheitsbild und Verlaufsich unschwer von den
gewöhnlichen tropischen Magendarmkatarrhen und von Dysenterie abhebt.
TROPENKRANKIIEITEN. 675
Die Krankheit beginnt ohne Fiebererscheinungen, die Kranken klagen
zuerst über leichte gastrische Beschwerden, über Schmerzen in der Magen-
gegend welche nach Genuss verschiedenartigster Speisen auftreten: Nachdem
der Appetit in den ersten Tagen der Erkrankung vermindert war, hat der
Kranke bald das Bedürfnis seinen Magen stark anzufüllen, obschon dies ihm
Schmerzen verursacht. Die Cardialgie wird intensiver, dazu gesellen sich
Schmerzen im Pharynx und schlechter Geschmack im Munde. Ein nagender
Schmerz unter dem rechten Schulterblatt vermehrt noch das Leiden. Darnach
tritt regelmässig Erbrechen der Ingesta ein, bald kurze, bald längere Zeit
nach der Nahrungsaufnahme. Die erbrochenen Massen sind sauer und mit
Schleim vermengt. Die Zunge zeigt einen gelblichen Belag und ist nur
wenig geschwollen, gewöhnlich klagen die Patienten im Anfangsstadium wenig
über Schmerzen an der Zunge und man bemerkt dann am Rande der Zungen-
wurzel, auch in der Mitte, einzelne, kleine rothe, hervorragende Punkte,
Papillae clavatae. Die Magengegend findet man bald aufgetrieben, Adspection
und Percussion erweisen eine bedeutende Erweiterung des Magens, in ein-
zelnen Fällen Verminderung der Leberdämpfung.
Nachdem dieser Zustand einige Zeit bestand, steigern sich die Symptome
und das zweite Stadium, in welchem die Diagnose der Aphthae tropicae un-
zweifelhaft wird, ist eingetreten. Die Gasanhäufung im Magen hat zu-
genommen, das Erbrechen ebenfalls, die Stühle werden häufiger und dünn,
der Patient stösst fortwährend auf. Im Epigastrium sieht man den Magen
sich blasenförmig spannen, die Cardialgie wird heftiger. Jetzt kann man
auch an der Zunge die Veränderungen wahrnehmen, welche das Leiden von
chronischen Magendarmkatarrh leicht differenzirt. Wir folgen bei dieser Be-
schreibung VAN DER Burg und unseren eigenen Wahrnehmungen.
Die Papillen der Zunge sind grösstentheils atrophirt, der Belag ge-
schwunden, dafür sieht man eine glatte, glänzende wie mit fieischrothem
Firnis bedeckte Zunge, deren Epithel und Papillen verschwunden sind, die
wie rohes Fleisch aussieht. Uebrigens ist die Zunge trocken, geschwollen,
schmerzhaft. Die Patienten haben steten Durst, der Geschmacksinn ist ver-
loren gegangen. Die Pharynxschleimhaut ist stark geröthet, wie die der
ganzen Mundhöhle. Sprechen und Schlucken ist stark behindert, Zucker,
Alkohol, Gewürz vermehren den Schmerz enorm. Die Leberschrumpfung ist
jetzt auch durch Percussion leicht nachzuweisen, sie wird fortwährend auf-
fälliger und kann wie auch Sectionen aus diesem Stadium lehren sehr be-
deutend sein.
Englische Beobachter sprechen von icterischer Hautverfärbung in diesem
Stadium, welche Verfasser nie beobachtet hat, die Patienten sehen vielmehr
bleich aus.
Der Urin enthält meistens Eiweiss und viel harnsaure Salze, die Gallen-
bestandtheile sind nicht vermehrt. Dies entspricht auch der fortschreitenden
Leberatrophie.
Im weiteren Verlaufe, im sogenannten dritten Stadium findet man die
Patienten im höchsten Grade abgemattet, van der Burg bemerkt, er habe
Kranke dieser Periode nicht oft gesehen, weil sie schon im zweiten Stadium,
wenn möglich nach Europa übersiedeln, oder genesen oder aber auch sterben.
Fieber, Circulationsstörungen, völliger Verlust der Mundschleimhaut, qualvolle
Schmerzen, heftige Diarrhoen, führen bei Unmöglichkeit von Nahrungsauf-
nahme dann den Exitus herbei.
Pathologische Anatomie. Die Leichen zeigen einen hohen Grad
von Anämie, das Herz ist schlaft, die Milz oft klein, die Leber bedeutend
verkleinert, das Gewebe heller als normal, dabei morsch und gibt mit Jod
keine Reaction. Die Gallenblase ist klein, geschrumpft. Magen und Darm-
schleimhaut sind verdünnt mit kleinen Granulationen besetzt, im Ileum sieht
43*
676 TROPENKRANKHEITEN.
man solche Granulationen mit pigmentirter Basis, van der Burg behauptet,
dass der Krankheitsprocess der Mundhöhle sich in gleicher Weise auf die
Intestina fortsetzt.
Aetiologie. In Bezug auf die Ursachen der Krankheit lässt sich
wenig sagen. Einen constant bei Aphthae tropicae vorkommenden Mikro-
organismus mit pathogenen Eigenschaften hat man nicht gefunden. Die
Krankheit ist auch nicht übertragbar von Mensch zu Mensch, oder durch
Gebrauchsgegenstände, sie tritt nicht epidemisch auf und scheint auch keinen
ausgesprochenen endemischen Charakter zu haben. Van der Burg vermuthet,
dass weniger das Tropenklimä die Ursache von Aphthae tropicae sei, als
vorangegangene einfache tropische Magendarmkatarrhe, welche Schwächezu-
stände des Tractus intestinalis zurücklassen. Andere suchen die Ursache in
Spaltpilzen, ohne präcise Beweise.
Vak der Burg beobachtete, dass Aphthae tropicae mehr an Plätzen Indiens
vorkommen, mit besonders hoher Luftfeuchtigkeit. Allerdings kommen Aphthae
tropicae mehr an den Küstenplätzen, oder im feucht-heissen Tieflande vor,
während die Krankheit im Hochgebirge selten ist. Frauen werden mehr er-
griffen als Männer, ebenso leiden darunter selten die Eingeborenen. Das
Kindes- und Greisenalter ist beinahe frei von der Krankheit.
Auf Java erkrankten von 1650 Personen nur 196 Eingeborene, 1420 Eu-
ropäer, die übrigen waren Mischlinge und Araber. Die Mortalität beträgt
nach VAN DER Burg 13-367o- Die Krankheit ist nicht so besonders häufig vor-
kommend.
Ist in den Tropen ein Magendarmkatarrh nicht zur Heilung überzuführen,
entstehen bald die hellen, dünnen Stühle, welche kaum noch gallig gefärbt
sind, wird die Zunge empfindlich, so muss man an Aphthae tropicae denken.
Tritt die Veränderung der Zunge und der ganzen Mundschleimhaut, sowie
die Leberschrumpfung deutlich hervor, so ist die Diagnose auf Aphthae tro-
picae sicher, welche sich so sehr von ähnlichen Zuständen wie Stomatitis und
gelber Leberatrophie, die ausserdem sehr schnell verläuft, unterscheiden, dass
ein Irrthum ausgeschlossen ist. Mit tropischer Dysenterie und ihren blutigen
Stühlen sind Aphthae tropicae, selbst im Anfange nicht zu verwechseln.
Die Prognose ist gemäss der Sterbeziffer 13"67o nicht ungünstig,
indessen sterben noch viele nach Europa zurückgereiste Europäer in der
Heimat an den Folgen der Krankheit, Kinder und Frauen unterliegen leichter.
Die Behandlung ist symptomatisch. Man lasse den Patienten immer nur
wenig auf einmal und öfter essen, um das Erbrechen abzuschwächen. Magen-
ausspülungen sind von Vortheil, ebenso Desinfection des Mundes. Alcoholica
und Gewürze, welche Schmerzen verursachen, sind zu meiden. Die ausge-
suchteste Diät und jede Art der Behandlung in den Tropen helfen dem
Europäer wenig. Gute Resultate erhält man bei Anwendung der Fruchtkur,
zuerst nur europäische Früchte wie Aepfel und Pfirsiche, Trauben, dann tro-
pische, wie Mangistan und Ramboetam, wovon 2 — 4 Pfund täglich gegessen
werden können, auch Bananen sind zu gebrauchen. Das beste Mittel ist die
Repatriirung nach Europa, wenn es noch Zeit ist, etwa im Anfange des zwei-
ten Stadiums.
3. Leberkranklieiten. //. Functionelle Veränderungen, Hyperämie, Hepa-
titis. Die Leber spielt in den Tropen, in biochemischer Beziehung, eine weit-
aus bedeutendere Rolle als in Europa.
Da sie zugleich das vulnerabelste, bei allen Krankheiten in Mitleiden-
schaft gezogene Organ der Tropenbewohner, besonders der europäischen, dar-
stellt, welches, wenn es intact bleibt, den Organismus vor Intoxicationen schützt,
so ist eine kurze Erörterung ihrer functionellen Veränderungen, ohne dass
dabei bestimmte Krankheitszustände bemerkbar wären, nicht gut zu umgehen,
TßOPENKRANKHEITEN. 677
schon weil damit ein Verständnis des Wesens der Tropenkrankheiten ange-
bahnt wird.
Erfahrungsgemäss steht fest, dass wie bereits bei „Magendarmkatarrh"
erwähnt, weniger bei Schwarzen, mehr aber bei Weissen in den Tropenländern
eine grössere Blutfülle der Baucheingeweide besteht. Die blasse Gesichtsfarbe
der Europäer in den Tropen, rührt wie die Untersuchungen Eykmann's,
Glogner's, van der Scheer's u. A. lehren, nicht von einer irgendwie in die
Wagschale fallenden Verminderung des Hämoglobingehaltes ihres Blutes her.
Nach VAN DER ScHEER Und Lehmann ist vielmehr anzunehmen, dass in
den Tropen der Antagonismus, welcher zwischen dem Blutgehalt der Haut
und der Bauchhöhle besteht, bei Weissen mehr hervortritt und dass die
grössere Ansammlung des Blutes in den Bauchorganen, den geringeren Blut-
gehalt der weissen Haut bedingt. Wir wissen ferner, dass die Leber der
Tropenbewohner, vorzüglich die der W^eissen, schwerer ist als im den gemäs-
sigten und kalten Klima. Daraus, dass die Leber mehr Blut enthält, welches
auch länger in ihr verweilt, indem das Blut vorzugsweise in das Abdomen
gedrängt wird, ist auch deren ausgiebigere und lebhaftere Thätigkeit zu er-
klären. (Suradlvite de la fonction hepatique der Franzosen.) Dazu kommt,
dass die enorm gesteigerte Zufuhr von Flüssigkeiten, in Folge des gesteigerten
Durstes, wie auch Treille betont, eine Steigerung der Leberfunction ver-
anlasst. Auf experimentellem Wege ist eine gesteigerte Production der Gallen-
farbstoffe zuerst durch Battray nachgewiesen, dem Verfasser zustimmt. Die
Menge der ausgeschiedenen Galle in 24 Stunden ist in den Tropen bei Euro-
päer gewöhnlich etwas vermehrt, dagegen fand Eykmann die ausgeschiedene
Stickstoffmenge in 24 Stunden nicht vermehrt. Neuerdings wurde jedoch von
Münzer festgestellt, dass die Leber den ganzen im Harn erscheinenden Harn-
stoff nicht erzeugt. Es müssen dabei auch andere Organe betheiligt sein,
deren Funktion aber die hyperämische Leber nicht steigert und so allein
mehr produciren kann. Wir wissen ferner, wie schon angedeutet, dass der
Leber die Rolle der Beschützerin des Organismus gegen Toxine zukommt, da
sie nach Schiff, Heger, Bouchard u. A. mehr als 50"/o injicirte, putride resp.
organisch giftige Stoffe zurückhält und da bei Pfortaderunterbindung, nach
der Vena cava zu, regelmässig Vergiftungserscheinungen nach jeder Mahlzeit
an den Versuchsthieren, auftreten.
Aus der Combination dieser Thatsachen ist leicht einzusehen, dass in
den Tropen die Leber in dem Zustande der gesteigerten Function und der
Blutfülle leichter als in Europa erkrankt und ihre Rolle als Beschützerin
gegen Toxine in abgeschwächtem Maasse erfüllen kann. So sehen wir denn
auch gerade den weissen Tropenbewohner öfter und schwerer erkranken,
besonders an Malaria, welche in den Tropen überall gegenwärtig ist, wäh-
rend der Eingeborene, dessen Leberfunctionen nicht gesteigert sind, wider-
standsfähiger ist, sehen wir weiter, dass bei jeder intercurrenten Krankheit
Fieber, Icterus und Hepatitis hinzutreten, welche uns auf die Mitleiden-
schaft der Leber an noch so leichten Krankheitsprocessen hinweisen.
Die Hepatitis der weissen Tropenemigranten, wie sie aus der fast noch
physiologischen Hyperämie so leicht hervorgeht, gibt sich subjectiv durch ein
Gefühl von Schmerz, Vollsein und Spannung in der Lebergegend und im
Epigastrium kund. Zuweilen klagen die Patienten über leichte Schmerzen in
der rechten Schulter und können die Kleider am Abdomen nicht mehr so fest
anziehen.
Die Palpation und Percussion ergibt Vergrösserung der Leber, besonders
nach unten. Gewöhnlich besteht stärkerer Icterus und Duodenalkatarrh. Ueber-
haupt schliesst sich wie erwähnt die einfache Hepatitis in den Tropenländern
gewöhnlich den Magendarmkatarrhen an, selten entsteht die einfache Hepatitis
durch Traumen und in der Folge Abscessbildung.
678 TROPENKRANKHEITEN.
Die Entstehungsursachen der einfachen Hepatitis sind gewöhntich in
übermässigen Alkoholgenuss oder sonstigen Diätlehlern zu suchen, bei euro-
päischen Frauen kommt sie leicht während der Menstruation vor. Ausserdem
bilden Traumen und Ueberanstrengungen die Ursachen.
Selten stirbt Jemand an einfacher Hepatitis. Ob der in den Tropen so
häufige Befund von Muskatnussleber auch bei anderen Krankheiten oder Ver-
wundungen Gestorbenen auf öfter überstandene Hepatitis zurückzuführen ist,
bleibt zweifelhaft. Die jedem Tropenarzte zu empfehlenden Mittel bei Hepa-
titis sind locale Blutentziehungen, Priessnitzum schlage und Abführmittel, am
besten Karlsbader Salz, entsprachende Diät und Ruhe, wobei, wenn nicht eine
andere Krankheit schon im Anzüge war, die Krankheit bald in Heilung
übergeht.
n. Die suppurative Hepatitis, Leberabscess der Tropen. Der primäre Leber-
abscess kommt fast ausschliesslich nur in den Tropen vor; er kann wie Sachs,
Andrae, van der Bürg zeigten, durch Traumen entstehen. Allein die Fälle
von durch Traumen verursachten primären Leberabscess sind gegenüber der
grossen Anzahl von anscheinend primären, aus unbekannten oder klimatischen
Ursachen entstehenden, selten, van der Burg glaubt, dass der primäre Leber-
abscess durch Spaltpilze, welche er im Eiter fand, bedingt werde, konnte
seine Ansicht aber nicht experimentell begründen. Das häufige Vorkommen
von primären Leberabscessen aus nicht genügend bekannten Ursachen, auch
aus klimatischen, kann bei der grossen Anzahl von Beobachtungen, welche
Dysenterie und Malariainfection auschliessen, nicht von der Hand gewiesen
werden. Verfasser selbst beobachtete unter einer grossen Anzahl von Leber-
abscessen nur einige, welche als primäre angesprochen werden könnten. Da
sonst der Leberabscess unter Malaria und Dysenterie als Complication nur
flüchtig erwähnt wird, möge hier dessen ausführliche Beschreibung auch aus
diesem Grunde separat erfolgen.
GiRARD LA Barcerie, Arene, Legrand uud neuerdings Navarre schliessen ,
gestützt auf ihre Beobachtungen in Neu- Caledonien, die alleinige Entstehung
der Leberabscesse in Folge von Dysenterie und Malaria völlig aus. Arene
beobachtete 160 Fälle von solchen Leberabscessen, Legrand sammelte 58
Fälle. Die genannten Autoren machen die klimatischen Einflüsse Neu-Cale-
doniens für die Entstehung dieser Fälle von suppurativer Hepatitis verant-
wortlich. Dem gegenüber lassen Kelsch, Kiener und Kartülis Leberabscesse
nur durch Dysenterie oder Malariainfection entstehen. Aber nicht nur Mala-
ria- oder Dysenterieamoeben bringen Staphylococcen und Streptococcen in die
Leber, jede mit Vereiterung einhergehende Uleration im Magen oder Darm
kann zur Ueberführung pyogener Bacterien in die Leber, wie zuerst Lebert
zeigte, Veranlassung geben. Es gibt indessen Fälle von suppurativer Hepa-
titis, welche plötzlich entstehen, ohne vorherige anderweitige Erkrankung,
die sehr acut verlaufen und oft schon nach 8 — 14 Tagen letal endigen, van
EiEMSDYK beobachtete einen solchen Fall von nur 7-tägiger Dauer, Malaria
oder Dysenterie war nicht nachzuweisen. Die Zahl der in den Tropen vor-
kommenden Leberabscesse ist sehr gross, allein es ist doch in Indien, wo
durch Trinkwasserverbesserung bei Europäern die Dysenterie fast verschwand,
auch um nicht unbeträchtliche Abnahme der Leberabscesse zu constatiren.
Männer werden davon mehr ergriffen als Frauen, auch bei ganz jungen Kin-
dern kommen sie vor, Weisse stellen das Hauptcontingent der Patienten,
pigmentirte seltener. In Indien stellte sich dieses Verhältnis dar wie, 10 : 1.
Die Mortalitätsziffer ist hoch, nach Arene und Legrand = 31 7o nach der
Niederländisch-indischen Statistik betrug sie zwischen 15*3 und 197o inner-
halb 8 Jahren.
Das Krankheitsbild der tropischen Leberabscesse gestaltet sich ver-
schieden, je nach dem Verlaufe der Kranhheit. Im Allgemeinen kann man
TROPENKRANKHEITEN. 679
darnach zwei Formen unterscheiden, die acute und die chronische. Aber bei
dieser Eintheilung gibt es Verschiedenheiten, die acute Form geht auch zu-
weilen unter Nachlass der ursprünglichen Erscheinungen in die chronische
über. Nach kurzem unbestimmten Unwohlsein erkranken vorher Gesunde
unter gastrischen Symptomen fieberhaft. Die Körpertemperatur beträgt 39
bis 40", wenn der Arzt am Krankenbett erscheint. Völlige Appetitlosigkeit,
dicker Zungenbelag, Erscheinungen von Darmkatarrh, Schmerzen im rechten
Hypochondrium bilden die Regel. Dabei fällt das eigenthümliche Aussehen
des schnell und flach athmenden Patienten in die Augen. Seine Gesichts-
farbe ist bräunlich, die Augen sind eingefallen, die Sklerotica nicht eigentlich
icterisch, sondern perlmutterartig, das Wangencolorit ist braunröthlich, welches
um so auffallender von der gewöhnlich bleichen Gesichtsfarbe der Europäer
absticht. Bei Eingeborenen beobachtet man ebenfalls den eigenartigen Perl-
mutterglanz der Sklera. In ganz fulminanten Fällen ist der Patient bewusst-
los. Gewöhnlich klagen die Patienten schon am 2. Tage nach Eintritt
des Fiebers über zunehmende Schmerzen in der rechten Schulter. Selten und
dann nur vorübergehend, kann der Kranke schlafen. Der Schmerz in der
rechten Schulter ist ein hervorragendes pathognomonisches Zeichen bei Leber-
abscess jeder Form. Nach den Anschauungen der meisten Tropenärzte soll
dieser Schmerz erst nach Beginn der Eiterbildung eintreten, er hört erst auf,
wenn wie selten der Eiter resorbirt oder auf die eine oder andere Weise ent-
leert wird. Oft wird die acute Hepatitis auch subacut und der Schmerz vermin-
dert sich.
Bei der Untersuchung findet man das Abdomen aufgetrieben, jeder, auch
der geringste Druck auf die Lebergegend ist schmerzhaft. Trotz starker
Spannung der Bauchmuskeln kann man durch Palpation die beträchtliche An-
schwellung der Leber nachweisen, der Leberrand fühlt sich nicht mehr scharf,
sondern weich an. Die Percussion ergibt Vergrösserung der Leber, beson-
ders nach unten. Bald beginnen Schüttelfröste, ähnlich wie bei Pyämie, die
Eiterbildung anzuzeigen.
Das Fieber wird continuirlich, tritt die locale Vereiterung stürmisch
ein, so kann der Kranke plötzlich sterben, ehe man Zeit zur Operation findet.
Der Krankheitsprocess kann sich auch, wie bei multiloculären Abscessen mei-
stens der Fall mildern und subacut werden.
Die häufigeren chronischen Leberabscesse machen in der ersten Zeit
wenig Symptome. Die Patienten klagen über gastrische Störungen, Schmerzen
in der Lebergegend, dumpfes Gefühl und Schwere in der Lebergegend, gehen
noch umher, sind oft schmerzfrei, nur das eigenthümliche Aussehen der Haut
und der Perlmutterglanz der Sklera verrathen dem erfahrenen Tropenarzte
den beginnenden Leberabscess. Hin und wieder tritt auch der charakteristi-
sche Schulterschmerz auf und gewöhnlich sind die Kranken schlaflos.
Bald zeigen sich Lebervergrösserung und leichte Schüttelfröste, das Fieber
hält sich zwischen 38 und 39" C. Bei umschriebenen oder oberflächlich be-
legenen Abscessen, fühlt man später Fluctuation, oder den Abscesssack als
fluctuirende Geschwulst von der Leber sich abhebend, in der Regio mesogas-
trica. In anderen Fällen fühlt man keine fluctuirende Geschwulst, die Leber
ist nur mehr nach unten gedrängt und man kann ihre teigige Beschaffenheit
constatiren. Wenn locale Peritonitis mit der Bildung von Adhäsionen einher-
geht, so kann man ein Reibungsgeräusch fühlen. Der Urin zeigt bei allen
Fällen von Leberabscess eine Verminderung seines Harnstoftgehaltes.
Bei der Leichenöffnung erscheint die Lebersubstanz in der Umgebung
der Abscesse dunkelroth. Die tiefer gelegenen Abscesse verursachen Hervor-
wölbungen, welche dunkelroth aussehen, während ihre unmittelbare Bedeckung
heller erscheint. Bei beginnendem Leberabscess sieht man mehrere kleine
Eiterherde einen Entzündungsherd formen. Da wo die trennenden Schichten
680 TßOPENKRANKHEITEN.
durch den Eiter durchlöchert sind, fliessen diese kleinen Herde zusammen,
oft sieht man nur noch nach dem Ausspülen, dass sie bestanden, weil die
Basis des ganzen Eiterherdes nur noch, wie abgebrochene Bienenwaben, die
Eudimente der früheren Scheidewände darstellt. In einzelnen Fällen beob-
achtet man Infiltration eines kleinen Herdes mit Gallenbestandtheilen, dane-
ben nekrotischen Zerfall des Gewebes.
In allen völlig entwickelten Abscessen konnte man den abgelösten braunen
Herd, welcher in der Abscesshöhle liegen bleibt, wieder finden. Die solitären
Abscesse enthalten oft bis 4500 bis 5000 g Eiter. Diese Befunde sind auch
für secundäre Abscesse maassgebend.
Die einzige Krankheit, wovon die suppurative Hepatitis im Leben nicht
unterschieden werden kann, ist Pylethrombose und Pylephlebitis suppurativa.
Bei der suppurativen Hepatitis ist die Diarrhoe nicht so hartnäckig und es
treten Darmblutungen und Ascites nicht so leicht auf als bei Pylephlebitis,
welche in den Tropen selten vorkommt.
Mit Intermittens ist der Leberabscess bei längerer Beobachtung nicht
zu verwechseln, der Schulterschmerz, die Wirkungslosigkeit des Chinins beim
Fieber, lassen schon im Beginn der Beobachtung die Diagnose auf Intermittens
zweifelhaft erscheinen. Im späteren Verlaufe bieten die lokalen Erscheinuogen,
das Fühlbarwerden des Abscesses, volle Sicherheit, so dass selbst pleuritische
Exsudate, welche mit beginnendem Leberabscess verwechselt werden könnten,
nicht zu Irrthümern Veranlassung geben, ebenfalls können Ecchinococcusblasen,
schon mit Rücksicht auf den Verlauf, leicht vom Leberabscess differenzirt
werden.
Kommt es im Verlaufe von Malaria und Dysenterie zu Hepatitis, treten
Diarrhoe, farblose Stühle, Icterus, Schmerzen in der Lebergegend und unregel-
mässige Schüttelfröste auf, so darf man an beginnenden Leberabscess denken,
gewöhnlich ist der Verlauf des secundären Leberabscesses ein sehr langsamer
und der bacteriologische Befund des Eiters sichert die Diagnose.
In den Fällen von Leberabscess, welche nicht in Anschluss an Malaria
und Dysenterie, besonders von den französischen Autoren, beobachtet wurden,
fanden sich nach deren Angaben keine Bacterien, oder Amoeben, jedenfalls
enthält der Eiter stets pyogene Bacterien in grosser Anzahl.
Das einzige sichere Mittel gegen Leberabscess ist die frühzeitige Ope-
ration. Bereits zu Ende des 17. Jahrhunderts wurde dieselbe von Tropen-
ärzten vorgenommen, in Indien hat zuerst Bontius die Operationstechnik alten
Stils beschrieben. Will man die Operation ausführen, ehe Adhäsionen der
Leberkapsel mit der Bauchwand entstanden, so kann man den Troicart
anwenden, oder auf den Aspirateur und die Canüle einige Tage liegen lassen,
wonach Adhäsionen sich bilden, dann weiter incidiren, drainiren, eventuell
die Abscessreste mit dem Löffel entfernen. Das aseptische Verfahren empfienlt
sich hier, wie bei jeder anderen Operation,
Locale Blutentziehungen, antiphlogistische Behandlung im Beginn der
Krankheit, haben nur den Werth von Linderungsmitteln. Da in der ersten
Zeit der Unterschied zwischen Malaria und Hepatitis suppurativa chronica
nicht immer ganz deutlich hervortritt, so sind auch Chiningaben nicht von
der Hand zu weisen, obschon das Chinin bei Hepatitis suppurativa nach un-
seren eigenen Erfahrungen wirkungslos ist.
Lebercirrhose und acute gelbe Leberatrophie sind keine nur in den
Tropen vorkommende Krankheiten, weshalb wir sie hier übergehen, noch dazu
sie sich in den Tropen nicht unterscheiden und in Europa ebenso oft vor-
kommen
4. Ainhum. Eine in Brasilien und in britischen und französischen
Tropencolonien beobachtete Krankheit, bei M^elcher nach vorgängigem Ulce-
rationsprocess die fünfte, zuweilen auch noch die vierte Zehe im Interphalan-
TROPENKRANKHEITEN. 681
gealgelenk sich spontan abstossen, ohne dass Lepra dabei intercurrirt. Auch
verschwärt und schwindet der Knochen bei Ainhum nicht so wie bei Lepra
langsam, sondern er stösst sich direct ab und nur an den beiden genannten
Zehen. Winkler hat in Guyana 20 Fälle gesammelt, de Brun und Corre
ebenfalls eine beträchtliche Anzahl, Die brasilianischen Aerzte, welche, wie
besonders de Silva, betonen, dass Ainhum eine Krankheit sui genesis sei.
Die Aetiologie ist völlig dunkel, es werden von der Krankheit nur
Schwarze ergriffen.
Die Behandlung ist symptomatisch, antiseptisch.
5. Filariakraiikheiteii.*) Der geschlechtsreife 8—10 cm lange Wurm,
Filaria sanguinis, zu den Nematoden gehörig, wird in den Lymphräumen des
Scrotum, der Unter- und Oberextremitäten bei Elephantiasis arabum ange-
trotien, der etwa 0-32 mm grosse Embryo im Blute solcher Kranken und an
Chylurie Leidender. Manson und Magehaes fanden auch noch eine kleinere
14 mm lange Filaria sanguinis, deren Eier nur 0034: mm lang sind. Auch
die Hämaturie und Sleeping sickness der Neger am Congo wird mit der An-
wesenheit von Filaria im Körper in Verbindung gebracht.
Viele Kranke, auch Europäer in den Tropen und Subtropen, bemerken
das Blutharnen in Folge von Filaria erst nach anstrengenden Körperbewe-
gungen, die Blutungen können dann längere Zeit sistiren, kehren aber wieder
und schwächen den Organismus, ebenso die Chylurie. Meistens ist Elephan-
tiasis arabum zugleich entstanden. Am häufigsten ist die Krankheit in Samoa.
Die durch Filaria veranlasste Elephantiasis der heissen Klimate stellt eine
Hyperplasie des Corium, dann des subcutanen Bindegewebes dar und es kommt
im weiteren Verlaufe zur Bildung der bekannten elephantiastischen Geschwülste
besonders am Scrotum und den Unter extremitäten, deren Cutis und Panni-
culus adiposus eine speckartige, blutarme Masse darstellt, aus welcher auf
Durchschnitten eine seröse Flüssigkeit fliesst. Haare und Follikel sind meist
normal, die hypertrophischen Schweissdrüsen sind wie auseinandergedrängt
und stehen weiter als normal von einander ab. Die Muskeln sind atrophisch,
fettig degenerirt.
Entweder entsteht die Krankheit unter fieberhaften Symptomen und
es zeigt sich neben Gastritis ein Erysipel, sowie Chylurie und Hämaturie,
oder das Fieber fehlt und es kommt zu den Hautverdickungen und Ge-
schwülsten. Oft bilden sich auch nach Lymphdrüsenschwellungen harte Stränge
in der Haut, woran sich die elephantiastische Neubildung anschliesst.
Anatomisch stellen diese Geschwülste ein Hauthorn dar und in der ersten
Zeit der Erkrankung kann nur die Aetiologie, der Nachweis von Filaria, das
Wesen der Neubildung bestimmen. Man findet die Filariaeier am Tage im
Urin des Kranken.
Eine bestimmte causale Therapie bei Filariakrankheiten gibt es noch
nicht, die Geschwülste werden chirurgisch behandelt, es gehen jedoch trotz-
dem viele Kranke später zu Grunde, da die Filaria im Blute bleibt, sich
weiter verbreitet und Recidive veranlasst. Prophylaktisch ist es wichtig in
den Tropen, wo meistens überall Filaria vorkommt, das Baden in Süsswasser-
fiussläufen zu verbieten, da nach Manson's, Wucherer's, Bankroft's, Lewin's
und DOS Santos Untersuchungen die Mosquitos den Zwischenwirth darstellen,
um den im Blute der Kranken anwesenden Embryo zum geschlechtsreifen
Wurm auszubilden. Die Mosquitos saugen mit dem Blut die Embryonen auf,
die trächtige Mosquito, es handelt sich dabei stets um weibliche Mosquitos,
welche allein einen Stachel haben, geht in's Süsswasser, um ihre Eier abzu-
legen und stirbt. Von da aus kann die Filaria in die Haut des Menschen
*) Vide die bezüglichen Abbildungen im Artikel „Eingeweidewürmer des Men-
sehen"' Bd. I., pag. 487.
682 • TROPENKRANKHEITEN.
gelangen. Im Meerwasser halten sich Mosquitos nicht auf. Im Hochgebirge der
Tropen gibt es auch keine Mosquitos mehr und auch keine Filariakronkheiten.
Die Bilharzia haematobia, eine Filarienart, welche häufig
am Kap und in Aegypten vorkommt, erzeugt ein leichtes hämaturisches
Fieber, welches bald verschwindet, dagegen entleeren die Patienten, meistens
Knaben oder junge Leute, dicken, bluthaltigen Urin, welcher spitze Parasiten-
eier von 0'12 mm Länge enthält. Je nachdem der Patient sich ruhig verhält,
oder sich anstrengt, nimmt der Blutgehalt des Urins zu oder ab, bis er oft
noch nach einem Jahre schwächer sanguinolent erscheint. Die Patienten sind
sehr anämisch und werden symptomatisch behandelt. Da gewöhnlich solche
Knaben von der Krankheit ergriffen werden, welche viel baden und im Wasser
sich umhertummeln, glaubt man im Volke, dass sie durch zu häufiges Baden
entstände, ein Umstand, der auch für die Uebertragung des Wurmes durch
das Wasser spricht. Selten findet man den reifen Wurm von 12 — 14: mm
Länge im Urin, er hält sich in den Abdominalvenen auf.
Eigenthümlich ist es, dass die Filariaembryonen nur Nachts im Blute
schwärmen, während sie am Tage nicht darin zu bemerken sind, dagegen
sind sie tagsüber im Urin zu finden. Diese Beobachtung ist übereinstimmend
von den namhaftesten Forschern wie Manson, Meyer, Makenzie gemacht
und von allen nachfolgenden bestätigt worden. In einem Pieferat sagt uns
ScHELLONG das Gegeutheil, Schellong beobachtete jedoch nicht selbst.
IL [nfectionskraiikheiten der Tropen.
Bei der Beurtheilung des Wesens der Infectionskrankheiten der Tropen-
länder und deren Classification, kommen ausser den für unsere Breiten
geltenden Gesichtspunkten wesentlich neue hinzu. Nicht nur der Rassen-
einfluss ist es, der uns bei der Art des Auftretens der Infectionskrankheiten
und ihrer Häufigkeit entgegentritt, sondern es ist auch in dieser Hinsicht die
Abhängigkeit von localen Verhältnissen in erster Linie zu berücksichtigen.
In den Tropen, wo bei stagnirender Feuchtigkeit im Boden, zugleich eine
bedeutend höhere Wärme nicht nur den oberen Bodenschichten, sondern auch
den tieferen eigen ist, besteht an solchen Plätzen mehr Gelegenheit als in
der gemässigten Zone mit ihren verschiedenen Jahreszeiten, die sich in den
Tropen wenig differenziren, zur Bildung pathogen er Keime. Bekanntlich ist
es niemals gelungen auf die Dauer in den Tropen Entsumpfung herbei-
zuführen, wohl aber durch ausgiebige fortwährend erneute Drainage den Boden
zeitweise zu saniren, wenn auch nur auf umschriebenem Terrain. Ist der
Boden durchlässig, sind in der Umgebung von Wohnstätten keine stehenden
Gewässer vorhanden, kann das in den Tropen hochstehende Grundwasser
schneller abfliessen, wie das an der Flanke des Gebirges gewöhnlich stets der
Fall ist, so trifft man auf verhältnismässig stets trockene obere Bodenschichten
und in einem solchen Gebiet herrschen weniger oder selten Infectionskrank-
heiten, deren Keime vom tropischen Boden ausgehen. Die Unterschiede des
Höhenklimas und des Klimas des Tropentieflandes, respective der Küste,
spielen ebenfalls eine Rolle bei der Frage des häufigeren und intensiveren
Auftretens der Infectionskrankheiten und der dabei zur Beobachtung ge-
langenden verschiedenartigen Formen. Wir wissen, dass besonders der
Europäer im Höhenklima nicht durch den Kampf um die Erhaltung seiner
Eigenwärme afficirt wird, wie in der feuchtheissen Atmosphäre des Tief-
landes in der Küste und dass er dort widerstandsfähiger gegen Infection sich
erweist, während der aus dem Küstenklima in das Höhenklima transferirte
Eingeborene sich weniger wohl fühlt.
Noch ein Moment kommt bei der Prädisposition zu Tropenkrankheiten
für den Europäer hinzu, nämlich die von Glogner und Virchow betonten
geringen Abweichungen vom physiologischen Zustande, wie sie sich, bei
TROPENKRANKHEITEN, 683
längerem Tropenaufenthalt mit Ausschluss des Höhenklimas nach Glogner's
Untersuchung-en in einer geringen Abnahme des Hämoglobingehaltes des
Blutes von Weissen und der Zahl rother Blutkörperchen aussprechen.
In diesem Zustande, darf man annehmen, tritt eine geringere Wider-
standsfähigkeit gegen Infectionskrankheiten bei Europäern hervor.
Bei der Abhandlung der einzelnen Infectionskrankheiten müssen diese
Momente Berücksichtigung linden und zum Verständnis führen. Dabei mag
von vornhinein darauf hingewiesen werden, dass fast alle tropischen Infections-
krankheiten als Bodenkrankheiten angesehen werden können, wenn auch ihre
Keime sich nicht bakterioskopisch im Boden nachweisen lassen, denn bisher
fand man im Erdboden nur den Tetanusbacillus, den Milzbrandbacillus und
den Bacillus des malignen Oedems, neuerdings wies auch Kitasato den von
ihm gefundenen Pestbacillus an der Tropengrenze im Erdstaube nach. Die
tropischen Bodenkrankheiten entstehen wie schon aus dem Erörterten her-
vorgeht, nicht wie in Europa fast ausschliesslich durch Infection des Bodens,
seitens dicht zusammenlebender Menschen, sondern die natürlichen Verhält-
nisse der Tropen bedingen sie, die Bodeninfection an dicht bewohnten Orten
durch Menschen und Thiere tritt in den Tropen nur hie und da bei einzelnen
Krankheiten und auch dann nur in untergeordneter Weise auf, denn der
Tropenboden an sich und die wechselseitige Wirkung voq Wärme, Feuchtigkeit
und seiner Flora bringt die tropisch-endemischen und epidemischen Krank-
heiten hervor. Man w'eiss, dass allein das Verlassen dieses Bodens, Verweilen
im tropischen Hochgebirge, wo die Humusschichte eine nur sehr dünne ist
oder fehlt, auf Sandboden, oder endlich auf Schiffen auf dem Meere, tropische
Infectionskrankheiten ohne weitere Behandlung zur Heilung bringt und jede
andere Medication in Hospitälern der Tiefebene bei Weitem übertrifft.
Die Unterschiede des Wesens, des Auftretens, der ätiologischen Momente
und darnach der Behandlung der tropischen Infectionskrankheiten liegen also
in der Eigenart der natürlichen Verhältnisse der Tropenländer, welche der
Arzt wenigstens im Allgemeinen kennen soll, um sich eine richtige Auffassung
der Tropenkrankheiten überhaupt zu verschaffen und sich in die Tropen-
pathologie hineinzuleben. Hier mag es genügen, darauf hingeweisen zu haben,
der Leser wird in der Darstellung der einzelnen Krankheiten diese Auffas-
sung wiederfinden, welche in den Lehrbüchern der eigentlichen Tropenhygiene
ihre Stütze findet.
1. Die Beri-Berikraiikheit. Die Beri-Beri ist eine in den Tropen und
auch noch in subtropischen Ländern endemisch und epidemisch vorkommende
Krankheit. Das Verbreitungsgebiet der Krankheit ist nach den Ergebnissen
der Fragebogen, durch Below und Schellong bearbeitet, vom Verfasser für
das Reichsgesundheitsamt begutachtet, ein sehr grosses in den Tropen,
nur in Afrika findet sich Beri-Beri seltener, mehr in Indien und in Süd-
amerika. Das Wort Beri-Beri kann aus dem Sundanesi sehen abgeleitet werden
und bedeutet in dieser Sprache steifer Gang, da bei dieser Krankheit Jedem
der eigenartige Gang der Kranken auffällt. Die Krankheit selbst besteht in
Fettdegeneration peripherer Nerven und Muskeln, Erkrankung des Herzens
und Störungen im kleinen Kreislauf.
Je nach den bedeutendsten Symptomen, nach Verlauf und Dauer der
Krankheit sind von den Autoren verschiedene Formen beschrieben worden.
OuDENHOVEN Unterscheidet danach die marastische, die hydropische und die
polysarcose Form, Scheube die rudimentäre, die atrophische, die hydropische,
die perniciöse oder die cardiale Form. Wernich classificirt die Formen nach
dem Verlauf der Krankheit und unterscheidet danach den abortiven, den
foudroyanten und den mittleren Verlaufstypus. Die Classification nach dem
Verlaufe gestaltet sich übersichtlicher und einfacher, wir beobachten dabei
die acute Krankheitsform, wobei oft schon nach ein bis zehn Tagen der
6Si TROPENKRANKHEITEN.
Exitus letalis eintritt und die chronisch verlaufende Beri-Beri,
deren Fälle die Mehrzahl bilden. Nicht immer jedoch verläuft die acute
Beri-Beri mit tödlichem Ausgang und die mehr sabacuten Fälle gehen ge-
wöhnlich dann in chronische Beri-Beri über.
Bei der acuten Form der Beri-Berikrankheiten werden in den Tropen
selten deutliche Prodrome beobachtet. Meistens fühlen sich die Kranken
einige Tage matt, der Appetit ist vermindert, oft stellt sich ein spannendes
Gefühl in den Waden ein und Schwere in den Beinen. Nur ausnahmsweise
ist der Eintritt der Krankheit von einer Steigerung der Körpertemperatur
begleitet, dagegen ist der Puls etwas frequenter 96 pro Minute im Mittel.
Dann tritt mit einem Male stärkere Pulsbeschleunigung, 120 bis 140 pro
Minute, Kurzathmigkeit und lähmungsartige Schwäche auf, die unteren
Extremitäten versagen den Dienst. Die Kranken klagen bald über heftige
Schmerzen im ganzen Körper besonders im Bauch, Uebelkeit und zeitweises
Erbrechen, Durstgefühl machen sich bemerkbar. Das Geschrei der Kranken
war vorzugsweise in der Nacht so entsetzlich, dass die Beri-Berikranken aus
meinem Spital auf Atjeh — Sumatra — in eine alleinstehende Baracke verlegt
werden mussten, um die Festungsbesatzung nicht noch mehr zu beunruhigen.
Meine Wohnung befand sich dicht am Krankensaal und trotzdem ich Morphium-
injectionen zur Linderung der Schmerzen reichlich versuchte, hatten diese
bei solchen hochacuten Fällen doch nur vorübergehende, oft gar keine Wirkung.
Bald zeigt sich Oedem des Gesichtes, des Rumpfes und der Unterextremitäten.
Die Urinsecretion wird vermindert, zuweilen versiecht sie ganz, der Urin
ist albuminhaltig. Das Gesicht des Kranken wird cyanotisch, grosse Athemnoth,
wie bei Lungenoedem, welches auch thatsächlich meistens vorhanden ist,
vermehrt seine Unruhe, der offene Mund, der stiere Blick, die erweiterten
Pupillen zeigen den Fortschritt des Lähmungszustandes an. Herzpalpitationeh
erschüttern sichtlich die Herzgegend, Pulsationen im Epigastrium und der
Carotiden treten hervor, der Puls wird kleiner und schwächer. Es muss
hervorgehoben werden, dass immer bei solchen mehr oder weniger starken
Erscheinungen von Herzinsufficienz an Beri-Berikanken die Pulswelle klein ist.
Bei der Percussion findet man die Herzdämpfung vergrössert» meistens all-
seitig, die Herztöne bei der Auscultation häufig ganz rein, oder den ersten
Ton über der Mitralis und Tricuspidalis unrein, auch durch ein Geräusch
verdeckt.
Die Kniescheibensehnenreflexe sind aufgehoben, die Hautreflexe an den
Beinen stark vermindert. Unter Zunahme der Oedeme tritt häufig der
Tod ein. Bei milderen Fällen der acuten Form, die auch ein Prodromal-
stadium besser erkennen lassen, sind die Erscheinungen nicht so ausgesprochen
und gehen häufig unter Nachlass derselben in die chronische Form über.
Die chronischeBeri-Beri beginnt ohne lästige Prodrome, gewöhnlich
fühlen sich die Patienten leichter ermüdet als früher und haben leichte
Magenbeschwerden. Allmälig ermatten die unteren Extremitäten mehr und
mehr und der charakteristische Gang der Beri-Berikranken wird bemerkbar.
Dieser Gang hat wohl Aehnlichkeit mit dem Gange der Tabetiker und bis in
die neuere Zeit wurde auch Beri-Beri von Tropenärzten als eine Art Tabes
angesehen, indessen hat das Schliessen der Augen keinen Einfluss auf die
Ausführung von Bewegungen der Beine, wie bei Tabes. Der Gang Beri-
Berikranker vollzieht sich mit weiter auseinandergestreckten Beinen, sie
machen kleine Schritte, wobei es aussieht, als wollten sie beim Gehen etwas
von den Füssen abschütteln. Van der Burg machte darauf aufmerksam,
dass die Kranken die Knie stärker als normal beim Gehen biegen und die
ganze Fussohle auf einmal vom Boden losreissen. Sitzen die Kranken mit
gekreuzten Unterschenkeln, so ist es für sie ausserordentlich schwer sie aus-
einanderzubringen und die Füsse erst so weit auseinanderzustellen, um auf-
zustehen.
TROPENKRA.NKHEITEN. 685
Die Körpertemperatur bleibt normal, gewöhnlich zeigen sich leichte
anämische Erscheinungen und Herzklopfen aber nicht hochgradig. Oedeme
sieht man hie und da, besonders an den Unterschenkeln an deren Haut zuerst
Zeichen von Anästhesie bemerkt werden, welche sich weiter verbreitet. Da-
gegen wird tiefer Druck auf die Muskeln schmerzhaft empfunden. So-
wohl SciiEUBE, als Pekelharing und Winkler fanden, dass bei Beri-Beri-
kranken die elektrische Reizbarkeit der Nerven und Muskeln vermindert sei,
Pekeliiaring behauptet, dass diese Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit
schon im Initialstadium der Beri-Berikrankheit die Diagnose sichere und nur
früher von anderen Beobachtern nicht erkannt werden konnte. Glogner zeigte,
dass nicht allein die Herabsetzung, sondern auch die Schwankungen der
elektrischen Reizbarkeit der peripherischen Nerven für die Erkennung der
Beri-Berikrankheiten und für das Endurtheil ob die Krankheit geheilt sei oder
nicht in Betracht zu ziehen seien. Die elektrische Untersuchung der Nervi
peronei und tibialis genügt sowohl zur Bestimmung des Maasses der Ver-
minderung der Reizbarkeit, als der Schwankungen im weiteren Verlaufe. Mit
der messbaren Herabsetzung dieser elektrischen Reizbarkeit der Nerven und
Muskeln, geht eine Pulsbeschleunigung einher. Glogner beobachtete auch
leichtes Fieber — 38^ C — . Zuweilen wird die elektrische Erregbarkeit des
Nervi peronei et tibialis fast normal = 31/2— 4V2 Milliamperes befunden, um
bald wieder ins Gegentheil umzuschlagen, was bei gesunden Individuen nicht
beobachtet wird.
Die Untersuchung des Herzens bei chronischer Beri-Beri ergibt geringere
Verbreiterung der Herzdämpfung, stärkere Herzpulsation als normal, die Herz-
töne sind rein. Die Respiration ist öfters beschleunigt, flacher, je nachdem
das Krankheitsgift Herz und Organismusnerven mehr oder weniger ergreift.
Der Urin ist wenig oder gar nicht vermindert, normal.
Die Aetiologie der Beri-Berikrankheit betreffend, müssen wir uns bei
dem in einzelnen stets niedrig gelegenen Gegenden epidemischen und en-
demischen Vorkommen und der eigenartigen Verbreitungsweise in bestimm-
ten Bezirken, wo Menschenansammlungen und Erdarbeiten stattfanden, sowie
auf Transport und Krankenschiffen mit Beri-Berikranken vorstellen, dass die
Ursache der Krankheit in einem organischen Krankheitsgift bestehe, wel-
ches vom Boden aus in den Körper eindringt. Nur so ist es auch erklär-
lich, dass von mit Beri-Beri durchseuchten Küstenplätzen aus, die Krankheit
auf die Schiffe übertragen wird, so dass deren Mannschaft, welche nicht das
Land betreten hatte, jedoch mit den vom Lande eingeladenen und mit Erde
und Staub beschmutzten Waarenballen zu thun hatte, oder darauf auszuru-
hen pflegte, inficirt wurde. Auch wies Weintraub nach, dass durch die Klei-
der von Beri-Berikranken, an sonst immunen Plätzen die Krankheit entstand.
Uebertragungen der Krankheit von einem Ort zum anderen durch Menschen
sind ebenfalls öfters beobachtet. Wir wissen ferner, dass nur in ganz be-
stimmten Gegenden in den Tropen stetig Krankheitsherde bestehen, wie z. B.
auf Atjeh, auf Sumatra, wo grosse Truppenansammlungen an der Küste auf
einem engen Terrain seit Jahren stattfinden und wo erst nach grossen Erd-
arbeiten die Beri-Berikrankheit in beachtenswerthem Maasse auftrat, während
sie früher nicht bestand. Dabei erkranken die Eingeborenen auf Atjeh nicht
an Beri-Beri, sie wohnen ausserhalb der holländischen Linien zerstreut auf wei-
ter Fläche. Erst wenn sie von Atjeh fort nach einem anderen Beri-Beribezirk
kommen, erkranken sie, oder auch beim Zusammenleben mit den holländi-
schen Truppen, von denen hauptsächlich nur die Eingeborenen an Beri-
Beri erkranken. In Indien sah man bis 1880 Beri-Beri als eine Eingeborenen-
krankheit an. Nachdem aber in Atjeh auf alluvialem, begrenzten Terrain,
innerhalb der Fortlinie, weisse Soldaten, abwechselnd mit eingeborenen Militärs
dieselben Quartiere bezogen und auch mit den eingeborenen Strafarbeitem
686 TEOPENKRANKHEITEN.
im Feldlager und Quartieren in nähere Berührung kamen, mehrten sich die
Beri-Berierkrankungen unter den Weissen. Man muss jedoch festhalten, dass
die Beri-Berikrankheit in acut-perniciöser Form, fast ausnahmslos die pigmen-
tirten Rassen befällt. In Indien stellt sich das Verhältnis von Europäern
zu Eingeborenen etwa wie 1:120. Frauen leiden selten an Beri-Beri. In
Japan, wo sich die Europäer mehr absondern, ist dieses Verhältnis noch gün-
stiger.
Bei grossen Anstrengungen und Strapazen, bei unregelmässiger Lebens-
weise und nicht gewohnter, nicht reichlicher Nahrung, sah Verfasser stets
Beri-Beri entstehen, weniger oder selten bei Personen, auch pigmentirten,
welche gut und regelmässig lebten, ohne ermüdenden und überanstrengenden
Arbeiten ausgesetzt zu sein. Ueber den Krankheitserreger der Beri-Beri-
herrschen bis jetzt noch verschiedene Anschuungen vor.
Leopold theilt mit, dass im pathologisclien Institut der Universität Montevideo die
Herren Masso und Morcelli zwei Mikrococcen aus dem Blute Beri-Berikranker gezüchtet
hätten, wovon der eine bei Hunden und Meerschweinchen Polyneuritis degenerativa er-
zeugte. Dabei zeigten sich die Muskeln, besonders die Adductoren, atrophisch. Der andere
ist ein kleiner Streptococcus. Den letzteren scheinen auch Pekelharing und Winkler in
Indien im Blute der Kranken beobachtet zu haben, nachdem van der Eecke ihn schon
früher beschrieb. Fiebig spricht die Meinung aus, dass dieser Streptococcus mit Staphylo-
coccus pyogenes albus identisch sei, dem Sgheube sich unter Vorbehalten anschliesst. Die von
Pekelharing und Winkler gefundenen Bakterien sind allseits nicht bestätigt worden.
Neuerdings veröffentlichte Glogner in Samarang auf Java in Virghow's Archiv ei-
nige Arbeiten, worin er mittheilt, dass er in den rothen Blutkörperchen Beri-Berikranker
Plasmodien fand, deren nähere Beschreibung vorbehalten bleibt, besonders fand Glogner
im Milzblut eigenartige, extra globulär im Pulpage webe lebende, sehr pigmentreiche Ge-
bilde, welche sich wie Malariaamöben fortentwickeln und von denen die grössten den
Umfang eines rothen Blutkörperchens überschreiten. Glogner theilt mit, dass bei Chinin-
dosen von 1-25 g die Mortalität von 46'8''/o auf 13 l^/o sank, er sieht Beri-Beri als eine
Protozoenkrankheit an und weist auch darauf hin, dass der Hämoglobingehalt des Blutes
sowohl bei Malaria als bei Beri-Beri sinkt.
Bei so widersprechenden Befunden über die Natur des Krankheitser-
regers kann heute noch kein abschliessendes Urtheil darüber abgegeben werden.
Dass der noch umstrittene Krankheitserreger in der Weise anderer
pathogener Mikroorganismen im Organismus und speciell auf die peripherischen
Nerven, zerstörend wirkt, zeigen die feststehenden pathologisch -anato-
mischen Befunde, wodurch auch die Bezeichnung Scheube's, .^Polyneuritis
degenerativa'-\ volle Berechtigung erhält. Auffallend ist die nach Heetzfeld
und von Leent bis 40 Stunden nach dem Tode anhaltende Leichenstarre.
Die Musculatur hat eine bleiche gelbliche Farbe, vorzugsweise an den
Unterextremitäten. Die einzelnen Muskeln sind atrophirt, je nach der Dauer
der Krankheit. Das Mikroskop zeigt meistens Fettdegeneration der atrophirten
Muskelfasern, welche sehr verdünnt und oft ohne Querstreifung sind, so dass
sie aus einer homogenen Masse, mit Neigung zu Zerfall, bestehen. Die Herz-
musculatur ist schlaff und mehr oder weniger fettig degenerirt. Dabei ist
überall die Anzahl der Kerne stark vermehrt. Balz und Scheube fanden da-
neben auch feinkörnige Trübung und colloide Entartung im Herzfleisch.
In Gehirn und Rückenmark findet man makroskopisch, ausser venöser
Hyperämie wenig auffallende Veränderungen, Mikroskopisch im Rückenmark,
Wucherung der Zellen des Centralcanals, verbunden mit Kerninfiltration der
Umgebung. Die Nervenwurzeln verhalten sich normal. Den von einigen
Beobachtern bemerkten Schwund der Ganglienzellen der Vorderhörner er-
klären Scheube, Balz, Pekelharing, Ballet und Fiebig für selten und dann
als Folgezustand der primären Muskel atrophie.
In den Nerven sind die Zeichen der degenerativen Entzündung markant.
Nach Scheube ist die Markscheide der mit Osmiumsäure behandelten Nerven
im ersten Stadium der Erkrankung unregelmässig contourirt und zeigt rosen-
kranzartige Anschwellungen und Einschnürungen, Zuletzt schwindet die
Markscheide und man findet neben Kernvermehrung, einen gelblichen Detri-
TROPENKRANKHEITEN. 687
tus, Fettkörperchenzellen und längliche Kerne, bei der chronischen Form auch
beträchtliche Zunahme von Bindegewebe.
Neben solchen auf degenerative Processe weisenden Befunden, spricht
ScHEüBE auch von solcher regenerativer Art, er fand zwischen den leeren,
oder mit fettig zerfallenem Mark erfüllten ScHWANN'schen Scheiden auch
schmale graue Nersenfasern. In acuten Fällen erstreckt sich diese Nerven-
erkrankung auf den Nervus vagus und seine Aeste, die Herz- und Lungen-
nerven, selten auf den Nervus phrenicus. Es werden auch entzündliche
Processe an den kleinen Blutgefässen der Nerven beobachtet, auch vom Ver-
fasser selbst. Stets sind die kleinen in den Muskeln endigenden Nervenver-
zweigungen mehr ergriffen, als die oft intacten grossen Nervenstämme.
In der Pleura finden sich, bei Hydrops im Leben, alb um inhaltige Ex-
sudate von 600 — 700 ccm, das Pericard ist dann mit seröser Flüssigkeit mehr
oder weniger gefüllt. Das Herz selbst ist schlaff, durch Dilatation der rechten
Herzkammer, vergrössert.
Das Blut bleibt flüssig, ist eiweissarm, zeigt nach Ogata saure Reaction.
Bälz constatirte Vermehrung der weissen Blutkörperchen, welche man aber
auch bei anderen anhaltenden Krankheiten findet. Die Leber und Milz sind
meistens geschwollen und bluthaltig.
Die Diagnose auf Beri-Beri ist nach den gegebenen Erörterungen für
den erfahrenen Tropenarzt leicht.
Aber auch der aus Europa anlangende Neuling kann sich an der Hand
dieses Leitfadens in der Diagnose selbst zu Anfang der Erkrankung nicht
irren. Die Symptome der acuten Form sind so prägnant und treten gleich
so deutlich hervor, dass sie nicht verkannt werden können. Da die ent-
zündlichen Vorgänge in den Nerven und kleinen Blutgefässen, an den peri-
pherischen Nerven nicht immer sehr hervortreten, so können die Schmerzen
hie und da geringer sein, der Gang der Beri-Berikranken aber und bei sehr
acutem Verlauf die vollständige Unfähigkeit zu stehen, die bald eintretenden
Oedeme der Haut, die Verminderung der Harnsecretion, die geschilderten
Symptome seitens des Herzens, das Verschwinden der Reflexe, die Hautan-
ästhesie, dabei die Hyperaesthesie der Muskeln können nicht missdeutet wer-
den. Fieber fehlt oft, oder ist nur gering, während bei Malaria die typischen
Fieberanfälle stets prävaliren.
Um schon im Anfange der Erkrankung die chronische Form der
Beri-Beri zu erkennen, darf die Prüfung der elektrischen Reizbarkeit der
Nervi peronei et tibiales nicht versäumt werden. Schon ehe der charakteri-
stische Gang der Beri-Berikranken voll und ganz beobachtet wird, kann die
Herabsetzung der elektrischen Reizbarkeit dieser Nerven einen sicheren An-
haltspunkt für die Diagnose auf Beri-Beri gewähren. Ist erst der Gang der
Beri-Berikranken ausgebildet und dieses geschieht gewöhnlich bald, so irrt
sich der erfahrene Beobachter nicht mehr. Wer erst einige Zeit und öfters
diesen Gang sah und studirte, kann ihn stets auf den ersten Blick wieder
erkennen. Von Tabes unterscheidet sich die Beri-Beri schon dadurch, dass
bei der ersteren die elektrische Reizbarkeit der Nerven sich gleich bleibt,
auch ist die Tabes eine Erkrankung, welche vorzüglich ältere Leute er-
greift, w^ährend an Beri-Beri fast ausnahmslos nur junge, kräftige Menschen
leiden. In den Tropen kommt Beri-Beri an den betreffenden Plätzen ausser-
dem endemisch vor. Bei der chronischen Form der Beri-Beri bemerken wir
Oedeme, Störungen der Herzaction, Verminderung der Urinmenge, bei Tabes
nicht.
Vom Initialstadium des Typhus, der in den Tropen selten und dann
nur leicht vorkommt, kann sowohl die acute als chronische Beri-Beri schon
im Prodromalstadium durch Temperaturmessung und Messung der elektrischen
Reizbarkeit der peripherischen Nerven unterschieden werden.
688 TEOPENKRANKHEITEN. .
Die Prognose der Beri-Beri ist im Allgemeinen nicht günstig, be-
sonders die der acuten Form, woran mehr als 58% starben, während in Folge
der chronischen Erkrankung, welche sich mehr als ein Jahr hinziehen kann,
nur 14— 157o der Patienten zu Grunde gehen.
Nach Glognee beziffert sich die Mortalität von Beri-Berikranken aller
Formen im indischen Archipel auf 46"87o5 nach Adrian's betrug sie auf
Sumatra 38*8% für Bahia werden 74-5% später von Silva und Lima 50*87o
angegeben. Weenich rechnete für Japan 15 — IQ^Io Mortalität. Bei diesen
Schwankungen muss man in Ptechnung ziehen, welche Formen der Beri-Beri
beobachtet wurden und bei der Truppenstatistik in Indien, dass Beri-Beri-
kranke von dem Orte der Erkrankung oft transferirt werden und dann nicht
stets aus der Statistik des Erkrankungsortes gestrichen werden. Die zuerst
angegebenen Ziffern stellen ein Mittel aus eigenen und fremden Beobachtungen
dar. 1894 betrug die Mortalität an Beri-Beri in der Niederländisch-Indischen
Armee 57o. Jedenfalls wird die Tropenhygiene ebensosehr als durch Malaria
durch Beri-Beri belastet.
Therapie. Die Anhänger der TAKARi'schen Lehre, welche darauf
fusst, dass der zu geringe Stickstoffgehalt der Nahrung in den Tropen Beri-
Beri veranlasse, legen das Hauptgewicht auf die Nahrungsweise. Danach
soll das Verhältnis des Stickstoffes zu den Kohlenhydraten in der Nahrung
wie 1:15 sein. Bei solcher Verbesserung der Nahrung in Indien ist nur
vorübergehend Abnahme der Krankheit constatirt worden. Stets wenn z. B.
wie auf Atjeh, grosse Erdarbeiten und militärische Expeditionen in grösserem
Maasstabe unternommen wurden, wobei besonders die Kulis und Strafarbeiter
unglaubliche Strapazen erlitten und auch die Soldaten übermässig sich an-
strengten, ohne regelmässig zu essen und wieder auszuruhen, trat trotz der
verbesserten Rationen die Krankheit verheerend auf. Jedenfalls muss neben
guter und reichlicher Nahrung dem Menschen in Beri-Beri bezirken jede
Ueberanstrengung erspart bleiben, um ihn vor der Krankheit zu bewahren.
Viele Autoren welche, wie auch Verfasser, die Beri-Berikrankheit als
eine Infectionskrankheit ansehen, wollen nur Desinfection der Wohnräume,
roborirende Diät und im chronischen Stadium die elektrische Behandlung
empfehlen. Der Arzt sollte sich auch hier nicht auf einen einseitigen Stand-
punkt stellen.
Warme Bäder bei Hydrops, Purgantien, Diuretica sind gegebenen Falles,
ausser genannten Mitteln, anzuwenden. Am meisten aber empfiehlt sich die
möglichst frühzeitige Evacuation des Kranken nach Beri-Berifreien Gegenden,
besonders nach dem Hochgebirge, wo die Krankheit ohne jedes Zuthun heilt,
wenn der Kranke es früh genug aufsucht.
2. Dysenteria tropica. Die tropische Dysenterie stellt sich als eine
zunächst locale Infection des Dickdarmes, hauptsächlich seines unteren Theiles
dar. Hier finden sich die weiter unten zu beschreibenden pathogenen Amöben,
welche als Krankheitserreger angesehen werden. Gewöhnlich beginnt die
Dysenterie als einfache Diarrhoe, allein schon am dritten Tage stellen sich
bei Beginn der Ausleerungen, heftige, kolikartige Schmerzen ein. Bei häu-
figem Stuhldrang ist die Quantität der einzelnen Ausleerungen gering zu
nennen. Dabei werden leichte Fiebererscheinungen beobachtet (38 bis 39° C)
das Fieber ist atypisch. Nach erfolgtem Stuhl entsteht kein Gefühl der Er-
leichterung, vielmehr dominiren Stuhldrang und Kolikschmerzen. Oft erfolgen
nur im weiteren Verlaufe 10 bis 20 blutige Entleerungen pro die, in heftigen
Fällen 40 bis 50, besonders Nachts. Die Peristaltik im unteren Theile des
Dickdarmes ist sehr heftig, wodurch nur kleine Mengen von Fäcalien zur Ent-
leerung kommen, während im oberen Theil und im Ileum durch krampfartige
Zusammenziehung die Kolikschmerzen entstehen.
TROPEN KRANKHEITEN. 689
Das Abdomen ist bei Betastung schmerzhaft, etwas aufgetrieben, man
kann auch bei genauer Untersuchung eine Umfangsvergrösserung des Dick-
darmes localiter feststellen und man ist berechtigt zu schliessen, dass hier
der locale Krankheitsprocess seinen Sitz hat, wenn diese Stellen zugleich
besonders schmerzhaft sind.
Ist bereits das Rectum ergriffen, so sind die diphtheritischen Auflage-
rungen der Schleimhaut durch das Speculum zu erkennen. Der Tenesmus stei-
gert sich dann bis zur Unerträglichkeit und auch die Urinentleerungen sind
sehr schmerzhaft. Der Urin selbst ist eiweissfrei.
Dieser Zustand dauert gewöhnlich 14 Tage. Entweder tritt der Exitus
im Zustande der Erschöpfung ein, oder die acuten Erscheinungen lassen schon
am 7. oder 8. Tage nach, treten in anderen Fällen nicht so heftig auf und
der Zustand wird chronisch. Die Sedes sind nicht mehr so sanguinolent und
eitrig, sondern haben eine graugelbliche Farbe, oft sieht man darin gangrä-
nöse Schleimhautfetzen. Der Mikroskop entscheidet, ob man es mit ulcerativen
Processen zu thun hat, welches meistens der Fall ist. Die chronische Dy-
senterie heilt sehr schwer aus, der grösste Theil der Patienten stirbt an Ent-
kräftung, wenn auch oft erst nach Jahren. Die häufigste Complication der
Dysenterie ist der Leberabscess, Scorbut, Perforation des Darmes und Gelenk-
affectionen ähnlich wie beim chronischen Gelenkrheumatismus. Tritt Heilung
ein, so lassen die geschilderten Erscheinungen nach und die Fäcalmassen
Averden breiig, in acuten Fällen tritt die Heilung zuweilen vom 10. Tage an
auf. Die tropische Dysenterie findet sich stetig in allen Ländern des Tropen-
gürtels, sie ist nicht an die Küstenniederungen gebunden und zeigt sich auch
im Gebirge, besonders in den Vorbergen des Hochgebirges. Jedenfalls ist sie
unabhängig von den berüchtigtsten Malariaherden, in deren Gebiet sie sel-
tener endemisch auftritt, als sonst. Die Mortalität an der tropischen Dysen-
terie betrug in der englisch-indischen und niederländiscl indischen Armee
bis vor wenigen Jahren noch 307o der Gesammtmoi talität und ging
von 13% der Erkrankten in wenigen Jahren bis 1892 auf 0*2 2^0 herunter,
nachdem die Verbesserung des Trinkwassers auch Anlage artesischer Brun-
nen ins Werk gesetzt waren. In Englisch-Indien, wo ausserdem in jedem
Orte das Trinkwasser jährlich untersucht und im India office signalisirt wird,
ist Dysenterie so gut wie verschwunden.
Dass bei der Aetiologie der Krankheit das Wasser die Hauptrolle
spiele und den Träger des Krankheitsgiftes bilde, war bereits den ältesten
Untersuchern bekannt.
Schon HiPPOCRATES scheint Kunde von der Dysenterie gehabt zu haben
und beschuldigt vegetabilische Substanzen im Wasser als die Ursache der-
selben. Im 16. Jahrhundert verlangte der holländische Arzt und Forscher
BoNTius bereits gereinigtes Trinkwasser, indem er das schlechte, mit Fäcalien
verunreinigte Trinkwasser in Batavia als Veranlassung zu Dysenteria tropica
anklagte, während der Genuss reinen Quellwassers niemals Dysenterie ver-
anlassen. Alle Beobachter sind darin einig, dass auch nur eine leichtere In-
fection des Bodens und der Cisternen in den Tropen durch Fäcalien von
Dysenteriekranken das Grundwasser und noch mehr das Oberflächenwasser
zum Vehikel des Krankheitsgiftes stempele.
In der neuesten Zeit wird als Krankheitserreger des Dysenteria tropica die zuerst von
Lösch und dann von Koch in den Ausleerungen Dysenterischer constant nachgewiesene
Amoeba coli dysenterica angesehen. Es sind kleine runde oder sphäroide Zellen, kernhalig
mit Vacuolen, homogen in der Ruhe. Sie sind bewegungsfähig und verlängern den Zell-
körper bei der Bewegung. In der Ruhe beträgt ihr Durchmesser 12 bis 35 mm. Sie färben
sich mit Anilinstoffen, nur die Vacuolen bleiben frei. Bei der Färbung kommen nach
Eykmann auch die Bakterien zum Vorschein, welche der Zellenleib der Amöben in sich
aufnimmt. Eykmann beobachtete darin kurze, dicke Stäbchen.
Kartulis, Koch, Pfeiffer, Neisser und Andere sahen diese Amoeba coli als pathogen an
und auch Kruse und Pasquale fanden, dass die in normalen Fäces vorkommenden Amöben,
Bibl. med. Wissenschaften. T. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. HI. 44
690 TROPENKRANKHEITEN.
sich von den bei Dysenterie stets vorfindenden durch ihre Unschädlichkeit unterscheiden.
KowACs' Culturversuche mit Amoeba coli verliefen negativ, jedoch ist die Züchtung der
Amoeba coli in Reinkulturen jetzt gelungen, sie lässt sich auf Thiere übertragen. Wie
Laveran 1893 nachwies, haben die Amöben nur bei tropischer Dysenterie eine ätiologische
Bedeutung, nicht bei ähnlichen Krankheitsprocessen im gemässigten Klima. Kartulis fand
in 500 Fällen von Dysenteria tropica die Amöben in der dysenterischen ulcerirten Darm-
wand und in den Capillaren der Submucosa. Von da aus lässt sie Kartulis durch die
Vena portarum in die Leber gelangen, oft mit anderen Mikroorganismen, so mit den Eiter-
erreger beladen und fand sie in den so häufig mit Dysenterie complicirten Leberabscessen
wieder. Deshalb wiid von Kartulis auch die Behauptung aufgestellt, dass die Leberabscesse
durch Amöbeneinwanderung entstünden, so dass die pyogenen Bakterien, welche mit den
Amöben in die Leber gelangen, Eiterung bewirken können.
Wie früher bemerkt, sieht man in den Tropen eine grosse Anzahl von
Leberabscessen, ohne dass Dysenterie in Frage kommt, oder eine andere
Krankheit wie Malaria, und welche man als primäre Leberabscesse auffassen
muss. Wie die oft so massenhafte Eiterbildung durch pyogene Mikroben
zu Stande kommt, ist noch unaufgeklärt.
Pathologisch -anatomisch ist die Dysenteria tropica charakterisirt
durch die croupös eitrige Entzündung und durch die eitrige und haemor-
rhagische Infiltration der Mucosa und Submucosa des Dickdarmes.
Die Innenfläche des Colon bietet in prägnanten Fällen mit längerer
Krankheitsdauer das Bild einer missfärbigen, höckerigen Geschwürsfläche. Die
Mucosa wird zerstört und in der Submucosa findet man die Amoeba coli.
Diese Beschreibung der pathologischen Anatomie der tropischen Dysenterie
bietet jedoch nur allgemeine Anhaltspunkte. Man muss einerseits unter-
scheiden zwischen dem abgelaufenen Zerstörungsprocess im Darm und den
frischeu Veränderungen beim Weiterschreiten desselben, andererseits zwischen
den Befunden bei länger andauernden und bei acuter verlaufenden Fällen,
Während sich im Darm eines etwa drei Wochen lang Leidenden, besonders
im Colon, zahlreiche Ulcera der Schleimhaut von iVg bis 3 cm Lauge, mit
wallförmigen, hyperämischen Rand vorfinden, deren Boden mit grau verfärbten
Schleimhautresten bedeckt ist, oder mit graugelben Detritus, sieht man die
frischen Ulcera als miliare, runde Erhabenheiten, mit eingesunkenem Centrum
und hyperämischen Wall, gelblich verfärbt. War der Fall subacut, be-
schränkte sich der Krankheitsprocess hauptsächlich auf die Follikel, so sieht
man kleinere Ulcera im Dickdarm mit grünlichem, schwärzlichen Belag. Nach
acuten Fällen beobachtet man stark aufgetriebene Därme, die Schleimhaut
von Magen und Darm dünn, im Colon gangränöse Schleimhautstellen, zu-
weilen Perforation im Coecum, im S. romanum oder im Rectum. An an-
deren Partien des Darmes sind nach van der Bueg nie Perforationen be-
obachtet.
Bei chronisch verlaufender Dysenteria tropica werden ausser den mehr-
fach beschriebenen Ulcera, Narben von geheilten Geschwüren wahrgenommen,
an den Stellen, wo die Schleimhaut gangränös war, bleiben stets ulcerirende
Flächen der Submucosa zurück. Die Geschwüre sondern Eiter ab und die
eiternden Geschwüre treten, wie van der Burg bemerkt, mehr in den Vorder-
grund, wodurch das Bild ein anderes wird. In den mehr acut verlaufenden
Fällen beobachtet man öfter Pericarditis und pericarditisches Exsudat. Die
Leber ist meistens hyperämisch. Schneider fand unter 395 Sectionen 57 Leber-
abscesse, 160 mal Hyperämie der Leber, 47 mal Muskatnussleber, 6 2mal Fettleber.
Die Milz ist gewöhnlich schlaff, nicht vergrössert. Bei langanhaltender
chronischer Dysenterie findet man zuweilen parenchymatöse Nephritis und
Eiter im Nierenbecken. Das Blut ist in grossen Massen coagulirt. In den
übrigen Organen findet man dieselben Veränderungen wie nach allen anderen
erschöpfenden Krankheiten.
Selbst nach anscheinend völliger Genesung bleiben oft, besonders im
Rectum kleine Ulcera zurück oder eine sehr dünne Schleimhaut neben tiefen
TROPENKRANKHEITEN. 691
Narbenstfängen. Die in Holland im Invalidenhause der ostindischen Armee
befindlichen Veteranen heissen daher, wie auch Martin erwähnte, im Volksmunde
„Bloedschyters." Kelsch wies mikroskopisch nach, dass die LiEBERKüiiN'schen
Drüsen atrophirt waren, aber die Diagnose auf Dysenterie ist in allen
Fällen in den Tropen unschwer nach einigen Tagen der Beobachtung zu
stellen. Continuirliches leichtes Fieber, blutiger Stuhl, Tenesmus, die eigen-
thümlichen Schleimhautfetzen im Stuhl und endlich der Nachweis der Amö-
ben lässt die Diagnose auf Dysenterie zu. Im weiteren Verlaufe ist die
Krankheit unverkennbar. Mit Aphthae tropicae hat der Anfang etwas Aehn-
lichkeit, die Erscheinungen der Mund- und Pharynxschleimhaut fehlen indes-
sen und lassen auch diese Verwechslung nicht aufkommen. Beginnende Mala-
ria mit Darmkatarrh zeigt intermittirendes Fieber mit typischen Schüttelfrö-
sten und bei Darmkatarrhen ist der Stuhl schleimig, hellgelb, während der
dysenterische Stuhl bald sanguinolent und mit Eiter vermengt erscheint, auch
enthält er abgestossene Schleimhautfetzen. Die mikroskopische Untersuchung
darf in keinem Falle fehlen.
Die Prognose der tropischen Dysenterie ist im Allgemeinen schlecht.
Bei Stühlen, welche stets gangränöse Massen erkennen lassen, ist sie sehr
ungünstig, noch dazu wenn grosser Durst, Schlaflosigkeit und Collaps sie
vergesellschaften und Perforation zu befürchten steht. Die Prognose ist auch
von der Individualität des Kranken abhängig und von der Ausbreitung des
Ulcerationsprocesses im Darm, sowie von hinzutretenden Complicationen, vor
allem der mit Leberabscess.
Van der Burg weist darauf hin, dass man bei Schwangeren, welche an
Dysenterie erkranken, sicher auf Abortus und Frühgeburt rechnen könnte,
dass Schwangere stets heftig von der Krankheit ergriffen werden, kann be-
stätigt werden. Wenn die Frucht ausgestossen ist, bessert sich gewöhnlich
der Zustand. Werden die Stühle geringer an Zahl, lassen Tenesmus und
Fieber nach, so wird die Prognose günstiger. Die Hauptsache bleibt aber
immer die Berechnung des allgemeinen Kräftezustandes zum Ueberstehen der
Krankheit. Treten scorbutische Erscheinungen hinzu, oder Perforation des
Dickdarmes mit stets anschliessender Peritonitis, so ist regelmässig der Exitus
die Folge.
Die Therapie der Dysenteria tropica ist meistens aussichtslos, denn
die Amöbenenteritis trotzt oft allen Mitteln und zeigt geringe Tendenz zur
Heilung, sie richtet ihr Augenmerk darauf die heftigen Symptome zu mildern
und die Geschwüre im Dickdarm zur Heilung zu bringen.
Findet man, wie so sehr häufig, bei der Palpation des Abdomen, den
Darm mit Fäcalien gefüllt, so ist von Zeit zu Zeit, vorzüglich in der ersten
Zeit, ein mildes Laxans zu verordnen, am besten Ol. ricini oder Calomel.
Das Hauptmittel, welches sich in Britisch-Indien bei der Behandlung der
Dysenteria tropica eingebürgert hat und methodisch gereicht wird, ist die
Ipecacuanha. Den Militärarzt Scott Docker, welcher die Methode einführte,
belohnte die englische Regierung 1880 durch eine Dotation von 8000 Mark.
Man sieht in ärztlichen Kreisen Britisch-Indiens die Ipecacuanha als ein
Specificum gegen Dysenterie an, ohne wissenschaftlich genauere Aufschlüsse
über dessen Wirkung geben zu können und behauptet, dass diese Wurzel den
dysenterischen Process im Entstehen coupirt. 1-50 bis lg Rad. Ipecacuanhae
pulv. werden dem Patienten mit Wasser und etwas Natr. bicarbonicum gegeben.
Um Brechen zu verhüten, gibt man etwas Tr. opii crocata, etwa 20 Tropfen,
darauf und legt einen Senfteig auf die Magengegend. Nur etwas Eiswasser
darf der Patient darnach trinken. Meistens wird das Medicament mehr oder
weniger wieder erbrochen und es ist nicht sicher, ob der verbleibende Rest
wirkt. Wenn die Erscheinungen nicht bald nachlassen, so lässt man Pulv.
44*
692 TROPENKRANKHEITEN.
Doveri, 1 g nehmen. Die Mortalität an Dysenterie soll darnach auf 57o
zurückgehen.
Der günstige Einfluss der Ipecacuanha auf Darmkatarrhe ist lange be-
kannt, ob bei so grossen Erfolgen nicht eine Täuschung unterläuft und Darm-
katarrhe mit unter Dysenterie gerechnet wurden, ist nicht ausgeschlossen.
Immerhin sehen wir den Zustand im Anfange der Erkrankung durch Ipeca-
cuanhainfus stets günstig beeinflusst. Ohne Narcotica, vor allen Morphin,
kann auf eine Verminderung der Schmerzen und des Tenesmus nicht gerechnet
werden. Ausserdem leisten warme Sitzbäder dagegen gute Dienste. Bei
heftigeren Darmblutungen können Eisblasen auf das Abdomen nicht entbehrt
werden.
Um den Dickdarm local zu behandeln, wurde die Behandlung mit Ein-
giessungen, meistens eine eiskalte Lösung von 2 bis 4^0 Natr. salicylicum
eingeführt, ohne grossen Nutzen zu bringen. Erst wenn die acuten Erschei-
nungen nachlassen und Tendenz zur Heilung eintritt, darf man von adstrin-
girenden Mitteln Erfolg erwarten, dann werden Tanninlösungen oder Plumb.
acet. zu Eingiessungen oder auch von Argent nitr. zu verwenden sein. Bei
anhaltendem Fieber ist Chinin von Nutzen. Als Nahrungsmittel verordne
man reizlose Kost, am besten Reis, welcher mit Wasser zu einem schleimigen
dünnen Brei oder Suppe gekocht wird. Ausserdem ist Thee verträglich und
Eier, welche zu Schaum geschlagen werden, sowie Milch. Bei Schwäche-
zuständen reicht man Portwein und Cognac und in Fällen von chronischer
Dysenterie auch Huhn. Die Transferirung der Dysenteriekranken nach dem
kühlen Hochgebirge ist erfahrungsgemäss schädlich. Bei Europäern übt die
Repatriirung im Anfangsstadium der chronischen Dysenterie den besten Ein-
fluss aus. Eingeborene genesen leichter als Europäer von allen Formen der
tropischen Dysenterie.
3. Das Flussfieber in Japan — fievre fluviale de Japon. Kavakami
und Baelz beschrieben eine in Japan zu den Zeiten, wo im Frühling Ueber-
schwemmungen des Landes eintreten, endemische eigenthümliche Krankheit,
welche obigen Namen erhielt und welche auch Roux in seinem klassischen
Werke „les maladies des pays chauds" erwähnt. Sie möge auch hier kurz
besprochen werden. Ausser im Frühling und in Ueberschwemmungsgebieten,
zeigt sich die Krankheit noch im Juli und August in anderen bestimmt be-
grenzten Gegenden Japans, wo durch starke Regengüsse die Flüsse anschwellen,
wenn auch nicht in dem Maasse als im Frühjahr.
Nach einem Vorstadium von fünf Tagen, wo die Patienten über Mattig-
keit und Uebelbefinden unbestimmte Klagen vorbringen, tritt plötzlich ein
starker Fieberanfall, mit Schüttelfrost, Hitzestadium und einem schwächeren
Schweisstadium auf, ähnlich wie bei Intermittens, jedoch so, dass darnach die
Körpertemperatur nicht zur Norm herabsinkt, sondern erhöht bleibt und sich
weiterhin noch mehr erhöht. Das Fieber wird also continuirlich. Nach einigen
Tagen erscheint ein Exanthem im Gesicht, welches sich meistens über den
ganzen Körper verbreitet. Dieses Exanthem hält sich 3 bis 8 Tage und
während dessen ist das Fieber, nach Baelz, sehr intensiv, die Curve ähnelt der
bei Typhus abdominalis. Die Patienten leiden nicht an Durchfällen, vielmehr
tritt eine oft lästige Obstipation auf. Dazu klagen die Patienten, nachdem
das Exanthem einige Tage bestand, über einen mehr oder weniger intensiven
Schmerz in der Inguinal- oder Axillargegend. Man findet dort stets eine Haut-
nekrose und Abscesse, gewöhnlich nur klein und nicht vergleichbar den grossen
Drüsenabscessen bei Pest. Das constante Vorkommen dieser Nekrose ist gleich-
sam ein pathognomonisches Zeichen des Flussfiebers. Gewöhnlich schwindet
das Fieber durch Krisis nach 14 Tagen. Ueber die Höhe der Mortalität ver-
öffentlichen die beiden genannten Autoren nichts, ebensowenig über die
Therapie.
i
TROPENKRANKHEITEN. 693
Verfasser brachte in Erfahrung, dass das Flussfieber in Japan nicht sehr
bösartig auftrete. Nach Kawakajii und Baelz glauben die Eingeborenen, dass
Insectenstiche die Krankheit veranlassen, weil das Exanthem, besonders in
der ersten Zeit, Jucken und Brennen hervorbringt.
Da das Flussfieber auf bestimmte Gegenden Japans sich beschränkt, da
dessen Verlauf und das Auftreten sich von dem der Pest sehr unterscheidet,
da Typhus und Malaria ebenfalls einen anderen Charakter zeigen, so kann
man es als eine endemische Krankheit sui generis ansehen.
4. Frambösia. — Yaws. Frambösie oder Yaws ist eine ganz exquisite
Tropenkrankheit, welche unzweifelhaft zu den Infectionskrankheiten gehört.
Die daran Erkrankten sind durchgehends Kinder, zuweilen auch junge Leute
bis zu 16 Jahren. Gewöhnlich zeigen die Kinder einen scrophulösen Habitus,
verlieren die Esslust, werden matt und unlustig, bis nach Verlauf von einigen
Wochen die eigentliche Krankheit, unter Fieber mit remittirendem Charakter,
einsetzt. Danach erscheint ein Exanthem von Linsengrösse, welches sich auf
Gesicht und Rumpf verbreitet, aber nicht lange anhält, ebenso wie das Fieber.
Die Kinder klagen über starke Schmerzen in den Gelenken, meistens bei
Bewegungen in den Oberarmgelenken. Oft wechseln die Schmerzen wie bei
Gelenkrheumatismus die Localität. Die Umgebung der Gelenke ist indessen
nie geschwollen oder geröthet. Das Fieber kann zu 39 bis 40 "^ C. Körper-
temperatur zeigen. Der Urin wird sparsam und die kleinen Patienten schlafen
unruhig, oder deliriren. Diese fieberhafte Periode der Krankheit kann sich
14 Tage lang hinziehen, endigt gewöhnlich aber früher unter starken Schweissen.
Das Exanthem, welches im Laufe dieser Zeit entstanden war, wird papulös.
Die vorher schmerzhaften Lymphdrüsen, besonders der Inguinalgegend und
am Halse, machen keine Erscheinungen mehr, der Gelenkschmerz nimmt ab.
Die Papeln erreichen bald die Grösse einer Himbeere und auch deren Form
und gekörnten Habitus, sie stellen sich als Papillome dar und haben ihren
Sitz im Gesicht, Stirn, Lippen, auch am Halse, der Vola manus und am After,
sie sondern eine gelbliche, übelriechende Flüssigkeit ab, welche zu Krusten
eintrocknet. Zuweilen, aber nur in den intensivsten Fällen, geht dieser Pro-
cess auf die Sehnenscheiden und Periost über, so dass Nekrose der Knochen
eintritt.
HiESCH bemerkt zu der Frage der Aetiologie der Frambösie, dass sie,
da sie sich nur auf äquatoriale Tropenländer beschränke, in ihrer Genese und
ihrem Bestände vom tropischen Klima abhängig sein müsse. Diesen unklaren
Standpunkt haben wir überhaupt so viel als möglich aus der Tropenpathologie
zu bannen gesucht, wir fragen nur noch, ob eine Tropenkrankheit entsteht
durch ein überimpfbares organisches Krankheitsgift, welches sich unter den
besonderen klimatischen und tellurischen Verhältnissen in den Tropen nur
allein bilden kann, oder ob die Krankheit entsteht infolge der in den Tropen
an den Europäer gestellten veränderten Ansprüche, nämlich an die Function
seiner inneren Organe bei dem Kampfe des Europäers um die Aufrechter-
haltung seiner Eigenwärme.
Von Frambösie werden mehr Eingeborene als Europäer ergriffen, sehr
häufig sah Verfasser Mischlinge, vorzugsweise Mädchen, daran erkranken. In
Ostindien sowohl als in Westindien kommt die Krankheit häufig vor. In
Grenada 12*30'' nördl. Breite befindet sich ein Hospital mit mehr als 400
Yawskranken. Auf den westindischen Inseln scheint, wie aus den von Ver-
fasser durchgearbeiteten tropenhygienischen Fragebogen hervorgeht, die Krank-
heit in hohem Grade endemisch vorzukommen. Auch von St. Croix, der
dänisch-westindischen Insel, wird von den dortigen Aerzten gemeldet, dass
Frambösie oder Yaws sehr häufig vorkommen. Eigenthümlich ist, dass alle
Fragebogenbeantworter auf den westindischen Inseln, unabhängig von ein-
694 TROPENKRANKHEITEN.
ander, gerade da, wo Frambösie häufiger sich zeigt, auch häufiger als sonst
in den Tropen Tetanus beobachteten, speciell Tetanus traumaticus.
Die Inoculationsversuche mit Secret und Blut von Mason, Boueel, van
Leent und vor allen von Charlouis ausgeführt, hatten stets Erfolg. Charlouis
hat in grösserem Maasstabe und in unbestreitbarer Weise dargelegt, dass die
Frambösie eine auf andere Individuen überimpfbare also contagiös-endemische
Krankheit ist.
Um die Krankheit pathologisch-anatomisch zu charakterisiren,
schlug Chaelouis, welcher im indischen Archipel arbeitete, die Bezeichnung
^Polypapilloma tropicum'-^ vor, welche Eingang gefunden hat.
Chaelouis fand und sein Befund wurde von Pontoppidan bestätigt, dass
die locale Erkrankung sich als eine von der Papillarschicht der Haut aus-
gehende Dermatitis, mit der Tendenz, sich in die Tiefe zu verbreiten, dar-
stellt. Er fand alle anatomischen Merkmale der Entzündung der Haut, Aus-
tritt von Blutkörperchen, Anhäufung derselben im Gewebe, Erweiterung und
Schlängelung der Blutgefässbezirke ; Haare, Schweiss und Talgdrüsen waren
durch diesen Process ergriffen.
Die Sterblichkeit an Frambösie resp. Polypapilloma tropicum beträgt
noch nicht 2%, meistens sterben die Kinder bei hohem Fieber im Anfange
der Erkrankung, oder in Folge längeren Bestehens an Erschöpfung bei un-
zweckmässiger Behandlung. Verfasser hörte noch vor 15 Jahren in Indien
von älteren Ärzten stets die Ansicht äussern, dass Frambösie unheilbar und
syphilitischen Ursprungs sei.
Die Diagnose auf Frambösie ist in den Tropen nach obiger Darstellung
leicht und unzweifelhaft festzustellen. Mit Syphilis hat Frambösie nichts zu
thun, es ist constatirt, dass bei einem und denselben Individium Syphilis und
Frambösie nebeneinander vorkamen und dass man einerseits Syphilis anderer-
seits Frambösie mit Erfolg überimpfen kann.
Die Therapie richtet ihr Augenmerk auf die Verhütung der Weiterver-
breitung der Krankheit. Dieses geschieht zweckmässig, in Ostindien durch
Isolirung des Kranken. Man weiss, dass die Ansteckung durch Berührung
und Anhaftung der von der Haut der Patienten sich absondernden Secrete
und Krusten erfolgt.
Die medicamentöse Behandlung besteht in strenger Antisepsis. Bei
dieser Behandlung und unter Zuhilfenahme roborirender Diät heilen fast alle
Fälle, im Verlaufe mehrerer Monate.
Zu den vorstehend besprochenen tropischen Infectionskrankheiten gehören
nun weiter eine Reihe von infectiösen Erkrankungen, welche durch ihre Ver-
schleppung nach Europa ein gewisses Heimatsrecht sich daselbst erworben
haben und daher in diesem Sammelwerke in eigenen Artikel behandelt
werden. Wegen der specifischen Eigenthümlichkeiten dieser Krankheiten in
ihrem tropischen Heimatslande müssen sie auch in diesem Artikel in Kürze
Besprechung finden.
a) Malaria. Auch diese in den Tropen, mit Ausnahme der Hochgebirgs-
partien und der im Gebirge an abschüssigem Terrain belegenen Orte, ubi-
quitäre Krankheit ist bereits ausführlich beschrieben worden, weshalb wir
darauf verweisen.*) Wir beschränken uns auf die Skizzirung einiger speciell
tropischer Malariaformen, welche in den Tropen angetroffen werden. Hier
kommt besonders das sogenannte Schwarzwasserfieber der Tropen in Betracht
und die Leberabscesse im Anschluss an Malaria. Der Ausdruck Schwarz-
wasserfieber ist englischen Aerzten entlehnt, welche in der Tropenpatho-
*=) Vergl. Artikel „Malaria'' Bd. IL, pag. 624.
TROPENKRANKHEITEN. 695
logie gern neue Namen für Krankheitsformen, oder Varietäten derselben
Krankheit bringen. Will man die Benennung dieser Form der perniciösen
Malaria nach dem Urinbefunde wählen, so bedient man sich in der Literatur
auch des Ausdruckes „haenwf/lohinurisches Fieber". Diese Fieberart, welche
in den meisten äquatorialen Tropenländern vorkommt, ist auch in Italien
und Griechenland hin und wieder beobachtet, nach Plehn kommt diese
Krankheitsform hauptsächlich an der flachen Ost- und Westküste des tro-
pischen Afrikas vor. Das haemoglobinurische Fieber stellt auch klinisch
eine Form der perniciösen Malaria dar, mit nephritisch-urämischen Er-
scheinungen. Meistens tritt, wie auch Plehn bemerkt, dieses Fieber als Recidiv
einer uncomplicirten Malaria ein, nach bekannten Prodromen. Das Fieber tritt
mit starkem Schüttelfrost auf, hohe Temperaturen sind selten, meistens nur
39" und hat intermittirenden oder remittirenden Charakter, seine Dauer ist ver-
schieden; meistens beobachtet man nur einen oder zwei Anfälle, oder das
remittirende Fieber fällt kritisch ab. Während der fieberhaften Periode, wo-
bei das Sensorium benommen, und andauernd Erbrechen, sowie grosse Unruhe
und Athemnoth sich zeigen, wird der quantitativ verminderte Harn dunkel
gefärbt und enthält sehr viel Eiweiss, Pigmentzellen, jedoch nicht, wie Plehn
angibt, rothe Blutkörperchen. Nach demselben Forscher ist im Blut der
Kranken die Zahl der rothen Blutkörperchen nicht vermindert. Im zweiten
Stadium, nachdem das Fieber verschwunden, stellt sich völlige Anurie ein,
oder doch werden selten nur einige Tropfen 'Urin unter Schmerzen ent-
leert. Gewöhnlich werden die Kranken schon "beim Einsetzen des Fiebers
ikterisch. Unter den directen Todesursachen spielt die Herzthrombose eine
grosse Rolle, welche auf Embolie resp. Pigmentembolie zurückzuführen ist.
Plehn fand beim Kameruner melanurischen Fieber Plasmodien, „welche
von denen der Malaria verschieden sind." „Alle zeigen deutlich eigene Be-
wegung und Wachsthum, schliesslich gelang auch die Färbung. Aus der
Amöbe entwickelt sich an der Eandzone ein ovaler Körper, der in 5 bis 6
Gebilde zerfällt, welche sich im Blute fortbewegen. Die Parasiten, welche
sehr leicht mit rothen Blutkörperchen werwechselt werden, lassen wenig oder
kein Pigment erkennen." Aus den Zerfallproducten scheinen sich, wie Plehn
weiter bemerkt, die amoeboiden Formen zu entwickeln und es sei möglich,
dass bei dem veränderten Nährboden der Tropen das typische Bild der Ent-
wicklung sich ändern und es sich um Varietäten der Malariaplasmodien han-
dele. Letzteres wird wohl der Fall sein, man beobachtet solche Varietäten
öfters in den Tropen, bei verschieden intensiven Malariaerkrankungen, mit und
ohne Melanurie. Auch van der Scheer in Batavia beschrieb solche Varietäten
von Malariaplasmodien, welche man nur in den Tropen aber auch in Ita-
lien trifft, wo sie sich aber biologisch ganz anders verhalten als in den Tro-
pen. Je nach dem Grade der Blutzersetzung und dem Grade der Infection
kommt es dabei auch zur Nephritis und zu Embolien. Verfasser beobachtete
solche Fälle in Ostindien, wo nach einem Tage der Tod, in Folge von Herz-
thrombose eintrat, mit Melanurie, urämischen Erscheinungen, in einem Falle,
welcher einen jungen Officier betraf, war völlige Anurie vorhanden, deren
Ursache nach Plehn in Spasmus der Nieren bestehen soll.
Die Mortalität an haemoglobinurischem Fieber ist hoch; in Kamerun
gibt sie Plehn auf 10% an.
Chinin zeigt sich meistens wirkungslos, dass es indessen schädlich wirkt,
kann nicht bewiesen werden. Nach der Entfieberung gab auch Plehn mit
Erfolg Chinin in Dosen von 1 g. Selbst bei Chiningaben (prophylaktisch)
kommt es, wenn man die kleinen amöboiden Parasiten im Blute nachweisen
kann, zum Ausbruch des haemoglobinurischen Fiebers. Häufig sind in den
Tropen zwei Generationen von Malariaparasiten beim Eintritte des Fiebers
vorhanden oder bei erfolgter Infection. Daher ist auch dann das Chinin ohne
696 TROPENKRAJ^KHEITEN.
durchschlagende Wirkung. Man unterlasse daher nie die Blutuntersuchung
am lebenden Blut, bei Verdacht auf solche Anfälle.
Von sonstigen Mitteln ist Amaranthus spinosus, welche Pflanze in Afrika
überall wächst, gegen die Melanurie und Anurie in Gebrauch und wird sehr
gerühmt. Sauerstoffinhalationen, welche Kohlstock einführte, leisteten in
Kamerun gute Dienste. Verf. kann auch Transfusionen von gesunden Einge-
borenen, deren Blut vorher untersucht &ein muss, empfehlen. Das Chinin rich-
tig angewendet, muss in Dosen von 2 bis 5 Gramm gegeben werden. Die
Eingeborenen leiden nicht an der haemoglobinurischen Form perniciöser
Malaria.
Im Verläufe von tropischer Malaria, besonders bei Malariakachexie, tritt
Ikterus ein, die Leber wird vergrössert, hyperämisch und man kann Lebe r-
abscesse, obgleich sehr schwierig, diagnosticiren. Die an Malaria sich an-
schliessenden Leberabscesse verlaufen chronisch, bilden sich äusserst langsam
und machen wenig locale Erscheinungen. Auch besteht meistens nur geringe
Fieberbewegung. Man kann nicht entscheiden, ob ein Leberabscess direct von
der Malariainfection abhängt, entsteht jedoch ein solcher im Anschluss an
Malariaerkrankung, so kann man ihn als Complication auffassen. Obschon
fast alle Europäer, welche längere Zeit in den Tropen gelebt haben, an
Malaria litten, oft auch kachektisch sind, so ist, bei Ausschluss von Dysen-
terie, doch das Vorkommen von Leberabscess in Folge von Malaria nicht
häufig. Ueber Leberabscess ist schon weiter oben abgehandelt, weshalb darauf
verwiesen wird. Hautabscesse im Verlaufe von Malaria wurden von brasilia-
nischen Aerzten beobachtet.
Roux beschreibt auch eine eklamptische Form von Malaria bei Kindern
und Frauen, sowie eine tetanische, welche gewöhnlich in zwei bis drei Tagen
unter meningitischen Erscheinungen, tödtlich endigen. Alle diese Malaria-
formen sind weiter nichts als Varietäten im Auftreten und Verlauf der Krank-
heit, bedingt durch individuelle oder zufällige Einflüsse.
b) Cholera in den Tropen. *j Die Cholera stammt aus den Tropen ; ihr Hauptherd,
von wo aus sie ihre Verheerungszüge über alle Welttheile antritt, liegt bekanntlich in
Indien, indessen zeigt sie in ihrem ganzen Verhalten, ob sie in tropischen Breiten oder
anderswo z. B. in Europa auftritt keine wesentlichen Abweichungen. Da die Cholera
bereits in diesem Werke eingehend abgehandelt wurde, so mögen nur noch einige Be-
merkungen, welche für die Tropen speciell gelten, Platz finden.
Eine Abweichung des Auftretens der Cholera in den Tropen besteht darin, dass sie
sich nicht in Indien, wo sie endemisch ist, durch so plötzliche Massenerkranktingen
manifestirt als bei uns in grossen Städten mit gemeinschafthcher Trinkwasserversorgung.
Vielmehr gleicht das Auftreten der Cholera in Indien, ihrem Erscheinen und Weiterver-
breitung in kleineren Orten Europas. Die Fälle zeigen sich erst nacheinander selbst
in Städten, wo Wasserleitung besteht. Da wo artesische Brunnen, wie in Batavia, vor-
handen sind, kommen selten Choleraerkrankungen bei den Anwohnern, welche sie benützen
vor. Eykmann bemerkt, dass die Untersuchung des Wassers aus Brunnen und Flüssen
in und bei Batavia während der Choleraepidemie 1889 in Bezug auf Kommabacillen ein
negatives Resultat ergab. Dass die Choleravibrionen den europäischen Winter nicht über-
dauern, oder durch ihn unschädlich gemacht werden, dass sie aber in Indien sich stetig
vermehren und vorfinden, wird durch unsere heutigen Kenntnisse nicht genügend erklärt.
Man kann annehmen, dass die letzte Pandemie welche 1883 von Indien ausging,
noch nicht erloschen ist. Der Modus der Verbreitung von Indien aus über die Erde ist
bei allen vorgekommenen Pandemien, fast wie ein gesetzmässiger Kreislauf, nachweisbar.
Auch in Indien gibt es Orte, welche als Choleraimmun gelten, so Vultan am Rande der
Wüste, welches noch höheren Ruf geniesst als Lyon in Frankreich. Hoppe, der einzige
Untersucher, welcher behauptet, dass die anfängliche Widerstandsschwäche der Vibrionen
nach Verlassen des Körpers abnehme und dass sie sich im Boden vermehren, nimmt an,
dass es Dauerformen vom Cholerabacillus gibt. Welche Bedingungen im tropischen Boden
und im Klima für eine längere Dauer und stete Fortpflanzung der Choleraerreger enthalten
sind, das wissenschaftlich zu präcisiren, wäre eine der grossen Aufgaben der neuen
Wissenschaft, der Tropenhygiene.
*) Vergleiche Artikel „Indische Cholera", Band II. pag. 247.
TROPENKRANKHEITEN. 697
c) I)on;2;ne. *) Dengue oder Denguefieber. Diese Kranklieit ist ebenfalls im Be-
sonderen schon in unserem Werke abgehandelt, worauf wir deshalb verweisen, indem wir
uns hier nur auf eine kurze Skizze beschränken. Es gibt verschiedene Synonyma wie
fiövre rhumatismale aigue, Roseole rhumatismale, Scarlatine rhumatismale, welche alle auf
das Wesen der Krankheit hindeuten.
Auf das locale Vorkommen der Krankheit weist besonders die Bezeichnung Feste
d'Aden hin. Man beobachtet sie sonst hauptsächlich in Birma, Calcutta, im Golf von
Mexiko, in Brasilien, Peru. In Afrika besonders in Goree und St. Louis und in Cairo.
Die Krankheit ist nach den europäischen Mittelmeerländern verschleppt, doch erlischt sie
dort rasch.
Die Aetiologie der Krankheit ist noch unbekannt. Alle Rassen werden davon er-
griffen und jedes Alter, jedes Geschlecht. Da ihr Auftreten epidemisch ist, rechnet man
sie zu den Infectionskrankheiten und nimmt ein Contagion als Ursache an.
Plötzlich, ohne jedwede Prodrome, blitzartig, ergreift die Krankheit die Menschen.
Meistens fühlt der Kranke plötzlich heftige Schmerzen im Knie, so dass er hinfällt. Dieser
stechende Schmerz ist das hervorragendste, plötzlich auftretende Symptom, von da aus
werden andere Gelenke und auch die Muskeln schmerzhaft. Der Kranke wird sehr bald
fieberhaft, die Temperatursfeigerung beträgt 40 — 4:2" C, Puls 120- — 135 in der Minute, er
ist sehr unruhig und schlaflos. Von Seiten des Nervensystems sind Symptome zu be-
merken, besonders die Cephalalgia frontalis. Nach Ausbruch des Fiebers, oft schon am
zweiten Tage, erscheint das roseolaartige Exanthem, welches sich über den ganzen Körper
verbreitet. Der Kranke leidet an Embarras gastrique, der Pharynx ist hyperämisch, das
Schlingen erschwert. Die Leber ist vergrössert, der Urin enthält niemals Eiweiss. Alles
dieses vollzieht sich in acht Tagen. Das Exanthem verschwindet schon nach 1 — 12 Stunden,
dann tritt Desquamation ein, womit die Krankheit endigt. Die einzige, bemerkenswerthe
Complication ist Pericarditis.
Die Krankheit geht gewöhnlich in Heilung über, der Patient ist aber noch 1 — 2
Monate nach Ueberstehen desselben, schwach. Die Prognose ist also sehr gut.
Selten kommt man 2U einer Section. Waterson publicirle einige Autopsien von
Dengue, wobei stets Pericarditis mit im Spiel war. Dabei handelte es sich um seröse
Transsudationen im Pericard und Gehirn, pericarditische Adhärenzen, einmal um pleuri-
tisches Exsudat. Charles untersuchte das Blut und fand Vermehrung der weissen Blut-
körperchen, welche durch eine gelatinöse Masse zusammenhängen.
Die Therapie ist symptomatisch, von mehreren Seiten wird neuerdings Salipyrin mit
gutem Erfolg verwandt.
d) Gelbes Fieber.**) Das Gelbfieber, eine in den tropischen und die Wendekreise be-
rührenden, subtroi^ischen Gebieten der neuen Welt, epidemische Krankheit, zeigt auch bei
Einschleppung nach Europa einen epidemischen Charakter, so namentlich in Spanien und
Portugal in den Jahren 1819 — 1821, in Italien 1804 Wir müssen auf die bereits erfolgte
Beschreibung der Krankheit in diesem Werke hinweisen und können derselben nur noch
Einiges hinzufügen. Der grösste Feind des Krankheitsgiftes ist die Kälte, stets erlischt
Gelbfieber, auch wenn es nach dem südlichen Europa verschleppt wurde, im Winter.
Aehnlich wie bei Beri-Beri überträgt sich die Krankheit auf Schiffe, allein Beri-Beri ver-
breitete sich nie von da durch Passagiere oder Waaren von den Schiffen aus epidemisch
auf dem Lande.
Nach Weenich und den Mittheilungen des deutschen Gesundheitsamtes wurden auf
47 deutschen Schiffen, welche während der Gelbfieberepidemie von 1877-1878 auf der
Rhede von Rid Janeiro verkehrt hatten, von 368 Mann Besetzung, 167 durch Gelbfieber
ergriffen, wovon 38 Mann starben.
Der Krankheit ist in den Tropen, nach zwei Seiten hin in hygienischer Richtung
Aufmerksamkeit zu schenken, einmal in Bezug auf deren Unterdrückung in den Tropen,
sowie rücksichtlich ihrer Verbreitung in andere Länder. Auch Europa hat Anlass die
Krankheit durch zweckmässige Schiffshygiene und Quarantäne abzuwehren, wenn sie auch
hier durch den Winter unterdrückt wird.
Die Ursachen des Gelbfiebers scheinen, wie schon anderweitig beschrieben, in einem
Mikrobium zu bestehen, über dessen Natur noch die Befunde der verschiedenen Forscher
differiren.
Nur in den Hafenorten und besonders in den Quartieren dieser Städte, welche
dicht am Wasser liegen und Ueberschwemmungen ausgesetzt sind, oder auch der täglichen
Ueberfluthungen, tritt Gelbfieber in hohem Maasse auf. Fast ausschliesslich werden
Europäer oder überhaupt aus gelbfieberfreien Ländern nach inficirten Hafenorten Süd-
amerikas Zugereiste ergriffen. Länger im Lande lebende Personen erwerben eine gewisse
Immunität. Schon einige Meilen weit von der Küste findet man gewöhulich keine Er-
krankungen an Gelbfieber mehr. Das Gelbfieber verbreitet sich nur bei folgenden Be-
dingungen 1. bei hoher Temperatur 2. bei hoher Luftfeuchtigkeit 3. bei der Nähe der
*) Vergleiche Artikel „Dengueßeber'^, Band I, pag. 388.
**) Vergleiche Artikel „Gelbfieber", Bd. I., pag. 750.
698 TUBERCULOSIS INTESTINI.
Meeresküste oder grosser Flüsse. Die Schiffsepidemien hat man mit dem Umstände in
Verbindung gebracht, dass faulendes, feuchtes Holz ein ganz besonders guter Zwischenwirth
für die Reproduction des Krankheitsgiftes sein soll. Finley sucht die üebertragung von
Mensch zu Mensch durch Versuche mit Moskitos zu erweisen, wodurch in 6 Fällen, unter
25 Versuchen, also 6mal positiver Erfolg gesehen wurde. Die Beschreibung des Stadium
febrile mit heftigen gastrischen Erscheinungen und Gliederschmerzen und das Stadium
cholaemicum, wobei Ikterus auftritt und das Fieber nachlässt, um nach 1 — 2 Tagen wieder-
zukehren, sowie die Symptomatologie kann hier unter Hinweis auf die schon erfolgte Ab-
handlung unterbleiben, ebenso die der pathologischen Anatomie.
Betreffs der Behandlung möchten wir noch auf die Mittheilungen des Dr Alexandre
LiENAS in St. Felipe de Puerto-Plata Haiti verweisen. Er schreibt in Beantwortung der
hygienischen Fragebogen, dass bis zum Jahre 1883 an Gelbfieber, welches dort epidemich
auftritt, in der Regel alle Erkrankten starben, seitdem dann die Behandlung mit Eisen-
chlorid eingeführt, sei die Heilung das gewöhnliche Endergebnis. Lienas gibt täglich.
24 — 40 Tropfen Liquor ferri sesquichloreti und Chinin in folgender Weise. Morgens früh
4 Uhr 1 Gramm Chinin, um 7 Uhr ein Purgans, von 10 bis 6 Uhr etwa 40 Tropfen Eisen-
chlorid mit Wasser verdünnt, oder mit Limonade sulfurique theelöffelweise, in den Inter-
vallen Bouillon. Zugleich gibt er, um Hirncongestionen zu coupiren, Bromkalium zu
2 Gramm, Abends.
Während dieser Behandlung mildern sich nach Lienas die heftigen Erscheinungen,
besonders üebelkeit und Erbrechen, das Fieber nimmt ab, die Hautthätigkeit wird rege,
ebenso die Diurese. während sonst fast Anurie besteht. Werden Kranke im ersten Stadium
der Krankheit so behandelt, so tritt das zweite gefährliche Stadium nicht mehr ein, weil
die Kranken fast ausnahmslos genesen. KARL DÄUBLEß.
Tuberculosis intestini. (Tuherculose des Darms. Darmschwindsucht).
Während tuberculöse Geschwüre im Magen nur ausnahmsweise gefunden
werden, stellen sie im Darm verhältnismässig häufige Vorkommnisse dar.
Meist treten dieselben im Gefolge tuberculöser Affectionen anderer Organe,
besonders der Lungen auf, wenn diese längere Zeit bestanden und eine be-
deutende Ausbreitung erlangt haben; primäre Erkrankung des Darmes gehört
zu den grössten Seltenheiten.^)
Die Ursache des Leidens ist in dem Eindringen der Tuberkelbacillen
in die Darm wand zu suchen. Bei Lungenphthisikern erfolgt die Infection des
Darmes durch das Verschlucken der an den specifischen Krankheitserregern
reichen Sputa. Wenn der Körper frei von tuberculösen Veränderungen ist,
müssen die Bacillen von aussen her mit der Nahrung zugeführt sein. Fütte-
rungsversuche mit bacillenhaltigen Substanzen haben die Möglichkeit der
üebertragung auf diesem Wege dargethan. Für den Menschen ist der Genuss
von Milch perlsüchtiger Kühe und des Fleisches tuberculöser Rinder in dieser
Beziehung besonders gefährlich. Durch katarrhalische Entzündungen der
Schleimhaut und durch Verletzungen ihres Epithels wird das Eindringen der
Mikroorganismen wahrscheinlich begünstigt.
Pathologische Anatomie: Die tuberculösen Geschwüre des Darmes
nehmen ihren Ausgangspunkt von den lymphatischen Apparaten des Verdau-
ungstractus, den PEVEE'schen Platten und den Solitärfollikeln. Unterhalb des
Epithels, im submucösen Gewebe bilden sich Tuberkel; wenn sie eine gewisse
Grösse erreicht haben, tritt im Centrum Nekrose, Verkäsung, Erweichung
ein und nach Verschmelzung mehrerer benachbarter Knötchen erfolgt der
Durchbruch in das Darmlumen. Somit ist die Entstehung von Geschwüren
fertig, die Ränder derselben sind infiltrirt, zackig, unterminirt, Ihre weitere
Ausbreitung erfolgt in circulärer Richtung, dem Verlauf der Gefässe des
Darmes entsprechend. Es ist daher meist nur ein Theil der afficirten
PEYER'schen Plaques in das Ulcus aufgegangen, der andere intact. In der
Längsrichtung des Darmes verlaufende Geschwüre, wie die typhösen werden
bei Tuberculöse selten beobachtet.
Die Ulcerationen können die ganze Circumferenz des Darmes einnehmen;
der Tiefe nach dringen sie gewöhnlich nur bis zu den obersten Muskelschichten
*) Vergl. auch Artikel „Tuberculosis pulmonum'^.
TUBERCULOSIS INTESTINI. 699
vor. Die Serosa des Darmes ist dem Sitze der Geschwüre entsprechend blutig
injicirt, mitunter erheben sich unter ihr grau durchscheinende Tuberkel-
knötchen, Avelche perlschnurartig angeordnet, den Verlauf der von hier aus-
gehenden Chymusgefässe anzeigen und sich bisweilen auf das Gekröse und
selbst bis zu den nächst gelegenen mesenterialen Lymphdrüsen verfolgen
lassen.
Nicht immer bleibt das tuberculöse Geschwür im Darm auf das Schleim-
hautgewebe beschränkt; es kann die Muskelhaut und die Serosa durchdringen
und Perforation mit nachfolgender acuter Peritonitis veranlassen. Meist geht
dem Durchbruch eine Verlöthung mit den Nachbarorganen voran; verkleben
dadurch zwei Darmschlingen mit einander, so entsteht durch die Perforation
eine abnorme Verbindung derselben. Es sind Fälle in der Literatur beschrie-
ben, wo an 5 Stellen derartige Communicationen verschiedener Darmabscbnitte
bei einem Individuum bestanden.
Ausheilungen tuberculöser Ulcerationen durch Narbenbildung sind
selten und gewöhnlich unvollständig, indem auf der einen Seite Vernarbung,
auf der anderen Weiterschreiten des Processes stattfindet. Durch diese Vor-
gänge werden nicht selten Verengerungen des Darmrohrs, Stenosen, hervor-
gerufen.
Die tuberculösen Erkrankungen des Darmes haben mit Vorliebe ihren
Sitz in den unteren Abschnitten des Ileum und den oberen des Colon.
Die mesenterialen Lymphdrüsen sind angeschwollen, vergrössert, oder
verkäst und theilw^eise verkalkt.
Symptome: Die Krankheit erlangt bei Kindern eine gewisse Selbst-
ständigkeit, da hier verhältnismässig oft die tuberculösen Affectionen des
Unterleibes die der Lungen und der Drüsen überwiegen. Das Bild, unter wel-
chem sie in die Erscheinung tritt, ist als Tabes mesaraica bezeichnet. Das
wesentlichste Merkmal bilden hartnäckige Diarrhoen, welche allen Heilmitteln
gegenüber sich äusserst resistent erweisen und, wenn gestillt, nach kurzer
Pause auf den geringsten Diätfehler, die leichteste Erkältung hin recidiviren.
Hiemit Hand in Hand geht eine zunehmende Abmagerung und Blässe, w^elche
auch durch sorgfältige Pflege nicht beseitigt wird. Der Leib ist durch Gas-
ansammlung in den Därmen meteoristisch aufgetrieben, sein Umfang con-
trastirt dadurch eigenthümlich mit der durch die hochgradige Macies bedingten
Volumsabnahme der Extremitäten und des Brustkorbes. Zuweilen gelingt es,
die geschwollenen Mesenterialdrüsen durch Palpation festzustellen, doch ist
die Spannung des Leibes meist so bedeutend, dass selbst grosse Tumoren der
Erkennung durch das Gefühl sich entziehen.
Schmerzen im Abdomen spontan und auf Druck pflegen vorhanden zu
sein, können aber auch fehlen. Das Hinzutreten ausgebreiteter tuberculöser
Peritonitis beschliesst die Scene, wenn nicht schon vorher der Tod infolge
von Erschöpfung eingetreten war.
Bei Erwachsenen sind die Symptome des Leidens noch w^eniger her-
vorstechend als bei Kindern, da es im Gefolge ausgebreiteter Lungentuber-
culose zur Entwickelung gelangt und somit seine Anzeichen gegenüber den
schweren Erscheinungen der Grundkrankheit zurücktreten. Auch hier be-
stehen namentlich hartnäckige Durchfälle, oft verbunden mit Schmerzen im
Leibe, welche einen raschen Kräfteverfall zur Folge haben und durch die
Therapie wenig beeinflusst werden. In anderen Fällen fehlt aber jeder Durch-
fall, es kann sogar zeitweise Verstopfung eintreten.
Ueber primäre Darmtuberculose liegen klinische Beobachtungen nicht vor.
Die Diagnose ist entsprechend den w^enig markanten Erscheinungen
unsicher. Bei vorgeschrittener Lungenschwindsucht werden reichliche Durch-
fälle ausser durch die vorliegende Krankheit auch durch amyloide Degenera-
tion des Darmes bewirkt. Für die letztere spricht der Nachweis amyloider
700 TUBERCULOSIS MENINGUM.
Entartung in anderen Organen, so namentlich Leber- und Milzvergrösserung
und Albuminurie. Das Fehlen dieser Symptome macht eine tuberculöse Er-
krankung wahrscheinlich. Die Erkenntnis der letzteren kann durch das Auf-
finden von Tuberkelbacillen in den Faeces gestützt werden. Der Nach-
weis derselben wird in gleicher Weise wie im Auswurf durch Färbung geführt,
er gelingt jedoch weniger leicht, weil die Mikroorganismen in den Faeces
spärlicher anzutreffen sind als im Sputum. Der positive Ausfall der Unter-
suchung ist nur dann unbedingt beweisend für Darmtuberculose, wenn keine
Lungentuberculose gleichzeitig besteht, da im anderen Falle die Bakterien
durch Verschlucken der Sputa in den Darm gelangt sein können.
Die Prognose ist ungünstig. Heilungen sind überhaupt nicht beob-
achtet. Die Lebensdauer ist nach Eintritt der Darmtuberculose nur noch eine
kurze, weil die Kräfte der Kranken durch das Grundleiden erschöpft sind.
Prophylaktisch ist vor dem Genuss ungekochter Milch zu warnen.
Falls die Kühe perlsüchtig sind, können auf diesem Wege leicht Bacillen in
den Darm gelangen. Auch das Fleisch solcher Thiere ist nur mit äusserster
Vorsicht und nach gründlichem Kochen oder Braten zu verwerthen. Bei der
Auswahl von Ammen schliesse man alle der Tuberculöse verdächtigen Per-
sonen von vornherein aus.
Die Therapie hat keine glänzenden Erfolge aufzuweisen. Die Diät
muss zunächst so eingerichtet werden, dass jeder Anlass zu Durchfällen fort-
fällt. Wo Milch, wie bei der Mehrzahl der Kranken abführend wirkt, ist sie
zu vermeiden und bei Kindern durch Surrogate (Kindermehle, Hafermehl) zu
ersetzen. Daneben leite man, wenn die Kräfte es erlauben, eine antiscrophu-
löse Behandlung durch Verordnung von Salzbädern und intern Jodeisen und
Leberthran resp. Lipanin ein. Bei Erwachsenen sind leicht verdauliche Fleisch-
speisen und Präparate in Anwendung zu ziehen, z. B. Peptone, Leübe-Rosen-
THAL'sche Fleischsolution, Fleischsaft u. s. w.
Gegen die Durchfälle ist die Wirkung der medicamentösen Mittel häufig
nur eine vorübergehende. Zu empfehlen sind besonders Bismuth suhnitric,
bei Kindern 0-05— O'l, bei Erwachsenen 0*3 — 0-5 — l-Q, 3 mal täglich, IJerma-
tol, bei Kindern 0*1 — 0'2, bei Erwachsenen 0*5 mehrmals täglich, welches bei
einfachen Darmkatarrhen ausgezeichnete Dienste leistet, Naphthalin, bei Er-
wachsenen 0'5 — ro pro die in Pillen und Opium (Tinct. opiilO—15 Tropfen
oder Extr. opii 0'02 — 0'06 ev. zusammen mit der gleichen Dosis Plumb. aceti-
cum. Ausspülungen des Darmes mit schwach desinficirenden und ad-
stringirenden Lösungen, z. B. mit Salicylsäure 3:1000 und Tannin 1~2'^(q
sind oft von Nutzen.
Tuberculöse Darmstricturen, welche am häufigsten im Alter zwischen
20 — 30 Jahren auftreten, erfordern eine chirurgische Behandlung, wenn der
allgemeine Kräftezustand des Patienten es irgend zulässt. Sie bieten in diesem
Falle relativ günstige Aussichten. hilbert.
Tuberculosis meningum (Meningitis tuherculosa). Sie wird auch sehr
oft als basilare Meningitis bezeichnet. Sehr zutreffend ist diese Bezeichnung
nicht, da es kaum blos basilare tuberculöse Meningitiden gibt, wenn auch
zugestanden werden muss, dass sich in vielen Fällen die deutlichsten Ver-
änderungen an der Basis cerebri vorfinden. Wenn auch die Meningitis
tuberculosa kein Alter völlig verschont, so ist sie doch vorwiegend eine
Kinderkrankheit, welche die Individuen zumeist in dem ersten Lebenszehnt
ergreift. Das Alter zwischen 2 — 4 Jahren zeigt besondere Prädisposition,
bis zum 10. Lebensjahre ist sie nicht selten zu finden. Dann wird sie spär-
licher und in der zweiten Lebenshälfte eine recht selten beobachtete Krankheit.
Ausnahmsweise wurde sie schon bei Kindern mit 6 Wochen beobachtet.
Warum gerade das Kindesalter so oft in Mitleidenschaft gezogen wird, ist
TUBERCULOSIS MENINGUM. 701
nicht völlig erklärt und mag mit der Prädisposition dieser Lebensperiode für
Tuberculose aller Art, besonders jedoch für die Tuberculose des Lymphdrüsen-
systemes im Zusammenhang stehen.
Die Meningitis tuberculosa ist selbstverständlich nie eine primäre
Erkrankung der Meningen und des Gehirnes. Das liegt in der Natur der
Sache und bedarf heute, wo uns der Erreger der Krankheit so bekannt ist,
keiner irgendwie weiterer Begründung. Sie schliesst sich stets an eine im
Körper bereits localisirte, oft schon daselbst sehr lange bestehende und oft
auch völlig unbeachtet gebliebene, völlig latente Tuberculose an, deren Finale
bildend. Wenigstens gelingt es bei sehr sorgsamem Suchen stets den ur-
sprünglichen Krankheitsherd zu finden. Vielleicht kann man solche auf
andere Weise nicht zu diagnosticirende Herde schon frühzeitig bei erblich
Belasteten suchen und finden, wenn man sich zu diesem Zwecke der Tuber-
culinreaction bedient, wohl des einzig bleibenden und positiven, was die ganze
therapeutische Bewegung der jüngst verflossenen Zeitperiode auf diesem Ge-
biete der Zukunft vorläufig hinterlassen hat. Vielleicht kann man den
positiven Ausfall der Tuberculinreaction einstens weiterhin hiezu benützen,
um, ist einmal unsere Zeit und deren Einrichtungen so weit, derartige
Individuen durch entsprechende Maassnahmen soweit zu festigen und kräftigen,
dass sie nicht bei der ersten Gelegenheit Opfer allgemeiner Tuberculose
werden.
In der Regel sind verkäste Drüsen die primären Herde, und hier in
erster Linie die bronchialen, seltener die des Halses, noch seltener die anderswo
im Körper localisirten. Mitunter bildet die Meningitis tuberculosa den
Abschluss schon länger bestehender Tuberculose der Lungen, der Haut, des
Urogenitaltractes, der Knochen, hier besonders bei Caries der Knochen des
Gehörapparates, etc. Und so wie die erstere sich nicht selten anschliesst an
Morbilli, Scarlatina, Pertussis, Typhus ja manchmal an scheinbar belanglose
Katarrhe der Ptespirationswege, so sieht man nicht selten nach diesen Er-
krankungen eine tuberculose Meningitis auftreten. Nicht allzu häufig ist sie
ein Begleiter der allgemeinen miliaren Tuberculose. Ebenso führt sie manchmal
bei einem schon länger bestehenden, localisirten tuberculösen Herde des Ge-
hirnes ein rascheres Ende herbei. Der Weg, auf dem die Tuberkelbacillen
in die Meningen gelangen können, sind die Blut- oder Lymphbahnen; der
letztere scheint der gewöhnlichere zu sein. Mitunter gelingt es direct den
Einbruch des primären Herdes in das Gefässystem zu erweisen. Man muss
an embolische Processe denken, wenn die Meningitis tuberculosa Gebiete
einzelner Gehirnarterien erfasst hat.
Das Kennzeichnende der tuberculösen Meningitis post mortem ist das
Tuberkelknötchen. Es ist stets auffindbar, am sichersten in der Pia und bei
entsprechender Beleuchtung derselben. Je nach der Raschheit des Verlaufes
sind die Knötchen verschieden gross oft nur dem Auge des Geübten sichtbar.
Bau und Genese entsprechen dem in anderen Organen völlig. Sie sind ein
geeignetes Object zum Studium der Tuberkelknötchen. Tuberkelbacillen sind
längst schon in ihnen nachgewiesen. Die Schädelknochen finden sich
hyperämisch, die Gehirnhäute gespannt, trocken, von kleinen Hämorrhagien
durchsetzt. Die Gyri sind abgeplattet, die Sulci verstrichen. Die Gefässe
erweitert und stark gefüllt. Die Tuberkel sitzen längs der Gefässe, wie
Trauben am Stile. Ihre Farbe ist in der Regel grauweiss. Die deutlichsten
Veränderungen finden sich an der Basis des Gehirnes und zwar um das
Chiasma nervorum opticorum herum, die Pedunculi cerebri, die Hypophyse.
— Daselbst ist bei Kindern meist ein recht reichliches, grau durch-
scheinendes, gallertiges Exsudat vorhanden. Ein gleiches findet sich in den
Fossae Sylvii, der zweiten Lieblingsstelle der tuberculösen Veränderungen des
Gehirnes, in sie hineinragend. Stets sind in diesen Exsudatmassen die tuber-
702 TUBERCULOSIS MENINGÜM.
culösen Knötchen nachzuweisen. Nebst dem sulzigen kann fibrinöses, fibrinös-
eitriges Exsudat vorhanden sein. Die medianen Berührungsflächen der
Hemisphären sind miteinander verklebt. Selbstverständlich ist auch die
Convexität des Gehirnes nicht frei von Veränderungen gleicher Art, wenn
auch hier dieselben nicht so massig und auffallend sind, wie an der Basis.
Mit dem Grosshirn gleichzeitig pflegt das Kleinhirn afficirt zu sein und
zumeist auch die spinalen Meningen, deren Verschontbleiben zu den Selten-
heiten gehört (WoETMANN). Die Tuberkelknötchen finden sich auch in den
Falten der Pia, in dem Ependym der Gehirnventrikel. Dieses selbst weist
Zeichen der Entzündung auf, ist verdickt, die Ventrikel sind fast regelmässig
erweitert, mit meist reichlichem serös-blutig-eitrigem, bald mehr, bald weniger
trübem Inhalte erfüllt, wie er dem fast nie fehlenden Hydrocephalus acutus
inflammatorius entsprechend ist. In der Hirnsubstanz trifft man nebst
Hyperämie und Entzündungserscheinungen capilläre Blutungen, mitunter
grössere tuberculöse Knoten, crude, solitäre Tuberkel, ausserdem Erweichungen
einzelner Partien derselben, wahrscheinlich bedingt durch Gefässverschluss
und deshalb verursachter Ernährungsstörung.
In Fällen chronischerTuberculose des Gehirnes werden entweder
solitäre Tuberkel verschiedener Grösse constatirt, die dann, entsprechend
ihrem Sitze und ihrer Ausdehnung, wenn sie nicht der Ausgangspunkt all-
gemeiner Meningitis tuberculosa waren, Symptome allgemeiner Art und Herd-
symptome veranlassen, wie jeder andere Tumor cerebri. Ihr Sitz ist in sehr
vielen Fällen das Kleinhirn. Mitunter bleiben auch sie latent. Manchmal
verrathen sie sich durch Stauungspapille oder Atrophie des Opticus. Oder
man findet grössere Partien des Gehirnes durchsetzt und eingehüllt in
käsige Schwarten verschiedener Dicke, über deren Natur und Genese stets
vorhandene Tuberkelknötchen zweifellosen Aufschluss zu geben im Stande sind.
Bei Erwachsenen hat in Folge des Exsudates die Meningitis tuberculosa
öfter Aehnlichkeit mit der suppurativen. Doch auch hier beseitigt das Auf-
finden der charakteristischen Knötchen besonders an den Prädilectionsstellen
jeden Zweifel.
Bei der Mannigfaltigkeit der pathologisch anatomischen Veränderungen,
bei der vielfachen Möglichkeit der verschiedenartigen Localisation des Pro-
cesses, bei dem vielfachen Wechsel in dem zeitlichen Ablaufe desselben ist
es erklärlich, dass die Symptome der Meningitis tuberculosa viele und
recht verschiedene sein müssen. Es ist aber andererseits in der Localisation
des Krankheitserregers begründet, dass diese Symptome mit denen von
Meningitis aus anderen Ursachen eine grosse Aehnlichkeit haben und haben
müssen. Trotzdem ist ein gewisser Typus der Krankheit vorherrschend und
hier wiederum besonders in dem Lieblingsalter derselben.
Die Meningitis tuberculosa kündet sich nicht selten in den Frühstadien
durch Symptome unbestimmter, vager Natur an, die nur bei Berücksichtigung
hereditärer Belastung, genauer Kenntnis des Kindes und grosser Erfahrung
des Arztes eine frühzeitige wahrscheinliche Diagnose gestatten und anfangs
schon hiezu führen, den Ernst der Situation nicht zu verkennen. Es wird
heute wohl öfter vorkommen, dass eine beginnende Meningitis nicht erkannt
wird, dass sie für eine Dyspepsie, für einen Magenkatarrh gehalten wird,
bis eines Tages Nackenstarre, Bewustiosigkeit, Lähmungen und Convulsionen
eine unerwünschte Klarheit über die Vorgänge der vorhergehenden Tage
verbreiten, als dass eine nach sorgfältiger Erwägung aller Umstände geäusserte
Befürchtung zur allgemeinen Freude sich als nicht begründet herausstellt.
Man kann jedem Praktiker das letztere Erlebnis recht oft wünschen. Zu
den Prodromalsymptomen, die recht verschiedene Werthigkeit besitzen, die
sich nicht selten über einen Zeitraum von Wochen hinziehen können, gehören
in erster Linie die Veränderungen des Wesens der Kinder, wenn es sich um
TUBERCULOSIS MENINGUM. 703
solche handelt, die vorher scheinbar sich völlig ungetrübten Wohlbefindens
erfreuten, ihre Unlust zum Spielen, ihre Appetitlosigkeit, ihre Abgeschlagenheit,
ihr unruhiger Schlaf, die Klagen über heftige Kopfschmerzen, der an ihnen
sonst nicht beobachtete Eigensinn, die blasse Gesichtsfarbe, der veränderte,
apathische, öfter maskenartig starre Gesichtsausdruck. Dazu kommt taumelnder
Gang, Scliwindelgefühl, vorübergehende Delirien mit sonst an diesen Individuen
nicht beobachtetem nächtlichen Aufschreien {Cri hydrencephalique), Zähne-
knirschen. Weiter fast regelmässig beobachtete Obstipation, gelegentliches
nicht recht motivirtes Erbrechen oft heftiger Art, unregelmässige Temperatur-
steigerung. Ist mit diesen Symptomen, die Perioden vollkommener Euphorie
für längere Zeit Platz machen können, auch noch der in den Anfangsstadien
bei langsamer Entwickelung nach unseren ziemlich reichlichen Erfahrungen,
fast nie fehlende auffällig verlangsamte und vollkommen irreguläre, arhythmische
Puls vorhanden, ein Symptom das sich bei kleineren Kindern leichter durch
Auscultation des Herzens als durch Fühlen an der Piadialis feststellen lässt,
dann ist jetzt schon so gut wie sicher die Diagnose einer Gehirnerkrankung
allgemeiner Art möglich. Eine Täuschung angenehmer Art ist nur denkbar
durch manche Formen der Autointoxication (Acetonämie), die bei Kindern
unter ähnlichen Anfangssymptomen verlaufen kann, bei der jedoch das Bild
sehr rasch, oft schon nach 24 — 48 Stunden eine Klärung erfährt, und kommt
mitunter vor bei den seltenen Formen croupöser Pueumonie im Kindesalter,
die mit ausgesprochenen meningealen Symptomen beginnen. Im letzteren
Falle sind die Constatirung einer starken Leukocytose, das plötzlich ein-
setzende hohe Fieber abgesehen von einigen vi^eniger wichtigen Symptomen
im Stande, bis zur P'eststellung der nöthigen physikalischen Veränderungen,
die Diagnose zum mindesten zu einer recht zweifelhaften zu machen.
Vorübergehende Deviation der Bulbi, Strabismus, kann man jetzt schon
beobachten. Bei kleinen Kindern mit noch offener Fontanelle ist dieselbe
öfter gespannt und vorgewölbt, allein nicht stets. Auch lässt sich jetzt schon
ein Symptom beobachten, das in dem späteren Verlaufe gleichfalls weit deut-
licher wird, eine durch leichtes Streichen der Haut auftretende Parese der
Hautgefässe (taches cerebrales, TROUssEAu'scÄe Flecke). Allzu grosses Gewicht
möchten wir auf dasselbe nicht legen. Mit den anderen Symptomen vereint
hat es einen gewissen Werth. Mitunter ist eine ophthalmoskopische Unter-
suchung im Stande jetzt schon werth volle Aufschlüsse zu geben. Sie sichert
die Diagnose in den leider nicht allzu häufigen Fällen, bei denen auch in
der Chorioidea Tuberkel aufschiessen, sie kann aber auch durch die Con-
statirung einer beginnenden Neuritis optica, und die ist kein seltener Befund,
auf die intercraniell sich abspielenden Veränderungen hindeuten.
Diese Prodromalerscheinungen pflegen in der Regel eine Woche
zu dauern. Das Krankheitsbild nimmt nun nach und nach markantere
Züge an, die seine Erkenntnis leicht ermöglichen. Die Patienten werden
somnolent, dann völlig bewusstlos, tief comatös. Der Kopf wird steif nach
hinten gehalten, ins Kissen gebohrt. Das Abdomen fällt kahnförmig ein.
Vorübergehende oder länger dauernde Convulsionen, allgemeiner Art oder
beschränkt auf einzelne Muskelgebiete können sich einstellen, Jactationen,
einzelne coordinirte Bewegungen z. B. Greifbewegungen mit einer oberen
Extremität, Stossbewegungen mit einem Beine, die lange fort und immer
wieder sich wiederholen etc. zeigen sich an dem Kranken. Bei anderen
stellen sich frühzeitig Streckcontracturen und Rigidität aller Muskel ein.
Trismus ist vorhanden, die Augen halb geschlossen, das Gesicht fast völlig
regungslos.
Die Pupillen sind verschieden gross, heute ist die linke, morgen
kann die rechte weiter sein, zeigen häufig bei Lichteinfall Hippus, und öfter
glaubten wir auf Lichteinfall eine Erweiterung derselben gesehen zu haben.
704 TUBERCULOSIS MENINGüM.
Die Bulbi stehen ganz unregelmässig, theils in Folge Lähmung oder Parese
der Augenmuskel, theils in Folge Fehlens der Fixirung. Nystagmusartige
Zuckungen sind zu bemerken.
Augenmuskellähmungen gehören nicht zu den Seltenheiten. Die
vom Oculomotorius und Abducens innervirten Muskel sind meist die Be-
fallenen. Mitunter kommt es zu totaler Ophthalmoplegie. Auch Paralysen
und Paresen in anderen Muskelgebieten können auftreten. Hemiparesen,
Monoplegien, zumeist Monoplegia brachialis, seltener Lähmung einer
unteren Extremität. Auch der Facialis kann betheiligt sein. Bei Constatirung
derselben muss man mit der Somnolenz der Kranken rechnen. Bei cruden Tu-
berkeln des Gehirnes oder bei chronischer Tuberculose desselben können die
Lähmungen dem Ausbruche der Meningitis vorangehen. In solchen Fällen
ist auch Stauungspapille vorhanden, wie bei einem anderen Tumor cerebri.
Die Obstipation dauert in diesem Stadium der Krankheit weiter an. Der
Harn ist sehr oft angehalten, die Blase bei den inzwischen wegen mangelnder
Nahrungsaufnahme stark abgemagerten Kranken leicht in gefülltem Zustande
bis in Nabelhöhe fühlbar, muss künstlich entleert werden, ist oft ausdrückbar,
so dass Katheterismus unnöthig ist. Aceton, grosse Indicanmengen, mitunter
wenig Eiweiss gehören zu den regelmässigen Harnbefunden. — Die Patellar-
reflexe sind fast regelmässig stark gesteigert. Fehlen sie, dann möge man
bei der Autopsie stets das Rückenmark genau untersuchen lassen. Die
Sensibilität ist stark herabgesetzt.
Die Temperatur kennt keinen bestimmen Typus. Doch ist es Regel,
dass sie gegen Lebensende stark anzusteigen pflegt und oft vor dem Tode
42" C. erreicht, mitunter noch post mostem ansteigt. Nur ganz ausnahms-
weise bleibt sie während des ganzen Verlaufes normal, ja subnormal (Bokai,
34« C).
Auch der Puls wird je näher dem Ende desto frequenter. Kurz vor
dem Tode pflegt er so klein und frequent zu sein, dass er kaum mehr gezählt
werden kann.
Die Respiration, die in der ersten Zeit durch tiefe, seufzende In-
spirationen in ihrem regelmässigen Gange unterbrochen zu werden pflegt,
nimmt finem versus deutlich CnEYNE-STOKEs'schen Typus an. Ante mortem
wird sie immer flacher und schneller, Lungenödem und tracheales, oft auf
Distanz hörbares Rasseln stellt sich ein, und unter den Zeichen der Herz-
und Zwerchfellparalyse pflegt der Tod oft unerwartet schnell den armen
Kranken von seinem Leiden zu befreien. Mitunter freilich dauert dieses mit
tiefem Coma und allgemeiner Paralyse einhergehende Endstadium des Pro-
cesses selbst 1 — 2 Tage. — Gegen Ende pflegt sich in Folge mangelnder
Reflexthätigkeit der Augenmuskel starke Injection und Trockenheit der Con-
junctiva, Trübung und punktförmige Stich elung der Cornea, die mit Schleim
bedeckt ist, einzustellen. Auch Hämorrhagien in der Haut der skelettartig
abgemagerten Kranken, zumal am Abdomen und an den Extremitäten sind
nicht selten vorhanden.
Wenn sich auch ein gewisser Ablauf durch jedes derartige Krankheitsbild
wie ein rother Faden hindurchzieht, so bietet doch wieder jeder einzelne Fall,
zumal was die Herdsymptome betrifft, eine grosse Reihe von Besonder-
heiten und Eigenthümlichkeiten, die begründet sind in dem Wesen der
Krankheit und in der schier endlosen Combinationsmöglichkeit der einzelnen
im Centralorgan gelegenen pathologischen Herde.
Bei Erwachsenen kann bei vorwiegender Betheiligurg der Convexität
des Gehirnes an dem Processe die Meningitis tuberculosa beginnen mit
Symptomen, die stark an das Delirium tremens gemahnen. Die psychischen
Symptome walten vor. Aphasie, Unorientirtheit, Sinnestäuschungen, Delirien,
Tremor der Bewegungen beherrschen das Krankheitsbild. Dabei ist jedoch;
■"'§>'-^'^> -!■;,■■'];' .'■ •:' ■'.
" c
;
..^
, ''' *
'^--
^
%
r^
I 5
. ■ --
^
'*■■
^* =
*^
9.'. .
^, '•■
ü«..
;-^-, •» "
... ^
t'
^ •fc*^%
' ;,5ro
--;. -- .
_\-. _
"*4
' fe
-•^'.-'i
V ^_ ^
\
'--.®
■;**
'-^i
' '~ '■
I;«
«
--"
'i
,# •
*-'■
* »
■^
^.... 1
a-
'iK ' '
1
TUBERCULOSIS MENINGUM. 705
Fieber vorhanden mit trockenen Lippen und tief umränderten Augen, Coma
oder Convulsionen, die sich einstellen können, vermögen in derartigen, bei
Kindern in dieser Form nicht vorkommenden Fällen, ein rasches Ende her-
beizuführen.
Die Dauer einer Meningitis beträgt circa 1—3 Wochen, wobei nach
Traube für das Stadium des Reizes in der Regel eine Woche gerechnet wird,
ebenso lange für das Stadium des Hirndruckes, während das dritte, das
Lähmungsstadium, ein bis mehrere Tage, doch auch nur wenige Stunden
dauern kann.
Fälle von Meningitis tuberculosa mit normalem Ablaufe, also die aller-
grösste Zahl, bieten der Diagnose keine besonderen Schwierigkeiten, zumal
dann nicht mehr, wenn einmal Herdsymptome aufgetreten sind. Sie kann
mit eitriger verwechselt werden. Doch pflegt diese weit schneller zu ver-
laufen. Einen gewissen Werth bei der Diff'erentialdiagnose in diesem Falle
besitzt das Vorhandensein anderweitiger tuberculöser Veränderungen; absolute
Sicherheit bietet die Constatirung von Tuberkeln im Augenhinter-
grunde. — Uebrigens möge in jedem Falle eine sorgfältige Exploration der
Ohren nicht ausser Acht gelassen werden. Eine Otitis media suppurativa vor der
Entleerung des Eiters kann eine Meningitis vortäuschen. Vor der Verwechse-
lung mit Typhus, die nur anfangs denkbar wäre, schützen die charakteristische
Fiebercurve desselben, die Roseola; Milztumor kommt bei beiden vor, und
desgleichen haben Meteorismus und Diarrhoen bei Typhus der Kinder lange
nicht die Bedeutung als wie bei Grossen. Embolie und Thrombose von
Gehirnarterien haben andere Anfangssymptome. — Gewisser Formen croupöser
Pneumonie sowie der Acetonämie haben wir schon gedacht. Bei älteren
Kindern und jugendlichen Individuen, zumal weiblichen, kann Hysterie mit
Meningitis tuberculosa verwechselt werden, und ist dies auch schon geschehen,
und zwar wird es leichter geschehen, dass Meningitis für Hysterie gehalten
wird als umgekehrt, zumal dann, wenn es sich um das Auftreten von Menin-
gitis bei einem hysterischen und als solches bekanntem Individuum handelt.
Nebst eventuellen organischen Veränderungen sind in solchen Fällen von
Bedeutung: Strabismus divergens, vorübergehende und wechselnde Ungleichheit
der Pupillen, eventuell das Fieber (Gow^ers).
Maeshall Hall beschrieb bei kleinen Kindern einen Zustand, das
Hydro cephaloid, der mit meningealen Symptomen verläuft und hier
gleichfalls Erwähnung finden soll. Es handelt sich um Säuglinge, die durch
profuse Diarrhoen oder durch heftige Blutungen einen starken Säfteverlust
erlitten haben und einem Erschöpfungszustande anheimfallen, der mit Som-
nolenz, Coma, Muskelrigidität, eventuell Strabismus einhergeht. Localsymptome
fehlen. Die Fontanelle ist tief eingesunken. Die schwere Anämie des
Gehirns wird zur Erklärung der Symptome herangezogen. Das Alter der
Kinder, in dem die tuberculöse Meningitis sehr selten ist, die Anamnese,
schliesslich die Symptome dienen zur Unterscheidung von dieser in ihrem
wahren Wesen noch nicht völlig geklärten Krankheit.
Die Prognose der Krankheit ist eine absolut schlechte. Die sichere
Diagnose ist gleichzeitig das Todesurtheil für den Patienten. Wir und viele
andere sahen noch immer die Krankheit in gleicher Weise ablaufen. Die
intervalla lucida, die zumal in der ersten Periode derselben besonders bei
Kindern trügerische Hoffnungen zu erwecken vermögen, werden meist von
um so schwererem Relaps gefolgt. Trotzdem behauptet Dujardin-Beaumetz
Genesung bei einem Patienten, der auch Chorioidealtuberkel hatte, erlebt zu
haben. Dementsprechend ist auch die Therapie eine rein symptomatische. —
Sie wird es wohl immer bleiben, denn es wäre wohl gar kein Glück, könnten
wir noch nach Feststellung der Diagnose dem Kranken das Leben erhalten.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Mediein und Kinderkrankheiten. Bd. m. 4o
706 TUBERCULOSIS MILIAKIS.
Dieser Gedanke kann dem Arzte bei seiner Ohnmacht unerbittlichen Natur-
gesetzen gegenüber diesmal ein Trost sein,
Nahrungszufuhr mit Schlundsonde oder durch Klysmen, Ueb erwachung
der Entleerungen, zumal der Blase, Verhüten von Decubitus, der bei dem
mitunter protrahirten Verlaufe und der unbeweglichen Lage der tief comatösen
Kranken sich allzu leicht einstellen kann, sind wohl die wichtigsten Sorgen
des behandelnden Arztes. Will einer solatii parentum causa den Kopf mit
grauer Salbe einstreichen oder mit Jod pinseln oder ihn mit Jodoformsalbe
einreiben, will einer den Patienten hirudines auf die Processus mastoidei
setzen, will er intern Calomel oder ein anderes Mittel versuchen, will er, um
völlig modern zu verfahren, nach Quincke die Lumbalpunction ausführen
und Cerebrospinalflüssigkeit entleeren, so ist gegen derartige Heilungsver-
suche nicht viel einzuwenden, ja sie haben im Hinblick auf die Umgebung
des Patienten eine gewisse ethische Berechtigung. Empfehlen würden wir
noch zur Milderung der Schmerzen und des Fiebers Eisbeutel oder LEiTEE'sche
Köhren auf dem Kopf, Narcotica und Sedativa bei Convulsionen, Excitantien
bei Collapszuständen, wie in jedem anderen derartigen Falle, da der Arzt
immer und immer die Pflicht hat, das fliehende Leben so lange als möglich
zu erhalten. Unbedingt nöthig ist die sofortige Paracentese des Trommel-
felles, falls Eiteransammlung hinter demselben vermuthet wird.
Wir glauben, dass Jeder das Recht hat, sich der Fehldiagnose zu
freuen, der Heilungen bei Meningitis tuberculosa erlebt hat. loos.
Tuberculosis miliaris. Die Miliartuberculosis entsteht in der Weise,
dass auf irgend eine Art grosse Mengen Tuberkelbacillen in den Blutkreislauf
gelangen, welche den ganzen Körper überschwemmen, den verschiedensten
Organen zugetragen werden, sich ansiedeln und zur Tuberkeleruption führen;
Die Wege, auf welchen die Tuberkelbacillen in den Säftestrom gelangen, sind
sehr mannigfach; die grossen und kleinen Venenstämme der Lungen werden
von der Nachbartuberculosis ergriffen, die Venenwand wird entweder selbst
von der Tuberculosis erreicht und theilt leicht Tuberkelbacillen dem Blut-
strome mit oder angrenzende Heerde verschmelzen mit der Venenwand, durch-
setzen sie und entleeren sich in das Venenlumen. Auch die lymphatischen
Circulationswege vermitteln den Uebertritt in den Blutkreislauf auf die näm-
liche Weise; die Tuberculosis des Ductus thoracicus ist relativ häufig der
Vermittler der tuberculösen Ueberschwemmung; selten sind es arterielle Gefäss-
stämme, welche unmittelbar das Tuberkelvirus in sich aufnehmen. Im Verlaufe
der Lungenphthisis tritt die Miliartuberculosis besonders oft auf, wenn
ein pleuritisches Exsudat vorhanden ist; sehr häufig auch folgt die all-
gemeine Tuberculosis aus der tuberculösen Verkäsung der Bronchiallymphdrü-
sen, es kann überhaupt jeder andere tuberculöse Heerd, welcher sich während
der Schwindsucht ausbildet, die Quelle der Miliartuberculosis abgeben.
Die klinischen Symptome der Miliartuberculosis hängen von zwei
Factoren ab, von der allgemeinen Infection und von der localen Tuber-
culosis der einzelnen befallenen Organe*). Die acute Miliartuberculosis ver-
läuft immer mit mehr oder weniger hohem Fieber, meistens ist das Fieber
sehr hoch. Fälle ohne Fieberverlauf gibt es nach unserer Meinung nicht,
jedoch kann in den protrahirten Formen die Temperatur zeitweise annähernd
normal sein: diese Gruppen sind aber nur Ausnahmsfälle, das Fieber ist als
Regel bei der Miliartuberculosis hoch und lebhaft. Das Fieber selbst ist
durch eine grosse Unregelmässigkeit und Mannigfaltigkeit ausgezeichnet.
Manchmal gestaltet sich die Fiebercurve als eine Continua hohen Grades,
schwankend zwischen -f- 39*5° und 40-5*^ C. und bleibt auch hoch währendj
^) Vergl. Artikel „Tuberculosis ptihnonum.^
TUBERCULOSIS MILIARIS. 707
der ganzen Krankheit; in anderen Fällen bebt die Krankbeit mit einer mitt-
leren Continua, -)-38-5*' — 59*5"C an und gebt rasch in die steile Curve der
Febris bectica über; bald siebt man auch tagelang eine ausgesprochene Febris
hectica und dann wieder eine mehrtägige hocbcontinuirliche Fieberfigur.
Schweissausbrüche begleiten in grosser Stärke die remittirenden und vor allem
die intermittirenden Fieberbewegungen. Der Puls ist auffallend frequent,
120 — 140 Schläge in der Minute kommen sehr häufig vor; die Pulswelle ist
schwach und klein. Diese hohe Pulszahl entspricht nicht denjedes maligen
Temperatursteigerungen, denn auch morgens, wenn die Fieberhöhe
sich an der normalen Grenze der Körperwärme bewegt, oder wenn das Fie-
ber überhaupt nicht hoch ist, bleibt die Pulsfrequenz auffallend hoch; früh-
zeitig liegt demnach eine grosse Functionsstörung der Herzthätig-
keit vor. Besteht zu gleicher Zeit ein meningeales Exsudat in Folge der
Betheiligung der Meningen an der allgemeinen Tuberculosis, so wird durch den
Druck in der Schädelhöhle der Puls langsam.
In Folge der schweren Infection ist das Allgemeinbefinden der
Kranken sehr gestört, sie leiden an Kopfschmerzen, Uebelsein, Appetitlosig-
keit, Verstopfung oder Durchfällen; der Harn ist spärlich, hochgestellt und
«nthält oft sehr früh schon Albumen in kleinen Mengen, auch Peptonurie
tritt manchmal auf. Das Sensorium kann bis zum letzten Augenblick hin voll-
ständig fernbleiben, in anderen Fällen ist frühzeitig das Sensorium gestört,
indem die Kranken theilnahmslos, apathisch daliegen oder lebhaft und unru-
hig deliriren. Das Aussehen solcher Patienten ist in der Regel trotz des
hohen Fiebers nicht durch die Temperatursteigerung geröthet, sondern die
Hautfarbe, namentlich die Farbe des Gesichts ist eigenthümlich blass, ver-
bunden mit einer deutlichen Cyanosis der Lippen in Folge der Circulations-
schwäche und der AthmungsstÖrung; die Haut fühlt sich, obwohl sie blass ist,
dem Fieber entsprechend, heiss an, die Lippen und der Mund sind trocken,
die Zunge wird rissig und roth oder dick belegt; die Fuligo dentium tritt
öfters hinzu.
Xeben diesen allgemeinen Erscheinungen machen sich die
Localsymptome der einzelnen Organe bemerkbar, welche unter
Umständen das ganze Erkrankungsbild beherrschen. Das trifit besonders für
die Miliartuberculosis der Lungen zu ; die Pulmones sind stets in grosser
Ausdehnung von den Tuberkeleruptionen der Miliartuberculosis durchsetzt.
In Folge dessen besteht ein grosser, oft ungemein heftiger Hustenreiz, welcher
vorwiegend in trockenen, kurzen Stössen sich äussert und nicht viel Auswurf
zu Tage fördert. Gegen das Ende der Erkrankung zu lässt der Husten-
reiz bedeutend nach. Der geringe Auswurf selbst ist zäh, farblos und zeit-
weise blutig gestreift. Grössere Blutungen kommen der Miliartuberculosis
nicht zu, sie hängen von den schon vorher bestehenden Heerden der Lungen-
schwindsucht ab. Die Athmung wird durch das Hinzutreten der allgemeinen
Tuberculosis zur Phthisis auffallend geändert, indem eine lebhafte Beschleu-
nigung der Athemzüge auftritt, so dass 50, 60 und 70 Athemzüge in
der Minute ein regelmässiger Befund sind. Diese excessive Steigerung der
Athemzüge ist deshalb besonders auffallend, weil man, abgesehen von dem
ursprünglichen Sitze der Lungenschwindsucht, physikalisch nichts auf den
Lungen findet, was die Atherabeschleunigung erklären könnte: die Percus-
sion ergibt überall lauten, höchstens hie und da etwas tympanitischen
Schall, in Folge von Spannungs abnähme des Lungengewebes, die Auscul-
tation lässt nur einen diffasen, trockenen oder feuchten Bronchialkatarrh
erkennen und doch tritt bald zu der Athembeschleunigung lebhafte Athemnoth,
so dass die Kranken hochgradiges Angst- und Beklemmungsgefühl haben. Die
Respirationsbeschleunigung sucht man durch eine Reizung der peripheren Va-
gusfasern in der Lunge, welche die zahllosen Tuberkeleruptionen ausüben,
45*
708 TUBERCULOSIS PULMONUM.
ZU erklären. Findet man diesen Gegensatz zwischen dem geringen physikali-
schen Befunde der Lungenuntersuchung und der angestrengten, dyspnoischen
Athmung stets ausgeprägt, so treten die anderen Organerkrankungen meistens
nicht so sehr hervor; machen sie sich dagegen besonders im Krankheitsver-
laufe bemerkbar, so liefern sie diejenigen Krankheitssymptome, welche auch
unter anderen Verhältnissen den jeweiligen Organerkrankungen eigen sind;
in Folge dessen finden wir auch im Verlaufe der Miliartuberculosis die Me-
ningitis, Pericarditis, Peritonitis, Pleuritis tuberculosa in schon beschriebener
Weise ausgeprägt. Bisweilen gelingt es, Miliartuberkel in der Chorioidea als
gelbe, verwaschene Fleckchen w^ährend des Lebens vermittelst des Augen-
spiegels zu erkennen. Im Blute sind schon wiederholt zu Lebzeiten der
Erkrankten Tuberkelbacillen nachgewiesen worden; mir ist der Nachweis wie-
derholt gelungen, ebenso habe ich in dem durch die Punction mit der
PBAVAz'schen Spritze entnommenen Safte der meistens etwas vergrös-
serten Milz des Lebenden in vier von zehn Fällen Tuberkelbacillen auf-
gefunden; von den sechs Milzsaftproben mit mikroskopisch negativem Befunde
waren fünf dennoch tuberkelinfectiös, weil ich mit ihnen Iristuberculosis beim
Kaninchen und allgemeine Tuberculosis beim Meerschweinchen erzeugen
konnte. Der Verlauf der Miliartuberculosis ist lethal und vorwiegend sehr
acut; der Tod tritt in der Regel zwischen der 3. und 8. Woche ein; am
schnellsten führt diejenige Form zum Tode, welche unter dem Bilde der
hohen Febris continua auftritt. peioe.
Tuberculosis pulmonum. (Lungenschwindsucht. Phthisis xmlmonum.)
Bie Bezeichnung Schwindsucht oder Phthisis (cpöiai? von cp&icsiv
schwinden), Zehrung oder Tabes, Consumptio, bezieht sich im Allgemeinen
auf alle diejenigen Erkrankungen, welche ein Schwinden des Körpergewebes
bewirken und unter stetig fortschreitender Abmagerung den Menschen tödten,
selbst wenn die Zufuhr an Nahrungsmitteln eine hinreichend grosse ist. Von
der allgemeinen Bedeutung des Wortes Phthisis ausgehend, bezeichnete man
früher als Schwindsucht von einander sehr verschiedene Krankheitsformen
und Organerkrankungen, vor Allem, wenn der Körperschwund, die gesammte
Atrophie, von der geschwürigen Zerstörung eines Organes abhängig war. Die
älteren Pathologen reden in Folge dessen von Phthisis laryngea, hronchialis,
pulmonum, hepatis, intestinalis, renalis. Vorwiegend aber dachte man, wenn
das Wort Schwindsucht ohne weiteren Zusatz gebraucht wurde, an die Lungen-
schwindsucht; so ist es auch heute noch. Unter Schwindsucht versteht man
heute kurzweg die Lungenschwindsucht, die Phthisis imlmonum. Je mehr
man aber erkannte, dass der Ursprung der Schwindsucht die Tuberculosis
ist, um so mehr deckt sich der Begriff Lungenschwindsucht mit Lungen-
tuberculosis. Auch wir verstehen unter Lungenschwindsucht die Tuberculosis
pulmonum, als deren Ursache wir die Robert Kocn'schen Tuberkelbacillen
anerkennen; gleichwerthig ist die Bezeichnung: hacilläre Lungenphthisis.
Geschichte.
Soweit unsere historischen Kenntnisse reichen, so lange hat die Lungen-
schwindsucht unter den Menschen zahllose Opfer gefordert; sie war im
Alterthum allgemein bekannt und sehr verbreitet, so dass eine grosse Menge
treffender Beschreibungen uns überliefert worden ist.
Vor Allem Hippocrates hat mit deutlicher Schilderung die Schwindsucht ausführlich
beschrieben, er fasst aber alle Arten der Vereiterung und Verschwärung der Lungen oder
der Pleuren in dem nämlichen Begriffe zusammen und denkt sich diese Vereiterung und
Verschwärung auf mehrfache Weise entstanden. Nach Hippocrates entsteht Lungen-
schwindsucht aus der Lungenentzündung, wenn dieselbe sich nicht an den kritischen Tagen
löst: es tritt dann keine Heilung, sondern Vereiterung und Ulceration der Lungen ein.
Auch durch Blutergüsse in die Lungen kann Phthisis entstehen, wenn das Blut sich in
den Lungen ansammelt, dort fault und sich in Eiter umwandelt. Eine Vereiterung der
TUBERCULOSIS PULMONUM. 709
Lungen kann sich auch dann entwickeln, wenn der aus dem Gehirne abfliessende Sclileim
durch den Rachen in die Lunge dringt, sie ausfüllt und annagt; bei Hippocrates ist das
Gehirn eine grosse Drüse. Acute wie chronische Exsudate der Pleura können ülceration
der Lungen bewirken. Die Verschwärungen und Eiterungen der Lungen können acut und
chronisch, sowohl in umschriebenen Eiterheerden, als in diffusen Durchtränkungen und
Vereiterungen auftreten. Die umschriebenen Heerde nennt Hippocrates «fO^act, doch versteht
er unter dem Worte Phyma nur umschriebene Eiterheerde, welche aus Entzündungen
hervorgehen oder durch den Zusammenduss von Schleim, Blut und Galle bedingt werden
und, ausser in der Lunge, in jedem anderen Organe vorkommen können. HippocaATE.s hat
also den Tuberkel noch nicht, wie vielfach angeführt, gekannt. Das Wort Taberculum
kommt zuerst bei Celsüs vor, doch war ihm der Lungentuberkel unbekannt; er verstand
unter dieser Bezeichnung allerlei Knoten, Auswüchse und Protuberanzen. Eine vortreff-
liche Beschreibung der Lxmgensch windsucht hat Aretaeus von Cappadocien geliefert;
nach ihm entsteht die Lungenphthisis aus dem Lungenabscess, dem chronischen Husten
und Blutausw"urf; die Ursache ist eine Eiteransammlung in der Lunge, der Eiter wird
durch den Husten entfernt; Aretaeus versteht schon von dem eitrigen Auswurf der
Schwindsucht denjenigen Eiterauswurf zu trennen, welcher von dem Durchbruch eines
Empyems in die Lunge kommt. Galen gebraucht das Wort cpüaa als gleichwerthig mit der
Bezeichnung Tuberculum; er unterscheidet ein ciüi/ot d'-e-Tov (üj[j.oT£pov, crudum) und ein
cpOjj.a 6'j;7:c7:tov, ein rohes und reifes tpOaa, aber er verstand darunter nicht den rohen und
reifen Tuberkel, sondern mancherlei verschiedenartige Anschwellungen, welche anfangs fest
sind, späterhin erweicht werden und zu einer eitrigen Masse zerfallen, also zu einem
noch nicht reifen oder gereiften Abscesse führen. Solche Tubercula, cp'jij.c.7a, "kommen auch
in den Lungen vor, es entsprechen ihnen auch Anschwellungen der Drüsen. Die Lehre
von der Lungenschwindsucht blieb auf dem Standpunkte Galen's fast 1500 Jahre lang
stehen und erst als man wieder anfing, Leichenuntersuchungen zu machen, lernte man
die geschwürigen Zerstörungen und neben ihnen die knotigen Verhärtungen in den
Lungen kennen. Franciscus Deleboe Sylvius (1614— 1672j ist der erste, welcher neben
den Vereiterungen und Geschwüren der Lunge Knoten beschreibt, aus deren Erweichung
Cavernen entstehen (Vomicae); er unterscheidet eine grössere und kleinere Art der
Tuberkel, vielleicht ist ihm auch schon der Miliartuberkel bekannt gewesen. Die Tuberkel
brachte Sylvius mit Lungendrüse» in Zusammenhang, welche in gesundem Zustande un-
sichtbar sind, aber infolge hereditärer oder constitutioneller Anlage eine krankhafte Ver-
grösserung erfahren und sich zu eiternden Tuberkeln umwandeln. Willis (1622—1675)
hebt zuerst hervor, dass die Lungenschwindsucht nicht immer mit ülceration verbunden
ist, er findet vielmehr pulmones ab ulcere quovis immunes sed tuberculis aut lapidibus, aut
materia sabulosa per totum consitos. Bonnet beschreibt Lungen, welche neben Cavernen
zahllose kleine Tuberkel enthalten, also der allgemeinen Tuberculosis verfallen waren;
Marget (1700) erläutert in demselben Sinne die allgemeine Tuberculosis pulmonum, er ver-
gleicht die in den Lungen, den Nieren, der Leber, der Milz und dem Darm gefundenen Tuberkeln
mit Hirsekörnern und gebraucht den Ausdruck „käsig" zuerst; aus dem Zerfall der
Tuberkel entstehen die Cavernen und durch das Aufl^rechen der Cavernen entsteht die
Phthisis. Richard Morton (1689) beschreibt in seiner Phthisiologie als die einheitliche
Grundlage der Phthisis pulmonum den Tuberkel; er unterscheidet verschiedene Arten von
Lungenschwindsucht, welche aus Syphilis, Lungenentzündung, Blutspeien, geschwollenen,
scrophulösen Drüsen entstehen kann: aber als gemeinsames anatomisches Bild tritt der
Tuberkel als Ursache der Schwindsucht auf; er ist überall die Vorstufe der Zerstörung.
Es verbindet aber Morton mit dem Worte Tuberkel nicht dasjenige, was wir uns unter
Tuberkel denken; der Miliartuberkel war ihm unbekannt, ebenso wenig hat er dasjenige
gekannt, was später infiltrirte Tuberculosis genannt wurde. Morton bezeichnete als
Tuberkel, wie dieses auch seine Voz'gänger thaten, vorwiegend geschwollene Lymphdrüsen,
vor Allem die bei der Lungenphthisis gewöhnlich secundär geschwollenen Bronchialdrüsen ;
heerdweise Infiltration in den Lungen hielt er mit den geschwollenen Lymphdrüsen für
identisch und nannte auch sie Tuberkel. Ist auch Morton nicht, wie vielfach behauptet
wird, der eigentliche Begründer der Lehre von der Lungentuberculosis, so hat seine Dar-
stellung doch jedenfalls bewirkt, dass man für den Symptomencomplex der Phthisis
pulmonum die Tuberculose als einheitliche anatomische Grundlage annahm. Erst ein
Jahrhundert später wirft Morgagni die Frage auf, ob die Tuberkel immer als geschwollene
Drüsen anzusehen seien. Eine genauere Beschreibung der Tuberkeln und der Entstehung
von Höhlen aus ihnen liefert Stark; von seinen Studien ausgehend und seine Ergebnisse
erweiternd, wendet sich Thomas Reid entschieden gegen die herrschende Ansicht von der
drüsigen Natur der Tuberkeln; nach ihm sind die Tuberkeln keine geschwollenen Drüsen,
er trennt den Miliartuberkel von den grösseren tuberculösen Knoten und lässt die
Tuberkeln aus erstarrter, in die Lungenbläschen ausgetretener Lymphe entstehen. Matthiew
Baillie gibt ebenfalls als häufigsten Befund krankhaft veränderter Lungen die Knoten-
bUdung an, welche keine Drüsengeschwülste seien; er schildert, das.'? die Tuberkel anfangs
von der Grösse eines Stecknadelkopfes durch Vereinigung mehrerer zu einem grösseren
Knoten anwachsen; aus der Vereiterung, aus dem Uebergang dieser Knoten in Eiterung
entsteht die Lungenschwindsucht. Das Conglomerat aus Miliartuberkeln unterscheidet
710 TUBERCULOSIS PULMONUM.
er von anderen, nicht ans Miliartuberkeln hervorgehenden Heerden, welche diffuse Ein-
lagerungen er scrophulöse Materie nennt, obwohl er meint, dass sie aus derselben Materie
beständen, wie die Knoten. Bei den Lymphdrüsen belegt er diese Materie mit dem Namen
„käsig", so dass er die käsigen Massen als charakteristisch für die Scrophulöse hält, den
Tuberkel aber für eine aus scrophulöser Materie bestehende Geschwulst. Die Verwandtschaft
der Tuberkel mit der Scrophulöse beruht auf der Anwesenheit der käsigen Materie.
Ebenso wie es bei den Tuberkeln der Fall ist, kommt diese scrophulöse Materie in vielen anderen
Organen, wie Blase, Hoden, Nieren vor, und überall haben beide das Gemeinsame, dass sie in die
weichen, käsigen Massen übergehen. Portal wandte im Anfang unseres Jahrhunderts für
diese käsige, von Baillie „scrophulös" genannte Materie den Ausdruck tuberculös" an;
Vetter (1803) verwirft den Ausdruck tuberculöse und scrophulöse Materie gänzlich, er
gebraucht allein die Bezeichnung „Käsestoff-', den Zusammenhang der Verkäsung mit der
Scrophelerkrankung hält er nicht für unabweislich.
Hervorragend in der Geschichte der Lungenschwindsucht ist die Arbeit von Bayle
(1810), welcher den Miliartuberkel als Ausgangspunkt der Lungenschwindsucht darstellt^
das Charakteristische des Tuberkels liegt nach ihm darin, dass er anfangs fest und hart
(Tuberculum crudum) ist und durch eine centrale Erweichung eine eitrige, krümelige Masse
entsteht, welche später eitrig zerfliesst, so dass an der Stelle des Tuberkels ein Geschwür
sich ausbildet; jede in der Lunge vorkommende käsige Ablagerung oder Infiltration ist
tnberculös, mag diese Materie in begrenzten Knötchen oder in ausgedehnten Ablagerungen
vorkommen. Diese tuberculöse Phthisis erklärt Bayle für eine durchaus specifische Erkrankung^
welche mit Entzündungen, Katarrhen, Hämoptoen complicirt wird, aber nicht aus ihnen
entsteht. Die Lungentuberculose ist eine allgemeine, constitutionelle Erkrankung. Neben der
tubercrdösen Lungenphthisis beschreibt Bayle eine granulöse Phthisis : es handelt sich
hiebei um miliare Granulationen, welche durchscheinend, glänzend sind, die Consistenz des-
Knorpels und die Grösse eines Hirse- bis Weizenkornes besitzen; diese miliaren
Granulationen schmelzen nicht, sie bedingen aber ebenfalls Ulcerationen, kommen ausser
in der Lunge, auch in anderen Organen vor und bedingen eine specifische, allgemeine
Degeneration, welche auf der spontanen Entwickelung accidenteller Knorpel beruht.
Bayle führt 6 Arten der Phthisis auf: phthisie tuberculeuse, granuleuse, ulcereuse,
calculeuse, avec melanose und cancereuse; die beiden ersten Arten sind am häufigsten; von
900 seiner Fälle kamen 624 auf die tuberculöse, 183 auf die granulöse, 72 auf die mela-
notische, 14 auf die ulceröse, 4 auf die calculöse und 3 auf die canceröse Phthisis. Entscheidend
für die Erkenntniss der Lungenschwindsucht war das Auftreten Laennec's (1819), welcher
wesentlich auf dem Boden Bayle's steht, aber die miliaren Granulationen für echte Tuberkel
ansieht, welche ebenso wie die Tuberkel verkäsen und erweichen. An der Spitze seiner anato-
mischen Beschreibung der Phthisis steht der Satz, dass es nur eine einzige Art der Lungen-
schwindsucht gebe und dass diese in allen Fällen auf einer eigenthümlichen Neubildung, dem
Tuberkel, beruhe. In zwei Formen tritt der Tuberkel in den Lungen auf, nämlich al&
isolirter Tuberkel und als tuberculöse Infiltration oder infiltrirter Tuberkel; es sind ver-
schiedene Varietäten derselben tuberculösen Materie, vorzugsweise bedingt durch ihre ver-
schiedenen Entwickelungsstadien. Der isolirte Tuberkel beginnt als Miliartuberkel; er tritt
uns entgegen als kleines, halbdurchsichtiges, graues Knötchen von Hirse- oder Hanfkorn-
grösse, länglich runder Form und von fast Knorpelhärte; dieses Knötchen vergrössert sich
durch Intussusception und wird gelblich undurchsichtig und weich (cruder, gelblicher
Tuberkel), indem die Veränderung im Mittelpunkte beginnt und nach der Peripherie hin
fortschreitet; infolge des Wachsthums fliessen mehrere Tuberkel in Gruppen zusammen
(conglomerirte Tuberkel); in diesen Conglomeraten sind anfangs die jedem einzelnen Tu-
berkel zugehörigen Centra zu unterscheiden, bis allmälig der ganze Knoten gleichmässig
gelb wird, er verkäst also ; diese käsigen Massen werden immer mehr erweicht, sie zerfallen
mehr und mehr und werden endlich flüssig; auch diese Verflüssigung beginnt im Mittel-
punkte und geht nach der Peripherie hin fort; durch diese Verflüssigung wird die Caverne
geschaffen, wenn der flüssige Inhalt nach den Bronchien durchbricht. Die andere Form,
in welcher der Tuberkel auftritt, die infiltrirte Tuberculosis, macht genau dieselben Ver-
änderungen durch, wie der isolirte Tuberkel. Sie ist anfangs grau, glänzend, etwas durch-
scheinend, manchmal hart, in anderen Fällen eher sulzig, gelatinös, sie wird allmälig gelb,
undurchsichtig, verkäst und erweicht sodann,- verflüssigt sich und bringt grössere tubercu-
löse Cavernen hervor. Die Tuberculosis ist auch für Laennec nie eine Localerkrankung, son-
dern eine Krankheit des Gesammtorganismus ; die Scrophulosis hält er für eine tuberculöse
Erkrankung der Drüsen. Diese von Laennec aufgestellte Lehre von der Lungenschwind-
sucht blieb bis in die neueste Zeit; die käsige Umwandlung und der spätere Zerfall mit
Bildung von Cavernen galt als charakteristisch für die Tuberculosis, obwohl gerade durch
dieses Hervorheben der käsigen Metamorphose als einer pathognomonischen Eigenschaft der
Tuberculosis schon Laennec zu dem Trugschluss gezwungen wurde, käsige Einlagerungen
im Carcinom für tuberculös zu erklären. Broussais (1822) und Andral (1848) traten
daher schon bald energisch gegen die Annahme auf, dass käsige Materie etwas für die
Tuberculosis Pathognostisches sei, indem Eiter und die verschiedensten entzündhchen
Producte verkäsen könnten ; anderseits vertheidigt aber Andral im Gegensatz zu Broussais
die Anschauung, dass der Tuberkel ohne Irritation, ohne Entzündung entstände, jedoch
TUBERCULOSIS PULMONUM. 711
stets eine Entzündung secundär erzeuge, welche ihrerseits den Tuberkel ausstosse. Loüis,
dessen Monographie der Lungenscliwindsucht lange Zeit das ausschlaggebende Lehrbuch
über Phthisis war, steht ganz auf dem Boden Laennec's. Die LAKNNEc'sche Lehre gewann
auch in Deutschland allgemeinen Beifall, so dass sie von allen Aerzten adoptirt wurde,
als Rokitansky in seiner 1842 zueist herausgegebenen pathologischen Anatomie die Tuberkel
für Neubildungen erklärte und sich der Eintheilung in die beiden Formen Laennec's anschloss,
ein Standpunkt, welchen er noch 1861 voll einhielt. Die tuberculöse Infiltration ist für ihn
gleichwerthig mit dem isolirten Tuberkel, Tuberculosis und Scrophulosis dieselbe Erkrankung.
Es ruhten aber nebenher die Bestrebungen nicht, welche an die Stelle der grob anatomischen
Merkmale der Makroskopie besondere histologische Eigenthümlichkeiten des Tuberkels zu
setzen sich bestrebten, durch welche er mit Sicherheit von andern Gebilden zu unterscheiden
sei. Die Mikroskopie suchte diese Frage zu entscheiden. Zunächst ist es Lebert, welcher
1844 kleine, unregelmässig ovale, blassgelbe, granulirte, selten mit einem Kerne versehene
Kügelchen als specifische Bestandtheile aller Tuberkelmaterie demonstrirte; diese Körperchen,
welche Lebert Tuberkelkörperchcn nennt, charakterisiren nach ihm sowohl die infiltrirte
Tuberculöse, wie den Miliartuberkel. Reinhardt aber widerlegte die LEBERT'sche Auffassung,
indem er die Entstehung der Tuberkelkörperchen aus Eiterzellen nachwies und sie somit
ihrer Bedeutung beraubte, viele bisher für Tuberkel gehaltene Formen als identisch mit
Entzündungsproducten darstellte und die Lungentuberculosis für eine chronische Pneumonie
erklärte. Virchow besonders hob hervor, dass das Käsigwerden durchaus nichts mit dem
Tuberkel zu thun habe, sondern die käsige Metamorphosis, das Tuberculisiren, der allge-
meine Vorgang der Necrobiose in Geweben und Exsudaten sei, die käsige Materie könne
aus Eiter und den verschiedenartigsten Geweben Carcinome, Sarcome hervorgehen; die Ver-
käsung beruhe auf der Aufhebung der Ernährungs- und Bildungsvorgänge mit dadurch be-
dingter unvollständiger, fettiger Metamorphosis und Necrosis der Gewebselemente und nach-
folgender peripherischer Resorption der flüssigen Bestandtheile und Eintrocknung. Virchow
beschränkt die Bezeichnung Tuberkel auf die allein als wirkliche Neubildung noch anzu-
sehenden Miliartuberkel oder Granulationen. Die käsige Substanz ist daher nach Virchow
nicht identisch mit tuberkulöser Substanz, Verkäsung geht häufig aus Entzündung hervor.
In Folge dessen wurde von Virchow der Name Tuberculosis auf den Miliartuberkel ein-
geschränkt, während der grösste Theil desjenigen, was im Verlaufe der Tuberculosis nicht
in Knötchenform erscheint, für eingedicktes Entzündungsproduct gelten musste, welches
zunächst wenigstens mit dem Tuberkel nicht in Beziehung stand. Auf Grundlage dieser
ViRCHOw'schen Anschauung, welcher sich andere pathologische Anatomen in grosser Zahl
anschlössen, wurde die Mehrzahl der Erkrankungen an Lungenphthisis als nicht tuberculös
erklärt. Diese neue Lehre entfernte sich also sehr weit von der LAENNEc'schen Auffassung
der Einheit des Miliartuberkels und der infiltrirten Tuberculosis; sie fand ihren klinischen
Vertreter vorwiegend in F. Niemeyer, welcher die Lungenschwindsucht nur selten aus der
Miliartuberculose entstehen lässt, vielmehr ist die gewöhnlichste Ursache der Phthisis die
katarrhahsche, besonders die chronische, katarrhalische Lungenentzündung; auch die croupöse
Pneumonie kann zur Schwindsucht führen; auch Hämoptoe kann die Veranlassung zur
Phthise werden, indem das in den Lungen zurückgehaltene Blut eine Entzündung im Gefolge
hat. Die Phthisis beruht nach Niemeyer nicht auf einer specifischen Erkrankung, sondern
auf einer individuellen, angeborenen Disposition. Die Tuberculosis entwickelt sich erst in dem
vorgeschrittenen Stadium der Schwindsucht, nur sehr selten besteht sie schon vor der
Entwickelung der pneumonischen Erkrankung, sie ist meistens eine secundäre Erkrankung;
die Gefahr bei der Phthisis ist eben die Möglichkeit, dass der phthisisch Erkrankte tuber-
culös werden kann. Wurde auf diese Weise die frühere anatomische Einheit der Lungen-
schwindsucht als Tuberkulose ernsthaft in Frage gestellt, so suchte man unentwegt nach
Merkmalen, durch welche man den^ Miliartuberkel von anderen Knötchen unterscheiden könne.
Langhans und Schüppel erklärten die schon von Rokitansky und Virchow gesehenen Riesen-
zellen für charakteristische Merkmale des Miliartuberkels, so dass der echte Miliartuberkel
aus epithelialen und lymphatischen Zellen bestände, in welchen die grossen vielkernigen
Riesenzellen eingeschlossen sind. Hingegen bestritt Friedländer die Möglichkeit, histologisch
einen Tuberkel bestimmen zu können und Ziegler wies nach, dass die Riesenzellen ebenso
wie die epithelialen Zellen in allen Granulationen vorkommen können, nur mit dem Unter-
schiede, dass sie in gesunden Granulationen spärlich, in Tuberkeln viel zahlreicher und
kräftiger entwickelt zu finden seien. Zahlreich sind die folgenden Arbeiten, welche sich
mit der Pathologie und Anatomie der Lungenschwindsucht beschäftigen, die weiteste Ver-
breitung haben die Arbeiten von Buhl und Rindfleisch gefunden, von denen der erste die
Grundlage der Lungenphthisis in der von ihm als parenchymatöse Pneumonie oder genuine
Desquamativpneumonie bezeichneten Entzündung der Lunge findet, der andere ebenfalls
nur eine Art der Lungenschwindsucht, nämlich die tuberculöse anerkennt; beide betonen
die Gleichartigkeit der in Knötchenform als Tuberkel auftretenden Form und derjenigen
Gebilde, welche als Infiltrate sich darbieten; für beide ist die Tuberculöse der Ausdruck
einer anormalen Constitution, eine Allgemeinerkrankung, keine Localerkrankung, sie weichen
aber von einander ab dadurch, dass Buhl die Tuberculosis nicht für eine scrophulöse Er-
krankung hält, während Rindfleisch die Ansicht Laennec's von der Gleichheit _ der
Scrophulosis und Tuberculosis vertritt. Während aber im Grossen und Ganzen die histologische
712 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Forschung einen einheitlichen, von Allen anerkannten Boden nicht schaffen konnte, eröffneten
die ätiologischen Studien den Weg, welcher in der Neuzeit ruhmreiche Lorbeeren ernten
liess. ViLLEMiK trat 1865 mit seinen berühmten Impfversuchen vermittelst tuberculöser
Materie hervor; er wiederholte die schon viele Jahre früher von Talmade und Klenke ausge-
führten Versuche, indem er tuberculöse Bestandtheile menschlicher Leichen, sowie phthi-
sisches Sputum Kaninchen, Meerschweinchen und Hunden einimpfte. Klenke hatte schon
1843 durch Einbringung von Tuberkelsubstanz in die Halsvenen eines Kaninchens allgemeine
Tuberculöse zu erzeugen vermocht. Ohne dass an den Impfstellen eine Veränderung ent-
stand, entwickelten sich in den Versuchen Villemin's nach einiger Zeit Lymphdrüsenschwellung
und Knötchen in den verschiedensten Organen, welche Knötchen makro- und mikroskopisch
den menschlichen Tuberkeln gleich waren, so dass Villemin aus seinen Versuchen den
Schluss zog, dass die Tuberculöse eine specifische Erkrankung sei; aus seinen Studien folgt
auch die Gleichwerthigkeit der verschiedenen Formen der tuberculösen Erkrankung, so
dass die Einheit der Lungenschwindsucht evident wurde. Die Pariser Akademie bestätigte
voll diese Versuche Villemin's, aber dennoch konnten sie keine allgemeine Anerkennung
finden; Friedländer erklärte die durch die Impfung im Thiere hervorgebrachten Knötchen
seien keine echten Tuberkel, sie seien miliare Pneumonien und die Impf tuberculöse sei eine
Art chronischer Pyämie; Waldenburg führte an reichem Materiale aus, dass die Einbrin-
gung ganz beliebiger, feiner corpusculärer Elemente in die Blutbahn ebenfalls Knötchen,
Miliartuberkel hervorrufe ; Hippolite Martin bestätigte zum Theil die Ergebnisse Walden-
burg's, machte aber darauf aufmerksam, dass durch indifferente, entschieden nicht infectiöse
Stoffe zwar Knötchen hervorgebracht werden können, aber viel seltener und unsicherer,
als durch tuberculös-käsiges Material. Der Hauptunterschied aber ist derjenige, dass die-
jenigen Knötchen, welche nach der Impfung mit tuberculösem Material entstanden sind,
sich von Thier auf Thier in langer Reihe weiterimpfen lassen und stets neue Tuberkel er-
zeugen, während die durch nichttuberculöses Material bewirkten Knötchen solche Ver-
impfung nicht gestatten, so dass also die erstere Art der Knötchen echte, wahre Tuberkel
mit einem specifischen Virus, die letztere Art unechte, wenn auch geweblich gleiche Knötchen
darstellten. Cohnheim und Salomonsen impften in die vordere Augenkammer von Kaninchen
und erzeugten, wie dieses auch aus meinen Versuchen ausgedehnter Art als leuchtendes
Resultat hervorgeht, jedesmal Tuberkel, wenn tuberculöses Material, und niemals Tuberkel,
wenn nichttuberculöse Substanz verimpft wurde. Die Ansicht, dass die Tuberculosis eine
Infectionskrankheit ist, war durch diese Versuche bewiesen, nur das wirksame Agens, der
Träger der Infection war noch nicht bekannt. Buhl hatte schon, gestützt auf seine Sec-
tionsbefunde, welche bei Miliartuberculose stets ältere, käsige Heerde im Körper ergaben,
die Anschauung mitgetheilt, dass die Tuberculosis nicht nur eine Infectionskrankheit sei,
sondern dass bei ihr auch Bakterien eine grosse Rolle spielen dürften. Klebs und Toussaint
beschrieben dann auch Mikroorganismen, welche sie für die Tuberculosis als pathogenetisch
erklärten ; beide konnten durch Uebertragung ihrer Culturen wirkliche, echte Tuberculosis
erzeugen, die spätere exacte Prüfung ergab aber, dass ihre Culturen nicht rein, sondern
ein Gemisch verschiedener Mikroorganismen waren; auch Aufrecht und Bä.umgarten thaten
sich auf diesem Gebiete hervor, doch erst dem Genie Robert Koch's war es beschieden,
den specifischen Erreger der Tuberculosis zu finden. Der Kocn'sche Tuberkelbacillus hat
endgiltig die Lehre von dem Wesen der Tuberculosis abgeschlossen, er allein vermag Tu-
berkel zu erzeugen; wo er sich constant findet, da ist Tuberculosis; wo er nicht ist, da ist
auch keine Tuberculosis; die Tuberculosis wird durch ihn als eine specifisch-infectiöse Er-
krankung erklärt, die verschiedenen pathologisch-anatomischen Veränderungen, welche die
Grundlage der Lungenschwindsucht bilden, werden durch den Tuberkelbacillus als Form
einer einheitlichen Erkrankung erkannt. Für uns ist es bewiesen, dass die Tuberculöse
der Lungen, die Lungenschwindsucht, eine specifisch-infectiöse Erkrankung ist, welche in.
ihren verschiedenen Bildern doch nur Formen der nämlichen Krankheit darstellt. Die Ur-
sache der tuberculösen Erkrankungen und demnach auch der tuberculösen Lungenschwind-
sucht ist der Tuberkelbacillus.
I. Aetiologie.
Fast jedes Gewebe kann für den Tuberkelbacillus einen geeigneten
Nährboden abgeben, so sehen wir ihn sich einnisten in den Lungen, dem
Larynx und dem Darme, in dem Urogenitalapparat und den Gehirnhäuten.
Am häufigsten ist die Tuberculosis der Lungen, die Lungen-
schwindsucht; sie ist ungemein verbreitet; auf sie allein kommen 7? aller
Todesfälle, und wenn man sie mit den chronischen Lungenkrankheiten überhaupt
in Vergleichung stellt, so ist sie mit ^/g der Todesfälle betheiligt.
Bei der Besprechung der Aetiologie der Lungentuberculosis
gehen wir von der Thatsache aus, dass, wenn eine Infection des Körpers
mit Tuberkelbacillen erfolgt, diese in letzter Instanz von einem bereits tuber-
culös erkrankten Individuum abstammen, und dass eine generatio aequivoca
TUBERCULOSIS PULMONUM. 713
nicht statthat. Der Tuberkelbacillus, soweit er für die Lungenschwindsucht
in Betracht kommt, wird vorwiegend durch die Einathmung unmittelbar
in die Lungen aufgenommen und in Folge dessen trifft man diePhthisis am
häufigsten da, wo Menschen dicht gedrängt beieinander wohnen und
leben. In Fabrikorten, in grossen Städten, in Kasernen, in Gefängnissen, in
überfüllten, schlecht gelüfteten Käumen ist die Phthisis sehr häufig, viel
häufiger als auf dem fliachen Lande. Mit der Annahme, dass die Einathmung
die ergiebigste Quelle für die Lungentuberculosis ist, stehen die Thierversuche
vollkommen im Einklang; die Tuberculosis entwickelt sich bei den Impf-
versuchen stets an der Stelle der Impfung; impft man in die Bauchhöhle,
so entwickelt sich eine tuberculöse Peritonitis; Impfungen in die vordere
Augenkammer rufen stets eine Ansiedlung von Tuberkelbacillen in der
Iris hervor.
Mit derselben Regelmässigkeit trat in meinen Versuchen Lungentuber-
culose auf nach Inhalationen von tuberculösem Material oder Auf-
schwemmungen von Tuberkelbacillen-Reinculturen. Durch Inhalationen
von getrocknetem, tuberculösem Sputum kann bei den Versuchsthieren
jedesmal Lungentuberculose hervorgerufen werden. Man darf analog diesen
Versuchen an Thieren annehmen, dass beim Menschen die Lungentuberculosis
sich vorwiegend durch Einathmung von tuberculösem Material ausbildet. Die
Art und Weise, auf welche sich infectiöse Stoffe tuberculöser Natur der
Luft beimischen, ist eine sehr mannigfaltige. Die Hauptquelle bildet das
phthisische Sputum, das an Tuberkelbacillen ausserordentlich reich ist
und in grossen Mengen ausgeworfen wird. Durch Verdampfung aus
flüssigen Sputis findet unter gewöhnlichen Verhältnissen kein Uebergang
von Tuberkelbacillen in die Luft statt; die durch Verdunsten aus tuberculösen
Sputis gewonnene Flüssigkeit ist stets tuberkelbacillenfrei, ebenso wie die
Luft, welche das feuchte Sputum umgibt. Wenn aber das Sputum ein-
trocknet, so mischt es sich allzuleicht in Staubform der Luft bei und kann
so durch den Athemzug den Weg in die Lungen finden, durch die Ein-
trocknung wird die Virulenz des phthisischen Sputums nicht ohne weiteres
zerstört; noch nach Wochen und Monaten kann mit solchem getrocknetem
Sputum, Inhalationstuberculose der Lungen erzeugt werden, die Sporen der
Tuberkelbacillen sind ungemein resistent, noch nach 205 Tagen habe ich
bei Kaninchen und Meerschweinchen mit solchem pulverisirtem Sputum
positive Erfolge erzielt. Bei solch' langer Virulenz von getrocknetem Sputum
erklärt es sich leicht, dass die jedesmalige Gelegenheitsursache für
die Infection sehr verschieden sein kann; wo sich solch' getrocknetes
Sputum durch die Luft weitergetragen, niederschlägt, da bildet es eine tuber-
culöse Ansteckungsquelle; man hat Tuberkelbacillen, auf solche Art durch die
Luft übertragen, in dem Ventilationsschacht eines Krankenhauses gefunden;
im Staube von Eisenbahnpolstern, Teppichen, Krankenstühlen sind mit
Sicherheit Tuberkelbacillen nachgewiesen worden. Die Ausathmungsluft
von Phthisikern, welche bei Cavernenbildung zahllose Tuberkelbacillen im
Sputum ausw^erfen, erweist sich als tuberkelbacillenfrei und selbst das stunden-
lange Anhauchen solcher Patienten kann das Kaninchen schadlos ertragen;
anders ist die Sache, wenn die Kranken einen Bart tragen, hier fallen
nach meinen eigenen Experimenten die Uebertragungsversuche auf dem
Wege der Inhalation bei Kaninchen und Meerschweinchen sehr häufig, in
fast % aller Versuche, positiv aus; die Ursache liegt darin, dass eben beim
Ausw^erfen trotz der grössten Vorsicht kleine Partikel des Auswurfes im Barte
hängen bleiben, eintrocknen und sich der Luft beimischen können. Ebenso
wie im getrockneten Sputum behalten auch im faulenden Sputum die
Tuberkelbacillen ihre Virulenz für lange Zeit; noch nach 40 Tagen fand man
714 Tuberculosis pulmonum.
das Sputum vollkommen virulent, bei Abschluss der Luft ist noch nach einem
halben Jahr die Virulenz erhalten.
Wenn nun auch das phthisische Sputum die vornehmste Quelle für die
Weiterverbeitung der Tuberculose auf dem Wege der Einathmung ist, so
können selbstverständlich Tuberkelbacillenmitdem Harne, mit den
Fäces, dem Mundspeichel entleert, unter Umständen zur Einathmung
gelangen, ebenso tuberkelbacillenhaltiger Eiter aus Abscessen und
Lymphdrüsen. Ich habe in überzeugender Weise bei Kaninchen in zahl-
reichen Versuchen mit solchem getrocknetem phthisischen Material Lungen-
tuberculosis erzeugen können.
Ausser auf dem Wege der Einathmung kann die Infection mit Tuberkel-
bacillen sich auf andere Weise vollziehen und zwar zunächst dadurch, dass
der Darmcanal die Eingangspforte abgibt. Durch Fütterung von
Thieren mit tuberculösem Material, so in meinen Versuchen mit getrocknetem
und frischem Sputum, mit vereiterten, tuberkelbacillenhaltigen Lymphdrüsen,
mit Reinculturen von Tuberkelbacillen entsteht eine Tuberculosis der Darm-
wand; besonders die solitären Follikel und PAYEu'schen Plaques werden
tuberculös, ihnen schliesst sich Tuberculosis der Mesenterialdrüsen an und
damit ist dem Vordringen der Tuberkelbacillen Thür und Thor geöffnet.
Dieser Weg der Infection mit Tuberkelbacillen, die Fü tt er ungs tuber-
culös e ist aber nicht überwältigend häufig, der saure Magensaft ist im
Stande, bei hinreichend langer Einwirkung die Tuberkelbacillen zu vernichten;
die Sporen sind allerdings viel widerstandsfähiger, es scheint aber, als ob
durch die Einwirkung des sauren Magensaftes die En'twickelung der Sporen
verlangsamt würde. Jedenfalls entwickelte sich bei meinen Fütterungsver-
suchen die Darmtuberculosis viel rascher und sicherer, wenn der Magensaft
neutralisirt wurde und die Tuberkelbacillen ungehindert in den Darm-
canal gelangten. Es ist auch von Belang, ob die Magen-Darmschleim haut
gesund oder ob sie erkrankt ist. Bei katarrhalischen Erkrankungen des
Darmcanales finden die verschluckten Tuberkelbacillen viel leichter eine Ein-
gangspforte als auf der gesunden Darmschleimhaut. Wir dürfen mit Recht
diese Voraussetzung als zutreffend annehmen, weil auch die äussere Haut,
wenn sie z. B. im Verlauf von schweren Ekzemen oder Geschwürsbildungen
von ihrer Epidermis entblösst ist, dem Eindringen von Tuberkelbacillen kein
Hindernis mehr bietet. Erklärend sind auch die Versuche von Okth, welche
ich wiederholt habe und voll bestätigen kann, dass nämlich die Verfütterung
von kalkconcrementreichen Tuberkeln, den serösen Häuten der
Kuh entnommen, fast immer Darmtuberculose erzeugte, während die des
Kalkes beraubten Tuberkeln bei Fütterungsversuchen negativ aus-
fallen; Hand in Hand mit anderen Versuchen darf man schliessen, dass die
Bacillen an der unversehrten Schleimhaut gar nicht oder nur sehr schwer
haften, während sie häufiger haften, wenn die Kalkconcremente die Epithelien
verletzen und dem Eindringen der Tuberkelbacillen in die Darmwand den
Weg öffnen. Beim Menschen nun kann das tuberculose Material in den
Magen gelangen, wenn die Nahrung von vorn herein Tuberkelbacillen
enthält oder wenn ihr von aussen her solche Keime beigemischt werden.
Jede Nahrung kann durch Tuberkelbacillen von aussen her verunreinigt
werden, sei es dadurch, dass die Personen, welche sie zubereiteten, tuber-
culöses Material an den Händen hatten, sei es, dass durch Fliegen, Staub,
eine Uebertragung erfolgt. So steht es für uns fest, dass ein tuberculöser
Händler, welcher zum Auswerfen gezwungen ist, an seinen Händen, trotz
grösster Sauberkeit tuberculose Substanzen tragen kann; ich habe derartige
Versuche in der Weise angestellt, dass ich Personen, welche ein tuberkel-
bacillenreiches Sputum expectorirten, veranlasste, kleine Brodkugeln zu
verfertigen; bei dieser Arbeit Hess sich deutlich ersehen, dass beim Husten
TUBERCULOSIS PULMONUM. 715
Sputumtröpfchen auf den Broclteig fielen — und solche Sputumpartikelchen
enthielten Tuberkelbacillen; es klebten aber auch den Händen Sputumtheilchen
an, weil entweder dieselben Sputumstoffe sich auf die Hände niederschlugen,
oder die Leute, trotz der eindringlichsten Ermahnung, mit der Hand die Lippen
und den Bart abtrockneten; noch schlimmer wurde es, wenn die Patienten
trotz Spucknapf das Taschentuch herauszogen und entweder in dasselbe
spuckten, oder mit ihm sich Bart und Mund putzten; auf das unzweideutigste
sah ich von dem Taschentuche kleine, mehr als linsengrosse Stücke halb-
getrocknetem Sputums auf den Brodteig fallen und unter denselben gemischt
werden; allerdings wurde durch das nachfolgende Backen der Tuberkelbacillus
und seine Sporen getödtet, aber durchaus sicher ist das nicht in allen Fällen,
zumal wenn das Brod nicht durchaus gar gebacken ist, jedenfalls aber ist
durch mich in sicherer Weise bewiesen worden, dass an und für sich gute
Nahrung durch denjenigen, welcher sie verarbeitet, tuberculös infectiös werden
kann; was für Versuche am Brodteig gilt, das hat auch Geltung für Fleisch,
Obst, Getränke, wenn nicht etwa durch hohe Temperaturgrade die Keime
der Tuberculosis getödtet werden, aber auch die schon fertig gestellte Nahrung
kann noch nachträglich inficirt werden. So wie der Mensch die Nahrungs-
mittel in diesem Sinne verunreinigen kann, so können dieses auch kleine
Insekten und Fliegen thun; meine und anderer Beobachter Versuche
haben ergeben, dass die Fliegen an ihrem Rüssel und ihren Beinen relativ grosse
Partikelchen tuberculösen Sputums aus dem Spuckglase oder wo sie auch
immer das Sputum finden, forttragen können; wo sie sich niederlassen, da
findet man deutlich die Verschleppung des tuberculösen Stoffes, ja es scheint
sogar, als ob die Tuberkelbacillen schadlos den Fliegenkörper passiren können.
Fliegen, Bienen, Käfer, sie alle tragen phthisische Sputumtheile in meinen
Versuchen durch das Zimmer fort und sind, was sicher bewiesen ist, dadurch
besonders gefährlich, dass sie auf etwa vorhandene Nahrungsmittel, wie Brod,
Fleisch, Zucker mit Vorliebe sich niederlassen und tuberculöse Substanzen
ablagern. Unter den Nahrungsmitteln, welche in dem Gebiet der Fütterungs-
tuberculose an erster Stelle genannt werden müssen, finden wir obenan
die Milch; auch sie kann durch die Hand des Melkers oder des Verkäufers
zur Quelle der Infection werden; sie kommt aber für uns besonders in
Betracht, weil die Kühe ausserordentlich häufig an Tuberculosis, an der
sogenannten Perlsucht erkrankt sind. "Wenn das Euter tuberculös ist,
oder die Kuh an allgemeiner Tuberculöse leidet, so kann die Milch Tuberkel-
bacillen enthalten, dies ist aber nicht selten der Fall; leidet die Kuh an
localer Tuberculosis der Lungen oder Pleura, so ist zwar nur selten die Milch
als infectiös erkannt worden, aber es ist doch möglich, dass Tuberkelbacillen
in das Blut und durch dasselbe in von dem ursprünglichen Sitz der Tuber-
culosis entfernte Organe, also hier in das Euter, gelangen; mit Recht sehen
wir deshalb dieungekochte Milch perlsüchtiger Kühe als ein ätiologisches
Moment an, welches die Tuberculosis des Menschen verursachen kann.
Schwindsüchtige Mütter und Ammen können sicherlich auf die Säug-
linge die Tuberculosis durch bacillenhaltige Milch unmittelbar übertragen.
Abgesehen von der Milch perlsüchtiger Kühe, kann auch das Fleisch
derselben Thiere infectiös sein, um so eher, je mehr die Tuberculosis des
Thieres allgemein geworden ist und je mehr die Tuberculosis sich im Stadium
der Verkäsung und Erweichung befindet; als besonders gefährlich gelten die
Leber, Nieren und die Lymphdrüsen perlsüchtiger Kühe. Die Art der Zu-
bereitung mindert die Uebertragung der Tuberculosis durch den Genuss
des Fleisches perlsüchtiger Kühe erheblich, weil durch das Braten oder
Kochen die Tuberkelbacillen und Sporen getödtet werden, man darf aber
diesen Vorgang, wie er sich in der Küche im Gewöhnlichen abspielt, nicht
überschätzen, eine absolute Sicherheit gewährt er nicht, zumal in grossen
716 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Fleischstücken dringt beim Braten die Hitze nicht erheblich ein. so dass
mitten im Stück die Temperatur weit unter + 100" C. zurückbleibt; bei der
englischen Zubereitungsart des Fleisches ist meistens im grossen Fleischstück
der innere Theil kaum auf -\- 40° Celsius erwärmt. Unter denselben Voraus-
setzungen kann auch das Fleisch anderer tuberculös erkrankter Thiere die
Tuberculosis auf den Menschen übertragen; wir nennen hier das Huhn, das
Kaninchen, das Schwein und die Ziege, zumal Hühner sind ausser-
ordentlich häufig tuberculös.
Ein anderer Weg, auf welchem die Tuberculose in den menschlichen
Körper einzieht, ist die Aufnahme durch die verletzte Haut und Schleim-
haut. Dieser Weg wird zwar nur selten beschritten, aber von Wunden
aus, welche mit tuberculösen Stoffen verunreinigt worden, kann eine Infection
statthaben. Laennec bezog seine eigene Lungenphthisis auf eine Infection
eines Fingers, welchen er beim Zersägen tuberculöser Wirbelknochen mit der
Säge verletzt hatte; zwischen der Verletzung und der deutlichen Lungentuber-
culosis lag allerdings ein Zeitraum von zwanzig Jahren. Positiv beweisend
für die Möglichkeit der Impftuberculosis beim Menschen ist aber die Be-
schreibung eines Krankheitsfalles von Tscherning, welcher beobachtete, dass
ein blühendes, gesundes Mädchen, welches sich beim Keinigen eines Glases,
in welchem ein tuberkelbacillenreiches Sputum war, einen Finger verletzte,
bald darauf an der Stelle dieser Verletzung an einem Hautgeschwür erkrankte;
eine schwere Tuberculose der Sehnenscheiden des Fingers, der Cubital- und
Axillardrüsen machte einen operativen Eingriff nothwendig; sowohl in den
Sehnenscheiden, wie in den exstirpirten Drüsen wurde die Diagnose der Tuber-
culose durch den Nachweis der Tuberkelbacillen gesichert.
Die Eingangspforte für die Tuberculosis kann jede Stelle der
Haut und der Schleimhaut werden, sofern sie ihres schützenden Epithels
beraubt ist; viele Beispiele solcher Wundinfectionen mit nachfolgender
Lungentuberculosis liegen in der Literatur vor, und auch ich kenne
einen Fall, in welchem ein gesunder, kräftiger Mann, welcher eine
frische Schnittwunde an dem Handrücken hatte, sich dadurch inficirte,
dass ein ihm zum Keinigen übergebenes Spuckglas umfiel, das tuberculose
Sputum über die Wunde sich ergoss und durch die zähe Beschaffenheit
fest in ihr haftete; die Wunde wurde energisch gereinigt, sie heilte auch in
sechs Tagen ab, aber 13 Tage nach der Abheilung, 19 Tage nach der Infec-
tion, begannen die vernarbten Stellen zu schmerzen und sich zu röthen, ein
kleiner Abscess bildete sich aus, welcher bei der Spaltung dünnflüssigen Eiter
enthielt, in welchem ich Tuberkelbacillen nachwies und mit welchem ich Iris-
tuberculosis erzeugen konnte; trotz der Spaltung schwollen die Axillardrüsen
an, sie führten zu einer acuten Vereiterung erheblicher Art; in dem Eiter
fanden sich zwar keine Tuberkelbacillen, aber die Impfversuche in die vor-
dere Augenkammer des Kaninchens fielen positiv aus und ebenso gelang
leicht die Züchtung von Reinculturen auf geronnenem Blutserum. Die Lungen
waren vollkommen gesund zu jener Zeit. Der Drüsenabscess wurde 31 Tage
nach der Infection an der Hand geöffnet. Der Wundverlauf war ein normaler,
die Temperatur stieg nur selten und wenige Theilstriche über -\- 38*0" Cel-
sius. Eine kleine Fistel, welche bacillenfreien Eiter secernirte, war 3 Wochen
lang vorhanden. Plötzlich stellte sich hohes Fieber ein, ohne dass ein neuer
Heerd nachweisbar war, die Lunge schien stets intact, als eine starke Hämoptoe
die Tuberculosis der Lungen bewies, der Blutsturz erfolgte 104 Tage nach der
Wundinfection. Der Verlauf wurde ein rapider, in kurzer Zeit bildete sich
eine manifeste Infiltration mit raschem Zerfall in dem linken oberen Lungen-
lappen aus und 187 Tage nach der Verunreinigung der Schnittwunde mit
tuberculösem Sputum trat der Tod ein. Die Section ergab neben den Lungen-
TUBEECULOSIS PULMONUM. 717
befunden eine tuberculöse Erkrankung der Axillar-, Clavicular- und Bron-
chialdrüsen der linken Seite.
In dieses Capitel der Aetiologie gehören auch die Thatsachen,
dass die Tuberculosis auf Neugeborene durch phthisische Rabbiner
übertragen wurde, welche das Blut der Beschneidungswunde aussogen
und die Wundfläche mit ihrem Speichel benetzten, und die Beobachtung,
dass eine tuberculöse Hebamme die Neugeborenen dadurch tuberculös machte,
dass sie ihnen nach der Geburt von Mund zu Mund Schleim aus den Luft-
wegen aussog. Von Mund zu Mund, im Kusse kann die Tuberculöse
übertragen werden; wir sahen eine Tuberculosis sich einnisten in der Schleim-
haut der Lippen bei einem jungen Manne, welcher mit einer tuberculösen
Dame verlobt war; ähnliche Beispiele findet man, wenn auch sehr selten, so
doch deutlich an Beweiskraft. Auch durch einen car lösen Zahn sah man
die Tuberculöse in den Körper eindringen. Finden sich nun im Vorstehenden
schon Beispiele, dass die Lungentuberculose von Kranken unmittelbar auf
den Gesunden übertragen werden kann, wie z. B. durch Verunreinigung einer
Wunde mit tuberculösem Sputum, durch den Kuss der phthisischen Braut,
so bringt auch der i n n i g e Verkehr Kranker mit Gesunden für letztere
grosse Gefahren mit sich; wenn wir auch nicht stets den Infectionsmodus
nachweisen können, so steht doch die Thatsache fest, dass der tuberculös
Erkrankte seine Krankheit auf gesunde Leute übertragen kann. Menschen,
welche mit Phthisikern in einem Räume schlafen, Krankenpfleger von
Tuberculösen sieht man an Tuberculöse erkranken; zahlreich sind die Beispiele
aus dem Eheleben, dass der gesunde Ehetheil, welcher mit dem phthisisch
erkrankten anderen Ehetheil zusammenlebt, endlich auch an Tuberculosis
erkrankt. Die Phthisis geht häufiger von dem. Mann auf die Frau, als von
der Gattin auf den Gatten über, wohl deshalb, weil die Ehefrau sich ein-
gehender und sorgfältiger mit der Pflege des kranken Mannes beschäftigt,
als es umgekehrt der Fall ist. In 261 Fällen, in welchen die directe Ueber-
tragung von Kranken auf Gesunden nachgewiesen wurden, fand sich in 158 die
Uebertragung zwischen Ehegatten und zwar wurden in 119 Fällen von den
phthisischen Männern die Frauen angesteckt, in 82 Fällen fand die Ueber-
tragung unter Familienmitgliedern statt, achtmal ging die Phthisis auf mit
den Kranken innig verkehrende andere Personen über. Es können auf diese
Weise die Eltern die Kinder und die Kinder die Eltern inficiren. Auch hier
ist bei der directen Uebertragung die Mutter mehr in Gefahr als der Vater,
weil sie die Pflege des erkrankten Kindes vorwiegend leitet. Ich sah in
mehreren Familien, welche bis dahin durchaus gesund waren, die Tuberculöse
einziehen, als ein Familienmitglied mit ihr behaftet aus der Fremde in die
Heimath zurückkehrte; in wenigen Jahren starb ein Mitglied nach dem anderen,
bis entweder die Familie, Eltern und Kinder gänzlich ausgestorben war oder
nur noch ein einzelnes Mitglied übrig blieb; wir sahen dabei, dass alle Mit-
glieder starben, welche in demselben Hause wohnten, während Geschwister,
in der Ferne wohnend, von der Krankheit nicht ergriffen wurden.
Man muss sich auch erinnern, dass in solchen Wohnungen, in welchen
die Lungentuberculosis sich breitmacht, oder ein Schwindsüchtiger lebt, der An-
steckungsstoff lange Zeit haften kann; zieht eine bis dahin gesunde
Familie in eine Wohnung, in welcher bis dahin ein Schwindsüchtiger wohnte,
so kann man gelegentlich in ihr das Auftreten der Tuberculosis beobachten;
ebenso sieht man nicht ganz selten, dass, wenn der Witwer einer an Phthisis
gestorbenen Frau eine neue Gattin in das Haus einführt, diese gar bald auch
an Tuberculöse zu Grunde geht, obwohl der Mann vollkommen gesund bleibt;
wir kennen gar den Fall, dass, nachdem die erste Frau an Lungenschwind-
sucht starb, der Gatte auch seine zweite und dritte Frau, welche weder here-
ditär noch constitutione!! belastet erschienen, an Tuberculosis verlor, trotzdem
718 .TUBERCULOSIS PULMONUM.
er selbst gesund blieb; erst die vierte Frau blieb gesund, als der Mann das
alte Haus verliess und in ein neues einzog. Als Mittel der Contagion darf
man auch die Kleider der Phthisiker ansehen; Schneider, welche gesund
nur der Arbeit wegen in einem Curort, in welchem vorwiegend Phthisiker
ihre Heilung suchten, sich aufhielten und sich mit dem Ausbessern von Klei-
dungsstücken beschäftigten, hat man wiederholt phthisisch erkrankt aus dem
Curorte heimkehren sehen. Ich für meine Person zweifle nicht daran, dass
die Ueb ertragung der Tuberculose vom Kranken auf den Gesunden statthaben
kann und dass die alte Meinung zu Recht bestehen muss, dass die Lungen-
schwindsucht eine contagiosa Erkrankung ist. Mit dieser Annahme in Ueber-
einstimmung finden wir die Erfahrung, dass die Lungentuberculose dort
am häufigsten ist, wo die Bevölkerung am dichtesten erscheint; sinkt
die Bevölkerung unter eine gewisse Grenze, so kann die Phthisis vollständig
fehlen, wie in Steppen und Wüsten, auf hohen Bergen; häufig ist sie
in grossen Städten, vor Allem in Industriestädten, wo die Bevölkerung dicht
gedrängt wohnt oder wo sie in Gefängnissen, Klöstern, auf engem Räume
lebend, wenig in die frische Luft kommt.
Nun lässt sich nicht die Thatsache verkennen, dass unendlich viele
Menschen von der Tuberculosis verschont bleiben, trotzdem sie als Aerzte,
Krankenwärter, Familienmitglieder fast fortwährend in Gefahr schweben, und
trotzdem die Ausbreitung der Tuberculosis eine so enorm grosse ist und der
Möglichkeit der Infection so viele Wege offen stehen. Mag auch zum Theil
die Ursache darin liegen, dass die Tuberkelbacillen ausserhalb des mensch-
lichen oder geeigneten thierischen Körpers sich nicht fortpflanzen und über-
haupt nur ein sehr langsames Wachsthum, für welches sie bestimmte Tem-
peraturgrade erfordern, besitzen, sowie dass sie sicherlich wieder aus der
Lunge eliminirt werden, bevor sie sich definitiv festsetzen konnten, so ist^
doch noch eine Anzahl von Bedingungen für das Entstehen der Tuberculosis
überhaupt, also hier der Lungentuberculose, nothwendig, Vorbedindungen,
welche wir mit dem Namen individuelle Disposition belegen.
Die Disposition ist der grosse Factor, den endgültig zu erklären, wir
zwar nicht im Stande sind, dessen wir aber sowohl bei der Tuberculosis, als
auch bei anderen Infectionskrankheiten nicht entbehren können. Die ein-
zelne Person, der betreffenden Erkrankung ausgesetzt, ist nicht gleichwerthig
der Gesammtheit, sondern trotz gleich grosser Einwirkung des schädlichen
Infectionsstoffes erkrankt nur 'ein Theil von allen denjenigen Leuten, auf
welche die Gefahr einwirkt. Diese Disposition kann ererbt, angeboren
oder erworben sein.
Betrachten wir zunächst die ererbte krankhafte Constitution, so
sind von jeher Schwindsucht und Erblichkeit als unzertrennlich betrachtet worden.
Die Heredität, die Vererbung der Tuberculosis von den Eltern auf die
Kinder, ist eine der interessantesten Fragen in dem Studium der Tuber-
culosis. An der Thatsache, dass in zahlreichen Familien die Lungenschwind-
sucht sich forterbt, zweifelt wohl Niemand, zahlreiche Mitglieder der näm-
lichen Familie sehen wir ungemein oft an Tuberculose zu Grunde gehen,
wenn die Eltern oder nur der Vater oder die Mutter allein an Lungen-
phthise erkrankt waren oder starben; zieht man überhaupt in solchen Fa-
milien jede Form in Betracht, unter welcher die Tuberculosis sich
zeigen kann, wie Knochencaries, Scrophulosis, tuberculose Gelenkentzündungen,
so stossen wir auf Familien, in welchen kein einziges Kind frei von
Tuberculosis ist. In den letzten sechs Jahren habeich bei 2000 Lungen-
tuberculösen, vorwiegend der Privatpraxis entnommen, speciell auf die Here-
dität geachtet; von diesen 2000 fallen 45 7o auf hereditär belastete Personen,
und zwar waren entweder die Eltern beide an Lungentuberculosis gestorben oder
einer des Elternpaares; rechnet man mit Liebermeistee, dass 100 Lungen-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 719
phthisiker 100 Elternpaare (Vater und Mutter) hatten, von welchen also 45
sicher an Lungentuberculose gestorben waren, so waren mithin von diesen 200
Personen 45 tuberculös gewesen, das heisst demnach, zwischen Vs ^^^ ^U
war schwindsüchtig; die Zahl ist aber sicher zu gering, weil nicht in
der Berechnung ausgeführt ist, wie oft beide Eltern an Lungenschwindsucht
erkrankt waren und sicher ein Theil der lungenkranken Eltern überhaupt der
Berechnung entging oder erst später erkrankte. Jedenfalls aber überwiegt
der Procentsatz von ^5 bis V4 bedeutend die allgemeine Sterblichkeitsstatistik,
nach welcher Yt ^^lei' Leute an Lungenschwindsucht zu Grunde geht.
Steht somit die Erfahrung fest, dass die Heredität auf dem Gebiete der
Tuberculosis einen hervorragenden Autheil nimmt, so gehen die Meinungen, wie
die erbliche Ueb ertragung geschieht, weit auseinander. Die einen glau-
ben, dass bei der Tuberculosis, ähnlich wie bei der Syphilis, eine erbliche Ueber-
tragung des Krankheitskeimes von den Eltern auf die Kinder vorkommt.
Dieser Krankheitskeim kommt entweder schon in den ersten Lebensjahren
zur Entwickelung und dann meist als Meningitis tuberculosa, welche in Fa-
milien mit hereditärer Tuberculosis besonders oft vorkommt, oder die Kinder
erkranken an der tuberculösen Form der Scrophulosis; in anderen Fällen
bleibt der Keim länger latent und wird erst durch eine besondere Gelegen-
heitsursache wie Pertussis, Morbilli zur Entwickelung gebracht oder es ge-
schieht, entsprechend der Syphilis hereditaria tarda, dass Individuen aus tuber-
culösen Familien sich zunächst kräftig entwickeln, später aber im Alter von
16 — 20 Jahren plötzlich an Hämoptoe und Lungenschwindsucht erkranken.
Nach dieser Ansicht würde also das Tuberkelgift, analog dem Virus der Sy-
philis, von den Eltern auf den Fötus übertragen. In seltenen Fällen ist that-
sächlich der Nachweis geliefert worden, dass der tuberculöse Infectionsstoff
von der Mutter auf den Fötus tibergeht und schon im Uterus schwere Ver-
änderungen in den Lungen hervorbringen kann; solche Fälle von intrau-
teriner Tuberculosis des Menschen sind von Hillee, Demme, Beeti be-
schrieben worden; ich selbst fand bei einem, sieben Tage nach der Geburt
gestorbenen Knäbchen einer hochgradigen Phthisica eine eigrosse Caverne
im rechten unteren Lappen, welcher fast vollständig infiltrirt war, Tuberkel-
bacillen waren zahllos in ihm; ausserdem fand sich eine diffuse acute Tuber-
culosis (Miliartuberculosis). Auch beim Kalbe ist in einzelnen Fällen (Heet-
wiG beschreibt zwei Fälle) in- und extensive Tuberculosis in den frühesten
Lebenszeiten nachgewiesen worden. Czokoe in Wien fand in den tuberculösen
Knoten eines drei Wochen nach der Geburt geschlachteten Kalbes Tuberkel-
bacillen und Johne fand bei einem ungeborenen, achtmonatlichen Kalbsfötus
evidente Perlknoten, welche Tuberkelbacillen enthielten. Schleuss und Geot-
HAus fanden beim Foetus tuberculöser Kühe Tuberculosis der Pleura und des
Peritoneum. In experimenteller Weise (Landouzy und Maetin, Chaeeest und
Kaeth) ist die tuberculöse Infectiosität durch Ueberimpfung aus der Placenta
der an Phthisis verstorbenen Mutter und aus ihrem Foetus an Kaninchen und
Meerschweinchen nachgewiesen worden. Auch ist es durch Koubassoff und
mich bewiesen worden, dass, wenn man trächtigen Meerschweinchen Tuberkel-
bacillen unter die Haut einspritzt, sowohl in der Milch wie in der Placenta
der Mutterthiere, als auch in den inneren Organen des Foetus Tuberkelbacillen
aufgefunden werden können, es blieben aber die zur Welt kommenden Jungen
der mit Tuberkelbacillen inficirten Mutterthiere, trotz des Genusses tuberkel-
bacillenhaltiger Milch und trotz der ererbten Tuberkelbacillen theilweise gesund
und am Leben. Muss man somit die Möglichkeit der directen Uebertragung
des Krankheitskeimes von der Mutter auf den Foetus zugeben, so sind es
doch nur verschwindend seltene Befunde; für den allergrössten Theil
der hereditären Fälle von Lungentuberculosis kann die directe Ueber-
tragung des Krankheitskeimes nicht beschuldigt werden, sondern es
720 TUBERCULOSIS PÜLMOKUM.
handelt sich hier um die b e i d e n Möglichkeiten, dass entweder eine
gewisse Schwäche in der Constitution, eine Disposition, eine
erblicheBeanlagungfürdasZustandekommenderTuberculose
übertragen wird, oder dass von den tuberculösen Eltern die
Erkrankung post partum einfach auf die Kinder übertragen
wird. R. Koch selbst betrachtet die Heredität nicht als Uebertragung des
Virus, sondern als Uebertragung der Anlage; worin diese Disposition
besteht, lässt sich nicht sagen; aber wir kennen doch sowohl in erblich be-
lasteten Familien, als auch in durchaus gesunden Familien eine Reihevon
Umständen, welche die Disposition für die Tuberculosis steigern
oder vermindern; wir werden noch bei den angeborenen und erworbenen
Schwächen der Constitution auf diesen Punkt zurückkommen. Wie oft aber
hierbei der Tuberkelbacillus durch den innigen Verkehr in der Familie, der
phthisischen Mutter mit den Kindern, der phthisisch oder tuberculös erkrankten
Geschwister mit einander, von dem einen auf das andere Familienmitglied
übertragen wird, lässt sich nicht bestimmen; sicherlich aber kann ein grosser
Procentsatz der Heredität durch diese extrauterine Uebertragung des Tuberkel-
giftes zu Stande kommen, so dass es sich also um einfache Familientube r-
culosis handelt. Rühle hält die directe Erblichkeit für die Erklärung der
Fortpflanzung der Tuberculosis für entbehrlich, er erwärmt sich mehr für
eine einfache unmittelbare Uebertragung der Tuberculosis durch die erkrankten
Mitglieder der Familie, der Disposition kann er aber auch nicht entbehren;
gerade wie bei den acuten und chronischen Infectionskrankheiten die Einen
befallen werden, die Anderen nicht, so verhält es sich auch mit der Tuber-
culosis. Dass das Eindringen von Tuberkelbacillen in den Thier-
körper nicht gleichbedeutend ist mit Tuberculosis, lehren meine
obigen Versuche an den Jungen mit Tuberkelbacillenreinculturen inficirter
Meerschweinchen, es lehren dieses auch die Beobachtungen an Kinderleichen,
indem von den an verschiedensten Krankheiten gestorbenen, nicht tuberculö-
sen Kinderleichen mehr als die Hälfte in den Bronchial- und Mediastinaldrüsen
Tuberkelbacillen aufwies (Babes).
Warum nun die Einen tuberculös werden, die Anderen nicht, das entzieht
sich leider unserer Erklärung. Wir kennen aber eine grosse Anzahl Ei ge n-
thümlichkeiten in der Entwickelung des Körpers, welche für die
Entstehung der Lungentuberculosis besonders geeigneten Boden schaffen und
durch langjährige Erfahrung tausendfache Bestätigung erhalten haben. Be-
sonders häufig werden Personen von der Phthisis pulmonum befallen, welche
das Bild des sogenannten Habitus phthisicus darbieten; nicht stets aber
führt dieser phthisische Habitus zur Phthisis; es handelt sich hiebei wesent-
lich um eine Formveränderung des Thorax, welche sich unter dem Namen
des paralytischen Thorax bewegt und vorwiegend einen plattgedrückten, flachen,
im Sternovertebraldurchmesser sehr verengten, dagegen im Längendurchmesser
nicht selten erheblich verlängerten Brustkorb bezeichnet; besonders in den
oberen Partien ist der Sternovertebral-Durchmesser auffallend gering, so dass
das Manubrium sterni sich stark nach hinten neigt und am Knorpelansatz
des zweiten Rippenpaares an das Sternum ein sehr stark vorspringender
Winkel, der Louis'sche Winkel, entsteht; theils auffallende Verkürzungen,
theils vorzeitige, scheidenförmige Verknöcherungen, an der vorderen oberen
Gegend des ersten Rippenknorpels beginnend, verhindern die Entwickelung
und Erweiterung bei der Inspiration des oberen Brustabschnittes; solche In-
dividuen zeichnen sich überhaupt durch zarten Körperbau, graciles Knochen-
gerüst, fettarme Haut und schwache, kaum entwickelte Athmungsmuskulatur
aus: die Schlüsselbeine springen vor, die Schulterblätter stehen weit ab, die
Intercostalräume sind breit und vertieft, die inspiratorischen Muskeln sind
durch die schwache Ausbildung kaum fähig, die Athmung zu unterstützen, so
TUBERCULOSIS PULMONUM. 721
dass last ausschliesslich das Zwerchfell die Einathmung besorgt. Ein der-
artiger Thorax bleibt weit hinter dem physiologischen Maasse der vitalen
Capacität zurück, der Spirometerwerth zeigt eine Differenz von oft 600 cc7n
gegenüber dem Cubikmaass Luft, das ein gesunder Mensch mit einer möglichst
tiefen Inspiration nach möglichst langer Exspiration einathmen kann (vitale
Capacität); auch der pneumatometrische Werth zeigt anstatt des normalen
negativen Druckes von ungefähr 100 mm nur 50 mm oder noch weniger, beide
Momente beweisen die geringe Thätigkeit der Inspirationsmuskeln; diese That-
sache ist um so auffallender, als man häutig bei Sectionen findet, dass das
Volumen der Lungen derartiger Leute ein abnorm grosses ist.
Unaufgeklärtmit Bezug auf den Einfluss für die Entstehung der Lungentuber-
culosis sind die Angaben über die Gross enverhältnisse des Herzens, der
Lunge und der Blutgefässe und ihre Beziehungen zu einander. Phthisiker
haben nämlich nach den Messungen von Beneke an Leichen im Durchschnitte ein
viel kleineres Herz, als es der gesunde Mensch hat; denn während bei
gesunden, normalen Männern das Volumen des Herzens 290 — 310 ccm und
bei Frauen 260 — 280 am beträgt, oder auf 100 cm Körperlänge 150 — 190 cctn.
Herzvolumen im Durchschnitt kommt, fällt bei erwachsenen Phthisikern die
Zahl 160 — 206 ccm auf das Herzvolumen und 90'4— 123 auf 100 c«^ Körper-
länge; bei diesen Vergleichungen wurde als Einheit diejenige Cubikcentimeter-
zahl Wasser genommen, welche durch das eingesenkte Herz verdrängt wird,
aus der Vergleichung dieser Cubikcentimeterzahl mit der Länge des Körpers
wird das Volumen auf 100 cm Körperlänge berechnet. Da nun selbst in dem
frühesten Stadium der Lungentuberculose das Herz bei Sectionen auffallend
klein gefunden wird, selbst wenn von einem allgemeinen Muskelschwund keine
Rede sein kann und anderseits Leichen, welche in Folge von Carcinoma oder
Marasmus hochgradig abgemagert sind, kein so kleines Herz zeigen als die
meisten Phthisiker, schliesst Beneke, dass die Herzkleinheit, die He rzhyp o-
plasie, ein wesentlicher Factor bei der Entstehung der Lungenschwindsucht
sei. In einer grossen Zahl von Leichen fand Beneke auch die Körperarterien
unverhältnismässig enger, oft Hand in Hand mit der Herzhypoplasie, oft auch
bei gesundem Herzen. In der grossen Mehrzahl der phthisischen Leichen
fand sich ausserdem die Pulmonalis erheblich weiter als die Aorta, während
in normalen Verhältnissen die Aorta weiter ist als die Pulmonalis. Die Herz-
kleinheit weist darauf hin, dass überhaupt die Ernährung mit arteriellem
Blute eine mangelhafte ist, und aus der Erweiterung der Pulmonalis glaubt
Beneke folgern zu müssen, dass in den Lungen der Phthisiker oder zur
Phthisis beanlagter Personen der Blutdruck in den Lungen vergrössert sein
müsse, in Folge dessen um so leichter Katarrhe entstehen könnten. Das Herz
ist vor allem zu klein im Verhältnis zum anormalen Volumen der Lunge
der Phthisiker. Beim gesunden Menschen beträgt im erwachsenen Alter das
Volumen beider Lungen 1400 — 1700 ccm oder auf 100 cm Körperlänge über-
tragen 820 — 1050 ccm; nach Beneke aber übersteigt bei der Mehrzahl der
Phthisiker das Lungenvolumen die Einheitsgrösse so sehr, dass auf 100 cm
Körperlänge 1406 — 1808 ccm Lungenvolumen kommen. Diese abnorme Grösse
der Lungen liegt in der Entwickelung des Körpers begründet und verhält
sich gerade entgegengesetzt dem Volumen der Lungen bei marastischen, car-
cinomatösen Erkrankungen. Während sich weiterhin im normalen, ausgewach-
senen Körper das Herz zur Lunge verhält wie 1*0 : 6*2, oder im reifen Alter
wie l'0 : 5'0, verschiebt sich zu Ungunsten des Herzens das Volumen des-
selben zu dem der Lunge zum Verhältnis von 1 : 12. Untersuchungen von an-
derer Seite angestellt, haben nicht dieselbe Regelmässigkeit mit Bezug auf
die Kleinheit des Herzens feststellen können, immerhin verdienen diese Punkte
für die Aetiologie unsere volle Beachtung, weil thatsächlich Herzschwäche bei
solchen Personen sehr häufig schon constatirt werden kann, welche später an
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 46
722 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Lungenschwindsucht erkranken, zu einer Zeit, wo die Lungen noch vollstän-
dig gesund erscheinen.
Als ererbte krankhafte Constitution muss auch vielfach die
Scrophulose gelten, wir sehen, dassmitVorliebe solche Kinder scrophulös werden,
deren Eltern an Tuberculosis litten oder leiden. Für uns hat die Scrophu-
losis in der Aetiologie der Tuberculose nichts Unklares mehr, wir wissen,
dass sich in den scrophulösen Lymphdrüsen Riesenzellen und Tuberkelbacillen
finden und dass die scrophulose Lymphdrüse bereits specifische Tuberculose
ist; die Scrophulosis ist im Kindesalter die häufigste Form der Tuberculosis,
scrophulose Kinder werden später ausserordentlich oft lungenphthisisch.
Noch nicht ganz aufgeklärt ist der Werth der im Bilde der Scrophulose
auftretenden Erkrankungen und Entzündungen der Haut und
Schleimhaut für das Zustandekommen der Tuberculosis, wir wissen noch
nicht hinreichend sicher, ob diese Processe (Geschwüre, Ausschläge) bereits
der Ausdruck der Tuberculosis sind oder ob sie zahlreiche Eingangspforten
für die Tuberkelbacillen darstellen, ich bin mehr der Meinung, dass solche
Jlauterkrankungen schon specifisch sind, ohne aber die zweite Möglichkeit als
unberechtigt ansehen zu wollen. Bei scrophulösen Personen besteht auch
eine grössere Vulnerabilität der Gewebe und Organe: ganz gering-
fügige Schädlichkeiten, welche bei anderen Menschen kaum merkliche Folgen
haben, rufen schon bei solchen Leuten Reizungszustände und Entzündungen
hervor, solche Menschen werden überhaupt leicht krank, Krankheitsgifte
scheinen bei ihnen auf günstigen Boden zu fallen, so dass auch die Ansiedelung
von Tuberkelbacillen bei ihnen erleichtert ist. Eine solche besondere Anlage
der Gewebe und der Organe oder des ganzen Organismus, vermöge welcher
die Ansiedelung der Tuberkelbacillen und die spätere Entwicklung der Lungen-
phthisis begünstigt wird, finden wir alsangeboreneDisposition ebenfalls bei
solchen Kindern, deren Eltern zur Zeit der Erzeugung durch chronische
Krankheiten entkräftet waren, aber selbst nicht an Phthisis litten und
auch von ihr später verschont blieben. Wir wissen, dass Kinder von Eltern
welche an Syphilis, Krebs, chronischer Malaria, chronischen Vergiftungen
leiden, von Geburt an schwächlich und elend sind und häufig der Lungen-
schwindsucht später anheimfallen; dasselbe sehen wir bei Kindern von Eltern,
welche erst in vorgerücktem Alter die Ehe mit einander eingingen, mit dem
vorschreitendem Alter der Eltern mag es wohl auch zusammenhängen, dass
unter den Geschwistern besonders die jüngeren an Phthisis erkranken.
Die erworbene Disposition für Lungenphthisis kann durch alle
Verhältnisse, welche den Körper schwächen und in Folge dessen die Gewebe
des Körpers weniger widerstandsfähig machen, verursacht sein. Un zweck-
mässige Ernährung und Lebensweise während des Kindesalters,
körperliche und geistige Ueberanstrengung, chronische Erkran-
kungen, zumal solche, welche mit entzündlichen Katarrhen der Athmungs-
organe einhergehen, gelten als die Hauptursachen der erworbenen Schwäche
der Constitution: Anämien, Chlorosis, profuse chronische Eiterungen, lang-
same Reconvalescenz von schweren Krankheiten, tiefgreifende, chronische
Magen- und Darmkatarrhe, chronische Magengeschwüre, häufige, rasch auf-
einander folgende Schwangerschaft, zumal in Verein mit zu lange fortgesetzter
Lactation, Diabetes mellitus, sie alle begünstigen die Ansiedelung der Tuber-
kelbacillen. Man muss auch den Gemüthsaffecten einen Einfluss zu-
gestehen in dem Sinne, dass nach Kummer, Sorgen und Gram sehr gerne
sich Anämie entwickelt, weil die Nahrungszufuhr ungenügend ist und der Schlaf
flieht; möglich ist auch, dass auf dem Wege der Innervation die Athmung und
Herzthätigkeit ungünstig beeinflusst wird. Auch der Aufenthalt in Räu-
men, welche den Zutritt von frischer Luft nicht gestatten, das Zusammen-
leben in feuchten, dunklen Wohnungen baut den Boden für die Ansiedelung
TUBERCULOSIS PULMONUM. 723
der Tuberkelbacillen um so mehr, als solche Leute, welche in derartigen
dumpfen Stuben und Kellern wohnen müssen, entweder ungenügende oder
qualitativ schlechte Nahrung haben.
So gross nun auch die Zahl der Erkrankungen ist, in welchen der
Lungenschwindsucht auf dem Wege der krankhaften Constitution die Ein-
nistung erleichtert wird, es bleiben doch noch zahllose Fälle, in welchen
Gelegenheitsursachen die vorbereitende Thätigkeit ausüben; naturgemäss
werden solche Erkrankungen vorwiegend die Gelegenheitsursache ab-
geben, welche die Respirationsorgane befallen oder in deren Verlauf die
Lungen entzündliche Erscheinungen durchmachen. Insbesondere
sind in dieser Richtung die Masern und der Keuchhusten gefürchtet.
Es ist eine allbekannte Thatsache, dass nach Ablauf dieser beiden Infections-
Krankheiten, Scrophulosis, Lungenschwindsucht und Miliartuberculosis gar
häutig auftreten; bei beiden Krankheiten entwickeln sich sehr starke Bron-
chialkatarrhe, Vergrösserungen der Bronchialdrüsen, lobuläre Pneumonien,
Atelektasen, in welchen der Tuberkelbacillus beim geeigneten Individuum
günstige Bedingungen für sein Fortkommen findet. Das Nämliche sehen wir
auch, wenn im Verlauf von T5^phus pneumonische Processe in den Lungen
auftreten. Man hat auch häutig die Beobachtung gemacht, dass aus einem
einfachen langdauernden Bronchialkatarrh sich Lungenschwindsucht
entwickeln kann, nicht als ob irgend ein Katarrh der Luftröhrenschleimhant
an sich eine Tuberculose bedinge, sondern hartnäckige und häufig wieder-
kehrende Bronchialkatarrhe begünstigen die Ansiedelung der Tuberculosis in
der lädirten Schleimhaut; man sieht oft genug, wie ein anfangs diffuser Katarrh
der Bronchien sich allmälig auf die Lungenspitzen zurückzieht und dort
bleibt, auch wenn sonst jede Spur der Bronchitis verschwunden ist, der Katarrh
in der Spitze bleibt andauernd, und langsam zeigt sich die evidente Tuber-
culosis, von der Spitze ausgehend. In dem nämlichen Sinne kann auch die
Erkältung zur Schwindsucht führen, indem sie durch Bronchialkatarrhe,
katarrhalische Pneumonien den Tuberkelbacillen, welche mit der Inspirations-
luft in die Lunge gerathen, das Haftenbleiben ermöglicht. Dadurch erklärt
es sich auch zum Theil, dass im rauhen Klima mit schroffen Temperatur-
sprüngen die Lungenschwindsucht häufiger auftritt. Uebrigens wird es in
vielen Fällen schwer sein zu entscheiden, ob nicht der Bronchialkatarrh,
welcherspäterdiePhthisiszu vermittelnscheint, bereitsvonvornhereinkein
einfacher Katarrh, sondern schon die Folge einer noch nicht nach-
weisbaren latenten Tuberculosis war. Führt in den seltenen Fällen
die croupöse Pneumonie zur Lungenschwindsucht, was thatsächlich feststeht,
so ^vandelt auch hier die acute entzündliche Infiltration der Pneumonie sich
nicht einfach in eine tuberculose Erkrankung um, sondern es handelt sich
um eine nachträgliche Niederlassung von Tuberkelbacillen in dem pneumo-
nischen Infiltrate und Exsudate; es ist aber in einzelnen Fällen von vorn-
herein an die Entwicklung einer bis dahin latenten Tuberculosis zu denken.
Mehrfach habe ich bei kräftigen Personen Lungeutuberculosis in den unteren
Lappen sich einnisten und zum Tode führen sehen, bei welchen hämorrha-
gische Infarcte einige Wochen vorher an denselben Stellen plötzlich auf-
getreten waren.
In der gleichen Weise, wie die ätiologische Bedeutung der Erkältungen,
der Bronchialkatarrhe und croupösen wie katarrhalischen Pneumonien auf-
gefasst werden muss, ist auch der Aufenthalt in staubiger, unreiner
Luft als Gelegenheitsursache zu verstehen. Die Staubinhalations-
krankheiten sind berüchtigt als Vorläufer der Tuberculosis pulmonum.
Der Staub von Kohlen und Metallen, Steinen, animalischen wie vegetabilischen
Partikeln ruft Entzündungen der Bronchialschleimhaut sowohl, als des Lungen-
parenchyms hervor, er erzeugt chronisch- pneumonische Entzündungen und
46*
724 TUBERCULOSIS PULMONUM.
gelangt durch die Lymphgefässe zum Theil in die Lymphdrüsen; solche
chronische Verdichtungen können gänzlich allein den krankhaften Befund
bilden und die Grundlage für das chronische Lungenleiden derartiger Arbeiter
abgeben; es sind aber diese Fälle von ausgedehnter Verdichtung in Folge
von Staubinhalationen ohne Tuberculosis nur die geringe Minderzahl, in der
Eegel entwickelt sich im Laufe der Zeit auf dem Boden dieser chronischen
Pneumonie die Lungentuberculosis, wenn eben der specifische Keim in die
Lunge hineingelangt. Die Anthracosis pulmonum (Kohlenlunge), die
Chalicosis pulmonum (Steinhauerlunge), die Siderosis pulmonum
(Metallstaublunge) sind die hervorragendsten Vertreter der Pneumonoconiosis;
es leiden in Folge dieser Gewerbekrankheiten manche Arbeiterkategorien er-
schreckend häutig an Lungentuberculosis. Arbeiter, welche grosse Mengen
von Holz- oder Steinkohlenstaub, Euss oder Graphit einathmen, leiden an
Anthracosis pulmonum; Arbeiter in den Stampfwerken der Glasfabriken, Stein-
schleifer, Steinklopfer, Bildhauer, Porcellanarbeiter, Töpfer, erkranken an der
Chalicosispulmonum,während die Siderosis pulmonum sich bei Feilenhauern,Eisen-
arbeitern, Spiegelpolirern findet; besonders sind die Schleifer der Pneumono-
cosis ausgesetzt, weil sie zugleich Steinstaub und Eisenstaub einathmen.
Kürschner, Sattler, Bürstenbinder, welche dem animalischen Staube ausgesetzt
sind, erkranken ebenfalls sehr häufig; auch Tabakstaub, Baumwollenstaub,
Holzstaub, Mehlstaub, Leinenstaub schaffen die Staubinhalationskrankheiten
der Lungen. Alle diese Arten begünstigen die Infection mit Tuberculosis.
Eine wichtige Stellung in der Aetiologie der Lungentuberculosis hat
stets die Pleuritis eingenommen. Es kommt ungemein häufig vor, dass
Leute, welche später an Phthisis erkranken, längere Zeit, bevor irgend ein
Symptom der Lungenkrankheit auftrat, an Pleuritis gelitten haben, deren
Eesiduen noch deutlich nachweisbar sind. Zwischen der Pleuritis und der
späteren Lungenphthisis können viele Jahre völligen Wohlbefindens liegen.
Die Pleuritis sass gewöhnlich auf derjenigen Seite, auf welcher sich später
die ersten Anfänge der Lungenphthisis zeigen. Für sehr viele Fälle ist es
von vornherein wahrscheinlich, dass die Pleuritis bereits die Folge einer
latenten Lungentuberculose ist: man findet oft genug in ganz alten pleu-
ritischen Schwarten Tuberkelbacillen, welche auch in entleerten, frischen
pleuritischen Exsudaten von scheinbar Lungengesunden gefunden wurden;
bekannt ist auch die öftere Beobachtung, dass nach stürmischer Eesorption
oder nach der Function eines pleuritischen Exsudates sich plötzlich acute
Miliartuberculose einstellt; halten doch einzelne Beobachter sogar 987o aller
Pleuritiden für Tuberculosis. Am wahrscheinlichsten dünkt es mir, dass that-
sächlich der grösste Theil aller Pleuritiden auf tuberculösem Boden entsteht,
sei es dadurch, dass bereits vorhandene tuberculöse Heerde, an die Lungen-
oberfläche dringend, die Pleura pulmonalis zunächst in Entzündung versetzen,
sei es, dass tuberculöse Bronchialdrüsen die Ursache abgeben, sei es, dass in
einem geringen Procentsatz Wirbelcaries, Eippencaries ursächlich zu be-
schuldigen sind. Sind wirklich bei Ausbruch der Pleuritis die Lungen gesund,
so wird die Behinderung der Entfaltung der Lungen, die gestörte Beweg-
lichkeit in Folge der pleuritischen Schwarten, die Verschiebungen der Brust-
eingeweide den Ausbruch der Lungenschwindsucht begünstigen. Auf diese
Weise kann ebenfalls die traumatische Pleuritis nachträglich zur Phthisis
führen. Das Trauma kann überhaupt eine derjenigen Vorbedingungen sein,
welche das Einnisten von Tuberkelbacillen in den Lungen vermittelt. Bei
Verletzungen der Lunge durch Schuss oder Stich, durch Quetschung oder
Bruch der Eippen kann die auf das Trauma folgende Infiltration des Lungen-
gewebes mit Blut und die Entzündung des verletzten Lungengewebes die
tuberculöse Infection erleichtern; in diesem Sinne spricht man auch von
einer „traumatischen Phthisis".
TUBERCULOSIS PULMONUM. 725
Während die älteren Aerzte in grosser Zahl, vor Allem durch die Be-
hauptungen Niemeyer's veranlasst, die Hämoptoe als eine der Ursachen
der Lungenschwindsucht ansahen, steht heutzutage die Wahrheit fest, dass
die Hämoptoe die Folge, das Symptom einer schon bestehenden Lungen-
tuberculosis ist, oft genug ist sie allerdings das allererste Symptom, welches
aus der Symptomatologie hervorragt; bei unseren vervollkommneten Unter-
suchungsmethoden gelingt es sehr oft, in den Fällen von sogenannter
initialer Hämoptoe in dem ausgehusteten Blut Tuberkelbacillen nachzu-
weisen; mir selbst ist es fast in jedem Falle von initialer Hämoptoe gelungen,
Tuberkelbacillen aufzufinden bei Leuten, welche physikalisch kein Lungen-
leiden erkennen Hessen. Auf eine Hämoptoe braucht die Tuberculosis nicht
unmittelbar zu folgen, oft liegen Jahre zwischen dem Blutsturz und der
nachweisbaren Lungenschwindsucht.
Es scheinen nun einzelne Lungenabschnitte besonders der Gefahr der In-
fection mit Tuberculosis ausgesetzt zu sein, das gilt besonders von den
oberen Lungenlappen und hervorragend von den Lungenspitzen,
fast regelmässig beginnt die Lungentuberculose im oberen Drittheil der
oberen Lungenlappen ihre Veränderungen zu setzen. Wir machen die Lage
der Lungenspitzen und den Athemmechanismus für die Prädilection verant-
wortlich: die Lungenspitzen überragen um 3— 4 cm die Schlüsselbeine und
ersten Rippen und da sie nur durch Weichtheile bedeckt sind, so sind sie
der Einwirkung der inspiratorischen Erweiterung des knöchernen Thorax ver-
lustig, sie sind dem atmosphärischen Drucke von aussen mehr ausgesetzt,
welcher sich um so mehr äussern wird, je lebhafter die Inspiration ist; über-
haupt athmet der Mensch vorwiegend mit dem Zwerchfell und den unteren
Rippen (Typus costalis inferior oder abdominalis), während der Typus costalis
superior nur bei angestrengter Athmung in Wirkung tritt. Bei forcirter
Exspiration, bei Hustenstössen wird die Luft und mit ihr der infectiöse Keim
in die Lungenspitzen getrieben. Wenn nun schon beim normalen Menschen
in Folge der geringen Beweglichkeit der oberen Lungenabschnitte die Spitzen
besonders in Gefahr schweben, tuberculös zu erkranken, so wächst diese Ge-
fahr bei zur Lungentuberculose disponirten Menschen mit phthisischem Ha-
bitus dadurch, dass, wie schon oben erwähnt, bereits im Kindesalter vielmals
die ersten Rippenknorpel verknöchern und auffallend verkürzt erscheinen.
Wie aber durch diese anatomischen, der Athmung ungünstigen Verhältnisse
die oberen Lungenabschnitte weniger ventilirt werden und gerade in dieser
Ruhe die günstige Bedingung für die Entfaltung schädlicher Wirkungen, also
auch für die Ansiedelung von Tuberkelbacillen liegt, zumal der forcirte Ex-
spirationsstoss, wie man an jedem normalen Menschen sehen kann, die ein-
geathmete Luft mit ihrem Staub in die oberen Lungenpartikel drängt, so sind
auch diese Lungenabschnitte der Blutcirculation gegenüber ungünstiger gestellt,
denn durch die geringere Beweglichkeit wird die Blutbewegung in den Lungen-
spitzen behindert und es wird, wenn ausserdem das Herz auffallend klein und
schwach ist, weniger Blut in die Lungenspitzen hinein gelangen: die Lungen-
spitzen werden also nicht ausreichend mit arteriellem Blute ernährt, um so
weniger genügend, je mehr eine angeborene Enge des Gefässystems den Blut-
strom behindert. Auch ohne dass eine mangelhafte Constitution den Aus-
bruch von Tuberculosis begünstigt, liegt in dieser geringen Beweglichkeit
der Lungenspitzen allemal eine Gefahr, welche vorwiegend sich bei solchen
Leuten zeigen wird, die durch stundenlanges Stillesitzen bei der Arbeit in
ungünstiger Körperhaltung beim Lesen und Schreiben in Schulen und Bureaux
die Athmungsbehinderung der Spitzen noch vergrössern; der Einfluss der
äusseren Luft besteht hierbei nur darin, dass sie Tuberkelbacillen bei der
Einathmung in die Lungen hineinträgt.
726 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Nichtsdestoweniger aber spielt die atmospliärische Luft als
solche eine Rolle bei der Entstehung der Schwindsucht. Was hierbei zu-
nächst das Klima anlangt, so gibt es schwindsuchtsfreie Gegenden
in allen Zonen und andererseits keine Zone ohne Schwindsucht. Gerade
wie auf Island, in der Kirgisensteppe, in dem Binnenlande Egypten's und
in Süd -Afrika, auf der Hochebene von Mexiko, Peru und Costarica
die Lungen tuberculosis nur wenig beobachtet wird, so ist sie ebenso in
Schweden wie in Indien und Sibirien, wie in Australien und Süd-Amerika
sehr häufig: keine Zone ist geschützt vor der Lungentuberculosis. Im Allge-
meinen scheint es, dass die Feuchtigkeit der Luft die Schwindsucht befördert,
besonders feuchtes Klima mit anhaltend hoher Temperatur und jähem,
schroffem Temperaturwechsel, während trockenes Klima selbst bei schroffem
Temperaturwechsel, wie in der Kirgisensteppe, und bei anhaltend hoher Tem-
peratur, wie auf der Hochebene von Peru, nur selten das Aufblühen der
Tuberculosis erleichtert. Gleichmässiges Klima, sowohl warmes wie kaltes,
wenn es trocken ist, ist arm an Lungenschwindsucht; gleichmässig niedrige
Temperatur scheint mehr noch die Phthisis zu vermindern, als gleichmässig
hohe Temperatur. Ueberall sind gewisse Luftströmungen gefährlich für
den Ausbruch der Phthisis, weil sie gerne katarrhalische oder entzündliche
Krankheiten der Athmungsorgane hervorrufen und dadurch für die eingeath-
meten Tuberkelbacillen ein fruchtbares Feld eröffnen, oder eine geringe,
schon bestehende Tuberculosis zur raschen Entfaltung bringen. Einen un-
zweifelhaften Einfluss müssen wir weiterhin der Bodenerhebung, der
Höhenlage einräumen. Die Häufigkeit der Lungenschwindsucht ist in auf-
fallender Weise eine geringe, wenn die Höhe über dem Meeresspiegel über
gewisse Werthe hinausgeht; im Allgemeinen nimmt man an, dass in Orten,
welche wenigstens 500 m über dem Meeresspiegel liegen, Lungenschwindsucht sehr
selten oder gar nicht auftritt. Die Höhe, in welcher diese Zone relativer
Immunität beginnt, ist nach den Breitegraden verschieden: in den Tropen
beginnt sie erst bei einer Höhe von mehr als 2000 m, in der Schweiz schon
bei etwa 1000 m, in Mitteldeutschland bei etwas mehr als 500 w und im
höheren Norden bei einer noch geringeren Erhebung über die Meeresfläche;
auf den Höhen des Harzes, Steiermarks, der Schweiz ist die Schwindsucht
ebenso selten, als auf den Cordilleras und der Hochebene von Abessynien und
Persien. Diese relative Immunität beruht zum Theil wohl darauf, dass jene
Gegenden überhaupt nur sehr spärlich bevölkert sind; die Hauptwirkung be-
ruht sicher auf einer Anzahl von Factoren, von denen wir anführen, dass
wegen des niedrigen Barometerstandes die dort wohnenden Leute tiefere Athem-
züge machen, was sie auch zu thun gezwungen sind durch die ansteigenden
Wege, durch das Bergsteigen, so dass sie im Allgemeinen besser entwickelte
Athemmuskeln und kräftigeren Thoraxbau besitzen; es ist auch die Wasser-
verdunstung in der dünnen Luft eine stärkere und diese austrocknende
Wirkung soll von gutem Einflüsse sein; möglich ist aber, dass der Haupt-
vorzug darin liegt, dass die Luft auf jenen Höhen viel reiner und freier von
organischen und anorganischen Beimischungen ist, vor Allem, wenn Schnee
den Boden Monate lang bedeckt. Die Luftreinheit ist wohl auch der Grund,
dass auf jenen Höhen Katarrhe der Luftwege selten sind. Bekannt ist auch
die Thatsache, dass Leute, welche in solchen relativ immunen Orten lebten,
auffallend oft der Schwindsucht verfallen und schnell ihr erliegen, wenn sie
in durchseuchten Gegenden ihren Wohnsitz nehmen, so dass also auch der
Klimawechsel in der Aetiologie seinen Platz beansprucht.
Die Bodenbeschaffenheit ist für das Zustandekommen der Lungen-
schwindsucht insofern von Bedeutung, als die Lungentuberculose in Orten mit
feuchtem Boden grösser ist, als in Landschaften mit trockenem Boden.
In zahlreichen englischen Städten ist es von Buchann festgestellt worden,
TUBERCULOSIS PULMONUM. 727
dass nach Anlage der Canalisation, bei welcher zugleich auch der Boden bis
zu einer gewissen Tiefe trocken gelegt wurde, die Zahl der Lungenschwind-
suchtserkrankungen auHallend abgenommen hat; es ist auch in einer Bevöl-
kerung, welche auf einem für Wasser durchlässigen, trockenem Boden lebt, die
Schwindsucht seltener, als bei einer Bevölkerung, welche auf undurchlässigem
Untergrunde wohnt. In Deutschland wenigstens ist die Tuberculose ungemein
häufig in gewissen Moordistrictcn, in welchen das Wasser keinen Abiluss hat,
während eine nur massig hohe Hügellandschaft mit durchlässiger, nicht ge-
schichteter Bodenformation und mit nördlich- oder nordöstlich vorliegendem
Gebirgsschutz die günstigsten Bedingungen gegen endemische Disposition zur
Tuberculose gewährt und auch die N ä h e d e r S e e eine relative Immunität ver-
leiht. (FlNKELNBUliG).
Das Alter ist wesentlich an der Häufigkeit der Lungentuberculosis be-
theiligt. Es ist klar, dass eine Statistik nur dann von Werth sein kann, wenn
sie das Verhältnis der an Lungenschwindsucht Gestorbenen zu der Zahl der
in der nämlichen Altersstufe Lebenden umgreift; erst die neuere Zeit hat die
landläufige Ansicht zerstört, dass die Lungenschwindsucht am häufigsten
zwischen dem 15. — 35. Lebensjahre auftrete und im Greisenalter sehr selten
sei; es sterben thatsächlich in den blühenden Lebensjahren mehr Leute an
Phthisis, als im hohen Alter, weil die Zahl der Greise überhaupt sehr gering
ist; bringt man in der alleinrichtigen Weise die relativen Zahlen in An-
rechnung, so ergibt sich, dass die Zahl der Todesfälle an Lungentuberculosis
in den ersten fünf Lebensjahren grösser ist, als in den Jahren zwischen 5
und 10, in diesen Jahren steht sie auf ihrem Minimum ; vom 10. Jahre aber
hebt sich die Zahl stetig und ohne Unterbrechung bis zum Alter zwischen
60. — 70. Jahre, um jenseits des 70. Lebensjahres wieder rasch abzunehmen;
im Alter von 60 — 70 Jahren ist der Tod an Lungenschwindsucht fast dreimal
häufiger als im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. In der nämlichen Curve,
in welcher sich die Todesfälle an Lungenschwindsucht bewegen, verläuft
wohl auch die Zahl der überhaupt an Lungenschwindsucht Erkrankten.
Das Geschlecht als solches hat keinen Antheil an der Häufigkeit der
Lungenschwindsucht, männliche und weibliche Personen werden gleichmässig
befallen; wo in einzelnen Gegenden mehr Männer als Frauen oder umgekehrt
von Lungentuberculosis ergriffen werden, da ist es durch die localen Arbeits-
und Lebensverhältnisse bedingt.
Die sociale Stellung nimmt in der Aetiologie der Lungentuber-
culosis insofern Antheil, als sich bei der armen Bevölkerung alle die-
jenigen Schädigungen am stärksten häufen, welche eine Disposition für die
Lungentuberculose schaffen und die unmittelbare Ansteckung am leichtesten
ermöglichen. Im Allgemeinen trifft es zu, dass bei der armen Bevölke-
rung der Schwindsuchtskeim auf erworbene Disposition hin den Eingang
findet, während es sich bei der wohlhabenderen Bevölkerung mehr um die
hereditäre Schwäche der Constitution handelt.
Rassenverhältnisse scheinen weniger von Bedeutung zu sein; keine
Blasse wird verschont oder besonders häufig von der Phthisis befallen; wenn
es den Anschein hat, als ob ein Volksstamm von der Tuberculosis hervorragend
verfolgt wird, wie z. B. die Stämme der Neger in Centralafrika, der Indianer in
Amerika, welchen die Lungentuberculosis gänzlich unbekannt war, bevor sie
mit den Culturvölkern in Berührung kamen, so darf man nicht vergessen,
dass diese Volksstämme durch die ihnen überbrachte Cultur, welche den Kampf
um das Dasein, Sorge, schlechte Ernährung, Branntweinpest, unstetes Leben
als Unheil mit sich führte, in ihrer Widerstandsfähigkeit wesentlich geschädigt
und körperlich wie geistig ruinirt wurden.
Während im Vorstehenden alle diejenigen Schädlichkeiten oder Krank-
heiten aufgeführt sind, welche das Auftreten der Lungentuberculose erleichtern,
728 TUBERCULOSIS PULMONUM.
soll es anderseits eine Gruppe von Krankheiten geben, welche die D i s-
position zur Lungenschwindsucht vermindern. Es wird noch sehr
häufig angeführt, dass die Malaria und Tuberculosis sich ausschliessen,
oder dass wenigstens in Malaria-Orten die Schwindsucht sehr selten vorkommt
und milder verläuft; diese Behauptung ist nicht richtig; ich weiss es aus
eigener Erfahrung, dass in Malaria-Gegenden die Lungenschwindsucht recht
häufig ist und dass selbst bei chronischer Intermittens mit nachweisbarem
Milztumor die Phthisis eher noch häufiger auftritt, als es dem ungefähren
Häufigkeitsverhältniss entspricht. Auch können wir uns nicht der Meinung
anschliessen, dass das Carcinom die Lungentuberculosis ausschliesst, beide
Krankheiten kommen zu gleicher Zeit bei der nämlichen Person vor. Em-
physem und Herzkrankheiten sollen es vor Allem sein, zu welchen sich
die Lungenschwindsucht nur selten gesellt. Sehen wir aber ab von dem sel-
tenen Herzfehler, der Pulmonalstenosis, welche geradezu die Disposition
für die Tuberculosis durch den veränderten Blutzufluss thatsächlich steigert,
so dass Pulmonalstenosis, vor Allem die angeborene Verengerung der Lungen-
arterie, sich fast als Regel mit der Phthisis verbindet, so darf man, selbst
wenn man Anhänger dieser Ansicht ist, die Sache nicht übertreiben; denn
keineswegs schliesst ein Herzfehler, vor Allem nicht der rechtseitige
Fehler, die Tuberculosis aus, und die Combination von Herzfehler und Lungen-
schwindsucht ist keineswegs ausserordentlich selten, da man bei 277 Herz-
klappenfehlern in 22 Fällen, also in fast 8% Lungenschwindsucht (Feommelt)
fand. Das Aortenaneurysma soll, analog den Herzfehlern, die Disposition
zur Lungentuberculosis vermindern, wenn aber dasselbe eine Compression der
Lungenarterie oder einiger ihrer Hauptäste bewirkt, die Disposition erheblich
steigern, gerade wie die Stenosis des Pulmonalostiums oder die angeborene
Verengerung der Pulmonalarterie. Das echte Lungenemphysem ver-
bindet sich im Ganzen selten mit Lungenschwindsucht, für das vicariirende
Lungenemphysem hat dieser Erfahrungssatz keine Giltigkeit. Wir können
uns auch nicht denjenigen anschliessen, welche seit Rokitansky der Ansicht
sind, dass alle Krankheiten, welche mit venöser Blutbeschaffenheit verbunden
sind, die Anlage zur Lungentuberculosis vermindern; haben wir schon für
die Herzfehler im Allgemeinen begründete Bedenken, so haben wir noch
grössere Zw^eifel bei den Verkrümmungen der Wirbelsäule und des Thorax,
durch welche die Brusthöhle räumlich beengt wird.
H. Pathologische Anatomie.
Die pathologisch-anatomischen Veränderungen, welche die tuberculösen
Lungenveränderungen bieten, sind so mannigfaltig, dass man kaum zwei tuber-
culöse Lungen findet, welche einander gleich sind. In zweierlei Weise
aber äussert sich stets die Lebensthätigkeit der Tuberkelbacillen, wenn sie
sich irgendwo festsetzen; entweder bildet sich eine tuberculöse Neubildung,
das Tuberkel k nötchen, oder es bildet sich von vornherein das diffuse
tuberculöse Infiltrat; sowohl bei den umschriebenen, knotigen Heerden,
als den diffusen Infiltrationen handelt es sich um Entzündungen, welche mit
der Invasion des Tuberkelbacillus unmittelbar zusammenhängen und welche
den Tuberkelbacillus beherbergen. Histologisch betrachtet, besteht der
Tuberkel aus einer Anhäufung von Rundzellen, welche vollkommen
das Aussehen der weissen Blutzellen oder Lymphkörperchen haben, ausepithe-
loiden Zellen und aus einzelnen Riesenzellen, w^elche in der Mitte oder
mehr excentrisch in den Knötchen gelagert sind; namentlich in diesen Riesen-
zellen, aber auch neben denselben finden sich die Tuberkelbacillen.
Die Entwicklungsgeschichte des kleinen, miliaren Tuberalknötchens ist von
BAUMGAE.TEN in klassischer Weise erforscht und beschrieben worden. Bringt man in die
vordere Augenkammer des Kaninchens ein Stückchen irgend welchen tuberkelbacillenhaltigen
Gewebes, so wird alsbald das eingeführte Impfstückchen abgekapselt und von Wander-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 729
Zellen mehr und mehr rasch durchsetzt; schon am 2. Tage kann man im implantirten
Stückchen eine Vermehrung der Tuberkelbacillen feststellen, welche die Granulationskapsel
um das Impfstückchen durchsetzen und von der jungen Narbe der cornealen Schnittwunde
aus in das angrenzende Cornea- und Irisgewebe dringen, so dass man schon am 5. Tage
einzelne Tuberkelbacillen theils frei in der Intercellularsubstanz, theils innerhalb der fixen
Gewebszellen dieser Häute finden kann; am 6. Tage sind die Tuberkelbacillen in diesen
neuen Heerden schon sehr vermehrt und an einzelnen besonders bacillenreichen Heerden
treten neugebildete Zellen auf, die sogenannten epitheloiden Zellen. Immer zahl-
reicher dringen die Tuberkelbacillen vorwärts in die vordere Augenkammer, zumal im
Gewebe der Iris und zwar frei, nicht in "Wanderzellen eingeschlossen, in die Intercellular-
substanz und in die fixen Gewebszellen. In dieser Zeit treten in der Nähe der Impfstelle
Tuberkelbildungen in Form epitheloider Zellenansammlungen auf, welche weiterhin alle
Uebergangsformen zu dem typischen Epitheloid- (Wagner-Schüppel) und Lymphoid-Zellen-
tuberkel (Virchovi^) durchmachen; am 10. — 14. Tage sind die Tuberkel schon makros-
kopisch sichtbar. Die Entstehung der epitheloiden Zellen lässt sich am besten an den
epithellosen Organen, wie der Hornhaut und Iris albinotischer Kaninchen verfolgen. Die
ersten histologischen Veränderungen in dem von Tuberkelbacillen besetzten Irisparenchym
ist die Karyokinesis der fixen Zellkörper, welche an den Bindegewebszellen, an den Endo-
thelien und Bindegewebsbestandtheilen der Gefässwände, an den Epithelien der hinteren
Irisfläche in allen Formen, vor Allem in der Form der karyomitotischen Sternbildung be-
obachtet wird. Die Epithel- und Bindegewebszellen, welche eine Kernvermehrung zeigen,
verlieren ihre platte Form und wandeln sich in rundliche und polygonale Protoplasma-
körper um; die neugebildeten Zellen, welche protoplasmareich, epithelzellenähnlich sind,
unterliegen ebenfalls der mitotischen Veränderung, während an den um diese Zeit schon
reichlich eingewanderten Eiter- und Lymphkörperchen keine Karyokinese gesehen wird;
diese Wanderzellen stammen aus dem Gefässinhalt, resp. den Lymphscheiden der Gefässe.
Befinden sich anfangs in mehreren der in Kerntheilung begriffenen Zellen ein bis einige
Tuberkelbacillen oder, wenn nicht in den Zellen selbst, so doch in der allernächsten Nähe
in der Grundsubstanz, so nimmt im Weiteren rasch die Zahl der Tuberkelbacillen in diesen
Zellenheerden zu, und während die lymphoiden Zellen sich vermehren, nimmt, dieser Zu-
nahme entsprechend, die Karyokinese ab und hört vollkommen auf. Der Leib der Epitheloid-
zellen vergrössert sich mittlerweile, 2 bis 3 kernige Zellen treten auf und, wenn das Impf-
material von einem Perlsuchtknoten herstammt, wirkliche Riesenzellen. In diesem Zustande
der Entwicklung der Tuberkel bildet sich das Reticulum aus, dessen Fädchen als Binde-
gewebsfibrillen erkannt werden, welche netzförmige Anordnung aus der Auffassung und
fortschreitenden Rarefaction der normalen fibrillären Grundsubstanz hervorgeht. Im Cen-
trum der Tuberkel findet die lebhafteste Zellen Wucherung statt und in Folge dessen ist hier
die Grundsubstanz fast gänzlich reducirt, so dass die Zellen locker in der Gewebeflüssig-
keit liegen. Zu der nämlichen Zeit beginnt auch die Abkapselung des Tuberkel in der
Weise, dass die am Rande gelegenen Tuberkelzellen eine Abplattung erfahren, dichter an
einander rücken und sich so lagern, dass ihre Kerne mit der Längsachse in concentrischen
Kreistouren um die innere Gewebsmasse sich anordnen. Die angrenzenden Zellen des
nachbarlich gesunden Gewebes machen denselben Process durch, und wenn der Tuberkel
von der Umgebung auf diese Weise deutlich abgegrenzt ist, dann vermehren sich zwar
reichlich die Lymphoidzellen, aber eine Kerntheilung kommt entweder gar nicht mehr
oder nur am Rande des Epitheloidtuberkels vor. Die Wucherung der Tuberkelbacillen
nimmt vom Centrum nach der Peripherie des Tuberkels ab und hört an der Peripherie
auf. Bevor es noch zur Bildung makroskopisch sichtbarer Tuberkel gekommen ist, ent-
wickelt sich um den Tuberkel ein acut entzündlicher Process, die Gefässe sind dilatirt,
weisse Blutkörperchen treten in grosser Menge auf, sie liegen in grosser Zahl um die
Gefässe herum und in kleinerer Zahl in der Randzone der Epitheloidtuberkel, so dass man
mit Recht annimmt, die Lymphoidzellen des Tuberkels sind nur ausgewanderte Blutkörper-
chen. Wir haben schon vorher angeführt, dass die Karyokinesis innerhalb der Epitheloid-
tuberkel aufhört, so wie sich die Lymphoidzellen erheblich vermehren, und dass die Lym-
phoidzellen nicht der Karyokinesis .unterliegen. Wenn die lymphatische Einwanderung in
den Epitheloidtuberkel ihren Höhepunkt erreicht hat, so beginnt vom Centrum aus der
Zerfall der Tuberkelzellen: zuerst atrophiren und schrumpfen die lymphatischen Zellen,
ihre Contour wird unregelmässig, die Kerne zerbröckeln, das Zellprotoplasma verschwindet,
die Kernsubstanz wird frei und es erübrigt eine Detritusmasse, welche anfangs noch der
Kernfärbung zugänglich ist; auch der Leib der Epitheloidzellen schrumpft mittlerweile zu
kernloser Scholle, in welcher noch zahlreiche Tuberkelbacillen ruhen. Das Centrum des
Tuberkels wandelt sich dadurch in eine trübe, gelbschmierige Masse, in welcher sich die
Tuberkelbacillen in grosser Zahl auffinden lassen; vom Centrum aus schreitet der Zerfall
nach der Peripherie fort, bis der ganze Tuberkel zu einer strukturlosen Käsemasse um-
gewandelt ist. (KORÖNYI.)
Als Gesammtresultat aus diesen histologischen Studien folgert Baümgarten, dass
die fixen Gewebszellen bei der Bildung des Tuberkels den ersten An-
griffspunkt bilden, indem aus ihnen durch den Reiz der Tuberkelbacillen die
Epitheloid- und Riesenzellentuberkel entstehen; in zweiter Linie bewirken die
730 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Tuberkelbacillen eine entzündliche Auswanderung weisser Blutzellen aus den anstossenden
Gefässen, welche Blutzellen in den Epitheloidtuberkel einwandern und den Tuberkelheerden
den Charakter des lymplioiden Tuberkels aufdrängen können. Ist diese Entwick-
lungsstufe erreicht, dann zerfällt der Tuberkel zu käsigem Detritus. Die Umwandlung
des Epitheloid- in den VmcHOw'schen lymphoiden Tuberkel lässt sich am deutlichsten am
Hornhauttuberkel untersuchen, weil hier die Ueberfluthung mit Lymphoidzellen rascher und
energischer vor sich geht, und der Lymphoidtuberkel erzeugt wird, noch ehe der Epithe-
loidtuberkel sich hat bilden können. Die Verkäsung und der endliche Zerfall des neugebil-
deten Gewebes sind charakteristisch für die Tuberculosis; die Art des Absterbens, die Ver-
käsung ist als eine Coagulationsnecrosis aufzufassen. Wenn bei den Versuchsthieren
von der Iristuberkulose aus Tuberkelbacillen in die Lymphgefässe und Drüsen eindringen
und durch Vermittlung des Ductus thoracicus von den oberen Hohlvenen aus Tuberculosis
der Lunge hervorgerufen wird, so bleiben bei dieser haematogenen Tuberculosis
die Tuberkelbacillen gewöhnlich im Gewebe der Alveolarwandungen und Endbronchiolen
haften und zwar theils in den Zellen der Capillargefässe, theils in den Alveolarepithelien
und der bindegewebigen Zwischensubstanz des elastischen Alveolargerüstes; sowohl die
Gefässendothelien, wie die Alveolarepithelien zeigen rasch an ihren Kernen mitotische Thei-
lungen, hauptsächlich aber sind die Alveolarepithelien an der Bildung der Epitheloid-
tuberkel betheiligt, welche sich analog dem Verhalten bei der Iristuberculose entwickeln;
setzen sich die Tuberkelbacillen in den interlobulären Bindegewebszügen fest, oder in der
Wand grösserer Blutgefässe und Bronchien oder auch in den Lymphfollikeln des Lungen-
gewebes, so unterliegen wiederum die fixen Bindegewebszellen, sowie die Zellen der Lymph-
follikel und die tiefer gelegenen Epithelzellen der Bronchienwand durch den Eeiz der
Bacillen der Karyokinese. Immerhin aber ist der Hauptentwicklungssitz der Epitheloid-
tuberkel das eigentliche Lungengewebe und zwar die Alveolarwandungen und Endbron-
chiolen, wie deren Lumina. Die jungen Pulmonaltuberkel setzen sich zusammen aus
Gruppen von Alveolen, deren Lichtungen mit einkernigen runden oder cubisch abgeplatteten
Epitheloidzellen ausgeifüllt sind, zwischen denen sich eine spärliche, flüssige, homogene
Intercellularsubstanz mit vereinzelten farblosen Blutkörperchen befindet. Die Tuberkel
der grösseren Gefässe greifen von der Adventitia auf die Media über und bewirken an der
Intima eine sichelförmige, obliterirende Endothelwucherung, in welcher sich auch Tuberkel-
bacillen finden können. Der Stillstand der Karyokinese, die Einwanderung der lympha-
tischen Zellen, der käsige Zerfall des Pulmonaltuberkels, der entzündliche Vorgang zwischen
den Knötchen, spielt sich gerade so ab, wie beim Iristuberkel; theils durch andauernde"
Importation der Tuberkelbacillen von dem Blute aus, theils durch Dissemination aus be-
reits gebildeten Heerden greift die Tuberkelbildung mehr und mehr um sich; die einzelnen
Knötchen, welche eben makroskopisch sichtbar sind oder Stecknadelkopfgrösse besitzen,
rücken näher aneinander und confluiren schliesslich bis zu einem Grade, dass sie in extre-
men Fällen die Lunge von oben bis unten in eine derbe, graugelbe Masse umwandeln,
welche ganz den ausgedehnten tuberculösen Infiltrationen der menschlichen Lunge ent-
spricht und selbst bis zur Entwicklung kleiner Cavernen fortschreitet. Je intensiver die
Tuberculosis der Lungen wird, umso massenhafter lagern sich Lymphzellen in die Tuberkel
ein, so dass die Epitheloidbildung ganz verschwinden kann. Die Tuberkelbacillen wachsen
anfangs lebhaft weiter, bei längerer Dauer der Erkrankung aber nehmen sie in der käsigen
Masse ab, sie zerfallen zu einzelnen Körnchen und verschwinden endlich; die käsige Masse
aber bleibt tuberculös infectiös, so dass nach Zerfall der Tuberkelbacillen die Sporen die
Infectiosität übermitteln.
Wenn Tuberkelbacillen in die Luftwege durch Inhalation oder Injection gebracht
werden, so entsteht Tuberculose der Lunge, welche durch umfangreichere Heerde, als wir
sie bei der hämatogenen Tuberculose sehen, ausgezeichnet ist; die Heerde können bei reich-
licher Tuberkelbacilleninjection lobuläre und selbst lobäre Ausbreitung haben, indem die
Tuberkelbacillen nicht nur einzelne Alveolargruppen, sondern ganze, zahlreiche Acini und
Lobuli überfluthen, die Alveolar- und Bronchiolenepithelwucherungen die entzündlichen
Wucherungen der Alveolen und Bronchien wände stark überwiegen und die Ansammlung
von Leukocyten in den Hohlräumen und Wandungen des respirirenden Parenchyms viel
früher und massenhafter erfolgt, als bei der hämatogenen Tuberculosis. Durch die Aspi-
ration reichlicher Mengen von Tuberkelbacillen kann sich ein Process entwickeln, welcher
makroskopisch wie mikroskopisch vollkommen identisch ist mit der käsigen Pneumonie des
Menschen; dieser Process, so verschieden er auch makroskopisch von der disseminirten
Miliartuberculosis der Lunge sich präsentirt, ist in den histologischen Vorgängen doch voll-
kommen gleich der Miliartuberculosis ; zwischen dem typischen Miliartuberkel des Lungen-
gewebes, welcher, histologisch betrachtet, nichts anderes ist, als eine miliare, chronische,
verkäsende Pneumonie, und der chronisch verkäsenden Pneumonie, welche ihrerseits nichts
anderes ist, als ein echter tuberculöser Process des Lungengewebes, bestehen nur quan-
titative und graduelle, keine essentiellen Differenzen.
Wenn wir noch kurz die Piiesenzellen besonders erwähnen, so haben wir schon
angeführt, dass in den Tuberkeln sich nur dann Eiesenzellen finden, wenn das Impf-
material aus Perlsuchtknoten genommen wird, während es bei der durch Impftuberculose
erzeugten Tuberculosis nicht zur Bildung von Riesenzellen kommt. Bei der Impfung mit
TUBERCULOSIS PULMONUM. 731
Perlsuchtstoffen bilden sich die Riesenzellen meistens zui* Zeit, wann die Kerntheilung der
Epitheloidzellen spärlicher und die Einwanderung der lymphatischen Zellen noch nicht bedeutend
geworden ist.
Die Riesenzellen entstehen durch Vermehrung des Protoplasma und der Kerne einer
einzigen Zelle, nicht durch Verschmelzung mehrerer Zellen zu einer einzigen. Die durch
Proliferation bedingte Bildung der Riesenzellen wird dadurch erklärt, dass die Zelltheilung
nicht so rasch vor sich geht, als die Kerntheilung, sondern dass die Zelltheilung längere
Zeit ausbleibt; man nimmt an, dass bei einem geringen Grade der Reizung die Folge des
Reizes mit der Kerntheilung erschöpft ist, während bei einem höheren Grade die Zell-
theilung der Kerntheilung so rasch folgt, dass die Zelltheilung schon nach Bildung von
1—3 Kernen vor sich geht. Bei der Perlsuchtimpfung ist aber die Menge der einverleibten
Tuberkelbacillen, sowie deren Vermehrung thatsächlich viel geringer als bei der Infection
mit Impftuberkeln; hiermit iiberein stimmt auch die Beobachtung an Menschentuberkeln,
indem bei der sehr bacillenarmen Neubildung in scrophulösen Lymphdrüsen, bei Gelenk-
tuberculosis, im Lupus sehr reichliche Riesenzellen vorkommen, während in den sehr ba-
cillenreichen Knötchen der acuten Miliartuberculosis weniger oder gar keine Riesenzellen
auftreten. In den Riesenzellen liegen Tuberkelbacillen mit grosser Vorliebe.
Die Tuberculose des Menschen äussert sich liistologisch auf die-
selbe Weise, wie diese Experimental-Tuberculosis am Thiere; die mensch-
liche Lungentuberculosis geht, so mannigfach auch das anatomische Bild
uns entgegentritt, immer wieder hervor aus dem Tuberkel und der
Verkäsung. Auch der Tuberkel des Menschen besteht aus epitheloiden und
lymphatischen Zellen, gewöhnlich mit Einschluss von Riesenzellen. Solche pri-
märe Tuberkelknötchen bilden das makroskopisch als submiliaren Tuberkel
bezeichnete graue Knötchen, den kleinsten Miliartuberkel; durch die Zu-
sammenhäufung dieser submiliaren Tuberkel bilden sich gries-, hanf- und
hirsekorngrosse rundliche Knötchen, welche vollständig gefässlos sind; um die
Knötchen herum bildet sich eine Entzündung des angrenzenden Gewebes aus,
welche die mannigfache Gestaltung der Tuberculosis und die weitere Ent-
wickelung zu Höhlenbilduug und Narbengewebe bedingt. Durch die Confliuenz
zahlreicher kleinerer, miliarer Knötchen entstehen grössere Knoten; es kann
aber die tuberculose Neubildung auch von vornherein in diffuser, ausge-
dehnter Weise als diffuses, tuberculöses Infiltrat auftreten; sowohl der Miliar-
tuberkel, wie das tuberculose Infiltrat erliegt der Verkäsung und der Er-
weichung, dem Zerfall. Mit dem tubeiculösen Infiltrate sterben auch die von
demselben eingeschlossenen Gewebsbestandtheile ab. Die Art des Absterbens
gehört gerade so, wie bei dem Thierexperimente, in die Gruppe der Coagula-
tionsnekrosen.
An der menschlichen Lungentuberculosis nehmen alle
Lungenbestandtheile theil. Die Lungentuberculosis beginnt gewöhnlich
in den Lungenspitzen und zwar meistens in der Wand der kleinsten
Bronchien, entsprechend wohl der Thatsache, dass die Erkrankung an
Tuberculose meistens auf die Inhalation von tuberkelbacillenhaltigem Material
zurückzuführen ist. Die initiale Erkrankung besteht in einem Katarrh
der feineren Bronchien mit massiger Hyperämie und Schwellung der
Schleimhaut; dieser Katarrh ist bereits als ein specifischer Katarrh anzusehen,
in welchem sich sehr bald die Tuberkelneubildungen entwickeln; die Tuberkel
sitzen in den Bronchialenden und den Kanten der zugehörigen Alveolarwände.
Die in dem Kantenbindegewebe gelagerten submiliaren Tuberkel vereinigen
sich zu einem grösseren Knötchen, welches in einem hyperämischen, röthlichen
Parenchym sitzt. Von den präalveolaren Bronchiolenenden breitet sich die
Tuberkeleruption in der Schleimhaut der Bronchien centripetal auf dem Wege
des Lymphstromes aus fort; zunächst entwickeln sich in dem subepithelialen
Gewebe der intralobulären Bronchiolen dicht gedrängte Tuberkeleruptionen,
welche als weisse Fleckchen sich abheben oder als Höckerchen in das Lumen
hineinragen: die Eruptionen zerfallen, sie brechen durch und es entwickelt
sich ein tuberculöses Geschwür, welches seinen Inhalt in das Bronchiallumen
ergiesst; dadurch wird tuberculöses Material in immer neue Bronchien ver-
schleppt, so dass sich die Erkrankung, abgesehen von der Vermittelung durch
732 TUBERCULOSIS PULMONUM.
die Lymplibalineii, auf diese Weise mehr und mehr ausbreitet. Auch die Um-
gebung der Bronchiolen, das alveolare und interlobuläre Gewebe, er-
krankt. Alte und neue Heerde vereinigen sich und bilden grössere Conglo-
merate. Der tuberculöse Process kann längere Zeit an der Innenfläche des
Bronchus bleiben, die Bronchialwände können in der Weise sich ändern, dass
eine Anzahl der mittleren und kleineren Bronchien cylindrisch erweitert wird,
indem die zellig infiltrirten, nachgiebig gewordenen Wände dem inspiratori-
schen Athemzug, noch mehr aber dem intrathoracischen Druck während des
Hustens nachgeben, verlängert, verdünnt und erweitert werden; namentlich
die intralobulären Bronchiolen sind einer bedeutenden Erweiterung fähig, so
dass sich aus diesen Bronchiectasen, Bronchialkavernen entwickeln können. Der
tuberculöse Process an der Innenfläche des Bronchus kann aber auch durch
die Wand an die Aussenfläche des Bronchus dringen und auf das adventitielle
Bindegewebe, wie auf die peribronchialen Lymphgefässe übergreifen; in Folge
dessen entwickelt sich eine Peribronchitis, welche sowohl auf die zunächst
gelegenen Alveolen, als auf das interlobuläre Bindegewebe sich ausdehnen
kann. Die Peribronchitis tuberculosa stellt sich vielfach als Peribronchi-
tis fibrosa dar, welche sich durch fibröse Verdickung auszeichnet; bilden sich
knotige, sich in Abständen wiederholende, höckerige Verdickungen, welche
verkäsende Tuberkelheerde umfassen, so bezeichnet man dieses als Peribron-
chitis caseosa^ während die von den Bronchial wänden durchgreifende, käsig-
eitrige Infiltration den Namen Peribronchitis purulenta führt. Diese Formen
combiniren sich mehrfach miteinander. Die tuberculöse Peribronchitis ist
meistens schon mit blossem Auge erkennbar; man sieht in der Mitte der
anfangs grauen, später gelblich käsigen Heerde das kleine Bronchiallumen;
hat in der Mitte der Peribronchitis bereits der Zerfall begonnen, so sind in
diesen Erweich ungsheerden die Bronchien sehr häufig bereits erweitert, oft
bis zu kirsch- und taubeneigrossen Räumen unregelmässiger Art: es entstehen
auf diese Weise Cavernen vom Bronchus her. Es kann aber auch das Lumen
der Bronchien vollständig durch das Infiltrat verstopft werden, so dass sich
ein Raum entwickelt, welcher mit breiig-käsigem, schmierigem, dicklichem
Inhalte ausgefüllt ist, welcher schliesslich durch Einlagerung von Kalksalzen
mörtelartig werden kann und so zur Entstehung einer Art von Lungensteinen
führt. Das Vordringen der Tuberculöse von den Bronchial wänden in das
peribronchitische Gewebe wird grösstentheils durch die Lymphgefässe besorgt;
an den peribronchialen Lymphgefässen finden sich Tuberkelgranulationen
massenhaft, so dass sie auf dem Längsschnitte dieser Gefässe perlschnur-
artig gereiht erscheinen.
Geht die Erkrankung von den Bronchien auf das Lungenparen-
chym über, so kommt es zu einer zelligen Infiltration des interalveolären
Bindegew^ebes nebst starker Proliferation der Alveolarepithelien und Anhäu-
fung von Eiterkörperchen, so dass die Alveolen gänzlich ausgefüllt sind und,
da sie schon durch die Infiltration der Alveolenwände verengt sind, gänzlich
blut- und luftleer werden. Die so befallene Lungenpartie erscheint anfangs
durch die Hyperämie röthlich, dichter und saftreicher, später blassröthlich,
brüchig, luftleer; von der Schnittfläche lässt sich gelatinöse Flüssigkeit in ge-
ringer Menge ausdrücken; in dieser Flüssigkeit finden sich Alveolar- und
Bronchial epithel] en gequollen und zu Fettkörnchenzellen umgewandelt, Zellen
mit körnigem Pigment und Zellen mit mattem, perlartigem Glanz, welche
den ersten Anfang zu der Myelindegeneration darstellen: verkäsende
Bronchopneumonie (früher parenchymatöse Pneumonie. Buhl). Werden
die Bronchien durch Ausfüllung oder Compression des Lumen verstopft, so
folgt nothwendig eine lobuläre Atelectase, welche sich in eine lobuläre Pneu-
monie umwandelt und durch die specifische Natur den Namen verkä-
sende Pneumonie führt. Die atelectatischen Stellen sind anfangs ein-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 733
gesunken, später schwellen sie unter Transsudation von Blutserum weiter an,
und die Alveolen werden durch Eiterkörperchen und grössere epitheloide
Zellen ausgefüllt, welche meist Alveolarepithelien sind. Der Loslösung und
Desquamation der Alveolarepithelien folgt die Verkäsung auf dem Fusse nach
und es kommt auch zum Zerfall des verkästen nekrotischen Gewebes, also
zur Cavernenbildung. Anderseits verschmelzen die benachbarten Heerde
dieser verkäsenden lobulären Pneumonie, die tuberculöse Intiltration breitet
sich immer mehr und mehr aus, und es entsteht die diffuse käsige Pneu-
monie. Alle diese Veränderungen sind echt tuberculöser Art, immer
finden sich in ihnen die specihschen Tuberkelelemente.
Um die tuberculöse Intiltration herum, namentlich überall da, wo schon
eine Zerstörung des Lungengewebes aufgetreten ist, entstehen zum Theile
chronische, interstitielle Processe, w^elche mit der Bildung neuen
Bindegewebes, welches zur Schrumpfung und festen Schwielenbildung
führt (Cirrhosis nodosa tuberculosa), verbunden sind. Das ist aber
nur dann der Fall, wenn die Ausbreitung des tuberculösen Virus nur lang-
sam von statten geht, wenn das neugebildete Gewebe nicht schon tuberculös
zerstört wird, bevor es zur Schrumpfung kommen konnte. Wir sehen daher
diese Vernarbung oder Einkapselung bei der Bildung localisirter Heerder-
krankungen an Stellen, wo der tuberculöse Process schon stille zu stehen
schien. Das schwielige Bindegewebe stellt sich als ein derbes Gew^ebe dar,
welches durch Aufnahme von Kohlenpartikelchen und Pigmentablagerungen,
welche aus kleinen Ecchymosen hervorgehen, mehr oder minder pigmentirt
ist, so dass man ihm den Namen Pigmentinduration und schiefe-
rige Induration beilegt. Durch das vernarbende, schrumpfende Bindege-
webe kann, wenn dasselbe sich an vorhergehende, grössere Zerstörungen an-
schliesst, ein ganzer Lungenabschnitt bis weit über die Hälfte verkleinert
werden. In solchen Lungenschrumpfungen bilden dann Cavernen und
schwieliges festes Gewebe die anatomische Grundlage. Die Cavernen in sol-
chen Schrumpfungen können entweder durch Zerfall von Lungengewebe ent-
standen sein, was der gewöhnliche Entstehungsmodus ist, oder es sind bron-
chiectatische Cavernen, durch den Zug des schrumpfenden Bindegew^ebes
enstandene einfache Bronchialerweiterungen.
Auch die Blut- und Lymphgefässe nehmen an der tuberculösen
Entzündung theil, indem der Tuberkel sich in den Gefässwandungen eta-
bliren kann. Gerade wie die Entzündungen in der Bronchialwand, führen
auch diese specifischen Entzündungen in der Gefässwand zu Verkäsung und
Zerfall, ebenso anderseits zu Bindegewebswucherungen. Man findet selbst in
der Intima der Lungen arterien Tuberkelgranulationen; diese tuberculöse
Infection der Intima geht theils von der Erkrankung des Nachbargewebes aus,
theils sollen auch die im Blutstrom ki'eisenden Tuberkelbacillen sich unmittel-
bar festsetzen können. Wenn die Tuberkel der Gefässwand verkäsen und
zerfallen, so kann ihr Inhalt unmittelbar dem Blutstrom beigemischt werden,
so dass, entfernt von dem primären Heerd neue Heerde in einem umschrie-
benen Lungenstücke, dem Ausbreitungsbezirk der Arterie entsprechend, auf-
treten.
Tuberkeleruption mit nachfolgendem Zerfall in den Lungenvenen
kann auf solche Weise eine allgemeine Miliartuberculose hervorrufen. Es
kann aber auch am Orte des Tuberkelzerfalles in den Gefässwänden Throm-
bose entstehen, in welcher sich Tuberkelbacillen befinden. Die thrombotischen
Gerinnsel können als Emboli weiter befördert werden. In der Regel führt
die tuberculöse Entzündung der Gefässwand zu einer Zerreissung und darauf
folgenden Blutung oder zur Verengung des Lumen und zu Circulationsstörungen,
welch letztere wiederum in dem zugehörigen Bezirk durch Herabsetzung der
Ernährung den Boden für tuberculöse Veränderungen vorbereiten.
734 Tuberculosis pulmonum.
Die Sclirumpfungsvorgänge bei der Lungentuberculosis lehren, dass
der tuberculöse Process an sich wohl der Heilung fähig ist, und thatsäch-
lich kommen die Anfangsstadien sehr oft zur Heilung; die allzuhäufige Un-
heilbarkeit der tuberculösen Lungenschwindsucht beruht darauf, dass von dem
ursprünglichen Heerde aus der Infectionsstoff sich immermehr ausbreitet;
man findet in den Lungen Tuberculöser fast stets ältere, verheilte Heerde,
neben frischen, käsigen Stellen.
Käsige kleine Heerde können heilen, indem sie unter nach-
träglicher Durchfeuchtung vom gesunden Gewebe aus moleculär zerfallen, ver-
flüssigen und resorbirt werden und eine bindegewebige Schwiele als einziges
Ueberbleibsel zurücklassen. Ebenso können solche Heerde den Ausgang in
Verkreidung nehmen, indem kohlen- und phosphorsaurer Kalk sich in den
käsigen Massen niederschlägt, welcher anfangs im Centrum, späterhin den
ganzen Heerd in eine steinharte Masse umwandelt, eine zweite Art der
Lungensteine, Calculi pulmonales, bildend. Der verkreidete Heerd
Avird dadurch abgekapselt, dass sich um ihn narbiges, schiefergraues Bindege-
webe entwickelt, welches die so verkalkten Lobulär- und Alveolarinfiltrate
das ganze Leben lang als nun unschuldigen Fremdkörper zurückhält. Zuwei-
len allerdings bilden sich um das Lungenconcrement Erweichungsprocesse
aus, welche den Stein lockern, so dass er mit dem Auswurf ausgehustet wer-
den kann.
Bisweilen entwickelt sich kein vollständiger Stein, sondern eine mehr
mörtelförmige Umwandlung des käsigen Heerdes durch die Attraction
von Kalksalzen, welche ebenfalls durch bindegewebige Kapseln unschädlich
werden können.
Wenn in grossen käsigen Heerden die Verflüssigung vor sich geht, so
kommt es fast stets zur Bildung von Hohlräumen, Caverna oder Vo-
mica, so dass man unter Caverneu kurz diejenigen Hohlräume versteht, welche
durch Nekrose und Verschwärung des Gewebes gebildet werden. Die bronchi-
ecta tischen Cavernen haben wir schon erwähnt, sie entstehen durch die
Erweiterung der feinen und feinsten Bronchien, in deren Wänden durch Ent-
wickelung von Tuberkeln geschwüriger Zerfall sich ausbildet. Die eigent-
lichen Lungencavernen, welche durch directe Zerstörung des Lungen-
gewebes entstehen, bilden sich dadurch, dass die Erweichung zur Verflüssi-
gung führt, dieser verflüssigte Inhalt hat arrodirende Eigenschaften, die ge-
schlossene Caverne wird zu einer offenen Caverne, indem die flüssigen Massen
schliesslich in einen Bronchus oder in mehrere Bronchien durchbrechen und
auf diese Weise expectorirt werden, so dass ein Hohlraum zurückbleibt. Solche
Cavernen haben dann eine unregelmässige Form, ihre Wandungen sind uneben, mit
bröckeligem Material bedeckt, faltig, fetzig und in verschiedener Breite tuber-
culös infiltrirt. Die Höhlen vergrössern sich durch weiteren Zerfall, benach-
barte Höhlen gehen in einander über, bronchiectatische Cavernen und Lungen-
cavernen wandeln sich in eine gemeinsame, ulceröse Höhle um und schliesslich kann
ein ganzer Lungenlappen, selbst eine ganze Lunge von einer oder mehreren
Cavernen eingenommen werden, deren jede einzelne die Grösse einer Faust
übertreffen kann. Die Ausbreitung der Caverne kann soweit voranschreiten,
dass sie die Pleura pulmonalis erreicht und, wenn dieselbe nicht verwachsen
ist, sie durchbohrt und einen Pneumothorax hervorruft. Gewöhnlich aber ist
die Pleura pulmonalis schwielig verdickt, die Pulmonalblätter sind verwachsen,
so dass die Caverne hier nicht mehr weiter kann; es wird allerdings auch
in seltenen Fällen beobachtet, dass der tuberculöse Zerfall die schwieligen
Pleurablätter durchbricht, Caries der Rippen, Senkungsabscesse und Fistel-
gänge bewirkt. Die aus den Bronchiectasen hervorgehenden Cavernen sind
meistens daran kenntlich, dass die Wand des zuführenden Bronchus ohne
Unterbrechung in die Cavernenwand übergeht und auf der Cavernenwand bei
TUBERCULOSIS PULMONUM. 735
der mikroskopischen Untersuchung noch Flimraerepithel gefunden wird. Oft
wandelt sich die zottige, unebene Wand der Cavernen in eine glatte Fläche
um, welche meistens noch einen dickliclien, käsigen, schmierigen, bröckeligen,
abstreitbaren Belag hat, wenn die Caverne durch festes Bindegewebe ein-
geschlossen wird und alles Lungengewebe bis zu dieser bindegewebigen Kapsel
hin zerstört und expectorirt ist: es entsteht eine gefässreiche Membran, welche
Eiter producirt. Bei der fortschreitenden Zerstörung bleiben strangförmige
Brücken stehen, welche die ganze Höhle wie ein Faden von einer Wand
zur anderen durchziehen können; es sind dieses Blutgefässe, welche der
Zerstörung grösseren Widerstand entgegensetzen als das Lungengewebe; diese
Blutgefässe sind meistens obliterirt, manchmal sind sie auch noch offen; auch
in der Cavernenwand ziehen öfters obliterirte Aeste der Arteria pulmo-
nalis als weissliche oder schiefergraue Balken hin; es können aber auch in
der Cavernenwand Blutgefässe verlaufen, welche an ihrer, dem Hohlraum zu-
gekehrten Seite aneurysmatische Ausbuchtungen erleiden, die sehr gerne
zu Zerreissungen führen und Spätblutungen der Lungentuberculose im
Gefolge haben.
Die vielfältigen Veränderungen des tuberculösen Lungengewebes, welche
wir in obigen Ausführungen kennen gelernt haben, machen es erklärlich, dass
durch die Combination der Krankheitsbilder, durch das Ueberwiegen des einen
Processes über den anderen, ein solch' wechselndes Bild der pathologisch-
anatomischen Seite geschaffen werden kann, dass man oft ganz verschiedene
Krankheitsbilder auf dem Sectionstisch vor sich zu haben glaubt; immer aber
linden sich als Grundbau der Miliartuberkel, die Tuberculosis der Bronchial-
wand, die Peribronchitis tuberculosa, die diffuse käsige Pneumonie, der Zer-
fall der tuberculösen Neubildung, die schrumpfende, interstitielle Pneumonie,
die Schwielenbildung und schiefrige Induration: aus ihnen setzen sich die
verschiedensten Bilder der Lungentuberculosis zusammen. Schon makro-
skopisch sind die einzelnen Componenten auf dem Durchschnitt leicht zu er-
kennen, vor Allem die käsigen Heerde, welche eine gelbe Farbe haben und
eine krümliche, zerreibbare, mürbe Consistenz besitzen. Auch die grauen
Tuberkelkuötchen sind leicht erkennbar.
Ausser diesen specifisch tuberculösen Veränderungen finden
sich in den Lungen vicariirende Emphysembildung, einfache
diffuse Bronchitis, wie auch katarrhalische Pneumonie ohne
tuberculösen Charakter; selbstverständlich kann sich auch gelegentlich
auf dem Sectionstisch eine echt croupöse Pneumonie neben der käsigen Pneu-
monie finden.
Zu dem anatomischen Bilde der Lungentuberculosis gesellt sich nun
eine Anzahl von pathologisch-anatomischen Vorgängen, welche
geradezu zur Lungenschwindsucht gehören. Zunächst betrifft dieses
die Pleura, welche in allen möglichen Formen die Lungentuberculosis begleitet;
man findet alle Stadien von der einfachen, entzündlichen Injection bis zum eitrigen
und hämorrhagischen Exsudat, bis zur centimeterdicken Schwielenbildung und
gänzlichen Verwachsung der Pleurablätter; die Pleuraverdickungen bilden oft
Schichten, welche sich von einander trennen lassen und zwischen sich käsige Heerde
umschliessen; die Pleura kann auch selbst mit Miliartuberkeln besät sein. In
manchen Fällen findet sich ein Pneumothorax, in der Regel erfolgt aber
rasch eine eitrige Pleuritis, wenn Caverneninhalt oder tuberculöses Erwei-
chungsmaterial sich in den Brustraum ergiesst. Die Ursache der pleu-
ritischen Entzündungen bei Lungentuberculose liegt darin, dass die
tuberculösen Erweichungsheerde an der Lungenoberfläche entweder unmittelbar
auf die Pleura übergreifen, oder sie zerstören. Es kann auch die Pleura-
tuberculosis das primäre sein und durch sie die Lungentuberculosis ent-
736 TUBERCULOSIS PULMONUM.
stehen. Am hochgradigsten und frühzeitigsten finden wir stets die Verände-
rungen der Pleurablätter an den Lungenspitzen.
Ebenso häufig oder noch häufiger sind die Bronchialdrüsen erkrankt;
sie pflegen schon sehr frühzeitig anzuschwellen; in ihrem Gewebe finden sich
Miliartuberkel und käsige Einlagerungen; bei langsam verlaufender Tuber-
culose sind sie dunkel pigmentirt und haben eine feste Bindegewebskapsel;
ihr verkäster Inhalt kann verkalken, er kann sich aber auch immer mehr
verflüssigen und nach den Bronchien durchbrechen, so dass auf dem Wege
der Aspiration die Tuberculosis in den Lungen durch sie verbreitet wird; er
kann auch in das Lungengewebe selbst oder in das Mediastinum durchbrechen.
Ich kenne einen Fall, in welchem eine verkäste, erweichte Bronchialdrüse in
einen Ast der Lungenarterie perforirte und in dem Ausbreitungsbezirke der
Arterie Lungentuberculosis schuf. Die Bronchialdrüsen können überhaupt die
erste Ansiedlungstätte der Tuberculosis bilden, von welcher aus die Lungen-
tuberculosis secundär sich entwickelt. Bei Kindern kommen sehr grosse, ver-
käste Bronchialdrüsenpaquete vor.
In der Trachea und den Hauptluftröhrenstämmen kommt die
Tuberculose fast nur in dem späten Stadium der Schwindsucht vor; auch hier
bilden sich Miliartuberkel, welche zu grossen Geschwüren zerfallen können,
es ist aber auch möglich, dass die flachen, meist kreisrunden Geschwüre,
welche man auf der hinteren Wand der Trachea bei Cavernen mit eitrigem
Auswurf meistens antrifft, durch Anätzung entstanden sind. Im Larynx
hinwiederum findet sich eine reiche Betheiligung an der Lungentuberculosis,
hier nistet sich gerne die Tuberculosis ein, die Miliartuberkel zerfallen und
bilden Geschwüre: das ist im Larynx die häufigste Form der Geschwürsbildung.
In der Mehrzahl der Fälle finden sich solche tuberculose Geschwüre an der
Hinterwand des Kehlkopfes, den Seitenwänden der Aryknorpel, den wahren
und falschen Stimmbändern; sie können nach aufwärts auf die Epiglottis
greifen, über sie hinaus bis zur Zungenwurzel gehen und anderseits nach
abwärts bis in die Trachea steigen. In den Geschwürsrändern und ihrer Um-
gebung können Oedeme und acute Entzündungen mit lebhafter Schwellung
auftreten, so dass eine Larynxstenosis entsteht. Neben den Geschwüren findet
sich ein oft sehr grosses submucöses Infiltrat, in welchem der submiliare
Tuberkel wuchert. Wenn eine primäre Larynxtuberculosis überhaupt vorkommt,
so ist sie jedenfalls sehr selten, gewöhnlich ist sie secundär durch die In-
fection mit tuberculösem Sputum, welches aus der erkrankten Lunge aus-
gehustet wird, entstanden.
Noch häufiger als der Kehlkopf ist der Darmkanal bei der Lungen-
schwindsucht Sitz der Tuberculosis. Im Magen und den oberen Darmstücken
finden sich wohl katarrhalische Erkrankungen, aber nur ausserordentlich selten
tuberculose Geschwüre; ihren Lieblingssitz geben die unteren Darmabschnitte
her, indem die Lymphfollikel, vor Allem die PETEE'schen Plaques entzündlich
schwellen und verkäsen; in den Ptändern, dem Grunde und der Umgebung
der Geschwüre finden sich meistens zahlreiche Tuberkelheerde, welche auch
auf der bedeckenden Peritonealpartie auftreten können. Durch Ausbreitung
und Uebergreifen in Nachbarsgeschwüre kommen oft grosse, gürtelförmige
Geschwüre zu Stande, welche bis tief in die Submucosa dringen, doch selten
die Muscularis zerstören. Primäre Darmtuberculosis ist selten, sie kommt
eigentlich nur bei Kindern vor, so dass solche tuberculose Geschwüre als
Folge der Lungentuberculosis anzusehen sind, zum Theil wohl dadurch secun-
där entstanden, dass verschlucktes tuberculöses Sputum der Darmwand die
Keime anheftete.
Das Herz ist meistens klein und welk, der Herzmuskel erscheint blass,
zuweilen auch braunroth gefärbt, in ihm sind häufig gelbe, verfettete Stellen
erkennbar. Manchmal ist die rechte Herzhälfte erweitert und hypertrophisch;
TUBERCULOSIS PULMONUM. 737
relativ häufig sehen wir die Intima der Pulmonalarterie verfettet. Der Herz-
beutel enthält meistens eine geringe Menge seröser Flüssigkeit, er kann
aber auch mit Tuberkelknötchen besetzt sein und dann eitriges oder hämor-
rhagisches Exsudat führen.
Die Mediastinaldrüsen sind vielfach geschwollen, vergrössert, ver-
käst, erweicht; sie können dasselbe Schicksal wie die Bronchialdrüsen haben.
Bei der Lungenschwindsucht findet man sehr häufig die Leber im Zu-
stande der Fettleber, oft gepaart mit den Symptomen der venösen Stauung;
solche Bilder finden sich auch bei andersartigen Erkrankungen. Dagegen ist
es ein Vorrecht der chronischen Lungentuberculosis, dass bei ihr die Milz,
die Leber, die Nieren und die Darmmucosa amyloid entarten, sodass
man früher (Meckel) anführte, dass die Tuberculosis in die Speckkrankheit
umschlägt. Die Leber, die Milz und die Nieren können übrigens auch manch-
mal Miliartuberkel tragen.
Im Verlaufe der Lungentuberculosis können sehr viele Organe erkranken,
indem sie entweder selbst tuberculös werden oder durch die vorgeschrittene
Lungenphthisis Schaden leiden. So findet man noch sehr häutig, dass die
Lymphdrüsen des Nackens und Halses, der Bauchhöhle und der Leisten
geschwellt sind und tuberculös entarten. Die Hoden sind nicht selten er-
krankt, man hat in den gesund aussehenden Hoden phthisischer Männer
wiederholt Tuberkelbacillen gefunden; ich habe selbst in 50 Hodenpaaren,
welche durchaus gesund schienen, aber von Leuten, welche an chronischer
Lungenschwindsucht zu Grunde gingen, herrührten, viermal Tuberkelbacillen
nachweisen können und zwar einmal in beiden Hoden, dreimal in einem
einzelnen Hoden, während der jedesmalige andere Hoden keine Tuberkel-
bacillen in Dutzenden Schnitten enthielt; nicht nur mit diesen fünf Hoden,
sondern mit acht weiteren Hoden, welche mikroskopisch normal und frei
von Tuberkelbacillen waren, hatte ich eine Iristuberculosis beim Kanin-
chen erzeugen können. Auch in der Prostata sind Tuberkelbacillen ange-
troffen worden; mit Prostatasecret und Prostatagewebe verstorbener Phthisiker
habe ich, ohne dass sich Tuberkelbacillen in der Prostata zeigten, experi-
mentelle Tuberculosis erzielt und in einer Prostata unter 54 Vorsteherdrüsen
Tuberkelbacillen demonstrirt.
Knochentuberculosis ist im Verlaufe der Lungenphthisis nicht
gerade selten. Es sollen auch häufig die peripheren Nerven degene-
rativer Neuritis unterliegen; das Knochenmark der vorgeschrittenen Phthisis
zeigt sich manchmal gallertig degenerirt zu Gallertmark, manchmal hat es die
Zeichen des lymphoiden Markes, manchmal ist es stark geröthet und enthält
neben vermehrten, blassen Markzellen eine grosse Menge kernhaltiger, rother
Blutzellen.
Die Musculatur ist meistens auffallend blass, dürftig entwickelt und
oft parenchymatös verändert.
HI. Symptomatologie.
Die Lungentuberculosis ist im Wesentlichen eine chro-
nische locale Erkrankung; diejenigen Fälle, in welchen die Tuberculose
in wenigen Wochen und Monaten die ausgedehntesten Zerstörungen in beiden
Lungen hervorruft, bilden die Minderzahl; in der Regel handelt es sich nicht
um eine Phthisis florida, sondern um eine chronische Form, welche Jahre lang
ihre Symptome setzt.
Im Allgemeinen theilt man das Krank he itsbild der primären Lun-
gentuberculosis in drei Stadien ein, welche sich nicht scharf von ein-
ander abgrenzen lassen. Die ersten Anfänge der Lungenphthise, wenn nur wenige
Symptome objectiv nachweisbar sind, bezeichnet man als Phthisis inci-
piens, wenn dagegen die Erscheinungen so deutlich ausgeprägt sind, dass
Uibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 47
738 TUBERCULOSIS PULMONUM.
für die Erkenntnis der Erkrankung keine Zweifel möglich sind, so liegt das
Bild der Phthisis confirmata vor; das Endstadium, in welchem grössere
Zerstörungen in der Lunge nachweisbar und andere Organe secundär erkrankt
sind, führt den Namen Phthisis consummata.
Die Lungentuberculosis beginnt in der Regel ganz allmälig, schleichend;
selten kann man annähernd den Zeitpunkt bestimmen, wann die Krank-
heit anhub. Die ersten Anfänge sind unbestimmt und vielfach unter den
Allgemeinsymptomen einer Ernährungsstörung verborgen. Die
Kranken sehen blass aus, sie ermüden leicht, sind chlorotisch; die Herzaction
ist besonders erregbar, so dass auch ohne Fieberbewegung die Pulszahl be-
ständig erhöht ist Bei Frauen vor Allem ist es die Chlorosis mit Menstru-
ationsstörung, welche die Lungentuberculosis verdecken kann, so dass man
den Verdacht auf Tuberculosis hegen darf, wenn bei weiblichen Individuen,
welche hereditär belastet oder schlecht entwickelt sind, die Chlorosis sehr
hartnäckig sich gestaltet und jeder Therapie trotzt (latente chloro-anae-
mische Phthisis). In anderen Fällen beherrschen Störungen der Magen-
Darmthätigkeit (latente dyspeptische Phthisis) das Symptomenbild,
indem die Patienten appetitlos sind, Aufstossen haben, an Brechneigung leiden und
über gestörte Stuhlentleerung klagen: die Defaecation wird unregelmässig, indem
Verstopfung und Durchfälle abwechseln können; in Folge dieser dyspeptischen
Störung nimmt das Körpergewicht ab, die allgemeine Müdigkeit wächst. Blässe
und Blutarmuth gesellen sich hinzu und Unlust, wie Unfähigkeit zur Arbeit.
In anderen Fällen wiederum stellen sich in den frühesten Stadien Fieber-
bewegungen ein, die Kranken frösteln viel und haben abendliche Tem-
peratursteigerungen, ohne dass irgend etwas auf eine Erkrankung der Lunge
hindeutet; das Fieber tritt zeitweise auf und kann für längere Zeiträume ver-
schwinden, es kann auch dauernd gleich von vornherein seiU; so dass das
Körpergewicht stetig sinkt und frühzeitig eine Neigung zu profusen
Nachtschweissen hervortritt. "Wenn auch in diesem Stadium die Allgemein-
symptome das Bild beherrschen und subjectiv kein Zeichen einer Lungen-
krankheit geäussert wird, so findet man sehr häufig doch schon objective
Zeichen einer Erkrankung der Lunge.
Meistens leitet sich die Lungenschwindsucht ein durch Symptome, welche
auf eine Erkrankung des Respirationsapparates hindeuten. Es
besteht ein leichter Husten, welcher trocken sein kann und als Hüsteln in
kurzen Stössen sich vollzieht. Der Husten kann auch von Beginn an mit
geringem, schleimigem, später schleimig-eitrigem Auswurf verbunden sein.
Oefters stellen sich Schmerzen auf der Brust ein, bald als Seitenstechen,
bald vorne auf der Brust, bald zwischen den Schulterblättern als Stiche von
den Patienten empfunden. Schon frühzeitig besteht ein Gefühl von Kurz-
athmigkeit, welches bei allen körperlichen Anstrengungen besonders her-
vortritt. Auch unter den Erscheinungen eines Bronchialkatarrhes,
welcher sehr hartnäckig ist und häufig wiederkehrt, leitet sich die Lungen-
phthisis ein; der Bronchialkatarrh tritt diffus auf, während er aber auf den
anderen Lappen abheilt, zieht er sich auf eine oder beide Lungenspitzen
zurück und bleibt dort, oder es stellt sich von vornherein ein frischer Katarrh
ein, welcher nur die Gegend der Lungenspitzen einnimmt. Bei anderen
Kranken hinwiederum macht sich als frühestes Symptom eine Schwäche
des Kehlkopfes geltend, sehr leicht tritt Heiserkeit und starker Kitzel im
Kehlkopfe auf und laryngoskopisch findet sich eine hochgradige Anämie des
Larynx. Auch unter dem Bilde der Pleuritis stellt sich häufig die Phthisis
ein, vor Allem dann, wenn wiederholte, trockene Pleuritiden im Bereiche der
oberen Lappen auftreten oder pleuritische Exsudate langsam und schleichend
verlaufen, doppelseitig bestehen, oder zuerst die eine und dann die andere
Seite befallen. Nicht selten beobachtet man die Entwickelung der Lungen-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 739
tuberculosis bei Personen, welche vorher mehrmals an croupöser oder
katarrhalischer Pneumonie gelitten haben; am meisten in Gefahr
schweben hiebei schwache und decrepide Personen, vor Allem, wenn die
Lungenentzündung in den oberen Lappen ihren Sitz hatte. Sowohl die Lungen-
wie die Allgemeinerscheinungen gewinnen an Bedeutung, wenn es sich um
Personen handelt, bei welchen auch sonstige Zeichen einer tu bereu lösen
Belastung oder Disposition vorliegen oder welche sich einer t übe r-
culösen Ansteckung aussetzten: die Kranken stammen von phthisischen
Eltern oder Grosseltern ab, Geschwister sind tuberculös erkrankt, sie haben
sich mit der Pflege von Schwindsüchtigen beschäftigt, in der Jugend an Lymph-
drüsenentzündungen oder Lymphdrüsenvereiterung gelitten; es finden sich
noch Lymphdrüsenknollen am Halse, Ueberbleibsel von Knochen- und Gelenk-
leiden, Mittelohreiterungen, kurz Erscheinungen, welche das Bild der Scrophu-
losis erläutern. Ebenso steigt der Verdacht auf Lungentuberculosis, wenn
es sich um Leute mit schlechter Körperentwickelung und schwachem Brust-
bau handelt. Es kann aber auch die Phthisis sich plötzlich durch eine Hä-
moptoe verrathen, auch hier sind es Individuen, welche aus irgend einem
anderen Grunde der Phthisis verdächtig sind, gar manchesmal aber sind es
anscheinend kräftige, gut entwickelte Personen, welche auf diese Weise sich
als lungentuberculös entpuppen.
Die Wege, auf welchen sich die Lungenschwindsucht ein-
leitet, sind also ungemein verschieden, so dass es, zumal im Anfange, der
grössten Aufmerksamkeit bedarf, um die Krankheit zu erkennen. Bestimmte
Angaben über den Beginn der Erkrankung können wir selten auffinden,
häutig zwar führen die Patienten die Störung auf ganz bestimmte Ursachen
zurück; so spielen in der Aetiologie, welche der Kranke construirt, der kalte
Trunk, die Ueberanstrengung, die Erkältung, der Aerger und Schreck eine
grosse Ptolle; eine unmittelbare Veranlassung der Lungenphthise durch einen
kalten Trunk können wir nicht zugestehen, es ist aber immerhin möglich,
dass durch eine Erkältung ein Katarrh sich entwickelt, welcher den Boden
für eine Tuberculosis abgibt, oder dass durch die Irische Erkältung die schon
bestehende Lungentuberculosis manifest wird.
Die Phthisis florida leitet sich häufig ziemlich plötzlich mit grossem
Kräfteverfall und hohen Fieberbewegungen ein, es können viele Tage und
selbst Wochen vergehen, ehe man eine Ursache für das Fieber auffindet, so
dass die Diagnose zweifelhaft bleibt, aber gerade Fieber aus nicht nachweis-
baren Ursachen weist auf eine versteckte Tuberculosis hin; meistens herrscht
aber nicht lange Zweifel, weil gar rasch ausgebreitete Erkrankungen der
Lunge das Bild klar stellen. Auch hier kann anfangs jedweder Husten fehlen,
in anderen Fällen ist sehr starker, trockener Husten vorhanden, welcher die
Patienten in der Nacht nicht schlafen lässt, ohne dass Auswurf producirt
wird, es kann aber anderseits ein reichliches Sputum expectorirt werden, der
Auswurf variirt sehr, je nachdem die Schleimhaut der Bronchien erkrankt
ist; manche Fälle von ausgedehnter Infiltration finden sich bei der Unter-
suchung, ohne dass die Patienten überhaupt gehustet haben.
Unter den einzelnen Symptomengruppen, wekhe die Lungentuber-
culosis begleiten und das klinische Bild liefern, stehen naturgemäss die Er-
scheinungen von Seiten der Lunge oder des Kespirationsappa-
rates überhaupt obenan.
Der Husten ist das constanteste Symptom der Lungenschwindsucht;
er kann in seiner Heftigkeit und Häufigkeit sehr verschieden sein, aber nie-
mals fehlt er vollkommen während des Verlaufes der Schwindsucht, es gibt
Fälle, in welchen trotz fortschreitender Phthisis der Husten auflallend gering
ist, monatelang gänzlich verschwunden scheint, oder niemals über ein leichtes
Hüsteln herausgeht; jedenfalls aber tritt, wenn auch bei der Phthisis incipiens
47*
740 TUBERCULOSIS PULMONUM.
der Husten gänzlicli schweigen kann, doch im Stadium der Phthisis confir-
mata und vor Allem der Phthisis consummata Husten auf. Im Anfange
der Erkrankung ist der Husten am häufigsten kurz, oberflächlich und
hell; entwickelt sich die Phthisis weiter, so erscheint der Husten morgens
nach dem Erwachen und abends nach dem Niederlegen, in der Zwischen-
zeit kann er gänzlich fehlen oder nur ein unbedeutendes Symptom setzen,
vielfach steigert er sich nach der Mittagsmahlzeit. Der Husten kann
auch von Beginn an so heftig sein und in Paroxysmen auftreten, dass er
quälend wird, die Nachtruhe der Kranken stört, zu Erbrechen und lebhaften
Schmerzen der Brust- und Bauchmuskeln führt. In den späteren Stadien
pflegt der Husten nicht mehr so quälend zu sein, zumal wenn es zu Cavernen-
bildung gekommen ist, während in den vorgeschrittensten Stadien sehr häufig
die Hustenstösse durch die Entkräftung des Kranken nicht mehr im Stande
sind, die Expectoration leicht zu befördern und dadurch wiederum zu einem
qualvollen Abmühen werden. Der Satz, dass der Husten mit der Ausbreitung
der Lungenschwindsucht proportional geht, ist aber durchaus nicht als Gesetz
zu betrachten; nicht immer hängt der Husten von dem Grade der Lungen-
erkrankung ab, sondern mehr noch von dem Sitze der Erkrankung. Die
eigentliche Parenchymerkrankung löst weit weniger Husten aus, als die Er-
krankung der Luftröhrenschleimhaut, welche sie begleitet, und um so hef-
tiger ist der Husten, je näher die Erkrankung der Bronchien dem Kehl-
kopf rückt; Erkrankungen des Larynx, der Trachea und der Bronchien sind
die eigentlichen Ursachen für den Husten, weit mehr als die Erkrankung
des Lungenparenchyms und der Bronchialendigungen, auch die Cavernen
üben nur wenig Hustenreiz aus. Wie die Erkrankung und Verschwä-
rung der Bronchialschleimhaut den Husten auslöst, so thun
dieses auch Veränderungen und Vergrösserungen der Lymphdrüsen,
welche um die Bronchien gelagert sind und einen Druck ausüben.
Es spielt auch das Nervensystem bei der Intensität des Hustens eine Rolle;
je erregbarer das Individuum ist, desto leichter und intensiver fällt auch der
Pteflex, das Husten aus; es husten in Folge dessen jugendliche weibliche
Phthisiker verhältnismässig am stärksten; Aufregungen, Anstrengungen, rasche
Temperaturunterschiede steigern die Anfälle. Die Lage des Patienten trägt
auch ihren Theil zu den Hustenstössen bei, indem der Husten vermehrt zu
sein pflegt, wenn die Kranken auf der erkrankten Seite liegen, so dass der
Auswurf erschwert und dadurch der Husten vermehrt wird. Im Schlafe tritt
der Husten dann auf, wenn eine Ansammlung von Schleim statt hat, gross
genug, um die durch den Schlaf herabgesetzte Auslösung des Reflexactes zu
erregen. Die Hustenparoxysmen nach dem Niederlegen erklären sich da-
durch, dass durch das Hinlegen die gebildeten Secrete sich verschieben, durch
ihre Bewegung neuen Reiz ausüben, weiterhin dadurch, dass durch die Rücken-
oder Seitenlage die Secretentleerung gehindert ist und vielleicht auch dadurch,
dass der Blutgehalt der schon krankhaft hyperämischen Gewebe sich nach
der Lage ändert, so dass die grossen Bronchien und die Trachea bei der
horizontalen Lage blutreicher werden, als sie es bei der aufrechten Stellung
sind. Man hat beobachtet, dass bei lebhaften Diarrhöen der Husten-
reiz vermindert wird und selbst vorher quälender Husten auffallend nach-
lässt. Einen für die Lungenschwindsucht charakteristischen Klang des
Hustens gibt es nicht. Der Husten kann hell, laut, dumpf, heiser und
klanglos sein, die Beschaffenheit des Larynx und der Stimmbänder bestimmt
die Klangfarbe.
Der Auswurf der Lungenschwindsüchtigen variirt bei den einzelnen
Kranken und in den verschiedenen Stadien der Erkrankung ausserordentlich.
Während manche Kranken die ganze Zeit hindurch auffallend wenig Auswurf
haben, werfen andere in 24 Stunden 100 bis 500 ccm und noch weit mehr
.TUBERCULOSIS PULMONUM. 741
aus. Im Anfang der Erkrankung ist das Sputum zäh, glasig, schleimig und
durchsichtig, es unterscheidet sich in nichts von dem Sputum crudum des
einfachen Bronchialkatarrhes. Mitunter aber finden sich sclion frühzeitig, oft
erst im weiteren Verlaufe in den Sputis w eissgraue, undurchsichtige
Streifen und Körnchen, welche man gewöhnlich erst bei durchfallendem
Lichte sieht. Die Körnchen senken sich oft im Wasser zu Boden, während
die Streifen, scharf begrenzt und gelblich, mitunter sich verästelnd, gabel-
förmig, in der übrigen, gelblichen, zähen Sputummasse eingeschlossen sind;
mikroskopisch bestehen solche Stellen aus verfetteten Zellen, Fettkörnchen
und amorphen Massen. Allmälig nun treten eitrige Beimischungen
zu dem Sputum hinzu, so dass das Sputum bald schleimig-eitrig, bald vor-
wiegend eitrig wird; die Farbe wird gelblich, gelblich-grün oder gelblich-
grau; die Auswurfsmasse ist dann oft schaumig, schwimmt auf oder in dem
Wasser, indem lange Schleimfäden von ihr nach abwärts im Spuckglase ziehen,
an dessen Boden eine formlose Schicht mehr oder weniger reichlich sich
ansammelt. Je eitriger das Sputum wird, um so mehr fliesst der Auswurf
zu einer gallertigen Masse zusammen. Wenn der Zerfall in der Lunge fort-
schreitet und Cavernen sich bilden, werden die Sputa compact geballt, rund-
lich, gelblich, graugrünlich; diese Klumpen haben eine unebene Oberfläche,
sie sind leicht zottig, wie angenagt; ihre Peripherie sieht wie eingerollte
Wolle aus (Koranyi); sie sinken im Wasser unter, rollen auf dem Boden des
Gefässes, oder hängen an einem Schleimfaden, so dass sie im Wasser pendeln.
Diese Sputa globosa enthalten keine oder nur ganz wenig Luft und weil
sie deshalb im Wasser zu Boden sinken, nennt man sie Sputa petentia
fundum. Solche Auswurfsarten platten sich im trockenen Spuckglase zu
rundlichen, münzenförmigen Figuren ab und führen daher auch den Namen
Sputum rotundum oder nummulosum oder nummuläre. Die Bil-
dungsstätte solchen geballten und münzenförmigen Auswurfes ist die Ca-
verne, in welcher das Sputum längere Zeit verharren und die Höhlung aus-
füllen kann, ohne dass Luft durch dieselbe streicht und sich mit ihm vermischt.
Wiederholt sind in solchen Auswurfsarten härtere, kalk- oder mörtelartige
Concremente gefunden worden, die Lungensteine, welche wir schon bei
der pathologischen Anatomie erwähnt haben; sie stammen nicht immer aus der
Lunge selbst ab, sondern die Concremente können ihren Ursprung in ver-
kalkten Bronchialdrüsen haben, welche durch Druck die Bronchial-
wand perforirten und sich dem Auswurf zugesellten. Bei einzelnen Schwind-
süchtigen wiederholt sich das Aushusten kalkartiger Concremente mehrfach,
so dass man von einer Phthisis calculosa spricht.
Gegen das Ende der Erkrankung, wenn grössere Eitermassen in den
Cavernen stagniren, weil die zunehmende Muskelschwäche die Expectoration
behindert, entsteht gerne eine Zersetzung und Verjauchung des Ca-
verneninhaltes; das Sputum wird übelriechend, säuerlich, mehr schmutzig-
grünlich, es kann schmutziggrau, selbst schwärzlich werden, wenn Lungen-
pigment aus der Cavernenwand, auf welche der zersetzte Caverneninhalt ätzend
und nagend einwirkt, sich dem Eiter beimischt.
Die Menge des Sputum wird wesentlich beeinflusst durch seröse Bei-
mischungen, welche das Sputum erheblich verdünnen, häufig macht der
Mundspeichel den Auswurf flüssiger und heller.
Von grosser Bedeutung ist die Beimischung von Blut zum Sputum;
bald handelt es sich um eine blutige Färbung des Auswurfes, bald um reines
Blut im Auswurf. Blutige, strichförmige Streifen oder Pünktchen
können sich jedem Sputum zugesellen und kommen nach jedem angestrengten
Husten vor, so dass sie im Allgemeinen keine Bedeutung haben, sie können
aber die Vorläufer grösserer Lungenblutungen sein. Relativ häufig und für
Cavernenbildung charakteristisch ist ein eitriges, innig mit Blut
742 TUBERCULOSIS PULMONUM.
gemischtes Sputum, welches in den Cavernen durch die Mischung des
eitrigen Secretes mit kleinen capillären Blutungen entsteht. Das oft geballte
Sputum erhält dadurch eine schmierige, braunröthliche, chokoladeartige Fär-
bung, welche stets von übler Vorbedeutung ist und in der Regel nur in den
Endstadien der Lungenphthisis gesehen wird. Zuweilen sieht man im Verlaufe
der Tuberculosis Sputa, welche genau so röthlich und rostfarben aussehen,
wie das Sputum der croupösen Pneumonia; sie stammen auch bei der Phthisis
aus pneumonischen Processen ab; solche Blutbeimischungen können tage- und
wochenlang sich wiederholen. Am allerhäufigsten ist aber die Entleerung von
reinem Blut, welches aus der Lunge stammt; man bezeichnet solche Blu-
tungen aus der Lunge als Haemoptysis, Haemoptoe und Pneumo-
rhagie, je nach der Menge des Blutes, welches ausgehustet wird.
Die Menge des ausgehusteten Blutes ist ungemein verschieden;
sie kann bald einen Theelöffel voll betragen, bald einen Mund voll, sie kann
aber auch viele hundert Cubiccm. ausmachen, das Litermaass erreichen und
übertreffen. Die Anfälle von Blutung können rasch auf einander folgen, selbst-
verständlich nicht in Literquantitäten, und tagelang hintereinander mehrfach
sich wiederholen, sie können auch solche Quantitäten entleeren, dass der Tod
unmittelbar eintritt; im Allgemeinen ist der plötzliche Tod in Folge einer
Hämoptoe selten, meistens handelt es sich dabei auch gar nicht um einen
Verblutungstod, sondern darum, dass durch die Verlegung der Athmungs-
wege mit Blut der Erstickungstod dem Leben ein Ende macht. Das Blut
nun, welches als Hämoptoe entleert wird, ist hellroth, mehr oder weniger
mit Luftblasen untermischt, schaumig und enthält auch nach der erfolgten
Gerinnung noch reichlich Luftblasen; es wird mit Hustenstössen entleert und
kann bei grösserer Quantität durch Nase und Mund ausgeschleudert werden,
Die heftigen Hustenstösse können auch Brechbewegung auslösen, so dass
die Hämoptoe das Bild einer Hämatemesis vortäuschen kann; der Brechact
kann auch dadurch ausgelöst werden, dass grössere Blutmengen verschluckt
werden. Es können dadurch thatsächlich Schwierigkeiten für die Beurtheilung
entstehen, zumal wenn der Arzt nicht selbst den Vorgang sehen konnte. Die
Unterscheidung ist aber im Allgemeinen leicht, weil von dem in die Luft-
wege ergossenen Blute stets ein Theil zurückbleibt, so dass noch mehrere Tage
lang nach dem Blutsturz ein Sputum entleert wird, welches zunächst noch
hellroth gefärbt ist, mehr und mehr dunkler wird und schliesslich einen
schmutzig-braunrothen Farbenton annimmt. Bei der Hämatemesis kommt
dergleichen nicht vor; es ist die Blutung zunächst mit dem Brechact abgethan,
aufweichen intensiv dunkle, theerfarbige, schwarze Stuhlentleerungen folgen. Das
aus dem Magen herstammende Blut ist gewöhnlich dunkel, nicht schaumig,
oft mit Speiseresten untermischt, es wird in grösseren Klumpen reichlich
entleert, seine Reaction kann in Folge der Beimischung des saueren Magen-
saftes neutral und selbst sauer sein, während das hellrothe Lungenblut stets
alkalisch reagirt und häufig Beimischungen von anderen Sputumbestandtheilen
enthält.
Der Hämoptoe gehen mitunter Zeichen von Herzerregung, von Be-
klemmung, Wallung nach dem Kopfe zu voraus, manchmal auch ein süss-
licher Geschmack; sehr viele Patienten werden aber ohne jedwede Vorboten von
der Hämoptoe überrascht. Als Veranlassungen eines Blutsturzes kennen
wir körperliche Anstrengungen, starke Hustenparoxysmen, psychische Erre-
gungen, Pressen bei der Stuhlentleerung, kaltes Bad, Vorgänge, durch welche
der Blutdruck im kleinen Kreislauf durch die Steigerung der Herzkraft
plötzlich erhöht wird.
Die Frauen leiden öfter an Hämoptoe als die Männer; man spricht bei
Frauen auch von einer Menstruatio vicaria, weil man beobachtet hat,
dass bei Frauen die Hämoptoe sich einstellt zu der Zeit, zu welcher die
TUBERCULOSIS PULMONUM. 743
Menstruation hätte erfolgen sollen; gibt man diese Möglichkeit zu, so muss
man als unerlässlich voraussetzen, dass die Lungen bereits tuberculös erkrankt
waren ; bei ganz gesunden Lungen kommt eine Menstruatio vicaria sicher nicht
vor; dasselbe gilt auch von denjenigen Lungenblutungen, welche einen Zu-
sammenhang mit Hämorrhoidalblutungen haben sollen.
Die Haemoptoe kann zu jeder Zeit im Verlauf der Lungenphthisis
auftreten, sie kann überhaupt das allererste Symptom der Lungentubercn-
losis sein und beruht stets darauf, dass irgend ein kleines Lungengefäss,
meistens ein Aestchen der Lungenarterie von der tuberculösen Neubildung
durchsetzt und arrodirt wird; in solchen, oft ganz unbedeutenden Initial-
blutungen lassen sich vielfach schon Tuberkelbacillen nachweisen, ein un-
umstüsslicher Beweis, dass die initiale Haemoptoe, auch wenn jedes Zeichen
einer Lungenerkrankung vorher fehlte, nicht die Ursache, sondern die
Folge der Lungentuberc ulosis ist; es ist anderseits durchaus nicht noth-
wendig, dass nach einer selbst grossen, initialen Haemoptoe sich nun die Lungen-
schwindsuchtentwickelt; Jahrelangkönnen solche Leute sich der besten Gesundheit
erfreuen, bis wirkliche Symptome der Lungentuberculosis sich breit machen;
es ist auch bekannt, dass Leute, welche in der Jugend einen Blutsturz schein-
bar in voller Gesundheit erlitten haben, selbst bis in das höchste Greisenalter
hinein durchaus frei von Erscheinungen einer Lungenkrankheit bleiben können.
Bei einer ausgesprochenen Phthisis herrscht kein Zweifel darüber,
dass die grösseren Lungenblutungen aus Cavernen kommen, in deren
Wand die Arterienäste sich aneurysmatisch ausbuchten. Auf den Verlauf der
Phthisis hat die Lungenblutung im Allgemeinen wenig Einfluss; wohl können
rasch aufeinander folgende Blutungen zur Erschöpfung der Patienten bei-
tragen, sie pflegen sich aber im Verlauf der chronischen Lungenphthisis oft
viele Jahre hindurch wiederholt einzustellen, ohne dass solche Patienten mit
Cavernenbildung von der Blutung angegriffen werden, sie pflegen später selbst
auf die Blutung keinen Werth mehr zu legen, nachdem sie bei der wiederholt
aufgetretenen Haemoptoe die anfänglich sehr starke gemüthliche Depression
überwunden haben und sich mit der charakteristischen Sorglosigkeit der
Phthisiker auch über diese Zwischenfälle hinwegsetzen; gelegentlich fühlen
solche chronische Lungentuberculöse durch die Haemoptysis ein Gefühl der
Erleichterung, indem die Beklemmung nachlässt. Häufig ist aber auch die
Haemoptoe das Zeichen, dass der Process sich rasch weiter entwickelt, indem
die Berstung eines Blutgefässes auch in dem Auftreten frischer
Processein der Nachbarschaft des Gelasses liegen kann, stets jedoch
bleibt die Haemoptoe eine ernste Erscheinung.
Was die Häufigkeit der Hämoptoe anlangt, so habe ich bei 1000 Phthi-
sikern besserer Stände Hämoptoe zu irgend einer Zeit 373 mal gefunden, und
zwar war die Blutung mehr als einmal bei 198 Patienten aufgetreten, unter
diesen 373 Blutungen war nach der Anamnese 38 mal der Blutsturz das erste
Symptom der Erkrankung überhaupt.
Die Zahl der Blut stürze ist nicht so häufig im Kahmen der Lungen-
tuberculosis, als man eigentlich bei den alltäglichen Zerstörungen in der Lunge
erwarten sollte, weil der Inhalt des ergriffenen Gefässes meistens thrombosirt
wird, ehe die Eröftnung stattfindet.
Die mikroskopische Untersuchung des Sputum*) bei Lungentuber-
culosis hat als wichtigstes Object den Nachweis der Tuberkelbacillen und
elastischen Fasern im Auswurf.
Was zunächst die Untersuchung auf Tuberkelbacillen anlangt, so verfährt
man am besten auf folgende Weise, welche von der Thatsache ausgeht, dass die Tuberkel-
bacillen Anilinfarbstoff in alkalischer Lösun;' aufnehmen und denselben auf Säure und
*) Vergl. Artikel ^Sputum — Sputmmtntersuchimg^ mit den zugehörigen Abbildun-
gen der wichtigsten Sputumbestandttheile in ds. Bd. pag. 523.
744 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Alkoholzusatz nicht abgeben. Aus dem Auswurfe hebt man zum Zwecke der Untersuchung
mit einem Platindrähtchen oder einer Präparirnadel, welche vorher sorgfältigst durch Aus-
glühen gereinigt sind, ein stecknadelkopfgrosses Stückchen heraus; man fahndet hierbei auf
die dicklichen, eitrigen, linsenförmigen Bröckelchen, während der Schleim des Auswurfes
weniger zur Untersuchung geeignet ist, weil er aus den Luftröhren stammen kann und arm
an Tuberkelbacillen zu sein pflegt, dagegen die eitrigen Bröckelchen meist aus Cavernen
stammend, vorwiegend abgestorbene, nekrotische Gewebsfetzen der Cavernenwandung ent-
halten und kaum jemals die Tuberkelbacillen vermissen lassen.
Man bringt nun dieses kleine, stecknadelkopfgrosse Partikelchen auf ein gründlich gerei-
nigtes Deckgläschen, auf welchem man das Sputumtheilchen möglichst gleichmässig mit der
Präpariernadel oder dem Platindrahte ausbreitet. Darauflegt man ein zweites, ebenfalls gut ge-
reinigtes Deckgläschen auf die mit Sputum beschickte Seite des ersten Deckgläschens und drückt
die beiden Deckgläschen vorsichtig auf einander, so dass zwischen ihnen die dünne Sputumschicht
noch feiner und gleichmässiger vertheilt wird. Dann zieht man seitlich die beiden Gläschen von
einander, lässt sie zunächst an der Luft eine Minute lang trocknen und zieht drei- bis
fünfmal jedes Deckgläschen einzeln, die bedeckte Seite nach oben, langsam, so schnell etwa,
als ob man Brod schneidet, durch eine nicht russende Spiritus-Flamme oder die Gas-
flamme eines BuNSEN'schen Brenners.
Das Sputumtheilchen ist nun hinreichend für die Färbung fixirt; die Färbe-
flüssigkeit stellt man sich in der Weise her, dass man zunächst Änüinol 2,0 mit
lOO'O g Aqua destillata tüchtig schüttelt und das entstehende trübe, emulsive Gemisch
durch ein feuchtes Filter filtiirt. Das klare Filtrat nennt man Anilinwasser. Hat
man keine Maasse bei der Hand, so kann man sich das Anilinwasser in der Weise
herstellen, dass man in ein durchaus sauberes Eeagensgläschen so viel Anilinöl ein-
tropft, bis der kugelige Boden des Reagenscylinders ausgefüllt ist, fügt dann destillirtes
Wasser bis % des Gläschens hinzu, schüttelt und filtrirt in der obigen Weise. Das Anilin-
wasser dient zur Herstellung der Färbelösung, indem man entweder 50 g Anilinwasser be-
nutzt zur Lösung von 1 g Methylviolett, Fuchsin oder Gentianaviolett, oder indem man zum
Anilinwasser soviel einer concentrirten alkoholischen Lösung eines der erwähnten Farb-
stoffe hinzufügt, bis eine leichte Trübung des Gemisches auftritt, welche aber nach einigen
Minuten wieder verschwindet. Im Ganzen empfiehlt es sich, die Farblösung möglichst
frisch herzustellen, da bei längerem Stehen dieselbe sich ändert. Auch das Anilinöl ver-
ändert sich an dem Lichte und nimmt eine braune Färbung an, während es eigentlich fast
wasserhell ist; man muss daher das Anilinöl in einer Schachtel aufbewahren und vor dem
Lichte schützen. Ich pflege in der Weise zu verfahren, dass ich frisch bereitetes Anilin-
wasser sofort in ein Uhrschälchen bringe und 10 Tropfen einer concentrirten Fuchsin- oder
Gentianaviolettlösung hinzusetze. In diese Farblösung kommen nun die beiden Deck-
gläschen und zwar so, dass sie mit der bedeckten Seite auf der Farbstofflösung schwimmen.
Mit einer Glasschale deckt man das Uhrschälchen zu, um die Verunreinigung der Farb-
lösung durch Staub zu vermeiden, und lässt die Deckgläschen 24 Stunden in der Lösung.
Will man aus irgendwelchen Gründen die Untersuchung auf Tuberkelbacillen rasch beendigen,
so nimmt man das Uhrschälchen mit der Farblösung und den auf ihr schwimmenden Deck-
gläschen, erhitzt es so lange über einer Flamme, bis die Farblösung zu dampfen oder Blasen zu
bilden beginnt und lässt die Deckgläschen noch 10 — 15 Minuten in der Flüssigkeit. Diese Schnell-
methode hat keine Vorzüge vor der langsamen, man muss vielmehr darauf hinweisen, dass
die Färbung um so sicherer gelingt, je länger die Deckgläschen in der Lösung liegen; wenn
es sich um eine suspecte Tuberculosis pulmonum handelt, bei welcher im günstigen Falle nur
vereinzelte Tuberkelbacillen zu erwarten sind, so ziehe ich dies langsamere Färbeverfahren
seiner grösseren Sicherheit wegen vor. Nachdem nun die Deckgläschen hinreichend gefärbt
sind, nimmt man sie aus der Farblösung heraus, hält sie mehrere Secunden in ein Uhr-
schälchen mit einer Salpetersäureverdünnung (1 Theil Salpetersäure auf 3 Theile Wasser
oder reiner absoluter Alkohol mit einem Tropfen Salpetersäure) , bis die Präparate entfärbt
oder nur ganz matt gefärbt erscheinen; darauf spült man sie rasch in einer kleinen Schaale
mit destillirtem Wasser ab und lässt sie an der Luft trocknen. Die in Nelkenöl oder Ca-
nadabalsam eingebetteten Präparate kann man sofort mikroskopisch untersuchen. Nahm
man zur Färbung Fuchsin, so erscheinen die Tuberkelbacillen eklatant roth gefärbt,
während alle anderen Bestandtheile des Sputum ihren Farbstoff abgegeben haben; bei
Anwendung von Gentianaviolett haben die Tuberkelbacillen eine sehr deutliche blaue Farbe
angenommen. Da aber immerhin die Möglichkeit vorliegt, dass in bacillenarmen Präparaten
die vereinzelten Exemplare der Tuberkelbacillen dem Auge des Untersuchers entgehen, so
thut man gut, die anderen morphotischen. entfärbten Bestandtheile des Präparates auch
noch zu färben und zwar in der Weise, dass man zu ihrer Färbung einen anderen Anilin-
farbstoff nimmt, welcher sich von dem Farbstoff' der Tuberkelbacillen möglichst abhebt.
Diese Doppelfärbung gibt stets sehr markante Bilder und empfiehlt sich für alle
Untersuchungen des Sputum auf Tuberkelbacillen. Die Ausführung ist eine sehr einfache:
nachdem die in obiger Weise behandelten Deckgläschen in der Salpetersäuremischung ge-
wesen und mit Wasser abgespült sind, legt man sie noch eine Minute lang mit der Prä-
paratseite nach tinten auf eine einfache l^/oige wässerige Lösung von Malachitgrün oder
Bismarckbraun oder einen anderen Anilinstoff'; die Präparate sind dann deutlich gefärbt.
Tuberculosis pulmonum. 745
man hebt sie aus der Lösung heraus, spült sie in destilhrtem Wasser durch Hin- und
Herbewegen in ihm ab und trocknet sie, indem man beide Seiten des Deckgläschens
sanft auf reines Fliesspapier legt, um das Wasser zu entfernen, an der Luft, oder
zieht sie mit der bedeckten Seite nach oben durch eine nicht russende Gas- oder
Spiritusflamme. Das Präparat ist hiermit fertig und wird ebenfalls in einen Tropfen
Canadabalsam oder Nelkenöl auf dem Objectträger eingebettet, der mikroskopischen Unter-
suchung mit Oelimmersion und ÄBB^'scher Beleuchtung unterworfen. Hat man die Tu-
berkelbacillen mit Fuchsin roth gefärbt, so ist das Malachitgrün für die Färbung der ande-
ren Sputumbestandtheile und anderen Pilze sehr zu empfehlen, weil auf dem grünen Boden
die rothen Tuberkelbacillen sich sehr scharf abheben; sind mit Gentina violett oder Vesuvin
die Tuberkelbacillen blau gefärbt, so treten sie um so deutlicher hervor, wenn man zur
Doppelfärbung Bismarkbraun benutzt. Auch ohne Färbung sind die Tuberkelbacillen sicht-
bar, jedoch kann man sie nicht mit Sicherheit von anderen Bacillen unterscheiden. Beson-
ders geeignet zur Untersuchung auf Tuberkelbacillen ist die Färbung mit Carbolfuchsin;
an Stelle der Anilinwasserfarblösung nimmt man 90 ccm einer öligen Carbolsäurelösung
vereint mit 10 ccm concentrirter alkoholischer Fuchsinlösung und verfährt in derselben
Weise, welche oben ausgeführt worden ist; zur Färbung der Grundsubstanz nimmt man
wässerige Methylenblaulösung. Sind in einem Sputum nur wenige Tuberkelbacillen muth-
maasslich vorhanden, so pflege ich mir die Auswahl des zur Untersuchung geeigneten
brauchbaren Sputumstückchens zu erleichtern, indem ich mit Natronlauge das Sputum
auflöse, centifugire oder sich absetzen lasse und aus demBodensatze das Präparat herstelle. Im
mikroskopischen Bilde stellen die Tuberkelbacillen bald gerade, bald mehr oder minder winkelig
gekrümmte Stäbchen dar, von äusserst verschiedener Länge (1"5 p. — bis 3"5 [j), was etwa
dem dritten Theil oder der Hälfte eines rothen Blutkörperchens entspricht; sie liegen ein-
zeln, meist aber in Gruppen beisammen. Der Dickendurchmesser der Tuberkelbacillen,
welche stets unbeweglich sind, ist sehr gering.
Innerhalb des gefärbten Tuberkelbacillus sieht man mehrere eiförmige, helle, kleine
Kügelchen, 2 bis 6 an Zahl, welche den Anilinfarbstoff nicht angenommen haben; es sind
diese kleinen Kügelchen die Sporen der Tuberkelbacillen, öfters sind die Sporen so zahl-
reich, dass sie das ganze Innere des Tuberkelbacillus ausfüllen.
Das Auffinden von Tuberkelbacillen im Sputum liefert
den unanfechtbaren Beweis, dass es sich um eine Tuberculosis
handelt; keine andere Erkrankung liefert Tuberkelbacillen. Beweist aber
die Anwesenheit von Tuberkelbacillen die Tuberculosis positiv, so darf man
anderseits nicht schliessen, dass da keine Tuberculosis pulmonum vorliegt,
wo man die specilischen Pilze nicht findet; denn zweifellos kommen Fälle
vor, in welchen man trotz grösster technischer Gewandtheit und eklatanter
Lungenschwindsucht doch keine Tuberkelbacillen hndet. Man muss mit dieser
Möglichkeit rechnen, sie ist jedoch sehr selten, und wiederholte Unter-
suchungen zu anderen Zeiten liefern meistens den gewünschten Nachweis.
Die Tuberkelbacillen imAuswurfe begleiten die Lungentuber-
culosis in allen ihren Stadien; im Beginne der Schwindsucht sind sie
oft die einzige Handhabe, welche die Diagnosis ermöglicht, wenn die sonstige
physikalische Untersuchung des Patienten nur negative Befunde ergibt.
Aber nicht nur die Tuberkelbacillen finden sich in den frühesten Stadien
der Phthisis, sondern es gelingtauch häufig schon der Nachweis von elasti-
schen Fasern im Sputum, wenn sonstige Symptome noch fehlen. Im
Allgemeinen finden sich die elastischen Fasern am reichlichsten, wenn die
Zerstörung des Lungengewebes rasch voranschreitet; sie beweisen allerdings
nicht die tuberculöse Erkrankung unmittelbar, sondern gestatten nur den
Schluss auf einen destructiven Process in den Lungen; in der überwiegend
grossen Mehrzahl aller destructiven Vorgänge in den Lungen handelt es sich
jedoch um die Tuberculosis, und desshalb ist mit geringen Ausnahmen durch
den positiven Nachweis der elastischen Fasern die bacilläre Lungenphthisis
bewiesen. Findet man keine elastischen Fasern in dem Auswurf, so darf man
niemals den Schluss ziehen, dass keine Lungentuberculosis vorliege, während
der positive Nachweis mit geringer Einschränkung eine sichere Folgerung erlaubt.
Die elastischen Fasern im Auswurf sucht man am sichersten in jenen dicklichen,
kleinen, linsenförmigen Theilchen, in welchen man, wie bereits erwähnt, die Tuber-
kelbacillen am leichtesten auffindet und welche mit blossem Auge leicht kenntlich
sind. Bringt man ein solches Partikelchen auf den Objectträger und zerdrückt
746 TUBERCULOSIS PULMONUM.
es vorsiclitig unter dem aufgelegten Deckgläsclien, so treten im mikroskopischen
Bilde die geschwungenen, scharf contourirten elastischen Fasern deutlich aus
dem umgebenden körnigen Detritus des Sputum hervor; die elastischen Fasern
theilen sich vielfach und sind häufig noch alveolär angeordnet. Die alveoläre
Anordnung beweist die Abstammung aus den Alveolen. Das mikroskopische
Bild gewinnt sehr an Deutlichkeit, wenn man dem Präparate Kalilauge hin-
zusetzt, weil die zelligen Bestandtheile des Auswurfes verschwinden und die
elastischen Fasern um so deutlicher hervortreten. Sind nur wenige elastische
Fasern im Auswurfe vorhanden, so erleichtert man das Auffinden dadurch,
dass man dem Sputum in gleicher Menge 8 — lO^o Kali- oder Natronlauge
zusetzt und unter stetigem Aufrühren bis zum Aufkochen erhitzt; darauf ver-
dünnt man diese Autkochung mit dem 3 — 4fachen Volumen destillirten Wassers,
giesst das Ganze in ein Spitzglas, in welchen man es 24 Stunden stehen lässt.
In dem Bodensatze findet man sehr leicht dann die elastischen Fasern. Es
genügt auch zur Untersuchung, wenn man die zu untersuchende Auswurfs-
menge in einer grossen Flasche mit reichlichem Zusatz von schwacher Natron-
lauge schüttelt, nach dem Absetzen die obenstehende Flüssigkeit abgiesst
darauf einmal oder mehrmals neue, dünne Natronlauge zusetzt und wiederum,
schüttelt und endlich den in einem Spitzglase sich absetzenden Bodensatz auf
elastische Fasern untersucht.
Die anderen mikroskopischen Bestandtheile des Sputum stehen an Werth
weit hinter den Tuberkelbacillen und den elastischen Fasern zurück. Man
findet nämlich weiterhin im Auswurfe weisse Blutzellen in grosser Anzahl,
häufig zwischen zähen, fadenziehenden Massen eingebettet; öfters sieht man
sehr grosse, stark granulirte Exemplare, welche in ihrem Innern Fetttröpfchen
enthalten, gelegentlich auch Pigmentkörnchen bergen, welche Kohlenpartikelchen
oder auch Hämatoidinklümpchen vorstellen. Je reichlicher die Schleimhaut
der Bronchien sich an der Sputumbildung betheiligt, um so zahlreicher sind
die weissen Blutzellen; das eitrige Sputum besteht fast nur aus weissen Blut-
körperchen. Neben den weissen finden sich auch stets rothe Blutkörper-
chen in geringer Zahl vor; gesellt sich Blut dem Auswurfe bei, so sind
naturgemäss die rothen Blutzellen reichlich vorhanden und meistens im
mikroskopischen Bilde sehr gut erhalten und intact. Bei geringen Beimi-
schungen von Blut sind sie allerdings öfters als blasse Ringe zu sehen. Bleibt
nach einer Hämoptoe das Blut längere Zeit in den Bronchien stecken, so ver-
schwinden die rothen Blutzellen im Sputum gänzlich, man sieht aber dann
ihre Derivate als Hämatoidincrystalle und Pigmentschollen.
Das Sputum ist weiterhin stets reich an den verschiedensten Arten von
Epithelien. Am wenigsten zahlreich tritt das Pf last er epithel auf,
welches der Mundhöhle oder den wahren Stimmbändern entstammt. Noch
seltener findet man Flimmerepithelien, welche entweder von der Nase
her sich dem Auswurfe zugesellen oder von der Trachea und den Bronchien
sich beimischen; diese Flimmerepithelien sind meistens ihrer Cilien beraubt,
so dass man nur selten die sich lebhaft bewegenden Cilien an diesen Zellen
beobachtet. Eine grössere Bedeutung beanspruchen im Sputum die Alveolar-
epithelien; sie stellen sich als elliptische, rundliche oder rundlich-eckige
Zellen dar, welche meistens mit einem Zellkerne versehen sind; ihr Proto-
plasma ist fein granulirt. Der Zellkern wird häufig erst auf Essigsäure-
zusatz hin sichtbar. Die Alveolarepithelien enthalten öfters grössere oder
kleinere Pigmentpartikelchen, welche aus Eisenstaub, Kohlen-
theilchen oder Blutfarbstoff bestehen. Die Unterscheidung der
einzelnen Pigmentarten ist nicht schwer; der Eisenstaub nimmt bei
Zusatz von Schwefelammonium eine schwarzgrüne Färbung an und wird durch
gelbes Blutlaugensalz und Salzsäure blau gefärbt; die Kohlenpartikelchen sind
gegen sämmtliche zugesetzte Pteagentien äusserst resistent. Diese Pigment-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 747
beimischungen treten zurück hinter den Veränderungen, welche die Alveolar-
epithelzelle selbst durchmacht. Man sieht nämlich in den Epithelien ein
oder mehrere Fettkörperchen, welche durch ihr starkes Lichtbrechungs-
vermögen leicht erkennbar sind. Diese fettige Degeneration ist sehr häutig
so weit vorgeschritten, dass die ganze Zelle völlig aus kleineren und grösseren
Fetttröpl'chen besteht; man tindet aber auch kleine Fettkörnchen und grosse
Fetttröpi'chen frei in dem Sputum liegen und schliesst mit Recht, dass sie
aus zerfallenen, fettig degenerirten Alveolarepithelien herrühren. Diese Fett-
tropfen bezeichnet man als Myelintröpfchen, weil sie grosse Aehnlichkeit
mit denjenigen Tropfen haben, welche man aus zerdrücktem Nervenmarke
erhält. Die Alveolarepithelien können in ihren verschiedenen Formen so
zahlreich sein, dass sie den grössten Theil des Auswurfes ausmachen; man
kann sie durch Zusatz von Essigsäure deutlicher machen, indem dann der für
die Epithelien charakteristische Kern mit dem Nucleolus deutlich zu Tage
tritt. Schöne Bilder erhält man zu dem nämlichen Zwecke, wenn man das
mikroskopische Präparat des Sputum mit einer wässerigen Lösung von Me-
thylenblau färbt. Durch Ueberosmiumsäure werden die Fettkörnchen und
Myelintropfen charakteristisch geschwärzt; es kommt nicht selten vor, dass das
ganze mikroskopische Bild fast nur aus solchen freien Zerfallsproducten der
Alveolarepithelien besteht.
Gewebsfetzen treten nicht häufig in dem Sputum der Tuberculosen
auf; ich habe einen Fall früher beschrieben, in welchem ein grösseres,
makroskopisch sichtbares Stückchen Lunge ausgehustet wurde, in dessen
Gewebe sich Tuberkelbacillen fanden. Solche Ereignisse sind jedenfalls im
Verlaufe der Lungentuberculosis sehr selten. Findet m.an im Sputum
Lungensteine, so gelingt es durch Behandeln mit Salzsäure das alveoläre
Gerüst der Lungen wieder herzustellen, wenn solche Steine verkalktes Lungen-
gewebe darstellen und nicht aus Bronchialdrüsen hervorgegangen sind.
Im Sputum findet sich endlich eine verschieden grosse Zahl der mannig-
faltigsten Pilze, theils pathogener, theils nicht pathogener Natur.
Ich stütze mich hier auf meine eigenen Untersuchungen. Unter den nicht
pathogenen Pilzen treten uns die Schimmelpilze entgegen, sie sind viel
häufiger in dem Sputum, als man für gewöhnlich vermuthet und gesellen
sich zu den Zerfallsvorgängen mit Vorliebe. Bei Tuberculose ist Soor ein
häufiger Befund; zwar ist die Mundhöhle der Hauptsitz des Soorpilzes, jedoch
können sich Colonien im Rachen, in dem Larynx, und, wie ich gefunden
habe, selbst in der Trachea und dem Hauptbronchus ansiedeln. Bei ulceröser
Zerstörung der Lunge tritt die Sarcina pulmonis, welche meist kleiner
ist, als die Sarcina ventriculi, auf. Unter den verschiedenen Mikrokokken
und Bacillen, welche theils aus der Mundhöhle, theils aus den Bronchien
und den Cavernen stammen und noch nicht hinreichend untersucht sind,
hebe ich als pathogen e Mikroorganismen hervor: Streptokokken, Staphylo-
kokken und Diplokokken.
Sicherlich spielen diese neben den Tuberkelbacillen in dem Sputum
und dem Caverneninhalt in zahllosen, doch wechselnden Mengen auftretenden
Mikroorganismen eine grosse Rolle in dem Verlaufe der Tuberculosis; sie
dringen in das Lungengewebe ein, zersetzen den Caverneninhalt, verursachen
Fieberbewegungen und compliciren den einfachen Verlauf der tuberculösen
Infection.
Die chemische Untersuchung des Auswurf es Lungenschwindsüchtiger bietet
nichts Charakteristisches dar; ich habe eine grosse Anzahl solcher Sputa in diesem Sinne
untersucht und zunächst einen, je nach der Art des Sputum wechselnden Reichthum an
Eiweisskörpern gefunden. Als der vornehmste^Repräsentant derselben tritt das Serum-
albumin auf, daneben sehr reichhch Mucin und Niiclein; wird das Sputum reich an
Eiterzellen, so gesellt sich auch Pepton hinzu. Unter den anorganischen Bestand-
theilen finden sich Chlornatrium und Chlormagnesium, phosphorsaures
Natrium, phosphorsaurer Kalk und phosphorsaure Magnesia, Schwefel-
748
TUBERCULOSIS PULMONUM.
saures Natrium und schwefelsaurer Kalk; nach. Blutungen begegnen uns längere
Zeit Eisenoxydsalze. Am wichtigsten ist für uns die Bestimmung des Stickstoff-
gehaltes des Auswurfes in 24 Stunden, weil man auf diese Weise den Verlust an Körper-
material durch den Auswurf berechnen kann. Auch hier lässt sich kein Werth anführen,
welcher für alle Fälle passt, es wechselt die Menge des Auswurfes in 24 Stunden, es
wechselt der Gehalt an Wasser und festen Bestandtheilen von Tag zu Tag, auch bei den-
selben Patienten. Aus einer grossen Anzahl Stickstoffbestimmungen des Sputum bei
24 Phthisikern in den verschiedensten Stadien fand ich als geringsten Procentsatz 0-187
und als höchsten 0899 Stickstoff, was einem Gehalt von 1-1687 und 56187 ß'Eiweiss
in 100 g Sputum entspricht. Rechnet man nun, dass im Durchschnitt der Tuberculöse
100—300 g Sputum innerhalb 24 Stunden auswirft, so ergibt sich, dass der Eiweissverlust
auf dem Wege der Expectoration am einzelnen Tage ein geringer ist; man kann jedoch
nicht in Abrede stellen, dass der Eiweissverlust im Sputum dadurch von Bedeutung für
die Abzehrung des Kranken wird, dass er sich über Wochen und Monate erstreckt und
bei der verminderten Nahrungsaufnahme der meisten Schwindsüchtigen immerhin in die
Wagschale fällt.
Der Gehalt der einzelnen Sputa an Wasser und festen Bestandtheilen
bewegt sich bei den verschiedenen Patienten wechselnd. In 10 Beobachtungen fand ich
als Werth:
Sputum.
Wasser:
feste Be-
standtheile :
I.
95.63
4.37
IL
95.75
4.25
m.
94.30
5.70
IV.
94.87
5.13
V.
95.52
4.48
VI.
93.61
6.39
vn.
93.15
6.85
vm.
95.20
4.80
IX.
94.17
5.83
X.
92.27
7.63
die festen Bestandtheile bestehen aus:
organische
Bestandtheile
anorganische
Bestandtheile
3.62
0.75
3.70
0.55
4.92
0.78
4.17
0.96
3 92
0.56
5.86
0.53
5.99
0.86
3.96
0.84
4.98
0.85
6.74
0.89
Die physikalische Untersuchung der erkrankten Person
selbst ergibt ein ungemein reiches klinisches Bild.
Die Adspection zeigt bei vielen, aber nicht bei allen Kranken, das
ausgesprochene Bild des Habitus phthisicus; sie erweckt den Gesammt-
eindruck, welchen man als schwindsüchtiges Aussehen bezeichnet. Man
versteht unter Habitus phthisicus eine eigenthümliche Beschajffenheit
des Körpers, w^elche die Folge einer mangelhaften Ernährung und Entwick-
lung zeigt; die Haut derartiger Personen ist auffallend blass, zart und fett-
arm, die Muskeln sind schwach entwickelt, der Knochenbau ist gracil, der
Hals, lang und schmächtig, führt die Bezeichnung Schwanen- oder Schillerhals.
Das Gesicht ist mager und eingefallen, die Backenknochen springen spitz nach
vorne hervor, die Wangen zeigen eine zarte Röthe. Die Augen sind einge-
sunken und oftmals blau gerändert; sie haben einen eigenthümlichen Glanz
und die Sklera schimmert bläulich-weiss. Derartige Personen sind im allge-
meinen schlank, enggebaut und lang aufgeschossen.
Von besonderem Werthe ist die Inspection des Thorax. Der Brust-
korb ist sehr lang, die Intercostalräume sind sehr breit und tief; der Inser-
tionswinkel der Ptippen an das Sternum ist spitzer als normal. Der Thorax
ist ungemein schmal und flach, der Sternovertebraldurchmesser ist sehr ge-
ring. Das Brustbein ist ebenfalls lang und schmal, das Manubrium sterni ist
mehr als gewöhnlich nach hinten geneigt und bildet an der Insertion des
zweiten Pdppenpaares einen Winkel, den AngulusLudovici. In den unteren
Abschnitten scheint der Thorax relativ weiter, weil die oberen Partien vor-
zugsweise beengt sind. Der ganze Brustkorb hängt schlaff herunter, die
Muskeln sind sehr schlecht entwickelt. Die Supra- und Infraclaviculargruben,
sow'ie das lugulum sind eingesunken, die Schulterblätter stehen mit ihrem
Innern Rande weit ab, so dass man oft die Hand unter sie schieben kann.
TUBERCULOSIS PULMONUM. 749
Dieses flügeiförmige Abstehen der Schulterblätter, auf der mangelhaften Ent-
wicklung der Musculatur, speciell des Serratus anticus beruhend, hat den
Namen 8capulae alatae gezeitigt. Die Schultern sind nach vorne herabgesun-
ken, die Fossae supraspinatae erscheinen abgeflacht. Oft sinkt auch der Kopf
etwas nach vorne, während die Wirbelsäule leicht nach hinten convex zusam-
mengesunken ist. Dieses ganze Thoraxbild fasst man mit dem Namen „phthi-
sischer Thorax" zusammen, man nennt es auch „Thorax paralyücus^"-
weil ein Theil dieses Bildes durch Muskelschwäche bedingt ist. Der para-
lytische Thorax ist auf Druck oft ausserordentlich resistent, selbst bei jugend-
lichen Individuen. Die Rippenknorpel verknöchern frühzeitig; vor allem die
scheidenförmige Verknöcherung des ersten Rippenknorpels und eine abnorme
Kürze desselben fixiren vorzeitig den oberen Thoraxabschnitt, sie hemmen
seine Function und engen ihn ein. Neben diesen allgemeinen Abweichungen
von dem normalen Bau bestehen sehr oft noch Ungleichheiten der beiden
Thoraxhälften, am meisten in den vorderen oberen Brustpartien; gar häufig
ist die Supra- und Infraclaviculargrube der einen Seite mehr vertieft, oft ist
sie überhaupt nur auf einer Seite eingesunken. Dieses Eingesunkensein der
Thoraxwand beruht auf der Schrumpfung des entsprechenden Lungenab-
schnittes.
Die Athmung ist meistens etwas, häufig aber ziemlich stark beschleu-
nigt. Aufiallend ist es aber manchmal, dass trotz grosser Zerstörungen in
den Lungen die Zahl der Athemzüge gar nicht oder nur wenig vermehrt ist;
die Ursache finden wir gerade in der langsamen Entwicklung der tuberculösen
Veränderungen, so dass die athmende Lungenfläche sich dem Luftbedürfnis
des Organismus allmälig anpasst. Häufig ist allerdings diese normale Athmung
nur im Zustande der Ruhe des Patienten zu bemerken, indem, sobald der
Kranke sich bewegt oder eine Erregung erfährt, sofort eine Athembeschleu-
nigung, Athemnoth und selbst Dyspnoe eintritt. Bei Leuten mit phthisischem
Thorax macht sich anderseits schon oft mehrere Jahre, bevor es zu einer Er-
krankung kommt, eine Insufficienz der Lungen bemerkbar; selbst nach
kleinen Anstrengungen, nach raschem Gehen und kurzem Laufe, nach Treppen-
steigen und Tanzen macht sich eine auffallende Kurzathmigkeit bemerkbar,
so dass die Zahl der Athemzüge weit über die Norm emporsteigt. Man findet
bei solchen Leuten eine Verminderung der vitalen Capacität der Lungen,
welche für einen gesunden Mann von 170 cm Körperlänge nach möglichst
tiefer Inspiration 4000 ccm Luft umfasst; bei Frauen ist die vitale Capacität
etwas geringer. Wenn dieses Maximum des Raumwechsels der Lungen eine
Abnahme erfährt, so ist der Thorax von geringer Beweglichkeit, was, abge-
sehen von vorzeitiger Verknöcherung der Rippenknorpel, zum grössten Theil
auf der mangelhaften Entwickelung der Inspirationsmusculatur beruht. Die
Körperlänge ist auf die vitale Capacität von Einfluss, im Allgemeinen beträgt
die vitale Capacität bei dem gesunden Manne zwischen 20 — 40 Jahren für jeden
Centimeter der Körperlänge etwa 22 — 24ccm; im höheren Alter wird schon
normaler Weise die vitale Capacität durch die verminderte Beweglichkeit des
Thorax geringer.
Entsprechend den Gestaltsdifferenzen des Thorax gestalten sich auch die
Bewegungsanom'alien bei der Athmung. Uebereinstimmend mit dem
ersten Beginne der Lungenschwindsucht in den oberen Lungenlappen sieht
man schon frühzeitig, dass die oberen Thoraxpartien sich nicht gleichmässig
bei der Athmung bewegen, sondern der eine obere Abschnitt langsamer sich
bei der Inspiration ausdehnt und nicht vollständig, er fällt auch nicht rasch
bei der Ausathmung zusammen, sondern schleppt nach, der ganze Brustab-
schnitt macht nur beschränkte Athembewegungen; besonders deutlich wird
diese ungleichmässige Athmung, wenn der Patient die Athemzüge durch Heben
und Senken der Arme, durch rasches Auf- und Abgehen im Zimmer, durch
750 TÜBEECULOSIS PULMONUM.
Hustenstösse verstärkt. Betrachtet man den sitzenden Kranken von oben her,
so tritt sehr oft die ungenügende und ungleiche Hebung der oberen Brust-
wand noch deutlicher hervor. Diese Bewegungsanomalie weist stets auf eine
Erkrankung der Lungenspitzen hin; je mehr die mangelhafte Ausdehnung der
Spitzen bei der Athmung zu Tage tritt, um so stärker ist das Lungengewebe
erkrankt. Wenn der Sitz der Tuberculosis in den unteren Lappen ist, so
macht sich auch hier entsprechend die mangelhafte Bewegung bemerkbar,
naturgemäss weniger deutlich, als bei der Spitzenerkrankung, jedoch kann
die ungleichmässige und fehlerhafte Ausdehnung bei einigermaassen markanter
Störung nicht übersehen werden.
Die Palpation nehmen wir zur Hilfe, um die respiratorische Excursion
genauer zu prüfen; was das Auge sieht, das fühlt die Hand sehr deutlich.
Legt man bei Erkrankungen der Lungenspitzen beide Hände in der Weise
auf die Schulterhöhe des Patienten, dass die Daumen unterhalb der Clavicula,
ihr parallel nach vorne gerichtet sind, während die anderen Finger nach
hinten, der Scapula entlang, abwärts gerichtet sind, so kann man selbst die
kleinsten Differenzen in der Athembewegung fühlen; auf diese Weise kann
man schon durch die Kleidung hindurch eine mangelhafte und ungleich-
mässige Athmung feststellen. Die Palpation zeigt weiterhin über Verdichtungen
und über grossen, lufthaltigen, mit einem offenen Bronchus communicirenden
Cavernen eine Verstärkung des Stimmfremitus; man muss sich aber
stets erinnern, dass über der rechten Brusthälfte die Stimmvibrationen stärker
sind als über der linken. Ist der Pectoralfremitus sehr deutlich ver-
stärkt, so sind die erwähnten Lungenveränderungen in erheblicher Aus-
dehnung und Stärke entwickelt; in frühen und wenig entwickelten Krankheits-
stadien ist die Abweichung des Stimmfremitus von der Norm nur gering. Bei
Infiltrationen des vorderen Randes des linken oberen Lappens fühlt die auf
die Brust gelegte Hand den Schluss der Semilunarklappe der Pul-
monal arter ie.
Die Ergebnisse der Percussion hängen selbstverständlich ganz von
der Art und Ausdehnung der anatomischen Veränderungen des Lungengewebes
ab, und da die Phthisis gewöhnlich in dem oberen Lungenabschnitte beginnt,
so müssen gerade die Lungenspitzen einer genauen Untersuchung unterworfen
werden. Ganz geringe anatomische Veränderungen können sich dem Nach-
weise durch die Percussion entziehen. Die Grenzen der Lungenspitzen
zu bestimmen, ist die erste Pflicht. In der Norm ist der Percussionsschall
der oberen Thoraxpartie auf der vorderen Wand hell und voll, er überragt
die Clavicula noch um 3 bis 5 cm jederseits an der Seitenfläche des Halses,
entsprechend der Höhe der Lungenspitze; unterhalb der Clavicula ist der Per-
cussionsschall etwas lauter. Lässt sich nun durch die Percussion ein ver-
schiedener Hoch stand der Lungenspitzen nachweisen, so ist zweifel-
los das Lungengewebe der tiefer stehenden Spitze erkrankt, in der Weise, dass ihr
Volumen durch Schrumpfung verringert ist, welcher Vorgang fast immer chronisch-
tuberculöse Veränderungen der Lungen begleitet; die Spitze steht dann
tief, erreicht noch nicht 2 bis 3 cm an Höhe, bei sehr grossen Schrumpfungs-
processen kann sie sogar dicht oberhalb der Clavicula stehen. Es kann aber auch
durch eine Infiltration in der äussersten Lungenspitze bedingt sein,
wenn der volle Schall auf der einen Seite des Halses nicht so hoch reicht,
als auf der anderen Seite.
Was nun den Percussionsschall anlangt, so ist derselbe durch die
allgemeinen physikalischen Ptegeln bestimmt; einen Percus-
sionsschall, welcher für die Lungenschwindsucht charakteri-
stisch wäre, gibt es nicht. Das erste Symptom, welches die Percussion
ergibt, ist eine geringe Schallabnahme über der Spitze, häufig erst dann
erkennbar, wenn man beide Seiten der Percussion unterwirft und vergleicht;
TUBERCULOSIS PULMONUM. 751
je mehr nun durch die fortschreitende Infiltration das Lungengewebe luftleer
wird, um so deutlicher tritt die Dämpfung zu Tage, so dass der mehr oder
weniger gedämpfte Schall auch ohne Beihilfe der vergleichenden Percussion
leicht erkennbar ist. Die Schallabnahme und Dämpfung linden sich zuerst an
den obersten Lungenregionen, der fossa supraclavicularis und fossa supraspi-
nata. An der vorderen Brustwand werden die Schall Veränderungen
deutlicher und frühzeitiger wahrgenommenen als an der hinteren Brust-
wand. Die dicken Muskellagen schwächen normaler Weise den Lungen-
schall ab, desshalb findet man stets beim gesunden Thorax, dass der Schall
gegen die Achselhöhle hin dumpfer ist als direct auf der vorderen Brustwand;
ebenso ist der Percussionsschall weniger laut in der Fossa supraspinata, auf
den Schulterblättern und zwischen der Wirbelsäule und der Scapula; häufig
ist auch schon im gesunden Zustande der Percussionsschall auf der rechten
Seite weniger laut, als auf der linken, weil die rechtsseitigen Muskeln stärker
entwickelt sind. Verliert man diese Verhältnisse nicht aus dem Auge, so
wird man sich vor Irrthümern schützen, wenn es sich um beginnende Pro-
cesse in den Lungen handelt; bei ausgesprochenen Infiltrationen oder Schrum-
pfungen sind Verwechselungen unmöglich. Es können aber selbst relativ
grosse Infiltrationsheerde sich vollständig der Percussion ent-
ziehen, wenn sie in der Tiefe der Lunge, umgeben von gesundem, luft-
haltigem Gewebe, liegen; auch Verdickungen der Brustwand durch pleuritische
Schwarten können luftleere Lungenpartien gänzlich verdecken.
Zu dem gedämpften Lungenschall gesellt sich sehr häufig ein tympan i-
tischer Beiklang als Folge einer veränderten Spannung oder theilweisenRetrac-
tion des Lungengewebes. Hier können sich ebenfalls, entsprechend der Be-
schafienheit der angrenzenden Lunge, alle möglichen Uebergänge vom nicht tym-
panitischen zum tympanitischen Schall finden, je nachdem eben gespanntes oder
retrahirtes Lungengewebe unmittelbar an die percutirte Stelle angrenzt. Grossen
Einfluss auf den Percussionsschall übtderZerfalldesinfiltrirtenLunglen-
gewebes, die Caverne, aus. Durch die Cavernenbildung kann der
vorher gedämpfte Percussionsschall wieder beträchtlich heller werden; es ist
übrigens selbst bei Infiltration eines ganzen Lappens der Lungenschall selten
so gedämpft, wie wir es bei der Pneumonia crouposa hören, aus dem Grunde,
weil die tuberculöse Infiltration selten so gleichmässig als bei der croupösen
Verdichtung sich darstellt, vielmehr an einzelnen Stellen normales Lungen-
gewebe sich befindet, emphysematöse Bildungen an beginnenden Narben sich
einstellen und sich auch schon kleinere Cavernen bilden. Eine Caverne
ist bei der Percussion um so sicherer nachweisbar, je oberflächlicher sie liegt,
je grösser und glattwandiger sie ist. Cavernen, welche von der Thorax-
wand entfernt, in der Tiefe liegen und nicht sehr umfangreich sind, lassen
sich oft gar nicht erkennen. Aber auch eine grosse, oberflächliche Caverne
wird kein eigentliches cavernöses Symptom machen, wohl aber die
Dämpfung des Percussionsschalles bewirken, wenn sie mit Secret oder
Zerfallsproducten vollständig ausgefüllt ist. Cavernen, welche den
Umfang einer Wallnuss haben, geben einen tympanitischen Percus-
sionsschaU. Der Schall kann deutlich Metallklang annehmen, wenn die
luftgefüllte Caverne wenigstens 6 cmim. grössten Durchmesser, alsodieGrösse einer
Mannesfaust hat und glatte Wandungen besitzt. Der Metallklang wird im
Allgemeinen bei der gewöhnlichen Percussion nur selten und fast nie sehr laut,
dagegen wird er häufig bemerkt, wenn man während der Percussion zugleich
auscultirt. Da im Allgemeinen die hohen Töne leichter durch Resonanz
verstärkt werden, so ist besonders die Verwendung eines hohen klappenden
Percussionsschalles zu empfehlen, wie er z. B. entsteht, wenn man ein Plessi-
meter auflegt und dieses mit einem harten Gegenstande, mit einem Bleistift
oder dem Hammerstiele leise anschlägt. Diese sogenannte Plessimeter-
752 TUBERCULOSIS PULMONUM.
stäbchen-Percussion beweist, wenn sie metallischen Beiklang erzeugt,
auf das Deutlichste, dass ein grosser luftgefüllter Hohlraum mit glatten Wandungen
vorliegt. Liegt die Caverne sehr oberflächlich und communicirt un-
behindert mit einem Bronchus, so nimmt häufig der tympanitische Schall eine
Eigenthümlichkeit an, welche wir als das Geräusch des gesprungenen
Topfes, Bruit de pot feie bezeichnen; es handelt sich um ein zischendes,
klirrendes, klatschendes, schetterndes Geräusch, welches dadurch entsteht,
dass durch den Percussionsstoss die Luft in der Caverne comprimirt wird und
ein Theil derselben aus der Höhle in den Bronchus oder in eine benachbarte
Caverne entweicht; am häufigsten findet sich dieses Geräusch an der vorderen
Brustwand in den oberen Intercostalräumen bei kräftiger Percussion und
dünner, biegsamer Brustwand. Für sich allein ist das Bruit de pot feie
kein pathognostisches Merkmal einer Caverne, da es auch vorkommen kann
oberhalb eines pleuritischen Exsudates, ferner in der Nähe von compacten
Infiltrationen, wenn zwischen diesen und der Brustwand eine dünne Schicht
lufthaltigen Lungengewebes liegt und bei Pneumothorax mit offener Fistel; bei
Kindern wird dieses Geräusch sogar unter normalen Verhältnissen wegen
des jugendlichen elastischen Thorax gehört, indem bei der Percussion
das zischende Geräusch infolge des Entweichens von Luft durch die
Stimmritze entsteht. Allerdings fehlt bei Kindern der tympanitische Beiklang.
Das Geräusch des gesprungenen Topfes kann man in verstärktem Grade
darstellen; wenn der Kranke während der starken Percussion den Mund offen
hält; oft wird es erst auf diese Weise hörbar.
Zu den cavernösen Symptomen rechnen wir den Winteich's c h e n
Schallwechsel: wenn man nämlich während der Percussion den Kranken
den Mund öffnen und schliessen lässt, so tritt ein deutlicher Wechsel des
tympanitischen Percussionschalles ein und zwar in der Weise, dass der Schall
bei offenem Munde lauter, deutlicher tympanitisch, vor allem aber höher, bei
geschlossenem tiefer wird, wodurch der Beweis geliefert ist, dass ein Hohlraum
vorliegt, welche mit der Mundhöhle in offener Verbindung steht. Man muss
sich jedoch erinnern, dass dieser WiNTRicn'sche Schallwechsel auch ohne die
Gegenwart einer Caverne beobachtet wird, wenn man die Trachea, den Larynx
oder einen grossen Bronchus direct percutirt; hierdurch erklärt es sich, dass
der Schallwechsel zu Stande kommen kann, wenn zwischen diesen Organen und
den percutirten Stellen infiltrirtes oder geschrumpftes Lungengewebe sich be-
findet, welches den Perkussionsstoss auf die Trachea oder einen grossen
Bronchus fortpflanzt. Kann man diese letztere Möglichkeit, welche unter dem
Namen William's Trachealton bekannt ist, ausschliessen, so beweist der
W^iNTRiCH'sche Schallwechsel einen pathologischen Hohlraum, welcher mit
einem Bronchus offene Verbindung unterhält. Der Schallwechsel kann gele-
gentlich und vorübergehend fehlen, wenn die freie Communication der Caver-
nenluft mit der Mundhöhle durch Secretanhäufung in dem einmündenden
Bronchus unterbrochen ist. In derselben Weise kann auch der einfache tym-
panitische Percussionsschall über einer Caverne vorübergehend verschwinden,
wenn die Luft aus ihr durch Secretmassen gänzlich ausgetrieben wird.
Ueber vielen Cavernen hört man bei der Percussion ein Höherwerden
des Schalles während der Inspiration; diese Eigenschaft bezeichnet man nach
ihrem ersten Beschreiber als respiratorischen Schallwechsel Feied-
reich; es kann aber dieser FRiEDREicu'sche Schallwechsel auch bei ander-
weitig entstandenem tympanitisch em Percussionsschall vorkommen.
Der tympanitische Schall über einer Caverne ändert auch seine Höhe
bei Lageveränderungen des Patienten; diesen GERHARDT'schen Schall-
wechsel kann man benutzen, um sich von der Grösse und der Pachtung des
Hohlraumes ein Bild zu machen; wenn die Höhle in der Lunge vertical ge-
richtet ist, also von oben nach unten verläuft, so wird der Schall beim Aufr
TUBERCULOSIS PULMONUM. 753
sitzen des Kranken höher, weil durch das Aufsitzen der Längendurchmesser
der Caverne verkürzt wird, indem das in der Caverne angesammelte Secret
die tiefste Stelle einnimmt und so den Längendurchmesser verkürzt; verläuft der
längste Durchmesser der Höhle von vorne nach hinten, so wird der Schall beim
Aufsitzen tiefer, weil der Längendurchmesser durch das Aufsitzen nicht ver-
kürzt, vielmehr vergrössert wird. Das Tieferwerden des Percussionsschalles
beim Aufsitzen des Patienten beweist zweifellos das Vorhandensein einer
Caverne, während eine Erhöhung des Schalles beim Aufsitzen auch durch
die beim Aufrichten stärkere Spannung der Brustwand hervorgerufen sein könnte.
Wie die Schallhöhe, so wechselt auch die Intensität des tympanitischen
Schalles über sehr grossen, in der Längsrichtung des Körpers verlaufenden
Cavernen bei Veränderungen der Körperlage des Patienten: in aufrechter Haltung
ist der Schall an der tiefsten Stelle der Caverne gedämpft tympanitisch, an der
höchsten hell tympanitisch, weil der tiüssige, verschiebbare Inhalt der Caverne
die tiefste, die Luft die höchste Stelle einnimmt; in der Rückenlage wird der
tympanitische Schall in der ganzen Ausdehnung der Caverne heller, weil die
Flüssigkeit sich auf der hinteren Wand des Hohlraumes gleichmässig ansammelt.
Der über einer grossen Caverne erzeugte Metallklang wird, wenn die
Caverne frei mit einem Bronchus in Verbindung steht, bei OeSnen des Mundes
lauter, durch die Resonanz der Mundhöhlenluft; aber er wird nicht höher,
wie der tympanitische Schall dieses thut.
Bei der Ausführung der Percussion gibt das Resistenzgefühl wich-
tige Anhaltspunkte, sie verlaufen im Durchschnitt parallel den Ergebnissen
des Percussionsschalles. Das Resistenzgefühl der Lunge ist verstärkt bei
Luftleere des Parenchyms, also bei Infiltration, Schrumpfung oder Compression;
eine Verminderung des Gefühles des Widerstandes kommt im Allgemeinen
nicht vor, gelegentlich zwar bei hochgradigem Emphysema pulmonum und
Pyo-pneumothorax, aber nicht bei phthisisch-emphysematösen Processen und
Cavernenbildung.
Ebenso wichtig wie die Percussion ist die Auscultation, sie vermag so-
gar im Beginne der Phthisis schon positive Resultate zu ergeben, wenn die
Percussion noch nichts an den Tag bringt. Auch die Auscultation der Lungen-
tuberculosis unterliegt den gewöhnlichen physikalischen Bedingungen und
demnach gibt es kein Auscultationsphänomen, welches die Lun-
genschwindsucht charakterisirt. Die Veränderungen, welche das Ath-
mungsgeräusch durchmacht, zeigen alle Stufen, welche dem Uebergang aus dem
lufthaltigen in das luftleere Lungengewebe entsprechen. Als frühestes Symptom
findet man, dass das Exspirium länger und rauher erscheint; normaler
Weise ist das Exspirationsgeräusch schwach und weich, unbestimmt oder schwach
hauchend; es ist kürzer als das Inspirationsgeräusch. Die Verlängerung des Ex-
spirationsgeräusches beweist, dass der Austritt der Luft aus dem betreffenden Lun-
genabschnitte ein Hindernis findet, sei es, dass die Lungenalveolen durch Schwund
der Elasticität sehr langsam zusammenfallen, sei es, dass Schwellung der
Bronchialschleimhaut das Lumen des Bronchus beträchtlich verengert; bei
Katarrhen der Luftröhrenschleimhaut ist deshalb die Exspiration stets ver-
längert. Durch die Schwellung der Schleimhaut tritt zu der Verlängerung
auch die Verschärfung oder Rauhigkeit des Exspirationsgeräusches.
Findet man verlängerte und verschärfte Exspiration, so lehrt die physikalische
Bedingung für dieselbe, dass ein Katarrh vorliegt, ein ISTachweis, welcher über
einer oder beiden Lungenspitzen von grossem Werthe ist, weil es sich um
einen die beginnende Lungenverdichtung begleitenden Bronchialkatarrh han-
delt. Schreitet der tuberculöse Process in der Spitze fort, so ändert sich auch
das Inspirationsgeräusch. Dasselbe ist unter normalen Verhältnissen
weich und schlürfend; verliert aber die Schleimhaut der Bronchien ihre Glätte
durch Katarrhe und Schwellung, so wird die vesiculäre Inspiration
Bit)! med. Wissenechaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 4o
754 TUBERCULOSIS PULMONUM.
rauli und verschärft; findet man das Inspirationsgeräusch in dieser Weise
verändert, nur auf die Lungenspitze beschränkt und wird es bei wiederholter
Untersuchung stets aufgefunden, so ruft es mit Recht den Verdacht hervor,
dass es sich um einen secundären, phtbisischen Katarrh handelt. Zu dieser
Zeit findet man sehr häufig, dass die Einathmung nicht in einem Zuge glatt
durchgeht, sondern dass das Inspirationsgeräusch ruckweise, in zwei oder
mehreren Absätzen sich darstellt. Dieses saccadirte Athmen stellt sich
als eines der frühesten Symptome bei Personen ein, welche später deutlich
tuberculös werden; am häufigsten hört man es an der dünnwandigen Unter-
schlüsselbeingrube, es gewinnt seine pathognomonische Bedeutung dadurch,
dass es nur an umschriebener Stelle oder nur auf einer Seite gehört wird;
es findet sich oft, dass bei ausgesprochener tuberculöser Erkrankung einer
Lungenspitze dieses abgesetzte Athmen auf der anderen Seite auftritt als Vor-
läufer deutlicher Ausbreitung der Krankheit. Schreitet die Zerstörung des
Lungengewebes voran, so verschwindet das saccadirte Athmen, aber man hört
es dann nicht selten an anderen, von dem Hauptheerde entfernt gelegenen
Lungenabschnitten — und zweifellos mit Recht bedeutet es in allen diesen
Fällen, dass der tuberculöse Process schon neue Heerde gesetzt hat. Die Ur-
sache des saccadirten Athmungsgeräusches liegt darin, dass nicht alle Lungen-
abschnitte gleichzeitig gedehnt werden, weil ein Widerstand für den Eintritt
der Luft in das Lungenparenchym besteht; wenn nämlich die Alveolen in der
Lungenspitze, über welcher das saccadirte Inspirationsgeräusch fast ausschliess-
lich gehört wird, zum Theil infiltrirt und die feinsten Bronchien durch Schwel-
lung ihrer Schleimhaut etwas verengert sind, so ist der Eintritt der Luft
in diese Lungenläppchen erschwert; diese Lungentheilchen werden um einen
Moment später ausgedehnt als das zwischen ihnen liegende noch normale,
lufthaltige Gewebe; bei weiterem Fortgang der Inspiration dringt aber doch
die Luft trotz der Hindernisse ein und gerade diese verschiedenen Zeitmo-
mente, in denen die Luft in unbehinderte und in behinderte Lungenstückchen
eintritt, werden dem Ohre als ruckweise ausgeführtes, saccadirtes Inspirations-
geräusch wahrnehmbar. Man darf daher aus dem saccadirtem, einfach vesicu-
lärem oder verschärft vesiculärem Athmungsgeräusch auf einen Katarrh der
Lungenspitzen schliessen.
Das vesiculäre Athmungsgeräusch, ebensowohl wie das Exspirations-
geräusch, kann sich durch eine merkliche Abschwächung gegenüber der
gesunden Seite abheben; es ist die Folge einer Behinderung des Lufteintrittes
in die Alveolen und hat die nämliche Grundlage wie das saccadirte und das
verschärfte Inspirationsgeräusch; die Alveolen dehnen sich nur sehr mangel-
haft und der Luftgehalt des Lungenparenchyms ist vermindert. Die un-
genügende Ausdehnung der Lungenalveolen bedingt auch das Auftreten des
unbestimmten Athmungsgeräusches; die mangelhafte Erweiterung
des Lungenparenchyms kann verschiedene Ursachen haben: bald beruht
sie auf verminderter Elasticität, bald ist sie die Folge von Infiltration der
Alveolen, bald von Schrumpfungsprocessen in der Lunge, abgesehen davon,
dass auch durch Compression des Lungengewebes, wie z. B. durch pleuritische
Exsudate oder Pneumothorax die Ausdehnung der Lunge behindert werden
kann; diese letzten Möglichkeiten schalten wir hier aus. Dieses unbestimmte Ath-
mungsgeräusch tritt bisweilen nur vorübergehend auf, wenn nämlich ein
grösserer oder mehrere kleine Bronchien, welche in ein infiltrirtes Lungeu-
stück führen, durch Schleim verstopft sind. Werden durch Hustenstösse die
Schleimpfröpfe ausgeworfen, so verschwindet durch die nun wieder unbehin-
derte Luftpassage das unbestimmte Athmungsgeräusch und statt seiner er-
scheint bei noch lufthaltigem Lungenparenchym das vesiculäre Athmungs-
geräusch oder bei luftleerem Lungengewebe ein pathologisches Geräusch. Je
mehr nämlich die tuberculöse Infiltration voran schreitet, umsomehr verändern
TUBERCULOSIS PULMONUM. 755
sich die Athemgeräusche. Die Folge der tuberculösen Infiltration ist die Aus-
füllung der Alveolen, welche gänzlich luftleer werden; dadurch sind die Be-
dingungen für das bronchiale Athmungsgeräu seh geschaffen. Zunächst
wird das Exspirationsgeräusch bronchial, dann nimmt das Inspi-
ration sge rausch auch den bronchialen Charakter an; fast stets ist aber
das bronchiale Exspirium lauter als das bronchiale Inspirium, häufig ist über-
haupt nur die Exspiration deutlich bronchial, während das Inspirationsgeräusch
nicht über die undeutliche bronchiale Färbung herauskommt. Je grösser das
infiltrirte Lungenstück ist und je grösser die Zahl der Bronchien in diesem
Lungenstücke ist, je näher der Oberfläche das luftleere Gewebe liegt, um
so lauter bronchial ist das Athmungsgeräusch. Je lauter das Bronchial-
Athmen ist, um so schärfer ist es; besonders scharf ist es, wenn die
Bronchialschleimhaut geschwollen und das Lumen der Bronchien verengt
ist. Man hört das bronchiale Athmungsgeräusch viel leichter an der hinteren
Thoraxfläche, weil hierselbst die Bifurcationsstelle der Trachea und die
grossen Bronchien liegen und dadurch die Fortpflanzung des Larynxgeräusches,
welches daselbst schon physiologisch wahrnehmbar ist, unter pathologischen
Verhältnissen erleichtert wird. Das bronchiale Athmungsgeräusch fassen wir
auf als das fortgeleitete tonartige Larynxgeräusch, welches an der Rima glottidis
dadurch entsteht, dass der Luftstrom durch diese natürliche Verengerung beim
Hindurchstreichen in Wirbelbewegung geräth. Diese Annahme erklärt auch,
weshalb bei der Exspiration das bronchiale Geräusch lauter ist, als bei der
Inspiration, weil in der Exspiration die Rima glottidis durch die Annäherung
der StimmlDänder enger, bei der Inspiration aber die Stimmritze weiter wird.
Wenn das bronchiale Athmungsgeräusch deutlich ist, tritt auch das Phä-
nomen der Bronchophonie hervor. Im normalen Zustande hört das die
Lungen auscultirende Ohr von dem, was der Untersuchte spricht, nur ein
undeutliches Summen, an der Bifurcationsstelle allein hört man eine schwache
Bronchophonie. Je mehr nun das Lungengewebe luftleer, und deshalb die
Fortleitung der Schallwellen aus dem Larynx leichter wird, um so deutlicher
tritt die Bronchophonie auf, so dass man in ausgeprägten Fällen den Ein-
druck hat, als spräche die untersuchte Person unmittelbar in das Ohr des
Auscultirenden hinein.
Das bronchiale Athmungsgeräusch sowohl, als auch die Bronchophonie
findet sich aber auch ungemein deutlich, wenn die tuberculöse Zerstörung
bis zur Cavernenbildung vorgedrungen ist. Die Lungenhöhlen haben
das bronchiale Athmungsgeräusch, wenn sie oberflächlich gelegen
und von luftleerem Gewebe umgeben sind; ausserdem müssen sie so gross
sein, dass wenigstens ein grosser Bronchus vorhanden ist, dessen Luft sowohl
mit der Caverne, als mit der Luft der Trachea und des Larynx ungehindert
communicirt. Fehlt eine dieser Bedingungen, so kann bronchiales Athmen
nicht zu Stande kommen. Thatsächlich entsprechen aber fast ausnahmslos die
tuberculösen Lungencavernen diesen physikalischen Postulaten. Gelegentlich
kommt es vor, dass ein vordem deutliches bronchiales Athmungsgeräusch
über einer Caverne verschwindet, weil der in die Höhle mündende Bronchus
durch Schleimpfröpfe verstopft ist; Hustenstösse, welche das Hindernis be-
seitigen, stellen dann das bronchiale Athmungsgeräusch wieder her. Die
Entstehung des bronchialen Athmungsgeräusch es in der Caverne denken wir
uns so, dass das luftleere infiltrirte Lungengewebe, welches den Hohlraum
umgibt, ein guter Schalleiter für das Laryngealgeräusch ist; ausserdem aber bläst
die Luft, welche bei der Inspiration aus dem Bronchus in die Höhle hinein-
gelangt, die in der Caverne schon befindliche Luft an und setzt sie in Be-
wegung; dadurch muss ein Geräusch erzeugt werden von dem Charakter des
in eine Röhre hineingeblasenen Geräusches, also des bronchialen; bei
der Exspiration muss die aus der weiten Caverne in den engen Bronchus
48*
756 TUBERCULOSIS PULMONUM.
hineinströmende Luft an dieser Enge durch Wirbelstrom ein Geräusch er-
zeugen, gleichwie die Luft in dem Larynx an der Rima glottidis.
Bei Lungenhöhlen ist das bronchiale Athmungsgeräusch zuweilen nicht
während der ganzen Dauer der Inspiration bronchial, sondern es tritt ein
eigenthümlich scharfes, zischendes Geräusch im Beginne der Inspiration auf,
das dann aber plötzlich aufhört, um einem bronchialen Athmen Platz zu
machen. Dieses unzweideutige Cavernensymptom führt den Namen meta-
morphosirendes Athmen, welches dadurch entsteht, dass im Beginne
der Inspiration die Luft vor ihrem Eintritt in die Caverne eine, im Ver-
hältnis zur Grösse des Hohlraumes enge, oft durch Schleim noch mehr ver-
engte Mündung des Bronchus in die Caverne passiren muss; dadurch entsteht
an dieser Stelle das scharfe, zischende Stenosengeräusch. Sowie aber durch
eine kräftige Inspiration die Mündung des Bronchus in die Caverne dilatirt
wird, verschwindet das scharfe Stenosengeräusch und das bronchiale Athmungs-
geräusch tritt an seine Stelle. Bei ruhigem Athmen wird das metamorpho-
sirende Athmungsgeräusch nur höchst selten gehört, es findet sich vielmehr
als Regel nur bei verstärkter Inspiration, fast nur bei Höhlen im Oberlappen
und nur vorübergehend bei den betreffenden Kranken; in manchen Fällen
bildet es das einzige, unzweideutige Merkmal einer kleineren, tiefliegenden
Caverne.
Wenn die Caverne durch Zerfall ihrer Wandung an Ausdehnung zu-
nimmt, so hört man bei einer bestimmten Grösse des Hohlraumes ampho-
risches Athmen, welches bald in der Inspiration, bald in der Exspiration
oder in beiden Athmungsphasen wahrgenommen wird; es ist in der Exspiration
stets lauter. Die physikalischen' Bedingungen, welche das amphorische
Athmen bedingen, sind die nämlichen, welche das bronchiale Athmen ver-
ursachen, und zwar die denkbar günstigsten Bedingungen für das bronchiale
Athmen. Das amphorische Athmen ist ein Athmungsgeräusch, welches von
einem deutlichen metallischen Klange oder Nachklange begleitet ist, es ist
vollkommen analog dem Geräusche, welches beim Hineinblasen in einen
Krug (dfxcpopvj) oder in eine Flasche entsteht. Wird das amphorische Athmungs-
geräusch gehört, so hat die Caverne Faustgrösse, wenigstens 5 cm im längsten
Durchmesser, sie ist regelmässig gestaltet und glattwandig und liegt der
Lungenoberfläche nahe; der Verkehr der Luft in der Caverne mit der
Aussenluft muss ungehindert sein. Durch Verstopfung des zuführenden
Bronchus verschwindet das amphorische Athmungsgeräusch, bis es nach
Hustenstössen wieder auftritt. Mit dem amphorischen Athmungsgeräusch
Hand in Hand, gewinnt auch die Bronchophonie an Stärke, so dass man
häufig einen schmetternden Gehörseindruck der Stimme des Untersuchten
beim Auscultiren hat; diese starke Bronchophonie wird auch Pect oriloquie
genannt.
Von oberster Bedeutung, zumal bei der Phthisis incipiens, ist das Auf-
treten von Rasselgeräuschen; sie sind das sicherste Zeichen eines
Katarrhes, auch wenn die Percussion keine Abweichung ergibt und das Athmungs-
geräusch unveränderter erscheint. Die Rasselgeräusche, Rhonchi sibi-
lantes, sind im Anfange der Erkrankung nur vereinzelt und oft so leise,
dass sie schwer zu hören sind; häufig werden sie überhaupt nur dann wahr-
genommen, wenn man den Kranken beschleunigt athmen lässt oder mehr
noch, wenn man ihn zuerst kräftig zu husten und dann sofort tief zu athmen
auffordert. Entsprechend dem Beginn und Verlaufe der Phthisis finden sich
Rasselblasen anfangs zumeist nur über einer Lungenspitze; findet man sie
nur hier, nur auf diese Partie beschränkt und sonst nirgendwo
auf den Lungen, und zwar bei wiederholten Untersuchungen
stets immer wieder in der gleichen Gegend, so ist der Beweis
eines umschriebenen Spitzenkatarrhes und durch ihn der Ver-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 757
dacht auf die primäre tuberculöse Erkrankung gefestigt. Diese
Rasselgeräusche sind kleinblasig, nicht klingend, bald trocken, bald feucht, oft ist
es nur eine einzige Blase, ein einziger Knack, welcher bei tiefer Inspiration
stets auf's Neue auftritt. Schreitet die Erkrankung voran, so werden die
Rasselgeräusche an Zahl reicher und deutlicher, sie treten auf der
Höhe der Inspiration und im Beginne der Exspiration auf; nimmt das Secret
in den feinen Bronchien zu, so sind sie während der ganzen Inspiration und
Exspiration hörbar, sie werden continuirlich. Allmälig mischen sich
den kleinblasigen Rasselgeräuschen mittelgrossblasige und selbst grossblasige
Rasselblasen bei, indem auch grössere Bronchien in den Bereich der Er-
krankung gezogen werden; dadurch wird das Rasseln ungleichblasig.
Mitunter hört man auch Rasselgeräusche noch in der Athem pause, wohl
deshalb, weil einzelne Flüssigkeitsblasen in dem Secret der Bronchien noch
platzen, auch wenn der Luftstrom nicht mehr durch dasselbe streicht. All-
mälig ändert sich der Charakter derRasselgeräusche, sie nähern sich
dem musikalischen Ton und erscheinen dem Ohre hell und hoch, sie nehmen
einen Klang an. Der Uebergang aus den klanglosen zu den klingenden
Rasselgeräuschen geht langsam von statten, erst tritt der Klang nur in
einzelnen Blasen hervor, dann aber in allen. Zur selben Zeit tritt auch das
bronchiale Athmen auf, mit welchem die klingenden Rasselgeräusche gemein-
schaftliche Grundursache, nämlich luftleeres Lungenparenchym und Lungen-
höhlen, haben. Wenn die Rasselgeräusche grossblasig und sehr laut klingend,
manchmal noch auf geringe Distanz hörbar sind, so ist ihr Entstehungsort
eine grössere, der Lungenoberfläche nahe gelegene Caverne. Die aus-
geprägteste Form der klingenden Rasselgeräusche, die metallisch klin-
genden Rasselgeräusche, zeigen, wie der metallische Percussionsklang
und das amphorische Athmungsgeräusch, eine wenigstens faustgrosse Höhle an;
manchmal sind nicht alle Rasselblasen von einem metallischen Klange begleitet,
sondern nur wenige, während die anderen Blasen nur undeutlich klingen;
bisweilen beobachtet man bei grossen Cavernen Rasselgeräusche, welche nur aus
einer einzigen Rasselblase bestehen und den Eindruck machen, als ob Tropfen, von
dem schönsten metallischen Klange begleitet, in einen Hohlraum hernieder-
fielen {gutta cadens, tintenement metallique).
Sehr selten gelingt es, über sehr grosse Lungenhöhlen ein schwaches
Succussionsgeräusch zu beobachten; ich kenne nur einen einzigen Fall,
welcher bei der Section bestätigte, dass dieses plätschernde, von Metallklang
begleitete Geräusch thatsächlich in der Caverne bei schüttelnden Bewegungen
des Kranken erzeugt wurde; es liess sich auch noch an der Leiche durch
energisches Schütteln demonstriren.
Zieht man endlich noch als physikalisches Untersuchungsobject den
Husten in den Bereich der Betrachtung, so führen wir an, dass der Husten
bei luftleerem Lungenparenchym lauter als über lufthaltigem Gewebe wahr-
genommen wird, namentlich aber laut über grossen, oberflächlich gelagerten
Cavernen; haben diese Cavernen alle Bedingungen für das Zustandekommen
des Metallklanges, so wird auch der sehr verstärkt hörbare Husten von einem
metallischen Klange begleitet.
Während die erkrankten Lungen die grössten Zerstörungen erleiden und
die Infiltration stetig fortschreitet, klagt der Patient vielfach gar nicht über
Brustschmerzen; es ist sehr häufig der Fall, dass man selbst sehr grosse
Cavernen findet, ohne dass der Kranke jemals über schmerzhafte Vorgänge
auf der Brust zu klagen gehabt hätte; manche Fälle von Lungentuberculosis
verlaufen thatsächlich schmerzlos. Heftigere, stechende Schmerzen
sind wohl die Ausnahme und hängen von Complicationen mit acuter
Pleuritis ab; tritt ein Pneumothorax auf, so ist der Schmerz sehr gross
und plötzlich. Die Brustschmerzen können in den Seiten oder vorne auf der
758 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Brust sitzen. So lange die Pleura nicht in den Bereich der Erkrankung ge-
zogen ist, fehlt der Boden für die Schmerzempfindung erheblicher Art, weil
das erkrankte Lungenparenchym keine Schmerzen auslöst; selbst erhebliche
Geschwürsbildung in der Bronchialschleimhaut, ebenso wie sehr starke Hy-
perämie und frische Entzündungen derselben verursachen keinen irgendwie
erheblichen Schmerz. Anderseits findet man aber auch trotz grosser pleuriti-
scher Veränderungen, welche vorwiegend in Verwachsungen der Pleurablätter
bestehen, ebenfalls gar keine Schmerzen. Im Aligemeinen kann man sagen, dass
der Brustschmerz um so heftiger sich gestaltet, je energischer und rascher die
Pleuritis sich einstellt und verläuft, während die langsam und schleichend
einherschreitende Form weniger Schmerzen im Gefolge hat. Infolge dessen
ist die acute trockene und exsudative Pleuritis mit Schmerzen gepaart,
der Pyopneumothorax ruft ungemein heftige Schmerzen hervor, die langsam
fortschreitende, trockene Pleuritis, welche zu Trübungen, Verdickungen
und Verwachsungen führt, kann sozusagen schmerzfrei sein. Bei der Pleu-
ritis, welche die Lungenspitze umgibt, kommt weiterhin noch hinzu, dass ge-
rade diese Spitzenpleuritis wenig Schmerzen macht, weil in der Spitze
die Athembewegungen und der Husten am wenigsten zur Geltung kommen
und deshalb hier am wenigsten Zerrungen und A'erschiebungen der erkrank-
ten Pleurablätter zu Stande kommen. Die Kranken klagen höchstens über
geringe Schmerzempfindungen in der Schlüsselbein- und Schulterblatt-
gegend und zwischen den Schultern, entsprechend der Lagerung der Lungen-
spitzen. Diese Schmerzen werden durch tiefe Athemzüge, heftige Husten-
stösse, lautes Niesen vermehrt, ebenso erfahren sie eine Zunahme bei Druck
in die Intercostalräume. Da nun diese pleuritische Erkrankung nicht stets
dem Sitz der nachweisbaren Lungenerkrankung entspricht, so kann Schmerz
sich einstellen fern von der offenkundigen Parenchymläsion. Neben diesen
pleuritischen localen Schmerzen können aber am Thorax noch Schmerzen zu
Stande kommen auf mechanischem Wege durch die Hustenstösse, welche
die Brustmuskeln zerren und zu kleinen Zerreissungen führen können. Bei
Lungenspitzenerkrankung ist es nicht selten, dass in den Arm und die
Schulter der erkrankten Seite sehr heftige Schmerzen ausstrahlen, als deren
Ursache wir die Spitzenpleuritis ansehen müssen. Die Brustschmerzen
tragen das ihrige dazu bei, dass die Athemzüge flach und oberflächlich und
deshalb an Zahl sehr vermehrt sind.
Die Tuberculosis pulmonum beschränkt sich nur äusserst selten auf
die Lungen allein, sie zieht vielmehr auch andere Organe, benachbarte
sowohl wie entfernt gelagerte, in den verhängnisvollen Bereich der
Erkrankung, so dass es immerhin eine grosse Seltenheit ist, wenn nicht
andere Organe sich an dem klinischen Bilde betheiligen. Es können sogar
diese Betheiligungen von selten anderer Organe das Krankheitsbild vollständig
beherrschen oder schon Symptome setzen, bevor die Erkrankung des Lungen-
gewebes zweifellos nachweisbar ist, so dass ihnen unter Umständen ein patho-
gnomonischer Werth zukommt.
Besonders häufig wird im Verlaufe der Lungenschwindsucht der Kehl-
kopf ergriffen, man kann die Erkrankung des Larynx kaum als eine Com-
plication der Lungenschwindsucht auffassen, sondern wir betrachten sie als
ein Symptom der Auszehrung, deren hervorstechendes Bild von der Erkran-
kung der Lunge geliefert wird.
Die häufigste Erscheinung von selten des Kehlkopfes ist die Heiser-
keit, deren Ursache eine sehr verschiedene sein kann. Nur selten beruht die
Heiserkeit auf functionellen Vorgängen: man vermisst hierbei ana-
tomische Veränderungen gänzlich oder man findet eine mehr oder weniger
ausgeprägte Stimmbandlähmung; bald einseitig bald doppelseitig, als deren
Ursache wir atonische oder allgemein marastische Zustände anerkennen;
TUBERCULOSIS PULMONUM. 759
oft ist der respiratorische Exspirationsstrom zu schwach, um die Stimmbänder
in Schwingungen zu versetzen, so dass trotz intacter Stimmbänder die höchsten
Grade von Aphonie vorkommen können, eine in den letzten Tagen des
Schwindsüchtigen nicht zu seltene Erscheinung. Vorwiegend hat aber die
Heiserkeit der Lungentuberculose einen anatomischen Grund. Acute
und chronische Katarrhe in der verschiedensten Form und Ausdehnung,
mitunter nur auf einer Seite oder selbst nur auf ein wahres Stimmband
beschränkt, bei welchem Vorgang das erkrankte Stimmband nicht immer der
erkrankten Brustseite entspricht, treffen wir als Ursache der Heiserkeit an,
welche um so lebhafter hervortritt, je stärker die Stimmbänder befallen sind.
Die Heiserkeit bedingt ihrerseits den rauhen Hustenton. Nicht jeder im
Verlaufe der Lungenschwindsucht auftretende Katarrh des
Kehlkopfes ist aber tuberculös, wohl bleibt nach dem ersten Katarrh
eine grosse Neigung zu neuen Kehlkopfkatarrhen zurück und aus wieder-
holten einfachen Katarrhen sieht man endlich häufig die Tuberculosis hervor-
gehen.
Sieht man ab von dem seltenen Bilde der Recurrenslähmung in-
folge Compression durch vergrösserte, käsig-tuberculöse, tracheo-bronchiale
Lymphdrüsen oder durch pleuritische Verwachsungen und Schrumpfungen, so
verräth die Heiserkeit in den meisten Fällen schon die tuberculöse
Laryngitis, welche rasch zu Ulcerationen führt, bald fiächenförmig
sich ausbreitet, bald in die Tiefe greift, die Stimmbänder zerstört, die Ary-
knorpel und Epiglottis einschmilzt und die Heiserkeit bis zur vollständigen
Stimmlosigkeit, zur Aphonie steigert.
Die Erscheinungen von selten des Kehlkopfes treten häufig
frühzeitig so scharf und imponirend hervor, dass die Lungenerscheinungen
gänzlich zurücktreten, sie können, wenn auch selten, schon hochgradig sein,
wenn die Lungen physikalisch noch gesund erscheinen. Meistens aber
tritt die Kehlkopfschwindsucht erst zu der bereits deutlichen
Lungenschwindsucht. Wir stellen die Möglichkeit einer primären Larynx-
phthisis nicht in Abrede, wir sind aber überzeugt, dass die Kehlkopftuber-
culosis überwiegend secundär ist, auch wenn die physikalischen Untersuchungs-
methoden Erkrankungsheerde der Lunge noch nicht aufdecken können. Muss
man für die seltenen Fälle primärer Larynxtuberculosis annehmen, dass durch
die Einathmung das tuberculöse Virus unmittelbar auf die Kehlkopfschleim-
haut gelangt und sich durch besonders günstige Verhältnisse in der Mucosa
einnisten konnte, so vermuthet man nicht ohne Grund, dass im Verlaufe der
Lungenschwindsucht die Kehlkopftuberculosis durch Selbstinfection ver-
mittelst des tuberkelbacillenhaltigen Lungensputums entsteht.
Peinigt die Larynxtuberculosis den Patienten durch Heiserkeit und ver-
mehrten Hustenreiz oft unerträglich, so wird die Qual noch vermehrt durch
die Schlingbeschwerden infolge der Schwellung oder Ulceration der
Epiglottis, der Bedeckung der Giessbeckenknorpel, des zwischen den Giess-
beckenknorpeln gelegenen Sattels oder der falschen Stimmbänder; gleitet der
Bissen über diese erkrankten Partien, so ruft er einen lebhaften Schmerz her-
vor, oft so gross, dass die Patienten aus Furcht vor den Schmerzen jede
Nahrungszufuhr verweigern. Die Nahrungsverweigerung beschleunigt rasch den
Kräfteverfall. Bei vielen Patienten bedingt die Nahrungsaufnahme, nament-
lich der Genuss von Flüssigkeit, heftigen Hustenreiz und Verschlucken
durch unvollkommenen Verschluss des Kehlkopfeinganges; die Zerstörung der
Stimmbänder spielt hierbei eine grosse Bolle. Stenosis mit Stridor und
Dyspnoe, Glottisödem, tuberculöse Perforationen des Larynx
nach aussen mit Fistelbildung vervollständigen das Bild der Kehlkopf-
betheiligung.
760 TUBERCULOSIS PULMONUM,
Wie der Larynx, so kann auch die Trachea durch die beständige
Passage der tuberculösen Sputa aus den Lungen unmittelbar inficirt werden;
man sieht deshalb bisweilen bei der Spiegelung, dass die Schleimhaut der
Trachea lebhaft entzündet und infiltrirt ist und dass geschwürige Vorgänge
sich auf der Mucosa abheben.
Die tuberculösen Veränderungen in den Lungen lassen schon von vorne-
herein erkennen, dass durch dieselben das Verhalten des Blutkreislaufes
in den Lungen und in dem ganzen Gefässgebiet wesentlich beein-
liusst werden muss. Das Circulations System betheiligt sich erheblich an
dem Verlaufe der Lungenschwindsucht und zwar treten auch hier nicht nur
dann deutliche Erscheinungen von selten des Circulationsapparates hervor,
wenn die Tuberculose der Lungen offenkundig ist, sondern schon in den
ersten Anfängen, ja selbst schon ehe die Lunge erkrankt erscheint, weicht
das Verhalten des Kreislaufes von dem normalen Verhalten erheblich ab und
hat gerade deshalb einen diago ostischen Werth. Bei sehr vielen Lungen-
schwindsüchtigen sieht man auffallend blaue Venennetze auf den Haut-
decken des Thorax; sie entstehen dadurch, dass, während viele Pulmonaläste
in dem verkästen und indurirten Lungengewebe obliteriren, neugebildete Ge-
lasse durch die fast stets vorhandene pleuritische Verwachsung hindurch eine
abnorme Gefässverbindung zwischen der Lunge und den Intercostalgefässen
herstellen. Weil nun der Abfluss des Blutes nach den Pulmonalvenen zum
Theil gehindert ist, strömt das Venenblut in vermehrter Menge durch die
pleuritische Verwachsung hindurch in die Intercostalvenen, welche ihrerseits
durch die UeberfüUung den Abfluss der Hautvenen erschweren, so dass die-
selben ausgedehnt werden und als blaue Venennetze erscheinen.
Bei sehr vielen Leuten, welche hereditär-tuberculös behaftet sind oder
einen phthisischen Habitus zeigen, aber auch bei solchen Leuten, welche
scheinbar völlig gesund, später an Lungentuberculosis erkranken, macht sich,
schon bevor eine Lungenerkrankung physikalisch zu beweisen ist, oder wenn
die Erkrankung in dem allerfrühesten Zustande steht, eine auffallende
Beschleunigung der Herzcontraction bemerkbar, besonders hervor-
tretend nach relativ geringen körperlichen Anstrengungen und psychischen
Erregungen. Die Pulsfrequenz ist dementsprechend vermehrt und zwar
steht sie eigentlich gar nicht in dem richtigen Verhältnisse zu dem etwa
bestehenden geringen Fieber oder der körperlichen Anstrengung; sie geht
vielmehr über das gewöhnliche Verhältnis hinaus. Die vermehrte Pulsfrequenz,
welche auch ohne Temperatursteigerung und ohne Gemüthsbewegungen sich
breit macht, ist im Stehen und Sitzen deutlicher als in der Rückenlage. Die
Kranken empfinden diese Beschleunigung der Herzcontractionen als Herz-
klopfen. Die Pulse selbst sind in der Regel weich und klein, selten ver-
rathen sie eine Spannung. Die leichte Erregbarkeit der Herzthätigkeit beruht
zum Theil auf der Anämie, welche die Tuberculosis pulmonum vielfach ein-
leitet und begleitet. Von der Beschleunigung abgesehen, hat die Beschaffen-
heit des Pulses nichts Charakteristisches für die Lungenschwindsucht; je mehr
die Abmagerung und Entkräftung fortschreitet, um so weicher und kleiner
wird der Puls; besteht Fieberbewegung längere Zeit und hoch, so wird er
frühzeitig und deutlich dicrot. Das Herz selbst wird durch die lokale Erkran-
kung in der Lunge in seiner Lage und Function beeinflusst, nicht minder ist
dieses auch der Fall bei den grossen Gefässen in dem Brustraume. Die
Herzcontractionen verrathen sich bei den Phthisikern mit breiten Inter-
costalräumen und der abgemagerten Brustwand durch eine Verbreiterung des
Spitzenstosses; häufig treten systolische Einziehungen in der Herzgegend ein,
weil die weiten, dünnen Intercostalräume bei genügender Herzenergie dem
Luftdrucke nachgeben. Der zweite Pulmonalton erscheint vielfach ver-
stärkt, weil der Blutdruck im Gebiete der Pulmonalarterie durch den Unter-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 761
gang zalilreiclier Pulmonalarterienäste erhöht ist. Selten aber kommt es zu
einer Hypertrophie des rechten Ventrikels; vielmehr ist es die Regel, dass
das Herz auffallend klein und schlaff, fett- und muskelarm in den Leichen
gefunden wird; der zweite Pulraonalton klingt trotzdem oft auffallend hell;
man kann den Schluss der Pulmonalklappe bisweilen als scharfen,
kurzen, diastolischen Stoss fühlen, wenn der vordere Rand des linken oberen
Lungenlappens inliltrirt ist und den Stoss des Klappenschlusses der Brust-
wand übermittelt; in diesen Fällen sieht man in der Gegend der Pulmonal-
arterie eine entsprechende deutliche Pulsation.
Wenn zu der Verdichtung des linken oberen Lungenlappens Zeichen von
Schrumpfung hinzutreten, so liegt das Plerz breiter der Brustwand an,
infolge dessen wird der Herzstoss breiter sichtbar; entsprechend der Retraction
des Lungengewebes entwickelt sich häufig eine mehr oder weniger deutliche
Dislocation des Herzens nach links und oben. Anderseits kann bei
starkem, vicariirendem Emphysem der Herzstoss nur sehr undeutlich erscheinen.
Die Herztöne sind im allgemeinen, entsprechend der schwachen Function
des Herzmuskels, welche durch fettige Degeneration der Musculatur des Her-
zens noch vermehrt wird, schwach hörbar, sie können durch sehr laute Neben-
geräusche in den Lungen ganz überdeckt werden; in seltenen Fällen können
dem Herzen benachbarte, grosse, glattwandige Cavernen der Lunge den Herz-
tönen einen Klang oder ein helleres Timbre verleihen. Die Herztöne sind nicht
immer rein, häufig hört man an der Mitralis und der Pulraonalis an Stelle
des ersten Tones einen unreinen Ton oder ein weiches, leises, systolisches
Blasen; es sind anorganische, accidentelle Geräusche, wie wir sie so häufig
bei anämischen, marastischen Zuständen und schweren fieberhaften Erkran-
kungen als Folgen einer ungleichmässigen Spannung der Arterienmembran
an der Pulmonalis und der Klappenmembran der Mitralis finden. Wirkliche
Veränderungen an den Klappen und durch sie bedingte organische Geräusche
haben mit dem Wesen der Tuberculosis nichts zu thun, sie sind zufällige
Vorkommnisse.
Von den Structur Veränderungen in dem Lungengewebe abhängig, gibt
das Herz den Anlass zu einer Gruppe von Geräuschen, welche mit einer Er-
krankung des Herzens nichts zu thun haben. Diese Herz-Lungen-
geräusche, welche immer systolisch sind und nur, wenn sie sehr laut auf-
treten, noch in den Anfang der Diastole hineinreichen, bestehen in einem
blasenden, schlürfenden, der Herzcontraction entsprechenden Geräusche, welches
über grossen, dem Herzen angrenzenden, dünnwandigen Lungencavernen zu
hören ist. Dieses pneumocardiale Geräusch, welches durch Suspen-
sion der Athmung mitunter fast bis zur Unhörbarkeit abgeschwächt, oft aber
auch durch die Athmung nicht tangirt wird, entsteht dadurch, dass die Be-
wegungen des Herzens sich der Wand des angrenzenden Hohlraumes und
durch die Wandung hindurch der in der Caverne befindlichen Luft mittheilen;
die Luftsäule des Hohlraumes wird hierdurch gepresst und entweicht unter
einem Geräusche durch den in die Caverne einmündenden Bronchus. In der
Diastole des Herzens kehrt die Luft unter einem viel schwächeren Geräusche
in die Caverne zurück.
Ausser diesen pneumo-cardialen Geräusche kommen am Thorax an den
verschiedensten Stellen Geräusche zur Beobachtung, welche mit der Systole
des Herzens isochron sind, und dadurch entstehen, dass infolge der heerd-
weise infiltrirten Lungen, infolge von Schrumpfungen des Lungengewebes,
pleuritischen Verwachsungen, Schwellungen der Bronchialdrüsen das Lumen
der Arterienäste comprimirt wird. Wenn infolge der Schrumpfung des
Lungengewebes des linken oberen Lungenlappens der Hauptstamm oder ein
Hauptast der Pulmonalarterie comprimirt wird, so wird das systolische Ge-
räusch, welches durch das Blut bei seinem Eintritte in die verengte Stelle
762 TUBERCULOSIS PULMONUM.
erzeugt wird, bald im zweiten linken Intercostalraiime, bald über dem oberen
Tboraxabschnitte gehört. Selten ist es, dass solche Geräusche in einem frei
durch eine Caverne verlaufenden Arterienaste entstehen.
Eine besondere Rolle spielt das Subclaviageräusch. In der Arteria
subclavia nämlich hört man ein kurzes, blasendes oder zischendes, der Systole
des Herzens isochrones Geräusch, welches an der Seite des erkrankten oberen
Lungenlappens auftritt; infolge dessen ist das Subclaviargeräusch vorwiegend
einseitig. Auch für dieses Subclaviageräusch finden wir die Ursache in Com-
pressionen, Richtungsveränderungen, Knickungen des Gefässes infolge von
Schrumpfungen des Lungengewebes oder infolge von Zerrungen der Arterien-
wand bei Verwachsungen an der Lungenspitze, sei es, wenn die Pleurablätter
unter einander verwachsen, sei es, wenn die äussere Fläche des Pleurasackes
mit der Arterie verwächst. Dieses Subclaviageräusch folgt den
Athembewegungen, besonders den lebhaften Athembewegungen, es wird
bei Inspirationen durch die starke Zerrung und Verschiebung ver-
stärkt, oder tritt überhaupt nur am Ende einer tiefen Inspi-
ration auf, bei der Exspiration wird es schwächer. Nach Rühle
findet man aber solche Subclaviageräusche mit derselben Verstärkung bei
der Inspiration jedenfalls auch häufig dann, wenn keine Spitzenaffe ction vor-
liegt, so vor allem bei anämischen und chlorotischen Personen. Das Sub-
claviageräusch verdient nach Rühle nur dann Beachtung und soll dann
einen pathognomischen Werth haben, wenn dasselbe nur bei der Exspi-
ration erscheint oder während dasselbe lauter wird; dieses Geräusch,
welches man am deutlichsten in der äusseren Hälfte der Fossa supraclavi-
cularis hört, soll sicher eine Verwachsung der Pleurablätter an der betreffen-
den Lungenspitze beweisen. Der Werth dieses Geräusches wird von anderer
Seite in Abrede gestellt. Nach unserer Erfahrung begleitet thatsächlich
das exspiratorische Subclaviageräusch häufig die frühesten Stadien der Phthi-
sis incipiens, wir haben auch wiederholt in eklatanter Weise das RüHLE'sche
Geräusch vernommen, wenn kein anderes physikalisches Symptom auf eine
beginnende Lungenspitzenerkrankung oder Lungenstörung überhaupt hinwies
und erst nach Monaten und Jahren die Tuberculosis deutliche Symptome
setzte, wir haben aber auch das exspiratorische, gerade so wie das
inspiratorische Subclaviageräusch kommen und verschwinden
sehen bei einfach anämischen Personen, entsprechend dem Ver-
schwinden und Wiederauftreten der chlorotischen Symptome; in solchen
Fällen von einer kommenden und gehenden Verwachsung der Pleurablätter
sprechen zu wollen, geht nicht an, so dass wir dem exspiratorischen Sub-
claviargeräusche nur in beschränkter Weise einen Werth vindiciren
können. Mehrere derartige Fälle habe ich übrigens Rühle selbst demonstrirt
und vorgestellt.
Compressionen der Arterien kommen aber nicht nur durch
pathologische Processe der Lungen und der Pleura zu Stande, sondern auch
Schwellungen und Vergrösserungen der Bronchialdrüsen können einen
Druck auf die Gefässe ausüben. Im Anschlüsse an die Lungentuberculosis
schwellen die Bronchiallymphdrüsen erheblich an, vor allem im Kindesalter,
in welchem die Erkrankung der Bronchialdrüsen die Haupterkrankung vor-
stellen kann; diese Vergrösserungen können erhebliche Compressionen der
Luftwege, des Nervus recurrens, ebenso wie der Aeste der Pulmonalarterie,
selbst der Aorta mit nachfolgender Hypertrophie des linken Ventrikels be-
wirken. Für das Ohr zeigen sich die durch Bronchialdrüsenschwellung be-
wirkten Compressionen der Aeste der Pulmonalis und der Aorta durch bla-
sende, zischende Geräusche, welche der Systole des Herzens gleichzeitig
sind, an.
TUBERCULOSIS PULMONUM. 763
Noch viel mehr als die Arterienäste unterliegen die Venenstämme in
der Brusthöhle der Compression durch das erkrankte Lungengewebe, durch
pleuritische Veränderungen und durch Bronchiallymphdrüsenschwellung. In-
folgedessen treten die Venen am Halse, an der Brustgegend, an den Schultern
sehr stark hervor, umsomehr, als die Haut der Phthisiker blass und fettarm
erscheint. Je mehr Lungengewebe seiner normalen Function entzogen wird,
umsomehr bilden sich venöse Stauungen aus; die Lippen werden cyanotisch,
das Gesicht schwillt leicht an, der Gasaustausch in den Lungen ist behindert
und sicher verursachen die Venencompressionen einen Theil der Kurzathmig-
keit, welche im Wesentlichen allerdings auf der Verkleinerung der respira-
torischen Fläche in den Lungen beruht.
Bei den meisten Phthisikern besteht eine bemerkenswerthe Anämie,
selbst dann, wenn die Nahrungszufuhr eine hinreichend grosse ist und auch
die Ausnutzung im Magen-Darmcanal vollkommen befriedigt; manchmal ver-
deckt sich selbst die Phthisis incipiens unter dem Bilde der C h 1 o r o s i s und
der Anämie. In solchen Fällen findet man blasse Schleimhäute, blutarme
Haut, Venensausen in den Jugularvenen, systolische, blasende, weiche Geräusche
an der Pulmonalis und dem Mitralostium.
Das Blut selbst ist im allgemeinen wenig verändert, ich habe viele
Hunderte Blutuntersuchungen vorgenommen, ohne ein bestimmtes
Gesetz aufstellen zu können, wohl kann man sagen, dass vielfach der Hämo-
globingehalt der rothen Blutkörperchen vermindert ist, die Zahl der
rothen Blutkörperchen und ihr Verhältnis zu den weissen
Blutzellen aber zeigt keine sicheren Anhaltspunkte, meistens ist die Zahl
der rothen Blutzellen etwas vermindert, jedoch in vielen Fällen erreicht sie
nicht nur den normalen Werth, sondern steigt über ihn hinaus. Die Blut-
menge soll im Ganzen vermindert sein.
Schreitet die Anämie im Verlaufe der Lungentuberculosis fort, sinkt
durch das Fieber und mangelhafte Nahrungsaufnahme die allgemeine Kör-
perkraft, so entwickelt sich schliesslich aus ihr die Hydrämie, welche
bei der sinkenden und geringen Herzkraft mit folgender Stauung des Venen-
rückflusses zu ödematöser Anschwellung führt; die Oedeme beginnen anfangs
in leichter Form an den Knöcheln, sie treten zunächst gegen Abend auf,
verschwinden bei der Nacht durch die Bettruhe wiederum, allmählig aber
gehen sie auch bei dauernder Hochlage der Beine nicht mehr ganz zurück,
sie nehmen vielmehr langsam zu, erstrecken sich auf die ganzen Unterschenkel
und greifen auf die Oberschenkel über, auch die Körperhöhlen können in den
Bereich der hydrämischen Transsudate gezogen werden, selten aber
erreichen die Oedeme der Beine und der Ascites solch hohe Grade, welche
wir bei Herzfehlern, bei Nierenentzündungen und Lebercirrhosis sehen.
Vielseitig wie das Blutgefässsystem unmittelbar durch die tuberculöse
Erkrankung in Mitleidenschaft gezogen ist, betheiligt sich auch das Lymph-
gefässystem lebhaft an der Störung. In der Brusthöhle selbst sind,
wie bereits erwähnt, die Lymphdrüsen geschwellt, ohne dass man diese Ver-
grösserung an dem Lebenden nachweisen könnte, es sei denn, dass sie durch
Recurrenslähmung, durch Compressionserscheinungen von selten der Pulmonal-
arterienäste, der Aorta oder den Venen sieht- und hörbare Symptome setzen.
Nur sehr selten kann man die Vergrösserung der Lymphdrüsen durch eine
Dämpfung über dem Manubrium sterni oder zu beiden Seiten desselben oder
zwischen den Schulterblättern nachweisen; im Kindesalter gelingt dieses
häufiger als im mannbaren Alter. Sehr häufig sind auch die mesenterialen
und retroperitonealen Lymphdrüsen geschwellt, zumal wenn der
Tractus intestinalis tuberculös erkrankt ist; aber auch hier gelingt es nur
äusserst selten, die Vergrösserung der Lymphdrüsen durch Tumorenbildung
nachzuweisen. Gelegentlich verrathen sich die Erkrankungen der Lymph-
764 .TUBERCULOSIS PULMONUM.
drüsen dadurch, dass sie nach vorhergehender tuberculöser Erweichung in
Nachbarorgane durchbrechen, so kennen wir Perforationen verkäster
Bronchialdrüsen in den Oesophagus, in die Blutgefässe, in die Trachea oder
einen Bronchus; wenn vor dem Durchbruche der Lymphdrüsen eine Verkal-
kung stattgefunden hatte, so kann bei Perforation in einen der Bronchienäste
verkalktes Material sich dem Auswurfe zugesellen und auf diese Weise als
falsche Lungensteine ausgehustet werden.
Die peripheren Lymphdrüsen zeigen fast stets Veränderungen: sie
sind mehr oder weniger vergrössert, meistens schmerzlos; man fühlt sie deut-
lich am Halse, oberhalb und unterhalb der Clavicula, man kann sie oft bis
hinter die Clavicula verfolgen und recht häufig trifft man sie an der Seite
am zahlreichsten und frühesten an, welche der erkrankten Lungen-
spitze entspricht, oft sogar früher, als man die Lungenkrankheit nachweisen
kann. Die Lymphdrüsen selbst können die verschiedensten Veränderungen
durchmachen, sie können zwar hart bleiben und auf einer gewissen Grösse,
meistens Bohnengrösse, stehen bleiben, sie können aber auch erweichen, mit
Nachbardrüsen verkleben, grössere Paquete bilden und nach aussen durch-
brechen.
Im Bereiche des Verdauungsapparates begegnen wir einer grossen
Mannigfaltigkeit von Störungen, welche man ebenfalls als Theilerscheinungen
der Tuberculosis, nicht als eigentliche Complicationen auffassen muss, manche
sind schon ausgeprägt, ehe die Lungenschwindsucht klinisch nachgewiesen
werden kann.
Bei sehr vielen Patienten besteht eine eigenthümliche Röthe des Zahn-
fleisches mit scharfem, rothem Saume, FREDERicQ-TnoMPSON'scher
Zahnfleischsaum, welcher thatsächlich bei einer grossen Zahl von
Leuten zur Beobachtung kommt, die nicht nur an ausgeprägter Phthisis leiden,
sondern welche erst in den Anfängen oder im Verdachte der Tuberculosis
stehen. Sehr häufig sind die Zähne cariös, die Zahnkrone ist zernagt und
der Zahnschmelz geschwunden. Im Beginne der Erkrankung sind die Stö-
rungen des Verdauungsapparates aber wesentlich rein functio-
neller Natur und vorwiegend sind es Erscheinungen, welche mehr oder
minder mit dem Magen zusammenhängen. Vor allem ist es eine auffallend
verminderte Esslust im allgemeinen und ein unüberwindlicher Wider-
wille gegen manche Speisen. Das Bild der Appetitlosigkeit beherrscht den
Anfang der Lungenerkrankung recht häufig derart, dass der Kranke gar nicht
an den Husten denkt, welcher noch nebenbei besteht; es kann auch die
Appetitlosigkeit monatelang bestehen, ehe irgend ein objectives Symptom der
Lungenschwindsucht in den Beobachtungskreis tritt. Man bezeichnet gerne
diese Form der initialen Lungentuberkulose als latente dyspeptische
Phthisis. Solche Fälle sind es, bei welchen die Section keine anatomische
Veränderung der Magenschleimhaut erkennen lässt, höchstens Anaemie der
gesammten Mucosa. Wirkliche Verdauungsstörungen liegen objectiv
nicht vor; ich habe in vielen Dutzenden Fällen die Verdauungsprincipien
des Lebenden geprüft und fast stets gefunden, dass die Verdauungsproben
normal ausfielen, Eiweisswürfel im Probeglase hinreichend rasch der Ver-
dauung unterlagen, Salzsäure in normaler Menge im Magensafte vorhanden
war und Zersetzungsproducte im ausgeheberten Magensafte mangelten; auch
meine klinische Erfahrung deckt sich mit diesen chemisch-physiologi-
schen Studien in der Weise, dass solche Patienten Nahrungsmittel in grossen
Mengen leicht und gut verdauten, wenn mit der Schlundsonde das Nähr-
material eingeführt wurde. Thatsächlich — normale Magenver-
dauung haben auch fast ausschliesslich diejenigen Patienten, welche eine
starke Abneigung gegen einzelne Nahrungsmittel äussern. Der Gedanke
an Milch, Fleisch, Eier flösst schon manchem Kranken das Gefühl von Ekel
TUBERCULOSIS PULMONUM. 765
und Unbehagen ein, und doch lehrt die Erfahrung, dass auch solche Kranken
diese Nahrungsmittel in beträchtlichen Quantitäten regelrecht verdauen, wenn
man mit dem Magenrohr diese Nährstoffe unmittelbar in den Magen iDringt;
in zahlreichen Untersuchungsreihen fand ich fast ausnahmslos den Magensaft
allen physiologischen Postulaten entsprechend vor. Bei diesen Patienten ist
im Allgemeinen die Zunge ohne Belag, die Mundschleimhaut unverändert,
höchstens etwas blass; tiefgreifende Erkrankungen des Mundes fehlen unter
allen Umständen.
Bei einer anderen grossen Gruppe stellen sich frühzeitig im Beginne der
Erkrankung, häufig als erstes und einziges Symptom einer Störung, Erschei-
nungen ein, welche einem einfachen Katarrh des Magens entsprechen.
Der Appetit liegt gänzlich darnieder, Uebelkeit und Aufstossen, Druckgefühl,
Gefühl der Völle, Schmerz im Epigastrium, Brechneigung und Erbrechen treten
hinzu, die Zunge ist belegt, die Lippen sind klebrig und fettig, schlechter
Geschmack im Munde leitet die Stomatitis catarrhalis ein; in den ausgebildeten
Fällen klagen die Patienten über Hitzegefühl, brennende Schmerzen und
Trockenheit im Munde; nachweisbar ist die Speichelsecretion ver-
mindert, die Mundschleimhaut ist lebhaft geröthet, die Zungenpapillen treten
stark vergrössert hervor, der Mundspeichel ist vielfach zersetzt und reagiert
sauer, auch ohne Fieber besteht lebhafter Durst. Auf der Schleimhaut des
Mundes, sowohl auf den Wangen, wie auf dem Boden der Mundhöhle haben
wir viel häufiger flache, katarrhalische Geschwüre beobachtet,
als man im Allgemeinen anführt. Die Zersetzung des Mundspeichels
macht die Speichelverdauung unwirksam, infolge dessen leidet die schon
gestörte Magenverdauung noch mehr. Das Erbrochene hat eine wechselnde
Beschaffenheit; bald ist es, je nach der Zeit, welche von der Nahrungsauf-
nahme bis zum Brechacte verflossen ist, reine, kaum veränderte Nahrung, bald
bildet es einen stark saueren, gährenden Speisebrei, bald ist es einfache, sauere,
öfters gallige, trübe Flüssigkeit, arm an Salzsäure und reich an Zersetzungs-
producten; Hefezellen und Sarcina finden sich vielfach in ihr. Vollzieht sich
bei sehr vielen Kranken der Brechact spontan, so ist es in anderen Er-
krankungsfällen der Hustenreiz, welcher zum Erbrechen führt; häufig leiden
gerade solche Patienten an heftigen Schmerzen nach dem Erbrechen, weil die
heftigen Hustenparoxysmen Zerrungen und kleine Zerreissungen der Bauch-
muskeln verschulden. Die Ursache der erheblichen Verdauungsstörung
vermuthen manche Autoren in einem Reiz, welchen die verschluckten phthi-
sischen Sputa auf die Magenwand ausüben; wir können uns dieser Mei-
nung nicht anschliessen, weil die katarrhalischen Erscheinungen des Magens
schon oft deutlich ausgeprägt sind, ehe überhaupt Sputum producirt wird
und fernerhin trotz grossen Mengen verschluckter Auswurfsmassen die Magen-
function gänzlich ungestört sein kann. In vielen Fällen nämlich bleibt
der Appetit vorzüglich bis zum Ende der Erkrankung hin, Verdauungs-
störungen fehlen gänzlich, mag die Speise leicht oder schwer erträglich
sein: selbst eine überreiche Nahrungszufuhr wird vollständig ausge-
nutzt, wie ich aus zahlreichen Stickstoff- und Fettbestimmungen
der Excremente gefunden habe. Schreiten aber in den Erkrankungs-
fällen, welche mit Magenstörungen verbunden sind, die dyspeptischen Er-
scheinungen voran, so entwickeln sich die Störungen in der Mundhöhle sehr
gerne gegen das Lebensende in der Weise, dass, aphthöse Ulcera auftreten
und Soorbildung statthat, zumal wenn der Mund nicht mit peinlicher
Sauberkeit behandelt und desinficirt wird. Das Auftreten von Soor, Oidium
albicans, welches fast stets das nahe Lebensende des Tuberculosen anzeigt,
überzieht die Zunge mit einem dicken, gelblich-grauen, schmierigen Belag,
welcher im mikroskopischen Bilde aus zahllosen rundlich-länglichen Sporen
und gegliederten Pilzfäden besteht. Diese Pilzwucherung kann die ganze
766 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Mundschleimhaut in Besitz ziehen, den Pharynx ergreifen, in den Oesophagus
hinabsteigen und selbst den Magen erreichen;in seltenen Fällen wuchert die Colonie
bis in den Larynx und die Trachea hinein. Mit der Soorbildung im Munde geht
häufig eine übergrosse Speie helsecretion einher, so dass der Speichel fast
ununterbrochen aus dem Munde herausfliesst. Steigen die Soorrasen bis zum
Schlünde hinauf, so ruft der Schluck act Schmerzen hervor; aber auch
ohne die Entwickelung von Oidium albicans ist häufig das Kauen und Schlucken
schmerzhaft, weil die Mundschleimhaut sehr leicht flach ulcerirt; gewürzte
und saure Speisen rufen in verstärktem Maasse Schmerzen beim Kauen und
Schlucken hervor, weil sie die wunden Stellen noch nebenbei ätzen. Abge-
sehen von diesen flachen und aphthösen Ulcera und den auf Soorbildung
beruhenden Beschwerden, können echte tuberculöse Geschwürsbil-
dungen in der Mundhöhle gleiche und ähnliche Symptome setzen. Die
locale Tuberculosis der Mund- und Rachenhöhle ist zwar viel
seltener als die tuberculöse Mitbetheiligung des Larynx, welche, wie wir schon
früher anführten, die qualvollsten Schluckbeschwerden so oft hervorruft, aber
sie ist doch, nach meiner reichen Erfahrung, viel häufiger, als man schlecht-
hin annimmt. Bei diesen tuberculösen Erkrankungen der Mundhöhle handelt
es sich fast ausschliesslich um eine secundäre Störung, welche sich darstellt,
als die Folge der Ueberimpfung der Tuberculosis durch das Sputum oder im
Pharynx als die unmittelbare Fortsetzung des tuberculösen Processes aus dem
Larynx. Am häufigsten finden sich tuberculöse Geschwüre und auch
mehr diffuse tuberculöse Infiltrationen am weichen Gaumen, auf den
Tonsillen, am Ueb ergang des Pharynx in den Larynx und auf der Zunge, vor-
nehmlich am Zungengrunde. Disseminirte, grau durchscheinende Miliartuberkel
in der Mund- und Pharynxschleimhaut kommen nicht oft zur Beobachtung.
So gross nun im Allgemeinen die Schluckbeschwerden und Schmerzen sind,
so überraschend ist es, dass in manchen Fällen trotz grosser und tiefer Zer-
störungen gar kein oder nur äusserst geringer Schmerz besteht. In demselben
Missverhältnisse steht auch sehr oft der Leichenbefund des Magens, in
welchen trotz erheblicher spontaner Schmerzen Erbrechen und Verdauungs-
störungen nur ein geringfügiger Katarrh, Anämie oder venöse Hyperämie der
Schleimhaut gefunden wird; tuberculöse Ulcera des Magens sind grosse Selten-
heiten, die Magen wand ist für die Ansiedelung des Tuberkelbacillus wenig
geeignet. Anders ist es mit dem Darme.
Der Darm zeigt wie der Magen die Eigenthümlichkeit, dass schon vor
dem Nachweise der Lungenschwindsucht functionelle Störungen vor-
liegen können. Es besteht ohne jede nachweisbare Ursache eine Neigung zu
Unregelmässigkeit in der Weise, dass Durchfälle mit Verstopfungen abwech-
seln zu einer Zeit, wo eine anatomische Erklärung vergeblich gesucht wird.
In anderen Fällen gehen Diarrhoen wochen- und selbst monatelang voraus,
es können längere Pausen mit normaler Darmfunction eintreten, in der Hegel
aber stellen sich die Durchfälle als unstillbar dar. Diese Fälle sind jedoch
immerhin selten im Vergleiche zu der grossen Anzahl von Darmstörungen,
welche sich zur manifesten Lungentuberculosis hinzugesellen und
sich durch Schmerzen und Durchfälle verrathen. In der überwiegenden
Mehrzahl besteht die Ursache in tuberculösen Geschwürsvorgängen
mit dem Lieblingssitze in der Umgebung der Valvula Bauhini, im unteren
Beum und im oberen Colon, nur selten treffen wir die Ursache in amyloiden
Veränderungen der Darmschleimhaut. Auch bei der Darmtuberculosis
spielt die Autoin fection durch das verschluckte Sputum, welches durch
den Magensaft nicht zerstört wurde, eine hervorragende Rolle. Entsprechend
dem Sitze der tuberculösen Darmgeschwüre äussern sich die Schmerz-
empfindungen, welche sehr heftig, selbst kolikartig sein können, mit Vor-
liebe in der Regio iliaca dextra, sie werden oft erst bei der Palpation ge-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 767
äussert. Je langsamer die tuberculöse Zerstörung der Darmwand fortschreitet,
um so geringer ist der Schmerz. Die Durchfälle, 2, 6, 10 — 20 und mehr an
Zahl in 24 Stunden, entsprechen im Allgemeinen der Ausdehnung der Darm-
erkrankung, aber selbst bei beträchtlichen Versch wärungen kann
der Durchfall gänzlich fehlen und sogar hochgradige Obstipation
herrschen. Die Stuhlbeschaffenheit hat nur dann einen pathognomo-
nischen Werth, wenn der Nachweis von Tuberkel bacillen in den
Fäces gelingt, man muss aber hierbei den Einwurf gelten lassen, dass es
sich vielleicht um Tuberkelbacillen handelt, welche durch verschluckte Sputa
in den Darmcaual gelangt sind. Manchmal imponirt der Stuhl dadurch, dass
er eine rothbraune, schmutzige Färbung hat, dass sich also Blut aus höher
gelegenen Darmgeschwüren stammend, ihm beimischte; ist der Sitz der
Blutung abwärts im Colon gelegen, so sieht man das Blut in rothen Streifen
und IQümpchen in den Ausleerungen.
Die Lungenphthisis kann von Durchfällen erheblicher und hartnäckiger
Art begleitet sein, ohne dass tuberculöse Verschwärungen vorliegen; es kann
sich dabei um reinen Darmkatarrh handeln, immerhin ist es ein seltenes
Vorkommen und nur mit grösster Reserve vermuthbar. Die tuberculösen
Geschwürsprocesse sind in der Regel mit katarrhalischen Entzündungsvor-
gängen vereint. In anderen, ebenfalls seltenen Fällen findet man bei Phthi-
sikern, welche im Leben hartnäckige Durchfälle hatten, Amyloid des
Darmes; charakteristische klinische Symptome fehlen uns gänzlich für das
Darm- Amyloid; hartnäckige, schmerzlose Durchfälle, welche frei von Eiter,
Gewebsfetzen und Tuberkelbacillen sind, sollen bei gleichzeitiger Albuminurie,
Milz- und Leberschwellung für eine amyloide Entartung der Darmschleimhaut
sprechen, auch die amyloide Degeneration soll zu Darmblutungen führen
können.
Die hartnäckigen Durchfälle schwächen den Körper un-
gemein, weil ein grosser Theil der Nahrung mehr oder weniger unausgenutzt,
den Darmcanal passiert. Früher bezeichnete man diese diarrhoeischen Sym-
ptome im Verein mit den Nachtschweissen als colliquative Erscheinungen,
von colliquescere = zerfliessen abgeleitet, indem man annahm, dass dadurch
die Körpersubstanz allmählig verflüssigt würde.
Eine besondere Rolle, zumal in der älteren Pathologie, spielen bei der
Lungentuberculosis die Mastdarmfisteln. Bei den Phthisikern nämlich
kommen relativ häufig Mastdarmfisteln vor, welche meistens tuberculösen Ur-
sprunges sind. Die älteren und auch manche Aerzte der Neuzeit betrachten
diese Fisteln als ein noli me tangere, sie schreiben ihnen sogar einen günstigen
Einfluss auf den Körper zu, indem eine derartige Fistel am Mastdarme eine
Art von Ableitung bilde, welche die betrefiende Person von der Lungen-
schwindsucht schütze oder bei bereits bestehender Tuberculosis das Fort-
schreiten der bacillären Zerstörung hindere; auch beschleunige, zumal bei
schon vorhandener Lungenaffection, der operative Verschluss der Fistel rasch
den Zerfall in den Pulmones. "Wir können uns dieser Meinung, auf manche
Erfahrung gestützt, nicht anschliessen, sondern halten die Mastdarmfistel
bei Phthisikern oder bei der Tuberculosis pulmonum verdächtigen Leuten für
eine lästige Begleiterscheinung, welche der operativen Behandlung dringend
bedarf. Abgesehen von der Unannehmlichkeit, eine eiternde Fistel am Mast-
darme zu haben, w^elche die Leib- und Bettwäsche beschmutzt, zu lästigen
ekzematösen Erkrankungen der Haut der Umgebung des Afters führt, durch
Verstopfung mit nachfolgender Entzündung zeitweise lebhafte Schmerzen ver-
ursacht und das leichte Gehen und Sitzen verhindert, bietet die tuberculöse
Mastdarmfistel stets die Möglichkeit, dass von ihr aus benachbarte Lymph-
drüsen tuberculös erkranken und dadurch der allgemeinen Infection Thür und
768 Tuberculosis pulmonum.
Thor geö£fnet wird. In den Endstadien der Lungentuberculosis ist jedoch die
energische Behandlung der Mastdarmtistel zwecklos.
Mit dem Verdauungscanal im engen Zusammenhang stehen die Ver-
änderungen der drüsigen Organe der Bauchhöhle, welche das all-
tägliche Bild der Lungenschwindsucht erweitern. Sehen wir ab von den
seltenen Fällen, in welchen man von der schlaffen, abgemagerten Bauchdecke
her vergrösserte Mesenterialdrüsenknoten durchfühlen kann, so spielen
die grösseren Unterleibsdrüsen, die Leber, die Milz und Nieren eine
hervorragende klinische Rolle.
Die Leber, welche nur selten specifisch tuberculös erkrankt, präsentirt
sich als Stauungsleber, als Fettleber und Amyloidleber oder als
Combinationen dieser Form, gleicher Weise, wie bei anderen schweren,
chronischen Erkrankungen. Die Stauungsleber kommt meistens mit der
Fettleber gepaart vor (anfangs als Muskatnussleber, später als atrophische
Muskatnussleber), sie verräth sich durch Druck und Schwere, selbst durch
lebhaften Schmerz in der Lebergegend als Folge der Anspannung der Leber-
kapsel. Die Leberdämpfung ist gleichmässig vergrössert, der untere Rand
ist deutlich palpabel; in ausgesprochenen Fällen überragt die Stauungsleber
den Rippenbogen um Handbreite und mehr, die Leberoberfläche ist glatt.
Bisweilen tritt ein leichter Icterus hinzu als Folge der Compression der
kleinen Gallengänge in der Leber durch die erweiterten gestauten Blutgefässe.
Der Stuhl erscheint relativ arm an Gallenbeimischung. Die Fettleber,
die Folge der fettigen Degeneration der Leberzellen, zeigt sich durch eine
teigige Consistenz an; sie ist weniger im Dickendurchmesser als im Längen-
durchmesser vergrössert, infolge dessen ist sie nur flach vergrössert, schlecht
palpirbar, zumal ihre Consistenz herabgesetzt ist; der Leberrand ist abge-
rundet und stumpf. Die Percussion lässt gerne den Colonschall durchdringen.
Bei der reinen Fettleber ist das rechte Hypochondrium weich und nicht auf-
getrieben. Die Amyloidleber ist in allen Durchmessern vergrössert, selbst
bis zum Doppelten ihres normalen Volumens, und leichter nachweisbar, weil
ihre Consistenz praller, fester und härter ist; der Leberrand ist scharf, die
Oberfläche hart; nur bei hohen Graden der speckigen oder amyloiden Leber-
entartung ist das rechte Hypochondrium aufgetrieben. Die Speckleber, welche
seltener als die Stauungs- und Fettleber ist, wird stets von der gleichen Ent-
artung der Nieren und der Milz begleitet.
Die Amyloidmilz tritt als deutlicher Tumor mit fester Consistenz neben
der Speckleber hervor, die Geschwulst kann beträchtliche Grösse erreichen.
Die Stauungs milz hat stets weiche Consistenz, nur selten ist sie be-
trächtlich vergrössert. Tuberculöse Milzerkrankungen kommen nicht
oft vor; bewirken sie eine Schwellung, so bleibt uns meistens die tuberculöse
Ursache verborgen; miliare Milztuberculosis verläuft bei Lebzeiten gänz-
lich Symptomenlos.
Das uropoetische und sexuelle Gebiet bleibt kaum jemals von
dem Verlaufe der Lungentuberculose unberührt.
Betrachten wir zunächst den Harn, so bietet er im Beginne und selbst
bei ausgeprägter Phthisis nichts Charakteristisches dar. Der Harn
hat ein normales specifisches Gewicht, seine Reaction ist sauer, sein Gehalt
an Harnstoff, Stickstoff, Harnsäure, Chlornatrium, Phosphorsäure, Schwefelsäure
entspricht den physiologischen Erfordernissen, nur seine Farbe ist häufig
sehr hell, entsprechend der bestehenden Anaemie. Bei gleichzeitigen
Verdauungsstörungen ist der Harn nicht selten relativ schwach sauer,
infolge dessen er oft ein sehr reichliches Phosphatsediment bildet. Tritt
Fieber ein, so folgt der Harn den Temperatursteigerungen, indem seine
Menge sinkt, sein specifisches Gewicht steigt, seine Farbe dunkler wird und
beim Erkalten harnsaure Salze sich zu Boden schlagen. Bei profusen
TUBERCULOSIS PULMONUÄI. 769
Diarrhoen ist auch ohne Fieberbewegung die Harnmenge vermindert und
concentrirt. Allmählig aber treten im Harne Veränderungen auf, welche theils
vom Fieber abhängig sind, theils auf eine Erkrankung der Nieren hinweisen.
Hält nämlich das Fieber lange Zeit an, so findet sich im Harne in geringer
Menge Eiweiss, welches mit dem Nachlass des Fiebers wieder gänzlich ver-
schwinden kann; auch nach profusen Durchfällen können solche geringe
Albumenmengen im Harne kommen und gehen. Allmählig aber verschwinden
diese Eiweissspuren nicht mehr, sondern sie nehmen an Menge zu, und
Formelemente im Harnsedimente lehren, dass das Merengewebe erkrankt
ist. Es bildet sich nämlich sehr gerne im Verlaufe der Lungenschwindsucht
eine chronische, parenchymatöse Nephritis, wesentlich der Cortical-
substanz aus; der Harn erscheint dann sehr dunkel von Farbe und sieht oft
trübe aus; auch nach einigem Stehen bleibt er undurchsichtig, weil die in
dem concentrirten Harne ausgeschiedenen Urate in der eiweisshaltigen Harn-
menge suspendirt gehalten werden ; seine Menge ist vermindert und kann vor-
übergehend auf 300 — 400 cbcm herabsinken, bewegt sich aber meistens zwi-
schen 500 — 700 c&cw innerhalb 24 Stunden; das specifische Gewicht ist meistens
über 1020 hinaus, die Reaction ist sauer. Der Eiweissgehalt ist gross,
ich habe schon 5 und 6% Albumen in solchen Urinmengen gefunden bei
Phthisikern, deren Obduction die Diagnose auf chronische parenchymatöse
Nephritis erhärtete. Lässt man den Harn im Spitzglase stehen, so bildet sich
ein Bodensatz aus, in welchem man mikroskopisch Nierencylinder von
wechselnder Breite und Länge findet; dieselben sind vorwiegend hyalin oder
feinkörnig; grobkörnige Cylinder findet man weniger häufig, in der Regel
kommen diese Arten nebeneinander vor, zu welchen sich als vierte Form
Fetttröpfchencylinder gesellen; auch wachsartige Cylinder kommen
vor. Daneben trifft man noch Nierenepithelien, welche häufig verfettet
sind, an, ebenso rothe und weisse Blutzellen; die letzteren sind viel
häufiger vorhanden als ersteren.
Der Harn zeigt ein wesentlich anderes Verhalten, wenn eine amyloide
Degeneration der Nieren sich entwickelt hat. Die speckige Entartung
der Nieren bildet sich in der Regel erst aus, wenn die Leber und Milz bereits
der Amyloidbildung erlegen sind. Die Urinmenge ist im Allgemeinen etwas
vermindert, die Farbe ist hell, mittelgelb, das Aussehen ist bald klar, bald
etwas getrübt, das specifische Gewicht ist vermindert und geht selten über
1015 hinaus, beim Stehen fällt nur ein geringes, häufig gar kein Sediment zu
Boden. Der Eiweissgehalt ist beträchtlich hoch und geht nicht selten
über 3 und 4 7o hinaus. Die mikroskopische Untersuchung des spärlichen
Sedimentes ergibt meistens schmale, hyaline Cylinder, welche mit Fett-
tröpfchen, Rundzellen und Epithelien der Harncanälchen bedeckt sind; daneben
treten auch spärliche verfettete Nierenepithelien auf. Wachsartige
Cylinder finden sich nicht jedesmal; wenn sie auftreten, sind sie durch ihre
grosse Länge und Breite, ihre stark glänzende, oft gleichmässig homogene
Substanz leicht kenntlich; die Amyloidreaction gibt oft positive Resultate.
Wir wollen aber hier ani^ügen, dass man diese Cylinder, welche die Amyloid-
reaction zeigen, auch bei Nierenentzündungen, acuten wie chronischen, findet,
so dass man aus der positiven Amyloidreaction nicht auf die Speckniere
ohne weiters schliessen darf. Die Amyloidreaction beruht darauf, dass
in dünner Jodlösung (0-25 Jod, 0-5 Jodkalium auf 100 Wasser) die amy-
loiden Partien eine intensiv rothbraune oder mahagoniartige Farbe annehmen,
welche bei Zusatz von verdünnter Schwefelsäure (2*7 cbcm auf 100 Wasser)
schmutzig-violett, violett-blau, selten rein-blau wird. Mit grossem Vortheil
empfiehlt es sich, die Anilinfarbstoffe als Reagentien auf Amyloid zu
nehmen, indem 1% Methyl violett das Amyloid leuchtend roth färbt,
Eibl. med. Wissenschaften, I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 49
770 Tuberculosis pulmonum.
während nicht amyloide Stellen einen blauen Farbenton annehmen. Saffra-
nin färbt das Amyloid orangegelb, nicht amyloide Abschnitte aber rosenroth.
Bei der Amyloidniere können die Formbestandtheile so gering an
Zahl sein, dass man trotz hohen Eiweissgehaltes lange suchen muss, ehe
man ein paar Cylinder oder Merenepithelien findet; vermisst habe ich die
Formelemente nie. Ein reicher Eiweissgehalt mit geringen Form-
bestandtheilen spricht für die Amyloidniere, selbst dann, wenn die Leber
und Milz nicht nachweisbar speckig entartet sind, und da die Niere später
als die Leber und Milz amyloid degenerirt, so lässt sich bei bestehender
Speckniere auf eine schon vorhandene derartige Erkrankung der beiden
letzten Organe schliessen. Ueberraschend ist es bisweilen, bei Sectionen zu
finden, dass trotz grosser Eiweissmengen im Harne die Niere
makroskopisch sich normal verhält, und erst die mikroskopische und chemische
Untersuchung eine geringe amyloide Entartung erkennen lässt. Sicher
kommen auch Fälle von reiner Amyloidniere massigen Grades vor, bei
welchen der Harn gänzlich frei von Eiweiss bleibt. Im Ganzen aber
kommen reine Amyloidnieren sehr selten vor, meistens sind sie mit acuter
oder chronischer Nephritis gepaart und dadurch wird auch das Verhalten
des Harnes modificirt. Bei ausgesprochener Amyloiderkrankung fallen die
Kranken dadurch auf, dass sie eine auffallende, wachsbleiche Haut-
farbe haben; man will auch gefunden haben, dass mit der Entwickelung
dieser Nierenkrankheit die Lungenveränderungen einen Still-
stand erfahren und dass selbst eine Rückbildung des tuberculösen Processes
sich anzeigt. Nach meiner Erfahrung kann von Besserung hierbei keine
Rede sein, im Gegentheil, sehr bald tritt Hydrops, im Gesichte und an den
Knöcheln beginnend, auf, oder die schon bestehende Wassersucht steigert
sich rasch und bald tritt der Tod ein. Auch die parenchymatöse Nephritis
beschleunigt den lethalen Ausgang.
Die Stauungsniere producirt einen dunkel gefärbten Harn von geringer
Menge 200—400 cbcm, sauerer Reaction und hohem specifischen Gewichte
(1025 — 1035); häufig fällt ein Uratsediment beim Erkalten zu Boden.
Albumenausscheidung kann gänzlich fehlen oder tritt nur in geringer
Menge auf, so lange chronisch entzündliche, secundäre Veränderungen in
der Niere noch nicht Platz gegrifien haben. Das Harnsediment besteht
im wesentlichen mikroskopisch aus saueren, harnsaueren Salzen, bei lange be-
stehender Stauung finden sich einzelne Leukocyten und ausgelaugte rothe
Blutkörperchen, schmale, homogene, hyaline Cylinder, welche zuweilen mit
Fetttröpfchen besetzt sind, Epithelcylinder und Merenepithelien.
Die Untersuchung des Harnes klärt uns ferner darüber auf, wann der
Harnapparat in specifisch-tuberculöser Weise erkrankt ist. Während
die miliare Tuberculosis ohne Veränderung des Urins in ausgebreiteter
Weise bestehen kann, verändert die ulcerirte Tuberculosis des Harn-
apparates erheblich die Beschaffenheit des Harnes. Der Urin behält
zwar normale Menge und Concentration, er ist aber schon bei der Entleerung
trübe, reagirt oft, bei der Blasentuberculosis stets, alkalisch, riecht dann
zersetzt ammoniakalisch und faulig oder nach Schwefelwasserstoff, er hat ein
sehr reichliches, oft bröckeliges Sediment, welches aus grossen Mengen un-
veränderter oder gequollener und verfetteter Eiterzellen besteht, daneben rothe
Blutkörperchen, Trippelphosphate, Detritus und Schleim enthält, und ist
eiweisshaltig; das Wesentlichste bleibt der Nachweis von Tuberkel-
bacillen, welche oft in grossen Mengen vorkommen und nach der nämlichen
Methode aufgesucht werden, welche wir bei der Untersuchung des Sputum
auf Tuberkelbacillen dargelegt haben.
Der Geschlechtsapparat des Mannes und des Weibes betheiligt
sich häufig frühzeitig an der Lungenschwindsucht.
TUBERCULOSIS PULMONUM. 771
Bei Frauen macht sich oft schon als Vorläufer der Lungentuberculosis
eine Störung der Menstruation geltend; die Menses sind sparsam,
wässerig, unregelmässig, sistiren auch wohl für längere Zeit, um dann in
schwacher Weise wiederzukehren und schliesslich bei der Ausbreitung der
Tuberculosis in den Lungen gänzlich zu verschwinden. Diese klinischen
Symptome sind nicht der Lungenschwindsucht allein eigenthümlich, sondern
sie gesellen sich zu allen Erkrankungen oder Ernährungsanomalien, w^elche
zu Anämie, Kräfteverfall und Schwäche führen. Phthisisch veranlagte, schlecht
entwickelte Mädchen werden in der Regel sehr spät menstruirt, Fluor albus
ist dabei nichts Seltenes. Es kommen aber oft Fälle vor, bei welchen die
Menstruation sehr reichlich und regelmässig ist, wie wir dieses bei
der Blutarmuth auch häufiger sehen, und auch regelmässig bleibt bis in die
Endstadien der Lungenschwindsucht hinein. Hartnäckige Amenorrhoe, un-
regelmässige, spärliche Menstruation mahnt aber jedenfalls, die Lungen nicht
ununtersucht zu lassen.
Die Geschlechtsfunction erfährt in den Anfängen und mittleren
Stadien der Phthisis keine Veränderung; zu jeder Zeit kann Gravidität
eintreten, w^elche häufig jedoch durch einen Abortus oder Partus praematurus
vorzeitig beendigt wird; wir haben aber auch noch Frauen in dem Zustande
der Phthisis confirmata concipiren und normale Kinder gebären sehen. Die
Schwangerschaft an und für sich bildet bei der Lungenschwindsucht
kein erfreuliches Ereignis; abgesehen von der erblich belasteten Frucht be-
schleunigt sie den Kräfteverfall der graviden Phthisica, vor allem gegen das
Ende der Gravidität hin. Die im Volke weit verbreitete Ansicht, dass die
Schw'angerschaft günstig auf die Phthisis einwirke und dass während der-
selben die Schwindsucht wenigstens nicht um sich greife, vielmehr Neigung
zur Heilung zeige, können wir, auf reiche Erfahrung gestützt, nicht an-
erkennen, vielmehr tritt häufig am Ende der Schwangerschaft und
kurz nach der Geburt ein schneller Zerfall des Lungengewebes
ein, der vordem chronische Verlauf nimmt einen acuten Charakter an und
führt zu Miliartuberculosis; wiederholt haben ^\\r gesehen, dass Frauen,
welche jahrelang mit stationärer Phthisis behaftet waren oder welche alle
Symptome der narbigen Lungenschrumpfung ohne Auswurf mit vorzüglichem
Aussehen und bestem Ernährungszustande boten, sehr rasch durch floride
Phthisis zu Grunde gingen, indem sich an das Wochenbett unmittelbar das
Krankenlager anschloss, welches sie nicht mehr bis zum Tode verliessen.
Die wirkliche Tuberculosis des weiblichen Sexualapparates
ist, wenn auch nicht selten, so doch keine alltägliche Erscheinung, sie hat
hier für uns nur den Werth, dass die später noch zu erwähnende Peri-
tonitis tuberculosa ihren Ursprung von der Tuberculosis des Uterus,
der Tuben und der Ovarien nehmen kann. Sonst ist die Tuberculosis
der Schleimhaut des weiblichen Geschlechtsorganismus ohne speciell klinische
Bedeutung für den Verlauf der Lungenschwindsucht.
Der männliche Zeugungsapparat ist im ganzen häufiger erkrankt
als der weibliche, indem relativ oft die Prostata, die Samenbläschen und die
Hoden tuberculös erkranken; gerade die Erkrankung der Prostata und der
Samenbläschen erklären auch, weshalb die Blase beim Manne öfters tuberculös
erkrankt, als bei der Frau, w^eil eben von diesem Organe aus ein unmittelbares
Uebergreifen auf den Blasenhals und die Blase ungemein leicht ist. In der
Prostata und den Samenbläschen kommt es meistens zur Bildung käsiger
Heerde, selten zum Zerfall und zur Perforation, meistens imponirt bei der
Untersuchung die Prostata als eine feste Vergrösserung. Auch bei
den Hoden ist die Erweichung und der Durchbruch seltener als die Bildung
einer festen Geschwulst, welche mit Vorliebe den Nebenhoden zuerst
befällt und sich als harte, unebene, knollige Vergrösserung präsentirt. Trotz
49*
772 TUBERCULOSIS PULMONUM.
der Erkrankung eines oder beiden Hoden und Nebenhoden kann der Ge-
schlechtstrieb erhalten und sogar gesteigert sein; es ist eine
sichere Erfahrung, dass die Neigung zur Begattung bei den Lungenschwind-
süchtigen häufig ungemein stark ist und selbst bei hochgradigem Kräfte-
verfall, im Endstadium der Phthisis, dieser Trieb noch verstärkt erhalten bleibt.
Was das Nervensystem anlangt, so ist es zunächst auffallend, wie
gering der Einfluss von Lungenschwindsucht auf die geistige Function
ist. Die meisten Kranken behalten bis zu den letzten Athemzügen ein voll-
kommen freies Sensorium; fast alle Patienten verkennen die Natur
ihrer Erkrankung, sie sind hoffnungsfreudiger und zufriedener
Stimmung und denken nicht im Entferntesten an eine Gefahr oder das
nahe Ende. Nur wenige Patienten klagen über anhaltende Schlaflosigkeit,
auch wenn der Hustenreiz anhaltend die Ruhe stört. Bei manchen Patienten
tritt in den letzten Lebenstagen Somnolenz, Unklarheit und Ver-
wirrt sein auf, bedingt durch die hochgradige Anämie des Gehirnes und
das intracranielle Oedem, welches gerne dem nahen Tode vorausgeht.
Psychische Alterationen, plötzlich auftretende Delirien, maniakalische
und melancholische Erregungen bedeuten, dass das Gehirn und seine Häute
an dem tuberculösen Processe sich betheiligen; heftige Kopfschmerzen,
welche die Kranken bald mehr in der Stirn, bald im Hinterkopfe fixiren,
wiederholtes Erbrechen, Nackensteifigkeit leiten meistens die Cerebral-
störung ein.
Das Rückenmark betheiligt sich nur wenig an dem Krankheitsbilde
der progredienten Phthisis, obwohl dasselbe und seine Häute vom localen
tuberculösen Heerde ergriffen werden kann und dann charakteristische
Symptome setzt.
Häufiger als in dem Centralorgane treten Störungen in den peripheren
Nerven und Muskeln auf. Hierher gehören sehr heftige, neural-
gische Nervenschmerzen, welche in den Beinen, dem Rücken, der Brust
und in den Armen ihren Sitz haben und zuweilen sehr quälend sein können.
Die Ursache ist nicht immer nachzuweisen, doch ist anzunehmen, dass
durch pleuritische Verwachsungen, durch Schrumpfungen, durch Lymphdrüsen
Nervenstämme gezerrt und gedrückt werden. Auch heftige Muskel-
schmerzen können auftreten, bald spontan, bald nur auf Druck, auch sie
erinnern bisweilen an einen intermittirenden neuralgischen Typus; entweder
sind die Muskelschmerzen durch Zerrungen infolge der Husten stösse
veranlasst oder es liegen ihnen parenchymatöse Veränderungen des
Muskelgewebes zu Grunde. Vielfach macht sich eine allgemeine Hyper-
ästhesie der Haut und der tieferen T heile bemerkbar. In den
abgemagerten Brustmuskeln tritt sehr oft eine stark erhöhte, directe,
mechanische Erregbarkeit hervor; selbst bei leiser Percussion
sieht man deshalb an der beklopften Stelle eine partielle idio-musculäre
Erhebung, welche für einige Minuten anhält und als M y o d e s m a bezeichnet
wird. Die Erregbarkeit der Muskeln äussert sich bei der Percussion weniger
häufig in der Weise, dass nicht nur eine Erhebung an der percutirten Muskel-
stelle auftritt, sondern dass auch eine peristaltische Muskelcontraction
von dieser Erhebung aus langsam nach den beiden Muskelansätzen
fortschreitet. Beide Symptome finden sich übrigens auch bei anderen hoch-
gradigen Schwächezuständen; bei der Lungentuberculosis findet sie sich bis-
weilen nur einseitig, entsprechend dem Sitze der Erkrankung. Sind beide
Lungenhälften erkrankt, so entspricht mitunter die stärkere mechanische
Erregbarkeit der einen Seite dem Sitze des am meisten ergriffenen Lungen-
abschnittes. Bei manchen Phthisikern sind auch die Sehnenreflexe
lebhaft gesteigert. Recht häufig ist das vasomotorische Nervensystem
sehr erregbar. Bei geringer psychischer und körperlicher Erregung überzieht
TUBERCULOSIS PULMONUM, 773
sich das Gesicht, der Hals und der obere Theil der Brust m i t e in e r 1 e b h a f t e n
Köthe, oft pfeilschnell, um nach einiger Zeit langsam wieder abzublassen;
die Röthung kann sich auch allein auf einzelne Gesichtsabschnitte beschränken,
mit Vorliebe auf die Gegend der Jochbeine; auf vasomotorischen
Störungen beruht es auch, dass im Verlaufe des Fiebers lebhafte Röthe
der Wangen und der Jochbeingegend sich einstellt, welche man als hektische
Röthe bezeichnet; sie tritt, entsprechend der Fieberbewegung mit Vorliebe
gegen Abend auf und befällt häufig nur die Wange allein oder doch
stärker, welche der erkrankten Lungenseite entspricht; bei doppelseitiger
Lungentuberculosis stimmt mitunter die grössere Röthung auf einer Wange
mit der stärker ergriffenen Brustseite überein.
Auf der Haut bilden sich während der Lungenschwindsucht mancherlei
Merkmale aus. Die Haut ist im allgemeinen blass und durchsichtig
schon im Prodromalstadium und wird um so bleicher und farbloser, je weiter
die Erkrankung fortschreitet. Mit dieser Blässe contrastiren gelbliche,
dunkel- und hellbraune Flecken auf der Haut, welche mit Vorliebe
auf der unteren Halshaut, der Brust und dem Rücken angetroffen werden;
diese Flecken stehen anfangs einzeln, scharf begrenzt und getrennt da; sie
haben, so lange sie klein sind, eine stets kreisförmige Begrenzung, welche
sie bei weiterem Wachsthum verliert, um eine längliche oder unregelmässige
Form anzunehmen; später können sie flächenförmige Ausdehnung annehmen
und nicht nur die Brust und den Rücken vollständig, sondern den Bauch
und selbst die Glutealgegend, die Oberschenkel und Oberarme bedecken; nur
höchst selten kommen sie an den unbedeckten Körpertheilen, wie Hände und
Gesicht vor, auch befallen sie niemals die Füsse, sie schuppen wenig ab,
lassen sich aber leicht mit dem Fingernagel abschuppen, sie sind erhaben
oder liegen im Niveau der Haut, verursachen einen leichten Juckreiz, gar
keine Beschwerden und beruhen auf der Ansiedelung von Pilzen in
der Haut. Wenn man die Schuppen nach Zusatz von Kalilauge (1 : 3 Wasser)
mikroskopisch nach etwa 7^ Stunde untersucht, so sieht man in ihnen feine,
glattwandige, verzweigte und mit einander verfilzte Mycelfäden, sowie kleine,
vereinzelte oder zu Haufen bei einander liegende, runde Conidien von ziemlich
gleichmässiger Grösse und Gestalt, die an den Enden der Mycelien wie die
Beeren einer Traube hängen. Die Mycelfäden zeigen vielfach Querscheide-
wände; manchmal sieht man, dass die Conidien in Mycelfäden auswachsen.
Diese Pilzart mit ihrem rundlichen, glänzenden Sporn und den beweglichen,
oft mehrkammerigen Pilzfäden wird als Mikrosporon furfur bezeichnet
und wurde von Eichstädt 1846 entdeckt. Das durch die Mikrosporon-
Vegetation producirte Krankheitsbild der Haut führt den Namen Pityriasis
versicolor. Diese Dermatomykosis findet sich auch bei anderen Leuten
als bei Phthisikern, jedoch kommt sie in Wirklichkeit bei Schwindsüchtigen
viel häufiger vor, wohl deshalb, weil die Schweissausbrüche die Ansiedelung
von Pilzen in der Haut begünstigen; möglich, dass in vielen Fällen eine
mangelhafte Hautpflege und seltenes Wechseln der Wollwäsche die Vegetation
begünstigt, jedoch kommen auch trotz grösster Sauberkeit solche Pilzrasen
zur Entwickelung.
Grundverschieden und leicht zu unterscheiden von der Pityriasis versicolor,
der Kleien- oder Pigmentflechte ist eine andere Art der Hautstörung
bei Schwindsüchtigen, welche man als Pityriasis tabescentium bezeichnet;
bei ihr handelt es sich um kleine, weisse, der Epidermis lose aufliegende
und deshalb sich fortwährend abstossende Schüppchen, welche das Aussehen
von Kleie haben; es ist vorwiegend nichts anderes, als eine kleienförmige
Abschuppung der Epidermis, untermischt mit kleinen Schüppchen vertrockneter
Sebummassen. Die Pityriasis tab escentium seu tuberculosorum ist
keine Dermatomykose, sondern die Begleiterin allgemeinen Siechthums
774 .TUBERCULOSIS PULMONUM.
(tabescere = dahinsiechen) und mangelhafter Ernährung der Haut; sie ist
also keine Specifität der Phthisis, sondern gebunden an die Tabescenz, aus
irgend welchen Gründen.
Bei manchen Lungenschwindsüchtigen, sowohl männlichen wie weiblichen,
tritt im Verlaufe der Phthisis eine Pigmentbildung der Haut auf, welche
an das Chloasma uterinum erinnert und als Chloasma cachecticorum
seu phthisicorum bezeichnet wird. Schon in ziemlich frühen Stadien der
Lungentuberculose bilden sich braune bis hellgelbe, nicht prominirende,
glänzende Flecken, welche weder von Jucken, noch von Abschuppung be-
gleitet sind. Die Pigmentstellen sind bald nur einzelne Flecken, bald breiten
sie sich über grössere Flächen aus; am häufigsten finden sie sich auf der
Stirne und den oberen Wangenabschnitten, nur höchst selten an den Ex-
tremitäten, selten sind sie auch am Halse und an den Ohrmuscheln. Dieses
Chloasma phthisicorum kann den grössten Theil des Gesichtes überziehen, so
dass die Kranken wie mit einer leichten, braungelben Maske bedeckt aussehen.
Bei manchen Patienten tritt eine allgemeine dunklere, graubraune oder graue
Färbung der gesammten Körperhaut, gegen das Lebensende hin besonders
ausgesprochen ein, auch ohne dass die spätere Obduction eine Erkrankung
der Nebennieren feststellen kann.
Auf der Haut der Schwindsüchtigen kommen durch Schweissausbrüche
die verschiedensten Formen von Schweissfriesel vor. Diese Eruptionen,
als Sudamina, Miliaria, Hitzblätterchen bekannt, bilden zahlreiche,
hirsekorngrosse, meist isolirt stehende Bläschen, welche fast ausschliesslich
auf den bedeckten Körpertheilen, der Brust und dem Bauche auftreten, sich
über grosse Hautstrecken ausbreiten und mit Hinterlassung eines kleinen
Schüppchens eintrocknen. Die Miliariaausbrüche liefern entweder kleine,
gries- bis hirsekorngrosse, spitz geformte Bläschen, mit anfangs klarem,
später trübem Inhalt und von schmalem, rothem Saum umgeben, die Miliaria
rubra, oder leicht molkig, milchig getrübte Bläschen mit normal gefärbter
Umgebung, die Miliaria alba. Eine dritte Art stellt sich als wasserklare,
Thautröpfchen ähnliche Bläschen dar, die Miliaria crystallina, welche
bisweilen über die Grösse einer Linse hinausgehen, normale Umgebung haben
und ebensowenig wie die Miliaria alba und rubra confluiren; meistens entleeren
sie ihren neutral oder alkalisch reagirenden Inhalt frühzeitig, indem die sehr
dünne Epidermisdecke platzt oder gänzlich weggerissen wird, so dass die
Peripherie des früheren Bläschens durch einen schmäleren Epidermissaum
noch angedeutet wird. Mitunter auch verschwinden diese Crystallinabläschen
sehr rasch, ohne zu platzen, wenn der zwischen Bete Malpighii und Stratum
corneum der Haut angesammelte Schweiss durch Verdunstung und Resorption
die Bläschen verlassen hat; dieses geschieht manchmal schon innerhalb weniger
Stunden, so dass man Miliaria crystallina bisweilen nur in den Morgenstunden,
welche den nächtlichen oder frühmorgendlichen Schweissausbrüchen der
Phthisiker am zeitlich nächsten stehen, beobachten kann. Im Gegensatz hierzu
bleiben die Krystallfrieselbläschen häufig noch an der Leiche lange Zeit
bestehen.
Die Haare pflegen bei den Schwindsüchtigen infolge der mangelhaften
Ernährung der Haut frühzeitig zu atrophiren; das Haupthaar erscheint deshalb
trocken, es ergraut frühzeitig und fällt aus. Nicht nur das Kopfhaar ist
spärlich und zum Ausfallen geneigt, sondern auch das Barthaar, und alle
behaarten Körpertheile nehmen an dieser regressiven Metamorphose theil.
Eigenthümlich ist bei vielen Schwindsüchtigen das Verhalten der Nagel-
glieder an den Händen und Füssen; es betrifft diese Veränderung
aber nicht die Haut allein, sondern sie umfasst die gesammten Weichtheile
der Nagelglieder und die Nägel selbst. Die Nagelglieder, vorwiegend die-
jenigen der Hände, sind kolbig aufgetrieben und legen durch ihre eigenthüm-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 775
liehe Anschwellung die Bezeichnung Trommelschlägerfinger nahe; die
Nägel sind bei diesem Zustande stark in der Längsrichtung gekrümmt und
haben eine klauen- oder krallenförmige Gestalt; häufig verlieren sie zugleich
ihren Glanz und werden rauh, gefurcht und stellenweise verfärbt. Je lang-
samer sich die Lungenschwindsucht entwickelt, um so stärker tritt die
Trommelschlägerform hervor; bei der floriden Form der Lungentuberculosis
ist diese Verbildung selten. Die Ursache für die eigenthümliche Missbildung
der Endphalangen, welche auch bei anderen Erkrankungen mit erheblicher
Cyanosis, z. B, bei angeborenen Herzfehlern, vor allem der Stenosis des
Ostium pulmonale, bei manchen Bronchiectatikern, oft in weit stärkerem
Grade als bei der Phthisis pulmonum vorkommt, ist noch nicht aufgeklärt;
bald wird der verhinderte Venenblutrückfluss, bald der Schwund des Fett-
polsters der Nagelglieder, bald die mangelhafte Ernährung des Fingergliedes,
speciell der Nagelmatrix zur Erklärung herangezogen, doch genügt zur Zeit
noch keine Theorie.
Allgemeiiierscheinimgen bei der Liiiigentuberculosis.
Eine solche schwere Erkrankung, wie die Lungenschwindsucht, kann
naturgemäss sich nicht entwickeln und Lungengewebe zerstören, ohne den
gesammten Körper erheblich in Mitleidenschaft zu ziehen. Diese Störungen
des ganzen Organismus äussern sich klinisch durch Fieber, Abmagerung
und Schweissausbrüche.
Das Fieber ist der stetige Begleiter der Lungentuberculosis; eine
Lungenschwindsucht, in deren Verlauf kein Fieber vorkommt,
gibt es nicht, wohl kann lange, recht lange Zeit, monatelang, die Tem-
peratur normal sein, aber gänzlich frei von Fieber bleibt keine bacilläre
Lungenphthisis, sie mag noch so langsam und chronisch verlaufen. Im Allge-
meinen steht dasFieber in geradem Verhältniss zu derSchnel-
ligkeit, mit welcher sich die Erkrankung in der Lunge aus-
breitet und mit welcher die tuberculöse Infiltration und der
Zerfall des Lungengewebes fortschreitet.
Die Fieberbewegung der Schwindsüchtigen ergibt ein ungemein
buntes Bild: kaum erhöhte Temperatur wechselt mit den höchsten Tem-
peraturgraden ab, derselbe Patient kann wochenlang hohe Abendtemperaturen
zeigen und dann wieder wochenlang gar nicht oder nur unerheblich fiebern.
Eine der Lungenschwindsucht eigenthümliche Fieberform gibt
es nicht, eher noch kann man das atypische Verhalten der Temperatur-
tabelle für charakteristisch halten. Wenn die Phthisis incipiens schlei-
chend und langsam einsetzt, so macht sich wohl gegen Abend ein geringes
Frösteln, eine Neigung gegen geringe Abkühlungen bemerkbar, die Haut ist
blass, die Hände und Füsse werden etwas kalt, langsam röthet sich das Gesicht
auf den Wangen in der Nähe der Jochbogen, die Röthung ist oft umschrieben,
hektisch, die Pupillen sind weit, das Auge wird glänzend, die Handteller er-
hitzen sich, ein leiser Durst gesellt sich zu der beschleunigten Athmung, der
Kranke fühlt sich zwar etwas angegriffen, geht aber nur selten zu Bett,
obwohl sehr gerne um diese Zeit etwas trockner Husten auftritt; die Tem-
peratur dieser schleichenden Fälle ist nicht sonderlich erhöht, selten steigt
sie auf -4- 39^ C. oder + 39'5° C. herauf, meistens schwankt sie zwischen
38-0'' und 38-5^ C; am nächsten Morgen ist die Körperwärme wieder normal,
um Nachmittags oder gegen Abend in derselben leichten Weise zu steigen.
Anders verhält sich die Temperatur, wenn von vornherein die Lungentuber-
culosis in stürmischer Weise auftritt und in kurzer Zeit manifeste, physi-
kalische, pulmonale Symptome setzt. Mit und ohne Fröstelerscheinungen, nur
selten mit einem Schüttelfrost beginnend, steigt die Curve rasch auf -}- 39'5'' C.
und -|- 40° C. herauf, die Lippen sind trocken, die Wangö ist dunkelroth
776 TUBERCULOSIS PULMONUM.
gefärbt, die Athmung und die Herzthätigkeit sind lebhaft beschleunigt, die
Zunge wird trocken, die Patienten fühlen sich matt und legen sich bereit-
willig zu Bett. Das abendliche Temperaturmaximum zeigt Tag für Tag,
Woche für Woche, annähernd dieselbe Höhe, während die Morgentemperatur
kaum einen Abfall aufweist, nur geringe morgendliche Remissionen oder
einen continuirlichen Typus zur Schau trägt. Es gibt Fälle von acut ver-
laufender Lungenschwindsucht, von Phthisis florida, galopirender Schwind-
sucht, welche in 2 — 3 Monaten, selbst in 4 — 6 Wochen in einem Zuge zumTode füh-
ren, sie sind von der continuirlichen oder remittirenden Fieberbewe-
gung bis zum Exitus letalis begleitet. Gegen Ende des Lebens, wenn schon Collaps-
zustände sich einstellen, können die morgendlichen Eemissionen
sich zu wirklichen Intermissionen umwandeln, so dass die Zacken der
Curven sehr steil erscheinen. Ist der Verlauf nicht so stürmisch, son-
dern zeigt einen mehr chronischen Verlauf, so steigt im Laufe des Tages die
Temperatur langsam und erreicht Abends ihren Höhepunkt mit -[- 38"5*' C.
und -}- 39'0" C; Morgens fällt die Temperatur ab bis zur normalen oder
bis unter die normale Grenze; bei anderen Kranken wiederum erhebt sich
die Temperatur Abends auf + 39*5° und -{- 40° C. und kehrt Morgens zur
Norm zurück.
Diese beiden letzten Fieberbewegungen sind die häufigsten Bilder
der Febris, sie sind int er mittlren den Charakters, haben sehr
steile Zacken und führen mit Recht die Bezeichnung hektisches Fieber;
diese Fieberbewegung kann monatelang in demselben Typus fortdauern und
deshalb hat das Fieber solch' langsam verlaufender Fälle von Phthisis con-
firmata und consummata häufig einen monotonen Charakter. Kann man aus
den Fiebertabellen den continuirlichen, den remittirenden und intermittirenden
seu hektischen Typus als die Grundformen herausheben, so finden sich
anderseits im Verlaufe jeder einzelnen Phthisis alle möglichen Abweichungen
mit Bezug auf die Höhe und die Zeit des Fiebers; dieses Verhalten erklärt
sich leicht, wenn man sich erinnert, dass selten eine Lungentuberculosis in
gleichmässigem Tempo, sei es rasch, sei es langsam verläuft, sondern Zeiten
aufweist, in welchen der Verfall langsamer oder rascher von statten geht,
oft monatelange Stillstände hat und durch Complicationen unterbrochen wird.
Dementsprechend findet man, dass eine hektische Curve sich zeitweise
in dem Sinne ändert, dass die abendlichen Maxima kaum noch auf
-|- 37-5'^ C. und -|- 38"0'^ C. steigen, dass selbst wochenlang die abendliche
Temperaturhöhe durchaus normal ist. Die sehr chronische Phthisis, welche
vorwiegend mit cirrhotischen Processen zu thun hat und in Folge dessen oft
gar nicht mit Fieber oder nur mit geringer abendlicher Steigerung auf
-[- 38° C. verbunden ist, kann plötzlich hohe Fiebergrade annehmen und
lange Zeit behalten, um dann wieder zu der normalen oder subnormalen Tem-
peratur abzufallen. Auch im Verlaufe der Febris hectica kann die hektische
Höhe vorübergehend für längere oder kürzere Zeit einer mittleren und selbst
normalen Temperatur Raum machen; diese Abweichung kann sich im Ver-
laufe der Erkrankung mehrmals wiederholen.
Mit der Annahme, dass eine Phthisis zur Zeit fieberfrei ver-
laufe, muss man sehr vorsichtig sein, da durchaus nicht immer die Tempe-
raturerhöhung auf den Spätnachmittag und Abend fällt; oft genug
findet man bei der Lungenschwindsucht überhaupt einen Typus inversus, bei
welchem das Temperaturmaximum auf den Morgen, und das Minimum auf den
Abend fällt. Dieser Typus inversus kommt vorwiegend dann zu Stande,
wenn die Lungentuberculosis zur allgemeinen Miliartuberculosis geführt hat,
allein auch ohne Miliartuberculosis tritt diese Fieberart sehr häufig auf. Nach
unseren Erfahrungen kann zu jeder Tages- und Nachtzeit die
Temperatur ihren höchsten und tiefsten Stand erreichen;
TUBERCULOSIS PULMONUM.
777
innerhalb eines Tages kann überhaupt zweimal Maximum und Minimum auf
einander folgen, wir haben selbst schon innerhalb 24 Stunden ein
dreimaliges rasches Aufsteigen und Abfallen der Temperatur bemerkt.
Recht häufig haben wir bei Lungenschwindsüchtigen, welche Morgens und
Abends gemessen, normale Körperwärme hatten, geringere und grössere
Fieberbewegungen bestimmen können, wenn wir stündlich das Thermo-
meter einlegten. Gegen das Ende des Lebens hin, wenn die Erschöpfung und
die allgemeine Schwäche des Patienten sehr gross geworden sind, pflegen bei
dem hektischen Fieber die Abfälle vom Maximum bis zum Minimum sehr
gross zu sein, indem Temperaturerniedrigungen auf -{- 34" und -^35" C. nicht
allzu selten sind; durch diese Collap st emperatur kann auch ein vorheriger
Typus continuus sehr steile Fieberzacken annehmen.
Die Temperaturbewegung wird durch frische Entzündungen der
Pleura, durch Pneumonien und Peritonitis gesteigert, die Erkrankungen
des Lar)Tix und des Darmcanals haben geringen Einfluss auf die Curve,
Blutverluste, sehr starke Diarrhoen, Pneumothorax, CoUapszustände, setzen
die Körperwärme herab. Die meisten Schwindsüchtigen sterben nicht auf
der Fieberhöhe, sondern bei Temperaturabfall und vorhergehenden Collaps-
erscheinungen.
Die Hauptformen der Fieberbewegungen bei Lungenschwindsucht stellen
die beifolgenden Tabellen eigener Beobachtung dar.
Die Tabelle I zeigt die Curve der langsam verlaufenden, mit cirrho-
tischen Processen verbundenen Tuberculosis pulmonum. Die Tafel II veran-
schaulicht die Febris continua einer rasch und tödtlich verlaufenden Infiltra-
tionstuberculosis mit rapidem Lungenzerfall. Die Temperaturcurve III weist
die typische Form der Febris intermittens seu hectica. Die Temperatur-
tabelle IV zeigt bei einer Phthisis florida den Uebergang aus der Febris
continua und remittens, welche den Beginn der Erkrankung begleiten,
in die Febris hectica mit CoUapstemperaturen.
TEMPERATURCURVE N9I.
'b{\o.\Si'\\cA:'^u^t;rai(hsis puißnonu/w: cßwrtiscße MderstäieGe 3'neuinonie.
778
TUBERCULOSIS PULMONUM.
Von einzelnen Autoren ist angegeben worden, dass die Hauttempera-
tur über denjenigen Stellen erhöht sein soll, welche infiltrirten Stellen und
Cavernen entsprechen und dass, wenn die eine Seite einen infiltrirten oberen
Lungenlappen, die andere Seite bereits eine Caverne aufweist, die Achsel-
temperatur der Brusthälfte mit der Infiltration des Lungengewebes höher als
die Temperatur in der Achselhöhle der Seite mit der Caverne erscheine. Auf
Grund zahlreicher Nachprüfungen können wir diese Angabe nicht bestä-
tigen und damit fallen auch alle Folgerungen weg, nach welchen man mit
Hilfe des Thermometers den erkrankten Bezirk zu bestimmen im Stande wäre.
Was die Ursache des phthisischen Fiebers anlangt, so liegt die-
selbe Inder Resorption pyrogener, eitriger, septischer Substan-
zen, welche vor allem in dem sich zersetzenden Bronchial- und Cavernen-
TEMPERATÜR€URYE N9 ü.
JfmHtlu.lV iPMäisis f&ridcLy Soduiin 2r.£f^e derßrkran/iung.
^er ganze ,.neve/ver&uif enh/iriail JerJiEris cenhniM, libcreinsfimmend tnä dem ausserarde/d&JL rapiden (Scr^Mf
TEMPERATÜRCURVE" KT? ffl.
3{aa«&!li:it :. dWÄisis fiuGnonwti consummata.
Tuberculosis pulmonum.
779
secret vorhanden sind und in welchem nicht nur Tuberkelbacillen, sondern
auch Streptococcen, Pneumococcen, Staphylococcen und viele andere noch un-
bestimmte Bakterien in zahlloser Menge leben.
In der Fieberbewegung sehen wir auch die hauptsächlichste Quelle der
Abmagerung und des Kräfteverfalles. Bei den meisten Patienten ist
die Abmagerung auttallend stark und sie ist es, welcher die Lungentuberculosis
die Bezeichnung Schwindsucht verdankt. Die Abmagerung wird zuerst durch
den Schwund des Fettpolsters erreicht, die Haut lässt sich in hohen Falten
erheben, wird durchscheinend und oft papierdünn; durch Schwund des Fettes
der Augenhöhle sehen die Augen eigenthümlich eingesunken aus, die Backen-
knochen stehen hervor, der Bauch ist, wenn keine Complicationen bestehen,
flach oder eingesunken. Der Gewichtsverlust betriöt aber nicht nur das
Körperfett, wo es auch sein mag, sondern die Musculatur in gleichem Maasse
Das Herz und die willkürlichen Muskeln namentlich, aber auch die meisten
Organe des Körpers zeigen schliesslich einen mehr oder weniger hohen Grad
von Atrophie, an welcher sich auch das Blut betheiligt; selbst das Gehirn in
der Schädelhöhle nimmt an dem allgemeinen Schwunde theil.
Die Hauptursache der Abmagerung ist sicher das Fieber; je höher,
das Fieber ist und je länger es anhält, um so grösser und rascher gestaltet
sich der Gewichtsverlust. Der Schwund an Körpermaterial ist in Folge dessen
bei den meisten Lungenschwindsüchtigen erheblich gross; namentlich die
Weichtheile des Thorax magern erheblich ab; der Gesammtverlust, den der
Phthisiker erleidet, beträgt in der Regel den 4. bis den 3. Theil des ur-
sprünglichen Körpergewichtes, in besonderen Fällen übersteigt die Abnahme
mehr als die Hälfte; wir haben schon Leute von 200 und 190^ unter 90
und 100 ^ Körpergewicht herabfallen gesehen. Viele Schwindsüchtige sind
durch die hohen Grade der Auszehrung bis zum Skelett abgemagert. Lässt
die Fieberbewegung nach, so gewinnen auch bereits erheblich abgemagerte
Patienten wieder an Gewicht, vorausgesetzt, dass die äusseren Bedingungen
günstig sind. Das Fieber und der vermehrte Stoffzerfall in Folge desselben
sind aber nicht die einzige Quelle der Abmagerung; denn man sieht schon
im Prodromalstadium lange, bevor eine Lungenkrankheit nachweisbar ist oder
ehe das Thermometer Temperaturerhöhung zeigt, und im frühesten Beginne
TEMPERATURCüRVE N9W,
MÄaiififictl j jSnl&sis :ßvricLi' ; innerfiaCS 3^ S&i^c/tdadüicfi,.
'fi<,«,U
SrzJcurce iniiJuciac/iem^uSerMiiJlnsmütss aric/ißns conliniia u. remiffens u'.l^ns^anß in &ßafs-temperatur)
ci/oüi im Or^i^.
780 TUBERCULOSIS PULMONUM.
der Erkrankung erhebliche Abmagerungen. Auch ohne Fieberbewegung magern
viele Phthisiker ab, weil der Appetit gänzlich darniederliegt und die Nahrungs-
zufuhr eine verminderte ist; die aufgenommene Nahrung wird nicht gehörig
im Darmcanal ausgenutzt, die Untersuchungen der Darmentleerung lehren
auf das Deutlichste, dass viele Phthisiker mit scheinbar gesundem Appetit
und ungestörter Verdauung in Wirklichkeit eine Einbusse an Körpermaterial
erleiden, weil in den Kothmassen mehr Fett und Stickstoff ausgeschieden
werden, als dass dabei der Körperbestand erhalten bleiben könnte, es findet eine
Unterernährung statt; im weiteren Verlaufe der Phthisis tragen dann
die Durchfälle, der Stickstoffverlust im Auswurf, die Schweissausbrüche, Blu-
tungen, das häufige Erbrechen, die Furcht vor Nahrungsaufnahme wegen der
Schmerzen beim Schlucken, die mangelhafte Function der Leber und die Er-
krankung der Mesenterialdrüsen gemeinsam dazu bei, den Gewichtsverlust zu
steigern. Die allgemeine Abmagerung ist von einer beträchtlichen Abnahme
der Leistungsfähigkeit begleitet, die höchsten Grade von Blutverarmung und
Schwäche zwingen die Patienten schliesslich in das Bett hinein, gegen das
Lebensende können sie sich kaum noch im Bette bewegen; sie können sich
nur noch mit fremder Hilfe aufrichten und haben endlich nicht mehr Kraft
genug, durch Hustenstösse den Auswurf zu Tage zu befördern. Der Schwund
des Fettpolsters und der Musculatur im Verein mit der schlaffen, atrophischen
Haut schafft nur allzu günstige Gelegenheit für decubitale Geschwüre;
am Kreuzbeine, wo der grösste Druck stattfindet, sehen wir am häufigsten
und frühzeitigsten grossen Decubitus, welcher die Hacken, Trochanteren, Malle-
olen und die Schulterblätter bei langem Krankenlager der Reihe nach ergreift.
Der zunehmende Kräfteverfall bedingt bei allen Kranken schliesslich 0 e d e m e,
an den Knöcheln und Unterschenkeln beginnend; stärkeres Oedem ist dem
Kräfteverfall nicht eigen, die meisten Kranken sterben ohne Hautödem; ist
die Wassersucht stärker, so ist allemal eine Nierenstörung oder eine Herz-
erkrankung mit im Spiele; bisweilen treten auch marantische Throm-
bosen in den Schenkelvenen mit nachfolgendem Oedem der entsprechenden
Gliedmaasse auf.
Eine grosse Rolle spielen im klinischen Bilde der Lungentuberculosis die
Schweissausbrüche. Viele Phthisiker sind durch eine grosse Neigung
zu Schweissbildung ausgezeichnet; es sind in der Regel dieselben Patienten,
welche bei geringen körperlichen und psychischen Erregungen von raschem
Farbenwechsel im Gesichte und am Halse betroffen werden und bei welchen
eine grosse Erregbarkeit des vasomotorischen Nervensystems besteht; solche
Kranken schwitzen bei der geringsten körperlichen oder geistigen Emotion,
nach jedem Hustenstösse treten dicke Schweissperlen auf der Haut auf und
nach einem nur massigen Hustenparoxysmus ist die ganze Körperoberfläche
vollständig nass. Diese vermehrte Schweissbildung kommt ohne
Fieberbewegung zustande, es ist eine Störung der Haut, welche wir auch
hei aus anderen Ursachen erschöpften Menschen und bei Reconvalescenten
anderer schwerer Krankheiten finden; selbst ganz gesunde, robuste Menschen
schwitzen oft im Schlafe beträchtlich, und man sieht relativ kräftige, nicht
fiebernde Phthisiker, welche nach einem kurzem Mittagschlafe ihre Unter-
kleider wegen profuser Schweissproduction wechseln müssen. Diese Neigung
zu Schweissbildung, die Störung in der secretorischen Thätigkeit, welche wohl
mit einer vasomotorischen Störung der Hautthätigkeit zusammenhängt und
welche öfters durch Morphingabe noch gesteigert werden kann, bildet aber
nur ein verschwindendes Symptom gegenüber den ausserordentlich grossen
Schweissabsonderungen, welche an das Fieber gebunden sind. Mit dem Abfall
der Temperatursteigerung kommt es zu kolossalen Schweissausbrüchen, welche,
entsprechend der Zeit des Fieberabfalles, in der Nacht, in den ersten Morgen-
stunden am häufigsten auftreten; sie können aber zu jeder Tages- und Nachtzeit
TUBERCULOSIS PÜLMOI^UM. 781
vorkommen, je nachdem eben das Temperaturmaximum liegt; auch zwei- und
mehrmaligen Schweissausbruch sieht man innerhalb 24 Stunden. Diese
Schweissaustritte bedecken den Kranken derart, dass nicht nur die Leibwäsche
durchnässt ist, sondern die Bettwäsche, die Kissen und Matratzen mehr oder
weniger an dieser Durchnässung theilnehmen. Am stärksten nnd regel-
mässigsten folgen die Seh weisse den Hemissionen der Febris hectica tage-
und wochenlang immer wieder von neuem; die Kranken fühlen sich nach dem
Ausbruche besonders matt und geschwächt; sie fürchten den Schweissausbruch
noch mehr als den quälenden Husten; mit Rücksicht auf die Art des Auf-
tretens bezeichnet man diese profuse, vorwiegend nächtlichen
Seh weisse als hektische. Im Allgemeinen folgen die Schweissausbrüche
der Steilheit der Schenkel der Fiebercurven, je höher das Temperaturmaximum
liegt, je tiefer und rascher der Abfall zum Minimum sich vollzieht, um so
profuser sind die Schweissaustritte. In Folge dessen ist die Febris continua
der Phthisis florida nicht so häufig von Schweissen begleitet, als die hektische,
steile Curve des zwar auch acut, doch langsamer dahinsiechenden Schwind-
süchtigen. Aber auch selbst geringe Temperaturerhöhungen können mit be-
deutenden Schweissproductionen zusammentreffen. Entsprechend dem Fieber-
verlauf lassen die Schweissausbrüche bei Stillstäuden der Fieberbewegung
nach und verschwinden ganz, sie sind auch weniger stark, wenn die allge-
meine Ernährung noch eine befriedigende ist; häufig lassen sie gegen das
Ende der Erkrankung hin nach. Ob profuse, starke Schweissausbildung auch
ohne Fieber vorkommt, dünkt uns zweifelhaft; je mehr Werth wir auf wieder-
holte Temperaturbestimmungen legen und je häufiger wir die anscheinend
nicht fiebernden Kranken messen, umsomehr schrumpft die Gruppe der Pati-
enten, bei welchen profuse, ungewöhnlich starke Schweissecretion ohne vorher-
gehendes Fieber auftreten soll; höchstens bei acuten Collapszuständen kann
auch ohne Temperatursteigerung profuser Schweissausbruch vorkommen, sonst
haben wir nie die vorhergehende Fieberbewegung vermisst. Neben diesen
profusen, hektischen Schweissen bleiben individuelle Eigenthümlichkeiten und
die oben erwähnte Neigung vieler Phthisiker zu Schweissbildung überhaupt
zu Piecht bestehen.
Ueber die Ursache der hektischen Schweisse sind verschie-
dene Theorien aufgestellt worden: allgemeine Lockerung und Erschlaffung
des Gewebes soll als Erklärung dienen; andere betrachten die vermehrte
Schweissbildung als eine vicariirende Aufgabe der Haut, weil in Folge der
Lungenerkrankung die Wasserverdunstung auf der Lungenoberfläche zu
gering sei; beide Theorien können unsern Beifall nicht finden; die erste ist
nur eine Umschreibung des klinischen Bildes, die zweite kann nicht befrie-
digen, weil auch die hektischen Schweisse vorkommen, trotzdem nur ein
kleiner Theil eines Lungenlappens tuberculös infiltrirt und ulcerirt ist. Eher
noch lassen wir die Theorie gelten, dass durch die Respirationsstörung sich
soviel Kohlensäure im Blute ansammelt, dass durch dieselbe das Schweiss-
centrum gereizt wird. Jedenfalls aber gibt es nach unserer tausendfältigen
Erfahrung keine wirklich profuse hektische Schweissbildung ohne Temperatur-
steigerung.
Bisweilen sieht man circumscripte Schweissaustritte; so haben
wir wiederholt gesehen, dass die hektische Röthung der Wangen und des
Gesichtes die einzige Stelle ist, welche sich mit dicken Schweissperlen, enge
an einander gedrängt, bedeckt; tritt diese Röthung, welche auf vasomotorischer
Lähmung beruht, nur einseitig, oft der kranken Seite entsprechend, auf, so
kann auch diese locale, vermehrte Schweissecretion rein einseitig sein.
Der hektische Schweiss ist wasserhell und reagirt sauer; er besteht
zum grössten Theile aus Wasser, Fettsäuren, Ameisensäure, Essigsäure, Milch-
säure, Kali- und Natronsalzen, Erdphosphaten, Harnstoff, Ammoniak; je nach-
782 TUBERCULOSIS PULMONUM.
dem die eine oder andere Fettsäure überwiegt, gestaltet sich der Geruch,
welcher bisweilen höchst widerlich und durchdringend ist. Besondere Eigen-
schaften besitzt der Schweiss der Schwindsüchtigen nicht; nach meinen Ver-
suchen ist er frei von Tuberkelbacillen, es lässt sich mit ihm keine
Tuberculosis erzeugen. Das Experiment steht hier im Widerspruch mit dem
Volksglauben, dass der Schweiss der Lungenschwindsüchtigen ansteckend sei;
der Wissenschaft aber gebührt die Palme.
Complicationen der Lungentiiberculosis.
Als wirkliche Complicationen fassen wir nur diejenigen Erkrankungen
auf, welche auf den Verlauf der Lungentuberculosis einen gewichtigen Einfluss
haben und anderseits mit der Natur der tuberculösen Erkrankung in Zu-
sammenhang stehen. Andersartige Complicationen können, wie überall, so
auch im Verlaufe der Lungenphthisis auftreten, es gibt keine Erkrankungen,
welche nicht in intercurrenter Weise den Schwindsüchtigen befallen können,
bei solchen handelt es sich nur um einfache, zufällige Coincidentien; Typhus
abdominalis, Variola, frische Syphilis, Morbilli, Scarlatina, Diphtheritis und
Carcinoma ventriculi haben wir im Verlaufe der Schwindsucht auftreten sehen,
das sind nur Zufälligkeiten, gelegentliche Vorkommnisse.
Als echte Complicationen, welche mit dem Wesen der tuberculösen
Lungenkrankheit zusammenhängen, bezeichnen wir eine Art von Pneumonien
und die Erkrankung der serösen Häute der grossen Körperhöhlen.
Es lässt sich nicht verkennen, dass Phthisiker relativ häufig an Pneu-
monien leiden; es gibt Schwindsüchtige, welche in jedem Jahre eine
Lungenentzündung durchmachen, öfters auch gar zweimal in dem nämlichen
Jahre an ihr erkranken. Diese Pneumonien beginnen in der Kegel mit einem
Schüttelfrost und bieten alle Symptome der croupösen Pneumonie dar; es ent-
wickelt sich aber die Infiltration des befallenen Lungenlappens nur langsam,
die Dämpfung stellt sich allmälig ein, ein lautes bronchiales Athmen kommt
in breiter Ausdehnung nicht vor; der Abfall ist in der Regel kein kritischer,
nur langsam w^eichen die Infiltrationserscheinungen, aber meistens schwinden
sie vollständig. Der Sitz der acuten Pneumonie kann jeder Lungenlappen
sein; relativ häufig aber findet man, dass eine Lungenentzündung sich in dem-
jenigen Lungenlappen ausbreitet, welcher bereits von der Lungentuberculosis
deutlich ergriffen ist. Wenn der Kranke im Anfangsstadium der Lungen-
schwindsucht steht, sich also nur geringe Schalldifferenzen und auscultatorische
Erscheinungen in einem Lungenlappen vorfinden, so entwickelt sich unter
Fieberbewegungen eine deutliche Infiltration des Lappens derart, dass man bei
der ersten Untersuchung des Patienten an eine ausgeprägte tuberculöse Er-
krankung denken kann; ganz allmälig aber treten Lösungserscheinungen ein,
oft erst nach 14 Tagen, wir kennen Fälle, in welchen ein Monat verging,
bis die Verdichtungserscheinungen gänzlich wieder verschwunden waren. Es
kann allerdings eine solche acute pneumonische Infiltration nur theilweise oder
selbst gar nicht zurückgehen und unmittelbar die tuberculöse Verdichtung
und Erweichung einleiten, dieses ist aber nicht der gewöhnliche Verlauf. Was
nun die Ursache dieser Pneumonien anlangt, so handelt es sich hier
um zwei Arten; die eine Gruppe besteht aus der wirklichen croupösen Form
mit Diplokokken und charakteristischem Verlauf, diese Form halten wir nur
für eine zufällige Erkrankung, indem wir ausdrücklich die Möglichkeit be-
tonen, dass die bereits tuberculös erkrankte Lunge für jede andere Infection,
also auch für die Träger der croupösen Pneumonie, einen besonders günstigen
Ansiedlungsboden abgibt. Die andere An der Lungenentzündung — und sie
ist gerade die Form, welche mit Vorliebe den schon erkrankten Lungenlappen
befällt, langsamer sich entwickelt und nur langsam in die Lösung übergeht —
ist wesentlich ätiologisch von der ersten Gruppe verschieden dadurch, dass
TUBERCULOSIS PULMONUM. 783
nach meinen bakteriologischen Untersuchungen die Ursache
in einer Streptokokkeninfection besteht; sowohl das aus der Leiche
mit allen Cautelen entnommene, als auch das beim Lebenden durch die
Function des infiltrirten Lungenstückes gewonnene Untersuchungsmaterial
ergibt fast reine, öfters sogar durchaus reine Strepto-
kokkencolonien. Anatomisch sind diese frischen Infiltrationen aber dadurch
charakterisirt, dass man in diesem Bezirke zahlreiche, junge, miliare Tuberkeln
findet, in breiten Zügen ausgehend von dem älteren Heerde, so dass zweifellos
eine örtliche, circumscripte Miliartuberculosis vorliegt. In Folge dessen halten
wir diese Pneumonien mit acuter Infiltration für den Ausdruck einer tuber-
culösen Eruption, welche zu einer secundären acuten Entzündung führte; ob
nun die Streptokokken in diesem Entzündungsmaterial nur einen günstigen
Nährboden finden oder ob in Folge der localen Miliartuberkel-Eruption der
Ansiedelung der Streptokokken, welche dann ihrerseits die acute
Infiltration verursachen, die Wege geöffnet sind, lässt sich nicht
einfach entscheiden, jedenfalls aber spielen die Streptokokken eine hervor-
ragende Rolle bei diesen Pneumonien, weil ausgebreitete Infiltrationen auch
bei nur spärlicher Tuberkeleruption vorkommen. Wir pflegen diese Pneumo-
nien daher als Streptokokkenpneumonien auch bei der Lugentuberculosis
zu bezeichnen und finden den Zusammenhang mit der bacillären Lungen-
phthisis in den anatomisch stets vorhandenen specifischen Tuberkelelementen
in dem infiltrirten Bezirke. Diese Thatsache erklärt denn auch leicht, dass
solche pneumonischen Entzündungen unmittelbar in tuberculösen Zerfall über-
gehen können; in solchen Fällen verschwinden die Streptokokken zwar nicht
vollständig, jedoch treten sie umsomehr zurück, je deutlicher der tuberculöse
Charakter wird und im weiteren Verlaufe auch andersartige Bakterien für ihr
Fortkommen den allergünstigsten Untergrund finden.
Einfacher liegen die klinischen und anatomischen Verhältnisse
bei den Betheiligungen der serösen Häute an dem tuberculösen Processe.
Am häufigsten treten zur Lungenschwindsucht Entzündungen der Pleura,
welche als trockene und exsudative Formen auftreten. Man darf mit
Sicherheit behaupten, dass eine Lungenschwindsucht ohneMit-
betheiligung der Pleura zu den seltenen Ausnahmen gehört.
Die tuberculöse Erkrankung des Brustfelles kommt vorwiegend dadurch
zu Stande, dass der tuberculöse Process der Lungen unmittelbar auf die
Pleura pulmonalis übergreift, es sich also vorwiegend um eine secundäre
Pleuritis handelt; in der Minderzahl der Fälle liegt eine primäre Pleu-
ritis vor. Die klinische Erfahrung lehrt aber, dass sehr viele Fälle von
primärer Pleuritis nur scheinbar primäre sind, indem später doch die Tuber-
culöse zum Vorschein kommt; die pathologisch- anatomische Untersuchung gibt
die Erläuterung dazu, weil sie viele Fälle als secundäre tuberculöse Pleuritis
auf dem Sectionstische erkennt, welche zu Lebzeiten als rein primäre Entzün-
dungen imponirten und durch ihre Symptome die an und für sich noch un-
bedeutenden Erscheinungen der Lungenphthisis gänzlich verdeckten, oder es
fanden sich solch' kleine tuberculöse Heerde in der Lunge, bis an die Pleura
pulmonalis reichend, dass sie noch keine klinischen Erscheinungen zeitigen
konnten. Es kann auch die secundäre Pleuritis von einer tuberculös ver-
eiterten Bronchiallymphdrüse ausgehen, deren Nachweis zu Lebzeiten des
Kranken unmöglich ist; leichter ist schon der klinische Nachweis bei Tu-
berculosis der Rippen, des Brustbeines und der Wirbelknochen. Mit grossem
Rechte der primären Lungentuberculosis verdächtig ist es, wenn selbst leichte
pleuritische Entzündungen bei derselben Person bald diese bald jene Brust-
hälfte befallen, ebenso ist es fast ausschliesslich eine secundäre Pleuritis,
wenn beide Thoraxhälften von ihr gleichzeitig befallen werden.
784 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Was nun die Pleuritis selbst anlangt, so kann sowohl die sicca wie die
exsudativa gänzlich ohne subjective Beschwerden auftreten; man ist über-
rascht, bei Sectionen von Phthisikern grosse, feste Verwachsungen und Ver-
klebungen der Pleurablätter zu finden, ohne dass der Patient zu Lebzeiten
Klage geführt hätte; auch hier darf man gerade in der langsamen Entwicke-
lung den Hauptfactor für die geringe Schmerzhaftigkeit oder gänzliche Schmerz-
losigkeit annehmen. In vielen Fällen aber zeigt sich die frische Pleuritis
durch suajective Beschwerden an; das Athemholen ruft stechende Schmer-
zon hervor, der Patient athraet rascher und oberflächlich, er schont die
befallene Seite beim Athemholen, er hat mehr Hustenreiz und trockenen Hu-
sten, die Hustenstösse sind kurz und abgebrochen; beim Husten hält der Kranke
die befallene Seite mit der Hand fest, mit Vorliebe legt er sich auf die
acut erkrankte Seite, um dadurch stärkere Athemexcursionen mit neuen Schmer-
zen zu vermeiden; Bücken, Gähnen, Messen, körperliche Bewegungen ver-
mehren das Seitenstechen. Bei der Palpation ist der Druck in dem Zwi-
schenrippenraume äusserst schmerzhaft, bei der Auscultation finden sich
deutliche, schabende, kratzende, knarrende Reibegeräusche, entstanden durch
die Verschiebung der rauhen Pleurablätter aneinander, bald in einem Zuge
durch, bald in Absätzen, ruckweise; häufig sind die Reibegeräusche fühlbar.
Die Percussion ergibt bei der trockenen Rippenfellentzündung nor-
male Verhältnisse. In der Regel besteht eine geringe Temperaturerhöhung,
welche die schon bestehenden Temperaturcurven von selten der Lungen-
krankheit nicht merkbar beeinflusst. Begnügt sich die Pleuritis mit der
Form der trockenen Entzündung, so lassen nach einigen Tagen die subjectiven
Symptome nach und allmälig schwinden auch die objectiven Befunde; häufig
bleibt eine geringe Abschwächung des Athemgeräusches zurück.
Die Pleuritis exsudativa beginnt ebenfalls bald schleichend, bald
setzt sie heftig ein. Wenn der Beginn undeutlich oder gar symptomlos ist,
so kommen oft genug die Kranken nur deshalb zur Untersuchung, weil sie
sich schwach, matt, kurzathmig fühlen und die objective Untersuchung be-
weist schon die Anwesenheit eines beträchtlichen Exsudates. In den mehr
acut auftretenden Fällen ist der Beginn schärfer charakterisirt durch die sub-
jectiven Beschwerden, welche von der erkrankten Pleura ausgelöst werden und
welche auch der Pleuritis sicca zukommen; nur ist vielfach von vornherein
eine deutliche Temperatursteigerung vorhanden, welche sich auch bei den
Curven der chronischen Lungentuberculosis geltend macht dadurch, dass das
Fieber, vorher von mittlerer Höhe, sich auf -\- 32'6^ C. und auch wohl höher
erhebt, fast continuirlich oder schwach remittirend wird, oder dadurch, dass
es die hektische Fiebercurve mit ihren sehr steilen Schenkeln in die gleich-
massige Fiebertafel der Febris continua umwandelt; das Fieber bleibt wochen-
lang gleich hoch bestehen und geht erst in den leichten, günstig verlaufenden
Fällen in der 2. oder 3. Woche langsam lytisch herab. Kommt nun die Ex-
sudatbildung zu Stande, so lassen oft die heftigen Seitenschmerzen nach, es
steigert sich aber erheblich die Kurzathmigkeit, die Kranken werden schwächer,
sie sind mehr oder minder cyanotisch, der Puls ist constant auf 100—120
Schläge erhöht, die Stärke und die Spannung des Pulses nimmt merklich ab,
der Puls wird bisweilen unregelmässig; alle diese Veränderungen hängen
grösstentheils von dem Druck des Exsudates auf das Herz und die grossen
Gefässe ab; wir sind nicht der Meinung, dass die Compression der
Gefässe in der comprimirten Lunge den arteriellen Blutdruck
erniedrigt. Je mehr das Exsudat wächst, um so stärkerdrücktes die ent-
sprechende Lunge zusammen, um so mehr wölbt es die befallene Seite vor, um so
deutlicher sind die physikalischen Symptome der percutorischen Dämpfung,
des aufgehobenen oder verminderten Pectoralfremitus, des abgeschwächten
oder gänzlich verschwundenen Athemgeräusches, der abgeschwächten Broncho-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 785
phonie und Aegophonie, der Verdrängung der Nachbarorgane und des Zwerch-
felles vorhanden.
Die einfachen sero- fibrinösen Exsudate bilden auch bei der tuber-
culüsen Pleuritis die Mehrzahl, relativ häulig aber ist der Charakter des Ex-
sudates fibrinös-eitrig und rein-eitrig oder hämorrhagisch; hämor-
rhagische Ergüsse kommen bei der tuberculösen Pleuritis im Vergleiche zu
andersartigen Erkrankungen mit blutigem Exsudate (Carcinoma pleurae) am
häufigsten vor, so dass sie für die Natur der Entzündung von diagnostischer
Wichtigkeit sind. Die serösenExsudate können gänzlich resorbirt werden,
die flüssigen Bestandtheile werden von den Lymphgelassen der Pleura auf-
gesaugt, das Fibrin und die weissen Blutkörperchen zerfallen, werden auf-
gelöst und endlich auch resorbirt. In den meisten Fällen, zumal wenn das
Exsudat grösser war, entwickelt sich eine ausgedehnte Neubildung von Binde-
gewebe und Gefässen, die Pleura wird in die pleuritische Schwarte umgewandelt
und ausgedehnt, lockere und feste Verwachsungen zwischen den Pleurablättern
kommen zu Stande; abgesackte pleuritische Exsudate können zwischen den
Verwachsungen Monate und selbst Jahre lang bestehen bleiben; starke narbige
Schrumpfungen mit ihren Folgezuständen auf Verlagerungen und Verschie-
bungen der Lunge wie des Herzens und Einsenkungen der Brustwand bilden
den letzten Theil der Abheilung. Auch das eitrige Exsudat kann durch
schliessliche Kesorption abheilen, doch ist der Verlauf sehr zweifelhaft, weil
dieser Krankheitsprocess sehr lange Zeit beansprucht und erhebliche Anfor-
derungen an die Kraft des Patienten stellt und oft eingedickte, käsige Massen
von Eiter zurückbleiben. Sich selbst überlassen, sucht sich der Eiter einen
Ausweg durch die Brustwand durch, als Empyema necessitatis, oder er
perforirt in die Lungen hinein und wird nach aussen durch Husten entleert,
wobei ein Pyopneumothorax sich einstellen kann. Das hämorrhagische
Exsudat gibt stets die Ursache für einen bösen Verlauf. Bei der eitrigen
Pleuritis ist der Fieber verlauf im Allgemeinen höher als bei der sero-fibrinösen
Form; er ist oft unregelmässig intermittirend, durch Fröste häufig unter-
brochen, die Allgemeinerscheinungen sind stets sehr schwer. Das hämorr-
hagische Exsudat ist ebenfalls an hohes Fieber gebunden, welches vorwiegend
dem Charakter der eitrigen Pleuritis folgt und in den hektischen Typus über-
geht. Die Natur des Exsudates entscheidet am sichersten die Probepunction
mit einer PEAVAz'schen Spritze.
Ist das Exsudat irgend welcher Art sehr gross, so dass es die Lungen
vollständig comprimirt und blutleer macht, so bleibt der Zerfallsprocess
in den Lungen mitunter stehen und der weitere Fortschritt der
phthisischenProcesse ist gehemmt.
Führt so das Fortschreiten des tuberculösen Processes auf die Lungen-
oberfläche sehr häufig zu einer Pleuritis, so kann auch anderseits ein
erweichter tuberculöser Herd der Lunge die Lungenpleura perfori-
ren und unmittelbar in die Pleurahöhle durchbrechen; Luft dringt in die
Bauchhöhle ein, es entwickelt sich der Pneumothorax und meistens im
Anschlüsse an ihn ein rein eitriges Exsudat in der Brusthöhle, ein Pyo-
Pneumothorax, nur selten ein seröses oder sero-fibrinöses Exsudat, ein
Sero- Pneumothorax. Bei den Durchbrüchen in den Brustraum perforirt
vorwiegend eine dicht unter der Pleura gelegene Caverne, bald erfolgt der
Durchbruch ohne äussere Veranlassung, bald sind Hustenstösse, Pressen, Heben
schwerer Lasten die mittelbaren Veranlassungen. Bei den rasch verlau-
fenden Phthisen mit schnellem Zerfall tritt der Pneumothorax viel
häufiger auf als bei den sehr chronischen Schwindsuchtsformen, weil
die ausgedehnten Verwachsungen der Pleurablätter, welche der chronischen Lun-
gentuberculosis eigen sind, einen wirksamen Schutz gegen den Durchbruch
bilden; in Folge dessen perforiren alte Cavernen sehr selten.
BiW. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 50
786 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Der Pneumothorax stellt sich im Allgemeinen bei den schon ziemlich
weit fortgeschrittenen Fällen acuter Tuberculosis pulmonum ein, jedoch kann
auch bei sehr geringen Lungenveränderungen, in sehr frühen Stadien, der
Durchbruch zu Stande kommen; es kann, was wir selbst schon beobachtet haben,
der Pneumothorax in seltenen Fällen überhaupt das erste Symptom der
Lungentuberculose sein. Der Eintritt des Pneumothorax ist jedesmal ein
sehr acuter. Ein plötzlich auftretender, heftiger Schmerz auf der befallenen
Seite, hochgradige Dyspnoe und plötzliche Verschlimmerung des Allgemein-
befindens stellen sich im Augenblicke ein. Der Schmerz behindert die Aus-
dehnung der Brust, die in die Brusthöhle eintretende Luft comprimirt rasch
die Lunge, soweit sie überhaupt noch retractionsfähig ist und verkleinert
plötzlich die Athemfläche; die plötzlichen Veränderungen im kleinen Kreis-
lauf, die Behinderung des Venenblutabflusses in das rechte Herz rufen oft einen
vollständigen Collaps hervor. Der Puls ist sehr klein und auf 140 und mehr
Schläge gestiegen, das Herz ist lebhaft erregt, oft unregelmässig und stets
sehr schwach; die Temperatur ist unter dem normalen Werthe, die Kranken
sehen sehr blass und cyajiotisch gefärbt aus, vorwiegend im Gesicht und an
den Nägeln; meistens sitzen die Kranken aufrecht, nach Athem ringend
im Bette oder liegen in halber Seitenlage, entweder mehr auf der erkrankten
Seite, um die gesunde Seite möglichst für die Athmung ausnützen zu können
oder bei sehr grosser Schmerzhaftigkeit mehr auf der gesunden Seite. Geht
der Collaps voran, so sinkt die Temperatur noch tiefer unter die Norm, die
Extremitäten werden kühl, lebhafter, kalter Schweiss und Angstgefühl treten auf,
die Facies hippocratica weist auf den drohenden Tod hin, welcher in vielen
Fällen das Ende des allgemeinen Collapses ist; oft schon nach einer oder
wenigen Stunden, gelegentlich auch plötzlich kurz nach dem Durchbruche folgt
der tödtliche Ausgang. In anderen Fällen erholen sich die Kranken wieder,
indem die Athmung ruhiger, der Puls langsamer und voller und der Schmerz
geringer wird. Nur in sehr seltenen Fällen besteht ein Pneumothorax lange
Zeit, Wochen- und monatelang, während welcher die Patienten sich ziemlich
wohl fühlen, meistens beschleunigt der Pneumothorax den exitus letalis der
Lungenschwindsucht. Die Ausgänge, welche der Pneumothorax nimmt,
sind wesentlich zweierlei Art, entweder heilt derselbe ab, indem die Luft
gänzlich oder zum Theil resorbirt wird oder — und das ist die Regel — durch
die Perforationsstelle in der Lunge treten zugleich mit der Luft specifische,
Eiterung erregende Spaltpilze in die Brusthöhle ein und bewirken ein eitriges
Exsudat, welches die Luft aus dem Pleuraraum verdrängt und durch seine
Piesorption die endliche Heilung des Pneumothorax herbeiführen kann, vor-
wiegend aber durch Fieber und Kräfteverbrauch den Tod herbeiruft. Auch
das pyopneumothoracische Exsudat kann den Zerfallsprocess in
der Lunge durch die vollständige Compression zum Stillstande
bringen.
Der Pneumothorax schafft, so plötzlich wie er auftritt, so rasch auch einen sicheren
objectiven physikalischen Symptomencomplex. -Die kranke Seite ist sehr stark
ausgedehnt, die Intercostalräume sind verstrichen oder vorgewölbt; bei der Palpation der
Zwischenrippenräume hat man bisweilen ein elastisches Gefühl, als ob man ein Luftkissen
betaste (Luftkissengefühl). Der Contrast zwischen der kranken und gesunden Brustseite
ist besonders gross, weil die erkrankte Seite fast stille steht, während die andere Seite
umso energischere Excursionen macht; das Zwerchfell ist nach unten in den Bauchraum
verdrängt und am Rippenbogen als elastische, halbmondförmige Geschwulst fühlbar. Der
Herzstoss ist weit nach der gesunden Seite zu verschoben, w^eil das Mediastinum mit dem
Herzen verdrängt ist ; bei rechtsseitigem Pneumothorax ist der Spitzenstoss nach oben und
ausserhalb der linken Brustwarzenlinie zu sehen und zu fühlen, bei linksseitigem Durch-
bruche der Lungen wird der Herzstoss nach rechts, bis über das Sternum hinaus und
meistens etwas nach unten verlagert. Der Stimm fr emitus ist abgeschwächt. Die Per-
cussion ergibt über dem Pneumothorax einen auffallend tiefen, lauten Schall, welcher
beim offenen Pneumothorax tympanitisch, beim geschlossenen Pneumothorax und Ventilpneu-
mothorax aber wegen der Spannung der Wände meistens nicht tympanitisch ist; dieser laute
Schall reicht über die normalen Lungengrenzen herab, weil eben das Zwerchfell und die
TUBERCULOSIS PULMONUM. 787
Nachbarorgane verdrängt sind. Bei rechtsseitigem Pneumothorax steht die Leber sehr tiefi
die Herzdämpfung kann bis in die linke Axillarlinic verschoben sein; bei linksseitigem
Pneumothorax fehlt die Herzdämxjfung an der normalen Stelle meistens gänzlich, sie findet
sich in der rechten Brusthöhle; der linke Leberlappen steht tief, die Milzdämpfung ist ver-
schwunden und der TRAUBE'sche halbmondförmige Raum, welcher normal tympanitischen
Schall besitzt, ist durch einen nicht tympanitischen Schall ersetzt. Beim offenen Pneumo-
thorax, bei welchem innerhalb und ausserhalb der Brust Atmosphärendruck herrscht, sind
die Verdrängungserscheinungen ebenfalls markant, weil der hier herrschende Atmosphären-
druck positiv gegenüber dem negativen Druck in der anderen Pleura und auch stärker ist,
als der vorher auf die obere Zwerchfellsfläche wirkende normale negative Druck. Im Ganzen
aber kommen die höchsten Grade von Verdrängung bei dem offenen Pneumothorax nicht
.vor. Bei der Auscultation steht das Fehlen jeglichen Athemgeräusches zu dem lauten
Percussionsschall im grellen Widerspruch ; an manchen Stellen aber hört man bisweilen und
auch nicht immer, amphorisches, metallisches Athmen, wenn es sich um einen offenen
Pneumothorax handelt, bei welchem die Perforationsstelle offenbleibt, so dass die Luft
bei der Athmung beständig in die Pleurahöhle hinein- und herausstreicht. Beim geschlosse-
nen Pneumothorax, bei welchem sich die Perforationsstelle vollständig schliesst und
bei der häutigsten Form, dem Ventilpneumothorax, bei welchem mit jeder Inspiration
Luft in die Pleurahöhle eintritt, während bei der Exspiration ein ventilartiger Verschluss
der Perforationsstelle die Luft am Entweichen verhindert, bis der Druck in der Pleura-
höhle so weit gestiegen ist, dass auch bei der Inspiration keine Luft mehr in den Brust-
raum eintreten kann und somit aus dem Ventilpneumothorax ein geschlossener Pneumo-
thorax wird, hört man ebenfalls amphorisches Athmen; dasselbe ist aber in diesen Fällen
das gewöhnliche Athemgeräusch, welches sich an der Rima glottidis bildet und durch die Plc-
sonanz im Pneumothorax das metallische Timbre gewinnt. In dieser gleichen Weise wer-
den etwa hörbare Rasselgeräusche deutlich metallisch. Die Stimme und der Husten nehmen
Metallklang an. Sehr deutlich wird der Metallklang des Pneumothorax, wenn man sich
der Stäbchenpercussion bedient, indem man während des Auscultirens mit einem Stäbchen,
etwa dem Stiel des Percussionshammers, leise auf ein Plessimeter klopft. Beim offenen
Pneumothorax findet sich bei der Percussion das Geräusch des gesprungenen Topfes, weil
bei jedem Percussionsschlage Luft durch die Lungenfistel entweicht; bei grossen Durch-
bruchsstellen der Lungenpleura tritt auch der WiNTRicn'sche Schallwechsel bei Oeffnen
nnd Schliessen des Mundes in die Beobachtung.
Nicht immer aber ist der Beginn des Pneumothorax so scharf accentuirt. Wenn im
Verlaufe der Phthise die Pleurahöhle durch straffe bindegewebige Verwachsungen der
Pleurablätter fast gänzlich verschwunden ist oder nur in massig grosser Ausdehnung einen
freien Raum noch umfasst, so kann dieser circumscripte Pneumothorax vollständig
durch die gewöhnlichen Symptome der Tuberculosis pulmonum verdeckt sein und man
findet ihn deshalb mitunter rein zufällig.
Der Pneumothorax ist eine recht häufige Begleiterscheinung
der Lungenschwindsucht. Nach der Statistik von Biach (Wien) nimmt
unter 918 Fällen von Pneumothorax die Phthisis mit 715 Fällen die erste
Stelle ein. Das Kindesalter ist nicht frei von Pneumothorax, auch beim Er-
wachsenen treffen die höchsten Zahlen auf die Lungentuberculosis als Ursache.
Nach der Berechnung von Powell, welcher in fünf Procent der Phthisiker
Pneumothorax beobachtete, stellt sich der Lungendurchbruch in 58-9 7o in der
linken, in 29-37o in der rechten Brusthälfte ein und in ö'Q^o doppelseitig,
welches Ergebnis mit der Erfahrung übereinstimmt, dass der tuberculöse
Zerfall in der linken Lunge eine grössere Neigung zum Fort-
schreiten zeigt, als in der rechten.
Wenn nun zu dem Pneumothorax das Exsudat hinzutritt, so
erfährt die physikalische Untersuchung des Pneumothorax mancherlei Ab-
änderungen, welche darauf beruhen, dass Luft und Flüssigkeit im Brustraume
sich befinden und die Flüssigkeit stets den tiefsten Stand einzunehmen strebt,
während die Luft die höchste Stellung, oberhalb der Flüssigkeit, einnimmt.
Die Percussionsverhältnisse ändern sich daher erheblich bei dem Lage-
wechsel, weil die Flüssigkeit in dem Lufträume sich leicht und allseitig
bewegen kann. Das Exsudat zeitigt naturgemäss einen gedämpften Schall
bis zur vollen Dämpfung, je nach der Grösse der Flüssigkeitsmenge. In
sitzender Stellung des Patienten ist demnach eine Dämpfung in der unteren
Partie; die obere Dämpfungsgrenze bildet eine um die Thoraxhälfte laufende
horizontale Linie. In der Rückenlage des Kranken bildet die obere Grenze
der Dämpfung eine schräge Linie, welche an der Wirbelsäule am höchsten
50*
788 TUBERCULOSIS PULMONUM.
steht und von hier aus nach den Seiten des Thorax zu schräg abfällt. Liegt
der Patient auf der gesunden Seite, so kann, wenn das Exsudat nicht gar zu
gross ist, die Dämpfung der Brustwand gänzlich verschwinden. Ueber dem
Kaum, welcher von der Luft eingenommen wird, bleibt der charakteristische
Schall erhalten, er wechselt je nach der Lage seine Stellung, aber auch
häufig seine Höhe, je nachdem der Kranke sitzt oder liegt. Im Sitzen
nämlich wird der Percussionsschall des pneumothoracischen Raumes tiefer,
weil in sitzender Haltung die Flüssigkeit das paretische Zwerchfell stark nach
abwärts drückt und dadurch der grösste Durchmesser des Pneumothorax an
Ausdehnung zunimmt; je grösser aber dieser Durchmesser wird, um so tiefer
wird der metallische Percussionsschall. Im Liegen wird der grösste Durch-
messer keinen Zuwachs erfahren, weil der Druck auf das Diaphragma
weniger zur Geltung kommt; in Folge dessen ist der metallische Percussions-
schall wieder höher. Man bezeichnet diese Aenderung in der Höhe des
Percussionsschalles als BiEEMER'schen Schall Wechsel. Beim Hydro-
pneumothorax entsteht ein metallisches Plätschergeräusch, dieSuc-
cussio Hippocratis, wenn man den Patienten schnell und kurz hin- und
herschüttelt; das Geräusch ist bald sehr laut, so dass man es auf Zimmer-
weite hört, bald hört man es nur, wenn man das Ohr anlegt. Bei der Aus-
cultation findet man zuweilen das metallische Geräusch des fallenden
Tropfens, gutta cadens und das metallische Blasenspringen oder
Wasserpfeifengeräusch, das erste dann, wenn die Patienten die Lage
wechseln und von fibrinösen Anhängseln der Pleura Exsudattropfen herunter-
fallen; das letztere, wenn bei offenem Sero- oder Pyopneumothorax die Perfora-
tionsstelle unterhalb des Flüssigkeitsspiegels liegt und die bei der Inspiration
eindringenden Luftblasen durch die Flüssigkeit aufsteigen und zerspringen.
Sonst bleiben oberhalb des Luftraumes in der Pleurahöhle die Auscultations-
und Palpationsersch einungen die nämlichen. Je höher das Exsudat ansteigt,
um so mehr macht sich die Dämpfung breit, um so höher wird auch der
metallische Percussionsschall, weil der grösste Durchmesser des Luftraumes
kleiner wird.
Die Herztöne nehmen oft einen Metallklang an, gerade wie die Rassel-
geräusche, welche etwa entstehen, indem sie sich durch den Pneumothorax
fortpflanzen. Es kann dabei vorkommen, dass der Metallklang bei der Per-
cussion mit jeder Herzcontraction seine Höhe wechselt, weil die beständigen
Veränderungen des Herzvolumens auch das Volumen des dicht angrenzenden
pneumothoracischen Raumes und dadurch den grössten Durchmesser verändern.
Der Hydropneumothorax kann sehr lange Zeit bestehen, man hat
selbst eine Dauer von mehreren Jahren beobachtet; der Pyopneumo-
thorax führt meistens in wenigen Wochen zum Tode.
In ähnlicher Weise wie die Erkrankung der Pleura sich zur Lungen-
tuberculosis hinzugesellt, kann auch das Peritoneum erkranken, indem die
Tuberculosis des Darmes das primäre Moment darstellt. Je nachdem die
tuberculösen Danngeschwüre durch die Darmwand hindurch auf den Peritoneal-
überzug übergreifen oder in die Bauchhöhle perforiren, entsteht eine langsam
sich entwickelnde tuber culöse Peritonitis oder eine acut auftretende
perforative Peritonitis.
Die acute Perforations-Peritonitis ist die seltenere der beiden
Formen, sie kann in jedem Stadium der Phthisis eintreten, zuweilen ist sie
sogar das erste Anzeichen, dass ein geschwüriger Process in der Darmwand
vorhanden war. Mit dem Durchbruche des tuberculösen Geschwüres treten
Gase und Darminhalt in den freien Bauchraum und rufen eine ausgebreitete
Peritonitis mit eitrigem oder jauchigem Exsudate hervor; in der Regel ist das
ganze Peritoneum in den Bereich der sehr heftigen Entzündung gezogen,
weil nur selten ältere Verwachsungen des Peritonealiiberzuges der Eingeweide
TUBERCULOSIS PULMONUM. 789
vorliegen, welche der Ausbreitung einen Damm entgegensetzen könnten. Der
Eintritt der Perforation des Darmes ist von intensiven, anfangs localen, sehr
rasch diffusen Leibschmerzen, Erbrechen, Uebelkeit und raschem Collaps be-
gleitet. Der Collaps kann gleich von vorneherein tödtlich sein, rasch sinkt
die Temperatur, der Puls wird klein, jagend, fast unfühlbar und an Zahl
sehr vermehrt, die Züge verfallen, die Facies hippocratica tritt schnell ein,
die Hände und Füsse, Nase und Ohren sind kalt und cyanotisch, der Körper
ist mit kaltem, klebrigem Schweisse bedeckt, die Stimme ist hoch und klanglos,
die Zwerchfellathmung ruht fast gänzlich, die costale Athembewegung ist
mühselig, die Zahl der Athemzüge erscheint vermehrt, heftiger Singultus folgt
gerne, das Sensorium wird in wenigen Stunden benommen und in der Asphyxie
geht der Patient zu Grunde. Der Bauch wird sehr rasch aufgetrieben, die
Bauchdecken sind gespannt, jede Berührung des Bauches schmerzt, so dass
oft nicht einmal der Druck der Bettdecke ertragen wird, das Zwerchfell wird
hoch nach oben, selbst bis zur 3. Rippe gedrängt, die Leber- und Milz-
dämpfung verschwindet vollständig, an ihre Stelle tritt lauter, tympanitischer
Schall, weil das ausgetretene Gas die höchste Stelle im Bauchraume aufsucht;
das Herz ist mit dem Diaphragma nach oben verlagert. Die Percussion ist
vor Schmerz kaum möglich, sie ergibt lauten, tieftympanitischen Schall. Der
Harn wird spärlich entleert und ist dunkel. Tritt der Tod nicht in wenigen
Stunden oder einem Tage ein, so macht sich das Exsudat in der Bauchhöhle
durch Fluctuation und mit der Lage des Patienten wechselnde Dämpfung be-
merkbar, verbunden mit Fieber, oft auch mit Schüttelfrösten und Schweiss-
ausbrüchen. Jedoch nicht immer wechselt bei Lageveränderung die Dämpfung
des Exsudates ihren jeweiligen Sitz, meistens ist dieses im Beginne zutreffend,
oft aber bilden sich rasch fibrinöse Verklebungen aus, welche die Beweglichkeit
einschränken. Wenn in Folge vorhergegangener Entzündungen Verwachsungen
der Darmschlingen und des Peritoneum zu Stande gekommen waren, so kann
die Perforationsperitonitis eine mehr oder weniger circumscripte sein, so
dass es oft sehr schwer fällt, die genaue Diagnosis zu stellen.
Die Peritonitisform, welche vorwiegend die Tuberculosis be-
gleitet, ist die chronische tuberculöse; es kommt zwar auch eine
chronische, nicht tuberculöse Peritonitis vor, welche aber immerhin
eine sehr seltene Erkrankung ist. Die häufigste Ursache der tubercu-
lösen Bauchfellentzündung sind tuberculöse Darmgeschwüre, welche bis auf
das Peritoneum in die Tiefe greifen; die Ursache kann aber auch in tuber-
culös erkrankten retroperitonealen und mesenterialen Lymph-
drüsen gelegen sein; nicht wenige Fälle gesellen sich zu einer Tuber-
culosis des Brustfelles, indem durch das Zwerchfell hindurch die In-
lectionen stattfinden. Umgekehrt kann eine Pleuritis durch eine schon be-
stehende Peritonitis verursacht werden. Bei Frauen kann sich in Folge
einer Tuberculosis der Genitalorgane die tuberculöse Bauchfellentzündung
einstellen. In Folge der chronischen Peritonitis kommt es zu zahlreichen
festen Verwachsungen der einzelnen Baucheingeweide und zu Exsudatbil-
dung; das Exsudat kann einfach serös sein, meistens ist es eitrig und nicht
selten hämorrhagisch. Die Erkrankung hat in der Regel keinen scharfen
Beginn, so dass man oft Leute mit reichlichem Exsudate herumgehen
sieht. Die Kranken klagen über geringe, dumpfe Schmerzen im Leibe;
oft sind keine Schmerzen vorhanden. Der Leib ist meistens massig auf-
getrieben, die Auftreibung ist oft nicht gleichmässig, indem hier und da
stärker aufgetriebene Darmschlingen hervortreten. Bei der Palpation fühlt
man sehr breite Darmschlingen, die Bauchdecken scheinen verdickt und öfters
leicht ödematös; im Bauchraume zeigt sich die flüssige Exsudation bei der
Palpation an. I3esteht die Erkrankung schon lange Zeit, so kann man oft
die Verwachsung der Darmschlingen unter einander und mit Nachbarorganen
790 TUBERCULOSIS PULMONUM.
als eigenthümlich resistente Stellen und höckerige Convolute fühlen. Das
Netz, welches durch starke Schrumpfungen in einen einzigen dicken Strang
verwandelt sein kann und klumpig aufgerollt ist, tritt als ein unebener,
quergelagerter Tumor hervor. Bei der Percussion macht sich die Flüssigkeit
als Dämpfung bemerkbar, bei Lageveränderungen kann sich diese Dämpfungs-
figur auch verschieben, aber meistens nur sehr langsam, weil zwischen
den Verwachsungen und Verklebungen hindurch ein ungehindertes Hin- und
Herfliessen des Exsudates nicht möglich ist, oft verhindern die Verwachsungen
jede Beweglichkeit des Exsudates. Diese chronische, tuberculöse Peritonitis,
welche wohl niemals in Heilung übergeht, sondern in wenigen Wochen
tödtlich endet, erfährt bisweilen acute Nachschübe in ihrem chronischen Ver-
laufe; diese plötzlichen Verschlimmerungen zeigen sich durch Schmerz-
empfindungen und Temperatursteigerungen an, während die Fieberwegungen
der tuberculösen Bauchfellentzündungen unerheblich sein können. Aus-
cultatorisch gelingt es manchmal, deutliche Reibegeräusche zu vernehmen,
vor Allem im Beginne der Erkrankung, wenn fibrinöse Auflagerungen die
Peritonealflächen rauh machen und bei der Athmung die rauhen Flächen
aneinander vorbeireiben; die Eeibegeräusche können auch palpabel sein. Die
Zerrungen und Knickungen des Darmes können mancherlei Störungen im
Gefolge haben, so kann Icterus durch Abknickung des Duodenum und des
Ductus choledochus entstehen und Darmstenosis mit hochgradiger Obstipatio
folgen. Der Harn ist spärlich, dunkel gefärbt und sehr reich an Indican und
Phenol.
Während anatomische Veränderungen am Herzen selbst, abgesehen von
der Schlaffheit und Kleinheit desselben, im Verlaufe der Lungenphthisis selten
sind, erkrankt der Herzbeutel schon häufiger unter dem Einflüsse der Tuber-
culosis. Diese Pericarditis ist weit seltener als die Pleuritis und die
Peritonitis; sie entsteht fast immer durch Fortsetzung des tuberculösen Pro-
cesses von der benachbarten Pleura, besonders des linksseitigen Brustfelles,
aus, in vereinzelten Fällen hat man die Entzündung des Herzbeutels durch
den Durchbruch einer Caverne in das Pericardium entstehen sehen. Ent-
sprechend dem ursächlichen Momente, ist der Eintritt der Perforations-
pericarditis ein stürmischer und sehr acuter. Sehr heftige Schmerzen
im Epigastrium und der Herzgegend, grosses Beklemmungs- und Angstgefühl,
Dyspnoe, welche bis zur hochgradigsten Orthopnoe sich steigern kann, Kopf-
schmerz, Benommensein des Sensoriums, Sopor folgen rasch dem Durchljruche,
der Puls wird beschleunigt, klein und oft unregelmässig, die Hautfarbe ist
livide, die Collapssymptome werden stärker, die Herzinsuificienz grösser und
der Tod erfolgt entweder ruhig im Collaps unter zunehmenden Stauungs-
erscheinungen oder bisweilen unter Delirien und Convulsionen. Durch die
plötzliche Ansammlung von Luft in dem Herzbeutel verursacht
der gesteigerte Druck im Pericardium eine Erschwerung der Füllung des
Herzens mit Blut, die Diastole bildet sich nur unvollständig aus. Die
Venen stauen sich, undder rechte Ventrikel erhält weniger Blut als
normal, infolge dessen sinkt der Blutdruck und wird die Stromge-
schwindigkeit im kleinen Kreislauf verlangsamt. Der linke
Ventrikel erhält nun auch zu wenig Blut und die mittlere arterielle
Spannung sinkt beträchtlich. Dyspnoe und Gehirnanämie sind unaus-
bleiblich. In einem Falle unsererBeobachtung von Pneumopericardium
in Folge Durchbruches einer Caverne des linken oberen Luügenlappens, starb
der Patient nach 174 Stunden unter hochgradigen Krämpfen, wie sie der
Gehirnanämie bei Verblutung eigen sind. Bei reinem Pneumocard ist
die Herzgegend sehr stark vorgewölbt, der Spitzenstoss ist beim Liegen
des Kranken nicht zu sehen, weil das nach hinten zurückgesunkene Herz
von der eingetretenen Luft überlagert wird; in sitzender oder vorüber-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 791
gebeugter Stellung kommt zuweilen der Spitzenstoss zur Beobachtung, aber
jedesmal nur schwach und undeutlich. Die Tercussion ergibt, dass der
dumpfe Percussionsschall des Herzens verschwunden und durch lauten,
tympanitischen Schall ersetzt ist, welcher metallischen Beiklang hat. Der
Metallklang wird durch die Plessimeter-Stäbchen-i'ercussion am deutlichsten
zur Wahrnehmung gebracht, lieber diesem tympanitischen Bezirk ist der
Stiramfremitus vollständig verschwunden. Die Herztöne erhalten durch
Resonanz einen metallischen Klang, sie sind gelegentlich so verstärkt, dass
man sie schon in einiger Entfernung vom Kranken wahrnimmt. Da mit der
Luft gleichzeitig Entzündungserreger in den Herzbeutel eintreten, so ent-
wickelt sich sehr rasch eine eitrige, selten ein e sero-fibrinöse Peri-
carditis. In Folge dessen hört mau im Beginne der Entzündungen peri-
cardiale Reibegeräusche, welche von der Herzbewegung abhängig sind und
ein metallisches Timbre annehmen, auch fühlbar können diese Geräusche
sein. Sammelt sich nun das Exsudat neben der Luft in dem Pericardium
an, so ist auch hier der Wechsel in dem Dämpfungsbezirke, welcher der
Flüssigkeitsansammlung entspricht, je nach der jeweiligen Körperstellung des
Patienten charakteristisch. In der Rückenlage bleibt in der Regel der Schall
über der Herzgegend tympanitisch-metallisch ; in der aufrechten Stellung
senkt sich der Erguss nach unten, und es tritt entsprechend dem unteren
Herzabschnitte eine Dämpfung auf; in der Seitenlage stellt sich eine ent-
sprechende Dämpfungszone seitlich ein. Die Flüssigkeit bewegt sich in der
Regel frei in dem Pneumopericardium, so dass mit jeder Körperlage die
Dämpfung rasch kommt oder verschwindet. Beim Aufrichten wird der
tympanitische Schall höher, weil der grösste Durchmesser verkleinert wird.
Wie beim Pyopneumothorax, so kann auch beim Pyopneumocardium die Suc-
cussio Hippocratis und die Gutta cadens vernommen werden. Fast immer
hört man eigenthümliche, plätschernde, gurgelnde, metallische Geräusche,
welche man mit dem Schlagen] eines bewegten Mühlrades vergleicht und
welche dadurch entstehen, dass durch die Herzbewegungen die Flüssigkeit
geschüttelt wird; der Aehnlichkeit wegen führen diese Geräusche, welche
bisweilen so laut sind, dass sie nicht nur auf die Entfernung von mehreren
Metern, sondern selbst durch mehrere Zimmer hindurch gehört werden, auch
den Namen Bruit de moulin und Bruit de roue hydraulique. Der
Ausgang des Pneumocardium und des Pyopneumocardium ist jedesmal der
Tod innerhalb der ersten oder zweiten Woche; selbst wenn die Luft gänzlich
von dem Pericardium resorbirt wird und das Exsudat den Herzbeutel als
reines Pyopericardium ausfüllt, ist der letale Ausgang unvermeidlich.
Verschieden von dem Krankheitsbilde des Pneumopericardiums und seiner
Folgezustände gestaltet sich das klinische Bild, wenn die tuberculöse Er-
krankung der benachbarten Lunge oder der Pleura auf den Herzbeutel
übergreift. Es kann auch hier zu einer Pericarditis exsudativa
acuta kommen, in der Regel aber handelt es sich um eine langsam sich
entwickelnde chronische Form; in der acuten Form äussern sich auch die
Schmerzen in der Herzgegend, die Athemnoth, der Kopfschmerz, die Herz-
insufficienz energisch und rasch; bei der gleichen, von vorneherein chronisch
auftretenden tuberculösen Pericarditis sind die Brustschmerzen
unbestimmt,die Athemnoth ist anfangs nicht gross, das Fieber ist massig und
hebt sich nicht von der bestehenden phthisischen Temperaturcurve ab; es
kommt relativ oft vor, dass schon ein beträchtliches Exsudat im Herzbeutel
ist, ohne dass der Patient über vermehrte Athemnoth oder Schmerzen klagte.
Das Exsudat ist selten sero-fibrinös, meist ist es eitrig und manchesmal
hämorrhagisch.
Was nun die Symptome der Pericarditis tuberculosa chronica anlangt,
so hört man im Anfange der Erkrankung und auch weiterhin noch, wenn das
792 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Exsudat nur langsam ansteigt, per i Card iale Reibegeräusche, welche bald
kurz und leise, bald knarrend und trocken sind und oft nicht nur mit der
aufgelegten Hand gefühlt, sondern in einiger Entfernung von dem Kranken
noch wahrgenommen werden; der Kranke hört und fühlt das Geräusch
häufig selbst. Durch benachbarte Cavernen, durch den aufgetriebenen Magen
und durch Pneumothorax kann in Folge der Resonanz das pericarditische Reibe-
geräusch metallischen Timbre annehmen. Wenn sich im Verlaufe der Er-
krankung das Exsudat reichlicher bildet und die Pericardflächen von einander
entfernt, so verschwinden die Reibegeräusche und an ihrer Stelle bildet sich
eine charakteristische Dämpfung aus, welche durch den Flüssigkeits-
erguss in den Herzbeutel bedingt ist. Bei der exsudativen Pericarditis näm-
lich wird die Herzdämpfung nach allen Seiten hin vergrössert und nimmt eine
Dreieckform mit abgestumpfter Spitze oder eine trap ezoide
Gestalt an. Die stumpfe Spitze des Dreiecks liegt in dem HL oder H. linken
Intercostalraume in der Nähe des linken Sternalrandes, w ir haben sie schon
bis auf den ersten linken Rippenknorpel reichend, gefunden; die Schenkel des
Dämpfungsdreieckes laufen schräg nach abwärts und aussen, so dass der linke
Schenkel die vordere Axillarlinie erreichen und noch über sie hinausgehen
kann, der rechte Schenkel die rechte Parasternal- und Mamillarlinie schneidet.
Die Basis des Dreiecks grenzt an die Leberdämpfung an, indem sie auch
tiefer gelagert ist, als es der unteren normalen Herzdämpfung entspricht,
weil das Exsudat das Zwerchfell nach abwärts d^-ängt und dadurch selbst bis
zur 8. Rippe die breite Dämpfung verlagern kann. In sehr vielen Fällen ist
von einer Herzbewegung nichts zu sehen und zu fühlen, oft aber sieht man
eine systolische, schwache Erschütterung der Herzgegend und fühlt den Spitzen-
stoss nach oben angedeutet; der Spitzenstoss hebt sich — und das ist das
Charakteristicura — innerhalb der Dämpfungsfigur ab, weil das Ex-
sudat weiter nach links reicht, als das Herz. Die pericarditische Dämpfung
folgt den Lageveränderungen des Patienten sehr häufig, indem sie in auf-
rechter Stellung stärker und grösser ist, als in Rückenlage des Kranken; in
der Seitenlage kommen Verschiebungen um mehrere Centimeter vor. Die
Herztöne sind sehr leise, der Puls ist beschleunigt, oft unregelmässig und
seine Wellen klein und schwach, bisweilen verschwindet der Puls bei der Inspira-
tion vollständig oder wird noch kleiner (Pulsus paradoxus). Bei grossen
Exsudaten ist die Herzgegend deutlich vorgewölbt, die Intercostalraume schei-
nen verstrichen. In Folge des Druckes des entzündlichen Ergusses in den
Herzbeutel ist der venöse Abfluss bedeutend gehindert, die Venen sind stark
gefüllt, die lugularvenen sind geschwollen und zeigen undula torische oder
pulsatorische Bewegung. Sehr häufig ist die Herzgegend leicht, aber
deutlich ödematös. Das pericarditische Exsudat übt auch einen Druck auf
die Nachbarorgane aus; in Folge dessen hört man unmittelbar an die Herz-
dämpfung angrenzend, zunächst eine Zone tympanitischen Lungen-
schalls, welcher sich erst der volle Lungenschall anschliesst; bei grossen
Exsudaten kann man deshalb tympanitischen Schall, bedingt durch die retra-
hirte, entspannte Lunge, bis in den 1. Intercostalraum hinein finden; der
linke untere Lungenlappen kann so sehr comprimirt werden, dass er sich
durch eine deutliche Dämpfung in der unteren Hälfte der linken Rücken- und
Seitenfläche bemerkbar macht. Der linke Leberlappen ist nach abwärts ge-
drängt. Die tuberculöse Pericarditis heilt nicht ab, sie beschleunigt
durch die venöse Stauung, durch die schweren Circulationsstörungen in Folge
der secundären Atrophie des Herzens, durch die Steigerung der Dyspnoe,
durch die Fieberbewegung den tödtlichen Ausgang.
Die Vorliebe zu secundärer tuberculöser Erkrankung im Verlaufe der
Lungenschwindsucht, welche den serösen Häuten eigenthümlich ist, zeigen
auch die Hirnhäute, so dass die tuberculöse Meningitis allzuhäufig
TUBERCULOSIS PULMONUM. 793
das klinische Bild der Lungentuberculosis illiistrirt. Die Dura mater be-
theiligt sich nur selten an der Bildung miliarer Tuberkelknötchen, vorwiegend
vielmehr ist die Pia mater der Sitz der tuberculösen Infection, welche beson-
ders längs den grösseren Gelassen, demnach mit Vorliebe in den Furchen
und Spalten der Gehirnoberfläche, ganz besonders aber im Verlaufe der Arteria
fossae Sylvii, am Chiasma nervorum opticorum, an den Pedunculi cerebri, der
Pens und Medulla oblongata, zur Tuberkeleruption führt. Die Verschleppung
des tuberculösen Materiales von der erkrankten Lunge her findet auf dem
Wege des Blutstromes statt. Zu dieser Meningealtuberculosis treten entzünd-
liche Erscheinungen, welche in einer stärkeren Gefässfüllung und in der Bil-
dung eines sulzig-eitrigen, selten eines sulzig- serösen Exsudates in bald spär-
licher, bald reichlicher Menge bestehen. Meistens ist die tuberculöse Menin-
gitis von einer Meningitis tuberculosa spinalis begleitet, ohne dass aber die
letztere sich besonders aus dem klinischen Beobachtungskreise abhebt.
Die Symptome, welche die tuberculöse Meningitis setzt, sind wesentlich
bedingt von dem erhöhten Drucke in der Schädelhöhle durch das austretende Exsudat,
welches die Dura mater sehr stark spannt und die Gyri abplattet, so dass die Sulci ver-
strichen sind. Die Ventrikel sind meistens durch eine seröse oder serös-zellige, bisweilen
leicht hämorrhagische Flüssigkeit ausgedehnt; dieser hydrocephalische Erguss verschaffte
früher der Meningitis tuberculosa den Namen Hydrocephalus acutus. Der Beginn
der tuberculösen Gehirnhautentzündung kann sowohl rasch, fast plötzlich, als auch
sehr langsam sein; die Mehrzahl aller Fälle beginnt sc bleichend. Bleibt man bei
der alten Eintheilung, dass der Verlauf der Meningitis tuberculosa drei Stadien zeigt,
nämlich das Stadium der Gehirnreizung, welchem das Stadium des gesteigerten Ge-
hirndruckes, und als drittes Stadium dasjenige der Lähmung folgt, so durchläuft die acut
auftretende Form der Meningitis diese Stadien in wenigen Tagen, selbst Stunden, während
das langsam, mehr chronisch auftretende, häufigere Krankheitsbild bis zur Ausbildung
Wochen gebraucht. Diese drei Stadien grenzen sich zwar nie scharf von einander ab, indem
die Symptome des einen Stadiums neben denjenigen des anderen Stadiums einherlaufen
können, aber im Ganzen hat diese Eintheilung ihre volle Berechtigung, Fast immer hat
die tuberculöse Meningitis ein Vorläuferstadium, welches bis zu einer oder selbst zwei
Wochen andauern kann. Die Patienten fangen an, über Kopfschmerz zu klagen, der Appetit
hört auf, häufig tritt Verstopfung ein, ab und zu auch ein- oder mehrmaliges Erbrechen,
Kinder sind meistens mürrisch, launenhaft, weinerlich, schreckhaft Mnd zucken im Schlafe,
welcher unruhig ist, oft zusammen. Der Allgemeinzustand wird allmälig schlimmer, die
Kopfschmerzen nehmen zu und werden ausserordentlich heftig und anhaltend, der Nacken
ist gegen Druck deutlich empfindlich, Nackensteifigkeit und Nackenstarre treten bald her-
vor, oft wird die ganze Wirbelsäule steif und schmerzhaft, ein Zeichen, dass auch die Menin-
gitis spinalis eingetreten ist. Der Gehirnreiz bedingt Schwindelgefühl, Erbrechen, das Sen-
sorium wird langsam mehr und mehr benommen, die Patienten deliriren bald leise, bald
laut, sind aber dabei meistens ziemlich unruhig, greifen hier- und dorthin mit den Händen
und bewegen fortwährend die Beine. Die Kinder werden meistens sehr bald stark benom-
men und somnolent, sie seufzen eigenthümlich tief oder plötzlich laut auf (cri hydren-
cephalique). Bei allen Patienten ist der Leib sehr stark, kahnförraig eingezogen und fühlt
sich hart, gespannt an, in Folge einer tonischen Contraction der Bauchmuskeln und der
Darmwand. Die Vasomotoren der Haut sind oft ungemein erregbar, so dass leicht mecha-
nische Reize genügen, um an den berührten Stellen rothe Flecken auf der Haut (Trousseau'-
sche Flecken) von längerer Dauer hervorzurufen.
Mittlerweile bildet sich die Exsudation aus und mit ihr treten die Anzeichen des
gesteigerten Gehirndruckes auf: Der Sopor nimmt zu, der Puls wird verlangsamt auf
40— 50 Schläge in der Minute als Folge einer Vagusreizung, die Athmung wird unregelmässig und
nimmt mit fortschreitender Erkrankung das CHEYNE-SxoKEs'sche Athmungsphänomen an;
Paresen im Gebiete des Oculomotorius, ungleich oder stark erweiterte Pupillen, Zuckungen,
leichte, tonische Contractionen oder einseitige Paresen des Facialis, ausgesprochene Hemi-
plegien und Hemiparesen, monoplegische Lähmungen, aphasische Störungen treten auf, die
anfangs gesteigerten Reflexe werden vermindert und erlöschen schliesshch gänzhch, die
Temperatur ist nur massig gesteigert, der Harn ist spärlich und enthält kleine Mengen
Eiweiss. Tritt das Endstadium ein, so entleeren die Patienten im Coma den Harn in das
Bett oder halten ihn ganz in der Blase zurück; der Puls wird klein und beschleunigt, oft
ganz plötzlich auf 120—14:0 Schläge durch Vaguslähmung gesteigert, das CnEYNE-STOKEs'sche
Athmen wird ungemein deutlich durch die Abnahme der Erregbarkeit des Athemcentrums
und liefert die bekannten Athmungscurven, welche darin bestehen, dass nach einer Athem-
pause leichte, ganz flache, oberflächliche, kaum sichtbare Athemzüge beginnen, welche all-
mälig immer tiefer werden, eine gewisse Höhe erreichen und langsam wieder abfallen, um
in eine neue Athempause überzugehen. Im Stadium der Lähmung steigt oft die Tempe-
794 TUBERCULOSIS PULMONUM.
ratur hoch an, häufig aber auch kommt ein auffallendes Sinken der Temperatur bis aut
-j- 30° C. und noch tiefer im Mastdarm zur Beobachtung.
Vorher bestehende Contra ctionen verschwinden gänzlich, die Kranken sind vollstän-
dig gefühl- und empfindungslos und gehen in tiefem Coma in den Tod. Die Krankheit endet
stets' mit dem Tode, welcher selten länger als 1 — IV2 Wochen auf sich warten lässt, wenn
das volle Bild der Meningitis tuberculosa vorliegt.
Einen ebenso schlimmen Einfluss, wie ihn die Tuberculose der serösen
Häute auf den Verlauf der Lungenschwindsucht ausübt, besitzt die Miliar-
tuberculosis, welche in jedem Stadium der Schwindsucht ausbrechen kann.
Zwar kommt die Tuberculosis miliaris universalis nicht so häufig im Verlaufe
der Auszehrung vor, als man von vorneherein erwarten sollte, jedoch spielt
in der Aetiologie der Miliartuberculosis die Lungenschwindsucht die Haupt-
rolle, weil auf sie als ursächliches Moment mehr als die Hälfte aller Fälle
kommen. Bei fortgeschrittener und chronisch-interstitieller Phthisis tritt die
Miliartuberculosis seltener auf, als bei der frischen und rasch zerfallenden Art
der Lungentuberculosis. . Die dicken Bindegewebskapseln der chronischen
Lungenschwindsucht, welche die tuberculösen Heerde in der Lunge umgeben
und durch Schrumpfung die Gefässe verschliessen, bilden einen wirksamen
Schutz gegen das Uebertreten von Tuberkelbacillen in den Kreislauf, während
die rasch verkäsende Phthisis dieses Schutzes entbehrt und gerade durch
ihren schnellen Zerfall grosse und kleine Gefässe eröffnet.
IV. Verlauf und Ausgänge.
Der Verlauf der Lungenschwindsucht nimmt immer eine längere Zeit in
Anspruch; den Anfang der Erkrankung kann man niemals genau feststellen
uüd" deshalb rechnet die Bestimmung der Dauer des Verlaufes stets mit einer
Fehlerquelle. Im Wesentlichen stehen sich mit Bezug auf den Verlauf zwei
Formen der Lungentuberculosis gegenüber: die acute, floride Phthisis
und die chronische Schwindsucht. Bei dieser Eintheilung muss man
sich aber erinnern, dass die acut verlaufende Phthisis doch noch in die
chronische Form übergehen und dass anderseits die chronische Phthisis
sich plötzlich in die rasch verlaufende umwandeln kann; auch kommt es vor,
dass die Phthisis florida für längere Zeit einen langsamen Verlauf erhält
und dann wiederum einen acuten Charakter annimmt. Sieht man ab von
diesen Krankheitsgruppen und hält sich an den beiden Typen der acuten und
chronischen Lungenschwindsucht, so nimmt die acute floride Phthisis,
die galopirende Lungenschwindsucht, gewöhnlich wenigstens 2—3 Monate in
Anspruch vom Beginne bis zum tödtlichen Ausgange; Coraplicationen, wie
Pneumothorax, Pleuritis exsudativa, kürzen die Verlaufszeit unter Umständen
erheblich ab. Die Phthisis florida zeigt in der Regel von Anfang an einen
acuten Verlauf, die Lungentuberculosis nimmt rasch an Umfang zu und
erzeugt Infiltrationsformen mit umfänglichen Zerfallsvorgängen, welche an
vielen Stellen gleichzeitig sich ausbilden. Anfangs ist meistens nur eine
Lungenspitze erkrankt, spärliche, nicht klingende Rasselgeräusche weisen auf
Secret in den kleinen Bronchien hin, bald wird der Lungenschall tympanitisch,
das kleinblasige Rasseln wird zu Knistern, das Athemgeräusch wird zuerst
in der Exspiration, dann in der Inspiration bronchial, hierauf wird der
Lungenschall deutlich gedämpft, die Spitze ist infiltrirt. Solche rasche In-
filtrationserscheinungen kommen oft in wenigen Tagen zur vollen Ausbildung;
die Verdichtung schreitet schnell nach allen Seiten in dem befallenen Lungen-
lappen vorwärts, so dass man von Woche zu Woche die Ausbreitung physi-
kalisch bestimmen kann. Nach wenigen Wochen bilden sich in dem In-
filtrationsbezirke die Zerfallserscheinungen aus. Während sich aber in rascher
Folge die tuberculose Infiltration verbreitet, schreiten nicht weniger schnell
die Vorläufer der Verdichtung, das kleinblasige Rasseln, das
Knistergeräusch voran, es tritt in dem unteren l^appen der befallenen
TUBERCULOSIS PULMONUM. 795
Seite auf und kann schnell bis zur Lungenbasis kriechen; oft hört man schon
nach 3 — 5 Tagen dieses knisternde Rasseln auf der ganzen Thoraxhälfte und
nach wenigen Wochen sind auch im Unterlappen Bezirke gedämpften Lungen-
schalles mit bronchialem Athmen und klingendem Rasseln aufzuweisen. Wir
haben schon nach 14 Tagen eine vollständige tuberculöse In-
filtration, von der Lungenspitze bis zur Lungenbasis reichend,
entstehen gesehen.
Wenn der untere Luugenlappen deutlich erkrankt ist, dann machen sich
in den meisten Fällen bald Erscheinungen der Erkrankung der anderen
Lungenspitze geltend; auch hier kann es zu einer deutlichen Infiltration
kommen, welche den grössten Theil des oberen Lappens einnimmt. Die
katarrhalischen Symptome treten bald in dem unteren Lappen der zuletzt
befallenen Seite auf, auch kommt es hier und da zu kleinen Heerden, aber
zur vollen diffusen Infiltration kommt es in der Regel nicht mehr, weil vorher
das Leben erlischt. Nicht immer aber wird die zweite Lungenspitze tuber-
culös ergriffen, man findet auch, dass der obere Lappen freibleibt und zuerst
der untere Lappen ergriffen wird. Neben dieser Form der acuten Lungen-
schwindsucht, welche also vorwiegend in schneller, rapide um sich greifender
Infiltration mit Zerfall besteht, gibt es noch ein besonderes Krankheitsbild,
welches im Beginne und in der ersten Zeit dem Nachweise durch die physi-
kalische Untersuchung grosse Schwierigkeiten bereiten kann. Es handelt
sich hierbei um die disseminirte Lungentuberculosis, welche dadurch
ausgezeichnet ist, dass zahlreiche, in der ganzen Lunge zerstreute Heerde
peribronchitischer Natur vorliegen. Weil diese Heerde anfangs klein sind,
lufthaltiges Lungengewebe sie umgibt und umhüllt, so gibt die Percussion
keine Anhaltspunkte für eine Lungenerkrankung und oftmals lässt auch die
Auscultation im Stiche, welche höchstens diffuse, bronchitische, nicht klingende
Rasselgeräusche erkennen lässt. Beide Formen verlaufen mit hohem Fieber,
welches von profuser Schweisssecretion meistens begleitet ist und unregel-
mässige Morgenremissionen zeigt; Fröstelgefühl und ausgeprägte Fröste sind
sehr häufig zur Stelle und leiten die Temperatursteigerungen ein. Der
Husten ist meistens heftig, mit Auswurf schleimig-eitriger oder glasig-
klebriger Art verbunden, je nach der Ausbreitung und Reichlichkeit der
Secretanhäufung in den Bronchien und Cavernen verschieden; die Pulse sind
klein, frequent und leer, die Athmung ist sehr beschleunigt, die Thorax-
bewegungen angestrengt und die Hilfsmuskeln der Athmung betheiligen sich
lebhaft. Der Appetit liegt meistens gänzlich danieder, die Abmagerung
schreitet rasch voran, der Kräfteverfall wird grösser und nach etwa drei-
monatlicher Dauer sterben die Kranken an vollständiger körperlicher und
geistiger Ermattung. Die Phthisis florida mit acuter massiger, fester In-
filtration und rapidem Zerfall befällt am häufigsten jugendliche Per-
sonen, während die disseminirte Lungentuberculose mehr bei
älteren Personen, doch auch bei Kindern vorkommt. Bei der
disseminirten Lungenschwindsucht kommt es fast nie zu einer prallen, aus-
gesprochenen Dämpfung eines ganzen Lappens, wohl findet sich im späteren
Verlaufe, dass in der Claviculargegend der Percussionsschall leer wird, und
auch während das Leerwerden des Schalles nach abwärts schreitet, eine volle
Dämpfung sich ausbildet, jedoch sind die Dämpfungsbezirke im Vergleiche
zu jenen der acuten, tuberculösen Infiltration klein; nicht wenige Fälle gibt
es, bei welchen überhaupt gar keine Schallveränderung zu Stande kommt.
Das Sputum ist bei beiden Arten reich an Tuberkelbacillen, bei der disse-
minirten Form wird dem Auswurf Blut in Streifen und Flöckchen beigemischt.
Die Form mit raschem Zerfall ist vielfach durch Hämoptoe ausgezeichnet,
welche wiederholt in profuser Stärke und schon in den ersten Erkrankungs-
tagen auftreten kann. ^ Der Hämoptoe folgt in der Regel ein neuer rascher
796 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Anstieg des etwa vorhandenen Nachlasses der bestehenden Symptome; der
Blutsturz kann im Beginne der Phthisis florida als erstes Zeichen mit dem
Fieber auftreten und zeigt in diesen Fällen an, dass eine latent bestehende
tuberculöse Erkrankung der Lunge plötzlich einen acuten Charakter annahm.
In der grossen Mehrzahl der Fälle von Lungentuberculosis ist die Er-
krankung ein recht chronisches Leiden, welches viele Jahre und selbst De-
cennien umfasst. Die chronische Lungenschwindsucht geht nur in
den seltenen Fällen aus dem Stillstande einer acuten Form hervor, sondern
beginnt in der Regel gleich von vorneherein in ganz schleppender, langsam
kriechender Weise. Gewöhnlich beginnt die chronische Lungenschwindsucht
mit einem Spitzenkatarrh; man hört in der Spitze saccadirtes Athmen, spär-
liche, knisternde oder feuchte Rasselgeräusche, der Percussionsschall ist etwas
weniger laut als über der gesunden Lungenspitze; die Patienten husten an-
fangs trocken, später gesellt sich spärlicher Auswurf hinzu, geringes Fieber,
zunehmende Abmagerung und blasse Gesichtsfarbe sind die gewöhnlichen
Symptome. Die Brustbeschwerden sind gering, die Athmung ist kaum oder
gar nicht behindert, der Puls ist rasch und klein. Nur ganz langsam, erst
nach Monaten bildet sich eine Dämpfung über der befallenen Spitze aus; die
Verdichtung ist nicht erheblich gross und schreitet so langsam vorwärts, dass
manchmal fast in Jahresfrist kein Fortschreiten bemerkbar ist. Der Gang
der Erkrankung ist selten ein gleichmässiger und stetig fortschreitender, viel-
mehr bietet derselbe gewöhnlich im Laufe der Zeit vielfältige, zum Theil sehr
beträchtliche Schwankungen dar. Das Allgemeinbefinden ist im Ganzen nicht
sehr tangirt, die meisten Patienten können jahrelang ihren Berufsgeschäften
ruhig nachgehen. Der Husten kann vollständig verschwinden, die Fieberbewe-
gungen können vollkommen schweigen, wohl findet man den Verdichtungsbezirk
in der Lunge, aber die Rasselgeräusche sind verschwunden, die Ernährung
hebt sich, so dass derartige Patienten thatsächlich corpulent werden können.
Solche Nachlässe der Krankheitserscheinungen oder Stillstände in der Er-
krankung können Monate, selbst Jahre lang andauern, bis aus irgend einem
Anlass eine Verschlimmerung eintritt und der tuberculöse Heerd sich ausdehnt.
Solche Perioden besseren Befindens mit schlechten Zeiten wechseln in bald
grösseren, bald kürzeren Zwischenräumen ab und, wenn nicht Complicationen
eintreten oder plötzlich aus der chronischen Form eine acute Form sich ent-
wickelt, welche auch zur Erkrankung anderer Lungenabschnitte führt, so
können derartige Patienten unbestimmbar viele Jahre gute und schlechte
Zeiten haben, ohne dass sie dem Tode näher rücken; erst nach Decennien
sieht man die Patienten verfallen, hektische Fieberbewegungen mit Schweiss-
bildungen annehmen, amyloide Degeneration erleiden und schliesslich der
Krankheit erliegen; während dieser langen Zeit hat die ursprüngliche Er-
krankung in dem einen Lungenlappen nur sehr langsame Fortschritte gemacht,
wohl können sich im Laufe der Jahre Cavernen beträchtlicher Grösse aus-
bilden, aber der Zerfall des Lungengewebes geht so langsam voran, dass man
nur bei genauester Beobachtung geringe abendliche Temperatursteigerung
nachweisen kann. In anderen Fällen, in welchen der Beginn auch sehr all-
mälig und verdeckt ist, macht sich die Verdichtung dadurch bemerkbar, dass
eine Neigung zu Schrumpfung des erkrankten Lungengewebes oifenbar wird;
solche Fälle entwickeln sich häufig auch dann, wenn ein ziemlich grosses
Infiltrat rasch sich ausgebildet hat. Diese chronische Lungentuberculosis geht
vorwiegend mit Bindegev.'ebsneubildung einher, welche, wie alles Narbengewebe,
die Tendenz zur Schrumpfung besitzt. Langsam, nach Monaten und Jahren,
findet man die rechte Lungenspitze, um die es sich meistens handelt, tief
stehen, die Fossa supra- und infraclavicularis sinkt ein, die fossa supraspinata
ist abgeflacht, der Husten lässt nach, verschwindet ganz oder tritt nur mor-
gens und abends auf, das Fieber erreicht die normale Temperatur, die all-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 797
gemeine Ernährung hebt sich sehr. Die Lungenschrumpfung kann im Laufe
der Jahre soweit gehen, dass die ganze obere Thoraxpartie der befallenen
Seite eingesunken und unbeweglich ist. Auch im Verlaufe dieser vernarben-
den Phthisis wechseln acute Steigerungen der Erkrankung mit Pausen voll-
kommenen Wohlbehagens und Nachlass der physikalischen Symptome ab.
Cavernensymptome können vollständig verschwinden. Die im Beginne der
Erkrankung oft wiederholt auftretende Hämoptoe kehrt nicht zurück und
jahrelang erfreut sich der Patient einer vollen Gesundheit, nur die Unter-
suchung lehrt die Schrumpfung des Lungenlappens. Es kommt sogar vor,
dass die deutliche Abflachung und Einziehung der Brustwand wieder voll-
ständig verschwindet, weil die nicht erkrankten Lungenabschnitte des ergriffe-
nen Lappens vicariirend emphysematös werden. Bei solchen Patienten kann
der Husten vollständig verschwinden, oder er tritt in grösseren Zwischen-
räumen, meistens morgens, oft in wirklichen Paroxysmen auf; grössere Massen
schleimigen Sputums werden entleert, welches sehr arm an Tuberkelbacillen
ist oder sie überhaupt nicht enthält; diese Sputummengen stammen aus Ca-
vernen her, Avelche durch starke Bindegewebsmassen eingekapselt sind, ihren
destructiven Charakter verloren haben, aber zu reichlicher Secretbildung führen;
wenn eine solche Caverne im Verlaufe von vielen Stunden reichlich Secret
enthält, so reizt sie zum Hustenstoss, solange, bis sie wieder entleert ist.
Auch solche Cavernen können mehr und mehr durch das Narbengewebe ver-
kleinert werden; in demselben Verhältnisse lässt der Husten und der Auswurf
nach. Nicht stets aber macht die Schrumpfungsphthisis diesen relativ guten
Fortschritt; zu jeder Zeit kann eine Verschlimmerung eintreten, welche auf
andere Lungenlappen, besonders gerne auf den oberen anderen Lungenlappen
übergreift, dort zu demselben Schrumpfungsprocesse führt und mehrere Jahre
lang stille stehen kann. Je mehr aber die schrumpfende Lungenschwindsucht
sich ausdehnt, um so mehr Athmungsfläche geht verloren, wohl tritt auch
hier ein vicariirendes Emphysem ein, aber die Athmungs- und Circulations-
hindernisse wachsen mit der Schrumpfung und bedingen nach mehr oder
minder vielen Jahren tiefe, unüberwindliche Schädigungen des gesammten
Organismus. Selbst nach Decennien langem Stillstande der fibrösen, narbigen
Form der Lungentuberculosis kann zu jeder Zeit eine plötzliche Verschlimme-
rung eintreten, welche vollständig das Bild der rasch verlaufenden, mit Ein-
schmelzung des frisch infiltrirten Lungengewebes verbundenen Lungenschwind-
sucht liefert und unter hohem Fieber und schneller Abzehrung zum Tode
führt. Sämmtliche Complicationen und secundäre tuberculöse Processe kommen
auch der Schrumpfungsphthisis zu.
Der Ausgang der meisten Fälle von Lungenschwindsucht ist der
Tod, die acute floride Phthisis endet stets tödtlich und zwar meistens in
2—3 Monaten, die ungünstig verlaufenden Fälle der chronischen Lungen-
tuberculose führen erst nach Jahren und Jahrzehnten in das Grab. Eine
durchschnittliche Lebensdauer lässt sich auch nicht annähernd richtig auf-
stellen. Der Tod tritt entweder unter dem Bilde der vollständigen Er-
schöpfung und des Kräfteverfalles ein oder als unmittelbare Folge der
schliesslich nicht mehr ausreichenden Athmung. Relativ selten erfolgt der
Tod plötzlich durch eine profuse, unstillbare Hämoptoe; es handelt sich bei
solchen plötzlichen Todesarten meistens nicht um den Verblutungstod, sondern
um den Erstickungstod infolge Verstopfung grosser Bronchialbezirke. Das
Glottisödem, die Schluckbeschwerden in Folge der Ulceration des Larynx, die
tuberculöse Pleuritis und Meningitis, der Pneumothorax moditiciren in ihrer
Art den letalen Ausgang. Der Circulationsapparat gibt nur selten den un-
mittelbaren Anlass für den Tod ab, Embolien und Thrombosen der Lungen-
arterie, Embolie der Gehirnarterien, von Thromben der Lungenvenen her-
stammend, Haematom der Dura kommen jedoch als gelegentliche Todesursache
798 TUBERCULOSIS PULMONUM.
vor; beträchtliche und hochgradige Wassersucht bei der uncoBiplicirten
Lungenschwindsucht tritt als Todesveranlassung nicht häufig in Betracht.
Nicht alle Fälle von Lungenschwindsucht aber führen zum Tode, sondern
absolute und relative Heilungen sind klinisch und pathologisch-
anatomisch mit Sicherheit nachgewiesen; sie bilden jedoch nur die Minderzahl
der Erkrankungen, während die Mehrzahl ungünstig endet. Unter Hei-
lung hat man keine Restitutio ad integrum zu verstehen, sondern eine
Heilung mit Stillstand des tuberculösen Processes und Narbenbildung mit
Schrumpfung. Es unterliegt keinem Zweifel, dass Tuberkel wie pneumonische
Infiltrate durch molecularen Zerfall und Resorption verschwinden können, dass
feste Abkapselungen ganze Heerde unschädlich machen und Verkalkungen die
einzigen Ueberbleibsel der ursprünglichen Krankheitssitze bilden; kleinere
Cavernen können durch die Schrumpfung gänzlich verschwinden, kleine Hohl-
räume sind der Heilung durch Verwachsung der Wände zugänglich; grössere
Cavernen können durch das Narbengewebe, welches sie umgibt, erheblich
verkleinert werden, ihr Inhalt wird verkalkt oder verliert gänzlich den tuber-
culösen Charakter, indem sie zwar noch secerniren, aber ein nicht tuberkel-
bacillenhaltiges Secret produciren; man findet auch, dass eine solch' ver-
kleinerte Caverne überhaupt nicht mehr secernirt. Geheilte Erkrankungen
der Lungenspitze findet man fast alltäglich bei den Sectionen, selbst bei weit
ausgebreiteter Tuberculosis findet man deutliche Beweise einer Heilung. Mit
diesen anatomischen Resultaten stimmt die ärztliche Erfahrung überein.
Spitzenkatarrhe mit deutlichem tuberculösem Charakter können gänzlich ver-
schwinden, selbst erhebliche Infiltrationen werden verkleinert und lassen nur
eine Schrumpfung zurück, sie können sogar der Untersuchung sich gänzlich
entziehen, und solche Individuen bleiben lungengesund ihr ganzes Leben lang.
Meine auf dem Gebiete der Lungentuberculosis ausserordentlich reiche
Erfahrung kennt sehr viele Fälle von Heilung, sei es, dass überhaupt nichts
mehr an dem Sitze der Erkrankung nachw^eisbar ist oder dass deutliche
Narbenbildung mit Schrumpfung das Heilungsresultat darstellt. Nicht selten
sind auch diejenigen Krankheitsfälle, in welchen mitten in scheinbarer Ge-
sundheit ein- oder mehrmalige Hämoptoe auftritt; der Patient kränkelt un-
erheblich mehrere Wochen oder auch oft gar nicht, und in der Folge tritt
niemals ein Symptom der Lungentuberculosis hervor: derartige Patienten mit
ein- oder mehrmaligem Blutsturz können blühend aussehen und bleiben bis
zu ihrem Tode in hohem Alter stets von der Schwindsucht frei.
Bei der ausserordentlichen Verbreitung der Tuberculosis gibt es sicherlich
auch eine sehr grosse Anzahl latenter Fälle von Lungentuberculosis,
welche in volle Genesung übergehen. Neben diesen vollkommenenHeilungenfinden
sich häufig unvollkommene, relative Heilungen, in denen erhebliche Aus-
breitungen der Lungentuberculosis zum Stillstand kommen oder zum Theil
zurückgehen; die localen Veränderungen werden vermindert und die Patienten
erfreuen sich viele Jahre laug eines ungestörten Wohlbefindens, sie können
sogar ein hohes Alter erreichen, anderseits aber kann nach Jahren der
ruhende Heerd wieder aufleben oder in anderen Gebieten der Lunge neue
locale Erkrankung setzen. Die Gefahr der Lungentuberculosis liegt
in der Ausbreitung; so lange die Tuberculosis local verläuft
und sich auf den ersten Ort der Ansiedelung beschränkt, heilt
sie sicher sehr oft vollständig ab.
V. Diagnosis.
So leicht es ist, eine ausgesprochene Lungenschwindsucht nachzuweisen,
so schwer ist oft der Entscheid, wenn es sich um die allerersten Anfangs-
stadien der Tuberculosis pulmonum handelt. In allen Fällen gibt natürlich
der Nachweis von Tuberkelbacillen im Sputum die unanfecht-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 799
bare Antwort, denn wo Tuberkelbacillen im Auswurf vorhanden sind, da
liegt Tuberculosis vor. Man muss deshalb bei allen Lungenerkrankungen,
deren Natur den Anlass zu Zweifeln gibt, das Sputum mikroskopisch unter-
suchen. Es ist aber nicht richtig, zu schliessen, dass da keine Lungentuber-
culosis vorliegt, wo die wiederholte, genaueste Sputumuntersuchung keine
speciüschen Schwindsuchtspilze erkennen liess; der negative Befund beweist
nicht die Al)wesenheit der Tuberculosis. Es gibt eine Anzahl Fälle, in
welchen zweifellos Tuberculosis pulmonum vorliegt und doch Tuberkelbacillen
im Auswurfe fehlen können; nicht immer nämlich werden tuberculöse Zerfalls-
produkte durch die Bronchien nach aussen befördert, weil die Communication
des tuberculösen Heerdes mit der Luftröhre fehlt. Manchmal ist überhaupt
kein Sputum zur Untersuchung zu erhalten. Selbst fortgeschrittene Fälle
von florider Phthisis können ganz ohne Auswurf verlaufen. In den Anfangs-
stadien, wenn die Diagnosis am wichtigsten ist, besteht oft entweder gar kein
Husten oder nur ein trockener. Bei Kindern gelingt es überhaupt sehr häufig nicht,
sich das nothwendige Sputum zu verschaffen. Es hat demnach die physi-
kalische Untersuchung des Erkrankten trotz der Entdeckung der
Tuberkelbacillen nicht an Werth verloren, vielmehr gibt sie in vielen Fällen
allein Auskunft über die Natur der Erkrankung, sie allein verkündet auch
die Ausdehnung und das Fortschreiten der Zerstörung. In den Anfangs-
stadien hat man besonders auf die Untersuchung der Lungenspitzen
zu achten; selbst geringe Abweichungen von dem normalen Verhalten, wenn
sie sich bei wiederholten Untersuchungen stets vorfinden und nur auf die Lungen-
spitze beschränken, sind als der Tuberculosis verdächtig anzusehen. Ergibt
die Anamnese, dass der Untersuchte hereditär belastet ist oder dass sonst
Fälle von Schwindsucht in der engeren Familie vorgekommen sind, so steigt
die Wahrscheinlichkeit auf eine vorliegende Tuberculosis; Abmagerung trotz
hinreichender Ernährung, abendliche und atypische Fieberbewegungen ohne
nachweisbaren Grund, schlecht entwickelter Thorax, scrophulöse liesiduen,
grosse Neigung zu Erkrankungen der Respirationsorgane, nächtliche Schweisse
sind werthvolle Stützpunkte für die Diagnose. Die Hämoptoe, auch wenn
sie in scheinbarer voller Gesundheit der Individuen auftritt, und die genaueste
physikalische Untersuchung nur negative Resultate ergibt, halten wir für den
Beweis der Lungentuberculosis; Ausnahmen sind nur dann möglich, wenn es
sich um einen Herzfehler handelt oder um die Folgen eines Trauma, das
kurz vorher auf die Brust eingewirkt hat; periodische vicariirende Blutungen
an Stelle der Menses oder Hämorrhoidalblutungen setzen eine Erkrankung
der Lunge voraus — und diese Erkrankung ist die Tuberculosis. In mehreren
ausgesprochenen solchen Fällen haben wir Tuberkelbacillen in dem Blute der
Hämoptoe nachweisen können oder später Tuberculöse der Lunge entstehen
sehen. Wiederholt aufgetretene Pleuritis, zumal die doppelseitige Brustfell-
-■entzündung oder die bald links, bald rechts ihre Symptome setzende Pleuritis
hat fast denselben Werth, wie die Hämoptoe, indem solche Formen stets
secundär von der Lunge her entstehen. Das exspiratorische systo-
lische Subclaviageräusch, die Trommelschlägerfinger, hart-
näckige, jeder Behandlung spottende Anämie und Chlorosis,
leicht erregbare Herzthätigkeit, häufig wiederkehrende Durch-
fälle bei belasteten j ugendlichen Personen tragen im Verein mit
den anderen anamnestischen und allgemeinen Symptomen dazu bei, den Ver-
dacht auf Tuberculosis pulmonum zu stützen.
Zur Klarstellung der Diagnosis zieht man auch das Tuberculinum
Koch's in Betracht. Bei der Injection von Tuberculin tritt eine allgemeine
und örtliche Reaction auf, welche bei dem irgendwie tuberculös Erkrankten
nicht fehlt, während bei dem nicht Tuberculösen die Injection wirkungslos
verläuft; die Reactionen sind um so stärker, je kräftiger die injicirte Dosis ist;
800 TUBERCULOSIS PULMONUM.
die Gabe von O-Ql Tuberculin gibt sehr deutliche Reactionserscheinungen,
ohne zu stürmische allgemeine und locale Symptome zu setzen. Fehlt das
Fieber nach der Einspritzung, so kann doch die örtliche Reaction durch Auf-
treten oder Zunahme von Rasselgeräuschen über der tuberculösen, bis dahin
latenten Stelle, Hustenreiz mit Auswurf, die tuberculöse Natur der Erkran-
kung verrathen. Es gibt aber Ausnahmen von dieser Regel; denn zunächst
sieht man bei offenbar ganz gesunden, kräftigen Personen auch gelegentlich
die allgemeine Tuberculinreaction sehr heftig auftreten und fernerhin kann
man beobachten, dass ausgesprochene Phthisiker von der Tuberculinwirkung
gänzlich verschont bleiben. Zieht man diese Ausnahmen in Betracht, so kann
man die Tuberculinreaction mit grösster Wahrscheinlichkeit als Beweis für das
Vorhandensein von Tuberculosis in Betracht ziehen.
Die Diagnose wird einfacher, wenn die örtlichen Symptome in aus-
geprägter Deutlichkeit vorhanden sind; auch hier kann man der allge-
meinen Symptomenicht entrathen, weil sie zur Beurtheilung der einzelnen
Formen der Diagnosis das Hauptsächlichste beitragen; denn vielmehr als der
örtliche Befund entscheidet das allgemeine Verhalten, ob eine fortschreitende
oder eine ruhende Tuberculosis vorliegt. Intensives Fieber mit rascher Ab-
magerung, Hand in Hand mit Infiltrations- und Zerfallserscheinungen, bewei-
sen die fortschreitende Phthisis, während die nämlichen Localveränderungen
mit gleichbleibendem oder steigendem Körpergewicht und mit normaler Tem-
peratur auf die vernarbende, schrumpfende Form zu beziehen sind; der in-
durativen Phthisis kommt im Allgemeinen eine viel intensivere
Dämpfung zu, als der tuberculösen Infiltration der acuten Form.
Es gibt nun eine Anzahl von Erkrankungen an Lungen-
schwindsucht, welche theils unerkannt bleiben, theils mit anderen Erkran-
kungen verwechselt werden können. Namentlich im Beginne der Schwind-
sucht werden manche Fälle für Chlor osis, Anämie, Magen - Darm kr ank-
heiten, einfache Bronchitis gehalten; die Anamnese lässt vollständig
im Stiche, charakteristische Allgemeinsymptome fehlen, die Lungen bieten
keine Anhaltspunkte für eine örtliche Erkrankung dar; thatsächlich kann man
bei solchen Patienten im Zweifel für lange Zeit sein.
In anderen Fällen beherrschen die Erscheinungen der Chlorosis
oder der Magen-Darmkrankheiten so vollständig das Bild, dass selbst
eine schon nachweisbar entwickelte Tuberculosis pulmonum nicht zur
Untersuchung der Lungen den Anlass gibt, weil entweder gar kein Husten
oder nur ein ganz unauffälliges, seltenes Hüsteln ohne Auswurf besteht. Man
soll daher stets bei auffallender Abmagerung und Nachlass der
allgemeinen Körperkraft die Lungen untersuchen, auch wenn sie nicht
unmittelbar die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Kehlkopfkrankheiten
verdecken öfters die schleichende Phthisis; Lungentuberculöse leiden sehr
gerne an Heiserkeit, welche häufig wiederkehrt; deutliche Kehlkopftuberculo-
sis beweist mit Sicherheit, dass eine bestehende Lungenstörung tuberculöser
Art ist, und selbst wenn die Lungen bei der Untersuchung als gesund
gelten müssen, wird man kaum fehlgehen, anzunehmen, dass die Lungen
doch schon erkrankt sind, weil eben die primäre Larynxtuberculosis eine
seltene Ausnahme ist.
Die (liöerentielle Diagnosis hat zunächst diejenigen localen Verände-
rungen der Lungen zu berücksichtigen, welche physikalisch die näm-
lichen Untersuchungsresultate schaffen. Syphilitische Er-
krankungen der Lungen, welche zu Dämpfungserscheinungen und Höhlen-
bildung führen sollen, unterscheiden sich von der Lungentuberculosis rück-
sichtlich der Anamnese, sie lassen mit Vorliebe die Lungenspitzen frei, da
ihr Lieblingssitz der Lungenhilus, besonders in der rechten Brusthöhle, in der
Intrascapulargegend ist; Hämoptoe begleitet die Lungensyphilis sehr selten,
TUBERCULOSIS PULMONUM. 801
das Sputum enthält keine Tuberkelbacillen, kann al)er elastische Fasern ent-
halten, wenn syphilitische Ulcerationen vorliegen.
Im Allgemeinen aber führt die Syphilis in den Lungen häufiger zu cirrhotischen als
zu ulcerösen Veränderungen; in zweifelhaften Fällen kann die antiluetische Behandlung
den Ausschlag geben. Jedenfalls ist syphilitische Erkrankung der Lungen sehr selten und
eine syphilitische Lungenphthisis wird mit Recht von mancher Seite als nicht exi-
stirend angesehen. In fünf Fällen von vermeintlicher syphilitischer Phthisis,
welche ich gesehen habe, fand sich bei der Section stets die reine Tuberculosis.
Mischformen von Lungensyphilis und Lungentubcrculosis kommen vor und
sind sehr selten zu erkennen.
Pneumonokoniosen, vor allem die Steinhauerlunge, Chalkosis pul-
monum, die Eisenlunge, Siderosis pulmonum, die Kohlenlunge, Anthracosis
pulmonum, welche durch den Reiz der eingeathmeten Fremdkörper von einer
chronischen, zu Bindegewebsneubildung führenden interstitiellen Entzündung
begleitet sind, können ausgedehnte Indurationen und Schwielenbildung besitzen;
diese Verdichtungen führen zu nachweisbaren Dämpfungen, welche um so eher
den Verdacht auf Lungentubcrculosis wachrufen, als bronchitische Symptome,
Al)magerung, Kräfteverfall und Fieberbewegung das Krankheitsbild der Staub-
inhalationskrankheiten begleiten.
Die Entscheidung liegt in der mikroskopischen Untersuchung des Sputum, die An-
wesenheit der Tuberkelbacillen hebt den Schleier; sehr häufig findet sich jedoch die Lungen-
tuberculosis neben der Erkrankung infolge der Staubinhalation, weil die durch die Staub-
inhalation hervorgerufene Veränderung der Lungen für die Ansiedelung der Schwindsuchts-
keime den Boden günstig gestaltet.
Verwechselungen der tuberculösen Verdichtung mit dem Infiltrat der
croupösen Pneumonie sind im Allgemeinen nicht möglich, weil die Pneu-
monie sehr acut mit Schüttelfrost einsetzt, einen cyclischen Verlauf hat und
ihr Sitz meistens der untere rechte Lungenlappen ist, während die Lungen-
spitzen nur in der Minderzahl von der Lungenentzündung von vorneherein
befallen werden; findet man bei der Untersuchung beide Lungenspitzen er-
krankt, so liegt fast stets die Tuberculosis vor. Das Sputum gibt auch hier
den Entscheid, indem bei der Pneumonie wohl Diplokokken zu erwarten sind,
aber keine Tuberkelbacillen und elastische Fasern.
Bisweilen bleiben pneumonische Infiltrate wochenlang bestehen, es kann aber doch
noch vollständige Resorption eintreten, so dass man bei fehlendem Auswurfe nicht sofort
an die Möglichkeit denken muss, dass im Anschluss an die croupöse Pneumonie sich Lun-
genschwindsucht entwickelt habe. Folgt jedoch, was nicht allzu selten der Fall ist, die
Tuberculosis der Pneumonie unmittelbar, so bleiben die Zeichen der Infiltration fortbestehen,
nach unserer Erfahrung allerdings nicht in der vollen Ausbreitung der pneumoni-
schen Infiltration, sondern nur in der Weise, dass ein Theil der Dämpfung und des Bronchial-
athmens verschwindet, vor Allem an den mehr grenzwärts gelegenen Abschnitten des be-
fallenen Lungenlappens, und dass der übrigbleibende, oft mehr als Manneshand breite
Bezirk der Dämpfung sich scheinbar gar nicht für die physikalische Untersuchung ändert,
bis eintretender Zerfall oder das Auftreten von Tuberkelbacillen im Sputum die tuberculöse
Natur klar legt.
Manche Neubildungen in der Lunge, sowohl primäre wie secun-
däre können nicht nur im Beginne ihres Entstehens, sondern auch im wei-
teren Verlauf den Verdacht auf eine Lungentubcrculosis nahelegen, weil die
physikalische Untersuchung der Lungen Dämpfung, Bronchialathmen, abge-
schwächtes Athmen, Rasselgeräusche, häufig auch pleuritisches Reiben und
massige Fieberbewegungen ergibt; ausserdem besteht Kräfteverfall, Athemnoth,
Schmerz und Druck auf der Brust und Husten, welcher häufig sehr anstren-
gend und krampfartig ist.
Solche Neoplasmen sind Encliondrome und Sarcome, vorwiegend aber Carcinome,
welch' letztere, wie es scheint, eine gewisse Vorliebe für die oberen Lungenlappen, beson-
ders aber für den rechten oberen Lobulus haben. Fehlt der Auswurf, so kann die Diag-
nose lange Zeit schwanken; das Carcinom unterscheidet sich aber von der Tuberculöse
der Lungen dadurch, dass die erkrankte Seite geschwollen erscheint und diffus vorgetrie-
ben wird, am Halse und in der Achselhöhle der betreffenden Seite die Lymphdrüsen er-
heblich anschwellen, und Compressionserscheinungen, durch das Neoplasma selbst oder
durch die geschwollenen Lymphdrüsen bewirkt, allmälig deutlich hervortreten. So finden
wir beim Carcinoma pulmonum Oedem des Gesichtes, des Halses, der einen Brustwand,
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. Ol
802 TUBERCULOSIS PULMONUM.
zumal des oberen Abschnittes oder in einem Arme durch Druck auf die obere Hohlvene
oder einen Hauptstamm derselben; die subcutanen Venen dieser Körperabschnitte sind
stets geschlängelt und erweitert. Schlingbeschwerden beruhen auf Compression des Oeso-
phagus. Tracheal- und Bronchialstenosen mit Athemnoth folgen aus der Compression der
Trachea oder eines Hauptbronchus. Neuralgische Schmerzen und Paresen in einem Arme
zeugen für die Compression des Plexus brachialis. Stimmbandlähmung und Heiserkeit
beweisen die Drucklähmung des Nervus recurrens. Die dem Carcinom der Lungen folgende
allgemeine Prostration der Kräfte weist die eigenthümliche Verfärbung der Haut, welche
die Krebskachexie auszeichnet, auf. Steht Auswurf der Untersuchung zu Gebote, so
lassen sich zuweilen Krebselemente in dem Sputum mikroskopisch erkennen, zeitweise ist
der Auswurf auch bluthaltig und sieht himbeergeleeartig aus; selten werden jedoch
stärkere Blutbeimischungen beobachtet. Das Auffinden von Tuberkelbacillen liefert den
Entscheid für die Tuberculosis.
Cavernenbildung kommt nicM allein der Lungenschwindsucht zu,
sondern Cavernen entstehen auch durch Gangrän der Lungen oder können
als einfacheBronchiektasien chronische Bronchialkatarrhe und Emphy-
sem begleiten. Die Beschaffenheit des Auswurfes der tuberculösen Lungen-
caverne ist jedoch wesentlich, auch abgesehen von dem Gehalt an Tuberkel-
bacillen, verschieden von dem Sputum der gangränösen Caverne.
Entsprechend dem Absterben und fauligem Zerfall von Lungengewebe infolge von
Eindringen der Fäulnissbakterien in die Lunge, hat der Auswurf des Lungenbrandes
einen intensiv penetranten, fauligen, widrigen, stinkenden Geruch, so dass meistens schon
der Athem und der Hustenstoss solcher Patienten die ganze Umgebung verpestet. Das
Sputum, welches gewöhnlich reichlich ist und innerhalb 24 Stunden einen halben Liter be-
tragen kann, zeigt, im Glase gesammelt, drei Schichten, eine obere schleimig-eitrige, schmie-
rige Schicht, welche vorwiegend aus Schaumblasen, untermischt mit graugelben oder grau-
grünen Schleim- und Eiterballen besteht; die mittlere Schicht ist vorwiegend serös, nur
einzelne Flocken und festere Massen flottiren in dieser aschgrauen oder grünlichgrauen
Flüssigkeit; die unterste Schicht ist fast rein eitrig, körnig und sedimentartig von gelblich-
grüner Farbe; grössere und kleinere Pfropfe und Fetzen sind schon dem unbewaffneten
Auge erkennbar. Die Pfropfe, welche bis zu einer Bohne gross sein können und auch
mycotische oder nach ihrem ersten Beschreiber DiTTRicn'sche Pfropfe genannt werden,
sind weisslich, grau oder hellbraun, sie haben breiige Consistenz und verbreiten beim Zer-
drücken einen besonders üblen Geruch; bei der mikroskopischen Untersuchung findet man
in ihnen zahllose Bakterien, Microkokken und Bacillen, Fettsäurenadeln in grosser Menge
und oft zu grossen Büscheln vereinigt, gelbliche oder bräunliche Pigmentschollen und
Fetttröpfchen. Besonders charakteristisch für die Gangräna pulmonum sind die Paren-
chymfetzen, die wirklichen Bestandtheile des Lungengewebes; sie imponiren als schwarze,
schwarzgraue, punktförmige, bis mehr als 1 cm grosse Massen, welche in Wasser flottiren
und ihre zottige Oberfläche erkennen lassen. Bei der mikroskopischen Untersuchung zeigt
sich eine durchsichtige, farblose Grundsubstanz, welche die Alveolaranordnung der Lungen
noch erkennen lässt; elastische Fasern sind bald reichlich, bald nur spärlich vorhanden,
jedenfalls finden sie sich stets, so dass wir aus unserer Erfahrung heraus nicht der Ansicht
sind, dass das elastische Gewebe von der Gangrän frühzeitig zerstört werde. Fetttropfen,
Lungenpigment, Fettsäurenadeln vervollständigen die Befunde in den Parenchymfetzen.
Es sind also erhebliche Unterschiede zwischen dem gangränö-
sen und tuberculösen Sputum; es kann allerdings der Auswurf der
Lungenschwindsüchtigen einen fötiden Geruch annehmen, wenn in den letzten
Stadien der Erkrankung die Patienten nicht gut mehr auswerfen können und
das stagnirende Sputum der fauligen Zersetzung anheim fällt, allein die Drei-
schichtigkeit des gangränösen Sputum, die Parenchymfetzen und mycotischen
Pröpfe bleiben fern, weil der Tod eintritt, bevor eine secundäre Lungen-
gangrän eintreten konnte, während die Tuberkelbacillen stets vorhanden
sind. Das klinische Bild der Gangräna pulmonum bietet im übrigen sehr
viele Aehnlichkeit mit den Symptomen der Lungenschwindsucht dar: Fieber
mit remittirendem und intermittirendem Typus, profuse Schweissausbrüche,
starke Pulsbeschleunigung, Husten, Seitenstechen, Dyspnoe sind die stetigen
Symptome; die localen Thoraxsymptome, welche je nach dem Sitze und der
Ausdehnung der Gangrän bald mehr, bald weniger deutlich sind, so dass cen-
tralgelegene, kleine Heerde sich dem objectiven Nachweis entziehen können,
ergeben bei dem diffusen Lungenbrande die physikalischen Erscheinungen der
Infiltration, wie Dämpfung des Percussionsschalles, Bronchialathmen, reich-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 803
liebes, klingendes Rasseln, verstärkte Broncliophonie und verstärkten Bron-
chialfremitus. Bildet sich, was meistens bei der circumscripten Gangrän vor-
kommt, Zerfall aus, so treten alle Höblensymptome (tympanüischcr, metallischer
Peraissionsschall, Bruit de pot feUe^ WiNTRiCH'scAer Schallwechsel, Gerhardt'-
sches Schallplmiomen hei Lageivechsel, atnphorisches Äthnien, grossblasige, klin-
gende oder metallische Rasselgeräusche) in voller Deutlicbkeit bervor. Hämoptoe,
Pleuritis, Pneumothorax und Pyopneumothorax infolge Durchbrucbes der Gang-
ränhöble in den Pleuraraum vervollständigen die Aebnlichkeit des klinischen
Bildes. Der Lungenbrand tritt in der Mehrzahl in einem der beiden unteren
Lungenlappen auf.
Die Bronchiektasien treten meistens ebenfalls in den unteren Lungen-
lappen auf, die sack- und höhlenförmigen Erweiterungen können alle Höhlen-
symptome darbieten, welche der tuberculösen Caverne zukommen, zumal auch
die einfachen Bronchiektasien von interstitiellen Bindegewebswucherungen oft
umgeben sind. Bei den Bronchialerweiterungen aber sind die physikalischen
Erscheinungen bei dem nämlichen Kranken sehr häufig wechselnd, je nachdem
der Hohlraum mit Secret gefüllt oder leer ist. Man findet deshalb über
der bronchiektatischen Caverne den Pectoralfremitus bald verstärkt, bald ab-
geschwächt oder gänzlich fehlend; die percutorischen Höhlensymptome ver-
schwinden, und machen einer Dämpfung Raum, wenn der Sack sich mit Secret
füllt, um wieder aufzutreten, wenn nach kräftigem Husten und Entleerung
der Caverne Luft in den Hohlraum eindringt. In gleicher Weise ändert sich auch
das Auscultationsphänomen, indem das bronchiale Athmen über der Caverne ver-
schwindet, sowie die Luft in der Caverne durch Secretansammlung ausgetrieben
wird. Die Bronchophonie und die Rasselgeräusche unterliegen den nämlichen
Wandlungen. Bezeichnend für die Bronchiektasie ist auch die Art der Expec-
toration; die Patienten husten im Allgemeinen, wenn es sich um einfache bron-
chiale Hohlräume handelt, nicht viel, manchesmal schweigt der Husten den ganzen
Tag, selbst einen Tag und eine Nacht lang; mittlerweile füllt sich die Caverne
mit grossen Secretmassen an, welche dann plötzlich in grossen Massen entleert
werden, so dass der Auswurf in hochgradigen Fällen aus Nase und Mund heraus-
stürzt und in kurzer Zeit mehrere 100 ccm ausmacht; treffend nennt man diese
Art des Auswerfens maul volle Expectoration (Wintrich). Das Sputum
selbst enthält vorwiegend zerfallene, gequollene und verfettete Rundzellen, ist
aber frei von elastischen Fasern und natürlich auch von Tuberkelbacillen.
Der Lungenabscess kann zur Verwechselung mit Lungertuberculosis
führen, weil die Zerstörung des Lungengewebes zu Hohlräumen führt, welche
selbst einen ganzen Lungenlappen einnehmen können und weil der Abscessus
pulmonum am häufigsten in den oberen Lungenlappen vorkommt; remittirendes
oder hektisches Fieber, Schweiss und Frostgefühl, rasche Abmagerung, Durch-
brüche in die Pleurahöhle legen die Möglichkeit der Verwechselung noch
näher. Es kann aber kein Zweifel aufkommen, wenn man den Auswurf unter-
sucht. Das Sputum des Lungenabscesses nämlich ist vorwiegend eitrig und
enthält fast stets Lungenfetzen, welche schon makroskopisch als gelbliche oder
gelblich-graue Flecken und Stückchen erkennbar sind. Mikroskopisch
findet man das elastische Fasergerüst der Alveolen in diesen Parenchymfetzen,
ausserdem Eiterzellen, Alveolarepithelien, Fettkrystalle, Pigmentschollen, vor
allem aber als Charakteristicum reichliche Hämatoidinkrystalle in Form von
Tafeln oder Büscheln. Das Sputum^ der Lungenphthisis enthält für gewöhnlich
keine makroskopisch sichtbaren Parenchymstückchen und keine Hämatoidin-
krystalle.
Die Schrumpfungsvorgänge der tuberculösen Lungen bieten
unter Umständen die Möglichkeit einer Verwechselung mit Schrumpfungen
infolge von pleuritischen Processen dar. Es sitzen aber die pleuri-
tischen Schrumpfungen gewöhnlich auf den unteren Lappen, die Thoraxretrac-
51*
804 TUBERCULOSIS PULMONUM.
tionen sind viel deutlicher, die ganze Brustwand folgt der narbigen Schrum-
pfung der Pleura; in solcher Ausdehnung kommen Schrumpfungen bei Lungen-
tuberculosis im Allgemeinen nicht vor, sie unterscheiden sich auch rück-
sichtlich der Anamnese und des Verlaufes, indem die pleuritische Schrumpfung
der Lunge an sich nicht mit Fieber verläuft und die Ernährung nicht er-
heblich schädigt. Das Athemgeräusch der tuberculösen Schrumpfung ist
meistens laut bronchial und häufig von reichlichen Easselgeräuschen be-
gleitet, während die pleuritischen Schrumpfungen mit dicken pleuritischen
Schwarten verbunden und deshalb das Athemgeräusch und der Stimm-
fremitus erheblich abgeschwächt sind.
Der Pneumothorax ist in vielen Punkten der Lungencaverne sehr
ähnlich, so dass man einen Irrthum für möglich halten muss. Zwar ist es weniger
der freie totale Pneumothorax, als die cir cum Scripte oder abgesackte
Form. Wenn die ganze Brusthöhle mit Luft angefüllt ist, sodass die Lunge
vollständig comprimirt der Wirbelsäule anliegt, so schützt die starke Auf treib ung
der Brusthälfte, die Hervorwölbung der Intercostalräume, der Stillstand der
betroffenen Seite bei der Athmung, der laute, über die normalen Grenzen
herausgehende, tiefe, tympanitische, oft auch wegen der Spannung der Brust-
wand nicht tympanitische Perkussionsschall, die hochgradige Verdrängung der
Nachbarorgane, das Fehlen des Athemgeräusch es, welche Symptome dem totalen
Pneumothorax zukommen, vor einer Verwechselung. Viel schwieriger ist die
Unterscheidung zwischen einer grossen Caverne und einem circumscripten
Pneumothorax; über der Lungenhöhle sind, im Gegensatz zu dem Pneumotho-
rax, die Intercostalräume und die Brustwand eingesunken und der Stimmfremi-
tus verstärkt; für den Pneumothorax, welcher gewöhnlich plötzlich und markant
einsetzt, sprechen deutliche Succussionsgeräusche, welche bei der Lungen=
höhle nur ausnahmsweise vorkommen.
Wenn grosse Lungencavernen dem Herzen naheliegen, so können die
Herztöne durch Resonanz in der Höhle metallischen Klang annehmen, so dass
man an das klinische Bild des Pneumopericardium erinnert wird; die
Aehnlichkeit wird noch grösser, wenn in der Lungencaverne so viel flüssiges
Secret angesammelt ist, dass durch die Herzbewegung die Flüssigkeit er-
schüttert wird und auf diese Weise metallische Plätschergeräusche entstehen,
welche den eigenthümlichen, plätschernden Geräuschen durchaus gleich sind,
wie wir sie durch die Bewegung des Herzens bei Pneumopericardium in
Gegenwart von Flüssigkeit im Herzbeutel entstehen hören. Die Unter-
scheidung zwischen Lungenhöhle und Luftansammlung in
dem P er i Card ist aber im ganzen sehr leicht, weil bei reinem Pneumoperi-
cardium die Herzdämpfung vollständig verschwunden ist und an ihre Stelle
lauter tympanitischer oder metallischer Perkussionsschall tritt, während bei
gleichzeitiger Secretan Sammlung in der Pericardhöhle der Schall Wechsel in
der Herzgegend bei verschiedenen Körperlagen bezeichnend ist.
Da die Auscultation vor allem die kleinsten Veränderungen
der Lungenspitze zu beachten hat, so muss man sich erinnern, dass bei
sehr vielen durchaus gesunden Personen die Exspiration in der Fossa supra-
spinata und supraclavicularis dextra unbestimmt und selbst bronchial sein kann
und man infolgedessen, wenn die Perkussion normalen Schall ergibt, und keine
Nebengeräusche sich der Athmung zugesellen, nicht sofort auf eine Erkrankung der
Lungenspitzen schliessen darf. Auch aus dem saccadirten Athmen
allein kann man nicht ohne Weiteres eine Störung des Lungenparenchyms
folgern, es gibt zweifellos nicht nur ein pathologisches, sondern auch ein nor-
males, physiologisches saccadirtes Athmen, welches allerdings auf demselben
Vorgange beruht, dass die Lungenläppchen nicht gleichzeitig mit Luft gefüllt
werden, aber die Ursache liegt entweder darin, dass die Inspirationsmuskeln
sich nicht gleichmässig und stetig contrahiren, wie man dieses schon bei
TUBERCULOSIS PULMONUM. 805
starker psychischer Erregung selien kann, oder dass die Inspirations-
muskeln eine gewisse Schwäche haben, was allerdings sehr häufig bei der
Tuberculosis pubnonum zutrifl't; infolge dessen man bei sehr langsamer
und mangelhafter Einathmung das saccadirte Athmen oft in grosser Aus-
dehnung. Bei rascher und tiefer Inspiration verschwindet es aber sofort.
Das pathologische, abgesetzte Athmen beruht auf wirklicher Erkrankung der
Lungen, es kann nach mehrmaliger tiefer Inspiration verschwinden, kehrt
aber wieder zurück und wird stets aufs neue beobachtet. Auch den Symptomen
der initialen Phthisis, wie verschärftes Vesiculärathmen, verlängertes, rauhes
Exspirationsgeräusch, unbestimmtes Athmungsgeräusch, spärliche, feuchte oder
trockene Rasselgeräusche auf einer oder auf beiden Lungenspitzen kommt nur
dann ihr hoher diagnostischer Werth zu, wenn man sie bei wiederholten
Untersuchungen stets hört: gerade auf die dauernde Anwesen-
heit, auf das constante Erscheinen ist die Betonung zu legen.
Neben den Tuberkelbacillen im Sputum sind die elastischen Fasern
von besonderem diagnostischem Werthe, weil sie stets beweisen, dass Zerfall
von Lungengewebe stattfindet; wir haben sehr häufig in jedem Präparate
elastische Fasern gefunden, welche in ihrer Anordnung deutlich an den Quer-
schnitt durch die Lungenalveolen erinnern, während es langer Zeit und vieler
Dutzenden von Präparaten bedurfte, ehe es gelang, einzelne Tuberkelbacillen
aufzufinden. Elastische Fasern finden sich, abgesehen von der Lungentuber-
culosis, nur noch bei der Lungengangrän und dem Lungenabscess; Verwechse-
lungen mit dem Sputum dieser Krankheit sind nicht gut möglich, weil die
Dreischichtigkeit, die mycotischen Pröpfe, der penetrante Geruch des Gangrän-
sputum, die makroscopisch sichtbaren Lungenfetzen und der eitrige, anHämatoidin-
krystallen reiche Auswurf des Lungenabscesses laut für sich sprechen. Ge-
legentlich habe ich auch elastische Fasern im Sputum der croupösen Pneu-
monie gefunden; auch hier sind Verwechslungen nicht möglich.
Den A Iveolarepithelien im Auswurfe der Schwindsüchtigen kommt die Bedeu-
tung zu, dass in den Alveolen ein lebhafter Abstossungsprocess von Epithelien stattfindet, voraus-
gesetzt, dass diese epithelialen Gebilde wirklich aus den Lungenalveolen stammen, was
auch heute noch von manchen guten Autoren (Bizzozero) geleugnet wird, jedoch verdienen
sie nicht jenes hohe Ansehen, welches Buhl ihnen zuschreibt, indem er sie für die von
ihm aufgestellte desquamative Pneumonie der Lungentuberculosis charakteristisch hält. Nach
meinen zahlreichen Untersuchungen trifft man die Alveolarepithelien mit ihren Myelin-
tröpfchen ganz besonders bei ganz frischen, käsigen Infiltrationen der Lunge an, aber
auch bei chronischem Bronchialkatarrh, Emphysema pulmonum, Pneumonien und bei der
schleichenden, sehr chronischen Lungenschwindsucht sahen wir dieselben so häufig
und in solch grossen Mengen, dass man ihre diagnostische Bedeutung nicht zu hoch an-
schlagen darf.
Die Schmerzempfindungen auf der Brust lassen sich nur in be-
schränkter Weise für die Diagnosis auf Lungentuberculosis verwerthen; viele
Phthisiker haben überhaupt keine Schmerzen, andere haben erträgliche
Schmerzen in der Schlüsselbein- und Schulterblattgegend oder zwischen den
Schulterblättern. Bezeichnend ist der plötzliche, ausserordentlich heftige
Schmerz, welcher in grosser Ausdehnung eine Brusthälfte befällt und den
Patienten am Athmen verhindert, weil er den Eintritt eines Pneumothorax
anzeigt; die Ursache eines Pneumothorax ist aber fast stets die Lungentuber-
culosis, welche nach dem Brustraume perforirt ist. Bisweilen ist der plötzliche
Eintritt des pneumothoracischen Schmerzes die erste Veranlassung, weshalb
der Kranke zur Untersuchung kommt. Bei einer schon deutlichen Tuber-
culosis pulmonum darf man auftretende circumscripte Schmerzen sowohl im
Bereiche der localen Erkrankung, als auch fern ab von dem Heerde für die
Symptome einer umschriebenen Pleuritis ansehen, auch wenn die Auscultation
nicht immer Reibegeräusche nachweisen lässt. Verwechselungen pleuritischer
Schmerzen mit rheumatischen Schmerzempfindungen oder mit Intercostal-
neuralgien lassen sich vermeiden, wenn man nachweisen kann, dass durch
806 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Druck in die Zwischenrippenräume, welcher die Pleura triöt und die ent-
zündeten Pleurablätter einander nähert, der Schmerz verstärkt wird, während
bei der rheumatischen Schmerzempfindung, der Pleurodynia, der Druck auf
die Rippen als feste Unterlage den Schmerz der Muskelmasse steigert; die
Intercostalneuralgie betrifft meistens mehrere übereinander gelegte Intercostal-
nerven, sie tritt häufig anfallsweise auf und besitzt in der Regel mehrere
Schmerzpunkte, nämlich dicht neben der Wirbelsäule, entsprechend den Aus-
trittsstellen aus den Intervertebrallöchern, einen besonders schmerzenden
Druckpunkt, den Vertebr alpunkt, einen ebensolchen Druckpunkt in der
Seitengegend des Thorax, Lateralpunkt, wo der Nervus perforans lateralis
sich in die seitliche Brustgegend ausbreitet und einen dritten Schmerzpunkt
dicht neben dem Sternumrande, den Sternalpunkt, oder am Bauche auf dem
Musculus rectus abdominis, wo der Nervus perforans anterior zum Vorschein
kommt. Tiefe Athemzüge, Husten und Niessen steigern alle drei Schmerz-
arten, welche auch nebeneinander bestehen können. Bei heftigen Intercostal-
neuralgien der Phthisiker liegt bisweilen eine für die Untersuchung noch
latente Wirbeltuberculosis als ursächliches Moment vor.
VI. Prognosis.
Die P r 0 g n 0 s i s der Lungentuberculosis ist im Allgemeinen eine
ernste und ungünstige, aber sie ist doch viel weniger ungünstig,
als man im Allgemeinen glaubte und auch heute noch glaubt^
indem nach unserer Erfahrung viel mehr Heilungen vorkommen
als gewöhnlich angeführt wird. Sicher sind die tuberculösen Processe
in der Lunge an sich heilbar und zwar vollkommen heilbar; die
so häufigen Sectionsbefunde, Narben mit und ohne Umschliessung von Cavernen
und kalkigen Concretionen, beweisen die Möglichkeit der Heilung von Lungen-
schwindsucht; Leute mit grossen Cavernen und Verdichtungen in einem und
selbst in zwei Lungenlappen können vollständig den Eindruck von Gesunden
machen und unbehindert ihrem selbst schweren Berufe für lange, lange Jahre
nachgehen. Infolge dessen kann man die Prognosis der Lungenschwindsucht
nicht als eine durchaus ungünstige bezeichnen, aber man muss sie immerhin
als eine sehr ernste ansehen.
Die Voraussage der Lungenschwindsucht ist von den verschiedensten
Umständen abhängig; im Allgemeinen betrachtet, ist die Prognosis umso
ungünstiger, je rascher die Infiltration, Verkäsung und der Zerfall des
Lungengewebes fortschreitet; sie ist umso günstiger, je langsamer
und chronischer der Verlauf sich äussert. Man muss jedoch auch
in den letzten Fällen, in welchen also eine relativ gute Prognosis vorliegt,
die Voraussage als eine dubia bezeichnen, weil stets eine neue specifische
Entzündung die Ruhe unterbrechen kann und man nicht im voraus weiss, wie
der frische Nachschub verlaufen und welche Veränderungen er setzen wird.
Die einzelnen Stadien der Lungentuberculosis sind mit Bezug
auf die Prognosis weit von einander unterschieden. Die Phthisis in-
cipiens, solange noch keine nachweisbare Infiltration vorhanden ist, gibt
nach unserer Erfahrung eine relativ gute Prognosis; wir halten die
Voraussage gar nicht für durchaus schlecht, sondern glauben, dass ein grosser, sogar
ein sehr grosser Theil beginnender Lungenschwindsucht abheilt, sofern e&
sich um Leute handelt, welche nicht durch Körperbau und erbliche Belastung
für die Tuberculosis besonders disponirt sind. Bei der Phthisis confir-
mata ist die Prognosis schon um vieles schlechter; die grosse
Mehrzahl solcher Patienten geht dem Tode sicher entgegen; jedoch auch in
diesem Stadium sind Heilungen möglich und zu beobachten, Besserungen und
jahrelange Stillstände bilden alltägliche Erfahrungen und zwar oft in über-
raschender Weise. Die Phthisis consummata liefert durchaus;
TUBERCULOSIS PULMONUM. 807
schlechte Aussichten, die Hoffnung auf Wiedergenesung ist gänzlich
ausgeschlossen, und selbst Besserungen von längerer Dauer kommen nur
selten vor. Die bestimmte Prognosis in Bezug auf den zeitlichen Verlauf
ist stets mit grosser Vorsicht zu stellen, da man nicht allzu selten schwer
erkrankte Phthisiker antrifft, welche so elend sind, dass man ihnen keine
mehrwöchentliche Lebenszeit zuschreiben zu dürfen glaubt, und doch können
die Krankheitssymptome wieder nachlassen, das Fieber ganz schwinden oder
nur ein niedriges Maximum erreichen, die Kranken sich erholen und für
Wochen und Monate dem Tode fern bleiben. Umgekehrt findet man, dass
Patienten mit nur geringer Infiltration und gutem Wohlbefinden die besten
Hoffnungen durch die rasche Entwickelung einer Phthisis florida zu Schanden
machen.
Im Einzelnen wird die Prognosis durch eine grosse Anzahl ver-
schiedener Momente bestimmt.
Die Prognosis wird verschlechtert durch hereditäre Belastung,
durch mangelhaften, paralytischen Thoraxbau und durch allgemeine Körper-
schwäche, Vorhergehende Erkrankungen, wie Masern und Typhus, das Puer-
perium trüben die Aussichten einer beginnenden Lungenschwindsucht erheblich.
Das Lebensalter ist von grossem Einflüsse, indem jugendliche
Personen bis etwa zum 30. Lebensjahre hin eine grosse Neigung haben, an
der acuten Form der Tuberculosis, welche rasch verläuft und weniger Tendenz
zur Besserung oder Abheilung besitzt, zu erkranken, während, wenn Leute
in reiferem Alter, jenseits der SOiger Jahre von der Lungentuberculosis be-
fallen werden, dieselben vorwiegend von der chronischen, an interstitiellen
Wucherungen reichen Schwindsuchtsform betroffen sind. Kein Alter
schützt jedoch vor der Auszehrung. Auch die äusseren Ver-
hältnisse spielen eine grosse Rolle; arme Leute, welche in schlechten
Wohnungen leben, für ihr tägliches Brod trotz der Erkrankung arbeiten
müssen und nur mangelhafte Nahrung gemessen, geben eine unendlich
schlechtere Prognosis als Patienten, welche in guten pecuniären Verhältnissen
sich befinden, für ihre Gesundheit alles aufbieten, sich den Unbilden des
Winters entziehen und sorgenfrei bei guter Luft und Ernährung der Heilung
entgegengehen können.
Bei der Stellung der Prognosis kommt besonders das Verhalten des
Körpergewichtes in Betracht. Rasch fortschreitender Gewichtsverlust ist
stets von übler Vorbedeutung, auch dann, wenn die locale Erkrankung nicht
besonders gross ist und das Fieber keine hohen Grade erreicht. Wenn
anderseits trotz ausgesprochener Verdichtung das Körpergewicht stationär
bleibt oder sich hebt, so sieht die Voraussage um vieles günstiger aus. Zum
Theil ist das Verhalten des Körpergewichtes von den Fieberbewegungen ab-
hängig und deshalb kommt dem Fieber die nämliche prognostische Be-
deutung bei der Lungenschwindsucht zu. Hört das Fieber gänzlich auf, so
wird die Prognosis günstiger; anhaltend hohe Temperaturen, die hohe Continua
mit geringen Remissionen, hohe Abendtemperaturen mit morgendlichen Inter-
missionen und starken Schweiss'ausbrüchen bis zu der normalen Tem-
peratur oder unter dieselbe, geben die schlechteste Voraussage, welche schon
besser wird, wenn die Temperaturmaxima sich nur wenig über die normale
Grenze erheben.
Ein gesundes, kräftiges Herz lässt für den Verlauf der Lungen-
schwindsucht Günstigeres hoffen, als ein schwaches Herz, welches selbst im
Zustande der Ruhe und der Fieberlosigkeit eine anhaltend hohe Puls-
frequenz bedingt. Kleine, stets frequente Pulse sind daher immer
prognostisch ungünstiger, als die ruhige, volle Pulswelle.
Die einzelnen Symptome der Lungenschwindsucht wirken bald
mehr, bald weniger bestimmend auf die Prognosis ein. Der Husten, welcher
808 TUBERCULOSIS PULMONUM.
durchaus nicht parallel zu der Ausbreitung und dem Stadium der Krankheit
steht, kann durch Erregung des Brechactes, durch Veranlassung einer Hämop-
toe, vor Allem aber durch die Störung der Nachtruhe erheblich zum Kräfte-
verfall beitragen. Kurz vor dem Tode hört oft der Husten infolge der all-
gemeinen Schwäche auf. Die Hämoptoe gewinnt nur dann einen Einfluss
auf die Prognosis, wenn sie sich häufig wiederholt, zumal bei Fieberbewegung,
weil dann rasch fortschreitender Zerlall die Ursache der Blutung abgibt. Tödt-
liche Blutungen sind im Ganzen selten, jedoch können rasch auf einander
folgende Hämoptoen die Körperkraft erheblich schädigen. Der Einfluss, welchen
das Sputum auf die Prognosis ausübt, besteht darin, dass im Allgemeinen
fortschreitende Tuberculosis mehr Auswurf producirt, als die chronische Phthisis;
mehr von Werth für die Voraussage ist die Beschaffenheit des Sputum; übel-
riechender, fauliger Auswurf ist von ungünstiger Bedeutung, blutig unter-
mischtes, eitriges Secret von dunkler Färbung geht häufig dem Tode wenige
Tage voraus.
Hauptsächlich aber sind es die Tuberkelbacillen*) und die elasti-
schen Fasern, durch welche das Sputum die Prognosis bestimmen
hilft. Die Zahl der im Sputum aufgefundenen Tuberkelbacillen geht
mit dem fortschreitenden Zerfall in den Lungen Hand in Hand; man muss
aber hiebei das Allgemeinbefinden des Patienten berücksichtigen, indem in
dem Sputum sehr viele Tuberkelbacillen sein können, trotzdem der Patient
sich wohl befindet und fieberfrei ist, offenbar deshalb, weil der Auswurf aus
Cavernen stammt und in den Cavernen selbst die Tuberkelbacillen einen gün-
stigen Nährboden durch den Caverneneiter finden; in anderen Fällen treten
im Auswurf nur wenige Tuberkelbacillen zu Tage, trotzdem die Infiltration
und Erweichung rasch voranschreitet, weil die erweichten Heerde noch nicht
in die Bronchien durchbrechen und in sie hinein ihren Inhalt nicht entleeren
können. Nimmt im Auswurf die Zahl der Tuberkelbacillen ab, so gestaltet
sich die Prognosis günstiger, am besten wird sie, wenn überhaupt die Tu-
berkelbacillen gänzlich und da u er ad aus dem Auswurf verschwinden. Die
elastischen Fasern haben die nämliche Bedeutung, welche der Zahl der
Tuberkelbacillen zukommt. Je grösser die Menge der elastischen Fasern ist,
um so lebhafter ist der Zerfall des Lungengewebes; werden die elastischen
Fasern spärlich oder verschwinden dauernd gänzlich, so wird die Prognosis
um Vieles besser, aber nicht ohne weiteres darf man auf langsamen oder
fehlenden Zerfall des Lungengewebes schliessen, sondern man muss be-
rücksichtigen, dass bei den elastischen Fasern, ebenso wie bei den Tuberkel-
bacillen, Tagesschwankungen in der Menge vorkommen und vor Allem,
dass die tuberculöse Zerstörung in der Lunge eine solch vollständige sein kann,
dass auch die im Allgemeinen sehr widerstandsfähigen elastischen Fasern
zum grössten Theil bis zum Detritus aufgelöst werden. Die Beobachtung des
Allgemeinbefindens und der Fieberbewegung schützt vor zu schnellen Schlüssen
auf die Heilungsaussichten.
Der Pneumothorax gestaltet eine bis dahin selbst günstige Prognosis
zu einer sehr schlechten, weil er nur zuweilen abheilt, in den meisten Fällen
aber entweder schon in einigen Stunden oder Tagen tödtet oder durch die
eitrige Entzündung der Pleurahöhle nach wenigen Wochen den tödtlichen
Ausgang bedingt.
Die Complicationen der Lungenschwindsucht sind für die Voraus-
sage fast stets ungünstig. Das Auftreten von tuberculösen Ulcerationen
im Larynx trübt den Verlauf der Phthisis, auch die Aussichten der sehr
chronischen Tuberculosis pulmonum, weil nur ausnahmsweise die ulceröse
Larynxtuberculosis abheilt oder sich lange hinzieht, sondern meistens um sich
*) Vergl. Fig. 1 u. 2 auf der Farbentafel pag. 704 ds. Bds.
TUBERCULOSIS PULMONUM. 809
greift, zu Schluckbeschwerden und Verschlucken mit den erwähnten Folge-
zuständen für die allgemeine Ernährung führt, und weil mit der Entwickelung
der Kehlkopfschwindsucht auch die locale Erkrankung der Lungen fortzu-
schreiten pflegt.
Die Pleuritis exsudativa bringt für den Lungenschwindsüchtigen
schlimme Gefahren, weil der tuberculöse Charakter solcher Brustfellentzün-
dungen nur ausnahmsweise eine erhebliche Eesorption des Ergusses zulässt,
vielmehr ungemein oft eine Verschlimmerung der Lungenkrankheit im Ge-
folge hat; selbst bei geringer localer Erkrankung der Lunge ist die Pleuritis
exsudativa tuberculosa von ungünstiger Vorbedeutung. Die umschriebene
Pleuritis sicca ist für die Prognosis der Schwindsucht nur von geringer
Bedeutung.
Was für die secundäre Pleuritis exsudativa gilt, das bezieht sich auch
auf die secundäre Peritonitis, welche kaum eine Besserung, geschweige
denn eine Heilung erwarten lässt.
Die Meningitis stellt den letalen Ausgang in sichere Aussicht, nicht
minder die Pericarditis tuberculosa und das Pyopneumocardium.
Von grossem Einfluss auf die Voraussage ist der Zustand des Ver-
dauung sapparat es. Ein guter Appetit und eine regelmässige Verdauung
bilden in der Phthisis incipiens eine der Grundlagen für eine Prognosis bona,
bei der Phthisis confirmata verzögert der gute Zustand des Verdauungsappa-
rates den Kräfteverfall und bedingt dadurch eine relativ bessere Prognosis,
selbst bei der Phthisis consuramata hält ein kräftiger Appetit den raschen
Verlauf der Krankheit auf. Ruht bei der beginnenden Lungenschwindsucht
der Appetit gänzlich, bewirkt die Nahrungsaufnahme Brechneigung, Aufstossen
und Unbequemlichkeiten, folgen Magenkatarrhe rasch aufeinander, ist eine
grosse Neigung zu Durchfällen vorhanden, so sind die Aussichten für einen
günstigen Verlauf der Lungenschwindsucht sehr getrübt, auch wenn keine
Fieberbewegungen die Erkrankung begleiten. Mit dem Nachweis der T u b e r-
€ulosis des Darmes ist zugleich die letale Prognosis bewiesen.
Die Tuberculosis der Blase, die Amyloiderkrankung der
Nieren, der Milz und der Leber sind für die Lungenschwindsucht gleich-
bedeutend mit dem sicheren Tode; sieht man auch mit der Speckentartung
der Abdominalorgane bisweilen die Symptome der Lungenschwindsucht zurück-
treten, vor Allem den Husten nachlassen, so bedingen die meist vermehrten
Durchfälle infolge der Darmulcerationen oder des Darmamyloides, der rasche
Kräfteverfall, die Anämie, der Eiweissverlust und der Hydrops den Tod ebenso
sicher und oft noch rascher, als es die Lungenschwindsucht allein thut.
Viel umstritten ist der Einfluss der Ehe auf die Prognosis; nach un-
serer Erfahrung ist das Eheleben prognostisch schlecht für die Frau,
weil Schwangerschaften und Wochenbette für die Entwickelung und die Ausbrei-
tung des phthisischen Heerdes ungünstig einwirken; auch für den Mann ist
sehr häufig die Ehe von ungünstiger Vorbedeutung, weil man öfters bald nach
der Verheiratung den phthisischen Process rasch sich ausbreiten sieht. Ex-
cessive Befriedigung des Geschlechtstriebes, vermehrte Sorgen, grösserer Arbeits-
zwang zur Ernährung der Familie, die häufig schlechtere Nahrung spielen hier-
bei ihre Rolle; aber auch bei gut situirten und vernünftigen phthisischen Per-
sonen nimmt nach der Verheirathung die bis dahin schleichende, chronische
Form öfters einen rapiden Charakter an. In vielen Fällen haben wir aber
gerade durch die Verheirathung die Umwandlung einer Prognosis mala resp.
dubia in eine bessere und selbst gute gesehen, wenn die Patienten durch die
Verheirathung in bessere Verhältnisse kamen und zu einem soliden Lebens-
lauf gezwungen wurden.
810 TUBERCULOSIS PULMONUM.
VIT. Therapie.
Da die AnsteckuDgsfähigkeit der Tuberculosis mit zweifelloser Sicher-
heit bewiesen ist, so ist, wie bei jeder anderen Infectionskrankheit, der vor-
nehmste Theil der Behandlung die Prophylaxis.
Die Prophylaxis hat zwei Aufgaben zu erfüllen: die eine Pflicht
besteht darin, die Ausbreitung der Tuberculosis zu verhindern
und die Tuberkelbacillen zu vernichten, die andere Aufgabe er-
heischt, den Einzelnen, vor allem den zur Tuberculosis Dis-
ponirten, vor wirksamer Ansteckung mit Tuberkelgift zu
schützen. Diese allgemeine und individuelle Prophylaxis erfordert
eine Pv,eihe von Maassregeln, welche die öffentliche und private Gesundheits-
pflege umfassen.
Die allgemeine Prophylaxis muss leider von vorneherein zugeben,
dass sie nicht in der Lage ist, alle diejenigen Quellen zu verstopfen, aus
welchen das tuberculöse Gift fliesst, aber sie vernichtet doch zahllose ein-
zelne Heerde, aus denen die Gefahren der Ausbreitung sich erheben; ganz
zerstören kann sie das Tuberkelgift nicht, ebensowenig, wie wir im Stande
sind, das einzelne Individuum dauernd und absolut vor der tuberculösen In-
fection zu schützen.
Das Tuberkelgift gelangt vorwiegend durch das Sputum des tuber-
culösem Menschen zur Verbreitung. Der Lungenschwindsüchtige
ist eine dauernde Gefahr für seine Umgebung, hauptsächlich
durch den Auswurf. Infolge dessen muss das Sputum unschädlich gemacht
werden; die Gefahr der Ansteckung mit tuberculösem Auswurf wächst, wenn
das Sputum eintrocknet und sich der Luft mittheilt.
Alle Schwindsüchtigen müssen sich daran gewöhnen, ihren Auswurf in Spucknäpfe
auszuspeien. Vor dem Ausspucken auf den Boden oder in das Taschentuch ist dringend
zu warnen. Die Spuckgläser füllt man bis zu einem Drittel ihrer Höhe mit reinem Alkohol,
5°la-iger Carholsäurelösung oder mit Sublimat 1 0:500; in dieser Lösung muss das Sputum
24 Stunden bleiben, ehe die Tuberkelbacillen ihre Lebensfähigkeit verloren haben; man
kann auch starke Mineralsäuren benutzen, um die Gefährlichkeit des Auswurfes zu besei-
tigen. Derselben Indication genügt Lysol in starker Lösung. Die Spuckgläser sind am
besten mit einem Deckel versehen, damit ein Verspritzen beim Hineinspucken und ein Ver-
schütten des Inhalts verhindert wird. Am sichersten vernichtet die Tuberkelbacillen im
Sputum die Hitze und das Feuer. Aus diesem Grunde werden zur Füllung des Spuck-
napfes auch leicht brennbare Stoffe, wie Sägespähne verwandt, weil man in leichter Weise
mit ihnen den Auswurf verbrennen kann. Auch den desinficirten, flüssigen Inhalt des
Spucknapfes soll man nicht beliebig ausschütten; kann man ihn nicht gänzlich durch
Feuer vernichten, so soll man ihn in der Erde vergraben oder unter reichlicher Wasser-
spülung den Abflusscanälen übergeben, keinesfalls ihn aber auf die offenen Düngerhaufen
schütten, wo die Hausthiere sich mit ihm anstecken können. Taschentücher, Bett- und
Leibwäsche, Essgeschirre müssen durch gründliches Auskochen von den anhaftenden
Keimen befreit werden, auch wenn der Patient die grösste Sorgfalt auf sich selbst verlegt
und jede Verunreinigung mit Sputummaterial zu vermeiden strebt. Der Bart sei kurz
geschnitten, am besten überhaupt gänzlich entfernt. Die Fussböden, die festen Gegen-
stände und die Wände des Zimmers, in welchen sich der Schwindsüchtige aufhält, sollen
sehr häufig feucht abgewaschen und die Tapeten mit Brod abgetupft werden; sicherer ist
es, die Tapeten zu entfernen und die Wände mit Oelfarbe zu streichen; und weil trotz
aller Vorsicht es sich doch nicht vermeiden lässt, dass Sputumtheilchen eintrocknen und
in der Luft suspendirt, sich überall niederschlagen, um bei günstiger Gelegenheit wieder
aufzuleben, so entfernt man am besten aus solchen Krankenzimmern alle faltenreichen
Vorhänge und Teppiche, welche man doch nicht häufig genug und ausgiebig desinficiren
kann.
Man muss sich stets erinnern, dass die" Lebensdauer des Tuberkelgiftes auch in aus-
getrocknetem Sputum eine unendlich lange ist; noch nach 205 Tagenhabe ich künst-
lich getrocknetes Sputum experim enteil infectionsfähig gefunden. Solche
Maassregeln, so dringend sie auch sind, lassen sich in der Praxis nicht stets durchführen,
am besten gelingt es, diesen Forderungen in den Krankenhäusern und Anstalten gerecht
zu werden. Kann der Kranke ausgehen, so soll er ein kleines Gefäss zum Ausspucken
bei sich führen; sehr brauchbar ist die Taschenflasche für Hustende, welche Dettweiler
eingeführt hat. Wir halten es für dringend unerlässlich, den tuberculösen Patienten selbst
und seine Umgebung darüber aufzuklären, dass sein Auswurf ansteckend ist und das&
TUBERCULOSIS PULMONUM. 811
seine Gefährlichkeit vernichtet werden muss. Da aber die meisten Lungenschwindsüch-
tigen herumgehen und auch sehr vielen das Verständnis für eine solche wichtige Sache
fehlt, so werden sich immer noch allzu viele Tuberculöse finden, welche überallhin
ihre Sputa entleeren und jeden Rath illusorisch machen ; die Spucknäpfe in der Tasche zu
tragen, finden leider nur wenige Anhänger, und man sieht selbst hochgebildete
Patienten ihren Auswurf auf die Strasse, auf den Boden, in der Kirche und im
Wirthshause oder im Theater und in das Taschentuch entleeren. Die Gefahren,
welche das leinene und seidene Taschentuch für die Ausbreitung der Lungenschwindsucht
in sich bergen, zu vermeiden, hat man Taschentücher aus Papier, Gaze und Mull eingeführt,
welche sehr billig sind, so dass auch der weniger Bemittelte ohne grossen Schaden für
seinen Geldbeutel im Stande wäre, ein solches Taschentiich mit seinem schlimmen Inhalt
dem Feuer zu übergeben. Oeffentliche Transportmittel, wie Droschken, Pferdebahnwagen^
Eisenbahncoupees sollen gründlich desinficirt werden, alltäglich müssen die Böden derselben
feucht aufgewaschen werden, und das Polsterwerk sollte einen abnehmbaren Ueberzug
haben, welcher gewaschen und desinficirt werden kann, oder man führe nur Lederpolster
zum Gebrauche ein. Auch öffentliche Locale, wie Versammlungs- und Concertsäle, Schlaf-
säle, Kirchen, ferner Kasernen und Schulen, sollten zweckmässig in der "Weise desinficirt
werden, dass man die Fussböden alltäglich mit S'/oiger Seifenlösung gründlich reinigt; die
Wirkung wird erhöht, wenn man zum Seifenwasser ö'Voige reine Karbolsäurelösung hinzufügt.
Wie das Sputum der Tuberculosen, so muss auch die Darmentlee-
rung genau des Giftstolfes entbunden werden; auch hier am sichersten durch
Verbrennen oder durch die Anwendung der Desinfitientien; zweckmässig ist
ferner der Zusatz von Kalkmilch, welche man sich in der Weise herstellt,
dass man 1 Kilo ungelöschten Kalk in 4 Liter Wasser auflöst und von dieser
Lösung zu der Stuhlentleerung ein gleich grosses Volumen fügt und die
Masse innig durch Umrühren vermischt.
Der Urin des Schwindsüchtigen gibt nur dann zur genauen Desinfection
Anlass, wenn Tuberculosis der Harnwege vorliegt; die Gefahr der Ausbreitung
der Tuberculosis durch den Harn ist nicht so gross, jedoch ist die Möglich-
keit nicht ausgeschlossen, dass beim Urinlassen Harn auf den Boden, die
Leibwäsche oder in das Bett verspritzt wird, dort eintrocknet und allgemein
gefährlich wird. Der Urin selbst wird am besten durch Zusatz von Sublimat
(l'O : 500-0) oder durch Carbollösung (ö^/o); in gleicher Menge dem Harn
zugesetzt, desinficirt.
Verbandzeug, vollgesaugt mit dem Eiter der Drüsen, der Haut- und
Knochentuberculosis, soll verbrannt werden.
Nächst dem Sputum und den Excrementen des Schwindsüchtigen sind
es Nahrungsmittel, w^elche die Schwindsuchtskeime verbreiten.
Obenan steht hier die Kuhmilch, weil das Rindvieh ungemein oft an Tuber-
culosis erkrankt und die Milch zu den unentbehrlichsten Nahrungsmitteln ge-
hört. Liegt der Verdacht auf Tuberculosis oder Perlsucht der Kuh vor, so
muss die kranke Kuh sofort aus der Milchwirthschaft entfernt werden, weil
sie die anderen Kühe ansteckt; die Milch perlsüchtiger Kühe soll unter keinen
Umständen genossen werden, sie muss vernichtet werden, selbst wenn das
Euter vollkommen gesund erscheint. Die Milch von Kühen, welche für durch-
aus gesund gehalten werden müssen, soll am besten nicht ungekocht ge-
nossen werden, da die Perlsucht der Kühe erst in späten Stadien und oft erst nach
dem Schlachten erkannt wird. Das Aufkochen der Milch muss in einem
wirklichen Sieden derselben bestehen, im Allgemeinen genügen 10 Minuten.
Rohe, ungekochte Milch ist am besten gänzlich zu meiden.
Die Ziegenmilch spielt eine geringe Rolle in der Milchfrage, weil
sie nur verhältnismässig wenig genossen wird und weil Ziegen nur selten
tuberculös erkranken; liegt der Verdacht auf Tuberculosis vor, so verfährt
man mit der Ziegenmilch gerade wie mit der Kuhmilch.
Das Fleisch perlsüchtigen Rindviehes bietet für die Verbreitung
der Tuberculosis eine grosse Gefahr; die Lungen perlsüchtiger Rinder, die Rippen-
stücke mit den Brustfellüberzügen, sowie die mit tuberculösen Heerden durch-
setzten sonstigen Fleischstücke werden dem Gebrauche durch Vernichtung
entzogen; diejenigen Fleischstücke, welche den Perlknoten fern liegen und
812 TUBERCULOSIS PULMONUM.
bei der thierärztlichen Untersucliung gesund erscheinen, können jedoch
trotzdem noch bacillenhaltig sein, und wenn man überhaupt solches
anscheinend gesunde Fleisch von perlsüchtigen Rindern gemessen lässt, so
muss es ordentlich durchgebraten und durchgekocht sein, es darf nie roh
gegessen werden. Auf den sogenannten Freibanken der Schlachthöfe und
Fleischhallen soll es nur in gehörig gekochtem Zustande verkauft
werden. Die kleinen, an Tuberculosis leidenden Thiere, wie Hühner
und Kaninchen, sollen, im Falle sie tuberculös sind, sofort getödtet und
vernichtet werden, niemals aber zur menschlichen Nahrung benutzt werden.
An Lungenschwindsucht oder Hauttuberculosis (Lupus),
eiternden Knochen- und Drtisenfisteln leidenden Personen sollte der
Verkauf von Lebensmitteln und die Anfertigung von Lebens-
und Genussmitteln (Cigarren z. B.), wie von Kleidungsstücken
verboten sein.
Was die individuelle Prophylaxis anlangt, so erfordert die
Pflicht der Behandlung zunächst, dass der Einzelne die Gefahr der
unmittelbaren Ansteckung meide. Da die Ansteckung vorwiegend
durch den Verkehr mit tuberculösen Menschen vermittelt wird, so ist drin-
gend zu warnen, dass der Gesunde mit Schwindsüchtigen zusammenlebt. Die
Phthisiker sollen isolirt werden, man soll für sie besondere Sääle und Häuser
einrichten und aus ihrem unmittelbaren Verkehr die Gesunden fernhalten.
Der innige Familien- und Freundschafts verkehr mit Schwindsüch-
tigen ist zu vermeiden, der Kuss von Mund zu Mund kann zu Gift werden.
Das innige Zusammenleben, das Schlafen in einem Bette ist ein Punkt, wel-
cher vor dem Eingehen der Ehe mit einem Tuberculösen abräth; abgesehen
davon, dass die Nachkommen aus solcher Ehe zur Tuberculosis ungemein
disponirt sind, ist der kranke Ehegatte stets die infectiöse Gefahr für den
gesunden Theil und auch für die Kinder, welche weniger durch die here-
ditäre Disposition, als auch durch den innigen, engen Verkehr mit den tuber-
culösen Eltern schwindsüchtig werden. Wen der freiwillig gewählte
Beruf zwingt, sich viel in der Nähe der Schwindsüchtigen aufzuhalten, wie
den Arzt und den Krankenpfleger, der soll in der Krankenstube nichts essen
und trinken, und ehe er Nahrung zu sich nimmt, den Mund fleissig umspülen
und die Hände sorgfältig waschen und desinficiren. Sehr zweckmässig ist es
bei den Besuchen im Krankensaale, einen leinenen Rock zu tragen, welcher
alltäglich gewechselt und gewaschen werden kann, weil beim Husten, Niesen
oder Sprechen des Kranken kleine Sputumtheilchen sich der Ausathmungsluft
beigesellen, meistens unbemerkt den Rock des untersuchenden Arztes und
des Krankenwärters treffen und dort eintrocknen. Die Wohnung, in welcher
ein Schwindsüchtiger lebte oder starb, soll vor einer gründlichen Desinfection
der Wände und des Bodens mit Kalknjilch nicht wieder bezogen werden.
Da jeder Mensch an Lungenschwindsucht erkranken kann, so muss er
alles dasjenige meiden, was die allgemeine Körperkraft schädigt
oder was speciell die Lungen krank macht. Das erste Postulat wird
erreicht durch einen von Excessen in Venere und Baccho freien, soliden Lebens-
wandel, durch gute Ernährung, hinreichend langen Schlaf, grosse, gesunde,
trockene Wohnung und Vermeidung der Ueberarbeitung. Einzelne Gewerbe
schädigen speciell die Lungen und bauen dadurch der Lungentuberculosis
vor; vorwiegend sind dieses die gewerblichen Schädigungen, welche durch
Staub Inhalationen bedingt sind. Metallischer und mineralischer Staub, ani-
malischer und vegetabilischer Staub sind berüchtigte Vorposten der Lungen-
schwindsucht, welche infolgedessen bei Feilenhauern und bei Schleifern von
Eisen- und Stahlwaaren, bei Steinhauern, bei Verarbeitern von Thierhaaren
und Baumwolle eine reiche Ernte hält. Solche Gewerbe verlangen gebieterisch
grosse Arbeitsräume mit guter Ventilation und hinreichende Müsse, um in
TUBERCULOSIS PULMONUM. 813
frischer Luft die Lungen zu dehnen und zu lüften. In noch viel höherem
Maasse gelten alle Vorsichtsmaassregeln bei Leuten, welche von schwind-
süchtigen Eltern abstammen oder doch zur Phthisis besonders disponirt sind.
Als besonders zugänglich für eine tuberculöse Infection müssen wir auch die-
jenigen Kinder ansehen, welche von Eltern stammen, die durch hohes Alter,
durch erschöpfende Krankheiten oder elende Ernährung zur Zeit der Zeugung
resp. Gravidität sehr geschwächt waren.
Bei den mit einer Anlage zur Phthisis in dieser Weise disponirten
Kindern hat die Aufgabe des Arztes unmittelbar nach der Geburt
einzusetzen. Ist die Mutter gesund, kräftig und der Tuberculosis nicht
verdächtig, so kann sie das Geschäft des Säugens selbst übernehmen;
wenn aber die Mutter auch nur suspect mit Bezug auf Schwindsucht
ist, so darf sie unter keinen Umständen selbst nähren, denn
gerade wie die Kuhmilch, kann auch die Muttermilch Tuberkelpilze ent-
halten, auch ohne dass die Brustdrüse selbst erkrankt ist, es schwebt
aber auch der Säugling fortwährend in Gefahr, dass ihn die schwindsüchtige
Mutter inficirt, gerade durch die mütterliche, herzliche Zuneigung; deshalb
soll das neugeborene Kind von der schwindsüchtigen Mutter nicht nur nicht
genährt werden, sondern es soll ihr überhaupt fernbleiben. Wenn die äusseren
Verhältnisse es erlauben, so soll die Mutter durch eine Amme ersetzt werden,
welche nicht nur gesunde, hinreichende Frauenmilch secernirt, sondern welche
auch durch die Abstammung von gesunden Eltern und durch die ärztliche
Untersuchung als durchaus lungengesund erscheint. Wird die künstliche Er-
nährung nothwendig, so wende man nur aufgekochte Milch an, welche von
einer gesunden Kuh stammt.
Eine gute, kräftige, gemischte Ernährung muss auch später-
hin die Richtschnur sein, nach welcher man für eine kräftige Entwicke-
lung des Organismus strelDt; keineswegs darf die Nahrung einseitig sein;
Fleisch und Eier, ausschliesslich gegeben, sind durchaus nicht zweckmässig,
die Nahrung muss eine gemischte sein, sie soll auch pünktlich
zugeführt werden, weil die Regelmässigkeit in der Ernährung die Leistungs-
fähigkeit des Magen-Darmcanales hebt. Von dem Fortschritte in der Ent-
wickelung des neugeborenen und des jugendlichen Patienten kann man sich
nur mit der Waage überzeugen. Zur Erhaltung und Entwickelung der
Gesundheit gehört auch frische Luft; diesem Postulate kann man nicht in
der Wohnstube nachkommen, deshalb muss das Kind hinaus aus der engen
Stube in das Freie, aus der Stadt hinaus, womöglich auf das Land, wo rei-
nere, staubfreiere Luft weht, als in der dichtbevölkerten Stadt mit Strassen-
staub und Fabrikrauch. Auch auf dem Lande soll die Wohn- und Schlaf-
stube der reinen Aussenluft freien Zutritt gestatten, sei es durch besondere
Ventilationssysteme, sei es durch Oeffnen der Fenster oder der Oberlichter
bei Tag und Nacht. Die Wohnung selbst muss gesund, trocken, sonnig
und luftig sein, das Wohnhaus muss auf durchlässigem Boden aufgebaut stehen.
Frühzeitig muss man bei solchen Kindern das Hautorgan pflegen, damit
es sich den klimatischen Unbilden und Eigenthümlichkeiten anpasst; am
sichersten erreicht man dieses durch reichlichen Aufenthaft im Freien, durch
methodische Angewöhnung an kalte Abreibungen und kühle Bäder, kurze,
kalte Douchen, Fluss- und Seebäder, Salz- und Soolbäder, welche die An-
passungsfähigkeit der Haut an die Aussentemperatur wesentlich erhöhen.
Flanell- und Wollhemde, wollene Unterhose und wollene Strumpfe schützen
vor plötzlichen Schwankungen der Hauttemperatur und dadurch bedingte Er-
kältungen, indem solche Unterkleidung der Luft den Zutritt der Haut ge-
stattet, jedoch den Nachtheilen der raschen Schweissverdunstung vorbeugt.
Ueber dem wollenen Unterzeug trägt man der Jahreszeit entsprechend, leich-
tere oder schwerere Kleidung. Der ganze Apparat der prophylaktischen Ent-
814 TUBERCULOSIS PULMONUM.
wickelungs Vorschriften wird um so dringender zur Ausführung mahnen, wenn
sich die Symptome der tuberculösen Belastung einstellen; vor allem ist es der
Habitus phthisicus, welcher das Gespenst der Lungenschwindsucht zu
verscheuchen mahnt. Gerade solche Kinder müssen besonders gut überwacht
werden. Die schwachentwickelte Musculatur sucht man unmittelbar
zu kräftigen durch geregelte Muskelgymnastik, durch Turnen, turnerische
Freiübungen, Spielturnen, Lawn-tennis, Croquet, Fussball, Reiten, Velociped-
fahren. Schwimmen, Schlittschuhlaufen, welche Bestrebungen nicht nur die ge-
sammte Musculatur kräftigen, sondern auch durch Anregung der Herzthätigkeit
den Herzmuskel selbst zu kräftiger Entwickelung bringen und die Ausdehnung des
Thorax und der Lungen durch die tiefen Athemzüge befördern. Dadurch
strömt das Blut rascher und lebhafter durch die Lungen, welche infolgedessen
besser ernährt werden und für einen lebhaften Gasaustausch, welcher dem
ganzen Körper und seinen Functionen zu gute kommt, Sorge tragen können.
Das Bergsteigen ist ebenfalls eine gute Art der Lungengymnastik. Beim
Aufenthalt in frischer Luft soll der Schwächling 1 — 2 Dutzend langsame, tiefe
Athemzüge machen, denen er eine Pause von gleicher Länge folgen lässt, um
in gleichem Turnus 5 — 10 mal die Lungen möglichst mit frischer Luft zu
füllen und den Brustkorb zu dehnen, ohne die Organe zu übermüden. Den
Lungenspitzen, welchen besonders unsere Aufmerksamkeit gelten muss, weil sie
sich ungenügend ausdehnen, sucht man ihre Aufgabe zu erleichtern dadurch,
dass man comprimirte Luft aus pneumatischen Apparaten oder
in pneumatischen Kammern einathmen lässt; man kann auch die oberen
Lungenabschnitte zu kräftigerer Ausdehnung und Durchlüftung bringen, wenn
man die unteren Lungenpartien an der Expansion behindert, indem man
durch Aufstützen der flachen Hände auf die seitlichen unteren Thoraxab-
schnitte einen Druck ausübt und zu gleicher Zeit möglichst tiefe Athembewe-
gungen ausführt. Gerade der Lungenspitzen wegen hat man darauf zu
achten, dass das Kind gerade sitzt, nicht vornübergebeugt ist und die
Schultern nach vorne herabhängen lässt; Hanteln, Schwingen und Hängen am
Reck, Turnen am Barren, Massage der Schulter- und Rückenmusculatur sind
nicht zu entbehren. Die jugendliche Person soll überhaupt nicht zu lange
auf einer Stelle sitzen, höchstens 1—2 Stunden, dann muss sie aufstehen und
durch einen Aufenthalt in guter Luft die Muskeln durch Spielen oder Gehen
bewegen und den Kreislauf anregen. Das gilt nicht nur für die Schule,
welcher man zu leicht eine Ueberbürdung zuzuschreiben geneigt ist, sondern
auch für die häusliche Erziehung.
Was die Schulhygiene anlangt, so muss das Schulzimmer allen An-
forderungen, welche wir an das Haus und die Wohnräume stellen, in erhöhtem
Maasse entsprechen.
Es muss also das Schulhaus auf durchlässigem Boden stehen, das Schulzimmer muss
gross, leicht zu reinigen sein und zwar nicht nur sein Boden, sondern auch die Wände,
es muss Spucknäpfe enthalten, in welche zu spucken die Kinder gelehrt werden; das Schul-
zimmer muss jedem Kinde ein Luftquantum von wenigstens 15 bis 16 Kubikmeter bieten,
soviel steht auch dem deutschen Soldaten in der Kasernenstube zu ; das Tageslicht soll aus
breiten und hohen Fenstern von oben und links an das lesende und schreibende Kind heran-
treten, damit das Licht nicht blendet oder das Kind sich nicht selbst im Schatten sitzt.
Gerade das Herantreten des Lichtes von der rechten Seite, welches den Schatten auf das
Buch oder die Tafel wirft, veranlasst die Kinder zum Schiefsitzen und zur Verkrümmung
der Wirbelsäule. Noch mehr verschuldet dieses die mangelhafte Schulbank; das Kind muss
so sitzen können, dass es die Schreibstellung möglichst ohne Muskelanstrengung einnehmen
und bewahren kann: bei rechtwinklig gebeugtem Knie muss der Schüler die Füsse auf-
stellen können, die Sitzbank muss dem ganzen Oberschenkel Platz geben; die Tischplatte
soll so hoch stehen, dass sie das Auflegen des schreibenden Armes ohne nothwendiges
Heben der rechten Schulter gestattet; ist aber die Schreibplatte zu niedrig, so muss sich
der Schüler vornüberbeugen, ist sie zu hoch, muss er die rechte Schulter höher als die
linke heben, ist die Tischplatte zu weit von der Sitzbank entfernt, so muss der Schüler
den Rumpf nach vorn beugen: alles das sind fehlerhafte Haltungen, welche die Rücken-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 815
muskeln zu sehr anstrengen, die Wirbelsäule krümmen, den Kreislauf und die Athmung
hindern.
Jedoch nicht nur die Schule bedarf der Ueberwachung, sondern auch
die Erziehung des Kindes im Hause; allzuoft ist es mehr der Unter-
richt im Hause, welcher der Gesundheit Schaden zufügt, als das Schulleben.
Im Allgemeinen kann man sagen, dass das Maass von häuslichen Arbeiten,
welches die Schule dem Schüler zumuthet, nicht zu gross ist, allein
die unzweckmässige Eintheilung der Anfertigung der Haus-
arbeiten, die freiwilligen Zuthaten von Musikstunden, Privatunterricht, die
Betheiligung an den Vergnügen der Erwachsenen, nehmen die Zeit in Anspruch,
welche das Kind für den Aufenthalt im Freien gebrauchen sollte. Erlauben
es die äusseren Verhältnisse, so muss das Kind die Ferienzeit im Gebirge
oder an der See zubringen; auch der einfache Landaufenthalt in Wald und
Flur ist von hervorragendem Werthe.
Die Schwäche der Constitution des Kindes, das zur Lungenschwind-
sucht disponirt ist, verräth sich häufig durch die Scrophulosis, welche
nach unserer Ansicht nichts anderes als Tuberculosis ist. Am einfachsten
und besten wäre es, wenn man die Lymphdrüsentuberculosis mit dem Messer
radical beseitigte, jedoch weiss man nie, ob der entfernte Theil der einzige
Krankheitsheerd ist, und es ist unmöglich, alle scrophulösen oder tuberculösen
Lymphdrüsen zu exstirpiren. Sammeln sich die Lymphdrüsenknollen zu
grösseren Packeten an und macht sich eine Neigung zur Erweichung und
Vereiterung bemerkbar, so wird der chirurgische Eingriff die einzig richtige
Behandlung sein. Nicht immer aber kommt die Drüsentuberculosis so weit,
sondern in sehr vielen Fällen heilt die Scrophulosis gänzlich und dauernd
ab, ohne dass später in anderen Organen, speciell in den Lungen, Tuber-
culosis zum Ausbruch kommt.
Die Behandlung der Scrophulosis wird die Entfernung tuberculöser Knochen-
und Grelenkerkrankung energisch anfassen, die Heilung der Geschwürsvorgänge auf der Nasen-
schleimhaut, des Hautekzemes und scrophulöser Augenkrankheiten zu beschleunigen und vor
allem die allgemeine Constitution zu heben suchen müssen. Die medicamentöse Behand-
lung geniesst gerade bei der Scrophulosis ein grosses Ansehen. An erster Stelle ist es der
Leberthran, von welchem man Gebrauch machen muss. Die Wirkung desselben finden
wir nicht in den Spuren Jod, welche er enthält, sondern darin, dass der Leberthran ein
Fett ist, welches leichter resorbirt wird als andere Fette, sei es wegen des Gehaltes an
Gallenbestandtheilen, sei es wegen des Gehaltes an freier Fettsäure. Man muss aber das
Oleum jecoris aselli in grossen Dosen geben; zweckmässig beginnt man mit 1 Kinder-
löffel voll 1 Stunde nach dem Frühstück und gibt die gleiche Dosis nach dem Abendessen;
wenn das Kind älter als 6 Jahre ist, kann man gleich mit einem Esslöffel voll Morgens
und Abends beginnen ; man muss aber bei kleinen und älteren Kindern die Menge wenig-
stens nm das Doppelte und Dreifache steigern, so dass ein 6 jähriges Kind wenigstens
2 Esslöffel täglich und ein 12-jähriges Kind 3, 4 und 5 Esslöffel nehmen soll. Die An-
wendung muss monatelang durchgeführt werden. An Stelle des Leberthrans kann man
auch das Lipanin anwenden, welches ein 6°/o freie Oelsäure enthaltendes Olivenöl dar-
stellt und sich durch leichte Emulgirbarkeit und angenehmen Geschmack auszeichnet. Die
mittlere Gabe für ein 4— 6-jähriges Kind beträgt pro die etwa 2—4 Theelöffel, für grössere
Kinder u.nd Erwachsene 2—4 Esslöffel voll. Stellt sich Appetitlosigkeit, Aufstossen und
Durchfall ein, so muss man sofort mit dem Oleum jecoris aselli und dem Lipanin aus-
setzen ; im Allgemeinen erfreut sich der Leberthran einer grösseren Anwendung als das
Lipanin. Neben dem Leberthran verdienen die Jod- und Eisenpräparate die grösste
Anwendung; zweckmässig kann man diese Präparate mit dem Leberthran vereinen und
Jo dleberthran und Jodeisenleberthran verordnen. Die Jodpräparate gibt man
Kindern zweckmässig in der Form des Sirupus ferri jodati mit Sirupus simplex
zu gleichen Theilen verdünnt, dreimal täglich einen Theelöffel voll nach den Mahlzeiten; zu
empfehlen ist die Anwendung des Ferrum jodatum saccharatum als Pulver, als So-
lution oder in Pillenform, dreimal täglich 0-05- l'O, je nach dem Alter des Patienten, nach
den Mahlzeiten zu nehmen. Da vielfach mit der Scrophulosis bei kleinen Kindern sich
die Symptome der Eachitis verbinden, so kann man die Kalkpräparate, als solche
gegeben oder in Verbindung mit Leberthran, nicht entbehren; mit gutem Erfolge bedienen
wir uns auch in solchen Fällen des Phosphors in Mandel- oder Olivenöl oder noch
besser in Leberthran, in der Menge von Phosphoi-i O'Ol : Oleum jecoris aselli 300-0, morgens
und abends einen Esslöffel voll zu nehmen und bei kleinen Kindern Phosphori O'Ol : Ol.
jecoris aselli 100' 0, 2 mal täglich einen Theelöffel voll.
816 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Trinkcuren mit Jodwässern wie mit denjenigen von Hall (Thafsiloquelle),
Sxilzbrunn in Bayern, Krankenheil, Saxon im Canton Wallis, Badecuren mit, Tod-
quell en, wie mit denjenigen Yon Tölz und Adelheidsquelle, sind zur Bekämpfung der Scro-
phulosis nicht zu entbehren. Jodbäder lassen sich auch zu Hause bereiten, indem
man 50—100-0 g KaUum jodatum zum Vollbade fügt, bei welcher Badeweise aber
Zink- und Kupferwannen zu vermeiden sind; man kann auch zum Vollbade lO'O— 15-0
Jodi puri und 20-0 — 30'0 Kalii jodati, welches man zuerst in einera Liter Wasser
gelöst hat, fügen; als sehr zweckmässig em]pfehlen wir lö'O Jodi mit Koch- und
Seesalz- oder Mutterlaugebädern combinirt. Ungemein günstig wirken auf die
Beseitigung der Scrophulosis die Soolbäder ein, welche man zu Hause ebenfalls
zubereiten kann. Zu diesem Zwecke bedarf man eines Soolbades mit einem Salzgehalte
Yon 2 — 3°/o-, für das Vollbad eines Kindes bedarf man im Durchschnitt 100 Liter Wasser,
so dass man also 2—3 Kilo Salz dem Bade zusetzen muss; das Bad muss -{- 28" R. warm
sein, der Patient ^/g Stunde in ihm verweilen und nach dem Bade ausruhen. Als zweck-
mässige Salzarten für die Soolbäder empfehlen sich das Kochsalz, Werler und Stass-
furter Badesalz, Seesalz, Mutterlaugensalz. Energischer wirkt der Gebrauch der Soolbäder
im Curorte selbst, weil hier die anderen heilkräftigen Factoren, wie Aufenthalt in frischer
Luft, in geschützter, windsicherer Gegend hinzutreten. Arnstadt, Aussee, Cannstadt, Dürk-
heim, Elmen, Hall, Homburg, Ischl, Juliushall, Kissingen, Kosen, Köstritz, Kreuznach, Lipik,
Münster a/Stein, Nauheim, Neuhaus, Oeynhausen, Reichenhall, Rheinfelden, Rothenfelde,
Salzhausen, Salzschlirf, Salzungen, Soden (Taunus), Suiza, Wiesbaden, Wittekind sind die
bekannten Curorte unter den Soolbädern. Verlangt die Therapie noch Eisen im Verein
mit der Soole, so ist Pyrmont am Platze. Von derselben günstigen Wirkung ist der Ge-
brauch der Seebäder; die Kinderheilstätten, die Seehospize, welche erst in der
Entwickelung begriffen sind, ermöglichen auch der weniger gut situirten Bevölkerung den
Aufenthalt an der See. Neben der allgemeinen Behandlung, welche man dem scrophu-
lösen Kinde zu theil werden lässt, bleibt die symptomatische Behandlung der
Appetitlosigkeit, der Neigung zu Durchfällen, der Blutarmuth zu Recht be-
stehen. Bei scrophulösen wie bei schwächlichen Personen überhaupt, darf man die anä-
mischen und chlorotischen Erscheinungen nicht unterschätzen, weil manche Phthisis an-
fangs nur das Bild der Blutarmuth liefert. Eisenpräparate und Eisenwässer, wie
Alexanderbad, Alexisbad, Bocklet, Cudowa, Driburg, Godesberg, Liebenstein, Pyrmont, Reinerz,
Schwalbach, Arsenik in Arzneien und in Mineralwässern, wie Roncegno, Levico,
gehören deshalb in das Rüstzeug der Prophylaxis.
Zu den Maassregeln, welche der drohenden Lungenschwindsucht vor-
beugen, gehört die sorgfältige Bewahrung vor allen denj enigen Schäd-
lichkeiten, welche erfahrungsgemäss Luftröhren- und Kehlkopfkatarrhe
hervorrufen. Angestrengtes Laufen, Singen, Schreien und Tanzen, der un-
vorsichtige Gebrauch zu heisser und zu kalter Getränke, das Verweilen in
kalten und feuchten Zimmern und Eiskellern, der Aufenthalt in zugigen und
staubigen Räumen, der allzu reichliche Genuss geistiger Getränke, starkes
Rauchen sind solchen zur Phthisis disponirten Personen dringend zu verbieten;
vor jedem raschen, schroffen Temperaturwechsel muss sich der Schwächling
vorsichtig schützen. Stellt sich aber ein Katarrh der Athmungsorgane
ein, so ist selbst der leichteste Katarrh mit grosser Vorsicht zu behandeln,
nichts darf unterlassen werden, um selbst die kleinsten Reste zu beseitigen,
weil jede Störung in der Lunge das Einnisten der Tuberkelbacillen erleichtert
Wenn der Patient dazu in der Lage ist, soll er nicht säumen, in frischer
Luft, im Gebirge oder am Seestrande seine volle Gesundheit zu suchen.
Dringend nothwendig wird der Aufenthalt im Gebirge, wenn nach Lungen-
entzündungen und Brustfellerkrankungen die Lungen sich nicht
mehr ganz entfalten; zu Hause muss die Lungengymnastik, das Einathmen
comprimirter Luft in den Behandlungskreis treten. Nicht ernst genug kann
man bei den zur Tuberculosis disponirten Personen die Reconvalescenz
von Masern, Keuchhusten und Typhus nehmen, Krankheiten, an Avelche sehr
häufig sich Lungenschwindsucht anschliesst.
Nicht minder grosse Pflichten bei schwächlichen oder hereditär belasteten
Personen legt dem Arzt die Wahl des Berufes für seinen Schützling auf.
Von vornherein müssen alle diejenigen Berufsarten untersagt werden, welche
zu Staubinhalationen führen, wie das Gewerbe der Steinhauer, Feilenhauer,
Kohlenarbeiter, Schornsteinfeger und alle der Gefahr der Pneumonokoniosis
TUBERCULOSIS PULMONUM. 817
ausgesetzten Lebensberufe. Beschäftigungen, welche an das Zimmer fesseln, in
vornübergebeugter Haltung ausgeführt werden, wie die der Schreiber, Schneider,
Schuster sind zu untersagen; bei den Webern vereinigt sich die schlechte,
vorn Übergel) engte Haltung mit der Einathmung von Staul) zu dnppelter (lefahr.
Leute mit schwacher Brust sollen nicht Trompeter ober Ausrufer, noch Kellner
werden, am besten ist die Beschäftigung leichter Art in der Land- und Forst-
wissenschaft als Leiter, Aufseher und Gärtner, nicht minder empfehlens-
werth sind leichte Posten auf Seeschiffen. — Wohl Demjenigen, welcher über-
haupt unter solchen Verhältnissen nicht um sein tägliches Brod kämpfen muss!
Treten nun trotz aller Prophylaxis die obj ectiven Zeichen der
beginnenden Lungenschwindsucht auf, so wäre es das Rationellste,
die in die Pulmones eingedrungenen Tuberkelbacillen zu tödten oder
unschädlich zu machen. Dahin zielende Versuche sind auf die ver-
schiedenste Weise unternommen worden. Entweder sucht man in unmittel-
barer Weise die Tuberkelbacillen anzugreifen oder mittelbar durch Ein-
verleibung von Materialien, welche auf dem Wege des Kreislaufes zu den
Tuberkelbacillen hingelangen. Die directe Localtherapie bedient sich
der Einathmung, Wir haben auf diesem Gebiete der örtlichen Behandlung
der Lungenschwindsucht viele und ausgedehnte Versuche angestellt und müssen
unsere Ansicht dahin fassen, dass bis jetzt auf keine Art der Einathmung
ein positiver Erfolg zu erwarten ist. Die Ursache finden wir darin, dass
zunächst bei der Inhalation zerstäubter Flüssigkeiten das Medicament gar
nicht in das Lungenparenchym hineingelangt, sondern vorwiegend im Rachen
und Kehlkopf, der Rest in der Trachea und den Hauptbronchien sich nieder-
schlägt; es ist schon fraglich, ob überhaupt die relativ kleinen Bronchien von
der zerstreuten Flüssigkeit erreicht werden. Auch die Einathmung gasförmiger
Heilmittel führt ebensowenig wie die Insufllation und Inhalation staubartig der
Luft beigemischter Stoffe zu einem positiven Resultat, weil für das Ein-
dringen gasförmiger und staubartiger Köi'per in das Lungengewebe das Pa-
renchym zugänglich und ausdehnungsfähig bei der Einathmung sein muss:
das ist aber bei dem erkrankten und infiltrirten Lungengewebe nicht der Fall,
indem vielfach die kleinen, zum tuberculösen Heerde führenden Bronchien mit
Secret und Erweichnngsmaterial verstopft sind und das erkrankte Parenchym
seine elastische Fähigkeit verloren hat. Die geringe Menge staubartig in der
Luft suspendirter Medicamente, welche nicht schon gleich im Larynx und den
grossen Bronchien sich niederschlägt, hat keine Aussicht, zu dem Heerde der
Tuberkelbacillen zu gelangen, ebensowenig wie die gasförmigen, flüchtigen
Arzneimittel, welchen die ausgefüllten Bronchien den Weg verlegen. Die
Inhalationen von Sublimat, Acidum carholicum, Natrium henzoicum, Jodo-
form, schioefeliger Säure, Fluor Wasserstoff, Kreosot, Guajacol, Phenol, Eucahjptol^
Ihymol sind vollständigfür die Bekämpfung des tuberculösen Heerdes nutzlos.
Dasselbe gilt auch für die Einathmung heisser Luft, weil die heisse Luft
sich rasch abkühlt, bevor sie in die Lungen tief hineingelangt, und das er-
krankte, infiltrirte Lungenstück keine Luft aufnimmt. Selbst die Ein-
athmung mit pneumatischen Apparaten und Kammern ist nicht im
Stande, die Arzneistoffe in den Heerd der Erkrankung hineinzuschaffen; wir
haben infolgedessen von der Inhalation mit den verschiedensten antiseptischen
Substanzen nichts zu erwarten.
Nicht minder nutzlos ist die Stickstoffinhalation, welche der Consumption des
Kranken Einhalt thun soll, weil der Blanke eine sauerstoffarmere Luft auf diese Weise
erhält und dadurch der in letzter Listanz auf Oxydation von Körperbestandtheilen be-
ruhenden febrilen Consumption der zur Oxydation nothwendige Sauerstoff möglichst ent-
zogen werde.
Einathmungen und Einspritzungen von Eeinculturen des Bacterium
termo in die Bronchien sollen, da ein ausgesprochener Antagonismus zwischen dem
Fäulniserreger Bacterium termo und dem Tuberkelpilz besteht, bezwecken, durch den
Fäulnispilz den Schwindsuchtskeim zu vernichten; wir rathen dringend von dieser The-
Bibl. med. Wissenschaften, I. Interne Medicin and Kinderkrankheiten. Ed. HI. £>^
818 TUBERCULOSIS PULMONUM.
rapie ab, weil wir eine Abnahme der Tuberkelbacillen nie gefunden haben,
wohl aber in zwei Fällen zu der Lungenschwindsucht noch die faulige
Zersetzung ihrer Z erf allsproducte und, hierdurch bedingt, hohes Fieber
und stürmischen Verlauf hinzutreten sahen.
Auf dem Wege des Kreislaufes eine locale ISchwindsuchtstherapie
auszuüben, beabsichtigen die Einfuhren von Schwefelhydrogen in das
Rectum in der Weise, dass 4 — 5 Liter Kohlensäure, welche 250 — 500 g schwefel-
haltiges Mineralwasser passirten, in den Darm eingeblasen werden; das
Schwefelhydrogen wird durch das Blut aufgenommen und durch die Lungen
ausgeathmet. Auf die Tuberkelbacillen ist diese von Bergeon eingeführte
Methode nach unserem Dafürhalten gänzlich ohne Einfluss und daher
hat diese Schwefelwasserstoftbehandlung keinen Zweck.
Bei der Localtherapie finden wir auch die Versuche, durch Ein-
spritzungen von Sublimatlösung, Alkohol, Carbolsäure, Jodtinctur in das
Lungenparenchym, Entzündungen im Narbengewebe zu erzeugen, welche die
vorhandenen Tuberculosenheerde mit einem schützenden und einschnürenden
Bindegewebswalle einkapseln sollen. Erfolge sind auch hier nicht zu ver-
zeichnen. Die chirurgischen Versuche, den Sitz der tuberculösen Erkran-
kung zu entfernen, sind nicht besonders glänzend ausgefallen und auch die E r -
folge der EröffnungenvonCavernen regen noch nicht zur Nachahmung an.
Einen Markstein in der specifischen Behandlung der Tuberculosis, speciell
der Lungentuberculosis, bildet die Einführung des Tuberculin in den Arz-
neischatz. Der Tuberculintherapie liegt die richtige Erfahrung zu Grunde,
dass die Stoffwechselproducte der Tuberkelbacillen bei Thieren, welchen sie
eingespritzt werden, eine Immunität gegen tuberculöse Infection verleiht und
selbst eine schon vorhandene Tuberculosis zur Abheilung bringen kann. That-
sächlich hat das Tuberculin Koch's einen ausgesprochenen Einfluss auf das
tuberculöse Gewebe, welches zum raschen Zerfall augeregt und abgestossen
wird. Es unterliegt nach unserer Erfahrung keinem Zweifel, dass das Tuber-
culin bei vorsichtiger Anwendung den Verlauf der Erkrankung günstig beein-
flusst. Nicht alle Tuberculösen sind aber mit Tuberculin zu behandeln, ilus-
geschlossen sind alle weitfortgeschrittenen Schwindsüchtigen mit grossen Infil-
trationen und beträchtlichen Cavernen, alle Kranken, welche sehr decrepide
und der Gehirntuberculosis verdächtig sind, ferner alle Phthisiker, welche
sich schon auf dem Wege der Besserung befinden, bei denen also eine Zu-
nahme des Körpergewichtes, eine Abnahme der Infiltration, eine Zurück-
bildung der Katarrhe und Schrumpfungsprocesse vorliegen. Ich bin auch
davon abgekommen, solchen Patienten, welche sehr häufig von grossen und
kleinen Lungenblutungen heimgesucht sind, Tuberculin zu injiciren. Die
Gefahren der auf die Injection folgenden allgemeinen und localen Reaction
des tuberculösen Heerdes lassen sich auf ein geringes Maass hierdurch ein-
schränken.
Die localen Gefahren bestehen nämlich darin, dass die der In
jection folgende Hyperämie, Exsudation, Erweichung und Abstossung stür-
misch sich gestalten und deshalb Blutungen, ausgedehnte Hyperämien, über-
reiche Secretionen in die Bronchien, Eröftnungen von Lymphbahnen und dadurch
bedingte Verschleppung von tuberculösem Material in andere Organe böse
Gesellschafter sein können. Die allgemeine Reaction äussert sich durch
hohes Fieber und Störungen des Allgemeinbefindens, scharlachähnliches Exan-
them, gelegentlich auch durch Icterus, Anämie, Albuminurie und Peptonurie.
Die störenden Allgemeinerscheinungen und die zu stürmische locale Reaction
kann man weiterhin durch kleine Anfangsdosen, welche beim Erwachsenen
im Durchschnitt 1 Milligramm sein sollen, erheblich abschwächen. Die örtliche
Reaction äussert sich bei der Untersuchung dadurch, dass im Bereich der
tuberculösen Erkrankung Rasselgeräusche auftreten, bisweilen die Schallabnahme
zunimmt oder sich ausdehnt und bei zunehmendem Husten mehr Schleim ausge-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 819
worfen wird. Im Allgemeinen verfahren wir so, dass wir den erwachsenen Patienten
nach der Einspritzung zu Bett legen, bis jede örtliche und allgemeine Reac-
tion verklungen ist und die Einspritzung erst nach 4 — 6 Tagen wiederholen,
weil man dem Gewebe Zeit zur Abstossung lassen muss, vor Allem aber die
zur Vernarbung nothwendige Bindegewebswucherung einiger Zeit bedarf. Erst
wenn bei der nämlichen Dosis auf mehrfache Wiederholung hin jede Reaction
fehlt, kann man mit der Einzelgabe des Tuberculin steigen oder man setzt
die Einspritzungen für 6 — 8 Wochen aus, um dann mit der früheren kleinen
Dosis fortzufahren. Die Anwendung des Tuberculin in der ärztlichen Praxis
ist im Allgemeinen noch nicht geklärt, die Stimmen, welche sich gegen diese
Methode erheben, sind laut und zahlreich. Ich habe bisher das Tuberculin
bei manchen Patienten noch immer in Anwendung gezogen und kann nur
sagen, dass ich selbst bei jahrelanger Tuberculintherapie mit minimaler Dosis
beginnend, keine Nachtheile sah, häufig aber mit den Resultaten überraschend
gut abgeschnitten habe; nur darf man nicht erwarten, mit dem Tuberculin in
wenigen Wochen eine Lungenschwindsucht heilen zu können.
Die localen Sitze der Tuberculosis vernichten will auch das CantJiaridin Liebreich's,
welches durch subcutane Injection einverleibt wird. Die Zubereitung des Cantharidin voll-
zieht sich in der Weise, dass 0'2 Cantharidin und 0-4: Kalihi/drat, resp. 0'3 Natronhydrat
mit etwa 20 ccm Wasser im Wasserbade erwärmt wird, bis klare Lösung eingetreten ist.
Darauf wird soviel destillirtes Wasser zugesetzt, bis ein Liter erreicht ist. Ein ccm dieser
Lösung enthält also ^/lo mg (0'0002) Cantharidin. Die Einzeldosis ist ^li — 1 ganze PRAVAz'sche
Spritze. Die Wirkung des Cantharidin als Heilmittel ist noch nicht hinreichend erprobt,
jedenfalls muss man seine Anwendung sofort bei Seite lassen, wenn Harndrang und Albu-
minurie auftreten. Nach unserer Erfahrung bei Lupus, Zungen- und Kehlkopftuber-
culosis verspricht das Cantharidin nicht viel für die Tuberculosistherapie.
Das Antiphthisin seu Tuberculocidin Klehs, welches aus dem Tuberculin
nach Ausfüllung der schädlichen Stoffe (Ptomaine, Alcaloide, Bacterienproteine)
als eine durch Alkohol fällbare Albumose erhalten wird und durch die Ent-
fernung dieser Stoffe die Nachtheile des Tuberculin vermeiden soll, verdient
nach den Ausführungen seines Darstellers eine grosse Bedeutung, weil ihm
eine ausserordentliche Heilkraft zukomme. Allgemeine Erfahrungen liegen
jedoch nicht vor, so dass man die Bedeutung des Tuberculocidin für die
Schwindsucht noch nicht entscheiden kann.
Ebenso unentschieden sind die Heilbestrebungen mit dem Serum von Thieren,
welche gegen die Tuberculosis nahezu oder vollständig immun sind, die tuberculösen
Menschen heilen zu wollen. In den Bereich der Serumtherapie hat man das Blut von
Ziegen, Eseln und Hunden gezogen. Interessant ist die Thatsache, dass man schon vor
vielen Jahren von der Lammbluttransfusion eine Panacee gegen die Lungentuber-
culosis erwartete, Versuche, welche nur einen historischen Werth beanspruchen können.
Die innerliche Behandlung der Lungentuberculosis hat rastlos dem
Ziele entgegengestrebt, durch Einverleibung von Specifica die Lungen-
schwindsucht heilen zu können. Wir stehen nun nicht auf dem Stand-
punkte, als ob ein Specificum gegen die Tuberculosis gefunden
sei, wohl aber führen wir an, dass es eine grosse Anzahl Medicamente gibt,
welche einen günstigen Einfluss auf die Lungenschwindsucht ausüben. Von der
Anwendung des Natrium henzoicum, des Sublimat, des Jodoform; des Jod-
kaiium, der pJiosphorsauren Salze haben wir nie einen Erfolg gesehen. Anders
ist es mit dem Kreosot. Die Heilwirkung des Kreosot kommt dadurch
zustande, dass es dem Kreislaufe einverleibt, zum Theil durch die Lunge
ausgeschieden wird; es soll eine ausgesprochene Wirkung auf Bronchial-
katarrhe haben, antiseptisch wirken und die Bindegewebsneubildung befördern.
Die letzte Eigenschaft können wir dem Kreosot nicht zugestehen, auch darf
man seine antiseptische Wirkung in der Lunge nicht überschätzen, jedenfalls
kann man keinem lebenden Geschöpf soviel Kreosot beibringen, um einen
unmittelbaren sicheren Heileffect zu erreichen. Die Bedeutung des Kreosot
liegt vielmehr darin, dass es auf die Luftröhrenkatarrhe einwirkt, welche
die tuberculöse Neubildung und Zerfallsstätte begleiten. Der Husten lässt
52*
820 TUBERCULOSIS PULMONUM.
nach, die Secretion vermindert sich und kann sogar zeitweise ganz schwinden,
durch Verringerung der Secretion schwindet aber auch theilweise die Gefahr,
dass durch Aspiration in anderen Lungenabschnitten neue Tuberkelbacillen-
heerde sich ansiedeln; das Allgemeinbefinden kann sich heben, weil die
symptomatischen oder specifischen Magen-Darmstörungen eine Besserung
durch Abnahme der Durchfälle und der Zersetzungsfolgen erfahren, aber die
Tuberkelbacillen im Sputum werden von dem Kreosot nicht be-
einflusst, das charakteristische Sputumpfröpfchen enthält auch beim Kreosot-
gebrauch stets Tuberkelbacillen; durch meine Versuche ist es auch sicher-
gestellt, dass das Sputum des Lungenschwindsüchtigen, welcher monate- und
jahrelang mit Kreosot behandelt wird, bei Thierversuchen gerade soinfectiös
wirkt, als ob keine innerliche Desinfection stattgefunden habe. Erwartet man
also nichts von dem Kreosot als einem Specificum, so muss man seine
günstige symptomatische Wirkung, welcher ja auch ein absoluter Heilerfolg
innewohnt, anerkennen. In diesem Sinne kann man von dem Kreosot
Gebrauch machen und seine grosse Rolle in der Behandlung der Lungen-
schwindsucht verstehen.
Das Kreosot kommt in der verschiedensten Form zur innerlichen
und äusserlichen Verordnung. Für die Verabreichung als Arznei empfiehlt
sich folgende Zusammensetzung: Rp. Kreosoti IS- 5, Tindurae Gentianae
30' 0, Spiritus vini rectificatissimi 250-0, Vini Xerens. q. s. ad col. lOOO'O D. S.
2 — 3mal täglich einen Esslöffel voll in einem Glase Wasser oder unverdünnt
für den Erwachsenen zu nehmen; die tägliche Dosis für Erwachsene
beträgt 1-0 als Maximaldosis und 0'2 pro dosi. Bei Kindern ist
die Gabe kleiner, sie beträgt 0'005 pro dosi und O'06—O 08 — O'l pro die;
bei jugendlichen Personen ist die Verordnung als Emulsion zweckmässig:
Kreosoti 1'5, Solve in Olei Ämygdalarum 30'0, Gummi arabici 20'0, Aquae
destillatae 80' 0, Syrupi Ämygdalarum 20' 0 ; m. f. emulsio. D. S. 2—5mal
täglich einen Theelöffel voll zu nehmen. Mit Leherthran lässt sich das Kreosot
leicht combiniren: Kreosoti l'O, Olei jecoris aselli 100' 0 M. JD. S. 3mal täglich
einen Theelöffel voll dem Kinde zu geben. Beim Erwachsenen muss die
Kreosotmenge grösser sein, so dass 1"5 — 2 g Kreosot auf 160 g Leberthran
kommen, von welcher Arznei der Erwachsene 2 — 4 Esslöffel täglich gebraucht;
der üble Geschmack lässt sich durch einige Tropfen Olei menthae mildern.
Zweckmässig ist auch die Verordnung: Kreosot 1-5, Glycerin 120'0, Vini
Cognaci 30'0 M. D. S. 3 — 4mal täglich einen Esslöffel voll für den Erwachsenen.
Mit besonderer Vorliebe wird das Kreosot in Pillenform oder in Kapseln
verordnet. Den starken, vielen Patienten widerlichen Geschmack der Kreosot-
pillen verdeckt man durch Ueberzüge von Cacao, Vanille oder Keratin. Bei
der Anwendung von Kreosot in Kapseln, welche ebenfalls sehr handlich ist,
kann man zu gleicher Zeit zu der mittleren Dosis von 0-2 pro Gelatinkapsel
verschiedene Oele, wie Oleum Ämygdalarum, Olivarum, jecoris aselli, Lipanin
zusetzen oder Balsamum Tolutanum ; während die Oele nicht als Nährmittel,
sondern zur leichteren Erträglichkeit des Kreosot dienen, rühmt man von
dem Tolubalsam die angebliche expectorirende Eigenschaft. In der Regel ent-
halten die Kapseln 1 g Oel oder 0-5 Tolubalsam mit 0*1 — 0*2 Kreosot. Dem
Kreosot aber haften die Nachtheile an, dass es seiner ätzenden Eigenschaft
wegen den Anlass zu Magen- und Darmkatarrhen mit Appetitlosigkeit und
Durchfällen geben kann. Viel weniger reizend als das Kreosot wirkt das
Kreosotal, Kreosotum carhonicum, von welchem der Erwachsene 5'0 — 15*0
täglich in Kapseln nehmen soll; auch die Pillenforra empfiehlt sich, jedoch
ist die tägliche Zahl der Pillen, welche man nehmen muss, um die erhoffte
Wirkung zu erzielen, störend gross. Für Kinder, welche pro Tag l'O — b'O g
Kreosotal einnehmen sollen, kann man das Kreosotcarbonat in Leberthran
lösen oder mit Eigelb emulgiren lassen.
TUBERCULOSIS PULMONUM. 821
An stelle des Kreosot wird Guajacol, der Hauptbestandtlieil des Buclien-
holztheerkreosots, empfohlen. Die Verordnungsweise ist gleich derjenigen
des Kreosots; man verschreibt es in Pillen und in Kapseln mit und ohne
Tolubalsam 0*2, in Leberthran, Lipanin und gibt täglich drei- bis viermal eine
Dosis von 0- 1—0-2. Man kann das Guajacol auch rein geben, indem Kinder
2 — 3 Tropfen und Erwachsene 3 — G Tropfen nehmen, 3 — 4mal täglich in
einem Glase mit Salzwasser, Milch, Bouillon verrührt; bei Erwachsenen kann
man das Guajacol auch mit Wein nehmen lassen. Das Guajacol soll die
Schäden des Kreosot ausschalten und kann monatelang, selbst jahrelang, ohne
alle Beschwerden und Nachtheile genommen werden. Noch mehr gilt dieses
von dem Guajacolum carhonicimi, welches ungefähr 78^/o reines Guajacol
enthält, geruch- und geschmacklos ist und in der Gabe von 0-2— 0-5 morgens
und abends verabreicht wird, indem man allmälig bis auf 6-0 täglich steigt.
Im Darme zerfällt das Guajacolcarbonat in Guajacol und Kohlensäure, während
es sich dem gesunden Magen gegenüber indifferent verhält; im kranken
Phthisiker-Magen wird jedoch durch die Fäulnis- und Gährungsprocesse eine
grössere Menge Guajacol abgespalten. In Verbindung mit Glycerin oder Oel
kann das Guajacol auch subcutan oder intramusculär zum Zwecke der All-
gemeinbehandluug eingespritzt werden. Als allgemeine Regel der Guajacol-
therapie empfiehlt sich die subcutane Injection nicht, weil hunderte Einsprit-
zungen nothwendig sein würden. Nur ausnahmsweise machen wir daher von
der subcutanen oder intramusculären Injection Gebrauch, in demselben Sinne
bedienen wir uns bisweilen der Verordnung des Guajacol als Infusion 0-2:100
Aqiiae destülatae in das Rectum.
Das Kreosot sowohl wie das Guajacol, werden auch, vermittelst der Haut dem
Körper einverleibt. Das Kreosot wird in der Form des Kreosot-Vasogen, in welcher
Mischung das Kreosot zu 10°/o und 20°}^ beigefügt ist, meistens verwandt; die Einreibun-
gen werden morgens und abends auf der Brust und dem Rücken vorgenommen; wir glau-
benjedochnicht, dass von der Haut aus viel oder wenig Kreosot aufgenommen wird,
obwohl die ätzende Wirkung des Kreosotes der Aufnahme dieses Arzneistoffes die Bahn
öffnen könnte, sondern die Erfahrung lehrt uns, dass allerdings Kreosot in den Körper
hineingelangt, jedoch auf dem Wege der Athmung, indem solche Patienten fortwährend
von einer Kreosotwolke umgeben sind, welche sich der Athmungsluft beigesellt. Die Wir-
kung kann keine grosse sein, weil der Haupttheil des auf die Haut aufgetragenen Kreosots
verdunstet, ohne dass es der Lunge zugute käme. Sicherer und prompter wirkt jedenfalls
die innerliche Einverleibung von Kreosot, welches ebenfalls wie das Guajacol subcutan
verwandt werden kann. Auch das Guajacol dient zur äusserlichen Anwendung: man löst
0-73 bis 15 Guajacol in 3-0 Alkohol, pinselt diese Lösung auf die Haut des Oberschen-
kels in einer Ausdehnung von etwa 100 Q '^^ ^^^ bedeckt diese bestrichene Hautstelle
mit Guttaperchastreifen luftdicht.
Als Ersatzmittel für das Kreosot wird auch das geschmack- und ge-
ruchlose Benzoyl-Guajacol oder Benzosol in Dosen von 0'25 bis ro
dreimal täglich nach den Mahlzeiten empfohlen, sei es als Pulver mit Elae-
osaccharum menthae, oder als Pillen und Pastillen. Das Benzoyl-Guajacol
enthält .50^/o Guajacol, während das Guajacol um purissimum, welches in
der Fabrik von Riedel in Berlin hergestellt wird, 99% f^najacol enthält, das
Kreosot aber nur etwa 60%. Die Wirkung des Guajacol auf die Expectoration
besteht darin, dass zunächst der Auswurf reichlicher wird, schleimiger, die
eitrige Beimischung tritt zurück, allmälig verringert sich die Menge und
schliesslich bei monatelanger Anwendung bleibt der Auswurf gänzlich fort.
In der Neuzeit beginnt Solveol angewandt zu werden; dieses Präparat
ward mit Hilfe von kresotinsaurem Natrium gewonnen und stellt eine neutral
reagirende Lösung von Kresol dar; seine desinficirende Wirkung ist stärker
als diejenige der Carbolsäure, ausserdem ist es viel weniger giftig als diese.
In ähnlicher W^eise wie das Kreosot wirkt dasTerpinum hydratum,
welches die eitrige Expectoration einschränkt und leicht verdaulich ist. Die
einfachste Verdauungsform ist auch hier die Pille; mehrmals täglich wird
0'2— 0"6(/ genommen. Für die Anwendung in flüssiger Form empfiehlt sich
822 TUBERCULOSIS PULMONUM.
die wässerig- alkoholische Lösung: Terpini 10-0, Älcoholi 150' 0, Äquae destilla-
tae 100' 0 M. D. S. 2 — 3-mal täglich einen Esslöfel voll zu nehmen'^ wir haben
jedoch anzuführen, dass durch die Anwendung des Terpin leicht Erbrechen,
Durchfälle, Anurie und Albuminurie gesetzt wurden.
Haben wir bei den erwähnten Medicamenten eine günstige, wenn auch
keine specifische Wirkung zugestehen müssen, indem dieselben mehr auf die
begleitenden Secretionen der Luftröhre, also symptomatisch, einwirken, so
müssen wir der Arseniktherapie, welche ebenfalls eine specifische sein
soll, zwar die specifische Wirkung auf die Tuberculosis im Allgemeinen und
den tuberculösen Heerd im Besonderen durchaus absprechen, aberdieBehand-
lung mit Arsenik bleibt des Lobes werth, weil durch eine Besserung des
Allgemeinbefindens in vielen Fällen auch bessere Bedingungen für die Abheilung
der örtlichen Lungentuberculosis geschaffen werden. Es steht durch Versuche
und die Erfahrung fest, dass kleine Gaben arseniger Säure einen günstigen
Einfluss auf die gesammte Ernährung ausüben, es kann eine Gewöhnung an
den Arsenikgenuss eintreten, so dass allmälig solche Leute das 3 — 4 fache
der tödtlichen Dosis ertragen, zu gleicher Zeit werden diese Personen ge-
sunder, kräftiger, ausdauernder und fetter, es hebt sich der Appetit, die Ath-
mung wird tiefer und das Herz schlägt kräftiger, so dass die Pulswelle voller
wird. In Anwendung zu therapeutischen Zwecken stehen die arsenige Säure
und die S olutio arsenicalis Fowleri. Die Säure verordnen wir mit Vor-
liebe in Pillenform, als Äcidi arsenicosi 0'05 Succ. etpulveris radicis Liquiritiae q.
s. ut f. pilul. Nr. 50. C. D. S. 3 — 4 mal täglich eine Ulle nach den Mahl-
zeiten zu nehmen. Angenehm ist die gleichzeitige Verordnung von Eisen,
wenn der Patient dasselbe ertragen kann oder im passenden Falle die Ver-
bindung des Arsenik mit Kreosot. B. Äcidi arsenicosi 0 05, Ferri lactici oder
peptonati 5-0, Succ. et pulveris radic. Liq. q. s. ut f pilul. Nr. 50. C. D. S.
3 —4 mal täglich eine Pille nach den Mahlzeiten ; will man Kreosot hinzufügen ,
so fügt man in das Recept 3^ Kreosot anstatt des Ferrum; grössere Dosen
Kreosot im Verein mit Arsenik zu geben, geht meistens nicht an, weil diese
beiden Arzneimittel, zusammeagegeben, ihre Nebenwirkung auf den Darmcanal
verdoppeln uud leicht Appetitlosigkeit, Schmerzen im Magen und Durchfälle
bewirken können. Den Liquor Kalii arsenicosi geben wir in mehrmaliger
Dosis von 0-1 — 0*5, die höchste Tagesdosis soll 2-0 sein. Als bewährt be-
zeichnen wir die Verordnung Solutionis arsen. Fowleri 5'0 mit Tincturae ama-
rae 15'0, dreimal täglich 20 — 30 Tropfen nach den Mahlzeiten zu nehmen;
oder Liquoris Kalii arsenicosi 5'0, Liq. ferri albuminati ad 150' 0 D. S. 3 mal
täglich einen Theelößel voll nach den Mahlzeiten zu nehmen. Von der Arsenik-
verwendung bei der Behandlung der Lungenschwindsucht haben wir derartige Er-
fahrungen gemacht, dass wir den Arsenik nur empfehlen können. In
den Anfangsstadien der Lungenschwindsucht können wir sehr häufig eine entschie-
dene Besserung constatiren, indem das Allgemeinbefinden besser wird, der Appetit
sich hebt, das Körpergewicht steigt, die Patienten baldigst einen viel gesunderen
Eindruck machen und mit der Zunahme der Ernährung das Fieber aufhört, die
Nachtschweisse schwinden und der Husten nachlässt; oft sind die guten Re-
sultate überraschend gross. Selbst in den vorgeschrittenen Fällen der Lungen-
schwindsucht bewirkt der Arsenik vielfach eine rasche Besserung der All-
gemeinerscheinungen und eine Zunahme der Körperkraft. Nicht bei jedem
Falle von Tuberculosis pulmonum hat der Arsenik Erfolge zu erzielen, die
Phthisis consummata verspricht gar keinen Erfolg oder nur eine rasch vor-
übergehende Besserung des Befindens; auch nicht alle Erkrankungen an be-
ginnender Phthisis reagiren auf die kleinen Dosen Arsenik, so dass immer-
hin nur ein schwankender Procentsatz der Arseniktherapie zugänglich ist. Von
der Behandlung mit Arsenik muss man absehen, wenn erhebliche Magen- und
Darmkatarrhe die Phthisis compliciren; wir haben in solchen Fällen die Fovs^-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 823
LER'schen Tropfen vermittelst der subcutaneninjection (Liquoris arsenicalis
Fowleri 0*5 Aquae destillatae o"0, ein- bis zweimal täglich ^2 (^(^^^ einzuspritzen)
angewandt und auch auf diesem Wege oft trettliclie Erfolge erzielt. Die Ge-
fahren der Verfettung des Herzens, der Leber und der Nieren sind bei diesen
kleinen Dosen, auch wenn man sie monatelang gebraucht, kaum vorhanden,
immerhin aber empfiehlt es sich, nach 1—2 monatlicher Anwendung des Ar-
senik eine mehrwöchentliche Pause zu machen.
Welches von den erwähnten Medicamenten man aber auch anwenden
mag, es bleibt die alte Forderung, welche sich in so vielen Fällen bewährt,
zu Recht bestehen, dass man nämlich die Widerstandsfähigkeit
des Körpers gegen die Krankheit möglichst erhöhen soll und
dass man den Patienten unter Bedingungen versetzt, welche
erfahrungsgemäss der Ausbreitung der Erkrankung in den
Lungen entgegenwirken.
Die Widerstandsfähigkeit des Körpers wird hauptsächlich durch die V e r-
besserung des Ernährungszustandes bewirkt. Die Nahrungszufuhr
ist für den Phthisiker einer der wichtigsten Punkte und nicht ohne Berech-
tigung darf man sagen, dass der Lungenschwindsüchtige mehr als
er zur Erhaltung des Körperbestandes gebraucht, zu sich
nehmen soll. Wenn auch die Abzehrung nur eine indirecte Folge der
Lungenkrankheit ist und die Beseitigung der Abmagerung, wenn die Lungen-
krankheit nicht zugleich besser würde, nur von zweifelhaftem Vortheil sein
müsste, so lehrt jedoch die tausendfältige Erfahrung, dass mit der
Besserung der Gesammternährung des Körpers auch die
Lungenkrankheit einen günstigen Verlauf nimmt und dass bei
gutem Körperbestande die locale Lungentuberculosis zur Bindegewebs-
wucherung und Vernarbung mächtig angeregt wird. Der fiebernde
Phthisiker bedarf weit dringender der Nahrungszufuhr als der nicht
fiebernde. Der Ernährungszustand wird mit Hilfe der Waage bestimmt:
sinkt das Körpergewicht, so ist meistens die Erkrankung schlimmer ge-
worden, steigt dasselbe, so liegt eine Besserung vor. Bei der Ernährungs-
frage der Lungenschwindsüchtigen muss man sich erinnern, dass die Ver-
dauungsfähigkeit dieser Kranken in der Ptegel eine recht gute ist und meistens
viel besser, als man nach dem Allgemeinbefinden und der etwaigen gänzlichen
Appetitlosigkeit schliessen sollte. Bei der Auswahl der Nahrungsmittel
hat man zu berücksichtigen, dass ein beträchtliches Vorherrschen der Eiweiss-
körper dem Ansätze von Körpersubstanz keineswegs günstig ist, dass also
die ausschliessliche Fl eise h- und Ei er diät keineswegs die zweck-
mässigste Ernährungsmethode bei der Lungenschwindsucht
bildet. Mit den neuen experimentellen physiologischen Gesetzen der Er-
nährung und des Stoffansatzes steht die alte, auf Erfahrung beruhende Vor-
schrift im Einklang, dass in der Nahrung des Lungentuberculösen Fette und
Fettbildner sehr reichlich vertreten sein sollen. Lifolge dessen geniesst in
der Ernährungsfrage die Kuhmilch die grösste Beachtung. Die Milch,
welche von gesunden Kühen stammt und gekocht sein muss, wird den Pa-
tienten in Form einer Milchcur verordnet. Ziegen- Schaf- und Esels-
milch sind zur Ernährung vorzüglich geeignet. Der Erwachsene muss täglich
IV2— 2 Liter Milch trinken; man muss aber darauf achten, dass der Patient
neben der Milchcur auch andere Nahrung zu sich nimmt, damit er nicht,
trotz der Milchcur, zu wenig Nahrung bekommt. Kranke mit schwacher Ver-
dauungsfähigkeit, welche zu Sodbrennen und Durchfällen neigen, vertragen
die reine Milch oftmals nicht; häufig genügt der Zusatz von Aqua calcis, von
geringer Menge von Natrium bicarbonicum, von Sodawasser, geringen Mengen
von schwarzem Thee oder Kaffee, oft auch von Rhum und Cognac, um die
Anwendung durchzuführen. Hierauf beruht auch die günstig einwirkende
824 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Combination von viel Milch mit Emser Krähnchen, Roisdorfer Wasser oder be-
liebigen alkalischen Mineralwässern. Es empfiehlt sich nach unserer Erfah-
rung, dass man die Kranken zu der Milch Zwieback, Biscuit oder Cakes
nehmen lässt, weil hierdurch die Milch im Magen nicht zu grossen, zusammen-
hängenden Klumpen gerinnt, sondern mehr in kleinen Käsegerinnseln um
die Brotstückchen herum sich lagert. Wenn der Patient die Milch lieber
mit Zuckerzusatz nimmt, so fügen wir reichlich Milchzucker bei, welcher
den Nährwerth der Milch ungemein hebt. Gekochte Milch ist auch des-
halb zu empfehlen, weil sie etwas schneller verdaut wird als rohe Milch,
welche zur Verdauung dreier Stunden bedarf und erst nach vier Stunden den
Magen verlässt. Neben der Milch oder an Stelle der Milch sind auch die
Milchpräparate zu verordnen, von welchen wir mit Vorliebe und zur
vollen Zufriedenheit Lahmann's künstliche Muttermilch^ Lahmaxn's vegetabile
Milch, Voltmer's peptonisirte oder künstliche Muttermilch, Loeflünd's peptoni-
sirte Kindermilch, das BiEDERT'scÄe Rahmgemenge verwerthen. Man muss auch
darauf sehen, dass allen Speisen und Saucen, wenn es nur angeht, möglichst
viel Milch zugesetzt wird.
Molkencuren sind nur wenig geeignet, die Stelle der Milchcuren ein-
zunehmen; wohl erwartet man von ihnen, dass infolge der in den Körper
aufgenommenen Salze und der Wassermenge, gerade wie bei Milch, die
Thätigkeit der Niere und Gedärme angeregt und der Stoffwechsel erhöht wird
und anderseits die Bronchialsecretion vermehrt und der Auswurf erleichtert
erscheint, so dass die Anwendung bei träger Darmfunction und reizbarer
Bronchialschleimhaut mit geringem, zähem Secret gerechtfertigt erscheinen
kann, aber man ist doch mehr und mehr von Molkencuren abgekommen, weil
Molken Milch darstellen, welcher der Butter- und der Käsestoff, zwei Haupt-
nährstoffe, entzogen sind. Viel mehr noch als die Molken ist die saure
Milch zu verordnen, wenn der Magen sie verträgt.
Kumys und Kefir, aus der Milch herstellte Gährungsproducte, sind
durchaus zweckmässig, wenn sie in genügenden Mengen genossen werden; sie
sind nicht zu entbehren, weil manche Patienten reine Milch nicht trinken
können, sich aber sehr gerne zu einer Kumys- oder Kefircur verstehen.
Der allgemeinen Einführung des Kumys steht die Umständlichkeit der
Herstellung bei uns hindernd im Wege. Der echte Kumys besteht aus
Stutenmilch, in welcher durch die Einwirkung von Fermentorganismen
eine saure und alkoholische Gährung hervorgerufen wird; bei der Gährung
wird der grösste Theil des Milchzuckers in Milchsäure, Kohlensäure und
Alkohol gespalten und zugleich das Casein in einen, durch Säure nicht mehr
ausfällbaren, peptonähnlichen Körper verwandelt. Der Alkohol und die Kohlen-
säure, in Verbindung mit dem erübrigten Milchzucker, den Albuminaten und
den Salzen, geben dem Kumys einen angenehmen säuerlichen Geschmack,
sowie eine leicht erregende und nährende Wirkung. Es wird auch Kumys
aus Kuhmilch hergestellt, indem man die Kuhmilch in Gefässe füllt, sie
mit etwas altem eingedicktem Kumys versetzt und zwei Tage lang bei
-j- 18 bis -}- 20" C. gähren lässt; anstatt alten Kumys kann man auch Hefe
verwenden; die Gährung ist viel energischer und frühzeitiger, wenn man auf
ein Liter Milch 1 — 2 Theelöffel voll Zucker hinzusetzt. Der Kuhmilchkumys
ist reicher an Eiweisskörpern als derechte Stutenkumys, der Gehalt an Milch-
säure und Alkohol ist annähernd gleich; je länger die Gährung dauert, um
so ärmer wird der Kumys an Zucker, um so reicher an Alkohol, Milch- und
Kohlensäure.
Aus je 20 Untersuchungen über Stuten- und Kuhmilchkumys habe ich als Mittel
gefunden.
TUBERCULOSIS PULMONUM. 825
in 1000 cf Stutenmilchkumys Kuhmilchkumys
36 Stunden Gührung 36 Stunden, 48 Stunden, 60 Stunden ~
Eiweiss 23-2 38-4; 33-0 28-2
Fett 21-6 23 8 23(J 22 7
Zucker 15'4 17-3 16 2 14-9
Milchsäure 1-8 VAt 2-1 2-8
Alkohol 10-1 10-2 12-4 1400
Kohlensäure 8-7 9-1 93 9-8
Der Kumys ist also durch seinen Eiweiss-, Fett- und Zuckergehalt ein
gutes Nahrungsmittel, durch seinen Milch- und Kohlensäuregehalt, sowie durch
seinen Alkohol ein Genussmittel, er schmeckt angenehm säuerlich, schäumt
wie Champagner und wirkt durch seinen Alkoholgehalt, in grösseren Mengen
genossen, berauschend. Kumys von mittlerer, etwa 24 stündiger Gährungs-
dauer wird am besten vertragen, während Kamys von längerer Gährungszeit
Brennen im Magen und Verstopfung bewirkt. Zur täglichen Portion gehören
1 — 3 Liter, welche leichter vertragen werden, wenn der Kumys auf -|- 25°
bis -\- 30° C. erwärmt ist. Bei Neigung zu Hämoptoe, bei Betheiligung der
Blase und der Nieren an dem tuberculösen Processe, bei Gravidität lässt man
am besten den Kumys bei Seite. Von mir hergestellter Kumys aus Ziegen-,
Esels- und Schafmilch wird sehr gut ertragen und gewährt in erhöhter
Weise alle diejenigen Vortheile, welche man dem Kumys überhaupt nach-
rühmt.
Einfacher als Kumys ist der Kefir herzustellen, indem man in die
j\Iilch Kefirkörner bringt, welche, aus linsengrossen Gebilden, aus Hefezellen
und fadenförmigen Bacillen bestehend, in der Milch zunächst aufquellen und
eine Alkohol- und Milchsäuregährung hervorrufen: das Casein der Milch geht
zugleich in eine peptonähnliche Modification über; die Milch wird mit den
Kefirkörnern in eine Flasche gefüllt, gut verschlossen und bei einer Tem-
peratur von -|- 20° C. 48 Stunden lang der Gährung überlassen; die Flasche
muss wiederholt umgeschüttelt werden. Im Durchschnitt enthält der zwei-
tägige Kefir, welcher säuerlich schmeckt und riecht und grossblasig schäumt,
neben Kohlensäure, 2% Zucker, 0-9°/o Milchsäure und O'S^/o Alkohol; der
Kohlensäuregehalt schwankt sehr. Der Kefir ist infolge dessen ein Nahrungs-
und Genussmittel und wird zumeist sehr leicht ertragen.
Bei der Ernährungsfrage, soweit es sich um die Fette handelt, ist der
Leberthran zunächst zu erwähnen. Um eine Wirkung zu erzielen, muss
der Leberthran in grossen Mengen, 4—6 Esslöffel täglich und monatelang,
genommen werden; es lässt sich dann nicht verkennen, dass das Oleum jecoris
aselli auf die Ernährung, die Kräfte und die locale Lungenerkrankung eine
gute und bessernde Wirkung ausübt. Wenn Appetitlosigkeit oder Durchfälle
sich einstellen, muss man mit der Verabreichung aussetzen. Die Verdaulich-
keit des Leberthranes soll durch den Zusatz einer geringen Dosis Strychnin
befördert werden; sie soll auch durch Hinzufügen von einigen Tropfen Aether
gesteigert werden, zugleich wird der Geschmack verbessert. Als Ersatz des
Leberthrans, welcher einen grossen Widerwillen und unüberwindlichen Eckel
durch seinen Geruch und Geschmack einflössen kann, dient bei Schwind-
süchtigen auch das Lipanin. Man hat auch versucht, dem Leberthrane
seinen Geruch und Geschmack durch besondere Zubereitung zu nehmen.
Es scheint, dass im Allgemeinen die dunkleren Sorten besser und länger ver-
tragen werden als die helleren. Recht brauchbar ist der von Standtke ein-
geführte wohlschmeckende Leberthran, welcher durch Zusatz ätherischer Oele
sehr leicht zu nehmen ist.
Demselben Zwecke, welchen das Oleum jecoris aselli zum Ziele hat,
streben die Verordnungen von Butter, Schmalz, Rahmgemenge,
Olivenöl, Glycerin, Mandelöl zu. Erlaubt der Verdauungsapparat die
reichliche Fettzufuhr, so können alle Speisen möglichst fettreich zubereitet
826 TUBERCULOSIS PULMONUM.
werden. Leicht resorbirbar ist auch das Fett der Kraftchocolade, nach
V. Meeing's Angaben von Rueger hergestellt; sie ist ein wohlschmeckendes
Nahrungs- ii. Genussmittel und enthält 21"/o Fett, welches nach Versuchen im
Darmcanal ohne alle Beschwerden so vollständig ausgenützt wird, dass nur
V20 durch den Koth ausgeschieden wurde.
Die Kohlenhydrate können dem Patienten in jeder Weise zugeführt
werden. Mehlspeisen aller Art, Brod, Kartoffeln, Hülsenfrüchte,
mehlhaltige Suppen, zuckerhaltige Speisen, wenn möglich mit viel Milch und
Fett zubereitet, lassen eine reiche Auswahl zu und gestatten, dass der Arzt
seine Vorschriften dem einzelnen Individuum anpasst. Besonders gepriesen
— und mit Recht — sind die Suppen aus grob gebeuteltem Roggen-
mehl, aus Linsen-, Reis- und Bohnenmehl hergestellt. Je feiner im
allgemeinen die Getreidemehlpräparate vermählen sind, um so
leichter sind sie den Verdauung s saften zugänglich. Die Industrie hat,
von diesem Gedanken ausgehend, eine stattliche Anzahl sehr guter Präparate
in den Handel gebracht; andere Nährpräparate sind dadurch viel
verdaulicher gemacht, dass ein grosser Theil ihres Stärkemehles
bereits in das erste Verdauungsproduct, das Dextrin oder selbst schon
in Zucker übergeführt ist. Die sehr fein vermahlenen Mehle aus Gerste
und Hafer sind in guter Weise repräsentirt durch die WEiBEZAHN'sche und
KNORR'sche Nährpräparate, welche, fast gleich zusammengesetzt, neben ll°/o
Eiweiss 7% Fett und 71 "/o Kohlenhydrate enthalten; sie eignen sich beson-
ders zu Suppen (100^ Mehl auf 1 Liter Wasser gekocht) unter Zusatz von
Salz, Zucker und Butter, Fleischpepton oder Bratensauce, und werden auch
bei der fiebernden Tuberculosis pulmonum, bei Magen-Darmkatarrhen und
Peritonitis sehr gut ertragen. Bei beträchtlichen Durchfällen empfiehlt
sich das KisroßR'sche Reismehl als Suppe, bei grosser Neigung zu Flatu-
lenz lässt man am besten die Hafermehlsuppen bei Seite. Maizena, Monda-
min, welche fein präparirtes Maismehl darstellen, Arrow-root, weichesaus
dem Mark der Pfeilwurzel gewonnen wird, bilden zweckmässige Erweiterungen
des Diätzettels, sie stehen jedoch, weil sie neben 85% Stärkemehl nur 0*9 bis
l-57o Eiweiss enthalten, den KisroRR'schen und WEiBEZAHN'schen Mehlen nach,
welche auch so behandelt sind, dass ein grosser Bruchtheil, nämlich ungefähr
V4 ihres Stärkemehles, schon in Dextrin übergeführt ist. Im KuFEKE'schen
Mehl ist fast alles Stärkemehl schon in das Dextrin übergeführt. Sehr gerne
machen wir auch von den sogenannten Kindermehlen in Suppen- oder
Breiform Gebrauch, welche sehr reich an Kohlehydraten sind und zugleich
beträchtliche Eiweissm engen enthalten; so besteht das bekannteste Kindermehl,
das NESTLE'sche aus 77% Kohlehydraten, 5% Fett, 11 7o Eiweiss und 2%
Salzen. Aehnlich sind die Kindermehle von Rademann, Frerichs und
Gerber zusammengesetzt.
Die Nachtheile, welche den Hülsenfrüchten, Erbsen, Bohnen,
Linsen, selbst wenn sie durch Durchseihen von ihren Hülsen befreit sind,
anhaften und welche sich vorwiegend durch starke Gasentwicklung infolge
von Gährung im Darmcanal äussern und dadurch den Kranken schwer he^
kömmlich sind, schalten die Leguminosenpräparate aus; es sind aus den
Hülsenfrüchten hergestellte Mehle, deren feine Vermahlung den Verdauungs-
säften kein Hindernis in den Weg legt. Am meisten Verwendung finden die
HARTENSTEiN'schen und Paul LiEBE'schen Leguminosen, welche in verschie-
denen Mischungen käuflich sind. Die HARTENSTEiN'schen Präparate sind in
4 Mischungen vorhanden; die Nr. 1 enthält neben 27% Eiweiss 1% Fette
und 2% Salze, 6 2^0 Kohlehydrate mit 13% Dextrin und Zucker. In den
Nummern II, III und IV steigt der Gehalt an Kohlehydraten, während der
Eiweissprocentsatz abnimmt. Neben diesen Leguminosensorten, deren Verab-
reichung in der Form von Suppen mit Zusätzen von Bratensauce und Fleisch-
TUBERCULOSIS PULMONU^I. 827
extract geschieht, wenden wir Kxorr's Bohnenmehl mit 23^0 Eiweiss,
l7o Fetten und 597o löslichen Kohlenhydraten an, ferner Kxokr's Erbsen-
und Linsenmehl, ebenfalls in Suppenform. Maggi's Leguminosen,
von welchen zwei Arten fabricirt werden, nämlich die magere Mischung mit
20% Eiweiss, 2% Fett und 62% Kohlenhydraten und die fettere Mischung
mit 23% Eiweiss, 7% Fett und 53% Kohlenhydraten, sowie die TniPE'sche
Legurainose mit 21% Eiweiss, 2% Fett und 59% Kohlenhydraten sind
gute Präparate. Aus den Leguminosen hergestellt ist die Maltolegumi-
nose; durch den Zusatz eines Malzinfuses wird ein Theil des Stärkemehles
in Dextrin und Zucker übergeführt. Die Maltoleguminose mit 20*5% Eiweiss,
1% Fett, 3% Salzen und 657o Kohlenhydraten ist nach unserer Erfahrung
leicht verdaulich und wird sehr gut im Verdauungscanal ausgenützt.
Des Gehaltes an Kohlehydraten wegen berücksichtigen wir auch die
verschiedenen Cacao Sorten, welche im entölten Zustande durchschnittlich
10 — 207o Stärkemehl neben 10 — 15% Eiweiss enthalten; das Oel der Choco-
lade, welche 30 — 50% Fett enthält, eignet sich für die Verdauung nicht, es
wird im Allgemeinen schlecht vertragen, gerade deshalb sind die entölten
Cacaosorten vorzuziehen. Die scharfen Gewürze der sogenannten Gewürz-
chocoladen machen die Verdauung der ölreichen Sorten leichter.
Einen beträchtlichen Nährwerth haben die Malz extract e, welche in
den verschiedensten Sorten der Therapie zugänglich sind; jedoch verdienen
sie ihren Ruf mehr als Unterstützungsmittel einer rationellen Ernährung, weil
es kaum möglich ist, so grosse Portionen Malzextract zu sich zu nehmen,
um einen erheblichen EinÜuss auf den Ernährungszustand auszuüben. Das-
selbe gilt von den Verordnungen einer Trauben cur. Der Gehalt an
Albuminaten und Zucker ist zu gering, als dass man einen grossen Erfolg
zu erwarten hätte. Wenn aber grosse Mengen Trauben genossen werden, so
erzeugt der Traubensaft reichliche und vermehrte Darmentleerungen, so dass
auf diesem Wege dem Körper noch Ernährungsmaterial entzogen werden
könnte. Wir pflegen deshalb Traubeneuren, wenn der Magen-Darmcanal es
überhaupt zulässt, nur dann zu verordnen, wenn der Kranke neben seiner
gewöhnlichen Nahrung noch Trauben in relativ grossen Mengen gemessen
kann, oft auch gebrauchen wir das W^ort Traubencur weniger der Trauben
wegen, als vielmehr des Aufenthaltes in frischer Luft wegen.
Um den Stickstoffbedarf des Körpers zu decken, stehen in der
Ernährungsfrage des Lungenschwindsüchtigen uns die verschiedensten Fleisch-
sorten zu Gebote. Als besonders leicht verdaulich gelten die weissen
Fleischsorten, welche wir im Kalbfleisch, jungen Geflügel, in den fettarmen
Fischen, wie Forellen, Hecht, Schellfisch, Zander, Barsch, vertreten sehen.
Die rothen Fleischsorten sind etwas schwerer zu vertragen, die Mitte
nehmen die Wildpretarten ein. Was die Zubereitung anbelangt, so ist es
besser, die Fischsorten gesotten, das Fleisch gebraten zu verabreichen. Das
Ochs'enfleisch und das Wildpret sind am leichtesten blutig gar gebraten
zu verdauen, Kalbfleisch ist stärker durchzubraten. Je feiner die Fleisch-
speisen vertheilt sind, umsomehr sind sie ihrer Verdaulichkeit wegen zu
empfehlen. Roh geschabtes oder fein gemahlenes Fleisch, auch als Beefsteak
gebraten, roh geschabter und fein gehackter; gekochter, zart gesalzener
Schinken, Fleischpuree werden auch von den empfindlichsten Verdauungs-
organen aufgenommen. Unter allen Bedingungen muss man aber den so-
genannten „Haut gout" vermeiden; zwar soll das Fleisch einige Tage alt
sein, weil dasselbe durch das mehrtägige Aufbewahren an Zartheit gewinnt,
aber es darf in der Verwesung nicht zu weit fortgeschritten sein. Während
die Fleischbrühe nur als Genuss- und Anregungsmittel in Frage kommt,
bringen Fleischbouillon und Beef-tea wirkliche Nahrung. Bei stark
fiebernden Patienten oder bei Kranken mit sehr geschwächter Verdauungs-
828 TUBERCULOSIS PULMONUM.
energie verwenden wir sehr gerne die LEUBE-RosENTHAL'sche Fleischsolution,
das KocHs'sche und KEMMEßicn'sche Fleischpepton, das ANTWEiLEß'sche
Albumosenpepton, das pulverförmige Pepton von Weyl - Merck aus dem
Casein der Milch durch Digeriren mit Magensaft hergestellt, das ÜENAiER'sche
flüssige Pepton, das Peptonum siccum Witte, die aus der Milch hergestellten
Präparate Eucasin und Nutrose sowie die aus Fleisch gewonnene Somatose.
Die viel angewandten Gallerten, aus pflanzlichen und thierischen Sub-
stanzen gewonnen, haben in Wirklichkeit nur einen geringen Nährwerth,
sie besitzen jedoch die Eigenschaft, statt des circulirenden Eiweisses sich zu
zersetzen und dadurch dieses zu ersparen und auch den Untergang an
Organeiweiss zu beschränken, sowie zugleich die Zerstörung eines kleinen
Theiles des Fettes im Körper, aufzuheben; dagegen vermögen sie nicht, Organ-
eiweiss zu bilden und zum Aufbau des Körpers beizutragen. Infolgedessen
verwerthen wir die leimh altigen Speisen nur als angenehme Ab-
. wechselung oder wir verleihen ihnen einen grösseren Werth, wenn wir zu
den Gelees besondere Zusätze machen. Es empfehlen sich sehr Einlagen, als
Zusätze zu den Gelees von Fleisch, Geflügel, Fischen, sowie Gelees mit Wein
und Cognac.
Nicht zu entbehren in dem Speisezettel der Lungenkranken sind die
Eier von Hühnern, Enten, Gänsen. Hauptsächlich kommen die Hühnereier
in Betracht, welche dieselben anorganischen und organischen Bestandtheile
wie das Fleisch und auch in ähnlichen Verhältnissen enthalten, sie sind nur
weniger salzhaltig. Ein Hühnerei entspricht an Nährwerth ungefähr 40 g
Fleisch. Am zweckmässigsten gibt man die Eier, 3—5, neben der anderen
Nahrung, weichgekocht oder in Fleischbrühe verrührt; auch das rohe Ei mit
Cognac, Wein oder Zucker vermengt, ist leicht zu verdauen, während die
hartgekochten Eier schwer verdaulich sind.
Die alte Erfahrung, dass der Phthisiker meistens viel mehr verdauen
kann, als es den Anschein hat, findet ihre Bestätigung in den guten Erfolgen,
welche ich bei der Mast cur, der Playpair- Weik-Mitchell' s c h e n Methode
erzielt habe. Die Nahrung&zufuhr ist eben das AUernothwendigste für den
Schwindsüchtigen. Die Mastcur eröffne ich stets mit einer reinen Milchcur,
welche mit IV2 Liter pro Tag beginnend, innerhalb 14 Tagen auf 2V2
bis 3 Liter ansteigt. Ist dieses Maass erreicht, so wird neben dieser Milch-
menge feste Nahrung der verschiedensten Form eingeschoben. Die Cur
selbst fordert absolute Bettruhe und wird mit Massage und Elektricität ver-
bunden. Gelingt es nicht, dem Kranken die nothwendige oder vielmehr
überreiche Nahrungsmenge einzuführen, so tritt die Ernährung vermittelst
der Schlundsonde, die Alimentation forcee, die Ueberernährung in
ihr Recht: mehrmals täglich giesse ich den Patienten 72—^/4 Liter Milch, in
welcher 2—3 rohe Eier fein vertheilt sind, mittelst der Magensonde ein; ich
empfehle auch Suppen aus fein vertheiltem Mehle unter Eierzusatz oder mit
Fleischpulver mehrmals täglich; nicht minder gut sind Rahmgemenge mit
Somatosezusatz, Leguminosensuppen mit 50 g Butter und Peptonen; auch
hier ist die Abwechselung in der Verordnungsform zu beherzigen. Es ist
überraschend, selbst bei decrepiden Phthisikern zu finden, dass nicht nur sehr
grosse Mengen von Nahrung in dieser Weise einverleibt, glatt und ohne Be-
schwerden verdaut werden, sondern dass selbst beim fiebernden Phthisiker in
kurzer Zeit mit der Zunahme des Körpergewichtes die Kraft sich hebt, und
subjectiv wie objectiv eine merkbare Besserung eintritt. Wiederholt habe ich
als Folge der Uebernährung eine passive Magenerweiterung bei sehr
schwachen Personen entstehen sehen, ohne dass aber diese schlaffe Dila-
tation störend gewirkt hätte. In besonders zwingenden Fällen ziehen wir
auch die ernährenden Klystiere zur Unterstützung der Ernährung
heran und geben mit besonderer Vorliebe die Nähr klystiere von Boas,
TUBERCULOSIS PULMONUM. 829
welche 250 g Milch, 2 Eidotter, 1 Th,eelöffel Kochsalz und je einen Esslöjfel
Bothivein und Kraftmehl enthalten; auch Pepton- und Somatoseklystiere
(20 (j auf 100 g lauwarmen Wassers), Eierklystiere mit Zusatz von etwas
Salz (1 g auf das Ei), wodurch die Resorption der Eier erheblich gesteigert
wird, peptonisirte Milchldystiere, Nährklystiere aus Oleum Olivarum oder
Oleum jecoris aselli, 30 — 50 g mit einigen Esslöffeln einer ü-3%igen Soda-
lösung geschüttelt, können die Mastcur unterstützen. Die Nährmasse wird
nach vorheriger Application eines Reinigungsklystieres durch ein weiches,
hoch eingeführtes Darmrohr langsam eingeführt und hat am besten eine Tem-
peratur von -f- 34 bis -f- 35" C.
Der Alkohol nimmt in dem Abschnitte der Behandlung des Schwind-
süchtigen eine hervorragende Stelle ein. Seinen Ruf verdankt er seiner
Eigenschaft als Spar mittel; durch den Alkohol wird weniger Eiweiss und
Fett im Körper zersetzt, die Stoffwechselproducte im Harn sind vermindert;
selbst wenn bei fiebernden Patienten gar keine Speisen vom Magen ertragen
werden, gelangt der Alkohol in Verdünnung noch zur Resorption und ver-
zögert den Verfall des Körpermaterials; der Alkohol steigert nicht die
Temperatur, trotzdem er das Gesicht röthet, sondern setzt die Körper-
wärme herab, er regt das Herz zu ergiebiger Thätigkeit an und steigert bei
manchen Patienten, in kleinen Dosen genommen, den Appetit und die Secretion
der Verdauungssäfte. Von mancher Seite wird dem Alkohol ein unmittelbarer Ein-
fluss auf die locale Lungentuberculosis zugeschrieben, indem der Alkohol zum
Theil durch die Lungen verdunstet und daselbst, ähnlich wie in der Leber
und Niere, eine bindegewebige Wucherung anregen soll, welcher Process die
Vernarbung des tuberculösen Heerdes bedeutet. Beweisen lässt sich diese
Theorie nicht, zumal schon aus dem Grunde nicht, weil nach unseren Ver-
suchen nur ein sehr geringer Bruchtheil des eingenommenen Alkohols durch
die Lungen den Körper verlässt. Als Schlafmittel geniesst mit Recht der
Alkohol Ansehen, ebenso als Mittel gegen Nachtschweisse. Auch Nach-
theile haften ihm an, da ist vor allem die Thatsache, dass er das Nerven-
system empfindlicher Personen ungemein schädigt und dass er die Hyperämie,
die Secretion der Luftröhrenschleimhaut und deshalb den Husten steigern
kann; bei Neigung zu Haemoptoe, bei Herzfehlern und Habitus apoplecticus
lässt man den Alkohol bei Seite. Als besonders geeignete Träger des Alkohols
bieten sich die W e in e dar und unter ihnen die Bordeauxweine, Burgunder- Ahr-
und Rheinweine, Champagner, dann auch Sherry, Madeira und Malaga. Von
den Biersorten sind es die stark gehopften Biere, wie Pilsener, Dort-
munder, die nahrhaften Biere, wie Stout, bayerisches Bier, Malzbier, Kraft-
bier und die alkoholreichen Biere Porter und Ale, welche meistens mit Vor-
theil angewandt werden. In der Abtheilung der Branntweine steht obenan
der Cognac, mit demselben Rechte wendet man reinen Kornbranntwein,
Tresterschnaps, Kirschwasser an. Dass auf diesem Gebiete der Phthisis-
therapie vor den Schäden des Alkoholmissbrauches ebenso dringend zu warnen
ist, wie bei dem gesunden Menschen, bedarf kaum der Andeutung. Vielfach
lässt sich der Alkohol mit anderen Nahrungsmitteln vereint nehmen, so Milch
mit Cognac, Ei mit Cognac oder Wein, Frucht- und Mehlsuppe mit Wein,
Biersuppe mit Ei und Mehl, Gelee mit Wein oder Cognac.
Endlich wird die reichliche Ernährung dadurch erheblich unterstützt,
dass der Patient sich jeder angreifenden körperlichen und geisti-
genArbeit enthält, dass er regelmässig lebt, früh zu Bette geht, nicht zu
frühe aufsteht und dass er überhaupt möglichst viel liegt.
Wenn es nun auf dem Wege der Ernährung gelingt, die gesammte Wider-
standsfähigkeit des Körpers gegen die tuberculöse Lungenkrankheit zu heben
und zu festigen, so ist die zweite Aufgabe, die Patienten unter solche
Bedingungen zu versetzen, welche der Ausbreitung der Erkrankung in den
830 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Lungen entgegenwirken, nicht minder schwer. Die kranke Lunge muss durch-
aus vor der Einwirkung neuer Schädlichkeiten geschützt werden. Dieses ge-
schieht dadurch, dass den Lungen die beste und zuträglichste Luft
zugeführt wird und dass der Körper gegen die unvermeidlichen
Wetterschwankungen abgehärtet wird. Auf diesem Gebiete kann der
Kranke selbst sehr viel für seine Gesundheit thun, denn, wo er auch sein
mag, er muss zweckmässig und vorsichtig leben. Zunächst muss er alles das-
jenige meiden, was eine unregelmässige Lebensweise bedingt; der
Lungenschwindsüchtige, auch wenn es die allerersten Anfänge der Erkrankung
sind, welche ihn befallen haben, gehört nicht in das Theater mit seiner
schlechten Luft, nicht in den überhitzten, zugigen Concertsaal, ebenso-
wenig in die mit Rauch angefüllten Bier- und Weinhäuser und schlecht
ventilirten Arbeitsstätten und Bureauräume; die Berufsarten, welche mit Staubent-
wickelung verbunden sind, oder anstrengendes Sprechen und Singen verlangen,
sind ebenso dringend zu meiden, wie es die Prophylaxe für den Schwindsuchts-
candidaten gebieterisch fordert. Der Lungentuberculöse muss früh zu Hause
sein, er kann nicht spät abends oder gar in der Nacht noch auf der Strasse
weilen. Bei schlechtem, rauhem Wetter bleibt er am besten zu Hause, in den
windstillen, warmen Stunden muss er im Freien sein. Gegen die Unbilden
des Klimas schützt er sich durch passende Kleidung, welche der Jahreszeit
entspricht, und durch Abhärtungen der Haut mit kalten Abwaschungen und
Uebergiessungen, sofern die Lungenerkrankung im ersten Stadium ist und
keine Neigung zu Haemoptoe besteht, Maassregeln, welche wir bei den Vor-
beugungsprincipien der Tuberculosis pulmonum schon besprochen haben. Den
Unbilden des Winters zu entgehen, hält sich der unbemittelte Kranke
am sichersten in seiner Wohnung oder noch besser im Krankenhause auf, wo
Tag und Nacht im grossen Zimmer die Luft gleichmässig erwärmt sein kann
und durch Ventilation stets neue Luft zugeführt wird. Viel günstiger ist der
begüterte Patient gestellt, wenn es sich darum handelt, ihn dahin zu
versetzen, wo er den grössten Theil des Tages im Freien sein kann, ohne
dass die ungünstigen Witterungseinflüsse ihm Schaden bringen. Mit Recht
rühmt man in den meisten Fällen den klimatischen Curorten einen grös-
seren Werth nach, als der medicamentösen Behandlung der Lungentuberculöse.
Die klimatischen Curorte helfen am besten dann, wenn die Krank-
heit sich erst in den Anfangsstadien befindet; bei ausgedehnter Cavernenbildung
und sehr weit vorgeschrittener Infiltration mit raschem Kräfteverfall kann
man eine volle Heilung auch von diesen Curorten im Allgemeinen nicht mehr
erwarten, wohl aber findet man oft selbst in sehr traurigen Fällen doch noch
beachtenswerthe gute Fortschritte und temporäre Stillstände. Sehr schwer
erkrankte, fast moribunde Patienten hält man am zweckmässigsten zu Hause.
Kranke, welche über -f 38-5° C. fiebern, soll man auch nicht wegschicken,
sondern so lange in das Bett legen, bis das Fieber schon längere Zeit ver-
schwunden ist. Beider Bestimmung des Curortes thut man seine Pflicht,
wenn man auch den leicht Erkrankten darauf aufmerksam macht, dass wahr-
scheinlich der einmalige Aufenthalt im Curort nicht genügen wird, um die
Krankheit vollständig zu heilen oder erheblich zu bessern; selbst der ganz
leicht erkrankte Phthisiker und der der Lungentuberculöse nur Verdächtige
sind in 3 — 4 Monaten nicht geheilt.
Was nun die Klimatotherapie anlangt, so glauben wir nicht
an die Immunität der gepriesenen Curorte, wohl geben wir zu, dass es
überall Zonen gibt, wo bisher keine Schwindsucht vorgekommen ist, aber mit
dem Menschen und dem Verkehr zieht auch die Lungentuberculosis überall
ein. Auch in Davos erkranken Eingeborene an Schwindsucht und Scrophulosis.
Wir setzen aber hierdurch den Werth der Klimatotherapie nicht herab, sondern
erkennen ihn voll und ganz an, nur suchen wir die Erklärung in anderen
TUBERCULOSIS PULMONUM. 831
Punkten. Das Hauptpostulat, welches wir an alle Curorte stellen, ist die
Forderung, dem Kranken zu gestatten, viel mehr als er dieses zu Hause
durchführen kann, sich in frischer Luft und in der Sonne aufhalten zu
können; die Luft muss möglichst staubfrei sein, die hygienischen Anlagen des
Curortes müssen gutes Trinkwasser und gute Abfuhr der menschlichen Fäcal-
massen sichern. Im Allgemeinen passen die Höhen curorte mehr für re-
lativ kräftiger constituirte Patienten, während bei schwächlichen
und zarten Kranken, welche gegen Temperaturwechsel und namentlich
gegen die Kälte sehr empfindlich oder welche schon erheblich erkrankt sind
oder von heftigen Bronchialkatarrhen begleitet werden, mehr die südlichen
Curorte zu empfehlen sind. Patienten mit wiederholter Haemoptoe eignen
sich nicht für das Höhenklima. Den Höhencurorten muss man eine Anregung
häufiger und tieferer Athemzüge mit vermehrter, aber erleichterter und er-
giebigerer Muskelaction zugestehen. Die Theorie, dass in den hochgelegenen
Curorten die peripheren Blutgefässe durch den verminderten Blutdruck
erweitert, die Circulation in ihnen erleichtert und dadurch die inneren Organe,
also auch die Lungen, entlastet würden, ist nicht bewiesen. Es mag aber
sein, dass durch die erhöhte Athmungsgrösse und durch die geringere Span-
nung der Gase der Gaswechsel des Blutes im Höhenklima vermehrt wird.
Die grössere Athemübung, die energischeren Muskelbewegungen beim
Gehen und Steigen, der dadurch angeregte grössere Appetit und die bessere
Ernährung sind wesentliche Erklärungsmomente für die heilkräftige Einwirkung
des Höhenklima. Das Höhenklima gestattet den Aufenthalt in frischer Luft
durch die unmittelbare Einwirkung der Insolation, welche so wirksam ist,
dass das Thermometer im Schatten unter dem Gefrierpunkt stehen kann,
während es an den der Sonne direct ausgesetzten Orten -[- 20*^ C und mehr
zeigt; der Höhenort hat auch viel mehr sonnige Tage als das Tiefland.
Die Schneedecke der Höhencurorte, welche den ganzen Winter hindurch
die Strasse bedeckt, hält die Luft staubfrei; möglich ist auch, dass die
Kälte nach Sonnenuntergang die Tuberkelbacillen und ihre Sporen, welche
sich der Luft beimischen könnten, vernichtet. Den Werth der Cur-
orte entscheidet bei den einzelnen Kranken ausserdem auch der Feuch-
tigkeitsgehalt. Die feuchte Luft, welche die Lungen- und Hautathmung
herabsetzt, bewirkt vermehrte Absonderung der Schleimhäute, wodurch der
Hustenreiz gemildert und der Husten erleichtert wird. Die trockene Luft
vermindert die Secretion der Luftröhrenschleimhaut und vermehrt oft den
Hustenreiz. Die hochgelegenen Curorte haben im Allgemeinen eine trockene
Luft. Bei allen Curorten beruht ein nicht unwesentlicher Theil
der Erfolge darin, dass der Kranke durch die Entfernung von Hause auch
seinen BerufsverÜichtungen entzogen wird, im Ganzen viel vorsichtiger und
vernünftiger lebt und nicht durch gesellschaftliche Verpflichtungen seiner
Gesundheit unmittelbar Schaden zufügt.
Bei der Auswahl der Curorte sind die allgemeinen Ernährungs- und
Picactionsverhältnisse der Kranken ebenso zu beachten, wie die locale Er-
krankung der Lunge selbst. Kranke mit grosser Neigung zu Husten, mit
Hustenreiz, mit Neigung zu Haemoptoe, mit sehr leicht erregbarer Herzthätig-
keit, passen im Allgemeinen in die gleichmässig warmen, mehr feuchten,
niedrig gelegenen Curorte. Madeira, Algier, Tenerifia, Catania, Palermo, Pisa,
Venedig, Spezia, Rom, Ajaccio, Malaga, Malta sind die Hauptrepräsentanten.
Zu den trockenen Klimaten zählen wir: Cannes, Hyeres, Mentone, Nervi,
Nizza, Bordighera, Pegli, San Remo, Ospidaletti, Oberägypten mit Luxor, die
Insel Elephantine, Montreux. Unter den klimatischen Curorten des
Südens sind als noch viel besucht anzuführen: am Südabhange der Alpen
Arco in Südtirol, Aussee, Bormio, Cadenabbia am Como See, Gardone-Riviera
am Gardasee, Gries, Locarno, Lugano, Pallanza, Ciarens, welche sowohl im
832 TUBERCULOSIS PULMONUM.
Frühjahre und Herbste, als auch im Winter mit Vortheil besucht werden. Von
den Winterstationen des südlichen Frankreichs, den Küsten und
Inseln des Mittelmeeres, fügen wir ausser den schon erwähnten Namen
an: Abbazia, Alasio, Capri, Lussinpiccolo, eine der zu Istrien gehörigen quar-
nerischen Inseln. t)ie Höhenklimate haben ihre vornehmsten Vertreter
in Davos-Platz, 1556 m über dem Meere und Davos-Dörffli, 1562 m über dem
Meere, im Canton Graubünden, Andermatt am Fusse des Gotthard mit 1444 m,
Arosa in Graubünden, 1850 m hochgelegen, Samaden, ebenfalls in Graubünden,
1740 m hoch. Als deutsche Winterstationen kommen in Betracht:
St. Andreasberg, Baden-Baden, St. Blasien, Falkenstein, Görbersdorf, Honnef,
Reiboldsgrün, Soden, Wilhelmshöhe, Wiesbaden,
Eine besondere Gruppe' unter den klimatischen Curorten bilden die
geschlossenen Anstalten, deren älteste, Görbersdorf in Schlesien,
557 m hoch und Falken st ein im Taunus, 450 m hochgelegen sind. Die Haupt-
erfolge dieser Anstalten beruhen auf der sorgfältigen Ueberwachung der Magen-
und Darmverhältnisse, der vorzüglichen Verpflegung, den Abhärtungsbestrebun-
gen, dem reichlichen Aufenthalt in frischer Luft, und der Beschützung der Patien-
ten vor Excessen jeder Art. Hohenhonnef bei Honnef, Inselbad bei Pader-
born, Königstein im Taunus, Reiboldsgrün in Sachsen schliessen sich diesen
beiden geschlossenen Anstalten würdig an.
Sowie aber für die Lungenschwindsüchtigen ein Wintercurort nothwendig
ist, so muss man auch im Sommer dafür sorgen, dass nicht grosse
Hitze dem Kranken schade, dass er trotz der Hitze fast den ganzen Tag
im Freien sein kann und vor Staub geschützt ist. Aus der Unzahl der
Sommerfrischen heben wir nur: Aussee, Beatenberg, Berchtesgaden, St. Bla-
sien, Brennerbad, Eisenach, Engelberg, Friedrichsroda,Gernsbach, Gersau, Herren-
alb, Illmenau, Ischl, Jugenheim, Kreut, Madonna di Campiglio, Partenkirchen,
Reichenhall, Reinerz, Suderrode, Toblach, Triberg, Weggis, Wernigerode hervor.
Auch die einfachen Ländaufenthalte mit guter Wohnung und Ver-
pflegung, guten Wegen und Waldbestand erfüllen den erstrebten Zweck meistens
vollständig.
Der Aufenthalt an der Seeküste und die Seereisen wurden schon
im Alterthum als Heilmittel gegen die Phthisis pulmonum warm empfohlen.
In der neuen Zeit erfährt das Seeklima wieder eine grössere Beachtung. Die
Vortheile, welche das Seeklima bietet, sind im Allgemeinen eine mehr gleich-
massige Temperatur, ähnlich wie das Waldklima, indem der Sommer kühler
und der Winter weniger kalt ist als das Binnenklima; die Tagesschwankungen
sind gering; die Luft ist freier von Staub und Bacillen; kaum von der Küste
entfernt, ist die Zahl der Bacillen in der Luft über dem Meere ungemein ver-
mindert und bald erscheint die Luft gänzlich frei von staubigen Beimischungen
und Mikroorganismen; der höhere Feuchtigkeitsgehalt und die Beimischung
von Kochsalz zu der Luft vermehren und erleichtern den Auswurf, die Esslust
ist gesteigert und mit ihr der Stoffwechsel erhöht. Am vollkommensten kommen
die Factoren zur Geltung bei einer längeren Seereise auf einem Segelschiffe,
dessen Luft nicht durch den Rauch der Dampfschiffe verunreinigt wird. Für
das Seeklima sind am geeignetsten die Patienten mit beginnender Phthisis,
welche an ihrer Körperkraft noch keinen erheblichen Schaden gelitten haben.
Ob der geringe Jod- und Bromgehalt der Seeluft einen wirksamen, antisep-
tischen Einfluss auf die Luftröhre und die Lungen ausübt, ist schwer zu
entscheiden.
Als allgemein giltig fügen wir der Klimatotherapie noch die drin-
gende Forderung hinzu, keinen Patienten in einen der erwähnten
Curorte, welche fast ausschliesslich von Tuberculosen besucht werden, zu
senden, in dessen Sputum dieTuberkelbacillen nichtnachgewiesen
werden konnten oder bei dem nicht offenkundige, objective Symptome der
TUBERCULOSIS PULMONUM. 833
Lungenschwindsucht vorliegen. Nicht minder unrichtig ist es, gesunde
Familienmitglieder zur Begleitung mitzuschicken, weil man doch
gerade bei ihnen eine grössere Disposition für die tuberculöse Infection vor-
aussetzen muss. Wir haben wiederholt gesehen, dass junge, kräftige
Personen, welche erkrankte Familienangehörige begleiteten, mit frischen
Inliltrationserscheinungen behaftet heimkamen, während der Kranke selbst
gebessert zurückkehrte.
In den klimatischen Curorten werden die Heilbestrebungen vermehrt
durch eine zweckentsprechende, reichliche Ernährung, durch metho-
dische Körperbewegungen und Athemübuugen, durch die Anwendung
von Bädern lauwarmer und kühlerer Art, kalte Abwaschungen, Abreibungen,
Douchen, welche insgesammt die Haut abhärten, die Hautathmung erhalten
und verbessern und den Stoffwechsel anregen sollen. Die pneumatische
Therapie, welche in manchen Curorten angewandt wird, besteht hauptsäch-
lich in der Anwendung von comprimirter Einathmungsluft. Wir halten für
eine solche Behandlung nur diejenigen Patienten geeignet, welche sich in dem
allerersten Stadium der Erkrankung befinden und bei welchen noch keine
Versch wärungen vorliegen; gerade wie forcirte Lungengymnastik, Sport-
bestrebungen, Bergbesteigung, körperliche Anstrengungen eine Haemoptoe ver-
ursachen können, so hat auch die pneumatische Behandlung solcher Patienten,
welche erhebliche, frische Infiltrations- und Cavernenbildung bereits in sich
tragen, zu gewärtigen, dass durch die Zerrung der ulcerirten Lungenabschnitte
Blutungen sich einstellen; vielfach aber beginnt mit einer neuen, ergiebigen
Haemoptoe ein rasches Fortschreiten der Erkrankung.
Nicht zu übersehen ist endlich auch die psychische Therapie, zumal
wenn der Patient in einen Curort geschickt wird. Es gibt keine Patienten,
welche ihre Erkrankung weniger beachten, als die Lungenschwindsüchtigen
und es ist viel Wahres an der alten Erfahrung, dass viel mehr Schwindsüch-
tige an ihrem Temperament, als an ihrem Lungenleiden zu Grunde gehen.
So wie der Lungentuberculöse sich nur ein bischen besser fühlt, hält er sich
schon für ganz gesund und schlägt alle guten Rathschläge in den Wind. Ein
gewisser Mangel an Ausdauer und eine grosse Portion Leichtsinn
haften dem Charakter der Schwindsüchtigen meistens an. Hier hat die
Gemüthserziehung anzusetzen und oft hilft nichts besser, als die nackte,
ungeschminkte Wahrheit über die Ausbreitung, die Heilungsdauer und die
Gefahr der Lungentuberculosis.
Die symptomatische Therapie der Lungenschwindsucht ist leider
in sehr vielen Fällen die einzige Behandlungsweise, welche der Arzt durch-
führen kann; nicht immer lässt sich der Patient monate- und jahrelang dahin
versenden, wo die klimatischen Schädlichkeiten in Wegfall kommen, und sehr
viele Patienten sind schon in solchen Stadien der Erkrankung angelangt, dass
eine Heilung ausgeschlossen ist. Die symptomatische Behandlung
bezweckt, die Beschwerden des Kranken zuheben, seine Wider-
standsf ähigkeit zu unterstützen und den Kräfteverfall mög-
lichst aufzuhalten. Mit dem Vermindern oder Heilen mancher Symptome
wird auch eine Besserung der localen Lungenphthisis erzielt.
Das hauptsächlichste Object der symptomatischen Behandlung bildet der
Husten und Auswurf. Zur Beschränkung des Hustenreizes kann man
der Narcotica nicht entrathen. Das Morphium muriaticum bildet auch
hier das zuverlässigste Mittel, um den Hustenreiz, den Schmerz und die Be-
klemmung auf der Brust zu mildern; dadurch, dass die Hustenstösse weniger
heftig und seltener sich vollziehen, wird auch die Secretion der Bronchial-
schleimhaut vermindert, weil der Husten selbst für die kranke Luftröhren-
schleimhaut einen Reiz zu vermehrter Absonderung bildet; der Auswurf voll-
zieht sich infolge der grösseren Intervalle zwischen den Hustenstössen leichter
Bibl, med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Banderkrankheiten. Bd. III. Oo
834 TUBERCULOSIS PULMONUM.
und ist flüssiger. Das Morphium kann in jeder Form verabreicht werden; am
meisten sind Lösungen zu empfehlen, welche rascher zur Resorption und
Wirkung kommen. Morphini muriatici 0'2, Aquae menthae 30'0. D. S.
2 — 3mal täglich 10 — 20 Tropfen z. n., oder Morphini muriatici Ol, Aquae
destillatae 130 0, Syrupi Bubi Idaei 20 0. M. D. S. 3 mal täglich Ys — ^ Ess-
löffel voll zu nehmen. Neben dieser Verordnungsweise machen wir mit Vor-
liebe von der subcutanen Injection Gebrauch; bei jeder langdauernden, chro-
nischen oder mehr floriden Lungenschwindsucht lassen wir zeitweise die
innerliche Verabreichung von Morphium bei Seite, um die Magen-
und Darmthätigkeit, welche unter dem internen Gebrauche des Morphium
leidet, zu heben; die subcutane Anwendung erheischt Dosen von O'Ol Mor-
phinum muriaticum mehrmals täglich. Im Verlaufe der Phthisis wird man mit
der Höhe der Morphiumgabe steigen müssen. Das Morphium muriaticum in
Pulvern ä O'Ol und als Suppositorium O'Ol — 0*02 ist eine sehr brauch-
bare Anwendung. Die Pillenform können wir nicht sehr empfehlen, die Wir-
kung tritt sehr langsam ein und deshalb oft überhaupt nicht, wiederholt gehen
auch die Pillen in den Faeces unbenutzt ab. Die Morphium Inhala-
tionen {P'02 Morphinum muriaticum auf das gewöhnliche Inhalationsgläschen)
lassen keine grosse Wirkung auf den Hustenreiz erwarten. Neben dem Mor-
phium wird auch das Opium und seine Abkömmlinge viel in Anwendung
gezogen. Vorwiegend ist es das Extractum opii, welches in der Dosis von
O'l in 20'0 g Wasser gelöst wird und in Tropfenform (etwa 20 Tropfen 3—4 mal
täglich) Gutes leistet; von der subcutanen Anwendung 0*2 — 1"0: 100 sieht
man auch gute Piesultate. Dem Morphinum hydrochloricum steht am nächsten
das Code in, welches vor jenem und dem Extractum opii den Vorzug hat, dass
es weniger verstopfend wirkt. Das geeignetste Präparat ist das Codeinum
phosphoricum, welches sich leicht in Wasser (1:4) löst und auch zu sub-
cutanen Injectionen sehr brauchbar ist. Innerlich wird das Codeinpräparat in
der Tagesdosis von 0'4 und in der Einzeldosis von 0"1 verabreicht, subcutan
genügt die Gabe von 0*1. Mit der Verabreichung des Morphium und Codei-
num soll man jedoch sehr vorsichtig sein und nur bei grossem Hustenreize
mit sehr kleinen Dosen beginnen, weil der chronische Verlauf der Schwind-
sucht noch hinreichend Gelegenheit für die Anwendung der stärkeren Nar-
cotica bieten wird und man die Wirkung dieser Betäubungsmittel nicht vor-
zeitig durch Angewöhnung illusorisch machen darf. Es empfiehlt sich daher
nicht, bei jedem Hustenreiz sofort Morphium in irgend einer Form zu ver-
ordnen, sondern zuerst versuche man die schwächeren Narcotica. Unter diesen
milden Mitteln gebrauchen wir sehr gerne die Belladonna in der Anwendung
von Extracti Belladonnae 0'5, Aquae Cimtamomi oder Foeniculi 20'0. M. D. S.
3 mal täglich 20 Tropfen zu nehmen. In der Wirkung ähnlich ist das Bil-
senkraut, von welchem wir verordnen: Extracti Hyoscyami l'O, Aquae destil-
latae oder amygdalarum amararmn 20 0 M. D. S. 3 mal täglich 20 — 25 Iropfen
zu nehmen. Zum Ziele kommt man weiterhin mit dem Extractum Cannahis
indicae 0-05 mehrmals täglich, mit O'l als Maximum der Einzeldosis und 0*4
als höchste Tagesgabe, dem Extractum Lactucae virosae 005 — 0'5 (0*6 maxi-
male Einzeldosis, 2'5 Tagesmaximum), Folia Stramm,onii 0-05 — O'l (Maximum
pro dosi 0"2, pro die l'O), Tinctura Strammonii 0-5 — 1-0 3 mal täglich (höchste
Dosis pro die 3'0, pro dosi l'O), Folia Toxicodendri 0-05— 0'4 in Pulverform
(pro dosi 0'4, pro die 1'2 als höchste Gabe) und die Tinctura Toxicodendri
0'2 — 10 3 mal täglich (höchste Gabe TO pro dosi und o'O pro die.)
Bei sehr reichlicher Secretion der Bronchien und Caver-
nen kann der Auswurf manchmal durch die Anwendung adstringirender
Medicamente vermindert werden, jedoch darf der Gebrauch nicht soweit
gehen, dass ein Husten mit zähem, stockendem Auswurfe resultirt. Zur Ver-
minderung des Auswurfes ist vor allem das Kreosot und Guajacol
1
TUBERCULOSIS PULMONUM. 835
wirksam in der Weise und Menge, wie wir schon früher auseinandergesetzt
haben. Die Auswurfsmasse zu vermindern, bezweckt auch die Anwendung
von Oleum Terebinthinae in Gelatinkapseln 03 — ro, mehrmals täglich
zu nehmen, die Inhalationen des Terpentinöls vermittelst der Curschmann'-
schen Maske oder die Einathmung der Terpentindämpfe, indem man einen
Theelöffel des Oeles auf heisses Wasser giesst und die aufsteigenden Dämpfe
einathmen lässt; nur wenig trägt das alte STOKEs'sche Liniment {Olei
Terebinthinae 300, Vitellum ovi unius, Aquae Rosarum 150'0 m. f. emulsio.
D. S. Morgens und Abends auf die Brust und den Rücken aufzutragen) bei,
dessen Wirkung nicht in einer Resorption des Oeles durch die Haut, sondern
in der fortwährenden Einathmung der aufsteigenden Terpentindämpfe zu
suchen ist. Das Plumbum aceticum, das Balsamum Copaivae und
Semen Phellandrii aquatici, welche zu demselben Zwecke empfohlen
werden, sind in ihrer Wirkung unsicher. Viel in Anwendung steht die
Mixtura Griffithii: Ferri sulfurici puri, Kali carbonici jpuri ää 1' 6^ Aquae
menthae 250'0, Mgrrhae pidverisatae 5'0 ardea cum sacchari 15'0 contritae.
M. D. S. tvohlumgeschüttelt, 3 — 4 mal täglich einen Esslöffel voll zu nehmen.
Vorwiegend jedoch erstreckt sich die Behandlung des Auswurfes auf die
Erleichterung der Expectoration. Wo nur wenig Auswurf vorhanden
ist, und wo der Auswurf zähe und dicklich ist, da sind die Resolventien
am Platze. Diesen Indicationen genügt oft schon die Anwendung von heisser
Milch oder heissem Thee und selbst heissem Wasser, durch deren
Wärme die Schleimsecretion bedeutend angeregt wird. Verstärkt wird die
Wirkung durch die Zusätze von schwach alkalischen Mineral-
wässern, wie Emser Krähnchen, Neuenahrer Sprudel, Sodener Warmbrunnen,
Wässer von Gieshübel, Obersalzbrunnen, Fachingen, welche man Morgens
und mehrmals den Tag hindurch mit gleichen Theilen heisser Milch gemischt
nehmen lässt. Zur Verflüssigung des Secretes trägt nicht unwesentlich das
Ammonium muriaticum (in der alten Weise der Mixtura solvens:
Ammonii muriati'ci 5'0, Succi Liquiritiae lO'O, Aquae desiillatae 130'0 mit und
ohne Zusatz von Tartari stibiati 0'05. M. D. S. 2 stündlich einen Esslöffel voll
zu nehmen), der Goldschwefel {Stibii sulfurati aurantiaci 0-03, Sacchari
albi 0'5 m. f. p. 1). S. 3 — 4 mal täglich ein Pulver zu nehmen), das Jod-
kalium in kleinen Dosen (0*2 — 0"5 mehrmals täglich in Solutionen) und vor
allem des Apomorphinum {Apomorphini muriatici crystallisati 0 01, Acidi
muriatici 0-2, Aquae destillatae 130'0, Sirupi simplicis 15' 0 M. D. S. 3 — 4 mal
täglich einen Esslöffel voll zu nehmen) bei. Diesen Arzneistoffen lässt sich in
bequemer Weise, wenn es nothwendig ist, eines der bekannten Narcotica
zusetzen.
Die Expectorantien im engeren Sinne treten dann in Frage, wenn
der Auswurf bei reichlichem Secret in den Bronchien und Hohlräumen stockt.
Vorwiegend steht in Gebrauch die Radix Senegae als Decoct. radicis Sene-
gae 10'0:200'0, Liquoris Ammonii anisati 3'0, Sirup, simplicis seu Senegae 20-0
M. D. S. 2stündlich einen Esslöffel voll zu nehmen. In der nämlichen Absicht
wird verordnet: Infus, radicis Ipecacuanhae O'ö : 130'0, Sirup. Cerasorum 20-0
M. D. S. 2stündlich einen Esslöffel voll zu nehmen. Ansehen geniesst auch
-das Elixir pectorale, welches aus Succus Liquiritiae und Liquor Ammonii
anisatus zu je 15 g unter Zusatz von 50 g Sirupus foeniculi bereitet und thee-
löffelweise verordnet wird. Verwendung finden auch das Decoctum Lichenis
islandici (10"0: 120-0), das Decoctum Lichenis islandici ab amaritie liberati
(10- 0 bis 15-0 : 130-0 2stündlich einen Esslöffel voll zu nehmen), das Extrac-
tum Helenii (2-0 : 130-0 Aquae desiillatae), die Radix A It h a ea e (Decoc^ww
10-0 : 130-0). Als ultimum refugium bleibt das Acidum benzoicum mit
und ohne Camp her als Acidi benzoici 0-2, Elaeosacchari menthae 0'3 M. f.
53*
836 TUBERCULOSIS PULMONUM.
^j. in Charta cerata D. S. 2stündlich ein Pulver oder Acidi henzoici 0'2, Cam-
phorae tritae 0'3 m. f. p. D. S. ein Pulver 1— 2stündlich zu nehmen.
Hauptsächlich mit Rücksicht auf die Bronchialkatarrhe, welche einen
Theil der Lungentuberculosis bilden, stehen auch manche Trink euren in
grossem Ansehen. Der curgemässe Gebrauch der meisten Heilwässer wirkt
an der Quelle jedoch, wie schon erwähnt, weit besser als der Gebrauch der Wässer
zu Hause, weil der nicht zu unterschätzende Factor hinzutritt, dass der Patient
aus allen häuslichen und geschäftlichen Störungen heraus ist und die reine,
frische Luft ausgiebig geniesst. Die einfachen alkalischen Wässer, die
alkalisch-muriatischen Quellen, die schwachen Kochsalzbrun-
nen eignen sich, besonders für trockene oder sich schwieriger lösende Katarrhe
der Luftwege; Neuenahr, Obersalzbrunnen, Passug in Graubünden und Teinach
in Würtemberg repräsentiren die Gruppe der einfachen alkalischen Quellen;
Ems, der steierische Marktflecken Gleichenberg, Luhatschowitz und Weilbach
figuriren unter den alkalischen Wässern mit wesentlichem Kochsalz-
gehalt; Baden-Baden, Bourbonne-les-Bains in den Vogesen, Wiesbaden, Cann-
statt, iSFeu-Rackoczy bei Halle, Niederbronn und Soden sind Curorte aus dem
Gebiete der schwachen Kochsalzbrunnen. Die erdigen Wasser,
wie Inselbad, Lippspringe, Weissenburg in der Schweiz, bewähren sich gegen
die krankhaften Secretionen der Bronchien und Hohlräume. Bei star-
ker Blennorrhoe kann man der Schwefelwässer, wie Kainzenbad,
Gurnigel, Heustrich, Leuk im Ober-Simmenthal, Neundorf in der Provinz
Hessen und der Schwefelquellen von Wilbach oft nicht entbehren.
Inhalationen leisten gegen die Katarrhe der Luftwege nichts
Sicheres. Gegen trockene Katarrhe verordnet man wohl noch hier und
da Inhalationen von Ammonium muriaticum 10*0 : 500"0 und Natrium chlo-
ratum (2 — 3%), gegen chronische Katarrhe mit reichlicher Secretion
Adstringentien, wie Aluminis 5'0 : 500"0, Tannin lO'O : 500"0, jedoch ist der
thatsächliche Erfolg auf die Luftröhrenerkrankung mindestens zweifelhaft. Die
Einathmung von Salinenluft in der Nähe von Gradirwerken und der Auf-
enthalt in Räumen, deren Luft durch besondere Zerstäubungs-
maschinen das alkalische oder kochsalzhaltige Wasser in feinster
Staub form enthält, sind geeignet, die Expectoration zu erleichtern.
Wird der Inhalt der Cavernen brandig, so leistet die innerliche
Anwendung des Oleum Terebinthinae 0"5 — 1*0 in Gelatinkapseln, das Kreosot
innerlich, mehr als Einathmungen mit Kreosot, Terpentin, Carbolsäure, Tinc-
tura Eucalypti.
Die localen Brustschmerzen erfahren durch die Application von
Tinctura Jodi, Charta Sinapis, Senfteige, Chloroformlinimente, Rubefacien-
tien, kalte Aufschläge, Cataplasmen, PRiESSNiTz'sche Einpackungen mehr oder
minder die erhoffte Linderung und Heilung.
Unter den einzelnen Symptomen der Lungenschwindsucht
ist. im Rahmen der Therapie die Haemoptoe das wichtigste. Da ge-
ringe Blutung im Auswurf sehr oft einem stärkeren Blutverlust vorausgeht, so ist
unter allen Umständen bei jeder, auch noch so kleinen, Blutbeimischung Vor-
sicht geboten. Die Patienten müssen sich körperlich und geistig ruhig halten,
jede Anstrengung der Athmungsorgane durch Sprechen und Rufen meiden
und jeden Reiz der Steigerung des Blutdruckes durch grösseren Alkohol-
gebrauch ausschalten. Kommt es zu einer wirklichen Haemoptoe, so ist ab-
solute Bettruhe sofort nothwendig und auf peinlichste Ruhe von selten des
Patienten zu dringen. Zunächst muss man den Kranken psychisch be-
ruhigen und ihm auseinandersetzen, dass die Blutung gar nicht solch'
schlimme Gefahren in sich berge, als der Kranke fürchte. Ist die Blutung
sehr reichlich, so bringt man den Patienten in eine sitzende Stellung,
welche die Expectoration der Blutmassen und die Athmung erleichtert. Eine
TUBERCULOSIS PULMONUM. 837
genaue Untersuchung der Lungen, speciell jede Pereussion ist zu unterlassen.
Auf die Brustseite, von welcher die Blutung kommt, was die Angabe des
Patienten und vor allem die Auscultation mit Sicherheit entscheidet, legt man
einen Eisbeutel, welcher meistens sehr gut vertragen wird und wohlthätig
wirkt. Die Eisblase sei flach und sehr gross, aber nicht durch eine grosse
Eisfüllung zu schwer. Manchmal jedoch vermehrt die Kälteapplication
den Husten und kann dadurch unmittelbar schädlich wirken, weil der Husten-
stoss eine neue Blutung auslösen kann. Die Temperatur des Zimmers
soll nicht zu warm sein. Senfteige, trockene Schröpfköpfe an den Extremi-
täten, warme Bäder sollen die Blutfülle der Lungen durch Ableitung vermin-
dern. Handelt es sich um eine kleine Blutung, so ist oft schon das lang-
same Verschlucken von Eispillen genügend, um einen sichtbaren Erfolg zu
erzielen. In den leichten Fällen der Haemoptoe thut auch das Aci-
dum citricum 5-0:500*0, die starke Citronenlimonade, das Elixirium
Halleri {Mixturae sulfuricae acidae 2-5:130'0 2stündlich einen Esslöffel
voll 2u nehmen) Acidum sulfuricum dilutum stündlich 20 Tropfen in
Haferschleim zu nehmen oder als Limonade 5*0: 10000 zu gebrauchen und
das Acidum chloro-nitrosum (l'0 : 150' 0 stündlich einen Esslöffel voll zu
gebrauchen^ Metalllöffel sind zu vermeiden) befriedigende Dienste. Tritt eine
stärkere plötzliche Blutung der Lungen ein, so ist es zweckmässig,
entweder eine gesättigte Kochsalzlösung trinken oder mehrmals einen
halben bis einen ganzen Esslöffel voll Kochsalz schlucken zu lassen; dieses
Mittel ist stets bei der Hand und ist oft wirklich von Nutzen. Da's soge-
nannte Binden der Glieder, welches in der Anlegung einer massig festen
Umschnürung der Oberschenkel und Oberarme besteht und eine Verminderung
der Blutzufuhr zu den Lungen bewirken soll und dadurch in seiner Wirkung
einem Aderlass nahe stehe, hat in unserem Erfahrungsgebiet keine Zuversicht
erworben. Der Aufgabe, den Hustenreiz herabzusetzen, werden am besten die
Narcotica gerecht. Das Extractum Lactucae virosae, die Bella-
donna, das Extractum Cannabis indicae, das Extractum opii sind
nicht so zuverlässig, als die Verordnung von Morphinum muriaticum, innerlich
oder subcutan, welches durch Unterdrückung der Hustenstösse den Stillstand
der Blutung begünstigt und der Wiederkehr vorbeugt. Hat man das blu-
tende Organ möglichst in Ptuhe gesetzt und die Blutfülle des-
selben vermindert, so bleibt die dritte Forderung, die Thromben-
bildung an der verletzten Gefässstelle zu begünstigen, noch zu erfüllen.
Man sucht diesem letzten Postulat gerecht zu werden durch die Inhalation
eiweisscoagulirender Substanzen, besonders steht der Liquor
ferri sesquichlorati in 2 — 47oiger Lösung in Gebrauch. Wir können
die Anwendung nicht empfehlen, weil der Eisenchloridnebel
wahrscheinlich gar nicht bis an die blutende Stelle herankommt; bei
Sectionen von Phthisikern, welche während einer starken Haemoptoe oder
kurze Zeit nach ihr gestorben waren und bei welchen Eisenchlorideinathmungen
einen Theil der Therapie bildeten, fanden sich in der blutenden Caverne,
trotzdem ein grosser Bronchus und selbst mehrere grosse Luftröhrenäste frei
mit der Caverne communicirten, gar keine Eisenchloridspuren. Wir rathen
aber sogar von einer forcirten Inhalationstherapie adstringirender
Arzneimittel, von welchen noch das Tannin, der Alaun in Gebrauch
stehen, dringend ab, weil die nothwendigen tiefen, angestrengten Athem-
bewegungen erst recht eine neue Blutung nach unserer Erfahrung anregen
können. Mehr Erfolg verheissen innerlich genommen das Bl e i und das M u t te r-
korn, welche durch Verengerung der Blutgefässe die Thrombenbildung begün-
stigen. Man verordnet das B 1 e i als Plumbi acetici O'OÖ — O'l, Sacchari albi 0'5 M.
f.p. D. S: 3 stündlich ein Pidver zu nehmen. Das Mutterkorn wird verabreicht
als Infusum secalis cornuti 5'0:130'0, Mixlurae acidae Halleri 3-0, Sijrupi sim-
838 TUBERCULOSIS PULMONUM.
plicis 15- 0 M. D. S: 2 stündlich einen Esslöfel voll zu nehmen oder als Pulver
2 stündlich in Dosen von 0-25— 0*5. recenter pulverisatum muss das Präparat
sein. Rascher und prompter wirkt das Extra et um Seealis cornuti
5 0:1300, Sijrupi sacchari lö'O M. D. S: 3 — 4 stündlich einen Esslöffel voll
zu nehmen und das Extractum Seealis cornuti cornutino-sphacelicinum (O'IO — 0'5
in Pulverform oder als Solution^ 3 — 4 stündlich anzuwenden). Die rascheste
Wirkung verheisst die subcutane Injection des Ergotinin; als zweckmäs-
siges Präparat empfehlen wir das Ergotininum citricum solutum
(Gehe), von welchem 1 ccm der Lösung 0*001 Ergotininum enthält, welche Menge
die wirksame Dosis darstellt, und das Extractum secalis cornuti,
welches in der Menge von 2' 5 mit Glycerin und Spiritus m 7-5 gelöst, als ^2
oder ganze PRAVATz'sche Spritze mehrmals täglich zur Verwendung kommen
kann. Die subcutane Injection einer halben oder ganzen Spritze des A cid um
sclerotinicum (0'2— 0-25 : 5-0 Äquae destillatae) ist in der Wirkung un-
sicher und schmerzt beträchtlich. In vielen Fällen erweist sich die Anwen-
dung der Digitalis (Ininsum foliorum Digitalis 1-5:130'0, Syrupi simplicis
15'0j 1 — 2 stündlich einen Esslöffel voll zu nehmen oder als Pulver; Pt^/wm
foliorum Digitalis, Pulveris radicis Calami, Elaeosacchari menthae ää 0'15 m. f. p.
D. S: in charta cerata oder Capsula 2 stündlich ein Pulver zu nehmen oder in
Pillenform, Pulveris foliorum Digitalis 1'5 Succi et pidveris radicis Liqui-
ritiae q. s. ut f. pilul, Nr. 10 C. D. S: 2 stündlich eine Pille zu nehmen)
durch Verlangsamung des Blutstromes als zweckmässig. Während der Hae-
moptoe und einige Tage nach derselben muss die Ernährung in kalter Zu-
bereitung verordnet werden, am besten ist Milch mit Eisstückchen;
fernhalten soll man alle erregenden Substanzen, wie Kaffee, Thee und
Alcoholica, es sei denn, dass ein drohender Herzcollaps zu rascher Anregung
der Herzthätigkeit anspornt. Auch wenn die Blutung gänzlich aufgehört hat,
muss der Patient der äussersten Ruhe pflegen, weil nach Tagen noch eine neue
Blutung kommen kann; wir halten nach Aufliören der Haemoptoe den Kranken
wenigstens noch 8 — 10 Tage im Bette zurück und lassen ihn dann zunächst
nur stundenweise aufstehen.
Das Fieber der Phthisiker bildet deshalb so häufig den Gegenstand der
ärztlichen Behandlung, weil es das Körpermaterial hervorragend verzehrt und
den Kräfteverfall beschleunigt. Das phthisische, hektische Fieber ist
aber äusserst resistent gegenüber den antipyretischen Mitteln. Nach unseren
Erfahrungen kann die Bekämpfung des Fiebers den Verlauf der Erkrankung
nicht hemmen und den Kräfteverfall nicht verändern, wir verordnen Antipy-
retica häufig nur deshalb, um den subjectiven Empfindungen der Patienten,
welche durch die heissC; trockene Haut, durch den vermehrten Durst, die be-
schleunigte Athmung und Herzaction peinlich berührt werden, nachzukommen.
Die Salicylsäure und das salicylsaure Natrium, Salol, das Antipyrin, Antifebrin,
Thallinum sulfuricum, Malakin und ähnliche Präparate sind weniger als das
Chinin zu empfehlen, weil der Schwindsüchtige schon an und für sich zur
profusen Schweissbildung neigt. Kann man diese Antifebrilia im passenden
Falle in Anwendung ziehen, so verordnet man von dem Antipijrinum 5 — 6 g
in drei Dosen (2 -j- 2 -f- 1 </) in stündlichen Intervallen als Pulver zu nehmen,
das Äcetanilid 0'25 — 0 5 mehrmals täglich als Pulver oder in Lösungen von
Cognac zunehmen, das Malakin in 1^ Dosen, das Thallinum sulfuricum
0'3 — 0-5 in wässeriger Lösung 2 — 3 mal täglich, das Natrium salicylicum
als Solutionis natrii salicylici 10'0:130'0, Syrupi Cinnamomi lO'O M. D. S:
4 mal täglich einen Esslöffel voll zu nehmen und das Chininum als Chininum
muriatum in Dosen von 0'25 — 0'5 — PO 2 mal täglich in Oblaten zu nehmen.
Werden das Chininum, Antipyrin und Äcetanilid nicht gut vom Magen er-
tragen, so erweist sich die Anwendung in Klysmaform als zweckmässig.
Die empfohlene subcutane Anwendung des Chinin ist äusserst schmerz-
TUBERCULOSIS PULMONUM. 839
haft; Antipyrin (T0:2-0 Aquae destülatae) eignet sich sehr zur subcutanen
Injection in der Dosis von 1 — 2 g. Die Beschwerde des Fiebers mildert in
recht zweckmässiger Weise die kalte Abreibung des ganzen Körpers zur
Zeit des Fiebers, welche Procedur den Kranken einen hohen Grad von Eu-
phorie verleiht.
Die reichlichen Schweisse der Schwind süchtigen werden am
besten durch das Atropinum sulfuricum bekämpft; wür püegen das Atro-
pin zu verordnen als Atropini sulfurici O'Ol, Succi et pidveris radicis Liquiri-
tiae q. s. ut f. ])iliil. Nr. XX. Comp. D. S. abends 1 — 2 Pillen zu gehrauchen ;
die Maximaldosis des Atropin pro die ist O'OOS und pro dosi 0*001; auch
subcutan 0"01:10'0 Aquae destülatae V2 bis eine ganze Spritze wenden wir es
an. Die störende Trockenheit des Halses und die Neigung zu Durchfällen,
welche sich bei vielen Patienten durch den Atropingebrauch störend einstellt,
lassen nach geeigneten Ersatzmitteln suchen, ohne dass aber eine der empfohlenen
Behandlungsarten vollständig der Atropinwirkung gleichkäme. Bei gerin-
gen nächtlichen Schweissen haben die alten Methoden der Einrei-
bung des ganzen Körpers mit Speck, Fett, Oel oder Knochenmark
scheinbar öfters Erfolg. Kalte Abwaschungen und Douchen, welche aber
nicht stets anwendbar sind, bewähren sich meistens gut. Bei massiger Schweiss-
bildung helfen auch die Salbeiblätter als Pillen in der Dosis von 1-0 — 2-0 g
abends genommen oder als In/usum foliorum Salviae 10- 0 — 15- G : ISO'O mit
10 g Sirupus simplex nachmittags und abends stündlich einen Esslöffel voll zu
nehmen. Der Boletus laricis ist nicht zuverlässig. Dagegen sieht man
oft nach 15 — 25*7 Cognac abends in Milch oder Zuckerwasser genommen,
dass die Schweisse ausbleiben. Bei profuser Seh weis sbildung führen
aber diese einfachen Mittel nur selten zum Ziele. Schon mehr bewährt sich
das Einpudern des ganzen Körpers mit Salicylpuder {Acidi salicylici 3-0, Amgli
lO'O Talci Venet. 87'0); bei sehr trockener Haut muss man vorher dieselbe
mit irgend einem Fett oder Oel anfetten. Bequemer und auch sicherer ist
die Verordnung von Agaricinum, dem wirksamen Princip des Lärchen-
schwammes; als beste Anwendung bewährt sich uns das Agaricinum in Pillen-
form, pro Pille 0'005 — 0"01; die wirksamste Zeit zum Einnehmen ist 6 Uhr
abends; öfters muss man die Dosis steigern bis 0'03 und 0'05; die höchste
Dosis ist 0-1. Empfohlen wird das Hyoscinum 0-005 und das w^eniger wirk-
same Picrotoxinum 0'0005 — 0"001 pro dosi. Relativ sicherer bewährt sich
die Grammdosis von Aci dum camphoratum seu camphoricum in Ob-
laten oder in alkoholisch-wässeriger Lösung.
Der Eintritt eines Pneumothorax erfordert an erster Stelle die sub-
cutane Anwendung des Morphium, welches mit dem Schmerze auch ein
gutes Theil der Athemnoth beseitigt. Der Eisbeutel beugt einer allzu stür-
mischen Entwickelung des entzündlichen Exsudates vor. Den drohenden
Collaps muss man durch Champagner, Cognac, starke Weine, durch die
subcutane Einverleibung von Oleum camphoratum und Tinctura Moschi auf-
zuhalten suchen.
Während des ganzen Verlaufes der Phthisis muss die Magen-Darm-
thätigkeit besonders überwacht werden. Die fast stets vorhandene Appe-
titlosigkeit erfordert die Anwendung der Stomachica, von welchen als
viel angewandt in Frage kommen die Tinctura Chinae composita mehrmals
täglich 30 Tropfen, dasDecoctum corticis Chindie 20 0 : 180' 0 mit Acidi
muriatici 2'0, Syrupi simplicis 15' 0 M. D. S. 2 stündlich einen Esslößel voll zu
nehmen, die Tinctura amara mit Tinctura Chinae composita zu je
25-0 mit 2*0 Acidi hydrochlorici, 4 mal täglich einen Theelöffel voll zu
nehmen; recht gut ist auch das Macerationsdecoct der Cortex Condurango
15"0 : 200"0 mit und ohne Salzsäurezusatz, esslöffelweisse zu gebrauchen, das
Elixir Condurango peptonatum Immermann, die FoUa Trifolii fibrini 100 :
840 TUBERCULOSIS RENüM.
150'0, 4 mal täglich einen Esslöffel voll zu nehmen, Tinctura Strychni 5'0
mit 15-0 Tincturae Calami D. S. 4 mal täglich 20 Tropfen zu nehmen, Vinum
Pepsinum und Vinum Condurango. Kleine Dosen alten Rhein-
weins regen oft den Appetit an. Bei Anwendung der forcirten Ernährung
mit der Schlundsonde haben wir stets eine leichte Verdaulichkeit und grössere
Ausnützung gefunden, wenn wir zum Schlüsse durch die Magensonde noch
eine reichliche Menge, 100 cb. einer 1 — 2 "/oigen Salzsäurelösung mit Pepsinum
activum ö'O oder Papayotin (Finkler) 2-0 — 3-0 in den Magen führten. Die
einzelnen dyspeptischen Erscheinungen von seiten des Magens erfordern
unter Umständen alkalische Zusätze, bald kleine Dosen Karlsbader Salzes,
bald eine Ausspülung des Magens. Bei hochgradiger Anämie der Phthisis
incipiens sieht man die Verdauungskraft und den Appetit sich heben bei der
Anwendung leichter Eisenpräparate.
Die Blutarmut der Lungenschwindsüchtigen, welche oft im
Anfange das einzige Symptom der latenten Tuberculosis pulmonum ist, bedarf
unter allen Umständen der Behandlung. Als leichte Eisenpräparate,
welche die Therapie erfordert, gelten der Liquor ferri albuminati, thee-
löffelweise, drei bis 4 mal täglich zu nehmen, der Liquor ferri peptonati,
das Haemoglobinum depuratumsterilisatum liquidum, das Hämalbumin, Ferra-
tin, die Pilulae Blaudii; zweckmässig ist der Zusatz von Chinin und noch weit
mehr von Arsenik, wie Fert-i lactici oder reducti 5'0 Acidi arsenicosi 0'06,
Piperis nigri pulverisat. et pulveris radicis Liquiritiae aä 1'5. Mucilaginis Gummi
arahici q. s. ut f. pilul. Nr. 60 Consp. Ds. 3 mal täglich 1 — 2 Pillen zu nehmen
oder Solutionis arsenicalis Fowleri o'O Liquoris ferri alhuminat. löO'O. D. S.
3 mal täglich einen Theelöffel voll zu nehmen oder Ferri peptonati 5'0, Extracti
Chinae aquosi 1'5 mit und ohne Acidi arsenicosi 0'06, Succi et pulveris ra-
dicis Liquiritiae q. s. ut f. pilul. Nr. 75. Consperge D. S. 3 mal täglich 2
Pillen nach den Mahlzeiten zu nehmen. In den Anfangsstadien der Lungen-
schwindsucht ist bei hochgradiger Anämie auch der curgemässe Gebrauch
der Eiseuwässer und der arsenhaltigen Brunnen anzurathen, womöglich
im Curorte selbst; als passende Wässer und Curorte geniessen Alexisbad,
Bocklet, Cudova, JDriburg, Eberswalde, Godesberg, Imnau, die Kniebis- und
Renchthalbäder (Autogast, Griesbach, Petersthal, Freiersbach, Rippoldsau),
Levico, St. Moritz, Pyrmont, Reinerz, Roncegno, Schandau, Schwalbach, Spaa,
Szliäcz grosses Ansehen.
Die phthisischen Diarrhöen und Larynxerscheinungen, sowie die Com-
plicationen von Seiten der serösen Häute und der Nieren erfordern ihre ge-
sonderte Therapie. peior.
Tuberculosis renum. (Merentuberculose, Nierenschwindsucht). Die
Nierentubertuberculose tritt in zwei Formen auf, einmal unter dem Bilde
feiner, grauer, mit dem blossen Auge kaum erkennbarer bis hirsekorngrosser
Knötchen, welche in grosser Anzahl durch das ganze Organ disseminirt,
besonders reichlich in der Rindensubstanz verbreitet sind, und zweitens in
Gestalt vereinzelter grösserer verkäster Heerde. Die erste Form entspricht
einer Miliartuberculose der Nieren, sie ist in beiden Organen gleichmässig
entwickelt und ist Theilerscheinung allgemeiner Miliartuberculose, wie sie als
Endstadium tuberculöser Erkrankungen vorzüglich des kindlichen Alters oft
beobachtet wird. Sie macht keine eigenen Symptome und bietet daher ebenso
wie die mitunter im Verlauf eines oder mehrerer Nieren arterienäste gefundene
locale Eruption kleiner Tuberkelknötchen lediglich anatomisches Interesse.
Dagegen erzeugt die zweite Form, bei welcher die locale Tuberculose mehr
Selbständigkeit erlangt hat, zuweilen ein wohl charakterisirtes Krankheitsbild;
die nachfolgenden Auseinandersetzungen beziehen sich daher lediglich auf
dieselbe.
TUBERCULOSIS RENUM. 841
Die N i e r e n t u b e r c u 1 0 s e, auch Nephroplithise oder käsige Nephritis
genannt, ist ein verhältnismässig seltenes Leiden, sie wird nur bei annähernd
einem Procent sämmtlicher Tuberculöser gefunden. Kein Lebensalter ist von
ihr verschont, wenn sie auch am häufigsten zwischen dem 20. und 40. Jahre
auftritt. Ueber die Frage, ob sie bei Männern oder Frauen überwiegt, sind
die Angaben der einzelnen Autoren durchaus divergirend.
Oft sind beide Nieren erkrankt, doch bietet dies Verhalten zumal in den
früheren Stadien nicht die Regel.
Die Nephrophthise schliesst sich an vorgeschrittene Lungentuberculose
an oder ist Theilerscheinung einer primären Urogenitaltuberculose. Hat die
letztere beim Manne einen aufsteigenden Charakter, so findet man zunächst
eine tuberculöse Erkrankung des Nebenhodens, welche auf die Hoden, Samen-
leiter, Samenblase, Prostata, Blasengrund übergeht und schliesslich durch den
Ureter zu Nierenbecken und Niere aufsteigt. Nicht immer sind säramtliche
genannten Organe hinter einander befallen, die Verbreitung erfolgt sprung-
weise. Häufiger als der Nebenhoden soll die Prostata den Ausgangspunkt
bilden. Bei descendirendem Verlauf ist die Niere das primär erkrankte Organ,
von welchem aus die abwärts liegenden Theile inficirt werden. Während
früher das Vorkommen einer absteigenden Urogenitaltuberculose geleugnet
Avurde, sprechen die chirurgischen Erfahrungen der letzten Jahre entschieden
zu Gunsten dieser Annahme. Bei Frauen ist Combination von Tuberculöse der
Harn- mit solcher der Geschlechtsorgane viel seltener, wohl aus dem Grunde,
weil beide Systeme anatomisch schärfer von einander abgesondert sind. Ueber-
greifen von Blasentuberculose auf die Vagina nach Perforation der Scheide-
wand ist jedoch beobachtet.
Die tuberculöse Niere ist zumeist etwas vergrössert, ihre Oberfläche zu-
weilen höckerig, auf dem Durchschnitt sieht man multiple Knoten von Erbsen-
bis Wallnussgrösse und darüber, welche vorzugsweise in den Papillen und
Pyramiden sitzen. Ln Inneren sind sie verkäst oder erweicht und zerfallen,
an der Peripherie findet man feine Tuberkelknötchen, welche allmälig in
die Heerde hineinbezogen werden und zum Wachsthum derselben beitragen.
Durch Confluiren mehrerer Knoten entstehen grössere Heerde; in den vor-
geschrittensten Fällen kann die Nierensubstanz gänzlich zerstört sein, so dass
eine grosse, mit käsigem Eiter erfüllte Höhle resultirt, welche durch die
stehen gebliebenen Nierenkelche in mehrere Fächer unvollkommen getheilt
wird. Durchbruch in das Nierenbecken erfolgt mitunter frühzeitig und bewirkt
einerseits Beimengung von Eiter und Käsebrökeln zum Urin, anderseits
Uebergreifen des tuberculösen Processes auf die Schleimhaut des Nierenbeckens;
es entstehen ausgedehnte tuberculöse Verschwärungen desselben sowie, wenn
die Krankheit sich nach unten ausbreitet, auch des Ureters, welche gelegent-
lich zu Verengerungen führen. Setzen sich hier Schleimmassen fest und be-
wirken einen temporären Verschluss, so staut der Harn und die Niere erfährt
eine hydronephrotische Erweiterung, welche nach Lösung des Verschlusses
sich zurückbildet.
An der Oberfläche der Niere sitzende Heerde können nach der Kapsel
zu perforiren und zur Entstehung perinephritischer tuberculöser Abscesse
Veranlassung geben.
Symptome: Die Krankheit verursacht mitunter keinerlei Symptome.
Dies trifft besonders für die Fälle zu, bei denen die tuberculösen Heerde in
gesundem Nierenparenchym eingeschlossen liegen und keine bedeutende
Ausdehnung erlangt haben. Wenn einer derselben in das Nierenbecken durch-
gebrochen ist, werden Eiter und eventuell Blut dem Urin beigemischt und
lenken somit die Aufmerksamkeit auf die Erkrankung der Harnorgane hin.
Der Urin kann dauernd Beimengungen von Eiter enthalten, oder auch zeit-
weise normal erscheinen, falls entweder die Perforationsöffnung sich geschlossen
842 TUBERCULOSIS RENÜM.
hat oder der Ureter der erkrankten Niere durch ein Schleimgerinnsel ver-
schlossen ist. In letzterem Falle treten kolikartige Schmerzen auf, welche
von Entleerung trüben Urins mit zusammengeballten Schleimmassen gefolgt
sind. Die chemische Untersuchung des Harns ergibt Eiweiss entsprechend
dem Gehalt an Eiterkörperchen. Blutungen treten oft im Anschluss an Körper-
bewegung auf, fehlen mitunter aber auch während des ganzen Verlaufes.
Genaue bimanuelle Palpation lässt das erkrankte Organ als massig ver-
grössert, seine Oberfläche glatt oder uneben erkennen.
Die subjectiven Beschwerden des Kranken können in diesem Sta-
dium noch verhältnismässig geringe sein und bestehen im Wesentlichen in
Schmerzen an der erkrankten Stelle. Das Allgemeinbefinden ist dementspre-
chend wenig alterirt, insbesondere der Ernährungszustand bei primärer Nie-
rentuberculose ein relativ guter. Bald greift jedoch der krankhafte Process
auf Nierenbecken und Ureteren über, der Urin, dessen Reaction sauer ist, so
lange kein Blasenkatarrh besteht, enthält neben den vorhin erwähnten Eiter-
und Blutkörperchen, Käsebröckeln und die charakteristischen Epithelien
dieser Organe; seine Entleerung ist oft von Schmerzen begleitet. Für
Ergriö'ensein der Blase sprechen heftige Schmerzen kurz nach dem Harn-
lassen mit gleichzeitigem Abgang einiger Tropfen Eiter oder Blut, Alkalescenz
des Urins, Auftreten von Trippelphosphatkrystallen im Sediment.
Jetzt setzen auch abendliche Temperatursteigerungen ein und bald machen
sich die Zeichen von Erkrankung der Lunge und des Darmes bemerkbar, die
Kräfte nehmen sichtlich ab und das Ende pflegt nicht lange auf sich warten
zu lassen.
Der Verlauf der Krankheit ist gewöhnlich ein langsamer, die Dauer von
den ersten Symptomen an kann 4 — 5 Jahre betragen.
Diagnose: Wenn bei Tuberculosen Schmerz in der Nierengegend auf-
tritt und gleichzeitig die Vergrösserung einer Niere palpatorisch festzustellen
ist, muss der Verdacht einer tuberculösen Erkrankung des Organs berechtigt
erscheinen. Mit Sicherheit kann die Diagnose jedoch erst gestellt werden,
wenn die charakteristischen Veränderungen des Urins in Folge Durchbruches
eines Heerdes in das Nierenbecken vorhanden sind. Von besonderer Wichtig-
keit ist der Nachweis der Tuberkelbacillen im Harnsediment, welcher auf den
bekannten tinctoriellen Eigenschaften dieser Mikroorganismen beruht (vergl.
den Artikel „Sputumuntersuchung"). Allerdings sind Verwechslungen mit
Smegmabacillen möglich, die in morphologischer wie tinctorieller Beziehung
ausserordentliche Aehnlichkeit mit den Tuberkelbacillen haben. Zur Unter-
scheidung dient das zumeist haufenweise Auftreten der Tuberkelbacillen sowie
eventuell der Thierversuch (Impfung in Pleura- oder Peritonealhöhle). That-
sächlich scheint die Gefahr der Verwechselung keine grosse zu sein, da
FüRBRiNGER ausdrücklich betont, bei der üblichen Untersuchung des Harn-
sediments niemals Smegmabacillen begegnet zu sein.
Mit dem Auffinden der Tuberkelbacillen im Urin ist das Bestehen einer
Urogenitaltuberculose sicher gestellt und es erübrigt noch der Nachweis, dass
der Sitz derselben in der Niere gelegen. Tuberculose des Nebenhodens, der
Samenblase und Prostata sind durch Palpation zu erkennen, über die Be-
schaffenheit der Blasenwand kann durch die Cystoskopie Aufschluss erlangt
werden, so dass nach Ausschluss dieser Organe nur Niere und Ureter übrig
. bleiben. Deutliche Vergrösserung der Niere mit Druckempfindlichkeit lässt
die letzten Zweifel an der Diagnose schwinden.
Für die Therapie ist die Entscheidung der Frage, ob ein oder beide
Nieren erkrankt sind, von ausschlaggebender Bedeutung. Genaue bimanuelle
Palpation der Organe kann hier nur mit einiger Wahrscheinlichkeit Aufschluss
geben, und leider sind die Fälle nicht selten, wo nachträglich die andere Niere
in mehr weniger hohem Grade erkrankt gefunden wurde.
TYPHUS EXA.NTHEMATICUS. 843
Verwechslung des vorliegenden Leidens mit Nieren- oder Blasensteinen
ist mehrfach, besonders bei Kindern vorgekommen, veranlasst dadurch, dass
der Durchtritt zusammengeballter Schleimletzen durch den Ureter zu Kolik-
schmerzen, durch die Uretra zu zeitweiliger Harnverhaltung führte. Die
Differenzialdiagnose wird durch den Nachweis der Tuberkelbacillen im Sediment
ermöglicht.
Prognose: Spontanheilungen sind bisher nicht beobachtet und auch
nicht wahrscheinlich. Sich selbst überlassen, führt das Leiden stets nach Ver-
lauf einiger Jahre, theils durch Kräfteverfall in Folge ausgebreiteter Lungen-
und Darmtuberculose, gelegentlich auch unter urämischen Erscheinungen zum
Tode. Die einzige Aussicht auf Heilung bietet somit die chirurgische Ent-
fernung des erkrankten Organes, wodurch bereits mehrfach vollständige Heilung
erzielt ist.
Therapie: Prophylaktisch ist frühzeitige Exstirpation tuberculös er-
krankter Nebenhoden anzurathen, um das Aufsteigen der Entzündung zu ver-
hüten. Auch muss atypisch verlaufenden gonorrhoischen Epididymitiden volle
Aufmerksamkeit zugewandt werden, da gleichzeitige Uebertragung des Tuberkel-
giftes mit Gonorrhoe von Schüchardt beobachtet ist.
Bei primärer Erkrankung einer Niere muss, falls Lunge und Darm
gesund sind, die Nephrectomie, die Entfernung des erkrankten Organs wo-
möglich mit Kapsel vorgeschlagen werden. Die Operation hat in einigen
Fällen Heilung, in anderen wesentliche Verlängerung des Lebens mit Be-
freiung von den recht erheblichen Beschwerden bewirkt. Allerdings sind
Misserfolge leider noch sehr häufig, da die Erkrankung der zweiten Niere auch
bei Beachtung aller Cautelen nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann.
Bestehen Affectionen der Lunge, des Darms, der Wirbelsäule, so bietet
die Operation keine Aussicht auf dauernden Erfolg und ist daher nur zur
Beseitigung unerträglicher Schmerzen indicirt. Sonst muss man sich in diesen
Fällen begnügen, durch Regelung der Diät und der hygienischen Verhältnisse,
klimatische Curen etc. die Kräfte möglichst lange zu erhalten und durch den
Gebrauch der Mineralwässer von Wildungen oder Vichy die Leiden der Kranken
zu lindern. hilbert.
Typhus exanthematiCUS» (Flechtyphus, TijpJms i)etecliialis). Geschichte.
Zu Anfange des 16. Jahrhunderts nach Christi Geburt wurde der Flecktyphus
von Cypern nach Italien verschleppt. Zu seiner Verbreitung trugen vor-
wiegend Feldzüge bei. So herrschte die Seuche auch zu Anfange unseres
Jahrhunderts während der napoleonischen Kriege, namentlich auf dem Rück-
züge der grossen Armee aus Russland. Indessen konnte dieselbe in Friedens-
zeiten nirgends in Europa dauernd festen Fuss fassen, ausser in Irland,
welches seit länger als einem Jahrhundert als eine Brutstätte des Feck-
typhus gilt. Daher stammt die Bezeichnung ;4i'ischer Typhus".
Was die geographische Verbreitung anlangt, so ist zur Zeit die
Flecktyphusseuche in einzelnen Landstrichen Mitteleuropa's in mildem Sinne
endemisch. Gewöhnlich kommen innerhalb dieser Gebiete nur vereinzelte
Fälle der Seuche zur Beobachtung. Zeitweise brechen aber auch und zwar
meistens kleinere, örtlich begrenzte Epidemien aus. Grosse Seuchenzüge sind
seit 1868 und 1869, in welchen Jahren der Flecktyphus in Oberschlesien und
in anderen preussischen Provinzen in bedeutendem Umfange auftrat, meines
Wissens nirgends mehr beobachtet worden. Nächst Irland können die russi-
schen Ostseeprovinzen, in dritter Reihe Polen, Galizien und Schlesien, in
vierter allenfalls noch Posen, Ost- und Westpreussen und Pommern als die
derzeitige Heimat des Flecktyphus gelten. Auch in Holland und gewissen
italienischen Bezirken soll die Seuche häufig sein. Die französischen Aerzte
hielten früher den Boden Frankreichs oder die gallische Race für immun
844 TYPHUS EXANTHEMATICüS.
gegen den Flecktyphus. Neuerdings haben Ausbrüche der Seuche auf fran-
zösischem Gebiete das Gegentheil bewiesen. Charakteristisch ist die Vorliebe
des Flecktyphus für Malarialänder. Die sich zwar langsam, aber stetig bessern-
den Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerung dürften neben der steigen-
den Wachsamkeit und Thatkraft der Gesundheitsbehörden in den Cultur-
ländern der Seuche einen Damm setzen.
Aetiologie. Grössere Flecktyphusepidemien traten bisher stets im Ge-
folge gewisser gesellschaftlicher Missstände, niemals ohne dieselben, in die
Erscheinung. Als solche sind Kriegszüge schon genannt worden. Man be-
zeichnet daher namentlich in Frankreich die Krankheit als den „Typhus
der Armeen und Heerlager". In Friedenszeiten sind in erster Linie
Misswachs und Hungersnoth- als der Boden zu nennen, auf welchem grosse
Flecktyphusepidemien wurzeln. Dies traf für den erwähnten preussischen
Seuchenausbruch zu. Daher begegnet man vielfach dem Ausdrucke „iZ«m^er-
typhus'''' .
Das dichte Sichzusammendrängen grösserer Menschenmassen in engen
Räumen scheint die Entstehung von Flecktyphuserkrankungen zu begünstigen.
So sind die Gefängnisse in früheren Zeiten gefürchtete Heerde der Fleck-
typhusseuche gewesen, namentlich in Irland und England.
Endlich ist der Flecktyphus eine Krankheit der obdachlosen Leute, des
^.fahrendes Volkes", eine Plage der Landstreicher gleich dem Rückfall-
fieber. Daher sind die Herb ergen, Asyle und Gasthäuser oft die Depots
des Krankheitsgiftes.
Der Flecktyphus ist in hervorragendem Maasse eine contagiöse Krank-
heit. Und zwar ist die Ansteckung durch unmittelbare Berührung im Ver-
kehr von Person zu Person die häufigste Form der Uebertragung derselben,
Dass der Flecktyphus zu den contagiösesten der zur Zeit bekannten Seuchen
gehört, beweist die immer wieder zu machende Erfahrung zahlreicher An-
steckungen von Aerzten und unter dem Krankenpflegepersonal.
Das Gift des Flecktyphus haftet aber auch an leblosen Gegenständen,
mit welchen die an der Seuche Erkrankten in Berührung kommen. Zunächst
an der Wäsche, den Kleidern und Betten derselben, aber auch an den Möbeln,
den Wänden u. s. w. der Zimmer, in welchen die Kranken liegen. Dafür
sind zahlreiche Beweise erbracht worden. Die Zeitschrift des Königlich
Preussischen Statistischen Bureaus (Ergänzungsheft 11, Berlin 1882 S. 35)
berichtet: „In der M'schen Krugwirthschaft zu B. wurde ein Brunnen repa-
rirt und bei dieser Gelegenheit noch geräumt. Von 7 dort beschäftigten
Arbeitern erkrankte der, welcher in den Brunnen gestiegen war, dann noch
4 und 1 starb. Der zuerst erkrankte wurde zunächst in einem Zimmer der
Krugwirthschaft untergebracht, nach mehreren Tagen aber in das Armenhaus
gebracht. Dieser Kranke genas, aber der Knecht, der ihn hingefahren hatte,
starb. Dieser Knecht hatte übrigens zu den 7 Arbeitern beim Brunnen gehört.
Wenige Tage nach der Entfernung des Kranken aus der Krugwirthschaft,
Anfangs Februar, wurde dasselbe Zimmer, in dem der Kranke gelegen hatte,
von Gästen (Männern) benutzt, welche eine gemeinschaftliche Schlittenfahrt
unternommen hatten. Im Laufe des Monats Februar erkrankten mehrere
Personen an Typhus (Flecktyphus) in B., zahlreich wurden diese Erkran-
kungen jedoch erst im Anfange des Monates März. Die Krankheit befiel
Anfangs ausschliesslich Männer und mit wenigen Ausnahmen nur solche,
welche bei Gelegenheit der gemeinschaftlichen Schlittenfahrt sich in dem
als Krankenzimmer benützt gewesenen Locale der M. 'sehen Krugwirthschaft
aufgehalten hatten."
Dieser Vorfall könnte ohne genauere Betrachtung als Stütze der alten
Annahme gelten, dass eine Uebertragung des Flecktyphus durch die Luft
möglich sei. Man darf indessen nicht übersehen, dass immerhin einige Tage
TYPHUS EXANTHEMATICUS. 845
nach der Entfernung des Kranken aus dem Gasthause verflossen waren, ehe
die Theilnehmer der Schlittenparthie dasselbe besuchten. Inzwischen musste,
selbst wenn eine eigentliche Lüftung des Krankenraumes nicht stattgefunden
hatte, auf dem natürlichen Wege durch Spalten aller Art eine gründliche,
mehrmalige Erneuerung der Luft desselben stattgefunden haben. Es können
daher nur die im Zimmer befindlichen Gegenstände, die Wände u. s. w. die
Träger des Ansteckungsstoffes gewesen sein. Zugegeben kann werden, dass,
wo etwa viel trockener Staub angehäuft liegt, eine zeitweise Aufwirbelung
desselben auch das an ihm haftende Krankheitsgift mitzureissen und so durch
die Athmungsluft Menschen zuzuführen vermag.
Jedenfalls drängten solche und ähnliche Erfahrungen mit Nothwendigkeit
zu der Annahme eines belebten Krankheitsgiftes des P'lecktyphus, eines
Krankheitskeimes ausserhalb und innerhalb des menschlichen Organismus,
von welchem sich von vornherein vermuthen lässt, dass derselbe der Reihe
der bakteriellen Lebewesen angehören dürfte. Infolgedessen sind vielfache
Versuche angestellt worden, diese Lebewesen nachzuweisen, bisher jedoch
ohne vollen Erfolg, Neuerdings hat zwar Professor Lewaschew von der
Universität in Kasan in der Deutschen med. Wochenschrift. (1892, Nr. 13
und 34) über seine Befunde an einer stattlichen Zahl von Flecktyphuskranken
berichtet. Danach ist es demselben gelungen, in dem Blute, namentlich der
Milz der Kranken, und zwar regelmässig und ohne Ausnahme, ein Klein-
lebewesen zu ermitteln und zu züchten, welches er Sjnrochaete exanthematiciim
nennt. Wie ich an anderer Stelle aus einem Referate ersehe, soll auch das
Thierexperiment positiv ausgefallen sein. Die Entdeckung ist aber leider
meines Wissens bisher nicht nachgeprüft, wenigstens nicht öffentlich bestätigt
oder verworfen worden, obwohl sie der Nachprüfung würdig zu sein scheint.
Hoffentlich werden weitere Untersuchungen uns mit dem Wesen dieses neuen
Spirochaeten recht bald noch näher bekannt machen.
Schon Hallier fand im Jahre 1868 einen Mikrococcus im Blute von Flecktyphus-
kranken. MoREAU und CoCHEz hielten ein Stäbchen, Hlava einen eiförmigen Coccus oder
Streptobacillus für den Erreger der Flecktyphuskrankheit (1888). Es folgten Thoniet und
Calmette (1892), Lerascher (1892), Brawnan und Cheesman (1892) und Dubief und Brühl
(1893).
Wir müssen uns somit nach dem derzeitigen Stande unserer Wissen-
schaft das Wesen und die Wirksamkeit der Krankheitsursache beim Fleck-
typhus etwa folgendermassen vorstellen: in gewissen, endemischen Landes-
gebieten, namentlich Niederungsgegenden und flachem Lande, in welchen
vielfach noch andere Krankheiten, besonders die Malaria heimisch sind, findet
sich jederzeit auch das Krankheitsgift des Flecktyphus. Leute, welche unter
der Ungunst ihrer Lebensverhältnisse zu leiden haben, namentlich Land-
streicher, sind der Erkrankung an Flecktyphus in erster Linie ausgesetzt.
Und zwar stellt gerade diejenige Zeit des Jahres, in welcher solche Leute am
schwersten von üblen Witterungsverhältnissen mitgenommen und in ihrer
Constitution geschwächt zu werden pflegen, nämlich das Frühjahr, die
Mehrzahl der Erkrankungen. Im Winter bevölkern die Landstreicher die
Krankenanstalten, Siechenhäuser, Gefängnisse und Arbeitshäuser. Im Früh-
linge locken schon die ersten wärmeren Tage dieselben wieder hinaus. Aber
die Gunst der Witterung ist keine dauernde und so findet sich die Gelegen-
heit zur Infection, nachdem die Disposition für dieselbe entstanden ist. Erst
später greift die Seuche hie und da auch auf die sesshaften Volksschichten
über und zwar erkranken demnächst vorwiegend solche Leute, welche mit
Landstreichern und obdachlosem Gesindel in Berührung kommen, die Gast-
wirthe, Herbergsväter, Kellner, Krankenpfleger und Pflegerinnen und die
Aerzte, namentlich der Krankenanstalten. In seltenen Fällen wird die Krank-
heit auch in nicht endemische Bezirke verschleppt. Gewöhnlich aber kommt
es weder hier, noch dort zu einer sehr grossen Ausbreitung der Seuche,
846 TYPHUS EXANTHEMATICÜS.
sondern nur zu kleineren, örtlich begrenzten Ausbrüchen. Ausgedehnte Epi-
demien setzen die Grundlage bestehender allgemeiner Calamitäten, wie Krieg,
Misswachs und Hungersnoth voraus.
Nach alledem muss man zu der Annahme gelangen, dass das Krank-
heitsgift des Flecktyphus ausserhalb des menschlichen Körpers von verhält-
nissmässig geringer Virulenz ist, dass Gesunde und nicht durch schlechte
äussere Umstände Geschwächte ihm in diesem Zustande geringerer Potenz
widerstehen. Vielleicht haftet es, dem Malariagifte gleich, am Boden, so dass
Leute, welche viel unter freiem Himmel ausruhen und schlafen, ihm ganz
besonders ausgesetzt sind. Jedenfalls scheint die Virulenz des Flecktyphus-
giftes bei der Passage durch den menschlichen Körper erheblich zu wachsen.
Denn nun erst wird es eines der gefährlichsten Krankheitsgifte, welches wir
kennen. All dies lässt uns ein contagium vivum vermuthen. Und zwar
handelt es sich beim Flecktyphus, um die alte Nomenclatur zu brauchen, um
eine miasmatische contagiöse Krankheit mit überwiegender Contagiosität,
während die Malaria eine reine miasmatische, der Darmtyphus eine mias-
matische contagiöse Seuche mit vorwiegendem miasmatischen Charakter ge-
nannt Averden könnte, wohl verstanden unter anderen Voraussetzungen über
das Wesen des Miasma und Contagium, als die alte Schule machte.
Pathologische Anatomie. Der Leichenbefund weicht im Wesent-
lichen nicht von demjenigen anderer, schwerer acuter Infectionskrankheiten
ab. Der allgemeine Ernährungszustand der Leiche ist ein verschiedener je
nach der Dauer des Krankheitsvorganges und dem Zustande der Ernährung
bei Ausbruch der Krankheit. Schnelle Fäulnis und der rasche Eintritt einer
sehr ausgesprochenen, aber bald vorübergehenden Leichenstarre charakterisiren
alle acuten Infectionen; ebenso die auffallend reichliche Ausbildung von
Leichenflecken und inneren Senkungserscheinungen, welche dem flüssigen Zu-
stande eines grossen Tlreiles der Blutmasse zuzuschreiben sind. Nicht selten
sind grössere oder kleinere Blutergüsse in die Haut, die Schleimhäute und
das Muskelbindegewebe. Die Muskelsubstanz selbst, namentlich diejenige des
Herzens und des M. rectus abdominis zeigt, wie bei Darmtyphus, degene-
rative Veränderungen, ausgedehnten feinkörnigen Zerfall und fettige Um-
schmelzung, wobei die Querstreifung verloren gegangen ist. Die Milz ist
vergrössert, erweicht und blutreich, jedoch nicht immer in erheblichem Maasse
verändert. Am constantesten zeigen die Lungen Veränderungen, meistens
ausgedehnte bronchitische, bronchopneumonische und hypostatische Processe.
Der Darmcanal ist für gewöhnlich im Wesentlichen intact. Leber und Nieren
befinden sich im Zustande mehr oder weniger vorgeschrittener parenchyma-
töser Degeneration. Die sonstigen Befunde an der Leiche sind von geringer
Kegelmässigkeit und richten sich nach den vorhandenen Complicationen und
Nachkrankheiten.
Symptomatologie und Verlauf. Mosler (Real-Encyclopädie der ge-
sammten Heilkunde Bd. 7 p. 264) sagt: „Fast könnte man versucht sein, das
allgemeine Krankheitsbild (des Flecktyphus) nach dem Muster der acuten
Exantheme zu entwerfen, mit denen der Flecktypus in seinem Verlaufe ge-
wisse Aehnlichkeit hat." Ich will dieser Versuchung nicht widerstehen. Denn
in der That hat das Bild des Flecktyphus so viel Uebereinstimmung, nicht
blosse Aehnlichkeit mit demjenigen der acuten Ausschlagskrankheiten, dass
ich nicht anstehe, denselben zu den letzteren zu zählen. Mit dem Darm-
typhus verbindet ihn nur die Gemeinsamkeit einer einzigen Symptomen-
gruppe, nach welcher beide Krankheiten „Typhus" (von xucpoo) = benebeln)
genannt worden sind.
Wie bei den acuten Exanthemen kann man auch am normalen Verlaufe
des Flecktyphus die Stadien der Incubation, der Vorläufererscheinungen, des
TYPHUS EXANTHEMATICUS. 847
Krankheitsausbruches, des Ausschlages (der Höhe der Erkrankung), des Nach-
lasses und der Krisis und der Abschuppung deutlich unterscheiden.
Incubation. Dieselbe beträgt nach meinen Erfahrungen an 39 klinisch
und 19 ausserhalb des Krankenhauses beobachteten Flecktyphuskranken in der
Mehrzahl der Fälle etwa 14 Tage, selten mehr oder weniger. Nach Mosler
ist in einzelnen P'ällen die Dauer der Incubation eine viel kürzere und beträgt
3 — 5 Tage. Dubief (Bulletin geueral de Therapeutique 1893, 125 p. 436)
nimmt an, dass die Incubationszeit zwischen 8 und 12 Tagen Dauer schwanke,
selten kürzer oder länger sei. Meine Beobachtungen lassen mir einen längeren
Zeitraum häufiger erscheinen, als einen kürzeren. 21 Tage und selbst dar-
über können von der Ansteckung bis zum Ausbruche der ersten Krankheits-
erscheinungen in seltenen Fällen verfliessen. Alles zusammengenommen triftt
MosLEß's Angabe zu, dass die Incubation bei Flecktyphus zwischen 7 und 21
Tagen betrage, seltene Ausnahmen unberücksichtigt. In der Mehrzahl der
Fälle dürfte sie einen Zeitraum von 14 Tagen in Anspruch nehmen. Wäh-
rend dieses Stadiums bestehen keine Krankheitserscheinungen.
Vorläuferstadium. Dasselbe fehlt nur selten gänzlich. Es ist, wie
bei den meisten Krankheiten, welche Verlaufserscheinungen aufweisen, durch
ein unbestimmtes, nichts charakteristisches darbietendes Unwohlsein gekenn-
zeichnet. Dabei kann, was mir öfter aufgefallen ist, der Appetit ungestört
sein. „Wir glaubten nicht, dass eine schwere Krankheit im Anzüge sein
könne," so äussert der Kranke und seine Umgebung, „weil das Essen, wie
gewöhnlich, schmeckte." — Die Dauer dieses Abschnittes der Krankheit ist
eine kurze, 2 — 4 Tage nicht überschreitende.
Stadium des Ausbruches. Der Ausbruch, bezw. wo ein Prodromal-
stadium bestand, der Uebergang desselben in dasjenige des Ausbruches der
eigentlichen Erkrankung ist in der Mehrzahl der Fälle ein plötzlicher, mehr
oder minder foudroyanter, meistens, wenn schon nicht stets, durch einen
Schüttelfrost eingeleitet, wie bei croupöser Lungenentzündung. Es scheint,
dass der Schüttelfrost öfter in denjenigen Fällen ausbleibt, in welchen ein
ausgesprochenes Prodromalstadium vorhanden war. Derselbe kann sich in den
nächsten Tagen ein oder mehrere Male wiederholen. Da dann auch Schweiss-
ausbrüche nicht zu fehlen pflegen, so kann in solchen seltenen Fällen der
Gedanke an das Bestehen eines Wechselfiebers bei dem Erkrankten um so
eher auftauchen, als der Flecktyphus Malaria- Gegenden bevorzugt.
Eine regelmässige Messung der Körpertemperatur ergiebt in diesem Ab-
schnitte der Krankheit, dass die Körperwärme des Kranken sehr rasch, oft
nach 24 Stunden, spätestens am 3. Tage Abends 40° C und darüber er-
klimmt und mit nur geringen morgentlichen Nachlässen sich auf bedeutender
Höhe erhält. Dabei ist der Puls beschleunigt, beträgt 90—130 Schläge in
der Minute, ist anfangs voll, aber von vornherein weich und leicht zu unter-
drücken, bei schwerem Verlauf der Krankheit schnell weichend, dünner und
dünner werdend.
Daneben fallen gleich anfangs ein mehr oder weniger heftiger Nasen-
und Bindehautkatarrh, Halsschmerzen und Schlingbeschwerden, Heiserkeit und
Luftröhrenkatarrh am meisten auf. Sehr häufig findet sich schon in den
ersten Krankheitstagen eine beträchtliche Schwerhörigkeit auf einem oder
beiden Ohren.
Von vornherein ist eine äusserst schwere Betheiligung des gesammten
Nervensystems festzustellen. De Brun (Flecktyphus in Beyruth, Bull, de
l'Acad. 1893. 30. p. 249 f. f.) hat sich der Mühe unterzogen, alle bei Fleck-
typhus vorkommenden nervösen Erscheinungen genau zu beschreiben. Die-
selben sind in Kürze: Kopfschmerzen (constant), Schwindel (constant), nament-
lich beim Aufrichten, Schlaflosigkeit, Kückenschmerzen, Magenschmerz, andere
Schmerzen an den verschiedensten Stellen des Körpers, namentlich Seiten-
848 TYPHUS EXANTHEMATICUS.
stechen, welches eine Brustfellentzündung vermuthen lassen kann; Gelenk-
und Muskelschmerzen; mehr oder weniger ausgedehnte Hauthyperästhesieen,
namentlich am Bauche, manchmal über den ganzen Körper verbreitet; allge-
meines Unbehagen, Knochenbrechen, Steifigkeit. Am charakteristischesten ist
die früh eintretende Prostration, namentlich die Schwierigkeit zu sprechen.
Ferner Unruhe, Zittern, namentlich der Wangen und Hände, auf der Höhe
der Krankheit häufig Sehnenhüpfen und Flockenlesen. Endlich Störungen der
Seelenthätigkeit, Abwesenheit, Unsicherheit, Mangel an Ideenassociation, Ver-
schwinden der Gemüthsempfindungen, Passivität; Gesichtshallucinationen,
welche denjenigen bei Alkoholikern ähnlich sind. Dominirend ist der Ver-
lust des Gedächtnisses, namentlich auf der Höhe der Erkrankung. Zehn
Minuten, nachdem ein Freund sie besucht und eine Viertelstunde mit ihnen
gesprochen hat, beklagen sich die Kranken darüber, dass derselbe sie niemals
aufsuche. Schliesslich sind Delirien zu erwähnen, welche aber so gut wie
niemals furibund, sondern fast ausnahmslos als blande, mussitirende sich äussern,
wobei die schwer betäubten Kranken sich dennoch schlaflos hin und herwerfen,
vor sich hin murmeln und nur schwer durch lautes Anrufen auf Augenblicke aus
ihrem Taumel herauszureissen sind. Ihren Höhepunkt erreichen alle diese ner-
vösen Erscheinungen, namentlich die schwereren seelischen Functionsstörungen
erst im Stadium des Ausschlages, auf dem Gipfel der Krankheit. Der
Ausschlag erscheint selten vor dem 5., ist öfters erst am 6. oder 7. Tage der
Krankheit, das etwa vorhandene Vorläuferstadium nicht eingerechnet, deutlich
ausgesprochen. Derselbe fehlt so gut wie niemals gänzlich und dauernd,
soll aber in seltenen Fällen (Dubie) so spärlich sein, dass man ihn suchen
muss. MosLER will Fälle von Flecktyphus ohne Exanthem gesehen haben.
Der Ausschlag bricht nicht mit einem Schlage aus, sondern macht mehrere
Schübe und braucht 2 — 3 Tage zu seiner völligen Entwickelung. Das Exan-
them verschont, vielleicht mit Ausnahme der behaarten Kopfhaut, woselbst
ich es niemals feststellen konnte, keine Körpergegend gänzlich. Die Fran-
zosen behaupten einstimmig und etwas stereotyp: „Elle (sc. l'eruption) re-
specte la face et le cou." Moslee, ich und andere Beobachter haben indessen
den Ausschlag, wenn auch selten, das Gesicht befallen sehen. Ich hatte als-
dann, bei der sonstigen Aehnlichkeit des Krankheitsbildes mit dem der Masern
(Bindehaut-, Nasen- und Bronchialkatarrh) den Eindruck, ein bläulich ge-
färbtes Morbillenexanthem, wie etwa bei schweren, zur hämorrhagischen Form
neigenden Masern, vor mir zu haben. Der Ausschlag hat überhaupt bei den
meisten Kranken die grösste Aehnlichkeit mit den Masern. Bareault (1. c),
welcher drei verschiedene Formen desselben bei Flecktyphus feststellt, nämlich
die masernartige, diejenige der linsenförmigen Flecke von dunklem Weinroth
und diejenige der Marmorirung der Haut, bezeichnet ausdrücklich die erst-
genannte als die häufigste, „Die Flecke der ersteren Art sind etwas erhaben,
unregelmässig begrenzt, von dunklerem Roth als bei den Masern, Anfangs
verschwinden dieselben bei Fingerdruck. Gegen den vierten Tag seit dem
Bestände des Ausschlages werden sie theilweise ekchymotisch, in schweren
Fällen mit reichlichen Hautblühten stellenweise petechial, andere Male purpur-
artig. Die zweite Form ähnelt den Roseolen des Darmtyphus, nur sind die Flecke
dunkler." Was die dritte Form anbelangt, so habe auch ich Fälle vonausge-
sprochen livider Marmorirung ausgedehnter Hautparthieen beobachten können.
Nach den französischen Berichten soll am Tage des Ausbruches der
Blüthen fast immer am Morgen eine Remission der Körperwärme von bis zu
1° C eintreten. Ich kann diese Feststellung leider nicht mehr nachprüfen,
da meine Temperaturlisten inzwischen vernichtet worden sind. Im Uebrigen
hält sich die Körpertemperatur während des Ausschlagstadiums mit meistens
nur geringen, 0"5'' C. selten übersteigenden Nachlässen zunächst noch auf
der Höhe.
TYPHUS EXANTHEMATICUS. 849
Das Krankheitsbild ist jetzt zur Vollendung entwickelt. Der Kranke
liegt apathisch, leise vor sich hinmurmelnd, unruhig und schlaflos hin und her
geworfen, mit dunkel geröthetem Gesichte und halb geöffnetem Munde und
Augenlidern, in sich „zusammengerutscht" da. Er verbreitet einen eigenthüm-
lich moderigen Geruch. Oft geht Urin und Stuhl unwillkürlich ab. Die
Bindehäute sind stark geröthet, die Zunge ist trocken, borkig, braun belegt
und zeigt an der Spitze nicht selten eine sehr charakteristische, hochrothe
Kaute. In schweren Fällen ist der ganze Mund trocken, das Zahnfleisch mit
schmutzig-braunen Borken bedeckt, das Hervorstrecken der Zunge erschwert,
die Nahrungsaufnahme fast unmöglich geworden. Der Puls ist klein, beträgt
110 — 140 Schläge in der Minute, zeigt oft grosse Unregelmässigkeit, ist aber
viel seltener doppelschlägig, als bei Darmtyphus. Die Athmung ist stark
beschleunigt, über den Lungen bestehen zahlreiche, katarrhalische Geräusche,
in schweren Fällen die Zeichen der Pneumonie. Die Herztöne können ab-
geschwächt und verwaschen sein. Der Bauch ist manchmal empfindlich (Haut-
hyperästhesie), aber selten stärker aufgetrieben. Ileocöcale Geräusche bestehen
nicht. MosLER scheint dieselben beobachtet zu haben. Dabei können die Stuhl-
entleerungen wässerig sein. Denselben fehlt aber die für Darmtyphus charak-
teristische, erbsensuppenartige Beschaffenheit. Auch diese will Mosler ge-
sehen haben. Oefter besteht Verstopfung. Die Milz ist vergrössert, jedoch
nicht so beträchtlich, als in schweren Fällen von Darmtyphus. Die Neigung
zum Aufliegen ist jetzt eine grosse. Der Urin ist spärlich, hochgestellt, oft
eiweisshaltig, meistens aber nur in geringem Grade.
Das Stadium des Nachlasses und der Krisis. Der Ausschlag
hält sich für gewöhnlich nur wenige, etwa 2 — 3 Tage, auf der Höhe seiner
Entwickelung, um alsdann rasch abzublassen. Soweit er petechial ist, bleiben
seine Spuren natürlich länger sichtbar. Gleichzeitig mit dem Erblassen des
Ausschlages stellt sich in der zweiten Krankheitswoche ein geringer, aber
meist bei Berechnung der Durchschnittstemperaturen deutlich erkennbarer
Rückgang der Körperwärme ein. Im Uebrigen bleibt das Krankheitsbild noch
unverändert. Gegen das Ende der 2. Woche, zwischen dem 11. bis 14. Krank-
heitstage, tritt eine Krisis ein, welche, gewöhnlich in den späteren Abend-
stunden einsetzend, oft unter heftigen Schweissen, wie bei croupöser Pneu-
monie, die Körpertemperatur bis zur Norm oder gar unter dieselbe herab-
drückt. Der Kranke erscheint jetzt auffallend zum Vortheil verändert, schläft
oft anhaltend und ruhig. Das hochrothe Gesicht und der leidende Ausdruck
desselben sind gewichen und haben einer natürlichen Blässe Platz gemacht.
Der Puls ist von normaler Frequenz, voller, jedoch noch immer weich und
öfter auch hin und wieder aussetzend.
Seltener ist eine Lysis der Krankheit. Gewöhnlich zieht sich in solchen
Fällen dieselbe länger, selbst bis zum Ende der 3. Woche hin.
Der tödtliche Ausgang tritt in der Mehrzahl der Fälle gegen den An-
fang der 3. Krankheitswoche ein. Das Bild zunehmender Herzschwäche, welche
auf Entartung des Herzmuskels in Folge der Schwere der Intoxication beruht,
meistens mit Hyperpyrese, selten mit normalen oder selbst subnormalen
Temperaturen einhergehend, beherrscht nunmehr die Scene bis zum Tode.
Das Stadium der Abschuppung und Reconvalescenz. Die
Körpertemperatur bleibt auch selbst nach dem kritischen Ablaufe der Er-
krankung nicht immer dauernd eine normale. Vielmehr greifen in den ersten
Tagen der Convalescenz noch manchmal leichtere abendliche Steigerungen
derselben Platz. Sehr häufig ist eine oft lange in die Genesung hinein sich
verschleppende Unbesinnlichkeit und geistige Stumpfheit der Kranken vor-
handen, welche ich als „nachkritische Benommenheit" in spät zur Behandlung
kommenden Fällen seinerzeit geradezu für diagnostisch wichtig bezeichnet
habe. Crise urinaire nennen die französischen Schriftsteller die mit der all-
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten, Bd. III. 54:
850 TYPHUS EXANTHEMATICÜS.
gemeinen Krisis einsetzende und oft mehrere Tage und länger in die Recon-
valescenz hinein sich erstreckende Polyurie. Niemals vermisst man, falls der
Ausschlag nur einigermaassen reichlich vorhanden war, bei genauerem Zusehen
in den späteren Stadien der Genesung eine feine, derjenigen nach Masern
ähnliche, aber weniger reichliche, kleienförmige Abschuppung der Oberhaut.
Während anfangs, bei Beginn der Convalescenz, die Kranken im All-
gemeinen mitgenommen und elender erscheinen, als selbst nach dem Ueber-
stehen schweren Darmtyphus', erholen sich dieselben später gewöhnlich viel
schneller und vollständiger, so dass in normal verlaufenden Fällen die Dauer
der Krankheit bis zur völligen Genesung und Wiederherstellung der Arbeits-
fähigkeit selten über 5 Wochen beträgt. Angehörige der sogenannten besse-
ren Stände haben, wie auch nach Darmtyphus, eine langsamere Convalescenz.
Uebrigens will man die Erfahrung gemacht haben, dass in guten Verhält-
nissen Lebende einen grösseren Procentsatz zur Mortalität des Flecktyphus
stellen als Arme.
Complicatioiien und Naclikrankheiten. Während man eine mehr
oder weniger verbreitete Bronchitis als nie gänzlich fehlendes, zum Erschei-
nungsbilde des Flecktyphus ebenso, wie der Masern gehöriges Symptom be-
zeichnen kann, sind Lungenentzündungen als Complicationen zu be-
trachten. Dieselben tragen entweder den Charakter der croupösen Pneumonie,
oder sind bronchopneumonischer oder hypostatischer Natur. Pleuritis ist
eine seltene Begleiterscheinung derselben. Ebenso die acute Miliartuber-
culose.
Acute Herzverfettung, in schw^eren Fällen nicht selten und die
Hauptursache des Todes auf der Höhe der Krankheit, kennzeichnet sich durch
Schwäche der Herzthätigkeit, Fehlen oder Verwaschenheit des ersten Tones,
beschleunigten, kleinen, aussetzenden, fadenförmigen Puls, Pulsus duplex (selten)
und die sonstigen Zeichen der Herzschwäche, Cyanose, Thrombosen, selbst
Gangrän, namentlich an den unteren Extremitäten, Neigung zum Decubitus.
Abscesse, Furunkel und Carbunkel sind verhältnissmässig häufig. Ich
selbst beobachtete 2 mal in Genesung ausgehende Vereiterung einer Ohr-
speicheldrüse.
Otitis media suppurativa hat Hampeln (Dtsch. Archiv, f. klin. Med. XXVI
p. 238) unter 726 Fällen nach Flecktyphus 10 mal gesehen.
Magen- und Darmblutungen sind nicht häufig; dagegen gehört ein
massiges, nicht eben beängstigendes Nasenbluten zu den gewöhnlicheren Com-
plicationen.
Hampeln beobachtete unter seinen Fällen 4 von eitriger Meningitis,
welche insgesammt tödtlich verliefen, ferner 4 mal Hemiplegie embolischen
Ursprunges, endlich eine Pieihe functioneller Neurosen, einigemale auch
Geistesstörungen.
MosLER berichtet über 1 Fall von Blasencatarrh mit nachfolgender Pye-
litis. Ueber Nierenentzündung nach Flecktyphus finde ich nichts, habe selber
auch keine erlebt. Sie dürfte selten sein, dass sie gar nicht vorkäme, halte
ich für eine gewagte Annahme. Es wird aber noch nicht von jedem aus der
Behandlung zu entlassenden Kranken, wie es sein müsste, der Urin chemisch
und mikroskopisch untersucht.
Abweichender Verlauf. Als solcher ist eigentlich nur die abor-
tive Form der Febricula zu erwähnen, welche schon am Ende der ersten oder
dem Anfange der 2. Woche in dauernde Genesung übergeht. Die seltenen
Fälle von Flecktyphus ohne Exanthem fanden oben Erwähnung.
Diöerentialdiagnose. Beim Ausbruche der Erkrankung kann die Wieder-
holung des initialen Frostes, namentlich, w^enn dieselbe von Schweissen be-
gleitet ist, Malaria vortäuschen. Gegen einen dauernden Irrthum dieser
Art schützt die regelmässige Temperaturmessung.
TYPHUS EXANTHEMATICUS. 851
Der Beginn der Krankheit mit einem Schüttelfroste, die Complication der-
selben mit Lungenentzündung und die Krisis können, wo dieselben vorhanden
sind, sowohl für sich allein, als noch mehr, wenn alle drei Bedingungen nach
einander zutreffen, zu der Diagnose einer croupösen Pneumonie führen.
Das Auftreten des Ausschlages und die schw^ere Betheiligung des gesammten
Nervensystemes dürften dann in den meisten Fällen die Aufklärung der Sach-
lage ermöglichen. Gehirnerscheinungen bei Pneumonieen sind namentlich bei
Erwachsenen, abgesehen von Alkoholikern, selten und selbst bei Kindern ge-
wöhnlich nicht so schwer und andauernd vorhanden, dass dieselben leicht
mit den nervösen Erscheinungen des Flecktyphus zu verwechseln w^ären.
Das Bild einer schweren Influenza kann demjenigen des Flecktyphus
am Anfange der Krankheit sehr ähnlich sein. Das Erscheinen des Exan-
themes und die ungewöhnliche Hartnäckigkeit und Schwere der nervösen
Erscheinungen bei Flecktyphus dürften die Entscheidung ermöglichen.
Gegenüber der Meningitis kommt als maassgebend der Ausschlag
und das Verhalten des Pulses in Betracht. Häufiges Erbrechen spricht für
Meningitis.
Besonders bei Kindern kann die oft nicht ganz leicht vermeidbare Ver-
w^echselung des Flecktyphus mit Masern vorkommen. Bei dem ersteren
bleibt viel häufiger das Gesicht und der Hals von dem Ausbruche der Haut-
blüthen verschont, der Ausschlag besitzt weniger eine hochrothe, als vielmehr
eine bläuliche Farbe. Endlich ist die Dauer der Krankheit bei Flecktyphus
eine meistens längere, die Betheiligung des Nervensystems eine schwerere.
Von Variola hämorrhagica soll der Typhus exanthematicus oft
auch pathologisch-anatomisch kaum zu unterscheiden sein. Indessen zeigten
in einem von Golgi beschriebenen Falle Milz und Knochenmark nicht die
für jene so charakteristischen Veränderungen.
Weniger schwer gelingt die Abgrenzung des Krankheitsbildes des Fleck-
typhus von demjenigen des Rückfallfiebers.
Schwierig kann die Differentialdiagnose zwischen Typhus exanthematicus
und Typhus abdominalis namentlich dann werden, wenn beide Krank-
heiten nebeneinander herrschen, wäe ich selbst dies beobachten konnte. Mir
erscheinen folgende, klinische Unterscheidungsmerkmale als die wichtigsten
zwischen beiden Krankheitszuständen: „Beim Darmtyphus das längere, meistens
mindestens achttägige Vorläuferstadium gegen das viel kürzere, zwei- bis
dreitägige des Flecktyphus; der überwiegend häufige Ausbruch der eigent-
lichen Erkrankung beim Flecktyphus mit einem Schüttelfrost gegenüber dem
so seltenen Initialfroste beim Darmtyphus; die hie und da zu beobachtende
Wiederholung der Fröste und das Auftreten von wiederholten Schweissen im
Beginne der Krankheit beim Flecktyphus. Sehr charakteristisch für den
letzteren erschien mir, wo es vorhanden w^ar, das eigenthümliche, anhaltende
Muskelzittern, was ich nur als ein „Flattern am ganzen Körper", wie nach
heftigem Schrecken oder bei überwältigender Angst, einigermassen zutreffend
bezeichnen kann; ferner die schon in den ersten Tagen hervortretende, sehr
bald bis zur Bew^usstlosigkeit gesteigerte Benommenheit, die starke Injection
der Bindehaut und die auffallende Heiserkeit, Weiterhin dann das Fehlen
der Darmläsion, welches, selbst wo im Anfange Darchfälle vorhanden sind —
meist ist Neigung zur Stuhlverstopfiing vorherrschend — , sich durch das
Fehlen von Schmerzhaftigkeit und Auftreibung des Bauches, sowie von
Gurren zu erkennen giebt. Vorhandene Durchfälle hatten niemals die für
den Darmtyphus so charakteristische Erbsensuppenbeschaffenheit, sondern
waren dunkelbraun oder grünlich, wässerig und schaumig, mitunter dünn-
breiig." Guter Appetit im Vorläuferstadium spricht gegen beginnenden
Darmtyphus. Die Flecke des Ausschlages bei Flecktyphus sind reichlicher,
treten auch am Rücken, den Extremitäten und manchmal auch im Gesicht
54*
852 TYPHUS EXANTHEMATICUS.
zahlreich auf. Sie sind von mehr bläulicher, als rother Farbe. Die Milz-
schwellung ist selten so ausgesprochen, wie bei schwereren Darmtyphen.
Wichtig sind auch die anamnestischen Angaben, namentlich insoweit dieselben
Beziehungen zu anderweitig aufgetretenen, ihrem Charakter nach vielleicht
schon bekannten Erkrankungen nachweisen. Die Temperaturcurve bei Fleck-
typhus zeigt nicht den allmäligen Anstieg, wie beim Darmtyphus,
Endlich hat Steell (The Practitioner 1880. 2. 347. 401.) mit Recht
auf die grosse Aehnlichkeit hingewiesen, welche das Bild des Typhus exan-
thematicus auf dem Gipfel der Krankheit mit demjenigen der Urämie ver-
bindet. Bei der letzteren ist die Körpertemperatur des Kranken gewöhnlich
zwar nicht erhöht, sie kann es aber ausnahmsweise dennoch sein und dann
sind Verwechselungen beider -Krankheitszustände um so weniger ausgeschlossen,
als auch in schweren, prognostisch ungünstigen Fällen von Flecktyphus die
Temperatur subnormal sein kann. Der Zustand der Zunge eines Urä-
mischen sei zum Verwechseln derjenigen eines Flecktyphuskranken gleich.
Die Ergebnisse der Urinuntersuchung könnten in so fern täuschen, als auch
bei Flecktyphus Eiweiss im Harne häufig, Cylinder und Zellen nicht ganz
selten aufzufinden wären; auch bei Urämie aber fände sich öfter wenig oder
gar kein Eiweiss. Aber dann sei das specifische Gewicht des Urins
auffallend niedrig, niedriger, als jemals bei Typhus. Auch sei der Puls
Urämischer gewöhnlich hart und voll, bei Flecktyphus weich und dünn. Die
Aehnlichkeit beider Zustände mit einander stütze Murchison's Hypothese,
dass es sich beim typhösen Zustande (typhoid State) um die Zurückhaltung
toxischer Producte im Körper handeln müsse, gerade wie bei Urämie.
Vorhersage. So schwer das Krankheitsbild des Flecktyphus im
einzelnen Falle auch sein mag, so überraschend günstig ist in den meisten
Fällen der Ausgang der Erkrankungen. Sechs Siebentel der Befallenen ge-
nesen. Besonders günstig ist die Vorhersage im Kindesalter. Ueberhaupt
steigen die Chancen der Genesung je jünger, kräftiger und gesünder das be-
troffene Individuum beim Ausbruche der Krankheit war und je früher dasselbe
in geregelte Pflege und ärztliche Behandlung gelangte. Schon zwischen dem
30. und 40. Lebensjahre wird die durchschnittliche Sterblichkeit etwas über-
schritten. Schlechter Ernährungszustand und Organerkrankungen aller Art
trüben die Prognose. Von übler Bedeutung sind anhaltendes Muskelzittern,
wiederholte Schweissausbrüchc, reichlichere Blutungen, unwillkürliche Ent-
leerungen und Urinverhaltung. Von den Complicationen sind Pneumonieen
und die eitrige Hirnhautentzündung am meisten zu fürchten. Indessen giebt es
wohl keine Krankheitserscheinung und keine Complication des Flecktyphus,
welche eine absolut schlechte Vorhersage zuliesse, da manchmal ganz wunderbare
Genesungen eintreten.
Prophylaxe. Dieselbe hat sich, im weitesten Sinne genommen, auf die
Besserung der allgemeinen Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerung
namentlich der endemischen Gebiete zu richten. Dem Ausbruche allgemeiner
Calamitäten der oben beschriebenen Art ist rechtzeitig entgegenzuarbeiten.
Nächstdem ist den gesundheitlichen Verhältnissen aller Oertlichkeiten, an
welchen grössere Menschenmengen in engen Räumen untergebracht sind, wie
den Herbergen, Asylen, Gefängnissen und schlecht geleiteten Krankenanstalten
ein wachsames Auge zuzuwenden. Beim Ausbruche der ersten Seuchenfälle
sind dieselben einer dauernden, strengen Controle zu unterwerfen.
Die ersten Fälle sind möglichst strenge, am besten durch Unterbringung
der Erkrankten in gut geleiteten und womöglich mit Isolirhäusern aus-
gestatteten Krankenanstalten abzusondern.
Alle Unerfahrenen, welche mit den Kranken in Berührung kommen,
sind mit der eminenten Ansteckungsgefährlichkeit der Seuche bekannt zu
machen, und mit genauen, den besonderen Verhältnissen und persönlichen
TYPHUS EXANTHEMATICUS. 853
Ueberzeugungen entsprecheaden Desinfections Vorschriften zu versehen. Es
würde mich zu weit führen, die von mir (Deutsche medicinische Wochenschrift
1895. 34.) beschriebenen erprobten Vorschriften letzterer Art liier näher zu
erörtern.
Therapie. Obenan stehe der Grundsatz, sobald als möglich für dauernde
Bettruhe und geregelte Pflege und Behandlung der Erkrankten Sorge zu tragen.
Die Pflege hat sich in erster Pteihe angelegen sein zu lassen, für ein beheiz-
und lüftbares, helles, aber verdunkelbares Krankenzimmer und ein nicht zu
weiches, glatt zu erhaltendes Lager zu sorgen. Bei vorhandener Neigung
des Kranken zum Aufliegen sorge man rechtzeitig für Lagerung desselben
auf einem Wasserkissen. Die Luft im Krankenraume sei nicht zu warm und
betrage etwa 14° R. Man bette den Kranken häufig um und wechsele fleissig
die Wäsche desselben.
Nächstdem kommt die Sorge für genügende Nahrungsaufnahme seitens
des Kranken. Die meisten derselben müssen an jeden Schluck erinnert
werden, nehmen aber gewöhnlich geduldig, was man ihnen darreicht. Zu
dem Ende ist dem Zustande des Mundes besondere Sorgfalt zuzuwenden und
derselbe oft mit kaltem Wasser oder kalten, antiseptischen, ungiftigen Lösungen
(Borsäure, Salicylsäure, essigsaure Thonerdelösungen oder dergl.) auszuwaschen.
Zum Gurgeln und Mundspülen sind viele Kranke nicht zu bringen. Die
Nahrung sei eine flüssige, aber möglichst eiweissreiche. Milch, Bouillon mit
Ei, Fleischthee, nächst dem Wein, Kaffee, Thee, Kakao, Cognac und dergl.
eignen sich am meisten für die Verpflegung der Kranken. Man lasse nie zu
scharf salzen, da der Zustand des Mundes dies nicht erlaubt.
Namentlich gebe man reichlich zu trinken. Kalte Limonaden, Brause-
wässer, frappirten Champagner, aber auch frisches gutes Brunnenwasser,
welches viele Kranke allem anderen vorziehen, sind am Platze. Bei reich-
lichem Trinken tritt die Crise urinaire nicht so hervor, was nur zum Vortheil
der Nieren sein kann.
Oeftere Waschungen der Haut des Kranken mit Spirituosen Wässern
oder Essigwasser wirken sehr erfrischend. Peinlichste Sauberkeit ist selbst-
verständlich.
Die weitere Behandlung kann bei dem Mangel einer Kenntnis der
Krankheitsursache nur eine symptomatische sein. Da dürfte nun vielen
Aerzten die Bekämpfung der hohen Körperwärme des Kranken in erster
Reihe nothwendig erscheinen. Und zwar dürfte es die Kaltwasserbehandlung
oder wenigsten die Wasserbehandlung sein, welche dem modernen Arzt am
geeignetsten erscheinen wird, diesem Zwecke zu dienen. Man verspreche sich
aber von derselben beim Flecktyphus nicht allzuviel. Ihre Wirkung ist hier
nur eine geringe, die Temperatur nur wenig und nur auf kurze Zeit beein-
flussende. Eine kritiklose und fanatische, nicht genügend individualisirende
Wassertherapie ist jedenfalls verwerflich. Man vergesse nicht, dass man
auch Kranke zu Tode baden kann. Schwere Lungencomplicationen namentlich
contraindiciren kühle Vollbäder durchaus. In solchen Fällen begnüge man
sich mit kühlen Aufschlägen oder PßiEssxiTz'schen Umschlägen. Ich selbst
bin ohne Badebehandlung ausgekommen und habe bei meinen, theilweise sehr
schweren und vernachlässigt anlangenden 39 klinisch behandelten Fällen nur
5 Todesfälle erlebt. Die Neigung zu Nachkrankheiten seitens meiner Kranken
war äusserst gering. Die meisten derselben erholten sich sehr rasch. Ich
bin der Ansicht, dass ein hoher Fieberverlauf bei Flecktyphus
an sich keine prognostisch ungünstige Bedeutung hat und
daher gar nicht coute que coute bekämpft werden darf.
Dagegen halte ich die Unterdrückung allzuschwerer, quälender, nervöser
Erscheinungen, namentlich der Schlaflosigkeit und dauernder Unruhe für
"gichtig. Man kann ohne Sorge etwas Narcotica, namentlich Morphin reichen.
854 TYPHUS RECUERENS.
Ich verordnete gerne und wie mir schien mit Erfolg einen Aufguss von
Brechwurzel mit Salzsäure und salzsaurem Morphium. Die Brechwurzel kann
übrigens Uebelkeit und Erbrechen erregen. Dann fällt sie natürlich fortab weg.
Complicationen bedürfen einer besonderen, gegen sie gerichteten Be-
handlung. EICHTER-MAEIENBUßG.
Typhus recurrens {Recurrens, Rückfallsfieher, relapsing fever, fievre
ä racMfes) ist der von Griesinger eingeführte und allgemein verbreitete
Name einer Krankheitsform, die mit Sicherheit zuerst am Anfange des vorigen
Jahrhunderts als eine besondere Typhusform von den Engländern Shrother
und Lind beobachtet und von Ruthy 1741 deutlich beschrieben wurde. Die
Krankheit tritt in Epidemien auf, die in den Jahren 1797 — 1801, 1817—20,
1826—29, 1842—43 in England und besonders in Schottland und Irland
einen grossen Umfang erreichten. Häufig verbreitet sich die Febris recurrens
zugleich mit Typhus exanthematicus, so auch beim ersten Erscheinen in
Deutschland während der grossen schlesischen Epidemie 1847 — 48 (beschrieben
von DüMMLER und Bärensprung). Die zweite deutsche Epidemie 1867—68
suchte wieder Schlesien, insbesondere Breslau heim, nachdem 1863 in Peters-
burg und Odessa grosse Epidemien vorausgegangen waren. Im Jahre 1868
erschien die Krankheit in Berlin, kehrte 1873 wieder, ist aber nach einer
wenig umfangreichen Epidemie ven 1879 — 80 daselbst gänzlich verschwunden.
Inzwischen wurden aus den verschiedensten Gegenden der Welt Epidemien
beschrieben, eine besondere Bedeutung haben aber die Egyptische von 1851
durch die Beobachtungen Griesinger's erlangt, sowie die Breslauer von 1872
bis 1873, bei der es dem Verfasser gelang, die Epidemie bis auf ihren Ur-
sprungsherd zu verfolgen und die ganze Stufenleiter der einzelnen Ansteckungen
nachzuweisen.
Aetiologie. Das Rückfallsfieber ist nicht nur dadurch ausgezeichnet,
dass es, abgesehen vom Rotz, der doch vorzugsweise bei Thieren vorkommt,
die erste Infectionskrankheit ist, bei der ein specifischer Krankheitserreger
entdeckt wurde; es sind auch bei keiner epidemischen Krankheit der Ursprungs-
herd und die einzelnen Staffeln der Weiterinfection so genau klargelegt worden.
Als Träger der Infection sind die von Obermeyer entdeckten Spirillen an-
zusehen, deren im folgenden noch ausführlich Erwähnung geschehen soll.
Indes scheint es, als ob sie zur Entwicklung gewisser Vorbedingungen be-
dürften. Schon die ersten Beobachter erwähnen, und bei allen Epidemien hat
sich herausgestellt, dass das Rückfallsfieber in ausgesprochenstem Maasse eine
Krankheit der niedrigsten, in Armuth und Unsauberkeit verkommenen Stände
ist, so dass Griesinger zu der Ansicht kam, dass wenn irgend eine typhoide
Erkrankung den Namen Hungertyphus verdiene, es diese sei. Auf den
Mangel an sich aber kann die begünstigende Veranlassung nicht zurückgeführt
werden, das beweisen die Beobachtungen, die Verfasser während der Epidemie
von 1872/73 in Breslau zu machen Gelegenheit hatte. Eine grosse Menge
von Leuten, die in entsetzlicher Armuth lebten, auf elendeste Weise sich er-
nährten und unter Brückenbögen und dergleichen nächtigten, blieben ver-
schont. Erst als sie mit erkrankten Menschen in enge Berührung kamen,
obwohl unter besseren äusseren Verhältnissen, im reinlich und verhältnismässig
angenehm ausgestatteten städtischen Asyl, wurden sie von der Krankheit be-
fallen. Es bedarf also zur Infection der directen Uebertragung von Individuum
zu Individuum; allerdings bedarf es nicht der Berührung mit dem Erkrankten
selbst, auch durch Personen, die selbst verschont bleiben, und vielleicht auch
durch Gebrauchsgegenstände, Kleidungsstücke u. s. w. kann die Uebertragung
erfolgen. Dass ferner die directe Berührung nothwendig ist, und nicht etwa,
wie früher angenommen wurde, die Ausbreitung durch das Trinkwasser erfolgt,
geht daraus hervor, dass während der erwähnten Epidemie eine ganze Reihe
TYPHUS RECURRENS. 855
von Häusern aus demselben Brunnen mit Wasser versorgt wurde, dass aber
nur in denjenigen Häusern Erkrankungen vorkamen, in denen Schlafstellen-
wirthschat't betrieben wurde, so dass in einem engen, sclilecht ventilirten
Kaume eine grosse Menge Menschen, Körper an Körper, schliefen. Die
Häuser dagegen, in denen einzelne Familien für sich alleine wohnten, blieben
verschont. In den meisten Fällen konnten öffentliche Obdache und elende
Herbergen als Ursprungs- und immer sich erneuernde Ausgangsstätten der
Epidemien nachgewiesen werden, umherziehende Handwerksburschen waren die
am meisten Befallenen. Demzufolge kamen auch sporadische Fälle vor, die
aber meist auf einen grossen Herd zurückgeführt werden konnten. Die
Febris recurrens betrifft nun keineswegs die nothleidenden Volksclassen allein;
da, Avo die Gelegenheit zur Berührung gegeben ist, breitet sie sich aus, das
mussten zahlreiche Insassen, sowie Wärter und Aerzte der Krankenhäuser mit
dem Verfasser am eigenen Leibe erfahren. Ihre Ansteckung erfolgte aber
stets durch die Kranken, mit denen sie zu thun hatten. Die Ansteckungs-
gefahr scheint nicht stets gleich gross zu sein. Im Jahre 1872/73 erkrankten
in Breslau in den Wohnungen, in welche eine inficirte Person hineinkam,
fast jedesmal sämmtliche Einwohner; im Allerheiligenhospital, in welches
448 Recurrenskranke aufgenommen waren, erkrankten 21 Personen, während
im selben Krankenhause 1868 (Bock und Wyss) bei 351 aufgenommenen
Kranken elf, auf der TßAUBE'schen Charite-Abtheilung zu Berlin 1871/72 bei
160 aufgenommenen Kranken keine, im Londoner Feverhospital innerhalb I4V2
Jahren unter 440 eine einzige Erkrankung im Hospital vorkam. Dagegen
erkrankten in Danzig bei 351 Fällen von elf Wärterinnen fünf. Directe be-
weiskräftige Uebertragungen sind mehrfach beobachtet und erfolgreich aus-
geführt worden; Aerzte haben sich bei Sectionen von Recurrensleichen mit
Recurrens inficirt, Vandyk, Carter, Lew^es, Rob. Koch vermochten durch
Ueberimpfen des Blutes von Recurrenskranken auf Affen die typischen Er-
scheinungen hervorzurufen, Motschutkov\^sky endlich überimpfte Recurrens-
blut sogar auf Menschen, und zwar mit positivem Erfolg. Trotzdem ist über
die Dauer der Incubation nichts absolut sicheres bekannt. Während nach
der Berechnung des Verfassers dieselbe im Mittel zwischen 7 — 12 Tage beträgt,
wird sie von anderen auf 7 — 8 Tage geschätzt. Die längste Zeit, die zwischen
Ansteckungsgelegenheiten und Erkrankung beobachtet wurde, betrug, 16 Tage,
während als die kürzeste die von mir mitgetheilte des Dr. Secchi mit 3 Tagen
anzusehen ist. Eine Altersgrenze gibt es für die Krankheit nicht, wir beob-
achteten Recurrens bei Säuglingen von 9 Monaten und bei Greisen, das Durch-
schnittsalter betrug 32 Jahre. Die beiden Geschlechter wurden ziemlich
gleichmässig betroffen, während Ponfick das Ueberwiegen des männlichen
hervorhebt.
Verlauf und Symptome. Prodromalerscheinungen werden nur von
wenigen Erkrankten angegeben, sie fehlten vollständig bei meiner eigenen
Erkrankung. In der Mehrzahl der Fälle beginnt die Krankheit ganz plötzlich,
meist mit Schüttelfrost, heftigem Kopfschmerz in Stirn und Schläfen, Hitze,
sehr häufig Erbrechen, grosse Mattigkeit, überhaupt einem erheblichen Krank-
heitsgefühl, meist bei ganz freiem Sensorium; besonders quälend sind die oft
ungemein heftigen Schmerzen im Kreuz, den Gliedern und Gelenken. Die
Temperatur steigt äusserst schnell auf sehr hohe Grade, bis 41° C und dar-
über. (Trotzdem kommt es vor, dass Kranke noch zu Fuss das Hospital auf-
suchen.) Der Puls erreicht eine sehr hohe Frequenz, 12 — 140 Schläge in
der Minute, die Haut fühlt sich heiss und trocken an und zeigt in den meisten
Fällen eine schmutzig-icterische Färbung, die Zunge bleibt meist feucht, nur
in schweren Fällen wird sie trocken, borkig und fuliginös, zuweilen ist sie
geschwollen und mit Zahneindrücken versehen. Häufig wird Herpes labialis
beobachtet; Erbrechen wird wiederholt beobachtet, besonders zur Zeit der
856 TYPHUS RECURRENS.
Krisis; der Stuhl ist meist angehalten, doch treten manchmal zur Zeit der
Krisis Diarrhoen ein. Die Milz schwillt sehr beträchtlich an und ist viel
früher palpatorisch nachzuweisen, als bei Intermittens und Typhus abdominalis.
Wir fanden Milzschwellung in 967o aller Fälle. Auch die Leber schwillt in
etwa der Hälfte der Fälle an, doch ist zu berücksichtigen, dass ein grosser
Bruchtheil der Patienten aus chronischen Alkoholisten besteht und schon vor-
her eine Leberschwellung hatte. Hypochondrium und Epigastrium sind schmerz-
haft. Die Athmungsfrequenz beträgt 40—48 in der Minute, häufig besteht
Bronchitis leichteren oder schwereren Grades, verhältnismässig häufig beob-
achteten wir Pneumonien, die verhängnisvoll wurden.
Um den 4.-6. Tag erreichen alle Erscheinungen ihren Höhepunkt, der
Kranke wird, besonders des -Nachts, sehr unruhig, zeigt bedeutende Dyspnoe
und Angstgefühl. Meist bleibt das Sensorium frei, zuweilen aber, und be-
sonders bei Potatoren, treten Delirien auf.
Nach 5—7 Tagen, während der Kranke einen höchst bedenklichen Ein-
druck macht, erfolgt plötzlich unter reichlichem und oft viele Stunden anhal-
tendem Schweissausbruch ein kritischer Abfall des Fiebers. Bald darauf
ist der Kranke wie umgewandelt. Alle die quälenden Erscheinungen sind
geschwunden, der Patient glaubt, die Krankheit sei völlig gehoben, und hat
nur noch ein erhebliches Schwächegefühl.
Im Blute der Recurrenskranken findet man ausnahmslos während jedes
Anfalles Spirillen.*) Seitdem Obermeyer seine Entdeckung von der Existenz
„feinster, eine Eigenbewegung zeigender Fäden" im Blut von Recurrens-
kranken im Jahre 1872 veröffentlicht hatte, gelang es mir sowohl, wie allen
anderen Beobachtern seitdem, in jedem Falle die Spirillen nachzuweisen;
zugleich lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass bei keiner anderen Krank-
heit diese Gebilde im Blute auftreten. Die Fälle, bei denen während eines
unzweifelhaften Rückfallsfiebers keine Spirillen gefunden wurden, stehen so
vereinzelt da, dass man nur die Vermuthung hegen kann, es handelte sich
um ungenügende Beobachtungen. — Die Obermeyer' sehen Fäden stellen
äusserst zarte, nur mit starken Vergrösserungen (Hartnack System 7 genügt)
erkennbare, verhältnismässig lange, ungemein regelmässig spiralig gewundene
Gebilde dar, welche sich sehr lebhaft im Blute hin- und herbewegen. Im
frischen Präparat ist allerdings die spiralige Form nicht zu erkennen; sie
erscheinen in Form einer Wellenlinie, von der man sich, wie W^eigert räth,
ein deutliches Bild machen kann, wenn man ein häufig von den Buchdruckern
als Endstrich unter Abhandlungen gebrauchtes ähnliches Zeichen betrachtet.
Die Recurrensfäden sind sehr niedrig stehende Organismen und gleichen aus-
serordentlich der von Ehrenberg zuerst beschriebenen Spirochaete plicatilis.
Später wurden ähnliche Formen auch im Speichel bei cariösen Zähnen und bei
Noma gefunden. Weigert theilt den Fall eines auf der Recurrensabth eilung
beschäftigten Studenten mit, welcher ein diphtherisches Geschwür unter der
Zunge zu haben glaubte. Er litt an einer Quecksilberstomatitis und hatte
unter der Zunge einen grauen Belag, welcher aus Mundepithelien, langen,
schwach geschlängelten Fadenbacterien und Spirochaeten bestand, Bestreichun-
gen mit 72^0 Carbolsäure beseitigten die „Diphtherie" in einem Tage. — Das
Auffinden der Spirillen ist etwas schwierig, weil sie ausserordentlich dünn
sind, doch wird man durch eigenthümliche hüpfende und glitzernde Bewe-
gungen der rothen Blutkörperchen auf sie aufmerksam. Diese Bewegung
wird durch diejenigen der Spirillen hervorgerufen. Die Menge der Spirillen
im Blute ist bei den verschiedenen Kranken und auch zu verschiedenen Zeiten
des Anfalls bei demselben Kranken sehr verschieden. Es vergingen häufig
24 Stunden, zwei, selbst drei Tage vom Beginn des Anfalls an gerechnet, bis
*) Vergl. die Figar auf der Farbentafel pag. 704.
TYPHUS RECURRENS. 857
mir der Nachweis der Fäden gelang. Natürlich ist der Umstand, dass sie in
den meisten Fällen erst einige Zeit nach dem nachweisbaren Beginn des
Fiebers gesehen werden können, kein Beweis gegen ihre Existenz vorher.
Weigert theilt einen Fall mit, bei dem er durch das Auffinden von Spirillen
in fieberfreier Zeit den baldigen Eintritt des Fiebers mit Erfolg vorhersagen
konnte; nach Heydenreichs Beobachtungen geht ihr Auftreten im Blut nicht
nur dem Beginn des Anfalls vorher, sondern einer jeden Temperatursteigerung
überhaupt (nach Pseudokrisen, nach Re- und Intermissionen etc.) Die voll-
ständige Verschiedenheit der Menge zu den verschiedenen Zeiten der Unter-
suchung, die von allen Beobachtern bestätigt wird, glaubt Heydenreich da-
durch erklären zu können, dass während desselben Anfalles Generationen der
Fäden untergehen und neue entstehen; die constante und auffällige Abnahme
ihrer Zahl kurz vor der Krise dadurch, dass, wie viele Untersuchungen ge-
zeigt haben, die Fäden bei Fiebertemperatur früher zu Grunde gehen, als bei
der des Körpers. — Man sieht die Spirillen, deren Länge 1 ^/g — 6 Durchmesser
eines rothen Blutkörperchens beträgt, sowohl einzeln durch das Präparat hin-
huschen, als auch zu mehreren aneinandergelagert, beziehungsweise zu Knäueln
verschlungen. Ihre Bewegungen sind dreifacher Art, eine drehende um die
Längsachse, eine fortschreitende nach vor- und rückwärts, eine nach allen
Seiten hingerichtete, wobei der Faden allerlei Knickungen und Biegungen
erfahren kann. Heydenreich nimmt wohl mit Recht an, dass die ursprüng-
liche Eigenbewegung des Fadens die Drehung um die Längsachse darstellt,
und aus ihr durch den Widerstand der Umgebung die anderen resultiren. —
Aus dem Verhalten der Recurrensfäden zu den verschiedenen chemischen
Körpern schloss Weigert, dass sie den thierischen Protoplasmamassen nahe
stehen. Ausserhalb des Körpers behalten sie ihre Beweglichkeit am besten
im Blutserum, in 1/2 % Kochsalzlösung halten sie sich 24 — 48 Stunden be-
weglich. In starken Kochsalzlösungen, Harn, doppeltchromsauren Kali, Karmin-
lösung werden die Bewegungen zunehmend langsamer, um endlich aufzuhören;
in Carbolsäurelösung, übermangansauren Salzlösungen, stärkeren Jodlösungen,
i/a^o Ueberosmiumsäure hören die Bewegungen fast augenblicklich auf; in-
dessen bleibt in den genannten Flüssigkeiten ihre Form noch längere Zeit
erhalten, doch eignen sich zur Conservirung am besten starke Kochsalzlösung,
MtJLLER'sche Flüssigkeit und Ueberosmiumsäure. Die Fäden werden gänzlich
zerstört durch Glycerin, Kalilauge und destillirtes Wasser. — Eine Conser-
virung ausserhalb des Körpers lässt sich, wie erwähnt, nur für kurze Zeit
bewerkstelligen, so dass man kaum in der Lage ist, die Bewegungen der
Spirillen anders zu demonstriren, als in frisch entnommenem Recurrensblut.
Indes habe ich eine Methode der Conservirung von Spirillen sehr praktisch
befunden, welche ich für vorkommende Fälle dringend empfehlen kann. Diese
besteht darin, dass man Blutegel an irgend eine beliebige Stelle des Körpers
applicirt, und sich diese bis zum Abfallen vollsaugen lässt. Drückt man die-
selben nach einigen Wochen aus, so lassen sie spirillenhaltiges Blut von sich,
in welchem man deutlich die Bewegungen der Spirillen erkennen kann. —
Carter in Bombay gelang es zuerst, durch Ueberimpfen spirillenhaltigen
Blutes bei Affen ein typisches Fieber zu erzeugen, bei welchem sich ebenfalls
zahlreiche Spirillen im Blute zeigten. Motschutkowsky führte diese Im-
pfungen mit demselben Erfolge bei Menschen aus und später gelang es Koch,
die Spirillen ähnlich wie die Milzbrandbacterien zu züchten. Seine vortreff-
lichen Photogramme finden sich in Cohn's Beiträgen zur Biologie der Pflanzen.
Ausser den Spirillen findet man im Recurrensblute fast immer eine Ver-
mehrung der weissen Blutkörperchen, sowie eine grössere Menge feiner und
feinster Körnchen, über deren Ursprung die Meinungen auseinandergehen,
ausserdem verfettete Endothelzellen und eigenthümliche, ziemlich grosse, mit
Fettkörnchen durchsetzte Zellen, die nach Ponfick aus der Milz stammen sollen.
858 TYPHUS RECURRENS.
Der Recurrensanfall endet nicht immer mit einer reinen Krise. Zuweilen
scheint eine Krise eingetreten zu sein, aber bald darauf steigt das Fieber
wieder auf seine alte Höhe, um dann nach ein bis zwei Tagen endgiltig zu
sinken. Diese Temperaturabfälle habe ich als Pseudokrisen bezeichnet.
Nach der Krise sinkt die Temperatur meist erheblich unter die Norraalhöhe, ich
habe Abfälle von 42 ** bis herunter auf 34-2^ C. beobachtet, dementsprechend
sank auch die Pulsfrequenz, es sind Abfälle bis auf 36 Schläge in der Minute
beobachtet. Der Puls wird schwach und undulirend; während und nach der
Krise kann man zuweilen systolische Herzgeräusche hören. Die vorwiegende
Erscheinung der Krise bildet die ganz ausserordentliche Schweisssecretion,
die mehrere Stunden anhält. Sie kann so erheblich sein, dass die Haut in
Fetzen abblättert; eine Abschülferung der Haut nach den Anfällen gehört zu
den häufigen Erscheinungen. Sonstige kritische Erscheinungen sind, nach der
Reihenfolge ihrer Häufigkeit: Erbrechen, Nasenbluten (oft sehr schwer zu
stillen), Sedimentbildungen des Harns, Diarrhöen und zuweilen Herpes. Mei-
stens kommen die Schweisse mit einer oder der anderen genannten Erschei-
nung zusammen vor, nur sehr ausnahmsweise werden sie durch eine der
anderen ersetzt; so in vier meiner Fälle durch Diarrhoen. Kritische und
Inanitionsdelirien mit Hallucinationen habe ich nur sehr selten, solche mit
Verfolgungsideen niemals gesehen. Dagegen beobachtete Riess einen Selbst-
mord, Ev^ALD ein Conamen suicidii. CoUapse sind sehr selten.
Während in dem der Krise folgenden Stadium der Apyrexie oder
Remission der Patient glaubt, sich in voller Reconvalescenz zu befinden,
erfolgt meist nach 4—7 Tagen, ganz unter denselben Erscheinungen wie beim
ersten Anfall, ein neues Ansteigen des Fiebers: der erste Relaps. Es sind
jedoch auch Intermissionsperioden von 2 — 3 Wochen beobachtet worden. Der
Relaps ist von kürzerer Dauer als der erste Anfall, 2 — 3, seltener 5 Tage;
die Schwere seiner Erscheinungen ist denen beim ersten Anfall proportional.
Es kommen auch Abortivformen vor, die nur wenige Stunden dauern. Ein
gänzliches Fehlen des Relapses ist sehr selten, ich beobachtete ein solches
unter 400 Fällen nur 6mal, aus anderen Epidemien sind grössere Zahlen mit-
getheilt worden, doch glaube ich, dass trotz genauer Beobachtung leichte
Temperaturerhöhungen, von kurzer Dauer, übersehen worden sind.
Häufig hat mit dem ersten Relaps die Krankheit ihr Ende. Je nach
dem Charakter der Epidemie tritt aber noch ein zweiter, ja dritter, vierter u. s. w.
Relaps ein. Während ich in 33^2% meiner Fälle einen zweiten Relaps be-
obachtete, sah ihn Riess nur bei ll;27o- Er erfolgt nach einer mittleren
Intermissionsperiode von 4 — 5 Tagen, die sich aber auch bis 9 und mehr
Tage ausdehnen kann und hält nur 1- — 3 Tage an. Die viel selteneren
weiteren Relapse sind von noch kürzerer Dauer, meist ein Tag bis wenige
Stunden.
Eine gewisse Aehnlichkeit der Febris recurrens mit der Febris inter-
mittens wird jedem auffallen, in der That kommen Fälle vor, die nur mit
Mühe als die eine oder andere der beiden Erkrankungen zu erkennen sind.
Von Pribram und Robitschek, sowie von Senator sind Fälle beschrieben
worden, und ich selbst habe 6 beobachtet, die wie Recurrens anfingen und
in ihrem weiteren Verlauf vollständig den Charakter der Intermittens
quotidiana oder tertiana annahmen, bei denen auch keine Spirillen gefunden
wurden. Indessen gelang es späteren Beobachtern (Spitz) auch bei diesen
intermittensartigen Temperatursteigerungen Spirillen im Blut nachzuweisen.
— Differentialdiagnostisch kommen ausserdem höchstens Flecktyphus und
gelbes Fieber in Betracht.
Icterische Färbung der Haut ist ein häufiges Symptom der Recurrens.
Es kommen Fälle vor, die mit äusserst schweren Erscheinungen einhergehen
und von Griesinger, der sie zuerst in Egypten beobachtete, als eine besondere
TYPHUS RECURRENS. 859
Krankheit, „biliöses Typhoid" beschrieben wurden. Sie sind gekennzeichnet
durch typische, aber sehr schwere Recurrensanfälle, starken Icterus, erhebliche
Nervensymptome, Haut und Schleimhautblutungen, und geben eine sehr be-
denkliche Prognose. Durch das constante Vorkommen von Recurrensspirillen
im Blute konnte der bestimmte Nachweis geführt werden, dass es sich nur
um eine schwere Form des Riickfallsfiebers handele; Motschutkov^sky war
sogar so tollkühn, das Blut auf andere Menschen zu überimpfen, die dann
an gewöhnlicher Recurrens erkrankten.
Von Exanthemen sah ich zuweilen eine Form, die als Taches
blenätres und Pelioina tijphosa beschrieben ist, ebenso wie Ewald und andere
sah ich Urticaria. Murchison und Zülzer berichten über roseolaähnliche
Flecken, in einzelnen Epidemien tritt Miliaria sehr zahlreich auf, und
schliesslich sei nochmals des Herpes erwähnt, welcher auch von Bock und
Wyss, sowie von Riess und anderen häufig beobachtet wurde.
Der Urin wird meist in geringer Menge ausgeschieden und zeigt
während des Anfalles einen fast gänzlichen Mangel an Chloriden, der auch
während der fieberfreien Zeit nur wenig sich ändert, während nach beendeter
Krankheit sich die Ausscheidung schnell hebt. Harnstoff ist während des
Fiebers vermehrt, sonst vermindert. Albumen wird meistens während der
Paroxysmen gefunden, in der Apyrexie verschwindet es; beim Relaps konnte
ich es bei Vs der daraufhin untersuchten Kranken nachweisen. Sehr häufig
findet man gleichzeitig äusserst blasse, oft mit feinsten Fetttröpfchen besetzte
Cylinder. Gallenfarbstoffe lassen sich fast stets bei den mit schwerem Icterus
verlaufenden Fällen nachweisen. Briegee fand in circa 25 Fällen, dass die
Schwefelsäure der Salze 1 — TS g pro Tag betrug; gepaarte Schwefelsäuren
spurenweise. Ebenso Indican; Phenol war nicht nachzuweisen. Riesenfeld
beobachtete, dass die Ausscheidung der Phosphate der des Harnstoffes
parallel geht.
Complicationen finden sich beim Rückfallsfieber wie bei den meisten
Infectionskrankheiten. Von Seiten der Digestionsorgane sahen wir fünfmal
Parotitis, häufig während der Krisen dysenterieartige Diarrhöen. An den
Respirationsorganen fanden sich als häufigste Complication, welche die Re-
currens überhaupt begleitet, mehr oder minder starke Bronchialkatarrhe,
häufig genug auch, besonders bei bejahrteren Kranken, ein- und doppelseitige
croupöse Pneumonien. Letztere traten fast nur während der Apyrexien, be-
sonders aber der zweiten, ein und gaben, zumal bei bejahrteren Patienten,
eine sehr schlechte Prognose. Ich hatte bei den von Pneumonie ergriffenen
Recurrenskranken eine Sterblichkeit von 82°/,,. In einem Falle war Glottis-
ödem die Ursache des Todes. An den Augen zeigt sich zuweilen Iritis,
Chorioiditis, Iridocyclitis, Glaskörpertrübung, Conjunctivitis phlyctaenulosa;
an den Ohren Erkrankungen des Mittelohres (Luchan). Cormack und
Douglas beobachteten partielle Muskellähmungen, Ischias, Neuralgien. —
Aborte sind sehr häufig, ihr Ausbleiben gehört zu den Ausnahmen. Ebenso
kommen oft Frühgeburten vor, meist handelt es sich um Todtgeborene, oder
der Tod tritt bald nach der Geburt ein. Im Blute der todtgeborenen Kinder
konnte Albrecht Spirillen nachweisen.
Die Prognose der Recurrens ist im Vergleich zu der Schwere der Er-
scheinungen eine günstige. Griesinger schätzt das gewöhnliche Mortalitäts-
Verhältnis auf 3 — 4"/o, bei der von uns beobachteten Epidemie betrug die
Mortalität 7-27o, es sind auch schon 12 — 15% beobachtet. Die Gefahr nimmt
mit dem Alter zu, ich sah die grösste Sterblichkeit bei Leuten zwischen
40 — 50 Jahren. Bis zur Akme der Epidemie blieb die Mortalität sich un-
gefähr gleich, dann nahm sie gradatim ab und wurde gegen Ende derselben
bedeutend geringer. Die meisten Todesfälle treten w^ährend der zweiten
Apyrexie ein. Während bei meinen Fällen die Sterblichkeit bei den ver-
860 TYPHUS RECURRENS.
scMedenen Geschlechtern der Zahl der Erkrankungen überhaupt entsprach,
soll sie im allgemeinen bei Frauen überwiegen. Je überfüllter und verpesteter
das Krankenhaus, desto mehr Todesfälle. Sehr übel ist, wie schon erwähnt,
die Prognose bei der als biliöses Typhoid bezeichneten Krankheitsform.
Die Todesursache war in der übergrossen Zahl meiner Fälle croupöse
Pneumonie. Nach Ponfick tritt der Tod in 207o der Fälle in Folge einer
Ruptur von Milzabscessen ein, w4e sie der Recurrens eigenthümlich sind.
Im übrigen können mancherlei Complicationen (Nephritis, HerzcoUaps) den
Tod verursachen.
Behandlung. Bei der ausgesprochenen Contagiosität der Krankheit
lässt sich dieselbe durch gründliche Prophylaxe am besten bekämpfen. Gute
hygienische Einrichtungen werden ihre Entstehung, strenge Absonderung und
gründliche Desinfection der Infectionsherde ihre Verbreitung verhindern. —
Ein specifisches Mittel gegen die Krankheit selbst gibt es nicht. Daher
muss man sich im wesentlichen auf diätetische Maassnahmen beschränken und
im Uebrigen die einzelnen Symptome bekämpfen. Zur Abschwächung des
Anfalles sind Bäder empfohlen worden. Zwölf unserer Kranken badeten wir,
sobald die Temperatur 39-5° C erreichte (Temperatur des Bades 22-5*' C).
Obwohl die Temperatur unmittelbar durch den Effect des Bades bedeutend sank,
beobachteten wir durchaus keinen milderen Verlauf der Paroxysmen. Einer
unserer Fälle endete bei hydrotherapeutischer Behandlung letal. Gegen die
Fieberbeschwerden werden Antipyretica, wie Antifebrin, Phenacetin, etc.,
angezeigt sein, gegen die Muskelschmerzen milde Linimente; dem Calomel
wird eine den Krankheitsverlauf mildernde Wirkung zugeschrieben.
Nachkrankheiten der Recurrens. Die häutigsten der bei unseren
Patienten beobachteten Nachkrankheiten waren Opthalmien. Dieselben folgten
dieser Krankheit in einem Zeiträume von 1 — 4 Wochen nach. Wir sahen
solche Augenerkrankungen bei 6 unserer Reconvalescenten, 5 Männern, einer
Frau. Die Formen, unter denen sie auftraten, waren:
Iritis d extra in 3 Fällen
Chorioiditis dextra „ 1 Fall
Glaskörpertrübung „ 1 „
doppelseitige Conjunctivitis phlyctaenulosa „ 1 „
Zweimal folgten acute Blasenkatarrhe der Recurrens unmittelbar nach, welche
sehr hartnäckig waren und erst wiederholten Injectionen in die Blase wichen.
Ausserdem sind noch 2 Kranke zu erwähnen, von denen der eine, ein
43jähriger Mann, drei Wochen nach einer schweren Recurrens wieder zu
uns kam mit ausgeprägten Erscheinungen von Coordinationsstörung der
Muskelbewegung seiner Beine, nebenbei war eine Abnahme der Haut- und
Muskelsensibilität in den unteren Extremitäten vorhanden. Der andere Fall
betraf ein junges Mädchen, welches sehr bald nach seiner Entlassung von
Neuem im Hospital Aufnahme suchte. Dasselbe befand sich in einem Zustand
extremster Anämie und Abmagerung, welche neben grossem Schwächegefühl
die hervorragendsten Symptome bildeten. Die Milz überragte bei ihrer Auf-
nahme den Rippenbogen noch um 3 Finger (Recurrens-Marasmus).
Leichenbefund. Wenngleich in den meisten Fällen der Tod durch
Complicationen erfolgt, erweisen sich doch nach Ponfick gewisse Veränder-
ungen der Milz, des Knochenmarks und des Blutes, ferner der Leber, der
Nieren, endlich der Musculatur, vor allem des Herzfleisches, als solche, welche
dem Typhus recurrens unmittelbar zugehören. Die Milz ist constant ver-
grössert, in den meisten Fällen bis auf das fünf- und sechsfache ihres natür-
lichen Volumens. Stets weist sie diffuse Erkrankungen, daneben häufig ge-
wisse Herderkrankungen auf. Die Kapsel ist meist glatt, häufig verdickt,
straff und glänzend, die Pulpa weich und brüchig, oft zerfliessend, von dunkel-
ULCUS VENTRICULI 861
blau-graurother Farbe, stark vorquellend, die Follikel massig vergrössert. Die
Schwellung der Pulpa kann zu einem Bersten der Kapsel und dadurch zu
Peritonitis führen. Zuweilen tindet man äusserst zahlreiche Blutungen im
Parenchym und unter der Kapsel. Die Herderkrankungen lassen sich in
solche des arteriellen und solche des venösen Gewebsgebietes unterscheiden.
Die letzteren, sogenannte Infarcte, stellen scharf umschriebene, sehr mannig-
fach gestaltete Herde dar, von der Grösse einer Erbse bis ^,'3 der ganzen der
Milz. Die grösseren ptiegen gewöhnlich dicht unter der Kapsel zu liegen
und mehr oder minder keilförmig zu sein. Ihre Farbe ist anfangs ein dunkles,
mannigfach gesprenkeltes Schwarzroth, welches allmälig in Grauroth, Grau-
gelb und schliesslich Weissgelb übergeht. Die älteren Herde zeigen käsigen
Inhalt, sie können durch weitere Ausbreitung in die Umgebung und schliess-
liches Zerplatzen tödtliche Peritonitis, Vereiterung des Zwerchfells, Pleuritis
hervorrufen. Sie kommen nicht durch eingeschwemmte Emboli zustande,
sondern die locale Entstehung eines Thrombus ist wahrscheinlich. Ponfick
sowohl wie Heydenreich halten es für möglich, dass durch eine Aufknäue-
lung von Recurrensfäden an der betreffenden Stelle die Gefässverstopfung zu-
stande komme, doch ist dieselbe niemals nachgewiesen. Die arteriellen Herd-
erkrankungen der Milz sind sehr selten (nach Ponfick in 5°/o der Fälle);
sie finden sich innerhalb des Folliculargewebes mitunter in solcher Reich-
haltigkeit, dass der dunkle Untergrund damit wie besäet erscheint. Sie treten
in Form mattweisser oder gelblicher Flecken und Streifen auf. Ihre Ursache
wird in einer entzündlichen Erweichung infolge von Verfettung der Arterien-
wand zu suchen sein. Ganz ähnliche Befunde weist das Knochenmark auf. Im
Blute verschwinden die Spirillen sehr bald nach dem Tode (Ponfick), doch
konnte Heydenreich in einem Falle noch 17 Stunden nach dem Tode eine
grosse Zahl auffinden. Im übrigen finden sich, besonders im Milzvenenblut,
die schon früher erwähnten Körnchen. Die Leber ist in der Mehrzahl der
Fälle sehr erheblich geschwollen; Trübung der centralen Theile der Acini,
selten Verfettung, Durchgängigkeit der Gallengänge selbst in Fällen, in welchen
intra vitam Icterus bestanden hatte. Die Nieren sind oft um das Doppelte
geschwollen, trübe, opak, wie gekocht aussehend, mitunter mit mehr oder
weniger reichlichen dunkelrothen Flecken, besonders an der Oberfläche. (Blu-
tungen in die Harnkanälchen). Der Herzmuskel schlaff, welk, sehr blass,
schmutzig graugelb, brüchig, infolge von Verfettung der Muskelprimitivbündel,
zuweilen auch herdweise Verfettungen. Dreimal beobachtete ich frische Endo-
carditis mitralis. In den Lungen sieht man in jedem Falle Bronchitis ver-
schiedenen Grades, hypostatische Pneumonie fand ich zw^eimal, während sie
nach Ponfick in 40% der Fälle die directe Todesursache abgibt; fibrinöse
Pneumonie (Ponfick 20%), Oedeme, eitrige Epiglottisschwellungen (nach
Ponfick in 31 7o der Fälle) und Oedema glottidis 1270- Am Digestions-
tractus fand ich in V3 der zur Obduction gekommenen Fälle die solitären
Follikel des Dünn- und Dickdarmes geschwollen, zuweilen auch die agminirten
der PEYER'schen Plaques. Ebenso häufig fand ich eine beträchtliche Schwellung
des Follicularapparates auf dem Zungenrücken, welche Vorzugspreise die Pa-
pulae circumvallatae betraf. Blutungen sind sehr häufig, in allen mög-
lichen Organen, im Gehirn als directe Todesursache. litten.
Ulcus VentriCUli. (Magengeschwür.) Das Magengeschwür im engeren
Sinne wird unter verschiedenen Namen geführt, welche theils der Gestalt,
theils dem Verlaufe oder Entstehungsweise des Geschwüres entsprechen; wir
finden als gebräuchliche Bezeichnungen: Ulcus rotimdum, perforans, chronicum,
corrosivum, simjjlex, pej^ticum, Gastrohelkoma. Keiner aber von diesen Namen
deckt sich vollkommen mit dem jeweiligen Krankheitsbilde; denn, wie wir
später sehen werden, ist das Magengeschwür weder jedesmal rund, noch per-
862 ULCUS VENTRICULI.
forirt es stets, noch ist es in seinem Verlaufe immer chronisch, wie auch die
Einzahl nicht immer gewahrt bleibt, viel passender ist die Bezeichnung Ulcus
pepticum, indem dadurch schon pathogenetisch angedeutet wird, dass das
Ulcus durch die Selbstverdauung geschaffen wird.
Die Kenntnis des Magengeschwüres reicht bis weit in die alte Zeit zurück, Galenüs
spricht ausdrücklich in seinem Buche De loco affect. Lib, V. Cap. 6 über das Geschwür
des Magens (eXxtj), und von Celsus besitzen wir im IV. Buche De medic. Cap. 5 eine auch
heute noch als zweckmässig geltende Behandlungsweise des chronischen Magengeschwüres,
indem als Regeln aufgestellt sind: adhibendi lenes et glutinosi cibi, sed citra satietatem,
omnia acria atque acida removenda; vino utendum, sed neque praefrigido neque nimis
calido. Nichts destoweniger blieb die Diagnose des Ulcus ventriculi und die anatomische
Seite höchst unklar; bis in unser Jahrhundert hinein hat es gedauert, ehe man im Stande
war, Verwechselungen des Magengeschwüres mit Krebsgeschwüren zu vermeiden : die reichen
Kenntnisse, an zahlreichen Sectionen gewonnen, die mikroskopische Technik haben eine
strenge Scheidung ermöglicht; erst Cruveilhier hat diese Trennung vorgenommen, und in
ihm sehen wir daher mit fiecht den Schöpfer unserer heutigen Ansichten über das Ulcus
ventriculi simplex. Kurz nach Cruveilhier's Veröffentlichung erschien die Arbeit von
EoKiTANSKY, Welche denselben Inhalt und dasselbe Ergebnis hat, wie die Studien Cru-
veilhier's.
Pathologische Anatomie. Unter allen Geschwürsformen, welche im
Magen vorkommen, nimmt das Magengeschwür die erste Stelle durch seine
Häufigkeit ein; man findet es frisch oder vernarbt ausserordentlich häufig
in Leichen, ungefähr in 57o aller Leichen. In der Regel handelt es sich um
einen kreisrunden oder ovallänglichen Substanzverlust, welcher trichterförmig
in die Magenwaud eindringt; auf der Schleimhaut ist demnach der Substanz-
verlust grösser als in der Muscularis. Die Ränder des Geschwüres sind
sehr scharf geschnitten, als wenn ein Stück der Magenwand mittelst eines
Locheisens herausgeschlagen wäre (Rokitansky). In ganz frischen Fällen
sieht die Nachbarschaft des Geschwüres gänzlich unverändert aus und so macht
es den Eindruck, als sei kurze Zeit vorher ein Stück Magen mit dem Messer
ausgeschnitten worden, wie Matthew Baillie schon 1805 treffend schildert.
Die runde Gestalt des Geschwüres ist aber nicht immer scharf ausgeprägt;
sie kann auch unregelmässig sein oder eine mehr längliche, sehr selten sogar
eine gürtelförmige Figur darbieten. Bei sehr alten Geschwüren findet man
bisweilen die Ränder wallartig verdickt, während es für das Magengeschwür
charakteristisch ist, dass es sehr scharf umgrenzt ist; in den alten wie in
den frischen Geschwüren ist die trichterförmige Vertiefung dadurch bemer-
kenswerth, dass die Axe der Geschwürsschichten nicht senkrecht, sondern
excentrisch gestellt ist, so dass die Mitte des Substanzverlustes der Mucosa
sich nicht mit der Mitte des Defectes der Serosa deckt. Man sieht hierbei,
dass in Geschwüren der oberen Hälfte des Magens die Spitze des Kegels
nach aufwärts gerichtet ist, während bei Geschwüren im unteren Theile der
Kegel nach abwärts schaut; dieses Verhalten entspricht ganz genau dem Ver-
halten der grösseren arteriellen Blutgefässe, welche bei ihrem Eintritte in die
Magenschleimhaut dieselbe Richtung einschlagen; zuweilen sieht man auch
die Stümpfe solcher Gefässe in dem Grunde des Trichters. Bemerkt wird
auch, dass die Geschwürsränder nach dem Geschwürsgrunde hin, gegen die
Cardia zu, steiler terrassenförmig abfallen, als nach dem Pylorus hin. Virchow
hebt hervor, dass die eine Seite des Ulcus ventriculi fast senkrecht durch
alle Häute greift, während die andere Seite schräg terrassenförmig vom Grunde
ansteigt.
Der GeschAvürsgrund ist fast immer auffallend rein, so dass die
Muskelzüge der Muscularis häufig daliegen, als ob sie von sorglicher Hand
präparirt wären; je nach der Tiefe, bis zu welcher das Geschwür vordringt,
verhält sich auch der Geschwürsgrund verschieden, indem er bald von der
Serosa, bald von der Muscularis, bald von dem Peritonealüberzug des Magens
gebildet wird. Die Grösse des Geschwüres ist mannigfaltig verschieden; sehr
viele Geschwüre sind klein und haben kaum den Durchmesser eines Centi-
ULCUS VENTRICULL 863
meters; sie können aber auch die Grösse einer Iland erreichen; Cruveilhier
hat ein Geschwür beschrieben, welches lG'5cm lang und S'6 cm breit war und
sich vom Pylorus längst der kleinen Curvatur bis zur Cardia erstreckte. Der
Sitz des Ulcus ventriculi ist überwiegend die hintere Magenwand und zwar
vor Allem die Pylorusgegend nahe der kleinen Curvatur; auf der hinteren
Magenwand findet sich fast die Hälfte aller Magengeschwüre; von 220 Fällen
kommen auf die kleine Curvatur 26'8, auf den Pylorus 15'6, auf die hintere
Magenw'and 4270, während die grosse Curvatur nur 2*4, die vordere Wand
4*9 und die Cardia 27o aufweist (Brinton). Was die Zahl der Geschwüre
anlangt, so besteht in der Regel nur ein einziges Geschwür; selten finden
sich mehrere Geschwüre zu gleicher Zeit vor, welche verschieden gross sein
können, meistens sind sie dann getrennt gelagert, sie greifen aber auch bis-
weilen in einander über; auch entsprechen solche Geschwüre nicht stets dem
nämlichen Geschwürsstadium, sondern das eine Geschwür kann schon fast
vernarbt sein, während das andere durchaus scharf und frisch sich abhebt.
Ebenso ist die Tiefe der einzelnen Geschwüre verschieden. Man hat 2, 3,
selbst 5 und 8 Geschwüre zu gleicher Zeit gesehen, auch gefunden, dass das
eine Geschwür an der vorderen, das andere an der hinteren Magenwand sass;
ich habe einen an Hämatemesis plötzlich gestorbenen Mann secirt, in dessen
Magenschleimhaut sich 9 Geschwüre fanden, alle charakteristisch scharf, in
durchaus gesunder Magenschleimhaut gelagert, alle in denselben Geschwürs-
stadien, schwankend zwischen 3 und 10 cm Querdurchmesser; 7 dieser Ge-
schwüre lagen in dem Pylorusmagen, die beiden anderen in der vordem Magen-
wand, eines von diesen letzten hatte die tödtliche Blutung verursacht.
Der Ausgang des Magengeschwüres ist mannigfach; es kann in jedem
Stadium des Geschwüres die Vernarbung eintreten; bei oberflächlichen,
seichten Geschwwen bildet sich eine unerhebliche Narbe aus, während bei
tief ergreif enden oder grösseren Geschwüren die Narbe ein strahliges Aussehen
annimmt, indem sie die Schleimhaut der Nachbarschaft in mehr oder weniger
tiefen Falten und Strahlen in die vertiefte Narbe hineinzieht. Je nach der
Grösse und Tiefe des ursprünglichen Geschwüres können sich solch' starke
strangförmige Narbenzüge ausbilden, dass der Magenraum in einzelne Ab-
theilungen geschieden aussieht und Formen entstehen, welche man als sand-
uhrförmig, stundenglasähnlich bezeichnet; andere Narbenzüge führen zu einer
Pylorusstenosis. Im Allgemeinen hat das Ulcus ventriculi die Neigung, in
die Tiefe zu gehen und die Serosa zu ergreifen; aber nur in dem kleineren
Theile der Fälle perforirt dasselbe plötzlich in die Bauchhöhle hinein und
bewirkt den raschen Tod; dadurch nämlich, dass das Geschwür langsam vor-
dringt, bildet sich auf der Aussenfläche der von dem Durchbruche bedrohten
Serosa eine entzündliche circumscripte Peritonitis aus, welche den Magen mit
den Nachbarorganen verlöthet und den freien Durchbruch in die Bauchhöhle
zu verhindern strebt. Entsprechend dem Lieblingssitze der Geschwüre an der
hintern Magenw^and findet man deshalb am häufigsten eine Verwachsung des
Magens mit dem Pancreas oder auch dem Quercolon; solche Verlöthungen und
Verw^achsungen können ebenfalls den linken Leberlappen, die Milz, benach-
barte Lymphdrüsen, das nach oben geschlagene Netz, das Zwerchfell, sehr
selten den Dünndarm und die vordere Bauchwand betreffen. Hinderlich für
die Verwachsung sind die Bewegungen des Magens selbst, so dass aus diesem
Grunde die Verwachsungen mit der vorderen Bauch wand sehr selten sind;
bilden sie sich aus, so sind sie auch meistens nur so locker verklebt, dass
sie keinen Schutz gewähren; daher gelten mit Ptecht die Geschwüre an der
vorderen Magenwand für besonders gefährlich. Man hat in seltenen Fällen
solch' zahlreiche Verwachsungen gefunden, dass alle Organe, welche dem Magen
benachbart sind, mit demselben durch festes Narbengewebe verbunden w^aren.
Es wird auch beobachtet, dass zunächst an der bedrohten Stelle der Serosa
864 ULCUS VENTRICULI.
eine eitrige circumscripte Peritonitis sich ausbildet, so dass das Geschwür in
diesen abgekapselten Peritonealsack hinein perforirte. Nicht jedesmal aber wird
dem Vordringen des Geschwüres durch solche Verklebungen mit Nachbar-
organen ein Einhalt geboten, sondern öfters greift der Geschwürsvorgang auf
diese Organe selbst über. Es kommt dadurch zu Zerstörungen im Pancreas,
der Milz und der Leber, welche allerdings gänzlich durch Narbengewebe aus-
heilen, aber auch zu Durchbrüchen nach der Peritonealhöhle hin oder zu
Entleerungen nach aussen hin durch Fistelbildung führen können. Bricht
das Ulcus nach dem Duodenum oder Colon durch, so entsteht eine innere
Magenfistel; es können solche Durchbrüche in die Pleura- und Pericardhöhle,
in die Lunge und Luftröhren, selbst in das Herz stattfinden.
Sehr selten kommt es unmittelbar zur äusseren Magenfistel, wenn eben
die Magenwand mit der Bauchdecke vorher verklebt war.
In den selteneren Fällen, in welchen ein Durchbruch nach dem Media-
stinum stattfand, hat man ein Emphysem des Mediastinum und der äusseren
Haut folgen sehen. Durch alle diese Vorgänge entsteht eine Reihe von
Gefahren für das Leben des Betroffenen, da sich grosse Zerstörungen, tiefe
mit jauchigem Eiter gefüllte Hohlräume entwickeln können; man hat sogar
Pyopneumothorax subphrenicus auf solche Weise entstehen sehen.
In der Minderzahl der Fälle von Ulcus perforans schliesst sich unmittel-
bar an die Perforation der Serosa die tödtliche Peritonitis an, sei es dadurch,
dass überhaupt das Geschwür sehr rasch in die Tiefe greift und so keine Zeit
für eine Verwachsung übrig bleibt, sei es, dass die Gelegenheit zur Adhäsions-
bildung durch den Sitz des Geschwüres sehr ungünstig ist, wie wir solchen
Vorgang schon bei der Erwähnung der Geschwüre an der vorderen Magenwand
besprochen haben.
Durch das Fortschreiten des Geschwürsprocesses können zu jeder Zeit
Blutgefässe arrodirt werden; man findet nicht nur Blutgefässe in der
Magenwand selbst durch den Geschwürsvorgang eröffnet, sondern auch in den
benachbarten Organen, welche in Mitleidenschaft gezogen wurden; mir ist ein
plötzlicher Todesfall bekannt, als dessen Ursache sich die Ruptur eines grossen
Pancreasgefässes ergab, welches von einem perforirenden Magengeschwüre
durch die Zerstörung des Pancreas arrodirt war.
Am häufigsten findet man die Arteria lienalis eröffnet, was sich aus
ihrem Verlaufe an der hinteren Magenwand, dem Lieblingssitze der Magen-
geschwüre erklärt; es kommen aber auch Arrodirungen der Arteriae corono-
raria ventriculi, pylorica, gastro-duodenalis, gastro-epiploica vor. Bisweilen
findet man, dass die im Geschwürsgrunde verlaufende Arterie sich aneury.s-
matisch vor der Ruptur erweiterte. Als eine Quelle tödtlicher Blutungen hat
Andral varicös ausgedehnte Venen in der Nähe der Geschwulst beschrieben
(Clinique medicale 1839, IL p. 102).
Gleichzeitig mit den Geschwüren in der Magenwand findet man beson-
ders häufig Zeichen von Erkrankungen des Gefässapparates, wie Endarteriitis,
Endocarditis und relativ häufig Tuberculosis pulmonum.
Pathogenesis. Ueber die Entstehungsweise des Ulcus ventriculi sind
mannigfache Theorien aufgestellt w^orden, ohne dass aber bis jetzt eine durch-
aus befriedigende Lösung dieser Frage hätte gefunden werden können. Bis
jetzt erfreut sich nur ein Untersuchungsergebnis allgemeiner Anerkennung,
nämlich, dass das Geschwür durch die Magenverdauung selbst erzeugt
wird; gerade deshalb erzielt die Bezeichnung Ulcus pepticum für das Magen-
geschwür in der Neuzeit steigenden Beifall. Als Beweis für diesen Satz führt
man an, dass das charakteristische, runde Geschwür nur dort gefunden wird,
wo der Magensaft einwirken kann, also nur im Magen selbst, im unteren
Endtheile des Oesophagus und im Beginne des Duodenum, so lange der saure
Magensaft seine verdauende Wirkung behält.
ULCUS VENTRICULI. 865
Unter normalen Verhältnissen verdaut der Magensaft die Magenwand
nicht, da die Verdauung nur bei saurer Reaction möglicli ist, beim Eintreten
in die lebende Magenwand aber wird die saure Reaction von der Alcalescenz
des Blutes neutralisirt und somit unwirksam gemacht.
Hört das Blut auf, die Magen wand zu durchströmen, so fällt die Magen-
wand der verdauenden Wirkung des sauren Magensaftes anheim; wir sehen
deshalb als cadaveröse Erscheinung sehr häufig die Gastromalaci e, die
Magenerweichung. Wenn aber die Alcalescenz des Blutes die Wirkung des
Magensaftes aufhebt, so muss eine Verdauung der Magenwand eintreten, wenn
entweder 1. der Magensaft abnorm sauer wird, so dass die Alcales-
cenz des Blutes nicht mehr ausreicht, den sauren Magensaft zu neutralisiren,
oderwenn 2. die Alcalescenz derMagenwand vermindert ist, sei
es dadurch, dass die Alcalescenz des Blutes allzugering ist, oder dass die Blut-
zufuhr zu der Magenwand so beschränkt erscheint, dass eine Neutralisation
nicht mehr möglich ist. Aus den Versuchen Pavy's geht hervor, dass der
Magen gesund bleibt, wenn man etwas Säure in ihn bringt und den Blutstrom
frei lässt, dass aber die Verdauung der Magenwand bei der nämlichen Säure-
menge beginnt, sobald man die Blutdurchströmung der Magenwand unterbricht;
die Magenwand wird auch verdaut, wenn man bei freier Circulation die Menge
der Säure vermehrt. Demgegenüber hat allerdings Samelsohn aus seinen
Versuchen geschlossen, dass bei freier Circulation grosse Mengen von Säuren
nicht im Stande sind, die Selbstverdauung zu bewirken; ebenso wenig trat
die Selbstverdauung ein, wenn das Blut durch Einführung von Säuren so
schwach alkalisch als eben möglich gemacht wurde. Es scheint also, als ob
die blosse Veränderung des Verhältnisses zwischen Alcalescenz
des Blutes und Säure des Magensaftes allein nicht im Stande ist,
Geschwüre zu machen; wir kennen ja auch bei vielen Magenkrankheiten starke
Hyperacidität des Mageninhaltes, ohne dass Geschwüre zu Stande kommen, ander-
seits aber trifft es zu, dass bei Ulcus ventriculi pepticum sehr häufig eine Hjper-
secretion von Salzsäure stattfindet, wie wir auch wissen, dass die Alcalisirung
des Mageninhaltes auf die Heilung der Geschwürsvorgänge von grösstem Einflüsse
ist. Im Gegensatze zu der bestrittenen Theorie, dass die Alcalescenz des
Blutes die Selbstverdauung verhindere, müssen wir den Satz anerkennen,
dass die Selbstverdauung durch Circulationsstörungen in
der Magenschleimhaut ermöglicht wird. Schon frühzeitig lenkte
sich die Aufmerksamkeit auf die Befunde, dass die Gestalt der Geschwüre die
Verästelungen der Blutgefässe nachahmt und dass gelegentlich es den Anschein
hat, als sei das Verästelungsgebiet kleiner Arterien aus der Magenschleimhaut
herausgegraben worden; man findet ferner sehr häufig in der Nachbarschaft
der Ulcera ventriculi erkrankte Gefässe selbst, wie Endarteriitis, Atherom,
Venenthromben, fettige Degeneration der Gefässwandungen bei Chlorosis und
Tuberculosis, amyloide Entartung bei Syphilis. Mit Virchow erblickt man
heute fast allgemein die normale Circulation als das Moment, welches die
Selbstverdauung verhindert.
Auch experimentell hat man die Pathogenesis des runden Magen-
geschwüres zu klären gesucht. Panum hat durch arterielle Embolisirung Blut-
infarcte und Ulcera der Magenschleimhaut bei Hunden erzielt; L. Müller
erreichte dasselbe durch Unterbindung der Pfortader und durch Verstopfung
grösserer Magenvenen bei Kaninchen; hiermit im Einklänge steht Cohnheim's
Untersuchungsergebnis bei Injicirung einer Arteria gastrica mit Chromblei;
grosse Geschwüre mit steil abfallenden Bändern und reinem Geschwürsgrunde
waren die Folgen.
Es ist aber nun auch beim Menschen klar, dass ein Ulcus durch die
Selbstverdauung entstehen muss, wenn ein Theil der Magenwand gänzlich aus
der Circulation ausgeschaltet wird, wie dieses der Fall ist z. B. bei kleinem
BibL med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. HI. 00
866 ULCUS VENTRICULI.
Blutaustritte im Verlaufe schwerer Entzündung des Magens, weil sich hierdurch
eine hämorrhagische Erosion entwickelt, indem durch die Blutung die Er-
nährung des befallenen Gewebes unmöglich gemacht wird. Das trifft aber
nur für einen kleinen Theil der Fälle zu, für die meisten Fälle ist die end-
giltige Antwort noch nicht gegeben, auf welche Vorgänge die zur Geschwiirs-
bildung nothwendige Circulationsstörung in der Magenschleimhaut zu Stande
kommt.
Während VmcHOw eine embolische Grundlage für die Circulations-
störung annimmt, hat Cohnheim experimentell nachgewiesen, dass bei der
ungemein reichen Anastomosenbildung in der Magenschleimhaut der Embolus
keine ausreichende Kreislaufstörung bilden könne; es sei denn, dass es sich
um ausserordentlich grosse Embolien handelt; dasselbe gilt auch von der
Thrombosenbildung. Experimentell haben Ebstein und Schiff durch Ver-
letzung gewisser Abschnitte des Gehirnes und Rückenmarkes, durch Reizung
sensibler Nerven, durch Strychninvergiftung gleichzeitig Ekchymosen und Ge-
schwürsbildung im Magen bei Kaninchen und Hunden bewirkt. Klebs nimmt
eine spastische Contractur der Arterienäste als Ursache der Circulations-
störung an; es ist ab er die KLEBs'sche Ansicht des Beifalles bar, weil wir
nicht einsehen können, wodurch der Krampf einzelner Arterienäste zu Stande
kommt und so lange Zeit anhält, bis die Selbstverdauung ihre Wirkung ge-
äussert hat; ebenso unsicher ist die Ansicht von Axel Key, welcher nicht wie
Klebs in den Arterien, sondern in den Venen die Ursache sucht, indem
durch einen heftigen Krampf der Magen musculatur die Venen com-
primirt würden, wodurch Ueberiüllung der Capillaren, Blutungen, Erosionen
und Geschwüre entständen. Man darf aus diesen Ansichten schliessen, dass
wir über die Bedingungen, unter welchen beim Menschen locale Circulations-
störungen und in Folge dessen Ulcera ventriculi vorkommen, noch vielfach
im Unklaren sind. A. Böttcher führt, gestützt auf einige Sectionsergebnisse
die Entstehung des Ulcus rotundum auf Mikrokokkencolonien, wenigstens
in einem Theile der Fälle zurück. Experimentell lassen sich auch durch
mechanische, chemische und thermische Reize Magengeschwüre erzeugen; so
durch Quetschung, Aetzung und Verbrennung der Magenschleimhaut von einer
Magenfistel aus (Quinke), wobei sich ergab, dass die Heilung erheblich sich
verzögerte, wenn das Thier anämisch gemacht wurde, jedenfalls aber war die
Heilung noch immer ausserordentlich rasch im Vergleiche zu der Heilungs-
dauer des Ulcus im menschlichen Magen.
Wenn wir aber auch keine endgiltige Antwort zu geben vermögen, so
müssen wir doch zugeben, dass in der gestörten Circulation in circumscripten
Abschnitten der Magenschleimhaut die Grundlage für die Bildung der Magen-
geschwüre zu suchen ist.
Aetiologie. Bei der Aetiologie des Ulcus ventriculi pepticum treffen wir
die unbestrittene Thatsache an, dass das Alter, Geschlecht, die Constitution
und die Lebensweise eine grosse Rolle spielen. Das Alter ist insofern be-
theiligt, als die grösste Zahl der Magengeschwüre zwischen dem 15. und 30.
Lebensjahre auftritt und zwar besonders gehäuft in der Nähe des 20. Lebens-
jahres. Im Kindesalter ist das Ulcus ungemein selten, nur wenige Beobach-
tungen liegen hier vor; über das 40. Lebensjahr hinaus wird das Geschwür
schon vereinzelter; es ist aber auch im hohen Greisenalter von 83 Jahren
beschrieben worden. Sehr auffallend ist die starke Betheiligung des weiblichen
Geschlechtes an dem Magengeschwüre; die Angaben über das numerische
Verhalten zwischen Frauen und Männern schwanken zwischen 2:1 und gar
7:3:1.
Unter den constitutionellen Erkrankungen finden wir das Ulcus
ventriculi besonders häufig bei Chlorosis, hochgradiger Anämie und bei Tuber-
culosis, bei Syphilis, chronischer Intermittens, Säfte Verlusten, also Erkrankungen,
ULCUS VENTRICULI. 867
welchen eine schlechte Ernährung der Gefässwände (fettige oder amyloide Ent-
artung) eigenthümlich ist. Bei der Hämoglobinurie und chronischen Malaria
kommen auch Pigmentembolien in Frage. Die Lebensweise ist an der
Aetiologie des Ulcus ventriculi betheiligt und bedingt, dass in einzelnen Ge-
genden das Magengeschwür häutiger gefunden wird; so kommt das Magen-
geschwür sehr häutig in Thüringen, Ostsibirien vor. Im ersten Falle wird die
Vorliebe der Bevölkerung für dünnes Weissbier, Kuchen und Klösse beschul-
digt (Geehardt), im letzten Falle der fast ausschliessliche Genuss von fettem
Fischlleische. Schwer verdauliche Kost, allzureichlicher Genuss von Vegeta-
bilien, ungenügende Zerkleinerung der Speisen, reicher Alkoholgenuss werden
angeführt; Köchinnen sind sehr häufig durch das Verschlucken heisser Speisen
der Bildung des Ulcus ausgesetzt. Als Folgen der gewerblichen Thätig-
keit fasst man auch das häufige Auftreten von Ulcera ventriculi auf bei Por-
zellandrehern, Glasschleifern, Metalldrehern, welche harte, spitzige Staub-
theilchen verschlucken und auf diese Weise traumatischen Einwirkungen auf die
Magenwand unterliegen. Auf die nämliche Weise erklären sich auch die sel-
tenen Beobachtungen, dass Ulcera nach Verschlucken von spitzigen Knochen-
stücken, Fischgräten und anderen Fremdkörpern entstanden. Dem ätiologischen
Momente reiht man endlich noch Traumen an, wie dieses vom Fall, Stoss,
Schlag bekannt ist; als seltenere Ursachen finden wir Vergiftungen, welche
zu Blutaustritten in der Magenschleimhaut {toxische Gastritis) führen; wenig
zahlreich sind auch die Geschwürsformen, welche sich an heftiges Erbrechen
anschliessen. Endlich hat man die Ulcerabildung entstehen sehen nach aus-
gedehnten Hautverbrennungen, wahrscheinlich handelt es sich hierbei
auch um embolische Vorgänge, nach Falk allerdings soll die gesunkene Herz-
kraft die zur Entstehung des Magenulcus nothwendige Circulationshemmung
verschulden.
Symptome. Das runde Magengeschwür verläuft häufig gänzlich sympto-
menlos; man findet in der Leiche gelegentlich ein grosses, tiefgreifendes Ulcus,
das entweder frisch, oder schon in der Vernarbung begriffen ist, ohne dass
im Leben auch nur irgend eine Erscheinung vorgelegen hätte. Nicht selten
kommt es auch vor, dass plötzlich, mitten in scheinbar voller Gesundheit, eine
profuse Magenblutung auftritt, oder dass in wenig Stunden der Tod durch
eine Perforationsperitonitis das Leben endet, obwohl keine Magenbeschwerden
auf eine Erkrankung hinweisen, und doch muss das Geschwür, ehe es zur
Perforation führte, schon einige Zeit latent bestanden haben.
Als das constanteste Symptom des Ulcus ventriculi finden wir den
Magenschmerz, welcher in der grossen Mehrzahl der Fälle quälende
Symptome setzt. Diese Schmerzen können entweder zeitweilig oder con-
tinuirlich sein. In der Regel tritt der Schmerz bald unmittelbar, bald 1 — 2
Stunden nach der Nahrungsaufnahme ein; er ist um so heftiger, je grober
und reichlicher die Nahrung gewesen ist ; im Allgemeinen handelt es sich um
2 Arten von Schmerz, von welchen die eine Form diffus, die andere 1 o ca-
ll sirt ist. Die Patienten schildern den Schmerz als brennend, nagend, wüh-
lend, bohrend, seltener als stechend und lancinirend; es kommt häufig das
Bild der Cardialgie zu Stande, so dass die Patienten laut klagen und
jammern, kalter Schweiss austritt und selbst Ohnmächten erfolgen können.
Dieser diffuse Schmerz wird hauptsächlich in der Magengegend empfunden,
er strahlt aber nicht selten auch auf die Nabelgegend, den ganzen Bauch, die
Hypochondrien, die Brust und selbst die oberen und unteren Extremitäten aus
und kann mit deutlichen Beklemmungserscheinungen verbunden sein. Neben
diesem cardialgischen Schmerze, welcher bis zu mehreren Stunden anhalten
kann, oder an seiner Stelle machen sich die sog. dyspeptischen Schmerzen
bemerkbar, welche sich während der Verdauung als Druckgefühl, Gefühl des
Vollseins, Sodbrennen, abnorme Spannung äussern und weniger von dem Ulcus
868 ULCUS VENTRICULI.
selbst, als von einem gleichzeitig bestehenden Katarrh des Magens abhängen.
Charakteristischer als diese diffusen Schmerzen ist der localisirte Schmerz,
welcher als ein wirkliches Ulcussymptom, als echter Wundschmerz gilt.
i)ie Kranken localisiren den Schmerz meistens dicht unter dem Schwertfort-
satze; der Schmerz kann durch Druck von aussen sehr lebhaft gesteigert
werden. Diese eigentlichen Wundschmerzen werden durch die mechanischen
Reize der Nahrungszufuhr hervorgerufen. Wenn gröbere, nicht genügend zer-
kleinerte Bissen verschluckt werden, oder wenn Spannungen im Magen auf-
treten und dadurch die Wunde gezerrt wird, wenn bei Lageveränderungen der
Mageninhalt mit dem Geschwürsgrund in Contact kommt, dann treten an der
bestimmten Stelle Schmerzen auf, welche in dem Augenblicke verschwinden,
in welchem das reizende Moment wegfällt (Oser). Kommen scharfe, saure, alkohol-
haltige Stoffe mit der Wunde in Berührung, so tritt sofort der umschriebene
Schmerz auf, welcher sofort schwindet, wenn die chemische Constitution ge-
ändert wird. Die localisirten Schmerzen kommen nur bei der Function des
Magens vor, da nur dann chemische und mechanische Reize einwirken. Als
solche localisirte Schmerzstellen kennen wir, abgesehen vom Epigastrium,
den Schmerz in der Nabelgegend, entsprechend der grossen Curvatur oder in
der Rückengegend in der Nähe der obersten Lendenwirbel und des untersten
Theiles der Brustwirbelsäule entsprechend der Curvatura minor und der hin-
teren Magenwand. Man kann aber nicht aus dem Orte des localisirten
Schmerzes mit absoluter Sicherheit auf den Sitz des Geschwüres schliessen,
über eine gewisse Wahrscheinlichkeit kommt man nicht hinaus, zumal wenn
man sieht, dass meistens der localisirte Schmerz im Epigastrium empfunden
wird, während die grösste Anzahl der Geschwüre die hintere Magenwand be-
fällt. Auch die Körperstellung, in welcher der Schmerz am lebhaftesten
oder ausschliesslich auftritt, sucht man für die Erkennung des Sitzes der
Geschwüre zu verwerten; wenn nämlich der Schmerz in der Rückenlage be-
sonders heftig ist, so liegt die Wahrscheinlichkeit nahe, dass das Geschwür
an der hinteren Magenwand sitzt; man sieht deshalb öfters, dass die Kranken
sich vornüberbeugen und aufsitzen. Bei einem Geschwüre auf der vorderen
Magenwand bringt die Bauchlage lebhafte Schmerzen, während Geschwüre am
Pylorustheile in der linken, Geschwüre an der Cardia und am Fundus in der
rechten Seitenlage mit wenig oder gar keinen Schmerzen verlaufen. Aus dem
zeitlichen Auftreten der Schmerzen auf den Sitz der Erkrankung zu
schliessen, ist gar nicht erlaubt; man hat früher vielfach aageführt, dass
ein Schmerz, welcher unmittelbar nach der Nahrungsaufnahme auftritt, für das
Cardiageschwür spreche, während der 1 — 2 Stunden später auftretende Schmerz
das Pylorusulcus beweise; wir wissen heute, dass schon nach 10 Minuten ein
Theil der eingeführten Nahrung aus dem Magen in den Darm übergetreten
sein kann, wie wir auch klinische Beispiele kennen, dass bei durch die Section
bewiesenen Pylorusulcera unmittelbar nach der Einnahme selbst minimaler
Nahrungsmengen die heftigsten Schmerzen auftreten können. Die Ursache
des Schmerzes ist jedenfalls sehr verschieden: bald entsteht der Schmerz durch
eine unmittelbare Reizung der im Geschwürsgrunde liegenden Nervenendi-
gungen durch die Ingesta, bald durch die lebhaften Bewegungen des Magens
während der Verdauung, welche das Geschwür zerren; bald auch tritt lebhafter
Schmerz auf, selbst wenn der Magen nicht verdaut und gänzlich ruht; in
solchen Fällen sucht man die Erklärung darin, dass das Geschwür um sich
greift und tiefer geht und auf diesem Zuge Nervenfäden arrodirt. Letzteres
gilt vor Allem für den continuirlichen Schmerz, welcher zumeist nur dann
entsteht, wenn das Geschwür in die Tiefe gegriffen, die Serosa entzündet und
den Magen an benachbarte Organe angelöthet hat; continuirlich ist der Schmerz
auch dann, wenn Eiter- und Jaucheherde sich gebildet haben. Die Verdauung
spielt bei dem continuirlichen Schmerze in der Regel keine Rolle, während der
Druck ihn zu steigern vermag.
ULCUS VENTRICULI. 869
Die Intensität des Schmerzes ist, abgesehen von einer individuellen
Empfindlichkeit, zum Theil abhängig von äusseren Momenten. Bei Diätfehlern,
Gemüthsaufregungen, heftigen Körperanstrengungen, durch Druck der Rock-
bänder, festes Schnüren sehen wir ihn gesteigert; man sieht aber auch gar
häufig, dass selbst der heftige, cardialgische Schmerz durch Compression von
aussen her eine Abnahme erfährt; das andere Mal sieht man, dass sehr schwer
verdauliche Nahrung keine Beschwerden macht, während die leichte, flüssige
Nahrung, wie die Milch, neue Schmerzanfälle auslöst. Nicht selten findet
man ferner, dass nur bei leerem, nüchterem Magen heftiger localisirter und
cardialgischer Schmerz besteht, während die Nahrungszufuhr sofort den Schmerz
verscheucht; wahrscheinlich besteht in solchen Fällen eine Hypersecretion von
Salzsäure, welche auch im nüchternen Magen stattfinden kann.
Ein sehr häufiges Symptom des Magengeschwüres ist das Erbrechen,
welches nur in den wenigsten Fällen fehlt. Das Erbrochene hat, solange es
nur aus Schleim, Speiseresten, Verdauungssaft und Galle besteht, nichts, was
für das Ulcus ventriculi charakteristisch wäre. Entweder ist das Erbrochene
der Ausdruck des das Ulcus begleitenden Katarrhes, oder es ist die Folge
der Reizung der biossliegenden Nervenendigungen; in letzterem Falle ist zu
gleicher Zeit Magenschmerz vorhanden, welcher in der Regel dem Erbrechen
vorausgeht; der Brechact tritt meistens auf der Höhe des Schmerzanfalles ein.
Mit dem Erbrechen hört die Cardialgia häufig sofort auf, ein Zeichen, dass
die Schmerzen und das Erbrechen auf der nämlichen Ursache beruhen. Es
kommt daher Erbrechen am häufigsten nach unzweckmässiger Beköstigung
vor, allein es stellt sich sogar trotz der grössten Vorsicht vielmals ein.
Während das Erbrechen meistens mehr oder weniger lange nach der Nahrungs-
aufnahme zu Stande kommt, kann es sich auch im nüchteren Zustande ein-
stellen; das Erbrochene gibt sich dann als verschluckter Speichel durch seine
alkalische Reaction und Rhodanverbindung (Rothfärbung mit Eisenchlorjd)
kund. Ein wertvolles Aussehen erhält das Erbrochene, welches ausser den
erwähnten Stoffen auch bisweilen die Sarcina ventriculi enthalten kann, erst
dann, wenn es zu Blutungen aus dem Geschwürsgrunde kommt. Der Blut-
austritt ist ungemein häufig; es kommt fast in V3 aller Fälle zum Blutbrechen.
Kleinere Blutungen verlaufen sicher recht häufig gänzlich unbeachtet, das
ausgetretene Blut wird verdaut und verschwindet für unsere Beobachtung
vollkommen; auch grössere Blutungen brauchen nicht zum Erbrechen zu führen,
sie treten in den Darm über und verrathen sich durch schwarze, kleb-
rige, theerartige Stuhlentleerungen. Es können relativ grosse Blutungen
aus dem Magengeschwüre erfolgen, ohne dass der Patient etwas gefühlt hat,
in anderen Fällen treten die Zeichen des acuten Blutverlustes als einziges
für den Arzt greifbares Symptom hervor; es kann auch solch starke Blutung
auftreten, dass es gar nicht mehr zum Erbrechen kommen kann, sondern eine
tiefe Ohnmacht unmittelbar in den Tod überführt. In fast allen Blutungen
erheblicher Art kommt es aber zum Blutbrechen und geradein der Hämat-
emesis erkennen wir neben den Schmerzen und dem Erbrechen das dritte
wichtigste Ulcussymptom. Das Bluterbrechen ist häufig das allererste
Symptom, welches die Patienten als ulcuskrank entpuppt; es kann unabhängig
von der Verdauung und äusserem Einflüsse im Verlaufe des Ulcus oder im
Gefolge der Nahrungsaufnahme, nach körperlicher oder geistiger Anstrengung,
nach einem Stosse auf die Magengegend auftreten.
Bei Frauen besteht zur Zeit der Menstruation eine gesteigerte Gefahr
für die Magenblutung. Subjectiv klagen die Patienten über Angstgefühl,
Ohnmachtsanwandlungen, Uebel werden und Brechneigung; bei stärkerem Blut-
austritte folgen wirkliche Ohnmacht, Herzschwäche mit fadenförmigem Pulse,
Schweissaustritt, auffallende Blässe der Haut und in sehr starken Fällen selbst
krampfartige Zuckungen des Körpers, wie wir sie beim Verblutungstode sehen;
bisweilen geben die Patienten an, dass es ihnen warm im Magen werde, oder
870 ULCUS VENTßlCüLI.
dass ihnen etwas im Leibe rinsele. Die Menge des erbrochener Blutes
schwankt sehr; das Blut kann mehr als ein Liter betragen und ausserdem
noch reichlich im Magen coagulirt sein; man hat selbst den ganzen Magen
in tödtlichen Fällen durch Blutcoagula prall ausgedehnt gefunden. Die Farbe
des erbrochenen Blutes ist meistens dunkelroth, sie ist um so dunkler, je
länger das ergossene Blut im Magen bis zum Erbrechen verweilt, weil der
Blutfarbstoff durch den sauren Magensaft verändert wird; bei geringen Blu-
tungen, welche sehr lange im Magen bleiben, kann auf diese Weise eine
ziemlich dunkle, schwärzliche Färbung entstehen. Das Erbrochene ist ent-
weder mit Mageninhalt und Speiseresten vermischt, oder es ist reines Blut,
das schaumlose, klumpige Gerinnsel und Kuchen darstellt, welchen häufig
durch den Magensaft eine säure Reaction verliehen ist. Wenn aber die
Blutung sehr gross ist und hierdurch um so früher das Erbrechen erfolgt,
so ist das Blut heller und weniger verändert. Jedesmal tritt aber ein Theil
des Blutes in den Darm über, so dass noch tagelang nach der Hämatemesis
theerartige Stuhlentleerung bestehen bleibt. Die Ursache der Magen-
blutung liegt in der Arrodirung der arteriellen Blutgefässe im Geschwüre
selbst. Ganz gewöhnlich recidivirt die Magenblutung nach wenigen Tagen,
w^eil durch den sauren Magensaft der obturirende Fibrinpropf aufgelöst oder
durch die Magenbewegung ausgetrieben wird; man sieht deshalb wiederholte
Blutungen nachfolgen. Im Ganzen ist die Zahl der Todesfälle durch acute
Magenverblutung nicht sehr gross, meist erholen sich die Patienten wieder,
sie können allerdings auch durch wiederholte, rasch aufeinanderfolgende Blu-
tungen zu Grunde gehen, aber gewöhnlich ist die Magenblutung nicht lebens-
gefährlich, sie lässt jedoch den Kranken in einer mehr oder weniger hoch-
gradigen allgemeinen Anämie und deren Folgezuständen zurück, welche
meistens erst nach vielen Wochen schwinden.
Abgesehen von den drei Cardinalsymptomen des Ulcus ventriculi findet
sich eine Reihe von Störungen der Verdauungsorgane, welche
zwar für die Erkennung der Geschwüre ohne Belang sind, aber doch recht
häufig sich zu ihnen gesellen. Wenn ein Magenkatarrh zu gleicher Zeit
besteht, so finden wir Appetitlosigkeit, Aufstossen, Aufgeblähtsein des Magens,
alles bekannte Erscheinungen. Oefters besteht eine Steigerung des Durstes.
Die Zunge ist in solchen Fällen belegt und zeichnet sich durch eine auf-
fällig rothe und rissige Oberfläche aus, welches Bild man mit dem häufigen
Erbrechen des sauren Mageninhaltes in Zusammenhang bringen will. Meistens
findet man beim Magengeschwür eine bemerkenswerthe Stuhlträgheit und
die Harnmenge vermindert. In solchen Fällen kann die Ernährung Schaden
nehmen, zumal wenn hartnäckiges Erbrechen die Nahrungsaufnahme verhin-
dert; sehr viele Patienten sehen aber gesund und blühend aus, und ihre Er-
nährung leidet durchaus keinen Schaden, wenn keine Verdauungsstörung vor-
liegt und keine Complicationen bestehen.
Das Magengeschwür ist an Complicationen reich, die gefährlichste
Complication ist die Perforation; vor Allem gilt dieses von der Perforation
in die Bauchhöhle hinein, so dass Mageninhalt in den Bauchraum tritt; sie
führt fast ausnahmslos zu einer rasch tödtlichen Peritonitis; nur selten, wenn
vorher Verwachsungen stattgefunden haben, bleibt die Peritonitis umgrenzt,
so dass sich ein abgesackter Eiterherd bildet, welcher später doch noch in
die freie Peritonealhöhle oder in dem günstigerem Falle in eine Darmschlinge
oder nach aussen hin, eine Fistel bildend, durchbrechen kann. Perforationen
in die linke Pleurahöhle oder in die Lungen setzen ihre besonderen Symp-
tome; wir haben alle diese Möglichkeiten schon bei der Besprechung der
pathologischen Anatomie erwähnt, das klinische Bild ergibt sich von selbst;
wir wollen hier nur noch anfügen, dass zuweilen von einem Magengeschwür
aus Thrombosis der Pfortader entstehen kann mit nachfolgender, tödtlicher
ULCUS VENTRICULI. 871
Pyämie unter Bildung zahlreicher metastatischer Abscesse in den verschie-
densten Organen. Die Dauer des runden Magengeschwüres ist eine wech-
selnde, im Allgemeinen verdient es seinen Namen Ulcus chronicum mit Recht;
Fälle von 20— oOjähriger Dauer sind bekannt geworden; die Dauer ist schwer
zu bestimmen, weil viele Geschwüre überhaupt latent verlaufen, andere wochen-
lang schmerzlos sein können, um dann plötzlich wieder zu exaeerbiren. Die
experimentellen Ergebnisse legen die Möglichkeit einer sehr raschen Geschwürs-
heilung nahe. Die Heilung der Magengeschwüre ist zu jeder Zeit möglich,
wir linden sehr häutig, selbst tiefgreifende Narben in der Leiche; Fälle von
schneller Heilung sind aber sehr selten, man darf wohl im günstigsten Falle
die Vernarbung eines Magengeschwüres nicht vor Ablauf vieler Wochen er-
warten. Recidive sind sehr häufig, öfters mögen es wohl nur scheinbare
Recidive sein, indem das Geschwür überhaupt noch nicht abgeheilt war, son-
dern sich nur latent verhielt. Tritt eine wirkliche Vernarbung ein, so kann
hiermit der ganze Krankheitsprocess abgethan sein; gar häufig aber bleibt
die Narbe an und für sich der jahrelang dauernde Sitz der heftigsten
Schmerzen und Cardialgien; die Verklebungen und Verwachsungen mit den
Nachbarorganen können die Functionen der einzelnen Organe hindern und
durch dauernde Zerrungen schmerzhafte Folgezustände bewirken; sie können
auch die Bewegungsfähigkeit des Magens selbst einschränken und gar auf-
heben. Die Narben im Magen können Verdauungsstörungen durch Zerstörung
grosser Schleimhautabschnitte mit den secernirenden Drüsen und resorbiren-
den Lymphcapillaren verursachen und Stauungen in den Blutgefässen hervor-
rufen; in vielen Fällen sehen wir deshalb hartnäckige Magendarmkatarrhe
resultiren. Von grösstem Einflüsse sind die schrumpfenden Narben, beson-
ders deshalb, weil sie den Anlass zu hochgradigen, dauernden Störungen
für den Transport des Mageninhaltes in den Darm abgeben können; am
häufigsten führt hier die Narbe zu Pylorusstenose mit nachfolgender Dilatation
des Magens; die tiefgreifende Zerstörung der Musculatur des Pylorus kann
sich zu einer Incontinentia pylori entwickeln, während die Narbe an der
Cardia durch Stenosenbildung den Eintritt von Nahrung in den Magen ver-
hindert. Die Narben können den Magen selbst in mehrere Säcke abschnüren,
sie können auch durch grosse Zerstörung der Musculatur die Bewegung des
Magens so sehr herabsetzen, dass aus diesem Grunde eine Gastrectasia her-
vorgeht. Auch soll man nicht übersehen, dass die Narben in der Magenwand
einen Locus minoris resistentiae bilden, so dass selbst noch nach Jahren durch
die Ueberfüllung des Magens spontane Ruptur einer solchen Narbe vorkom-
men kann (Oser, Chiari). Als eine sehr ernste Nachkrankheit erwähnen wir
das Carcinom des Magens, da recht häufig in späteren Jahren auf dem
Boden der Geschwürsnarbe der Magenkrebs sich entwickelt. Bei einer
inneren Magenfistel kann es sich ereignen, dass der Mageninhalt allzu-
rasch in den Darm durch die Fistel übertritt und auf diese Weise die Er-
nährung dauernden Schaden leidet; wir haben ein Mädchen monatelang beob-
achten und später obduciren können, bei welchem die kleine Curvatur durch
eine erhebliche Fistel unmittelbar in das Quercolon führte; ein grosser Theil
des Mageninhaltes wurde unmittelbar in diesen Darmabschnitt entleert, weil
zu gleicher Zeit eine massige Pylorusstenosis den normalen Weg noch mehr
verlegte.
Diagiiosis. Die Diagnosis des Magengeschwüres ist in vielen Fällen
leicht, in manchen aber ist sie auch gänzlich unmöglich; viele Magengeschwüre
setzen überhaupt keine Symptome und entziehen sich so unserer Erkennung
gänzlich. Wenn die wirkUchen Ulcussymptome gemeinsam vorliegen, so ist
die Erkenntnis leicht, das ist aber nur in der Minderzahl der Fall, Zwar
wird man nicht in der Diagnosis Ulcus ventriculi fehlen, wenn bei einer
jugendlichen Person typischer Magenschmerz, Erbrechen und Hämatemesis
872 ULCUS VENTRICÜLI.
auftritt, aber gross ist die Zahl der Fälle, in welchen nur eines dieser Sym-
ptome die Handhabe bieten muss. Am günstigsten für die Erkennung der
Krankheit ist das Eintreten des Blutbrechens, welches etwa in V4 — V3 aller
Fälle vorkommt. Bei jugendlichen Personen ist die Hämatemesis fast
ausnahmslos von einem Ulcus ventriculi abhängig. Schwierig kann es hierbei
bisweilen sein, zu entscheiden, woher das erbrochene Blut stammt; denn so-
wohl bei Lungenblutungen wie Blutungen im Nasenraume ist es
möglich, dass Blut verschluckt und so Brechreiz mit nachfolgender Hämat-
emesis bewirkt wird. Die Entscheidung, ob das Blut aus der Nase entstammt
und etwa im Schlafen durch die Choanen in den Nasenraum und von da durch
den Schluckact in den Magen gelangte, ist in der Regel leicht, wenn man
die Nase des Patienten local ^intersucht; man findet leicht die Stelle, von
welcher die Blutung ausging. Schwieriger ist es oft schon zu entscheiden,
ob es sich um eine eigentliche Lungenblutung handelt. Das Lungenblut
wird durch Husten entleert, das Magenblut durch den Brechact. Es ist
aber bekannt, dass heftiges Erbrechen starken Hustenreiz auslöst, und dass
bei grossen Lungenblutungen auch Erbrechen folgen kann, ohne dass Blut
in den Magen eingetreten ist. Das bei einer Magenblutung entleerte Blut
sieht gewöhnlich dunkel aus, es ist zum Theil klumpig geronnen, ohne Luft-
blasen und reagirt sauer. Das Blut der Lungenblutung ist meistens hellroth,
schaumig, nur sehr wenig geronnen, mit Luftblasen durchsetzt und reagirt
alkalisch; wird aber solches Blut verschluckt und erst nachträglich erbrochen,
so kann es dem Blute, das dem wirklichen Magengeschwüre entstammt, gleich
sein; in solchen Fällen muss man Rücksicht nehmen auf den Zustand des
Patienten selbst, ob vorher schon Lungensymptome oder Magenbeschwerden
bestanden, ob sich Lungenveränderungen oder schmerzende Druckpunkte am
Magen nachweisen lassen. Nach einer Lungenblutung wirft der Kranke fast
immer noch tagelang bald hell, bald dunkelblutig gefärbte Sputa unter
Husten aus. Bei einer reinen Lungenblutung wird niemals schwarzer Stuhl
nachfolgen.
Für unsere Ulcusdiagnose haben wir auch zu bedenken, dass eine wirk-
liche Magenblutung beim Magencarcinom erfolgen kann; es ist zwar in
der Regel das Blut, welches dem Magenkrebs entspricht, gering an Quantität
und, da es deshalb sehr lange im Magen verweilt, auffallend dunkel und
schwarz, weil aus dem rothen Hämoglobin durch die Einwirkung des Magen-
saftes sich schwarzes Hämatin bildet und so das kaffeesatzähnliche, chokolade-
farbene Aussehen zu Stande kommt; als Ausnahme kann aber auch beim
Carcinom eine sehr starke Hämatemesis eintreten, welche sich in nichts von
der Hämatemesis des Ulcus unterscheidet; wir haben sogar einen plötzlichen
Todesfall bei einem Magencarcinom in Folge einer plötzlichen Verblutung ge-
sehen; bei der Section fand sich mitten in dem ulcerirenden Carcinom eine
angenagte grössere, aneurysmatisch ausgebuchtete Arterie. Vorgeschrittenes
Alter, palpabler Tumor, kachektische Färbung, rascher Kräfteverfall sichern
die Diagnose auf Carcinom; fehlt der Tumor, was bei den ulcerirenden Car-
cinomformen zutrifft, so bleibt doch das kachektische Aussehen bestehen; viel-
leicht gelingt es auch in dem Erbrochenen Krebspartikel nachzuweisen.
Nur unter grosser Vorsicht kann man in zweifelhaften Fällen Magen-
inhalt heraushebern und den Salzsäuregehalt bestimmen, weil bei
Magencarcinome meistens Salzsäuremangel besteht oder überhaupt keine freie
Salzsäure producirt wird, während das Ulcus ventriculi oft einen Ueberschuss
von Salzsäure hat.
Die Diagnosis auf Magengeschwür ist in allen denjenigen Fällen schwie-
riger, in deren Verlaufe es nicht zum Bluterbrechen kommt, weil die Gefahr
der Verwechselung mit anderen Krankheiten, welche gleiche oder ähnliche
Schmerzen im Gefolge haben, nahe rückt. Der localisirte Wundschmerz und
ULCUS VENTRICÜLL 873
die Cardialgie sind vor Allem bei Pylorusulcera meistens schwer von ein-
ander zu trennen. Nach Oser soll man in allen Fällen geradezu experimen-
tell den localisirten Wundschmerz durch mechanische und chemische Reize,
Lageveränderungen zu erzeugen suchen; wenn auf solche Weise localisirter
Schmerz, welcher durch Veränderuog der angewandten chemischen oder
mechanischen Verhältnisse wieder eliminirt werden kann, auftritt, so folgt,
wenn dieses Verhältnis ein constantes ist, mit grosser Wahrscheinlichkeit,
dass ein Ulcus vorliegt. Man darf diese localisirt auftretenden Schmerzen
nicht verwechseln mit einfachen, quälenden Empfindungen im Magen, wie
Sodbrennen und Druckgefiihl, welche ebenfalls durch passende Eingriffe gleich
geändert werden können. Wenn kein localisirter Schmerz besteht und auch
die Hämatemesis mangelt, so verliert die Diagnose an Sicherheit, wenn sie
sich allein auf die Gastralgia stützen muss. Gewöhnlich spricht allerdings
das Auftreten der Schmerzen nach der Nahrungsaufnahme und vor Allem
nach der Einnahme schwerer Nahrungsmittel, die Zunahme des Schmerzes
durch Druck von aussen für eine Ulcusentwickelung, aber thatsächlich gibt
es auch viele reine nervöse Gastralgien, welche nach den Mahlzeiten auf-
treten und ohne alle anderen nervösen Erscheinungen, wie Intercostalneuralgie,
hysterische Klagen verlaufen; häufiges Erbrechen spricht wieder mehr für das
Geschwür.
Oft entscheidet erst die Behandlung die Frage, ob Ulcus gastralgie oder
nervöse Cardialgie vorhanden ist; beider nervösen Gastralgie wird nämlich
durch die Veränderung der Diät, durch Alkalisiren des Mageninhaltes nichts
erzielt, während der constante Strom oft nach wenigen Minuten den Schmerz
beseitigt und die roborirende Therapie gute Früchte trägt. Aus den dyspep-
tischen Erscheinungen allein auf ein Ulcus zu schliessen, ist unmöglich, ob-
wohl man beim chronischen Magenkatarrh häufig Diätfehler als Ursachen nach-
weisen kann, und die Schmerzhaftigkeit eine geringe zu sein pflegt. Ver-
wechselungen mit Gallensteinkoliken und gastralgischen Ulcusschmerzen
sind weniger zu fürchten, da bei der Gallensteinkolik der Sitz des Schmerzes
mehr das rechte Hypochondrium als das Epigastrium zu sein pflegt, vor Allem
sich mehr in der Gallenblasengegend concentrirt; die Gallenblase ist häufig
zu fühlen, die Leber schwillt an und schmerzt spontan und bei der Berührung;
Frost und nachfolgende Temperatursteigerung begleiten den Anfall, geringer
Icterus der Sclera fehlt nicht, und der Harn wird durch Gallenbeimischung
deutlich dunkel.
In allen zweifelhaften Erkrankungsfällen — und es bleiben ihrer
genug, welche der bestimmten Diagnose trotzen — verfährt man am sichersten,
wenn man die Behandlung so einrichtet, als ob ein Ulcus ventriculi diagnosti-
cirt wäre; das Resultat ist oft ein überraschend gutes.
Prognosis. Die Prognosis ist insofern eine günstige, als sicher der
grösste Theil der runden Magengeschwüre abheilt; zu jeder Zeit und in jedem
Stadium können die Geschwüre vernarben, selbst dann, wenn schon Ver-
klebungen und Verwachsungen mit Nachbarorganen stattgefunden haben. In
einem grossen Procentsatze ist aber die Prognose weniger günstig und
selbst sehr schlecht. Es sind stärkere Blutungen immer bedenklich, weil
sie schon anzeigen, dass das Geschwür sämmtliche Magenhäute bis in die Nähe
der Serosaoberfläche perforirt hat; führt auch die Hämatemesis nur in den
wenigsten Fällen unmittelbar zum Tode, so entsteht durch die Recidive, welche
oft rasch aufeinander folgen, ein bedenklicher Grad von Schwäche und Anämie
und gerade diese Anämie schafft einen günstigen Boden für die weitere Aus-
breitung des bestehenden Geschwüres oder für die Entwickelung neuer Ulcera.
Am aller ungünstigsten ist die Perforation in die Bauchhöhle, und ge-
rade deshalb geben Geschwüre an der vorderen Magenwand eine traurige
Prognose, weil hier nur selten schützende Verwachsungen zu Stande kommen
874 ULCUS VENTRICÜLI.
können. Ebenso ungünstig ist die Perforation in eine andere Körperhöhle
hinein. Bei der Prognose ist weiterhin zu berücksichtigen, dass das Geschwür
eine ausgesprochene Neigung zu Recidiven zeigt; es können Jahre zwischen
den einzelnen Geschwüren liegen. Vorsichtig muss auch die Vorhersage sein,
weil die Narbe selbst die Ursache für langwierige Schmerzen und Verzerrungen
abgeben kann. Narbenstricturen können Verschlüsse des Pylorus bewirken;
hartnäckige Katarrhe des Magens und Darmes folgen häufig, und noch viele,
viele Jahre später droht aus der Narbe heraus das Carcinom. Immerhin aber
wird die grösste Anzahl von Magengeschwüren dauernd und ohne bleibenden
Nachtheil geheilt.
Therapie. Die prophylaktische Seite der Therapie hat nicht viele
Massregeln aufzuweisen; ein Specificum, welches das Auftreten des Ulcus pep-
ticum verhindern könnte, kennen wir nicht; nichtsdestoweniger liegt es nahe,
bei anämischen, chlorotischen, tuberculösen Personen die Ernährung so
einzurichten, dass sie an sich keinen erheblichen Reiz auf die Magenwand
ausübt. Hat einmal ein Ulcus bestanden, so ist erst recht auf eine reizlose
Ernährung zu sehen, weil die Recidive so ungemein häufig sind.
Wenn nun ein Geschwür des Magens vorliegt, so müssen wir bei der
Behandlung von der Thatsache ausgehen, dass wir ein Mittel, welches un-
mittelbar das Ulcus heilen würde, nicht haben. Es kommt in Folge dessen
für uns darauf an, die Bedingungen, unter welchen das Geschwür
natürlicherweise abheilt, möglichst günstig zu gestalten; denn
das Ulcus selbst hat eine grosse Neigung abzuheilen. Die Therapie be-
zweckt demnach, den natürlichen Heilungsvorgang durch Fernhaltung
mechanischer und chemischer Reize möglichst zu fördern. Am einfachsten
würden wir dieses bewirken, wenn wir dem Magen überhaupt jede Arbeit ab-
nähmen. Da wir aber den Kranken nicht Tage und Wochen lang hungern
lassen können und die künstliche Ernährung mit Umgehung des Magens sich
auch nicht wochenlang durchführen lässt, weil dieselbe für eine vollständige
Deckung des nothwendigen Nährmaterials nicht ausreicht, so müssen wir eine
Art der Ernährung wählen, welche möglichst frei von Schädlichkeiten ist.
Obenan im diätetischen Regime steht da die flüssige Diät und hier an
erster Stelle die Milch, welche von den meisten Patienten gut vertragen
wird; es empfiehlt sich am meisten, die Milch gekocht oder sterilisirt, lauwarm
zu verabreichen, weil die massige Wärme viel weniger Magenbewegungen aus-
löst, als sehr kalte oder sehr hohe Temperaturgrade. Die Milch gerinnt im
Magen in weichen, zarten Klümpchen, welche die Wundfläche nicht besonders
reizen können. Die meisten Kranken ertragen die warme Milch am besten,
doch gibt es auch viele Patienten, welchen die warme Milch ungeniessbar
ist und zu Beschwerden Anlass gibt, hier darf man von der kalten Milch und
der Eismilch Gebrauch machen. Bei jeder Art von Milch ist es aber noth-
wendig, nur eine kleine Menge jedesmal zu verabreichen, alle 2 — 3 Stunden
höchstens ein Viertel Liter trinken zu lassen; bei Patienten, welchen selbst
diese Verordnung Schmerzen macht, muss man die Portion noch kleiner vor-
schreiben, so dass man esslöffelweise alle halbe Stunden Milch nehmen lässt.
Wenn die Patienten die Milch gut ertragen, so darf man etwas Weissbrod,
welches völlig aufgeweicht ist, in der Milch verabreichen; öfters wird auch
Milch mit Fleischsuppe, zu gleichen Theilen, gut verdaut, in anderen Fällen
wird die Milch erst dann anwendbar, wenn ihr etwas Mehl zugesetzt ist, so
dass eine Art Mehlsuppe entsteht. Treten nach dem Genüsse von Milch
Schmerzen oder Erbrechen auf, oder verspüren die Patienten auch nur schon
starke Säurebildung im Magen, so muss man der Milch, um der abnormen
Säurebildung und deren Folgen entgegen zu wirken, Aq. calcis bis zu einem
Drittel der Menge, Natrium bicarbonicum, eine Messerspitze voll auf ein Glas,
Magnesia usta oder ähnliche Alkalien zusetzen. Zwar haben wir kein be-
ULCUS VENTRICULI. 875
stimmtes Mass, wie viel Alkali zur Neutralisation nothwendig ist, — es sei
denn, dass wir stets eine genaue physiologisch-chemische Untersuchung machten,
was in der Praxis unmöglich ist — allein die Erfahrung zeigt alltäglich, dass
wir bei solchen Dosen nicht Gefahr laufen, eine Gährung der eingeführten
Nahrungsmittel durch Aufliebung der sauren normalen Reaction oder gar
Schaffung einer störenden alkalischen Reaction des Mageninhaltes herbeizu-
führen. Es bleibt nun aber noch eine grosse Gruppe von Patienten übrig,
bei welchen die Milch jedesmal wieder neuen Wundschmerz macht; hier be-
währt sich gar oft das alte Wort Krukenberg's, dass der Patient Butter-
milch trinken, wenn er durstig, und Buttermilch essen soll, wenn er hungrig
ist. Nächst der Milch erfreut sich mit Recht grosser Beliebtheit die Leube-
RosENTHAL'sche Fleischsolution, von welchem reizlosen, weichen und
nahrhaften Ernährungsmittel man täglich etwa 1 Büchse, welche V2 Pfunde
Fleisch entspricht, vorschreibt; diese Fleischsolution wird am besten mit Bou-
illon, welche gar nicht oder nur schwach gesalzen ist, verabreicht. Zu den
brauchbaren Nahrungsmitteln müssen wir auch, zumal wenn die Milch oder
die Fleischsolution Widerwillen zu erregen anfängt, Schleimsuppen, dünnen
Thee, leichte Fleischsuppe, rohes, oder in die Fleischbrühe eingertihrtes
oder weich gekochtes Ei rechnen; ebenso zweckmässig sind viele Arten von
künstlichen Nährmitteln, aus deren Zahl wir besonders hervorheben Legumi-
nosen nach Liebe und Hartenstein, Nestle's und andere Kindermehle, Rahm-
gemenge; nicht dringend genug kann ich die künstliche Muttermilch von
VoLTMER empfehlen und die Somatosemilch, welche in allen meinen
Beobachtungen ohne Schmerzen und Säurebildung die Abheilung des Magen-
geschwüres beschleunigten.
Die Erfolge der angeführten Diätvorschriften lassen sich noch weit gün-
stiger gestalten, wenn man den Patienten den Behandlungs modus im
Bette liegend durchmachen lässt, weil nur durch die ruhige Lage stärkere
Körperbewegungen und Zerrungen des Ulcus vermieden werden; bei frischen
und hartnäckigen Geschwüren ist es unerlässlich, auf Liegen im Bett zu be-
stehen; zweckmässig ist die Verordnung von heissen Kataplasmen auf den
Unterleib und Priessnitz'sche Einpackung in der Nacht, welche erfahrungs-
gemäss den Schmerz lindern und die Vernarbung anregen. Zum Glück ist
die Zahl der Patienten, bei welchen diese Behandlung nicht durchgeführt
werden kann, sehr gering; in solchen Fällen muss man die künstliche Er-
nährung vom Rectum aus einleiten; zu solchen Versuchen, welche immer-
hin einen Theil des Körperumsatzes zu decken vermögen, sind vorzugsweise
die Fleischpankreasklystiere nach Leube, zu welchen man 160 g fein ge-
schabtes und gehacktes Rindfleisch mit 50 g fettfreier, fein zerhackter Pan-
kreasmasse und 100 ^ lauwarmen Wassers zu einem dicken Brei anrührt,
im Gebrauch, ebenso empfohlen werden Peptonpräparate von Kochs, Kemme-
RiCH, Albumosepräparate von Antweiler, Somatose der Elberfelder Farben-
fabriken von Bayer, Eierklystiere nach Kussmaul (2 — 5 Eier mit dem hal-
ben Volumen Wasser), Ernährungsklystiere nach Ewald (2 — 3 Eier mit
150 ccm einer 15— 207o Traubenzuckerlösung und Stärkelösung oder Maci-
loge), Nährklystiere nach Boas (250 gr Milch, 2 Gelbeier, 1 Theelöffel Koch-
salz, 1 Esslöffel Rothwein, 1 Esslötfel Kraftmehl), Ernährungsklystier mit
Rahm nach von Noorden (Einspritzung von süssem Rahm, in der Weise dar-
gestellt, dass auf V4 Liter Rahm 10 g Zucker und eine Prise Kochsalz kom-
men) und als gelegentliche Zusätze zu den Ernährungsklystieren Ol. jecoris
Aselli 30—40 g mit einigen Esslöffeln einer 0.37o Sodalösung geschüttet.
Es gelingt immerhin, für eine mehr oder minder lange Zeit in verzweifel-
ten Fällen diese umständliche Methode der künstlichen Ernährung mit gros-
sem Vortheile durchzuführen. Der Einspritzung der Nährstoffe in den Anus
geht ein Reinigungsklystier voraus. Die Peptonlösungen, welche oft sehr stark
876 ULCUS VENTEICULI.
sauer reagiren, müssen neutral oder schwach alkalisch gestellt werden. Die
nutritiven Klystiere von Fleischbrühe mit Milch und Stärkemehl, Eierkly-
stiere unter Zusatz von Kochsalz sind auch nur in den schlimmsten Fällen
von Wert.
Wenn sich das flüssige Regime durchführen lässt, so schwinden in der
Regel die Schmerzen nach einigen Tagen, man muss aber diese Ernährungs-
form 3—4 Wochen lang innehalten, bevor man den Versuch einer anders-
artigen Ernährung wagen darf; als solche empfehlen sich Beaf-Tea, ganz weich-
gekochte Eier, gekochte Thymusdrüse vom Kalb, gekochtes Huhn, gekochte
Tauben; später geschabter roher Schinken, Fleischsaft, geschabtes rohes Fleisch,
weiterhin gebratener, junger Hahn, gebratene Tauben, Rehbraten, rosa gebra-
tenes Roastbeaf, Fleischgelees, Kalbsbraten, Kartoffel-puree, consistentere
Suppen; alle sauren, gesalzenen, gewürzten Stoffe müssen streng gemieden
werden, und noch recht lange ist vor der groben Beköstigung mit Amylaceen,
Schwarzbrod und gerösteten Kartoffeln zu warnen.
Wein und alkoholische Getränke sind während der Behandlungszeit
streng zu versagen, erst wenn relativ schwere Kost wieder schmerzlos ver-
tragen wird, darf man etwas leichten guten Rhein- oder Rothwein oder
leichtes, gutgehopftes Bier gestatten.
Neben der diätetischen Behandlungsweise besteht die medicamentöse
Therapie zu Recht, auch sie bezweckt an erster Stelle, für den natürlichen
Heilungsprocess die Hindernisse zu beseitigen. Den Indicationen, die allzu-
reiche Säurebildung abzustumpfen und eine zeitweilige Entlastung des
Magens zu bewirken, genügen am besten die alkalisch-salinischen
Mineralwässer oder deren Salze. Von Ziemssen in die Praxis eingeführt,
ist hier die Anwendung des künstlichen oder natürlichen Karlsbadersalzes
die alltägliche, viel tausend fach erprobte Regel; ein Esslöffel voll des Salzes
wird in 72 Liter lauwarmen Wassers aufgelöst; der Kranke trinkt morgens
nüchtern alle 10 Minuten etwa den 4. Theil dieser Lösung, so dass die ganze
Menge ungefähr in ^/^ Stunden getrunken ist; der Patient muss V2— ^U Stunden
warten, bevor er sein Frühstück nimmt; innerhalb 2 Stunden erfolgen meistens
1 — 2 dünne, reichliche Stuhlentleerungen; erfolgt nicht reichliche Defäcation,
so nimmt der Kranke am folgenden Tage etwas mehr Karlsbadersalz; treten
häufigere Stuhlentleerungen ein, so löst er etwas weniger Salz auf, die
Flüssigkeitsmenge bleibt in beiden Fällen dieselbe. Die gute Wirkung des
Karlsbadersalzes beruht auf seinem Reichthum an schwefelsaurem Natrium,
welches den Mageninhalt rasch in den Darmcanal entleert, während die anderen
Bestandtheile, das Kochsalz und das kohlensaure Natrium, das erstere durch
Beförderung der Verdauung, das andere durch Abstumpfung der Intensität
der Magensäure und Auflösung des Schleimes die günstigen Erfolge ver-
grössern. Denselben Vortheil, welchen das Karlsbadersalz erreicht, bietet
auch die Anwendung der natürlichen alkalisch-salinischen Wässer; auch hier
steht das Karlsbader Wasser an erster Stelle, besonders empfehlen sich
Schlossbrunnen, Marktbrunnen, Theresienbrunnen, welche nicht reich an
Kohlensäure sind, da die Kohlensäure einen Reiz auf das Ulcus ausübt und
in Folge dessen Blutungen auftreten können. Marienbader, Tarasper Wasser
kann ebenfalls für die Cur im Hause gebraucht werden. Einfache alkalisch-
muriatische Brunnenwässer, wie Emser, Niederselterser Wasser vermögen zwar
die Säure abzustumpfen, aber sie wirken nicht befriedigend ein, weil sie, des
Glaubersalzes bar, den Mageninhalt nicht weiter befördern. Wenn man na-
türliche Mineralwässer anwendet, so muss man sie stets in lauwarmer Form
(ca. 40° C.) anwenden, es entweicht dann auch die etwa vorhandene Kohlen-
säure.
Der Indication, den Magen wenigstens zeitweise gänzlich zu entlasten
und von der Säure zu befreien, will man weiterhin durch Anwendung der
ULCUS VENTRICULI. 877
Magenpumpe und Ausheberung mit nachfolgender Ausspülung
des Magens genügen. Man hat in der That günstige Resultate erzielt, allein
vor der Magenpumpe ist auf jeden Fall zu warnen, weil dieselbe doch in
ihrer Wirkung auf die kranke Magenwand nicht abgemessen werden kann
und thatsächlich Blutungen bei ihrer Anwendung aufgetreten sind; zweck-
mässiger ist die einfache Ausheberung und Ausspülung mit einer schwachen
alkalischen Lösung (1 — 2 Theelöffel voll Kochsalz oder Karlsbadersalz auf
ein Liter Wasser von -\- 35'^ — 37" C); man läuft bei dem Magenheber keine
Gefahr, Schleimhautstücke zu aspiriren und Blutungen zu bewirken, doch
kann man selbst mit einer sehr weichen Sonde das Ulcus treffen oder Brech-
bewegungen veranlassen; für alle Fälle ist auch bei dem Magenheber die
grösste Vorsicht geboten, allgemein beliebt erscheint diese Behandlung auch
schon deshalb nicht, weil sie dem Patienten nicht sympathisch ist.
Einer grossen Berühmtheit erfreuen sich bei der Behandlung des Ulcus
ventriculi einige Arzneistoffe, welche die Vernarbung des Geschwüres be-
schleunigen und sichern sollen; am meisten wird zu diesem Zwecke das
Bismuthum subnüriciim, welches in Dosen von 0*3 — TO mehrmals täglich zur
Verordnung kommt und selbst in Dosen bis zu 10 und 16 g pro die verordnet
wurde, angewandt, es gilt für Viele geradezu als ein Specificum; eine irgend
wie heilende Wirkung kommt dem Magisterium Bismuthi nicht zu, es
ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass die ihm innewohnende anti-
bacterielle Wirkung im Stande ist, die Zersetzungen des Mageninhaltes, die
mit dem Ulcus verbundenen dyspeptischen Störungen in Folge gleichzeitig
bestehenden Magenkatarrhes einzuschränken und dadurch mittelbar auf das
Ulcus selbst günstig einzuwirken; jedenfalls verdient das Bismuthum seinen
grossen Ruhm nicht ohne Weiteres. Dasselbe gilt von dem Ärgentum nüricum,
welches man in Lösung von 0-1 : 150-0 dreimal täglich einen Esslöffel voll
oder in Pillenform zu 0*01 dreimal täglich nehmen lässt; gewiss wird solche
geringe Menge gar nicht im Stande ein, kräftige Granulationen des Ulcus an-
zuregen; ebenso zwecklos ist der Gebrauch des Plumbum aceticum.
Für die Behandlung bleibt aber noch mancherlei zu thun übrig. Die
symptomatische Therapie hat vor der Hand den Schmerz zu bekämpfen;
gelingt es durch die Diät allein nicht, die Schmerzausbrüche zu beseitigen,
so muss man zum Morphinum innerlich oder subcutan greifen; einen sehr
guten Erfolg verspricht die Anwendung der Belladonna (Ext. Belladonnae
0'6:20-0, dreimal 20—30 Tropfen täglich); ich pflege sie regelmässig zu
verordnen, weil sie weniger dyspeptische Störungen als das Morphium ver-
ursacht. Atropin und Infuse von fol. Belladonnae folgen demselben Principe.
Nach Gerhardt ist die Anwendung von Liquor ferri sesquichlorati (3 — 4 Tropfen
in einem Weinglase voll Wasser oder Schleim) sehr zu empfehlen; Kataplas-
men, Hautreize durch Senfpapiere, Chloroformlinimente mögen den Eingriff
unterstützen, als letzte Zuflucht bleibt aber stets die subcutane Morphium-
einspritzung.
Hartnäckiges Erbrechen macht häufig die Anwendung von Belladonna,
Codeinum, Morphium, Schlucken von Eispilleu nothwendig; bei strenger
Diät kommt man in der Regel rasch zum Ziele; empfohlen ist auch TincUira
Joc^i 0-5 : 150 Wasser, 2stündlich 1 Esslöffel, Menthol, Kreosot, Cocain.
Tritt Blutbrechen ein, so ist das nächste Erfordernis, den Patienten
flach hinzulegen, den Kopf womöglich etwas tiefer als den Körper, um der
Gehirnanämie möglichst vorzubeugen. Neben der absoluten Ruhe verordnet
man einen Eisbeutel auf das Epigastrium und lässt langsam kleine, runde
Eisstückchen schlucken; steht die Blutung nicht, so macht man am besten
Einspritzungen von Ergotin (Ergotinum citricum solutum (Gehe); 1 ccm enthält
die gebräuchliche Dosis von 0*001) 3—4 Einspritzungen innerhalb 3 — 4 Stunden
oder Ext. Seealis cornuti 2-5, Ghjcerin und Spirit. m 7"5 (l — 3 Spritzen).
878 ULCUS VENTRICULI.
Zum innerlichen Gebrauch dienen die Styptica, wie das Plumhum aceticum
(0-03 — 0'05 2stündlich), das Äcidum tannicum (0*1 — 0*2 stündlich), der Liquor
ferri sesquichlorati (5 — 10 Tropfen in Wasser stündlich); man muss aber in
der Anwendung dieser Arzneistolfe vorsichtig sein, weil sie öfters trotz
Morphiumzusätzen Erbrechen hervorrufen und dadurch erst recht die Gefahr
vergrössern. Die Kranken mit Magenblutung erhalten am besten für die
ersten Tage gar keine Nahrung. Ist die Schwäche sehr gross, so kann man
in vorsichtiger Weise ernährende Klystiere, Weininjectionen in das Rectum
versuchen; erst 4 — 5 Tage nach Aufhören der Blutung ist die flüssige Ernährung
anzuwenden erlaubt. Wenn die Blutung so gross ist, dass der Verblutungstod
droht, so ist man genöthigt, neben Ergotininjectionen Kampferöl, Moschus,
Aethereinspritzungen zu machen; rationell ist gewiss die Anwendung der
physiologischen Kochsalzlösung als Infusion. Bei tiefen Ohnmachtsanfällen
in Folge der Gehirnanämie kann man der Analeptica, subcutan angewandt,
sowie der Riechmittel und Besprengungen mit kaltem Wasser nicht entrathen.
Bei rasch aufeinanderfolgenden, starken Blutungen ist von Rydigier die
operative Entfernung des Magengeschwüres empfohlen; die Operation ist
thatsächlich mit Erfolg mehrfach ausgeführt worden.
Wenn die Perforationsperitonitis droht oder sich ausbildet, so
wird man sofort grosse Eisbeutel auflegen und kräftige Dosen Opium innerlich
(0'03— 0-06 2stündlich) anordnen; jede Nahrung muss dem Magen fernbleiben;
lässt die Brechneigung nicht nach, so darf man eine Morphiuminjection an-
wenden, es ist auch mit Erfolg die Magenpumpe zur Entleerung des Magens
versucht worden; bleibt die Peritonitis circumscript, so lassen das Eis und
Opium noch am ehesten Rettung erhoffen, geht aber die Entzündung über
das ganze Bauchfell, so ist jede Therapie erfolglos, wir müssen uns dann auf
Bekämpfung der Schmerzen, des Singultus und der Athemnoth durch warme
Aufschläge und Morphiumeinspritzungen beschränken.
Die Nachbehandlung des vernarbten Ulcus ist wesentlich eine
symptomatische; bestehen noch Katarrhe des Magen- und Darmcanales, so ist
der Curgebrauch in Karlsbad, Marienbad, Tarasp, Bertrich sehr zu empfehlen
neben strenger Beobachtung der zweckmässigen Diät; man beugt auf diese
Weise Recidiven nach Möglichkeit vor. Zurückbleibende Anämien legen die
Anwendung von leichten Eisenpräparaten und Stahlbrunnen nahe. Die aus der
Narbenbildung resultirenden Cardialgien, Stenosenbildungen, Verwachsungen
mit Nachbarorganen, Fistelbildungen erheischen ihre besondere Behandlung.
Durch die ganze Art des Auftretens und Verlaufes schliesst sich eng an
das runde Magengeschwür das runde Duodenalgeschwür an, so dass wir der
Einfachheit wegen die Beschreibung des Duodenalgeschwüres hier anfügen
wollen. PEiOE.
Ulcus duodeni. (Rundes Duodenalgeschwür.) Gebräuchlich sind auch die
Bezeichnungen als: Ulcus duodenale, rotundum, perforans oder pepticum.
Pathogenesis. Die Pathogenese schliesst sich genau demjenigen an, was
wir bei der Pathogenesis des Ulcus ventriculi pepticum auseinandergesetzt haben.
Die EntWickelung ist also im Wesentlichen dadurch begründet, dass
in der Darmschleimhaut Circulationsstörungen sich ausbilden
und dass auf diesen von dem Circulationshindernisse betroffenen
Darmabschnitt der saure Magensaft verdauend einwirkt.
Man beweist den Einfluss des Magensaftes mit der Thatsache, dass vor Allem
das runde Duodenalgeschwür im oberen horizontalen Aste des Duodenum und fast
ausnahmslos oberhalb der Einmündungssteile des Ductus choledochus in das Duode-
num vorkommt; bis zu diesem Darmabschnitte reicht in der Regel auch die ver-
dauende Kraft des Magensaftes, sie endigt hier, weil die Galle das Pepsin fäUt und
der alkalische Pankreassaft und die Darmsecrete die Salzsäure vernichten. In
ULCUS DUODENI. 879
welcher Weise die Circulationsstöriing zu Stande kommt, entzieht sich unserer Kennt-
nis. Embolische Vorgänge können die Ursache für das Duodenalgeschwür abgeben;
es erhellt dieses aus der Beobachtung von Merkel, welcher an einer Leiche Athe-
rom der Aorta und Embolien in den verschiedensten Körperarterien nachwies und,
was uns hier besonders interessirt, unter diesen Embolien eine Embolie in einer
kleinen Arterie der Duodenalwandung, welche im Grunde eines frisch entwickelten
Ulcus duodeni rotundum sich hinzog. Auf embolischen Vorgängen beruhen gewiss
auch diejenigen peptischen Duodenalgeschwüre, welche man nach Verbrennungen auf
der äusseren Haut einige Tage später entstehen sieht; es ist auffallend, dass selbst
nach unbedeutenden Verbrennungen solche Geschwüre sich entwickeln.
Im Verlaufe von Pemphigus, Erfrierungen, nach Erysipelas und Septicämie
ist mitunter auch das Duodenalgeschwür zur Entwickelung gekommen; ist bei den
ersten Krankheiten an die embolische Circulationsausschaltung als Basis zu denken,
so kann bei der Septicämie noch die hämorrhagische Entzündung der Duodenal-
schleimhaut in Frage kommen; wir weisen auch auf die Meläna der Neugeborenen
hin, als deren Ursache man oft frische Duodenalgeschwüre fand, welche ihrerseits
bald in einer Embolie der Arteria pancreatico-duodenalis in Folge einer Throm-
bosis der Vena umbilicalis oder des Ductus Botalli nach zu frühzeitiger Abnabelung
mit folgender Asphyxie und mangelhafter Athmung begründet waren, bald in Em-
bolie nach pyämischer und septischer Infection von dem Nabel aus, bald in Mikro-
kokkenembolien (Bohn), bald in hämorrhagischen Infiltrationen der Schleimhaut in
Folge pyämischer Erkrankung ihre Erklärung zeigten. Fügen wir noch hinzu, dass
auch nachgewiesene amyloide Entartungen, fettige Degenerationen der Gefässwan-
dungen in ursächlichem Zusammenhange mit dem Duodenalgeschwür gebracht werden,
so haben wir die Uebereinstimmung der P.athogenesis für das peptische Magen- und
Duodenalulcus dargethan.
Aetiologie. Im Verhältnis zum runden Magengeschwür ist das peptische
Duodenalgeschwür eine seltene Erkrankung, man sagt, dass auf 30 nachweisbare Magen-
geschwüre nur ein Duodenalulcus komme. Mit dem Magengeschwür hat das Duo-
denalulcus gemeinsam, dass es in der Jugend häufiger ist, am häufigsten zwischen
dem 20. und 40. Lebensjahre, dagegen sticht die Thatsache auffallend hervor, dass
das Duodenalulcus mit grösster Vorliebe das männliche Geschlecht befällt.
In der Statistik von Krauss ist unter 64 Fällen von peptischem Duodenalulcus die
Zahl der befallenen Männer 58, welchen nur 6 Frauen gegenüberstehen, so dass
also ein Verhältnis von 10 : 1 bestände. Mit Recht führt Leube an, dass diese
Prävalenz des männlichen Geschlechtes um so auffallender ist, als man eigentlich
nach der weitgehenden Analogie mit dem runden Magengeschwüre gerade beim
■weiblichen Geschlechte durch die Chlorosis und Anämie die höchste Ziffer erwarten
sollte. In allen anderen Punkten deckt sich ätiologisch das peptische Ulcus des
Magens und Duodenum vollkommen.
Pathologische Anatomie. Das anatomische Aussehen des Duodenal-
geschwüres ist ein scharf umschriebener Substanzverlust in der Schleimhaut, welcher
terassenförmig von der Mucosa nach der Serosa vordringt und frei von entzünd-
lichen Veränderungen ist; nur in wenigen, sehr alten Geschwüren ist der Rand nicht
scharf geschnitten, sondern iudurirt und gewulstet. Das Geschwür steigt trichter-
förmig nach der Tiefe herab, der Gewebsdefect ist in der Mucosa grösser als in
der Muscularis, in der Muscularis wieder grösser als in der Serosa, Der Grund
des Geschwüres ist stets glatt. Der Sitz des Duodenalulcus ist weitaus am häu-
figsten im oberen horizontalen Stücke des Duodenum, seltener im absteigenden Theile,
am seltensten unterhalb der Einmündungssteile des Ductus choledochus. Man hat
wiederholt die Geschwüre so gelagert gefunden, dass die eine Hälfte dem Duodenum,
die andere Hälfte dem Pylorustheile des Magens angehörte. Was die Zahl der
Geschwüre anlangt, so besteht in der Regel nur ein einziges Ulcus, häufiger sind
aber auch 2, 3 und mehr Geschwüre zu gleicher Zeit beobachtet worden; relativ
oft bestanden Ulcus ventriculi und duodeni pepticum zu gleicher Zeit.
880 ULCUS DUODENI.
Gerade wie die Magengeschwüre können auch die Duodenalgeschwüre zur
Perforation und Blutung führen; es scheint sogar, als ob die Duodenalgeschwüre
eine grössere Neigung zur Perforation und tödlichen Blutung hätten.
Bei der tödlichen Blutung hat man alle die -verschiedensten Blutgefässe des
Duodenum und der Nachbarschaft angefressen gefunden; meistens zwar waren es die
Arteria pancreatico-duodenalis, gastro-duodenalis, gastro-epiploica oder hepatica, aber
man hat auch die Eröffnung der Vena portae und der Vena cava inferior beobach-
tet, einmal sogar die Arrodirung der Bauchaorta. Dringt das Duodenalgeschwür
durch die Serosa vor, so bilden sich im günstigsten Falle Verklebungen und Ver-
wachsungen mit der Leber, dem Pankreas, der Gallenblase aus; man hat Durch-
brüche nach der G-allenblase und nach dem Magen zu beobachtet, so dass die Ob-
duction Gallenblasenduodenal- und Gastroduodenalfisteln eruirte; in sehr seltenen
Fällen hatte das Geschwür nach hinten unmittelbar auf die Rückenweichtheile über-
gegriffen und dieselben nach aussen hin durchdrungen.
Geht die Perforation frei in die Bauchhöhle, so tritt diffuse, eitrige Perito-
nitis als Obductionsbefund hinzu. Bei anderen Obductionen findet man verschiedene
grosse, jauchige circumscripte Abscesse in der Bauchhöhle. In den Fällen, in
welchen eine Vernarbung eintritt, entwickelte sich eine verschieden grosse, strah-
lige Narbe, welche nach ihrer Grösse und ihrem Sitze eine Stenosis des Duodenum
mit nachfolgender Erweiterung des darüberliegenden Darmstückes und Magens im
Gefolge hat; man hat narbigen Verschluss des Ductus Wirsungianus mit Pankreas-
atrophie und Verschluss des Ductus choledochus mit bleibendem Icterus beobachtet.
Wir selbst haben eine Fistel zwischen dem Duodenum und einer Dünndarmschlinge
in Folge einer Perforation eines Duodenalgeschwüres durch die Section festgestellt.
Symptome. Die Symptome des runden Duodenalgeschwüres sind denen des
Ulcus rotundum ventriculi so sehr ähnlich, dass es meistens kaum möglich ist, die
beiden Geschwüre von einander zu trennen. Manche Duodenalgeschwüre machen
nie Symptome, vielmehr verrathen sie sich erst durch plötzliche Blutung, indem
Hämatemesis und Meläna, oder Meläna allein auftritt, welche sehr rasch zum Tode
führen können; ebenso findet mau bisweilen die Perforation als das erste und auch
zugleich tödtliche Symptom eines Duodenalulcus, welches bis dahin durchaus latent
verlief. Gewöhnlich aber bestehen beim Duodenalgeschwüre dyspeptische Erschei-
nungen, Erbrechen, Schmerz im Epigastrium, zumal nach dem Pylorus hin, welcher
localisirt auftritt und auf Druck von aussen her gesteigert wird und cardialgische
Schmerzattaquen; dazu kommt dann noch Hämatemesis und Blutabgang durch die
Stuhlmasse, also die nämlichen Erscheinungen, welche wir auch beim peptischen
Magenulcus kennen gelernt haben.
Diagnosis. Die Erkennung des Duodenalgeschwüres stösst wegen der sehr
grossen Aehnlichkeit mit den Symptomen des Magengeschwüres meistens auf unüber-
windbare Hindernisse; nur in einem kleinen Procentsatze können wir eine Wahrschein-
lichkeitsdiagnose auf Ulcus duodeni stellen. Diese gründet sich dann darauf, dass
zum Unterschied von dem Verhalten bei Ulcus ventriculi bei dem Duodenalgeschwür
vorzugsweise im rechten Hypochondrium oder nach ihm hin der Schmerz sich aus-
dehnt, schwere Magenerscheinungen bei dem Duodenalulcus seltener anzutreffen
sind, das Erbrechen lange nicht so häufig auftritt und wiederholt starke Darmblutung
ohne Bluterbrechen vorkommen. Das Allgemeinbefinden und der allgemeine Er-
nährungszustand können sehr lange durchaus ungestört sein. Beim Magengeschwüre
soll der Schmerz ziemlich rasch nach der Mahlzeit auftreten, während er beim
Duodenalgeschwür erst nach 3 — 4 Stunden zu erwarten sei. Dieses trifft sicher
nicht jedesmal zu; wir wissen, dass schon nach 10 — 15 Minuten ein Theil der zu-
geführten Nahrung und zugleich mit ihr saurer Magensaft in das Duodenum übertritt,
so dass also auch schon nach 10 — 15 Minuten saurer Magensaft ätzend auf das
Duodenumgeschwür und schmerzerzeugend einwirkt. Chvostek schliesst aus Folgen-
dem auf ein Ulcus duodeni: wenn 2^2 — 3 Stunden nach der Mahlzeit Weingenuss
Schmerz hervorruft oder ihn steigert, so liegt ein Ulcus ventriculi vor; lässt da-
ULNARIS-LÄHMÜNG. 881
gegen der schon bestehende Schmerz nach oder verschwindet er ganz, so spricht
dieses für ein Ulcus duodeni, weil der Wein reflectorisch den Pylorus schliesst, da-
durch den weiteren Uebertritt von Magensaft in das Duodenum absperrt und so den
Schmerz beseitigt. Wie dem auch sein mag, die Diagnose bleibt für gewöhnlich
zweifelhaft, über eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose kommen wir nicht hinaus, auch
nicht dann, wenn z. B. eine ausgedehnte Hautverbrennung mit nachfolgendem Schmerze
im Epigastrium den Verdacht näher legt.
Prognosis. Die Vorhersage ist durchschnittlich ungünstiger als beim pep-
tischen Magengeschwüre; die Vernarbung kommt weit seltener zu Stande; die Hälfte
der Fälle geht durch Perforation zu Grunde, ungefähr Yi unterliegt der tödlichen
Hämorrhagie und nur in dem letzten Viertel ist eine Vernarbung zu erwarten, welche
durch Stenosenbildung und Verwachsungen mit Nachbarorganen zu ernsten, dauern-
den Störungen Anlass geben kann.
Therapie. Die Behandlung des peptischen Duodenalgeschwüres vollzieht sich
nach denselben Principien, welche für die Therapie des Magengeschwüres in Betracht
kommen: also grösste Körperruhe, flüssige Ernährung, vor Allem Milch und Fleisch-
solution und alkalisch-salinische Wässer oder deren Salze; daneben behauptet sich
die symptomatische Behandlungsweise. PRIOR.
UlnariS-Lähmung. Als Ursachen für die isolirte Ulnaris-Lähmung "')
kommen Verletzungen an der sehr exponirten Stelle über dem Condylus in-
ternus, Druck durch Krücken in der Achselhöhle oder gewohnheitsmässiges
Auflegen und Aufstützen des Unterarmes auf die Ulnarseite z. B. bei gewissen
Handwerkern oder Schreibern, Schuss- und andere Verletzungen in Betracht,
Die vom Ulnaris versorgten Muskeln sind ihrer Function beraubt. Es
sind dies: Flexor carpi ulnaris und Flexor digitorum profundus, die Muskeln
des Kleinfingerballens, HI und IV Lumbricalis, sämmtliche Interossei und Ad-
ductor pollicis. Sehr auffallend bei der Ulnaris-Lähmung ist stets die Ab-
flachung der Muskeln der Ulnarseite und des Kleinfiogerballens sowäe die
durch Atrophie der Interossei eintretende Rinnenbildung auf dem Handrücken.
Ebenfalls typisch ist die bei länger bestehender Lähmung sich bildende Form
der „Klauenhand", welche im Wesentlichen durch zw^ei Factoren zu Stande
kommt, nämlich 1. durch die Hyperextension der Phalanx (Radialis- Wirkung)
bei Lähmung der Flexoren (Interossei) und 2. durch die Flexion der beiden
Endphalangen, welche, wie es scheint, mehr auf mechanische Ursachen (man-
gelnde Nachgiebigkeit der Flexoren- Sehnen), zurückzuführen ist.
Die entstehenden Functionsstörungen sind kurz: mangelnde Adduction
der Hand, ausgesprochene Abductionsbewegung bei jeder Flexion der Hand;
der kleine Finger ist fast ganz unbrauchbar; die Phalanx kann nicht gebeugt,
die II und III nicht gestreckt werden; Spreizen und Adduciren der Finger ist
so gut wie aufgehoben. Der Mangel des Adductor pollicis macht sich ver-
hältnismässig wenig bemerkbar.
Die sensiblen Störungen beziehen sich auf das Gebiet der vola
manus, welches nicht vom Medianus versorgt wird, (IV2 letzte Finger und
Hohlhand ausser Daumenballen und einem schmalen daran grenzenden Streifen
der Hohlhand) auf den Kleinfingerballen und einen Bezirk des ulnaren Theiles
des Unterarmes. Sperling.
*) Vgl. den Art.: riNervenlähmung'^ .
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. Ob
882 . UNTERSUCHUNG.
Untersuchung. Jede Krankenuntersuchung soll mit der Erhebung der
Anamnese beginnen. Dieselbe gibt uns nicht nur Aufschluss über den
Ort der Krankheit, sondern auch über den Charakter derselben. Durch die
Erzählung der Kranken, sowie durch gewisse sich aus derselben ergebende
Zwischenfragen, lernt man aber auch das Individuum als solches kennen, so-
fern der Arzt dasselbe zum erstenmale sieht und ihm daher die Intelligenz
und das Temperament des Betreffenden, Factoren, die für die Beurtheilung
des Krankheitszustandes oft ausserordentlich wichtig sind, bisher unbekannt
waren. Der alte, ärztliche Praktiker hat sich im Laufe vieljähriger Erfahrung
nicht nur allgemeine Menschenkenntnis erworben, sondern auch namentlich
seine Beobachtungsgabe in der bestimmten Richtung geübt, dass er schon
aus der anamnestischen Erzählung des Kranken beurtheilen kann, inwiefern
derselbe sich streng an die Wahrheit hält, inwiefern er seinem Leiden be-
rechtigten Ausdruck gibt, anderseits übertreibt oder gar simulirt.
Es gibt eine Reihe von Krankheiten, bei denen objective Symptome
gänzlich fehlen und daher wir ganz allein auf die subjectiven Angaben der
Kranken angewiesen sind. Es gibt Schmerzen, für die wir kein objectives
Substrat finden können und deren Vorhandensein wir einfach „glauben"
müssen. In einer äusserst schwierigen Stellung befinden sich daher nament-
lich Krankencassenärzte, Vertrauensärzte der Unfallsversicherungen, Chef- und
Controlärzte der verschiedenen Fabriks- und Betriebsunternehmungen u. A.,
da diese eben nicht bloss Krankheiten diagnosticiren müssen, sondern auch
häufig über die Arbeitsfähigkeit schwerwiegende Aussprüche zumachen
haben.
Die Anamnese darf sich nie nur auf die speciellen Beschwerden des
Kranken beziehen, sondern soll womöglich nach dem Vorbilde exacter, klini-
scher Krankengeschichten einen kurzen Decursus vitae desselben enthalten.
Das Vorleben des Gesammtorganismus muss dem Arzte klar offenbart werden,
wobei er ja selbstverständlich nach allen jenen Momenten, welche als Krankheits-
disposition und Krankheitsursache Geltung haben, sorgfältig forschen muss.
Als solche gelten in erster Linie das Moment der Heredität, ferner überstandene
Infectionskrankheiten, Organleiden specieller Natur, die auf eine bestimmte
Diathese hinweisen (Syphilis, cariöse Knochen- und Gelenksprocesse, scro-
phulöse Augen- und Ohrenleiden, Drüsenerkrankungen etc., etc., dann Alko-
hol- und Tabakmissbrauch, chronische Bleiintoxication, endlich geistige Ueber-
anstrengung, Gemüthsaufregungen etc.). Es ist die Pflicht des Arztes sich
ferner zu orientiren, ob der Patient sich bisher in zweckentsprechender Weise
genährt hat, wie viel Zeit er täglich der Bewegung und der Erholung widmet,
wo und wie er wohnt (Malaria-, Dysenteriegegend, Orte mit schlechter Wasser-
versorgung, beschränkte oder feuchte Wohnungen, schlecht beleuchtete, un-
genügend ventilirte Arbeitsräume). Stereotype Fragen bei jeder Anamnese
sind die nach dem Verhalten des Appetit's, des Stuhlganges und bei Frauen
der Menses, eventuell auch der stattgefundenen Entbindungen oder Fehlgeburten.
Nach Feststellung der allgemeinen Daten müssen dann jene Beschwerden
gehört werden, die sich auf die specielle Erkrankung beziehen. Der
Arzt darf sich hiebei nie durch unrichtige oder besser logisch unrichtig con-
struirte Angaben des Kranken in seinem diagnostischen Gedankengang be-
irren lassen, zumal es sehr häufig geschieht, dass die Klagen des Kranken
sich nicht immer auf jenen Befund beziehen, der die eigentliche Krankheit
darstellt.
Es gibt Kranke, welche in der Darstellung ihrer Leiden sehr wortkarg
sind, der Arzt muss durch specielle Fragen, die er entsprechend kurz stellen
soll, die anamnestischen Daten förmlich „herausziehen." Andere — es ist
die Mehrzahl — erzählen ihre Krankheitsgeschichte mit einer gewissen Weit-
schweifigkeit und pflegen namentlich Dinge „breitzutreten", die für den Arzt
UNTERSUCHUNG. 883
von ganz unwesentlicher Bedeutung sind. Eine barsche Zurückweisung von
Seite des Arztes vertreibt oft den Kranken, während eine passend eingefügte
Zwischenfrage die Erzählung des Kranken oft rasch wieder auf den richtigen
Weg bringt.
Gewisse Unters ach ungsmetho den geben uns Aufschluss über eine
Reihe wichtiger Functionen des Organismus, so die Blutuntersuchung
(Bd. I, pag. 182), die Harnuntersuchung (Bd. I, pag. 794) und die Stoff-
wechseluntersuchung (Bd. III, pag. 532).
Die beiden letztgenannten Untersuchungsformen sind, soferne sie spe-
cielle chemische Kenntnisse erfordern, in dem Bande Chemie dieses Sammelwerkes (pag.
435 und pag. 846) ausführlich behandelt.
Die Untersuchung des Mageninhaltes resp. des Magensaftes sind
zur präcisen Diagnose der Magenkrankheiten ebenso unerlässlich, wie
die der Faeces zur Diagnostik der Darmkrankheiten (vid. Bd. I. pag.
627 und Bd. IL pag. 609).
Für die Untersuchung von Nervenkranken ist die Prüfung des elek-
trischen Verhaltens der Nerven und Muskeln, der Berührungsempfindlichkeit,
des Ortssinnes, des Temperatursinnes, der Schmerzempfindung und des Muskel-
sinnes und die Orientirung über das Verhalten der Reflexe unbedingt noth-
wendig (vide die Artikel „Eledrodiagnostik^'' Bd. I. pag. 497, ,,Empßndungs-
störungen"' Bd. I. pag. 535 und „ Sehnenreßexe" Bd. IIL, pag. 499.) Hieran
reiht sich die Kenntnis der topischen Diagnostik der Gehirn- und Rücken-
markskrankheiten, wie sie in den Artikeln „Localst/mptome der Gehirnerkran-
hungen'^ Bd. IL pag. 521 und „Rückenmarkskrankheiten^' , Bd. III, pag. 391
dargestellt wird.
Für die Diagnose der Infecte kommt die Untersuchung der Se- und
Excrete — zu denen auch das Blut gehört — auf das Vorhandensein spe-
cifischer Bacterien durch einfache Färbungsmethoden oder durch com-
plicirte Cultur- und Impfversuche in Betracht. Vorläufig ist die Zahl jener
Micro-Organismen, welche durch ihre specifischen Eigenschaften als directe
Krankheitsursachen angesehen werden, nur eine geringe. Soferne dieselben
für die praktischen Diagnostiker kennen zu lernen wichtig erscheinen, sind
dieselben in den die speciellen Infectionskrankheiten (s. d.) behandelnden
Artikeln angegeben. Siehe ferner die Untersuchung des Blutes auf Para-
siten Bd. I. pag. 187, speciell auf Malariaplasmodien Bd. IL pag. 628, die
Untersuchung der Faeces auf Mikroorganismen Bd. I. pag. 633 u. ff. und
des Sputums Bd. III. pag. 529.
In vielen Fällen reicht das einfache Färbeverfahren zur Bacterienunter-
suchung nicht aus, es sind complicirte Verfahren nothwendig, zu denen dem
praktischen Kliniker und Arzte meist die nöthige Zeit und technische Schulung
mangelt. Diese sind Aufgabe von Fachmännern, denen ein wohl eingerichtetes
bacteriologisches Laboratorium zur Verfügung steht. Eine specielle Beschrei-
bung der „Baderiologischen Untersuchungsmethoden'-'' findet sich im Bande
^Hygiene und Gerichtliche Mediän'' (pag. 125) vorliegenden Sammelw^erkes.
Die überwiegende Mehrzahl von Kranken Untersuchungen werden mit
Hilfe besonderer Instrumente vorgenommen. Hievon sind gegenwärtig bei
dem Internisten in praktischem Gebrauch: Stethoskop (in seinen verschie-
denen Varietäten: einfaches, biaurales, Bianchi's Phonendoskop, Basch's Trom-
melstethoskop etc.), Percussionshammer, Plessimeter, Sphygmograph, Sphygmo-
manometer, Kardiograph, Spirometer, Schlundsonden, Magenschlauch, Gastro-
skop, Thermometer, Thoma-Zeiss's Zählapparat, Fleischl's Haemometer,
Haemoglobinometer nach Gowers, Centrifugen, Urometer, Albuminometer,
elektrodiagnostische Apparate u. s. w. Abbildung der wichtigsten dieser In-
strumente und Beschreibung der hiemit anwendbaren Untersuchungsmethoden
findet sich im Artikel „Instrumente zur Diagnostik'' (Bd. H., pag. 339).
56*
884 UNTERSUCHUNG.
Die photographische Untersuchungsmethode, wie sie in
neuerer Zeit in fast allen Disciplinen der Medicin Verwertung gefunden, ist
bisher nur von speciellen Fachleuten geübt werden. Inwieferne sie in der
Medicin Anwendung findet, ist im Artikel ^.Photographie'-'' des Bandes „Medi-
cinische Chemie^ (pag. 735) dargestellt. Eine geradezu ungeahnte Bedeutung
hat die Photographie gegenwärtig durch die Entdeckung Röntgen's gewonnen
und bisher noch unbekannte Perspectiven eröffnen sich für die Zukunft.
Aus der Verwendbarkeit der RöNTGEN'schen Strahlen hat vorläufig die
Chirurgie den grösseren Vortheil gezogen, wenn auch auf Grund einer
Reihe von Mittheilungen die Hoffnung besteht, auch für die innere Medicin
die epochale Entdeckung in ausgedehntem Masse zu verwerten.
Die RöNTGEN-Strahlen besitzen bekanntlich die Fähigkeit, einerseits für
Licht sonst undurchdringbare Substanzen je nach ihrer Dichte mehr oder
weniger durchsichtig zu machen, andererseits Fluorescenzlicht zu erzeugen
und die photographische Platte chemisch wirksam zu beeinflussen. Bringt
man im Dunkelzimmer die RöNTGEN'schen Röhren mit dem Inductorium in
Verbindung, so werden in der Röhre RöNTGEN-Strahlen erzeugt, welche von
einzelnen Körpertheilen auf einen mit Bariumplatincyanür bestrichenen Schirm
ein Schattenbild entwerfen, an welchem einzelne Theile des Körpertheils als
dunkle Partien, andere als hellere Contouren sichtbar sind. Setzt man an
Stelle des Fluorescenzschirmes eine photographisch empfindliche Platte, so
entsteht auf dieser das Bild des Körpertheils, wobei immer der letztere zwi-
schen RöNTGEN-Röhre und der Platte (resp. dem Schirm) gelagert sein muss.
Nach Grunmach ist es nothwendig, bei der RöNTGEN-Untersuchung innerer
Organe gut evacuirte Röhren und Inductorien von 40 — 50 cm Funkenlänge zu
benützen. Die Körpertheile sollen in verschiedener Entfernung von der Röhre
durchstrahlt werden, um aus verschiedenen Grössenbestimmungen auf die
wirklichen Grenzen der untersuchten Theile einen Schluss zu ziehen.*)
Das RÖNTGEN-Verfahren hat eine Reihe physiologisch wichtiger Thatsachen aufgedeckt,
resp. bestätigt. So fand Benedict, dass bei jeder Systole die Herzspitze sich der Herzbasis
nähere und dass das Herz sich bei jeder Systole nicht vollständig seines Inhalts entledige.
Rosenfeld sah, dass das Herz sich bei jeder tiefen Inspiration vom Zwerchfell abhebe.
ZuNTZ constatirte mittels RÖNTGEN-Beleuchtung, dass die Dilatation des Herzens nach starker
Muskelarbeit 1cm betrage.
Die praktische Anwendung des Röntgen-Verfahrens in der inneren Medicin ist
durch eine Reihe von Mittheilungen verschiedener Autoren erwiesen. Bei der Durchleuchtung
des Thorax eines normalen Individuums erscheinen die Lungen als helle, Herz und
Zwerchfell als dunkle Schatten auf dem Schirm deutlich unterschieden. Man kann die
Escursionen des Zwerchfells, die Bewegungen der Lungenränder und die Contractionen des
Herzens deutlich beobachten. Grunmach konnte „in 2 Fällen von Lungenerkrankung mit
Hilfe der RÖNTGEN-Strahlen grosse Tumoren der rechten Lunge feststellen, die sich als
matte, fast die ganze rechte Thoraxhälfte einnehmende Schattenbilder von dem viel dunkler
erscheinenden Herzschatten, besonders bei tiefer Inspiration, durch die gei'inge Beweglich-
keit abhoben, während sich die andere, normale Lunge hell, durchscheinend und sehr be-
weglich zeigte." In einer grossen Anzahl chronischer Pneumonien konnte Grunmach Ver-
dichtungs- und Verkalkungsherde als dunkle Schatten in der sonst hell durchscheinenden
Lunge diagnosticiren, während Lungencavernen sich mit Hilfe der RÖNTGEN-Strahlen nicht
nachweisen Hessen. Im Gegensatz dazu sah Wassermann bei der Durchleuchtung eines mit
einer Bronchialaffection behafteten Patienten inmitten dunkler Schattenbilderpartien, die
er als Verdichtungen und Schrumpfungen deutet, einen hellen Fleck von ca. 3 cm Durch-
messer, welcher nach dem gleichzeitig erhobenen physikalischen Befund als eine Caverne
gedeutet werden musste. Bouchard hat Fälle von Pleuritis mittels RÖNTGEN-Strahlen photo-
graphirt, die mit Flüssigkeit gefällte Seite zeigte eine dunkle Färbung gegenüber der
hellen Ansicht der gesunden Seite. Mit einem Blick kann man die Grenzen des Exsudats
übersehen.
Eine Reihe von Mittheilungen liegen über die Durchleuchtung von Aortenaneurysmen
vor (Thomson. Bouchard, Popper, Grunmach, Wassermann, Benedict). Durch die Röntgen-
Durchleuchtung sieht man, wie Wassermann sagt, Aorta und Aneurysma so deutlich, dass
*) Eine specielle Beschreibung der Röntgen- Apparate und der Technik ihrer An-
wendung findet sich in der Disciplin „CJtirurgie^^ dieses Sammelwerkes.
UNTERSUCHUNG. 885
wir uns von dem erkrankten Organe eine plastische Vorstellung machon können, wie dies
durch andere Untersuchungsmethoden nicht möglich ist. Hypertrophien des Herzens bei
Herzfehlern, abnormer Rythmus der Herzbewegung bei Myocarditis, eigenthümliche hori-
zontale Verlagerung des Herzens*) bei Chlorose (das Herz richtete sich aus seiner hori-
zontalen Lage nach Eisen-Therapie wieder auf!) konnte Grunmach an einer Reihe von Fällen
beobachten. Der letztgenannte Autor sah ferner Verkalkungen der Arterien und der Aorta
in Form von dunkeln Streifen, eine Beobachtung, die wohl noch der Bestätigung bedurfte.
Pericarditis adhaesiva diagnosticirte Bknedigt in einem Fall, wo bei RÖNTGEN-Durchleuchtang
in der Rahe und bei Athembewegungen der Herzschatten vom Zwerchfellschatten nicht zu
trennen war. Strauss diagnosticirte mittels RöNTGEN-Beleuchtung einen Mediastinaltumor.
Für den Internisten interessante Veränderungen an den Gelenken demonstrirte
Huber an einer Reihe von Photogrammen: eine Artritis deformans mit deutlich sichtbarer
Verdickung und Knochenwucherung an den Gelenksenden; im Gegensatz hierzu eine
Artritis urica mit Harnsäureablagerungen in Form von danklen Streifen.
Ein Ueberblick über die bisher gemachten Mittheilungen von der Ver-
wertung der RöNTGEN-Strahlen für die intern-diagnostische Unter-
suchung lehrt, dass dieselbe wohl unzweifelhaft eine wertvolle Er-
gänzung zu den bisher üblichen Untersuchungsmethoden bildet, ja für
gewisse Fälle dieselben unzweifelhaft übertrifft. Weitere ausgedehnte
Untersuchungen auf diesem Gebiete lassen für die Zukunft noch fernere Fort-
schritte erhoffen.
Die diagnostische Untersuchung des lebenden Menschenleibes kann sich
nicht, wie die Untersuchungen auf dem ganzen übrigen Gebiet der Naturwissen-
schaften rein objectiv verhalten. Viele Organe des lebenden menschlichen
Organismus erregen mindestens durch ihre Functionen bestimmte subjective
Bewusstseinsphänomene schon im physiologischen Zustande, noch viel aus-
gebreiteter aber unter pathologischen Verhältnissen. Diese subjectiven Be-
wusstseinsphänomene stehen in doppeltem Causalverhältnis zu verschiedenen
objectiven Vv^ahrnehmungen. Einmal werden erstere durch gewisse stoffliche
Massen oder deren vitale Processe centripetal angeregt, ein anderesmal er-
regen jene subjectiven Phänomene selbst wieder centrifugal allerlei sogenannte
Reflexerscheinungen, die wieder objectiv wahrnehmbar sind. Schon aus diesem
Grunde muss jede diagnostische Untersuchung eben so auf die subjectiven,
wie auf die objectiven Phänomene sich erstrecken.
Nach zeitlichem Bedürfnis muss jede Untersuchung des menschlichen
Körpers den topischen Weg einschlagen. Das Hauptuntersuchungsgebiet des
internen Klinikers ist Kopf, Thorax und Unterleib, während die Unter-
suchung der Extremitäten eine mehr untergeordnete Bedeutung hat.
Die Untersuchung der Extremitäten betrifft deren äusseres
Aussehen (Deformitäten, Oedeme, Cyanose, Krampfadern), die Betastung der
in ihnen verlaufenden Arterien bezüglich Verlaufes, Spannung, Fülle, Rigidität
ihrer Wandungen, Aneurysmabildung etc., die Funktionsprüfung der Gelenke,
einzelner Muskeln und Muskelgruppen, sowie die Beurth eilung jener Thätig-
keiten, welche die Extremitäten gewöhnlich auszuführen gewohnt sind (Gegen-
stände erfassen. Schreiben, Stehen, Gehen u. s. w.). Wesentlich interessirt
die Extremitätenuntersuchung den Chirurgen, da dieser an jenen sein Haupt-
arbeitsgebiet findet. Es sei daher diesbezüglich auf die Disciplin ^Chirurgie'-''
dieses Sammelwerkes verwiesen.
Die Untersuchung des Kopfes betrifft grösstentheils die Unter-
suchung des von der knöchernen Schädelkapsel geborgenen Gehirnes, der
aus demselben entspringenden Nerven und der Sinnesorgane und kann daher
nur kurz unter Hinweis auf die einschlägigen Artikel besprochen werden.
*) Verdrehung des Herzens mit seiner linken Kantenfläche nach vorn sah auch
Benedict bei einem jungen Manne, der plötzlich unter Herzbeschwerden erkrankt war.
886 UNTERSUCHUNG.
Die Untersuchung des Kopfes (incl. des oberen Halstheiles) betrifft
zunächst, wenn man von der Beobachtung des mimischen Gesichtsausdruckes
absieht (Facies cacliecüca, Ovaria^ Hippocratica etc.j, die Untersuchung der
Farbe der Conjunctiven (Icterus), die Inspection der Lippen und des Zahn-
fleisches (Cyanose, Anämie, Blutungen), woran sich eventuell die Besichtigung
der Mund-Kachenhöhle und des Kehlkopfes anschliesst "^).
Die Prüfung der Facialis function wird durch das bekannte Zähne-
zeigen, Mundwinkelverziehen, Pfeifen, Augenschliessen, Stirnerunzeln geprüft.
Von der Intactheit der Augenmuskelnerven, Oculomotorius, Äbducens,
Trochlearis, überzeugt man sich durch die Ausführung der Augenmuskel-
bewegungen nach allen Seiten, während die normale Function des moto-
rischen Trigeminusastes durch das Vorspringen der Masseterenbäuche
beim Aufeinanderbeissen der Kiefer angezeigt wird. Die Papillen werden in
Bezug auf Grösse, reflectorische und accommodative Function geprüft.
Das Sprachvermögen wird schon zum Theil aus dem spontanen
Reden des Kranken, zum Theil durch das Nachsprechenlassen einzelner
Worte, die durch ihren Silben- und Consonantenreichthum im Allgemeinen
schwer auszusprechen "*) sind, beurtheilt. Aphasien verschiedener Art, Silben-
stolpern, scandirende Sprache werden auf diese Weise als wichtige, diagnostische
Momente erkannt. Man zeigt dem Kranken verschiedene Gegenstände und
lässt sie von ihm benennen, man spricht die Bezeichnung für dieselbe selbst
aus, fragt ihn, ob dieselbe richtig sei, was er durch Nicken, respective
Schütteln mit dem Kopfe bejaht oder verneint. Hieran anschliessend wird
das Vermögen zu lesen. Vorgelesenes zu verstehen, sowie die Fähigkeit
spontan zu schreiben oder Schriftzeichen nachzumachen, geprüft. Specielles
hierüber findet sich im Artikel ^ Aphasie^ Agraphie, Alexie" Bd. I. pag. 93.
Die Untersuchung der Psyche betrifft Intelligenz und Gedächtnis,
was zum Theil aus den Angaben des Kranken, zum Theil aus denen der An-
gehörigen beurtheilt wird, und wozu als weiteres Hilfsmittel das Gespräch
selbst, das der Arzt mit dem Kranken führt, sowie die Ausführung mehr
weniger complicirter Rechenexempel dienen. Inwiefern besondere diagnostische
Momente in Betracht kommen, ist bei der Behandlung der einzelnen psychischen
Krankheiten in den Specialartikeln angegeben.
Complicirt und eine gewisse Technik erfordern jene Untersuchungs-
methoden, welche die Sinnesorgane, Auge und Ohr, betreffen. Sie sind in
Artikeln der Specialdisciplinen dieses Sammelwerkes behandelt. Bezüglich
der Untersuchung des Geruchsinnes sei auf den Artikel ;; Geruchsempfindungs-
störungen", Bd. I. pag. 767, beziehungsweise jener des Geschmacksinnes auf
den Artikel „Geschmacksinnsstörungen" Bd. I. pag. 775 verwiesen. Die
Prüfung des Tastsinnes und der verwandten Sinnesqualitäten betrifft nicht
nur die Haut des Kopfes, respective Gesichtes, sondern die Oberfläche des
ganzen Körpers. Hierüber gibt der Artikel „Empfindungsstörungen" Bd. I.
pag. 536 genaue Auskunft.
Die Untersuchung des Rumpfes fällt in das Gebiet jener
Untersuchungsmethoden, die wir als physikalische bezeichnen, die mit den
Hilfsmitteln der Inspection, M^nsuration, Palpation, Auscultation und Percus-
sion arbeiten und an dieser Stelle vom topisch-diagnostischen Gesichtspunkte
aus eingehend besprochen seien.
*) Vergl. Artikel „Inspectio7t''^ Bd. IL, pag. 317.
**) An deutschen Kliniken beliebt sind die Worte: „Exterritorialität, zwitschernde
Schwalben, Gregorovius, reitende Artilleriebrigade" u. Ae.
UNTERSUCHUNG. 887
Der Rumpf zerfällt bekanntlich in den Thorax und den Unterleib. Die
intern-diagnostische Untersuchung erstreckt sich somit einerseits auf den
Thorax inclusive den unteren Halstheil, und andererseits auf den Unter-
leib exclusive das kleine Becken.
Untersuchung des Thoraoc und unteren Halstheiles,
Die Untersuchung des Thorax wird vorgenommen:
1. mit dem Auge als Inspection,
2. mit dem Tastsinn als Palpation,
3. mit dem Gehör: a) bei der Percussion, b) bei der Auscultation,
4. mittelst Befragendes Kranken oder seiner Umgebung zur Erui-
rung etwaiger subjectiver Phänomene.
Unter den Inspectionsphänomenen sind einige, die bereits oben unter
allgemeine „Inspection" (S. 317) erwähnt waren, theils von verschiedenen
Standpunkten aus beleuchtet, theils der Vollständigkeit der Darstellung halber
neuerdings kurz berührt.
A. Inspection des Thorax imd imteren Halstheiles.
Wir erkennen mittelst Inspection: I. Die Dimensionen, II. die Formen,
III. das OberÜächen-Colorit, IV. Niveau-Anomalien der Hautoberfläche, V. aller-
lei Bewegungs-Phänomene am inspicirten Körpertheil. Alle hieher gehörigen
Wahrnehmungen können normal, aber auch abnorm sein. Die normalen mögen
als bekannt vorausgesetzt und nur die Anomalien einer näheren Betrachtung
unterzogen werden.
I. Anomalien der Dimensionen des Thorax und unteren Halstheiles.
Die Dimensionen des unteren Halstheiles können durch mehr
weniger beträchtliche Zunahme der Peripherie desselben abnorm werden. Ur-
sache einer solchen Verdickung des unteren Halstheiles ist fast ausnahmslos
Vergrösserung der Schilddrüse, die bald als plane gleichmässige, bald mehr
als etwas höckerige Convexität vorspringt. Nicht selten bekanntlich als Kropf
(Struma) in ganz monströser Weise. Für die interne Diagnostik erlangen
solche Schilddrüsen-Vergrösserungen nur dann eine gewisse Bedeutung, wenn
sie durch Compression der Trachea mehr weniger Dyspnoe, ja selbst Er-
stickungsgefahr im Gefolge haben, was wohl nur bei stärkerer Betheiligung des
Mittellappens an dem Wachsthum und besonders bei Verlängerung desselben
in die Thoraxhöhle hinter das Manubrium sterni der Fall zu sein pflegt.
Nicht minder wichtig für die interne Diagnostik ist jene gewöhnlich nur
massige Prominenz der Schilddrüse, die als Theilerscheinung des „Morbus
Basedowi" aufzutreten pflegt (s. loco citato).
Die Dimensionen des Thorax werden am zweckmässigsten nach
verschiedenen Durchmessern oder den entsprechenden transversalen Peri-
pherien beurtheilt.
Solche Durchmesser sind: Der sterno-vertebrale, an beliebigen Punkten
der Thoraxlänge vom Sternum zur Wirbelsäule gehend; der costale oder auch
laterale Durchmesser, von einer Thorax-Seitenwand zur gegenüberliegenden.
Beide Durchmesser selbstverständlich in genau transversaler Richtung gedacht.
Von beiden in gleicher Höhe gezogenen Durchmessern hängt die transversale
Peripherie des Thorax in derselben Höhe ab. Im Allgemeinen ist es nun
nicht so sehr die absolute Länge der beiden Durchmesser, folglich auch nicht
die Länge der Peripherie, die eine gewisse diagnostische Bedeutung hat,
sondern das Verhältnis der beiden Durchmesser zu einander.
888 UNTERSUCHUNG.
Ausser den transversalen Durchmessern sind auch noch gewisse longitu-
dinale zu beachten, die man sich auf die äussere Fläche der Thoraxwand pro-
jicirt denken kann, und zwar einen auf das Sternum, dessen Länge somit mit
der Länge des Sternums zusammenfällt; ferner je einen auf die Mittellinie je
einer Seitenwand des Thorax, die vom höchsten Punkt der Achselhöhle zur
Mitte des Rippenbogens an der Seitenwand herabzieht.
Die Länge aller dieser Durchmesser muss der praktische Diagnostiker
mit dem freien Auge richtig beurtheilen lernen, was kaum irgend welche
Schwierigkeiten bietet, da nur aufiällige mit dem freien Auge leicht erkenn-
bare Anomalien derselben diagnostische Bedeutung haben, nicht aber jene
geringfügigen, die nur durch geeignete Messinstrumente constatirt werden
können.
Was nun die hieher gehörigen Anomalien anbelangt, so wäre vor allem
das auffälligeZurückbleiben der transversalen Thorax-Peripherie —
etwa in der Brustwarzenhöhe — hinter der Norm zu erwähnen, wobei das Ver-
hältnis der beiden senkrecht auf einander stehenden Transversal-Durchmesser
ein normales ist. Diese Anomalie ist im Allgemeinen nur als ein Zurück-
bleiben der normalen Entwicklung und nicht als directes Krankheitsresultat
zu betrachten, hat nur mit Rücksicht auf gewisse Specialfragen z. B. für den
Militär-, den Assecurranz-Arzt etc. eine gewisse Bedeutung.
Wichtiger ist das abnorme Verhältnis zwischen sterno-vertebra-
lem und costalem Durchmesser. Es kann jeder derselben für sich allein
merklich vergrössert sein, was aber zumeist auf Kosten des anderen geschieht,
so dass eben nur die Verhältniszahl zwischen beiden eine andere wird, wäh-
rend die Peripherie wohl auch etwas abgeändert sein kann, aber doch nur
im minder auffälligem Grade. So z. B. vergrössert sich der sterno-vertebrale
Durchmesser mitunter auffällig, während der laterale gleichzeitig kleiner wird;
oder es vergrössert sich der letztere, während der erstere verkleinert ist. Im
ersten Falle erscheint der Thorax wie von den Seitenflächen aus zusammen-
gedrückt; im letzteren wie von vorne nach hinten abgeplattet. — Die erstere
Anomalie findet man ganz besonders bei hochgradigen, lange bestehenden
Emphysemen in Verbindung mit verschiedenen weiter unten ang;uführenden
Formanomalien. Doch findet man dieselbe mitunter auch bei nicht emphyse-
matischen Individuen. Sie kommt zu Stande durch übermässige Entwicklang
und anhaltend angestrengte Action der Inspirationsmuskeln des Thorax. Ist
die Anomalie bereits entwickelt, so bleibt sie auch nach hochgradigem Muskel-
schwund fortbestehend. — Die letztere Anomalie, nämlich die Abplattung des
Thorax, findet man am auffälligsten bei hochgradiger, lange bestehender Tuber-
culose ebenfalls in Verbindung mit mancherlei Formanomalien (paralytischer
Thorax). Sie ist die Folge von allgemeinem Muskelschwund, bei dem die In-
spirationsmukeln vielleicht überwiegend betheiligt sind. Leichtere Grade sieht
man auch ohne Tuberculose bestehen.
Auch die longitudinalen Thoraxdurchmesser, d. i. einerseits die Länge
des Sternums, andererseits die Länge der Seitenwandmittellinien, zeigen gewisse
Anomalien.
Das Sternum findet man allerdings nur selten entschieden zu kurz im
Verhältnis zum übrigen Skelett. Da das selbstverständlich nur als eine Ent-
wicklungsanomalie zu betrachten ist, so ist es hier nur erwähnenswert, weil
es zumeist mit Verlängerung des sternovertebralen Durchmessers verbunden
zu sein pflegt, und vielleicht zur Entwicklung derselben mit beiträgt.
Häufiger findet man die Seitenwand-Mittellinie merklich verlängert, aber
immer nur bei einem mehr weniger abgeplatteten Thorax. Diese Thatsache
gehört zumeist mit zum Bilde des paralytischen Thorax.
UNTERSUCHUNG. 889
//. Anomalien der Formen des Thorax und unteren Halstheiles.
Am unteren Ha Istheil sind als Formanomalien anzuführen: un-
gewöhnliche Vertiefung der Fossae supraclaviculares und un-
gewöhnliche PJrominenz der unteren Abschnitte der Muse. Sterno-cleido-
mastoidei.
Massige gleiche Vertiefung beider Fossae supraclaviculares kommt oft bei
gewöhnlicher Abmagerung an älteren Individuen, besonders Männern auch ohne
interne Erkrankung vor. Nur extreme Grade derselben, besonders aber wenn sie
nur einseitig auftreten, deuten auf einen Schrumpfungsprocess an der bezüg-
lichen Lungenspitze in Folge von Narbenbildung nach Zerfall und nachträg-
licher Verkalkung abgekapselter Tuberkelherde oder einfacher Abscesse.
Das abnorme Vorspringen der Sterno-cleido-mastoidei kann bei alten Leu-
ten ebenfalls als Folge von Abmagerung, Gewebsschwund in der Umgebung der
bezüglichen Muskeln auftreten, aber zumeist doch nur bei solchen, die lange
Jahre hindurch schweren Arbeiten oblagen, bei denen schon das normale In-
spiriren mit derselben Anstrengung aller Inspirationsmuskeln stattzufinden
pflegt, wie sonst nur bei schwerer, durch pathologische Processe bedingten
Dyspnoe. Bei jüngeren Individuen wird ein derartiges Vorspringen der Sterno-
cleido-mastoidei um so sicherer auf lange bestehendes Asthma oder sonstige
Dyspnoe hinweisen, je weniger die bezüglichen Individuen abgemagert er-
scheinen, und je weniger sie schwere Arbeiten zu verrichten hatten.
Am Thorax beziehen sich die Formanomalien entweder auf einzelne
der 4 Flächen desselben in toto, oder auf die Symmetrie im Baue beider
Hälften desselben, der rechten und linken; oder schliesslich auf kleinere Re-
gionen der Gesammtoberfläche.
An der Vorderfläche ist in erster Linie die sogenannte Fassform
zu erwähnen. Bei dieser erscheint das Sternum von oben nach abwärts leicht
convex; die seichte Rinne, in der der untere Theil des Sternums zu liegen
pflegt, ist zu einer Ebene geworden; sämmtliche Rippenknorpel verlaufen in
der Richtung vom Sternum zur Seitenwand ebenfalls in einer leicht convexen
Fläche. Die beiden Rippenbögen, die die untere Grenze der Vorderfläche
bilden, stossen unter einem sehr stumpfen Winkel zusammen, weil deren seit-
liche Theile auch bedeutend in die Höhe gezogen sind.
Die beiden Seitenflächen weisen namentlich in ihrer oberen Hälfte in
der Regel auch eine deutlichere Convexität auf, als Fortsetzung jener der vor-
deren Fläche.
An der Rückenfläche fällt zunächst die fast Gibbus- ähnliche Con-
vexität der oberen Hälfte der Brustwirbelsäule auf; ausserdem die ab-
norme Lage der Scapula, deren unterer Winkel stark nach der Seite
gezogen, folglich der innere Rand viel schräger gestellt als normal, zugleich
aber auch von der Wirbelsäule im Ganzen weiter entfernt ist, wodurch der
beiderseitige Interscapularraum wesentlich breiter erscheint. Die Ursache
all dieser Formanomalien der 4 Thoraxflächen, mit denen zumeist eine be-
trächtliche Vergrösserung des sterno-vertebralen Durchmessers verbunden ist,
liegt in der andauernden, übermässigen Inanspruchnahme aller Inspirations-
muskeln des Thorax bei anfangs immer recht kräftiger Muskulatur in Folge
von Dyspnoe, wie sie bei höheren Graden von Emphysem sich zeitweise ein-
zustellen pflegt. Das Ensemble dieser Formanomalien wird eben deshalb als
emphysematischer Habitus bezeichnet.
Neben dem emphysematischen wäre ferner der sogenannte phthisische
Habitus zu nennen, der im Wesentlichen mit dem paralytischen Thorax
zusammenfällt. Die vordere Thoraxfläche vollkommen eben, die Sternalrinne
fehlt vollständig, der Winkel, unter dem die beiden Rippenbögen zusammen-
stossen, auflallend spitz wegen des tiefen Standes der seitlichen Theile der
Bögen. An der Rückenfläche die Wirbelsäule fast geradlinig, der Intersca-
890 UNTERSUCHUNG.
pularraum sehr schmal, die inneren Scapularränder fast parallel. Alle diese
Anomalien sind durch hochgradige Schwäche sämmlicher Inspirationsmuskeln
begründet, wie sich solche bei allgemeinem Muskelschwund ganz besonders
in Folge von chronischer Tuberculose zu entwickeln pflegt.
Was die Asymmetrie beider Thoraxhälften anbelangt, so findet
man zuweilen eine der beiden, bald die rechte, bald die linke auffallend
voluminöser als die zweite, manchmal, aber selten, ihrem ganzen Umfange
nach, häufiger nur an der oberen oder nur an der unteren Hälfte allein. An
den erweiterten Theilen findet man die Intercostalräume besonders vorne und
seitlich mehr weniger verbreitert, Clavicula und Scapula oft höher gestellt.
Die Ursachen dieser Volumszunahmen sind, wenn sie sich auf eine ganze
Thoraxhälfte beziehen, in erster Linie pleuritisches Exsudat, das den ganzen
Brustkorb erfüllt, seltener hochgradiger Pneumothorax,
Bei nur massigerem Grade der Volumszunahme kann einseitiges, nicht
essentielles Lungenemphysem die Ursache derselben sein, wobei die zweite
Thoraxhälfte mitunter ein etwas vermindertes Volumen aufweisen kann.
Derartige einseitige Emphyseme kommen zu Stande, wenn die eine Lunge
dauernd weniger Luft aufnimmt als normal, sei es in Folge von chronischer
Infiltration, oder in Folge von vorausgegangener Pleuritis.
Bei nur partieller Volumszunahme der oberen Thoraxabschnitte
ist in der Regel partielle emphysematische Blähung der Lunge Ursache der-
selben, wobei die stärkere Blähung die Wirkung verstärkter inspiratorischer
Action ist, die durch dieselben Ursachen bedingt ist, die oben beim Emphy-
sem eines ganzen Lungenflügels angeführt wurden.
Zeigt sich die partielle Volumszunahme am unteren Abschnitt
einer Thoraxhälfte, so ist wohl zumeist pleuritisches Exsudat in geringerer
Quantität als im früheren Falle die Ursache derselben. Uebrigens kann auch
Pneumothorax, oder w^enn die Anomalie die rechte Thoraxhälfte betrifft, eine
stark vergrösserte Leber die Ursache derselben sein.
Eine auffällige Volumsverminderung einer Thoraxhälfte, die
selbst dann, wenn sie sich auf die ganze Hälfte erstreckt, doch am unteren
Abschnitt viel bedeutender ist als am oberen, kommt nach Ablauf von chro-
nischer Pleuritis vor. Die untere Hälfte der seitlichen und der Rückenfläche
ist in solchen Fällen leicht concav eingezogen, die Rippen verlaufen von der
Wirbelsäule ab stark abwärts gerichtet, die Intercostalräume auf ein Minimum
verschmälert, selbst die Wirbelsäule mehr weniger scoliotisch. Als Ursache
dieser Volums Verminderung findet sich immer vollständige Einschliessung der
unteren Lungenhälfte in dicke schwielige Bindegewebswucherung, die die neuer-
liche Luftaufnahme der comprimirt gewesenen Lunge auch nach erfolgter Re-
sorption des Exsudates verhindert, so dass sich nun die Rippen und übrigen
Skeletttheile dem dauernd verminderten Lungenvolumen während der Resorp-
tion allmälig anpassen müssen.
Was schliesslich die auf kleinere Regionen beschränkten
Formanomalien anbelangt, so sind sowohl mehr weniger hochgradige con-
vexe Verwölbungen, als auch geringfügige, aber immerhin doch leicht
erkennbare concave Einziehungen zu erwähnen.
Zu den ersteren gehören: eine vom eben nur merklichen, bis zum recht
auffälligen, kurz in allen Graden vorkommende massige Vorwölbung der lin-
ken vorderen Thoraxfläche in der oberen Herzgegend.
Die leichteren Grade können durch Volumszunahme des Herzens, so wie
auch durch ein massiges pericardiales Exsudat bedingt sein. Die höheren
Grade sind wohl immer nur durch grössere Pericardialexsudate bedingt.
Ferner ist hier noch anzuführen eine ebenfalls bald nur eben merkliche,
in ganz seltenen Fällen jedoch bis zur Kindskopfsgrösse anschwellende Vor-
wölbung in der Gegend des 2.-3. Rippenknorpels der rechten Thoraxhälfte,
UNTERSUCHUNG. 891
die sich jedoch beim allraäligen Wachsen nach allen Richtungen auch über
das Sternum und die linke Thoraxhiilfte hin erstrecken kann. Sie ist um so
sicherer auf ein Aortenaneurysma zu beziehen, als auch deutliches Pulsiren
der Erhebung erkennbar ist.
Zu den concaven Einziehungen der Thoraxoberfläche gehören gewisse
ziemlich seltene, nur auf kleinere Stellen sich erstreckende seichte Concavi-
täten zumeist an der vorderen Thoraxoberfläche, an den seitlichen nur äusserst
selten und auch minder deutlich ausgeprägt. Sie sind in der Regel durch
Schwielenbildung in der Oberfläche nahen Lungen-Cavernen bedingt, die zu-
meist in Folge von Tuberculose, doch auch in Folge genuiner Lungenabscesse
entstanden waren. Bei letzteren kann man hie und da die Entstehung der
Einziehung von Tag zu Tag verfolgen, bis selbe nach einigen Wochen ihr
Maximum erreicht.
III. Anomalien des Hautcolorits und der Venenvertheilung am Thorax und
unteren Halstheil.
Am unteren Halstheil, doch auch nach oben sich fortsetzend, findet
man gar nicht selten abnorme Venenentwicklung, theils in Form flacher,
schmaler, bläulicher Streifen, die zumeist longitudinal, doch auch mitunter
transversal verlaufen, und nur selten grossmaschige Netze repräsentiren. In
einzelnen Fällen bilden aber die Venen breitere, mehr weniger prominente, be-
sonders longitudinal verlaufende Erhabenheiten. Sämmtliche derartige Venen
gehören in der Regel den Jugulares und deren Verzweigungen, Anastomosen
an, und deuten auf gehinderten Abfluss des Blutes der V. cava superior hin,
wie solche sich bei allen Erkrankungen des rechten Ventrikels sowohl den
genuinen als auch den consecutiven einzustellen pflegt. Die verschiedenen
Grade der Venenentwicklung entsprechen eben verschiedenen Graden der zu
Grunde liegenden Erkrankung. Diese Venenentwicklung combinirt sich ge-
wöhnlich mit analogen der Thoraxwand, (s. daselbst.)
Bezüglich des Thorax gilt Folgendes:
Sieht man von jenen abnormen Hautfarben, die am ganzen Körper und
nicht am Thorax allein zu finden sind, ab, so bleibt nur die auffallend häu-
fige cyanotische Färbung ganz besonders der vorderen Thoraxfläche zu er-
wähnen. Man findet dieselbe, auch wenn am ganzen übrigen Körper und
selbst im Gesicht keine Cyanose bemerkt wird. Wenn auch das Symptom
Cyanose bereits an entsprechender Stelle eingehend gewürdigt, und an einer
überaus reichen Casuistik besonders der difierential-diagnostische Wert des-
selben im Allgemeinen festgestellt ist, so dürften denn doch noch einige
Bemerkungen über die locale, also unmittelbare Bedeutung des Symptoms, die
doch auch eine genetische Würdigung desselben mit sich bringt, am Platze sein.
Die Cyanose tritt zuw^eilen ganz in derselben Form auf wie im Gesicht, als
gleichmässig sich über die ganze Fläche erstreckende, bläuliche oder livide
Färbung, an der man auch bei guter Beleuchtung und in unmittelbarer Nähe
keinerlei in Streifen oder sonstigen Formen auftretende Differenzen bemerkt.
Häufig kann man aber die bei minder guter Beleuchtung oder aus einiger
Ferne als gleichmässig erscheinende blaue Farbe bei scharfer Beleuchtung und
in unmittelbarer Nähe, zuweilen erst mit Hilfe einer Lupe als aus dicht an-
einander liegenden nicht scharf begränzten blauen Streifen hervorgehend er-
kennen, welche letzteren sofort als cutane oder subcutane Venennetze er-
scheinen. Hie und da sind diese Venennetze so grobmaschig, dass man sie
selbst aus der Ferne als solche erkennt, da die Thoraxfläche etwa so aussieht,
wie die Bauchwand manchmal bei Lebercirrhose auszusehen pflegt. Die
Cyanose nimmt zumeist beide Hälften der Thoraxoberfläche, doch mitunter
auch nur vorwiegend die eine derselben ein, erstreckt sich auch zum Theile
auf die Seitenwände und den Rücken, wo sie aber oft auch minder deutlich
892 UNTERSUCHUNG.
wird. Hie und da combinirt sie sich mit den oben beschriebenen Venenerweite-
rungen am Halse. Jene mit reinem Roth oder Purpur gemischte bläuliche
Farbe, die im Gesicht, an den Extremitäten so oft als Cyanose erscheint, ist
hier niemals zu finden.
Diese Cyanose der Thoraxwand findet sich nun empyrisch immer bei
den verschiedensten chronischen Erkrankungen des Respirationsapparates,
inclusive die Pleura; so wie auch bei manchen chronischen Herzkrankheiten,
ganz besonders bei Dilatationen mindestens des rechten Ventrikels, bei chro-
nischer Pericarditis; auch in solchen Fällen, wo keine auffällige Dyspnoe be-
steht. Besonders bei letzteren Erkrankungen combinirt sich die Thoraxcyanose
mit starker Venenentwicklung am Halse.
Man kann aus dem Vorhandensein jeder Art von Cyanose an der
vorderen Thoraxwand mit derselben Sicherheit auf irgend eine der
genannten intrathoracischen Erkrankungen schliessen, mit der man aus
den stark entwickelten Venennetzen an der Oberfläche der Bauchwand
auf Lebercirrhose schliessen kann. — Aus den oben beschriebenen ver-
schiedenartigen Befunden der Cyanosen lässt sich wohl mit Sicherheit schliessen,
dass die Cyanose selbst in jenen Fällen, wo man sie als ganz gleichförmig
ausgebreitete Farbe wahrnimmt, innerhalb welcher man keinerlei einzelnen
Venen entsprechende Streifen unterscheiden kann, denn doch nur ganz ana-
logen Venennetzen ihre Entstehung verdankt, wie jene Cyanosen, die man
nur noch mit der Lupe als von Venen herrührend erkennen kann; nur dass
die ganz gleichmässigen Cyanosen von solchen Venen herrühren, die zu tief
liegen, um einzeln irgendwie abgegrenzt erscheinen zu können. Diese Ent-
stehungsweise dürfte mithin überall für die rein blaue oder livide Hautfarbe
gelten. Diese wird immer um so dunkler erscheinen, je grösser die Venen,
und je näher der Oberfläche, und um so lichter, je kleiner die Venen oder
je tiefer sie liegen. Ob das Blut selbst dunkler als das normale venöse sei,
lässt sich an der reinen Cyanose nicht erkennen. Diese spricht immer nur
für eine gewisse abnorme Weite der blutführenden Venen. Nur so lange
auch die oberflächlichen Capillaren Blut führen, scheint durch dieselben auch
das dunkelste Blut noch immer roth durch, jedoch bald als lichtere bald als
dunklere Nuance, je nach der Blutfarbe und der Weite der Capillaren;
nur so lange ist vielleicht aus der Nuance des dem Blau beigemischten Roth
ein Schluss auf die Farbe des Blutes selbst zulässig. Arterien betheiligen
sich an den von aussen sichtbaren Farben niemals, da selbst die kleinsten
viel zu wenig durchscheinend sind in ihren Wandungen. Fehlt jede Nuance
von Roth, dann sind eben die Capillaren blutleer oder mindestens blutarm.
Die Purpurfarbe gehört immer den kleinsten mehr weniger erweiterten ober-
flächlichen Venenzweigchen an; lichteres Purpur kann auch von stark erwei-
terten Capillaren herrühren.
Was nun die Entstehung der cyanotisch durchscheinenden Venennetze
anbelangt, so muss man selbe hier so wie die der analogen bei Lebercirrhose
auf rein mechanische Momente beziehen. Es entwickelt sich auch hier ein Col-
lateralkreislauf für die Abfuhr jener Blutmassen, die im Inneren des Thorax
in Folge der bestehenden Krankheitsprocesse ihren normalen Abfluss nicht
finden können. An anderen Stellen mögen solche Cyanosen mitunter wohl
auch auf rein nervöse Actionen pathologischer Art von Seiten der Vaso-Con-
strictoren und -Diktatoren zu beziehen sein.*)
Dass auch Gesichtscyanose, die man allgemein als Cyanose xaT'lioyr^v be-
trachtet, in analoger Weise zu Stande komme, geht aus allerlei in Krankenhäusern all-
täglich leicht zu beobachtenden Thatsachen hervor. Es mögen hier einige solcher typischer
concreter Beobachtungen an Krankenhausmaterial aus einer grossen Zahl derselben her-
vorgehoben werden.
*) Vgl. meine „Diagnostik der Brustkrankheiten" Braumüller 1877 §§ 26, 27 u. 201.
UNTERSUCHUNG. 893
I. Ein ca. SOjähriges Frauenzimmer wurde mit Fieber, Bronchialcatarrh aufgenom-
men, dem Anschein nach war eine Pneumonie zu erwarten. Es war aber selbst nach
14 Tagen keine Infiltration nachzuweisen. Das Fieber war allmälig intensiver worden, die
ursprünglich kaum merkliche Cyanose trat mehr in den Vordergrund; dabei bestand ein-
fache Dyspnoe — bis zu 60 ßespir. in der Minute — wenig Sputum, hochgradige Prostration.
Nach weiteren 14 Tagen hatte die Cyanose ein noch immer entschiedeneres Gepräge an-
genommen bis zum exitus letalis. Die Obduction constatirte acute Miliartuberculose. Die
Cyanose ward während der letzten 14 Tage eingehend beobachtet. Sie bestand an den
Wangen anfangs in grösserem Umfange, eben so an den Ohren als rothblaue, an der Nasen-
spitze, den Lippen, dem Kinn als mehr weniger dunkel livide Färbung. Beide Wangen
stachen mit der Cyanose am auffälligsten hervor. Wenn man nun eine der Wangen einige
Zeit sanft mit den Fingern rieb, oder wenn man dieselbe in grösserem Umfange als Falte
zwischen die Finger nahm, abwechselnd sanft drückte und wieder nachliess, so röthete
sich die so behandelte Stelle derart, dass die Cyanose ganz verschwand, sie nahm das
gesättigte Roth einer gewöhnlichen Fieberröthe an. Ueberliess man dann die Wangen der
Ruhe, so wich allgemach die neue Röthe, und es kehrte das Blau innerhalb einiger Minuten
auch in derselben Form wieder, in der es ursprünglich bestand. Die Art und Weise, wie
die Blutvertheilung beeinflusst wurde, konnte man mit dem Auge direct erkennen. Wenn
man nämlich die Wangenfalte zwischen den Fingern langsam zunehmend drückte, so sah
man deutlich, wie das Blut der Zunahme des Druckes entsprechend aus der Tiefe der
Gewebsmassen gegen die freie Oberfläche am Rücken der Falte empordrängte, beim Nach-
lassen des Druckes wieder theilweise zurücktrat; bei öfteren Wiederholungen allmälig sta-
tionär blieb. Während des stationären Verharrens konnte man die künstlich geröthete
Wange mit der anderen cyanotischen vergleichen, und den eclatanten Unterschied sehen;
es war an ersterer jede Spur von Cyanose verschwunden. — Mutatis mutandis konnte man
auch am Ohr und theilweise am Nasenrücken analoge Thatsachen constatiren. Nur am
Kinn war mit dem leichten bisher geübten Druck keine wesentliche Aenderung der lividen
Farbe zu erreichen, ein stärkerer Druck hingegen wegen Schmerzhaftigkeit nicht anwend-
bar. — Im Laufe der letzten 14 Lebenstage hatte sich die Cyanose allmälig derart ge-
ändert, dass der rothe Bestandtheil der Farbe immer mehr zurücktrat, und dadurch das
an und für sich unverändert gebliebene Blau immer leichter wahrnehmbar war; ferner
trat die künstliche Röthung immer langsamer ein, blieb weniger gesättigt roth, verlor sich
rascher wieder; war jedoch immer rein roth, deckte vollständig das Blau, so lange es
bestand. Das Experiment Hess sich noch 2 Stunden vor dem Tode durchfuhren.
Dasselbe Experiment konnte auch bei vielen Tuberculosen in den Endstadien der
Krankheit, mit hectischer cyanotischer Röthung der Wangen während der Fieberparoxysmen
durchgeführt werden.
Aus diesen und einer grossen Zahl analoger Thatsachen darf man wohl den Schluss
ziehen, das Cyanotischwerden der Kranken bestehe darin, dass das Blu.t aus den ober-
flächlichen Capillaren ganz allmälig schwindet, während es in den tiefer gelegenen
Venen unverändert bleibt, oder gar sich stärker ansammelt. Das Leerwerden der CapilJaren
schreitet mit der abnehmenden Lebenskraft von der Oberfläche gegen die Tiefe immer
weiter fort, so dass schliesslich nur das Blut aus den erweiterten Gefässen der Tiefe blau
durchschimmert.
IL Ein 87jähriges, abgemagertes Weib mit hochgradiger, schwarz-blauer Cyanose am
ganzen Körper. Im Gesicht, Nasenspitze, Wangen, Ohren, Kinn mehr weniger tief schwarz-
blau, alles übrige dunkelgrau mit zahlreichen schmalen schwarzen Venen durchzogen. Die
Streckseiten der kleinen Gelenke an Händen und Füssen tief schwarzblau, an den Füssen
wie gangraenös. Die Thoraxwände ebenfalls lichtschwarzgrau von sehr vielen Venennetzen
durchzogen. Schon nach 3 Tagen exitus letalis. Obductionsbefund: Herz stark vergrössert,
Aorta ascendens aneurysmatisch erweitert, Innenfläche stark incrustirt, allgemeine Arterio-
sklerose. (Authentischer Test der Obductionsdiagnose : Insuffic. valv. dext. Aortae cum ste-
nosi levis gradus ostii arteriosi ex Endarteritide chron. deform, cum hypertroph, cord.
sin.; Endarter. chron. deform, aortae et arter. peripher. — Atroph, renum ex Arterioskleros.
Emphys. chron. pulm. et Tub. apic. cum pleuritide chron. adhaes., subsequente hypertroph,
excentr. cordis dext.)
Eine genauere Prüfung der Cyanose während der letzten Lebenstage ergab Folgen-
des. An allen schwarzblauen Stellen konnte man bei guter Beleuchtung schon mit freiem
Auge die cyanotische Farbe, durch das Naheaneinanderliegen grösserer und kleinerer ober-
flächlicher und tieferer tiefblauer und schwarzer Venen gebildet, mit aller Entschiedenheit
erkennen. Aus den Venen konnte man das Blut nur stellenweise durch Streichen entfernen,
viele blieben auch bei kräftigem Streichen unverändert schwarz, so dass man die Innen-
fläche der Venenwand selbst als Sitz schwarzen Pigmentes oder mit Blutgerinnseln bedeckt
annehmen musste. An allen nur dunkelgrau gefärbten Stellen im Gesicht, sowohl wie am
übrigen Körper konnte man die Haut allenthalben durch geeignetes Verfahren roth färben,
allerdings nur in jener dünkleren Röthe, die man bei alten Leuten auch im gesunden Zu-
stande zu finden pflegt. Der geeignete Vorgang für künstliche Röthung bestand auch hier
darin, dass die Haut an zwei einander nahe gelegenen Stellen mit beiden Händen zwischen
Daumen- und Zeigefinger faltenförmig emporgehoben, dann beide Hände einander genähert
•^894 »UNTERSUCHUNG.
\rarden, wodurch die zwischen ihnen liegende Falte comprimirt ward, und dann wieder
von einander entfernt; und dieses Verfahren so lange wiederholt, bis der freie Theil der
Falte zwischen beiden Händen sich genügend geröthet hatte, was immer, wenn auch nur
langsam, doch deutlich genug eintrat, aber immer auch bald wieder schwand.
Auch bei anderen cyanotischen Herzkranken konnte das gleiche Resultat erzielt
werden, so z. B. möge aus vielen vorliegenden Fällen eine ca. 50jährige Frau mit Mitral-
stenose u. Insufficienz, beginnendem Hydrops, Dyspnoe, deutlicher livider Cyanose an Lippen
und Nasenflügeln, Cyanose leichteren Grades im ganzen Gesicht hervorgehoben werden.
Bei dieser konnte man nach dem oben geschilderten Verfahren jeden Punkt im Gesicht,
so wie auch am übrigen Körper der cyanotisch war, mehr weniger leicht intensiv röthen,
wobei die Röthe sogar längere Zeit ohne jede cyanotische Beimischung sichtbar blieb und
nur langsam wieder der ursprünglichen lividen Färbung wich.
in. Besonders instructiv verhielt sich ein ca. 40jähriger, extrem abgemagerter, blut-
leerer Mann mit theilweise rhachitischem Skelett, deutlicher Cyanose im Gesicht, nament-
lich Lippen dunkelblau. Nasenflügel dunkellivid, das ganze Gesicht, selbst die Stirne ent-
schieden livid in lichterer Nuance. Patient war zweifellos tuberculös, muthmasslich auch
mit einem vitium cordis behaftet, und verliess am 2. Tag das Krankenhaus wieder, bevor
noch die Diagnose endgiltig festgestellt werden konnte. Während seiner 2tägigen Anwesen-
heit konnten mit Rücksicht auf die Cyanose folgende bemerkenswerthe Thatsachen constatirt
werden. Vor Allem konnte jede livide Hautstelle nach dem früheren Verfahren mehr
weniger leicht geröthet werden, die Röthe war überall rein ohne jede Spur von Cyanose.
An der Stirne konnte man die livide Farbe durch massig kräftiges Streichen in ein auf-
fällig abstechendes Weiss umwandeln. Legte man je einen Finger jeder Hand neben ein-
ander und strich mit beiden nach entgegengesetzten Richtangen, so bildete sich an der
Strichstelle ein rein weisser Streifen, in dem ein massig dichtes Venennetz sichtbar wurde.
Im Momente aber, wo der Druck nachliess, verschwand das Weiss der Cutis fast momentan,
es ergoss sich sichtlich ein livides Fluidum über dieselbe und stellte die frühere Farbe
her. Man konnte nun denken, das livide Fluidum ergiesse sich in die Capillaren statt des
Blutes. Hob man aber die Stirnhaut nach dem früheren Verfahren zu einer Falte
empor und unterwarf diese wie früher einem wechselnden Drucke, so röthete sich die
Falte, wenn auch etwas langsamer, genau so wie in allen früheren Fällen, und blieb die
Röthung sogar ziemlich lange fortbestehend nach aufgehobenem Druck. Es konnte somit
das livide Fluidum nicht in den Capillaren seinen Sitz haben, sondern muthmasslich in den
Lymphgängen.
Auch aus den sub 11 und III vorgebrachten Thatsachen ergibt sich wohl zweifellos
der Scbluss, dass die Farbe des Blutes selbst, mag sie auch einmal lichter einmal dunkler
roth sein, an der livid cyanotischen Färbung ebenso wenig betheiligt ist, wie an der schwarz-
blauen Cyanose. Man kann sonach aus jeder wie immer gearteten Cyanose auf Blutansamm-
lung in erweiterten tiefen Venen bei Blutleere oder Blutarmuth der oberflächlichen
Capillaren schliessen. Ist neben der Cyanose auch Roth zu sehen, so führen mindestens
noch die tieferen Capillaren Blut. Rein rothe Färbung der Cutis ohne jede Spur von Blau
weist auf Füllung der oberflächlichen Capillaren mit Blut hin. Lichteres Roth, ob für sich
allein oder in Verbindung mit Cyanose, weist auf normal weite Capillaren, dunkleres Roth
hingegen auf mehr weniger erweiterte Capillaren hin.
IV. Niveau-Anomalien der Cutis.
Als solche Niveau- Anomalie ist das nicht selten auftretende cutane und
subcutane Oedem am Thorax zu erwähnen. Es ist fast constant nur eine
Theilerscheinung allgemeinen Oedems. In der Regel an den jeweilig abhän-
gigsten Partien am auffälligsten entwickelt, ändert sich mithin je nach der
Lage des Kranken. Nach längerem Aufrechtsitzen sind andere Partien stärker
geschwellt, als nach horizontalem Liegen, und hier wieder je nach Rücken-
oder Seitenlage verschieden. Eingehendere Besprechung der Oedeme mit
Rücksicht auf genauere Charakteristik und Ursachen (s. unter „ünterleibs-
Untersuchung " .)
V. Anomalien der sichtbaren Bewegungen.
Sichtbare Bewegungen am Thorax und unteren Halstheil können zu
Stande kommen:
1. durch den Respirationsact,
2. durch verschiedene Ursachen, die auf den Circulations- Apparat ein-
wirken.
UNTERSUCHUNG. 895
1. Die Anomalien der llespirationsbewegung beziehen sich:
a) auf deren Stärke und Frequenz,
b) auf ihren Rhythmus,
c) auf ihre Symmetrie an beiden Thoraxhälften.
A. Die Stärke der Bewegung setzt sich sowohl bei der In- als bei der
Exspiration aus Geschwindigkeit und Dauer derselben zusammen. Sowohl die
In- als auch die Expiration können mit grosser Kraft, d. h. Bewegungs-
geschwindigkeit einsetzen, aber nur kurze Dauer haben; aber auch umgekehrt
mit geringer Geschwindigkeit beginnen aber viel länger andauern als gewöhn-
lich. Beim Inspiriren ist im Allgemeinen die letztere Art die wirksamere,
beim Expiriren die erstere.
Was nun die Frequenz der Respiration anbelangt, so ist dieselbe oft
in verschiedensten Graden gesteigert. (Einfache Dyspnoe, Kurzathmigkeit.)
Es können in der Minute 30—60 und noch mehr Respirationen erfolgen.
Dabei muss die Dauer der einzelnen um so kürzer werden, je zahlreicher sie
werden; hingegen kann ihre Geschwindigkeit besonders die der Inspiration
manchmal sehr gesteigert sein, manchmal hingegen die normale bleiben.
Die Respiration ist mehr weniger abnorm frequent schon bei jedem
fieberhaften Zustande, dabei bleibt die Bewegungsgeschwindigkeit fast
normal. Der gesteigerte Chemismus im Fieber macht eben eine raschere
Sauerstoffzufuhr nothwendig. — Bei sehr schweren fieberhaften Krankheiten
besonders infectiöser Natur sieht man bei hoher Respirationsfrequenz kurze,
aber sehr kräftige, schnelle Inspirationen. (Solche kurze, stossweise erfolgende
Bewegungen sieht man auch in anderen Muskelgebieten bei beginnender Er-
schöpfung der Innervation.)
Die Respirationsfrequenz ist ferner gesteigert bei massig ver-
mehrter Inspirationsgeschwindigkeit bei allen entzündlichen Erkrankungen
der Lunge von grösserem Umfange.
Die Respiration nimmt hie und da bezüglich ihrer Frequenz und Stärke
höchst auffällige complicirte Formen an als hohe und höchste Dyspnoe.
Die Frequenz wird mehr weniger, aber immer nur massig, hingegen die Inspi-
rationsgeschwindigkeit in hohem bis höchstem Grade gesteigert. Die Bewegung,
die gleich im Beginn mit der höchsten Geschwindigkeit einsetzt, nur von
normaler Dauer, nicht selten eher etwas abgekürzt, hat augenscheinlich den
Charakter des ganz Unwillkürlichen, die Kranken verhalten sich
gewissermassen passiv, können sitzen oder in beliebiger Weise liegen. Es
betheiligen sich an der Inspirationsbewegung ausser den gewöhnlich thätigen
Inspiratoren noch alle Muskeln, die das Schlüsselbein und die oberen Rippen
heben, sämmtliche sowie auch das Zwerchfell mit sichtlicher Anstrengung,
hingegen bleiben der Pectoralis, Serratus ant. major und ähnliche Hilfs-
inspiratoren unthätig. Der Kopf wird bei jeder Inspiration kräftig zurück-
gebeugt, die Jugulargrube vertieft sich, der Kehlkopf steigt zumeist tief hinab.
Das Hinabsteigen des Kehlkopfes pflegt zu fehlen, wenn die Trachea durch
Druck benachbarter Geschwülste oder narbige Verwachsung mit der Umgebung
mehr weniger fixirt ist. Es erweitert sich vorwiegend die obere Thoraxgegend,
und das vordere Epi- und Mesogastrium, während die untere Thoraxhälfte
zumeist mehr weniger eingezogen wird. Solches dyspnoische Athmen dauert
mit kleinen Schwankungen 5 — 10 ja noch mehr Minuten an, worauf eine Art
Ermüdungspause von einigen Minuten eintritt, dann beginnt die frühere
Arbeit wieder. Solche Kranke sind im Allgemeinen unruhig, wechseln Lage, Stel-
lung. Körperhaltung fortwährend, besonders während der Athmungsanstrengung.
Der Wechsel von Anstrengung und Pause kann mehrere Stunden andauern,
erst dann eine etwas längere Ruhe folgen, um dann neuerdings zu beginnen.
Solche hochgradige Dyspnoe kommt ganz besonders bei allerlei acuten Ver-
i
896 UNTERSUCHUNG.
engeruDgen der Luftwege vom Larynx an bis in die Bronchien hinab vor.
Im Larynx sind es entzündliche Schwellungen, Neubildungen an verschiedenen
Punkten des Innenraumes, Oedeme etc., in der Trachea und den Bronchien
vorwiegend Druck rasch wachsender Geschwülste in ihrer Umgebung ; an
sämmtlichen Oertlichkeiten hie und da eingedrungene Fremdkörper, höchst
selten Neubildungen, die zu hochgradiger Dyspnoe führen, In den Bronchien
gibt acute Entzündung als Bronchiolitis oder capilläre Bronchitis, Lungenödem
Veranlassung zu schwerer Dyspnoe. Hieher dürfte auch die Mehrzahl der an
und für sich wohl seltenen als nervöse Dyspnoe in der Literatur vorkommen-
den Krankheitsfälle zu rechnen sein. Herabgekommene, muskelschwache oder
erschöpfte Kranke athmen überhaupt bei jeder auch der weiter unten zu er-
wähnenden asthmatischen Dyspnoe nur in dieser Form.
Schliesslich ist die Respirationsfrequenz hochgradig gesteigert
bei sehr geringer Geschwindigkeit und Dauer der Inspirationen
(flaches Athmen) bei acuter Pleuritis mit heftigen Schmerzen, wobei eben die
mit jeder Bewegung verbundenen Schmerzen in der Pleura speciell die In-
spirationsbewegungen hemmen.
Die Respirationsfrequenz kann aber auch bei normaler Stärke auf-
fällig vermindert werden, sinkt mitunter auf 6 — 8 in der Minute oder
auch noch tiefer herab. Man sieht derartiges wohl zumeist nur in den letzten
Lebenstagen in tiefem Sopor oder noch öfter im Coma bei allerlei sehr
schweren infectiösen Erkrankungen, Intoxicationen, Hirn-, Herz- und mancher-
lei anderen Organkrankheiten.
Die Stärke der Respirationsbewegungen kann aber auch ganz
unabhängig von ihrer Frequenz abnorme Steigerung erfahren und zwar einmal
vorwiegend bei der Inspiration, ein anderes Mal vorwiegend bei der Ex-
spiration.
Die Inspiration beginnt manchmal, aber immer nur bei kräftigen
noch nicht ermüdeten Individuen, mit ganz normaler oder nur wenig ver-
mehrter Geschwindigkeit, dauert aber viel länger als normal, wird besonders
im späteren Verlauf mit steigender Anstrengung durchgeführt. Es werden
nicht nur alle jene Muskeln, die bei der früher beschriebenen starken Dyspnoe
in Action treten, sondern alle nur auffindbaren Hilfs-Inspiratoren, der Pecto-
ralis, Serratus ant. major etc. zur Thätigkeit herangezogen. Zu dem Zwecke
suchen sich die Kranken immer die geeignetsten Positionen aus, vorwiegend
die sitzende (Orthopnoe) mit massig vorwärts gebeugten Rumpf, stützen irgend-
wie die Ellbogen auf, so dass ihre ganze Haltung und Bewegung sichtlich
den Stempel des Bewussten, Absichtlichen trägt im Gegensatz zu der-
jenigen bei der einfachen Dyspnoe höheren Grades. Man sieht auch in der
That bei den hier ins Auge gefassten Kranken den ganzen Thorax, auch seine
untere Hälfte, an der Erweiterung participiren, die mindestens auch jene Grade
erreicht, wie bei der einfachen Dyspnoe, wobei auch das Zwerchfell minde-
stens in demselben Grade mitthätig ist. Hiebei ist die Frequenz der Respi-
ration höchstens nur wenig, oft gar nicht vermehrt, ja nicht selten sogar ver-
mindert. Im Allgemeinen verhalten sich solche Kranke während der Athmungs-
anstrengung überaus ruhig, meiden jede überflüssige Bewegung, bewahren fast
ängstlich die einmal angenommene Körperhaltung, concentriren somit alle
ihre Kräfte auf die Athmungsthätigkeit im Gegensatze zu den Kranken mit
einfacher Dyspnoe. Die hier geschilderte Form von Dyspnoe ist in der Regel
mit dem subjectiven Gefühl des Asthma verbunden, wird deshalb auch allge-
mein kurzweg als Asthma bezeichnet, wir wollen sie lieber asthmatische
Dyspnoe nennen. Sie tritt theils in Paroxysmen von mehrstündiger Dauer
in Intervallen von Tagen bis Monaten auf, theils als continuirliche in der
Dauer von mehreren Tagen bis Wochen, letztere in der Regel in geringerer
UNTERSUCHUNG. 897
Intensität als erstere. In beiden Fällen geht der Athmungstypus früher oder
später in Folge von Ermüdung in den einfach dyspnoischen über.
Die asthmatische Dyspnoe tritt immer nur bei chronischen Krankheiten
oder organischen Fehlern auf und zwar ausnahmslos, wie wir später sehen
werden, bei Krankheiten des Herzens und der grossen Arterien; wenn auch
die Erkrankung des Herzens manchmal die Folge gewisser Lungenerkran-
kungen, namentlich der Bronchiolitis, des Emphysems und mancher anderen
zur Verödung grösserer Lungenpartien führenden Processe ist, und erstere
oft durch letztere so zu sagen gedeckt werden. Alle Erkrankungen des
Herzens, die Myo-, Endo-, Pericarditis, Degeneration, Hypertrophie, die meisten
Klappenfehler, die Aneurysmen der Aorta und Pulmonalarterie, die Sklerosen
beider, sowie die der Coronararterien führen früher oder später zu asthma-
tischer Dyspnoe. Hie und da sieht man schon im Beginn die einfache
Dyspnoe mit der asthmatischen gewissermassen combinirt. Es geschieht dies
in allen jenen Fällen, wenn aus der einfachen Dyspnoe sich allmälig Asthma
entwickelt, d. h. wenn die ursprüngliche acute Krankheit, die der einfachen
Dyspnoe zu Grunde liegt, chronisch wird, und allmälig auch das Herz afficirt.
Während, besonders aber im Beginn solcher Uebergänge combiniren sich beide
Athmungsformen mehr weniger mit einander, d. h. es wechseln die willkür-
lichen mit ganz unwillkürlichen Athemzügen (v. pag. 911).
Anschliessend an die oben geschilderten verstärken Inspirationsformen
wären nun noch eine Pteihe durch die Inspiration secundär hervorgerufener,
theilweise recht charakteristischer Nebenbewegungen am Thorax und unteren
Halstheil näher zu betrachten. Einige derselben waren wohl schon oben bei
der verstärkten Dyspnoe kurz erwähnt.
Am unteren Halstheil sieht man während kräftiger Inspirationen
nicht selten das Jugulum etwas empor-, den Kehlkopf herabsteigen, hiebei hie
und da die Jugulargrube sich vertiefen; bei abgemagerten Individuen, deren
Fossae supraclaviculares constant vertieft sind, sieht man bei kräftiger Inspi-
ration entweder die beiden in gleichem Grade, oder nur eine derselben tiefer
einsinken, oder mindestens die eine stärker als die andere. Eine ähnliche,
bald einseitige bald auch doppelseitige Einziehung der Fossae supraclaviculares
sieht man mitunter auch schon bei massiger^ normal scheinender Inspirations-
kraft.
Das Emporsteigen des Jugulums deutet auf verstärkte Action der Sterno-
cleido-mastoidei, bei allerlei dyspnoischen Zuständen; während das Herabstei-
gen des Kehlkopfes, sowie die Einziehungen der Fossae supraclaviculares
auf verstärkten Zug des Zwerchfells nach abwärts, der sich der ganzen Lunge
mittheilt, hinweisen, selbstverständlich ebenfalls in Folge von Dyspnoe.
Der Zug des Zwerchfells wird dann noch stellenweise unterstützt durch
grössere Nachgiebigkeit der die Lungenoberfläche deckenden Gebilde, wie
sie bei abgemagerten, stark geschwächten Organismen sich zu entwickeln
pflegt; nicht minder aber auch durch Behinderung der Luftzufuhr zu den
bezüglichen Lungenpartien in Folge von Verengerungen oder Verstopfungen
der zuführenden Bronchien, wie solche schon bei manchen, chronischen Katarr-
hen, auch sonst bei allerlei Erkrankungen des Lungenparenchyms sich zu
entwickeln pflegen. Diese letztere Ursache kann schon bei normaler Inspi-
rationskraft einseitig oder auch doppelseitig leichte Einziehungen der Fossae
supraclaviculares bewirken.
Am Thorax selbst sieht man zuw^eilen analoger Weise bei kräftigerem
Inspirii'en manche Intercostalräume mehr weniger deutlich einsinken. Am
häufigsten geschieht dies an den 2 — 4. vorne und den 5—8. seitlich. Die
Ursachen dieser Einziehungen sind dieselben wie bei den Fossae supracla-
viculares.
Bibl. med. WiBsenBchaften. I. Interne Medicin und KinderkranKheiten. Bd. III. 07
898 UNTERSUCHUNG.
Eben so oft sieht man aber bei magern Individuen mit breiten Inter-
costalräumen speciell im 2. und 3. Intercostalraum in der Nähe des Ster-
nums kleinere Stellen beim Inspiriren leicht emporsteigen, während weiter
aussen zuweilen gleichzeitig eine Einziehung, zuweilen gar keine Aenderung
im Niveau erfolgt. Schon der unmittelbare Anblick des Emporsteigens zeigt,
dass es sich nur um eine Ausgleichung der früher concaven Fläche zur Ebene
handelt, welche durch eine Verkürzung der Muskelfasern stattfindet, so dass
man annehmen muss, dass die bezüglichen Muskeltheile als Inspiratoren
wirken.
Als auffallende Anomalie der Inspirationsbewegung, gewissermassen eine
nur rudimentäre Form derselben ist der Singultus (Schluchzen) zu betrach-
ten. Dieser besteht bekanntlich aus einer heftigen, kurzen, clonisch krampf-
haften Zwerchfellcontraction, die speciell in der Magengrube eine manchmal
recht unangenehme, nicht selten sogar schmerzhafte Erschütterung erzeugt und
einen eigenthümlichen, mitunter recht lauten, kurzen Schall im Gefolge hat.
Tritt oft auch bei ganz gesunden Menschen, bald nur einzelne Male, bald in
seltenen oder häutigen Wiederholungen durch mehrere Minuten fortgesetzt
auf, zuweilen ohne bekannten Anlass, oft aber durch allerlei mit dem Schling-
act zusammenhängende geringfügige Anlässe angeregt, z. B. das hastige Ver-
schlucken grosser Bissen oder das rasch nach einander folgende Verschlingen
grosser Quantitäten fester oder auch flüssiger kalter Stoffe u. s. w. Hie und
da tritt der Singultus sehr lange, mitunter durch mehrere Tage, selbst in
der Nacht fortgesetzt auf, so dass die Kranken dadurch am Schlafen mehr
weniger gehindert sind; — eben in derartigen Fällen wird die Bewegung
allmälig auch schmerzhaft und ist dieselbe als Krankheitssymptom aufzufassen.
Die nächste Ursache des Singultus liegt immer in irgend einer Reizung des
N. phrenicus, die ihrerseits aber namentlich beim Andauern des Symptoms
von allerlei krankhaften Zuständen des Centralnervensystems abhängig sein kann.
Hier möge auch das in den letzten Jahren vielfach beschriebene soge-
nannte Zwerchfell-Phänomen erwähnt werden. Es wurde bekanntlich
schon vor Jahren von Gerhardt u. A. angedeutet, im Jahre 1892 von
Litten ausführlich beschrieben. — Es besteht im Wesentlichen darin, dass
man bei vielen Menschen an der Seitenwand des Thorax bei guter Be-
leuchtung und geeigneter Lagerung des zu Untersuchenden entsprechend dem
Verlaufe des unteren Lungenrandes auch schon an der Aussenfläche eine
zarte Furche von der oberen Grenze des bezüglichen Intercostalraumes wie
eine sehr flache Welle abwärts steigen sieht, so oft tiefer inspirirt wird, beim
Exspiriren kehrt selbe wieder zurück. Die Bedeutung des Phänomens liegt
selbstverständlich darin, dass es dem inspiratorischen Hinabsteigen und exspi-
ratorischen Zurückweichen des unteren Lungenrandes entspricht.
Auch die Exspirationsbewegung ist zuweilen pathologisch ver-
stärkt, in Folge des abnormen Eingreifens der die Rippen abwärts ziehen-
den Bauchmuskeln und der ganzen Bauchpresse, was aber für den Gesichts-
sinn minder deutlich wahrnehmbar wird als für das Gehör, welchem das
laute, protrahirte Geräusch des Ausathmungs-Luftstromes sich so zu sagen
von selbst aufdrängt. Man findet dieses Phänomen besonders bei chronischer
Bronchiolitis combinirt in der Regel mit verstärkten Inspirationen, die aber,
weil sie von kürzerer Dauer sind, nicht so leicht auffallen. Die Ursachen
der verstärkten Exspiration {exspiratorkche Dyspnoe) bestehen in vermin-
derter Elasticität und Retractilität der übermässig ausgedehnten Lungen-
alveolen, ferner in einer Art von tonischer Starre aller Inspirationsmuskeln,
besonders des Zwerchfells, welche auch während der Exspiration mehr weniger
contrahirt bleiben und dadurch die Exspiration hindern. Auch solche for-
cirte Exspirationen sind unwillkürliche Acte, die sich bei jeder stärkeren
Blähung der Lungen als Reflex einstellen (v. pag. 911).
UNTERSUCHUNG. 899
Deutlich sichtbar werden nur jene Exspirationsbewegungen, die dem
Husten zu Grunde liegen. Der Haupttheil der Hustenbewegung trifft aller-
dings die Bauchwand, deren Muskeln sich heftig krampfhaft contrahiren zur
sogenannten Bauchpresse, dabei sieht man aber auch den Thorax sich
merklich verlängern und zugleich verengern. Bei sehr abgemagerten Indi-
viduen mit vertieften Fossae supraclaviculares sieht man bei lange dauerndem
Husten nicht selten die vertieften Fossae bei jedem Hustenstoss sich mehr
weniger auffallend vorblähen und zu einer über das normale Niveau weit empor-
ragenden Convexität anschwellen.
Die Hustenstösse sind manchmal nur einzeln, manchmal jedoch folgen
immer zahlreiche nach einander. Nach jedem sehr kräftigen, besonders aber
in rascher Folge wiederholtem Hustenstoss sieht man eine tiefe, kräftige
Inspiration folgen. Bei dichter Aufeinanderfolge von Hustenstössen hängt
der Charakter derselben wesentlich davon ab, ob zwischen je 2 Stössen
noch Zeit genug bleibt für eine wenigstens kurze, aber doch befriedigende
Inspiration. In vielen Fällen wird diese Zwischenzeit so kurz, dass von
einem befriedigenden Inspiriren zwischen je 2 Stössen gar keine Rede
sein kann, ja nicht selten kann nicht einmal ein Ansatz zum Inspiriren
erfolgen, so rasch folgen die Stösse aufeinander ; darin besteht der Charakter
des Keuchhustens (Pertussis). Oft wäre zwischen 2 Hustenstössen Zeit
genug für eine Inspiration, allein statt derselben entsteht bloss ein überlautes,
zischendes, pfeifendes oder krähendes Geräusch, das deutlich erkennen lässt,
die Glottis sei wie krampfhaft geschlossen, so dass trotz der forcirten Inspira-
tionsbewegung die Luft nur in ungenügender Menge oder gar nicht einströ-
men kann. So entsteht der sogenannte Krampfhusten durch Glottiskrampf
[tussis spastica). Letzterer ist mit Keuchhusten nicht selten combinirt,
tritt aber auch für sich allein oft genug besonders bei Kindern auf. Die Wir-
kung eines Hustenstosses besteht zunächst darin, dass die Lungen plötzlich
kräftig comprimirt werden, einerseits drängt die Bauchpresse die Eingeweide
gegen das schlaffe Zwerchfell, dieses wird gegen die Thoraxwand gepresst, da-
durch mindestens die Unterlappen stark comprimirt; gleichzeitig werden auch
die oberen Lungenabschnitte durch die Verkleinerung des transversalen
Thoraxdurchmessers comprimirt, und die Luft allenthalben nach aussen gegen
die Glottis gepresst, wobei letztere den bekannten Hustenschall erzeugt. Ist
die Glottis nicht genügend weit, so kann die comprimirte Luft die Lungenober-
fläche überall, wo selbe von nicht widerstandsfähigen Wänden bedeckt ist,
eben so nach aussen vordrängen wie an der Glottis, bis nicht das Abströmen
durch die Glottis endlich doch die Compression allmälig verschwinden macht.
So entstehen die Vorblähungen an den Foss. supraclavicul. beim Husten.
Eine weitere Wirkung des Hustens ist bekanntlich das Fortgerissen-
werden aller Bronchial-Contenta durch die nach aussen drängende comprimirte
Luft, d. i. die Expectoration. Sind keine Bronchial-Contenta vorhanden
oder sind dieselben an der Fortbewegung gehindert, so kommt es selbstver-
ständlich nicht zur Expectoration. Das gibt den sogenannten trockenen Husten.
Erwähnt soll hier auch noch jene Wirkung des Hustens werden, die nicht
durch die Exspirationsstösse, sondern durch die auf letztere, wie bereits oben
erwähnt, in der Hegel folgende viel kräftigere Inspiration zu Stande kommen.
Es können durch solche ungewöhnlich stürmische Inspirationen nicht nur die
durch die Exspirationsstösse bereits vorwärts geschleuderten Sputa neuerdings
zurückgeworfen und dadurch eine Verlängerung der Dauer des Hustens bewirkt
werden, sondern auch Sputummassen nach rückwärts bis in die feinsten Bron-
chien, sogar in die Alveolen aspirirt werden, die von dort nicht mehr wieder
expectorirt werden können und Veranlassung zu lobulären Entzündungen
(katarrhalische Pneumonie) bieten können. Schliesslich ist auch noch die die
Circulation störende Wirkung des bei kräftigen Hustenstössen auftretenden
57*
900 UNTERSUCHUNG.
Druckes der stark verdichteten Luft auf alle Gebilde im Thoraxinnern, folglich
auch auf das Herz und die grossen Venenstämme, zu berühren. Dieser Druck
auf die Venenstämme hindert selbstverständlich den Abfluss aus den Körper-
venen, so dass es in diesen zu Stauungen, zur Köthung, Dunsung, oberfläch-
lichen Blutungen an der Cutis, den Schleimhäuten kommen kann, was man
namentlich beim Keuchhusten so oft sieht, am auffälligsten an den Bulbis.
B. Was den Rhythmus der Respirationen anbelangt, so ist nur
eine theoretisch interessante Anomalie zu nennen, nämlich das Cheyne-Stokes-
sche Phänomen. Es findet sich hie und da während oder kurz vor der Ago-
nie in analogen Fällen, wie sie oben bei der aufiällig verminderten Frequenz
der Respirationen im tiefen Sopor oder Coma erwähnt wurden. Das Phänomen
besteht darin, dass die Respiration zeitweise in Perioden erfolgt, zwischen
denen eine ziemlich lange, abnorme Pause des Athmens herrscht. In der
Periode der Athemzüge sind die ersten sehr schwach, werden allmälig stärker
bis zur normalen Stärke und nehmen dann allmälig an Stärke wieder ab,
bis sie endlich ganz pausiren. Die Athemzüge der Periode erfolgen in nor-
malen Zeitintervallen. Dieses Athmungs-Phänomen dauert oft mehrere Minu-
ten an und geht dann wieder in den früher bestandenen Athmungstypus über.
C. Was schliesslich die Symmetrie der Respirationsbewegungen
an beiden Thoraxhälften anbelangt, so sieht man gar nicht selten die inspi-
ratorische Elevation des Thorax an der einen Seite viel schwächer
als an der anderen, oder sie fehlt auch ganz daselbst. Am auffälligsten
ist das Phänomen vorne oben. Mitunter, aber nur selten, sieht man etwas
Aehnliches an der inspiratorischen Elevation der vorderen Bauchwand. Die
Asymmetrie tritt hier nur in der Form hervor, dass die Vorwölbung, deren
grösste Convexität gewöhnlich in der Mittellinie sich befindet, wie nach einer
Seite verschoben erscheint. Die Ursache ist in beiden Fällen analog. Sobald
die eine Lungenhälfte in Folge von Infiltration oder Compression durch Exsu-
dat weniger Luft aufnimmt als die andere oder vielleicht gar keine, ist auch
ihre Betheiligung an dem Respirationsacte entsprechend vermindert, wobei
die Differenz in der inspiratorischen Erweiterung noch dadurch gesteigert
wird, dass die normale Seite sich nicht bloss wie im normalen Zustande er-
weitert, sondern in Folge vicariirender Function in viel höherem Grade, so
dass die normale Lunge dadurch mehr weniger emphysematisch erscheint.
Bei der asymmetrischen Unterleibsvorwölbung sind immer nur grosse pleu-
ritische Exsudate als Ursache zu betrachten, bei welchen das Zwerchfell der
kranken Seite mitunter convex nach abwärts vorgestülpt gefunden wird.
2. Jene Bewegungen am Thorax und unteren Halstheil, an deren Ent-
stehung der Circulationsapparat wesentlich betheiligt ist, sind zum grösseren
Theile nicht nur sichtbar, sondern auch tastbar, und ist für die Mehrzahl
derselben eine gründlichere Beurtheilung bei der palpatorischen Untersuchung
möglich als bei der einfachen Inspection. Deshalb mögen hier nur noch jene
Phänomene, die nur der Inspection und nicht auch der Palpation zugänglich
sind, erörtert werden; hingegen jene, die auch der Palpation zugänglich sind,
im nächsten Abschnitte „PaljMtion"' besprochen werden.
Sichtbare Bewegungen, die nicht auch tastbar sind, kommen nur am un-
teren Halstheil vor. Es sind dies: rhythmische Volumsänd erungen an
den sichtbaren, stark erweiterten Halsvenen; ferner eine undulirende
Bewegung der ganzen Oberfläche des untersten Halstheiles.
Rhythmische Volumsänderungen treten eben nur an sehr stark
prominirenden, grossen, longitudinal verlaufenden Halsvenen auf; dieselben
collabiren nämlich mit jeder Inspiration mehr weniger auffällig, um mit der
nächsten Exspiration wieder auf ihr früheres Volumen anzuschwellen. Es
handelt sich hier augenscheinlich um eine kräftige Aspiration des Blutes der
Jugularis in Folge starker Erweiterung speciell des oberen Thoraxraumes,
UNTERSUCHUNG. 901
bei der zuweilen auch noch die Luftzufuhr zu den plötzlich erweiterten
Lungenpartien durch die Bronchien mehr weniger retardirt ist. Es kommen
sonach alle jene krankhaften Zustände in Betracht, die bereits oben bei
den verschiedenen inspiratorischen Einziehungen an der Thoraxoberfläche
namhaft gemacht wurden, jedenfalls gehört aber auch eine gewisse Blutüber-
füllung des rechten Herzens mit unter die wesentlichen Factoren des Phä-
nomens. Es tritt vorwiegend einseitig oder doch mindestens an der einen
Seite deutlicher auf als an der anderen.
Das U n d u 1 i r e n der ganzen Halsoberfläche besteht in einer andauern-
den unregelmässigen, wellenförmigen Bewegung der Cutis, an der ein bestimm-
ter Rhythmus in der Regel nicht zu erkennen ist, höchstens dass man die-
selbe bei den Inspirationen etwas deutlicher werden sieht als bei den Exspi-
rationen. Die Bewegung besteht aus flachen Erhebungen der Cutis in kleine-
rem Umfange neben eben so flachen Vertiefungen daneben gleichzeitig an ver-
schiedenen Punkten der Oberfläche, welche Erhebungen und Vertiefungen so-
wohl ihrem Umfange, ihrer Dauer als auch ihrem Sitze nach ununterbrochen
sich ändern. Die wesentlichsten Factoren dieser Undulationen sind jedenfalls:
inspiratorische Einziehungen der Oberfläche, verbunden mit eben solchen
Schwankungen der Venenvolumina, und ungewöhnlich kräftigen Pulsationen
sämmtlicher Arterien der Halsgegend, speciell der grösseren (Carotis und ihre
Zweige), verbunden mit hochgradig verminderter Resistenz sämmtlicher die
Gefässe deckenden und einhüllenden Gewebsmassen, der Muskeln, Fascien,
Cutis etc.
B. Palpation des Thorax und imtereii Halstheiles.
Man erkennt mittelst Palpation am Thorax und unteren Halstheil:
I. eine Reihe pulsatorischer Bewegungen, die auch zum grossen Theile mit
dem Gesichtssinn wahrnehmbar sind und bereits oben unter „Lispection"
angedeutet waren, IL gewisse feinere Vibrationen, die als Reiben und
Schwirren bezeichnet zu werden pflegen, III. den sogenannten Stimmfremitus.
I. Anomale pulsatorische Bewegungen.
Am unteren Halstheil fällt nicht selten eine abnorm starke arterielle
Pulsation auf. Meist ist es bloss die Carotis, die beiderseits heftig pulsirt,
mitunter sind es aber auch deren kleinere Zweige, die sich an der ki'äftigeren
Pulsation betheiligen. Die Arterien erscheinen dann sämmtlich von ent-
schieden grösserem Volumen, zumeist auch stärkerer Spannung, aber immerhin
ist die locomotorische Elongation derselben am auffälligsten. Man findet
diese Pulsationen häufig bei starkem Fieber, aber gar nicht selten auch ohne
Fieber bei allerlei Herz- und Nervenkrankheiten, welche letztere mit psy-
chischen Erregungszuständen verbunden sind.
Hie und da findet man aber auch die stark erweiterte prominente
Jugularvene nur selten ihrer ganzen Länge nach, meist nur an einem be-
grenzten Stück derselben, hie und da auch nur an ihrem gut sichtbaren Bulbus
deutlich pulsiren. Eine solche Pulsation kann namentlich für das Auge,
aber auch für den Tastsinn bei oberflächlicher Untersuchung mitunter vor-
getäuscht werden, wenn die Vene in der Nähe der Carotis oder irgend einer
anderen stark pulsirenden Arterie zu liegen kommt und deren Locomotion
in passiver Weise mitmacht. Bei aufmerksamer Prüfung des pulsatorischen
Phänomens wird wohl kein ernster Beobachter durch den Schein getäuscht
werden, sobald er nur weiss, dass ein solcher Schein auch möglich ist. Der
Venenpuls wird allgemein auf eine Insufficienz der Tricuspidalklappen bezogen,
doch soll er auch in seltenen Fällen ohne Insufficienz bei hypertrophischem
rechten Ventrikel vorkommen können (Skoda). Ein sogenannter präsy-
stolischer Venenpuls ist hie und da an der Jugularis in der That wahr-
902 UNTERSUCHUNG.
nehmbar, beschränkt sich in der Regel nur auf einen Punkt und ist durchaus
nicht regelmässig, d. h. man sieht ihn oft recht deutlich, andere Male minder
deutlich und oft längere Zeit gar nicht. Es soll dieser präsystolische Venenpuls
durch Vorkammercontraction des rechten Herzens bei Klappenfehlern der
Tricuspidalis zu Stande kommen, scheint aber doch auch bei normalen
Tricuspidalklappen vorzukommen.
Am Thorax selbst sind von besonderer Wichtigkeit die Anomalien des
Herzstosses, und die durch denselben bedingten Erschütterungen verschiedener
Theile der Thorax- und Bauchwand.
Die Anomalien des Herzstosses beziehen sich:
a) auf Frequenz, Stärke und Rhythmus desselben,
h) auf die Stelle der Thöraxwand, an der derselbe direct sichtbar oder
tastbar ist, oder die durch ihn indirect irgendwie erschüttert wird und endlich,
c) auf die Grösse jener Stelle, die vom Stoss direct getroffen wird.
Ä) Die Frequenz, die sich immer auch am Radialpuls constatiren
lässt, ist oft in verschiedenen Graden gesteigert bis 130 in der Minute
und auch noch weit darüber, nicht bloss bei jedem Fieber, sondern häufig
auch bei anämischen, nervösen Individuen mitunter ohne jede weitere er-
kennbare Ursache, mitunter aber in Folge allerlei psychischer Erregungen,
hält oft Stunden, ja selbst Tage lang an. Eine Frequenz von 100 und etwas
darüber kann bei solchen Individuen überhaupt habituell bestehen. Bei der-
artiger Frequenzsteigerung ist der Radialpuls immer sehr schwach und klein.
Die Herzstossfrequenz kann auch nur periodisch mehr weniger hoch-
gradig gesteigert sein, während mehrerer Minuten, dann wieder zur
Norm abfallen, aber nach verschieden langen Pausen wieder anfallsweise sich
steigern {Tachycardie). Die Anfälle treten bald schütterer bald dichter zu
jeder Tageszeit auf, ja selbst bei Nacht, wobei die Patienten aus dem Schlaf
erwachen; manchmal ohne jede erkennbare Ursache, manchmal in Folge von
verschiedenen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen, selbst wenn
diese an und für sich höchst geringfügig sind; sie beunruhigen die Kranken
mehr weniger, sind manchmal mit allerlei unbehaglichen Empfindungen ver-
bunden. Der Puls ist in solchen Fällen zumeist normal, doch auch hie und
da eher etwas stärker so wie andere Male wieder etwas schwächer als normal.
Die Tachycardie ist im Allgemeinen als Neurose aufzufassen, wenn sie
auch in der Regel als Folgezustand allerlei fieberhafter, wenn auch nur kurz
dauernder Insulte, z. B. nach Influenza, leichterem Rheumatismus, Endocarditis
oder nach heftigen psychischen Erregungen angetroffen wird, immer nur bei
sogenannter nervöser Veranlagung. Wer einmal länger daran gelitten, wird
leicht wieder davon befallen.
Die Herzstossfrequenz pflegt mitunter auch abnorm herabzusinken
bis auf 50 — sogar 40 in der Minute und noch tiefer {Bradycardie)^ in der
Regel nur bei schweren Erkrankungen. Doch ist bei der Beurtheilung dieses
Befundes darauf Rücksicht zu nehmen, dass der Herzstoss hie und da in
einem Doppelrhythmus als Bigeminus erfolgt. Es erfolgen zwei derselben
rasch nacheinander, und zwar der zweite oft so schwach, dass er leicht über-
sehen wird, und solche 2 zusammengehörige Schläge wiederholen sich dann
im gewöhnlichen Rhythmus. Die Ursache der verminderten Herzstossfrequenz
liegt am häufigsten in manchen Hirnhaut- und Hirnerkrankungen, bei denen
es zu einer Reizung des Vagus kommt. Auch bei chronischem Icterus findet
man dieselbe nicht selten, ob in Folge von Cholämie oder anderer Agentien
ist noch nicht klargestellt. — Auch gewisse organische Gifte — am be-
kanntesten ist es von der Digitalis — setzen die Herzstossfrequenz herab.
Leichtere Grade der Bradycardie können vorübergehend bei manchen Klap-
penfehlern gefunden werden z. B. bei Mitral- oder Aortenklappenstenose. Sehr
I
UNTERSUCHUNG. 903
hohe Grade, bis 30 in der Minute, sind als Seltenheiten bei mancherlei Herz-
affectionen in Folge von gewissen physischen und psychischen Aufregungen
in der Literatur genannt.
So wie die Frequenz ist auch die Stärke des Herzstosses abnormen
Schwankungen unterworfen. Oft findet man ihn abnorm stark als sogenanntes
Herzklopfen {Palpüatio corclis). Hie und da sind nur einzelne Stösse derart
verstärkt, dass nicht nur die Stossstelle stark empor gewölbt, sondern auch
noch die ganze Umgebung mehr weniger intensiv erschüttert wird, und der
Patient es in der Regel als unbehagliche Empfindung wahrnimmt. Häufiger
sind aber die verstärkten Stösse in mehr weniger grosser Anzahl aufeinander-
folgend zumeist in beschleunigter Frequenz, mitunter aber auch in der
normalen; dabei ist auch zuweilen der Rhythmus irgendwie gestört ( Car^^^o-
palmus). Auch solches Herzklopfen tritt in der Regel anfallsweise auf, bald
nur in grossen Intervallen, bald auch dichter. Die häufigste Ursache des
Herzklopfens sind die verschiedensten Herz- und Herzklappenkrankheiten;
doch sind auch verschiedene nervöse Erregungen für sich allein nicht selten
Ursache von Herzklopfen bei nervös veranlagten Individuen.
Dass der Herzstoss auch abnorm schwach werden könne, braucht
kaum erst gesagt werden. Bei jeder Ohnmachtsanwandlung, Ohnmacht, in
den letzten Lebecsstunden ist die Herzkraft, parallel jeder anderen Muskelkraft,
immer herabgesetzt vor dem gänzlichen Erlöschen; ebenso aber auch bei
allen blutarmen, hochgradig herabgekommenen Individuen; allein diese Herz-
schwäche kann man nicht am Herzen selbst, sondern viel sicherer an den
arteriellen Pulsen erkennen.
Was die Anomalien des Herzstoss-Rhythmus anbelangt, so ist am
häufigsten der sogenannte aussetzende Puls zu finden. Ab und zu fehlt
während des Beobachtens in der normalen Reihenfolge der Herzstösse und
Arterienpulse einer; manchmal wiederholt sich dieser Ausfall schon bei jedem
zweiten Stoss, mehreremale nach einander, manchmal erst nach mehreren,
oft nur ganz selten, dass er eben nur zufällig zur Beobachtung gelangen
kann. Der aussetzende Puls kommt allerdings oft bei den verschieden-
artigsten Herz- und Nervenleiden vor, aber auch eben so oft bei sonst ganz
gesunden Menschen, dass er für sich allein keinerlei diagnostische Bedeu-
tung haben kann.
Wichtiger ist schon jene complicirtere Rhythmusstörung, die als Arhyth-
mie bezeichnet wird. Auch diese hat ihre mannigfachsten Gradationen.
Es zeigt sich sowohl in der Stärke der aufeinanderfolgenden Herzstösse als
in der Geschwindigkeit ihrer x\ufeinanderfolge ein so ununterbrochener
Wechsel, dass nicht zwei derselben einander gleichen. Als ein Schema hoch-
gradiger Arhythmie möge das folgende dienen. Es beginnt eine Art Cyclus
von Stössen mit einem kräftigeren Stoss, auf den sofort mehrere, bald wie
regelmässig bald auch nur unregelmässig abnehmende Stösse im Allgemeinen
sehr rasch nacheinander, aber doch auch diesbezüglich in ganz ungleicher
Weise folgen; nach einem solchen Cyclus kann eine kurze Pause herrschen,
dann 1 — 2 normale Schläge und sofort wieder ein dem früheren bloss ähnlicher
Cyclus folgen. Bei manchen Kranken ist eine derartige Arhythmie ununter-
brochen durch viele Jahre fortbestehend. Leichtere Grade von Arhythmie,
bei denen der einzelne Cyclus von kürzerer Dauer auch minder auffällig, die
Pausen viel länger sind, verschwinden auch wieder nach einiger Zeit. Bei
den schwereren Formen ist wohl ausnahmslos irgend eine Herzkrankheit oder
ein Klappenfehler, besonders der Atrio-Ventricularklappen vorhanden. Wie
es scheint, dürfte die Mitralstenose die häufigste Veranlassung derselben
sein. Die leichteren Formen haben eine ähnliche Bedeutung wie der aus-
setzende Puls.
904 UNTERSUCHUNG.
An die leichtere Arhythmie lässt sich auch das sogenannte Herzflattern
anreihen. Ist zumeist bloss eine subjective Empfindung, der keinerlei objective
Wahrnehmung entspricht, während man zuweilen doch auch objectiv ganz
schwache Grade rasch nach einander folgender Erschütterungen wie aus der
Tiefe heraus wahrnehmen kann. Hat analoge Bedeutung wie die schw^ache
Arhythmie.
B. Die Stelle des Herzstosses ändert sich oft in höchst auffälliger
Weise. Die diesbezüglichen Thatsachen gehören zu den diagnostisch wich-
tigsten. Sie lassen sich in folgende Gruppen bringen: Verschiebungen des Herz-
stosses nach links, Verschiebungen scheinbarer Art gegen die Magengrube
hin und endlich wirkliche Verschiebungen nach rechts.
Die Verschiebungen des Herzstosses nach links müssen weiter
unterschieden w^erden:
1. in solche, bei denen die Verschiebung rein transversal
bleibt. Die Herzspitze rückt über die Mamillarlinie hinaus nach der Seite,
bleibt dabei in gleicher Höhe wie im normalen Zustande oder kömmt nur
um etwas weniges an der Seite höher zu stehen. Solche Verschiebungen
kommen immer nur durch grössere Exsudatansammlungen im rechten
Thoraxraum zu Stande, mindestens gehören analoge Verschiebungen durch
rechtsseitigen Pneumothorax zu den Seltenheiten. 2. Die Herzspitze
rückt nicht blos nach der Seite, sondern zugleich auch nach abwärts.
Diese Verschiebung ist die häufigste und auch die auffälligste. In extremen
Fällen erreicht die Herzspitze die Mittellinie der Seitenwand und nach ab-
wärts die 6. — 7. Rippe. Die Ursache einer solchen Verschiebung liegt immer
in einer hochgradigen Volumszunahme des linken Ventrikels. Hiebei ist dann
noch weiter die Stärke des Herzstosses zu berücksichtigen; dieselbe ist in der
Mehrzahl der Fälle abnorm gesteigert, dann kann man an hypertropische Er-
weiterung des Ventrikels wie sie vorwiegend bei Aortenklappen-Insufficienz
entsteht, denken. Zuweilen ist aber der Herzstoss nur wenig oder gar nicht
stärker als normal, dann bestehen zwei Möglichkeiten, entweder es ist ein-
fache Dilatation des linken Ventrikels, in der Regel aber auch gleichzeitig
des rechten in Folge von Ueberanstrengung oder sonstigen Erkrankungen des
Herzmuskels, Adiposität, Fettdegeneration etc. ; oder acute Erkrankung des in
Folge von Aorten-Insufficienz hypertropisch gewordenen Ventrikels, wobei es
sich möglicher Weise um einfache Erschöpfung oder um entzündliche Vor-
gänge am Endo- oder Myocardium handeln kann. Leichtere Grade der Ver-
schiebung nach links und abwärts können bei Aortenklappen-Stenose, aber
auch bei massiger Adiposität des Herzens vorkommen. 3. Die Herzspitze
rückt nach der Seite bis in die Axillarlinie und darüberhinaus, zu-
gleich aber auch viel auffälliger in die Höhe als sub 1. In extremen Fäl-
len, die wohl nur höchst selten zu sehen sind, kann die Herzspitze bis zum
Eingang in die Achselhöhle emporrücken. In solchen Fällen hat die Auto-
psie noch immer Verwachsung des Pericardiums mit der Lungenpleura, darauf
folgende Schrumpfung, Verödung der tuberculösen Lunge nachgewiesen, die
sich nach oben und rückwärts retrahirt und das Herz mit emporzieht.
Scheinbare Verschiebung des Herzstosses gegen die Magen-
grube besteht in einer mehr weniger heftigen systolischen Erschütterung der
Magengrubengegend, die auf einen mehr weniger grossen Umkreis derselben
sich erstreckt. Mit der aufgelegten Hand fühlt man nur hie und da, keines-
wegs immer, einen wirklichen Stoss durch einen festen Körper, sondern es
betheiligt sich die ganze Unterlage der tastenden Hand gleichmässig an der
Emporwölbung. Dabei findet man weder an der normalen Stelle, noch sonst
w^o den gewöhnlichen Herzstoss. Die Erscheinung tritt immer nur bei starker
Dyspnoe, sehr tiefem Zwerchfellstande, besonders bei hochgradigen Emphysemen,
doch auch bei mancherlei Klappenfehlern auf. Die mechanische Ursache be-
UNTERSUCHUNG. 905
steht eben in dem tiefen Zwerchfellstand, bei der dasselbe fast eine horizon-
tale Ebene bildet, mindestens in seinem vorderen Theil; bei diesem Zwerch-
fellstande muss das Herz auch tieter rücken, seine hintere untere Fläche
ganz nach abwärts kehren. Ist bei dieser Herzlage der rechte Ventrikel
auch noch in höherem Grade hypertropisch, so muss bei dessen Contractionen
seine Unterlage, Zwerchfell, linker Leberlappen mehr weniger kräftig er-
schüttert werden und die Erschütterung sich auch der Bauchwand mittheilen.
Die Herzspitze ist hiebei wohl auch etwas tiefer, möglicher Weise auch etwas
weiter nach rechts gerückt in Folge einer geringen Ilotation, doch keineswegs
in dem Grade, dass dieselbe an der Erschütterung sich auch nur indirect ir-
gendwie betheiligen könnte. Eine wirkliche Verschiebung des Herz-
stosses bis in den rechten Thorax räum hinüber, bei der man einen
wirklichen, oder mindestens einen annähernd reinen Spitzenstoss an der rechten
Thoraxwand an ähnlicher Stelle fühlt und nicht selten auch sieht wie den
normalen an der linken Seite, kommt wohl nur selten zur Beobachtung und
zwar in der Eegel in Folge linksseitigen massenhaften Exsudates und nur
ausnahmsweise in Folge von linksseitigem Pneumothorax. Selbstverständlich
kann auch diese Verschiebung in allen Gradationen variiren. Doch ist zu be-
merken, dass man einen wirklichen Herzstoss bei jenen leichteren Graden,
wenn die Herzspitze etwa hinter dem Sternum steht, nicht tasten kann, son-
dern erst dann, Avenn dieselbe noch weiter über das Sternum hinaus nach
rechts vorgerückt ist.
So wie die Magengrube durch die Herzthätigkeit direct in grösserem
Umfange erschüttert werden kann, so sieht man gar nicht selten auch die
linke Thoraxwand ausser an der erkennbaren Herzstossstelle noch weit nach
aufwärts über mehrere Intercostalräume hin im ganzen Raum zwischen Sternal-
und Mamillarlinie in eine eigenthümliche Bewegung gerathen, bei der sowohl
die Rippen als auch die Intercostalräume wenigstens eine einmalige
Oscillation ausführen. Es kommt dies ganz besonders bei mancher fieber-
haften Erregung der Herzthätigkeit, aber doch auch bei einfacher, nicht fieber-
hafter Erregung zuweilen vor, bei zart gebauten, muskelschwachen Individuen
vorwiegend. Das Phänomen scheint wohl auf eine abnorme Form der Herz-
contraction und der mit dieser verbundenen abnormen Form- und Lageänderung,
etwaige abnorme Rotation etc. hinzudeuten.
c) Die Grösse der durch den Herzstoss unmittelbar getroffenen, d. h.
vorgewölbten Stelle der Thoraxwand zeigt nur dann auffällige Variatio-
nen, wenn der Herzstoss in höherem Grade nach links und abwärts ver-
schoben ist, und zugleich in höherem Grade verstärkt ist. Hiebei sieht man
in der Regel einen deutlich umgrenzten Kreis von verschiedenem Durchmesser
der zwischen 2 — 5 cm variiren kann, sich so stark verwölben, dass man es
auf beträchtliche Entfernungen hin leicht sehen kann. Die aufgelegte Hand
wird dabei auch sichtlich mit emporgehoben. Das ist der sogenannte hebende
Herzstoss. Die Grösse der emporgehobenen Kreisfläche hängt nun in erster
Linie von der Grösse jener Fläche, die die Herzspitze bildet ab, und diese
letztere nimmt mit der Hypertrophie des linken Ventrikels zu.
II. Palpatorisches Reiben und Schwirren.
Sowohl das Reiben als auch das Schwirren stellen moleculare
Vibrationen der Stoffmassen dar, die auch jedesmal hörbar sind. Das
Gehör nimmt sogar diese Phänomene viel deutlicher und eindringlicher wahr,
difierenzirt dieselben auch weitaus feiner als der Tastsinn. Nichtsdestoweniger
bietet auch die Palpation bezüglich dieser Phänomene mancherlei Vorzüge
dar. Vor Allem ist dieselbe sowohl für den Untersuchenden als auch für den
Untersuchten weitaus bequemer, geht viel rascher vor sich, und sind deshalb
auch gewisse Localisationsacte, z. B. die Umgrenzung des Sitzes der Phäno-
906 UNTERSUCHUNG.
niene, die Ausbreitung derselben über mehrere Stellen der Thoraxoberfläche
u. s. w. leichter zu bewerkstelligen. Da man nun die Palpation wegen allerlei
anderer Symptome immer üben muss, so werden die hier genannten That-
sachen ohnehin gewissermaassen nebenbei constatirt und können im Bedarfs-
falle durch Auscultation dann noch eingehender geprüft werden.
Das Reiben und das Schwirren unterscheiden sich von einander durch
einen von dem Beobachter zumeist unbewusst durchgeführten psychischen Pro-
cess im Momente der Wahrnehmung, nämlich die Localisation des Ausgangs-
punktes der Bewegung. Beim Reiben beziehen wir die Bewegung immer nur
auf eine Fläche, während beim Schwirren die Localisation nicht blos auf eine
Fläche, sondern auch in eine gewisse Tiefe, also auf einen cubischen Raum statt-
findet. Ausserdem findet man die Tastwahrnehmung des Reibens häufig wie
der betasteten Fläche entlang fortschreitend und zwar um so deutlicher, je
länger die Wahrnehmung dauert; während das Schwirren immer auf einen be-
stimmten Fleck fixirt bleibt, mag es auch noch so langefortbestehen. Schliess-
lich ist das Reiben aus viel feineren Vibrationen zusammengesetzt als das
Schwirren, d. h. die Vibrationselongationen und Amplituden sind beim Schwir-
ren ceteris paribus viel grösser als beim Reiben. Um Reiben oder Schwirren
zu tasten, legt man eine ganze Flachhand an die bezügliche Thoraxstelle mit
nur schwacher Berührung; wo eines der beiden vorhanden ist, wird es auch
sofort leicht erkannt, immerhin bald sehr deutlich, bald nur undeutlich, je nach
der Intensität, Das Reiben kann über der ganzen Thoraxfläche gefunden
werden, immer nur auf eine mehr weniger grosse, aber doch nur höchstens
einige cm^ betragende Stelle derselben begrenzt, mitunter auch an meh-
reren solchen Stellen gleichzeitig, selbst an der Herzgegend, hier aber
vorwiegend über der Herzbasis. Die Ursache des Reibens ist bereits
beim auscultatorischen Reibegeräusch angegeben, sie ist über der ganzen
Thoraxoberfläche mit Ausschluss jener Stelle, die dem von der Lunge nicht
bedeckten Herzen entspricht, immer nur auf die durch Entzündung rauh
gew^ordenen Oberflächen der einander anliegenden Pleurablätter und deren
respiratorische Verschiebung gegen einander zu beziehen.
Eine besondere Varietät des pleuralen Reibens ist das Knarren, das
ebenfalls auch auscultatorisch wahrnehmbar ist. Es unterscheidet sich vom
einfachen Reiben einmal durch seine viel grössere Intensität, hauptsächlich
aber dadurch, dass es immer mit rasch auf einander folgenden Unterbrechungen
oder wie in kurzen, kräftigen Stössen als fixe nicht fortschreitende Erschüt-
terung wahrnehmbar ist. Findet sich hauptsächlich an den unteren Partien
der Seiten- und Rückenfläche, hat dieselbe Bedeutung wie das auscultatorische
Knarren (s. daselbst).
Das Reiben über dem Herzen bezieht sich in der Regel auf das Pericar-
dium. Die beiden Blätter desselben verschieben sich wohl im normalen Zu-
stande in Folge der Herzcontractionen niemals. Nur wenn in Folge von Ent-
zündungen die beiden Blätter an bestimmten Stellen durch geringe Mengen
Exsudates von einander abgehoben, rauh, an einzelnen Stellen hingegen fast
adhärent sind, muss in Folge der Herzcontractionen eine Verschiebung beider
Blätter gegen einander stattfinden und dabei sich Reiben bilden analog wie
bei der Pleura.
Ebenso kann sich aber auch zwischen Pericardium und der dasselbe
deckenden Lungenpleura, wenn beide entzündlich verändert sind, ein pleuro-
pericardiales Reiben bilden, das mehr den Phasen der Respirationsbewegung
als denen der Herzcontraction sich anschliesst.
Das Schwirren, auscultatorisch als Geräusch oder auch als Schnurren
bezeichnet, findet sich am häufigsten über dem Herzen und den grossen Ar-
terien, hie und da, wenn auch in etwas verschiedener Form an beliebigen
Punkten der Thoraxoberfläche. Am Herzen selbst ist es am häufigsten an der
UNTERSUCHUNG. 907
Spitze und an der Basis desselben über den verschiedenen Klappenapparaten.
Es ist ebenso wie die Geräusche, deren palpable Form es repräsentirt, bald
systolisch bald diastolisch, ist vorwiegend bei Stenosen zu linden, bei Insuffi-
cienzen nur selten, und zwar an der Herzspitze, wobei es fraglich bleibt, ob das
schwache kurze Schwirren auch dem Geräusch entspricht, da man es mitunter
auch ohne gleichzeitiges Geräusch wahrnimmt. Von den grossen Arterien ist
es in erster Linie die Aorta, an deren Pars ascendens mehr weniger deut-
liches Schwirren wahrnehmbar ist; ausser der Aorta die Subclavia und die
Carotis, immer sind auch laute, gedehnte systolische Geräusche an denselben
Stellen zu hören. Bei der Aorta muss man an Stenosen ihrer Klappen oder
aneurysmatische Erweiterungen mit Verkalkungen an der Intima denken; bei
den beiden anderen Arterien sind es zumeist Knickungen, Compressionen der-
selben irgendwo in der Nähe des palpablen SchAvirrens, durch welche letz-
teres zu Stande kommt.
Am übrigen Thorax findet man hie und da ein dem Schwirren ähnliches
Vibriren, welches dann immer mit einem lauten acustischen Schnurren zu-
sammenhängt, wie es sich aus sehr dichtem, grossblasigen, feuchten Hasseln
in grossen Bronchien als feuchtes Schnurren zu entwickeln pflegt. (Vgl. I. cit.)
111. Anomalien des Vocalfremüus,
Der Stimm fr emitus kann hie und da an umschriebenen Stellen der
Thoraxoberfläche etwas stärker sein als an anderen correspondirenden, viel
häufiger ist er an einzelnen Stellen mehr weniger auffallend geschwächt,
oder fehlt auch ganz daselbst. Bekanntlich prüft man den Stimmfremitus mit
der aufgelegten Flachhand. Es hängt nun von der individuellen Disposition
des Untersuchenden ab, ob er mit der ganzen Hohlhand besser percipirt als
mit einzelnen Theilen derselben, etwa dem Ulnarrand der Hand, dem Daumen-
ballen etc. Gewöhnlich wird nur die untere Hälfte der Rückenfläche auf
dieses Phänomen geprüft, und auch da werden nur auffälligere Differenzen
zwischen rechts und links für die Diagnose verwertet, nicht aber gering-
fügige. Das vollständige Fehlen des Fremitus kann zumeist auf grössere
Mengen Exsudates oder hydropischen Transsudates bezogen werden, kommt
aber hie und da doch auch bei gewissen chronischen Infiltraten der Lunge vor.
Eine in verlässlicher Weise zu constatirende Verstärkung des Stimm-
fremitus wird auf das Vorhandensein grösserer Bronchien in der Nähe der
betasteten Stelle bei massiger Relaxation aller Gewebe zwischen den grösseren
Bronchien und der Thoraxwand inclusive der Bronchialwandungen selbst be-
zogen werden können, wobei eben die Relaxation der Bronchialwandungen
eine massige Erweiterung der Bronchiallumina zur Folge haben konnte, wie
das bei mancher Bronchitis, Broncho-Pneumonie vorzukommen pflegt.
Die Bedeutung des Stimmfremitus im Allgemeinen ergibt sich
aus den mechanischen Bedingungen desselben.
Zu deren Feststellung führen folgende Thatsachen. Für den Tastsinn
sind Vibrationen um so leichter erkennbar, in je grösseren Amplituden die-
selben erfolgen, während für das Gehör jene Vibrationen am besten wahr-
nehmbar sind, deren Bahnen die complicirteste Form haben, mögen sie auch
räumlich sehr klein sein. Dem entsprechend sind Vibrationen tiefer Töne
immer deutlicher für den Tastsinn als diejenigen hoher Töne. Bei Männern
mit tiefer Bassstimme sind die Vibrationen immer viel mächtiger als bei
Frauen und Kindern, selbst wenn die tiefen Töne als acustische Phänomene
wesentlich schwächer sind als die hohen. — Innerhalb der Bronchien verbreiten
sich die Vibrationen wie überall in geschlossenen Lufträumen einmal durch
die gesammte Luftmasse der Räume, dann aber auch durch die starren Wände,
die sie je nach ihrer materiellen Beschaffenheit mehr weniger vollständig
durchdringen und dann auch noch auf die umgrenzenden Medien übergehen.
908 UNTERSUCHUNG.
Die in der Luft des Bronchialbaumes fortschreitenden Vibrationen breiten sieb
auf immer grössere Luftmassen aus im Fortschreiten, weil der Querschnitt
der gesammten Zweige jedes Bronchus immer viel grösser ist, als der des
Stammbronchus, die bewegende Kraft oder die Amplitude derselben muss dem
entsprechend immer kleiner werden, je weiter gegen das Ende der Luftsäulen,
d, i. gegen die Alveolen die Bewegung vorgedrungen ist. — Die innerhalb der
Bronchien in der Luft fortschreitenden Vibrationen dringen aber zum Theile,
wie schon erwähnt, auch durch die Bronchialwandungen in die äussere Um-
gebung des Bronchus, wodurch die Kraft der Vibrationen oder ihre Amplitude
ebenfalls geschwächt wird, und zwar continuirlich der ganzen Länge der Bron-
chialverzweigung entlang, so dass die bis in die äussersten Alveolen an der
Lungenoberfläche vorgedrungenen Luftvibrationen in hohem Grade zumeist
wohl bis auf den Nullpunkt abgeschwächt sein müssen. Im Allgemeinen gilt
also diesbezüglich das Gesetz: die Vibrationen in der Bronchialluft sind um
so intensiver, je grösser die Bronchien. Betrachtet man auch die durch die
Bronchialwände in das umgebende Parenchym eindringenden Vibrationen, so
gilt auch von diesen der Satz, dass sie in der Umgebung der grösseren Bron-
chien immer intensiver sein werden, als in derjenigen der kleineren, und dass
andererseits die Beschaffenheit der Bronchialwandungen auch von Einfluss
sein müsse auf den durch dieselben nach aussen tretenden Theil der bewe-
genden Kraft. Je resistenter und consistenter im Allgemeinen die Bronchial-
wandungen, umso weniger bewegende Kraft tritt nach aussen, je schlaffer,
dünner und weicher die genannten Wandungen, um so mehr tritt durch die-
selben durch. In dem die Bronchien umgebenden Gewebe dringen die Be-
wegungen abermals um so ungeschwächter nach allen Richtungen vor, je
weniger resistent, d. i. je weniger gespannt, je weicher diese Gewebe sind,
und je dünner die Schichte derselben ist. Aus alldem ergibt sich, dass die
Thoraxwand allenthalben nicht so sehr durch die ihr unmittelbar anliegenden
Lungenalveolen in Vibrationen versetzt wird, als vielmehr durch die der
Oberfläche parallel und möglichst nahe verlaufenden grösseren Bronchial-
zweige, dass die durch letztere der Thoraxwand mitgetheilten Vibrationen
um so intensiver sein werden, je grösser die Bronchien, je näher der Thorax-
wand, und je weniger resistent alle zwischenliegenden Gewebe sind.
Thatsächlich findet man nun schon im normalen Zustande den Stimm-
fremitus im Allgemeinen an der oberen Thoraxfläche, also in der Nähe der
Trachea und der grossen Bronchialstämme weitaus stärker, als an der unte-
ren Hälfte, wenn auch in concreto allerlei Ausnahmen von dieser allgemeinen
PbCgel constatirt werden können. Ferner findet man den Fremitus bei sehr
weitem und bei stark emphysematischem Thorax ceteris paribus immer
schwächer, als bei engerem, sonst normalem Thorax. Ebenso erklärt sich
aus Obigem der schon angegebene Befund, dass bei Exsudaten und Hydro-
thorax der Fremitus aufgehoben ist, da die unteren Lungenabschnitte comprimirt,
von der Thoraxwand allenthalben entfernt, gegen die Wirbelsäule zurückge-
drängt sind, so dass selbst in dem Falle, wenn die comprimirte Lunge noch
Luft führende Bronchien enthält, diese von der Thoraxwand viel zu weit ent-
fernt sind, um auf selbe einwirken zu können. Eine solche Einwirkung
könnte höchstens auf die Wirbelsäule stattfinden, deren compacte Knochen-
masse aber alle Vibrationen absorbirt.
Auf ähnliche Weise erklärt es sich auch, wenn gewisse chronische Lungen-
infiltrationen den Fremitus aufheben. Offenbar sind bei denselben mindestens
die der Oberfläche näheren Bronchien luftleer, und andererseits die Infiltrations-
masse so derb resistent, dass sie aus grösserer Entfernung zugeleitete Vibra-
tionen ganz absorbirt.
Schliesslich ist auch eine ab und zu vorkommende Verstärkung des
Fremitus bei Bronchitis und ähnlichen Processen aus den angeführten me-
UNTERSUCHUNG. 909
chanischen Verhältnissen so selbstverständlich, dtass es weiter keiner Erörterung
Ijedarf.
C. Percussioii und
D. Auscultation
sind in selbstständigen Abhandlungen in der alphabetischen Reihenfolge ent-
halten (v. Bd. L, pag. 128 u. 134 und Bd. III., pag. 182).
E. Subjective auf den Thorax localisirbare Phänomene.
Als subjective Wahrnehmungen treten am Thorax eben nur unter patho-
logischen Verhältnissen folgende auf:
a) das Gefühl des Athmungsbedürfnisses in verschiedenen Graden,
b) der Hustenreiz,
c) schmerzhafte Empfindungen, die mehr weniger deutlich auf bestimmte
Regionen des Thorax localisirt werden können.
a) Abnormes Gefühl des Athmungsbedürfnisses.
Wir haben im normalen Zustande keinerlei Gefühl von Seiten der
Athmungsfunctionen. Weder bei accelerirtem noch bei normalem, ruhigem
Athmen athmet der Mensch mit bewusster Willkürlichkeit, sondern die be-
züglichen Bewegungen laufen ohne Hinzuthun des Willens ab, weil auch
keinerlei Bewusstsein eines darauf bezüglichen Bedürfnisses vorhanden ist,
welches als Impuls für eine Willensäusserung dienen könnte. Damit ist nichts
anderes gesagt, als dass die Athmungsbewegung eine reine Reflexaction ist.
Hierauf muss aber nachdrücklich hingewiesen werden, wenn man gewisse ab-
norme, auf das Athmen bezügliche Empfindungen erläutern will. Man kann
ein wirkliches Athmungsbedürfnis in den verschiedensten Graden sich zum
vollen Bewusstsein bringen, wenn man das Athmen willkürlich unterbricht.
Man kann den Athem nach ruhiger, normaler Exspiration, man kann ihn nach
ruhiger, normaler Inspiration anhalten, ebenso nach einer möglichst kräftigen
und tiefen Inspiration und nach einer eben solchen Exspiration, Wie lange
der Athem in all den genannten Fällen angehalten werden könne, wenn man
seine Gesundheit nicht der Gefahr einer ernstlichen Beeinträchtigung aus-
setzen will — vorausgesetzt dass die Willenskraft überhaupt so lange vorhalten
könnte — hängt wahrscheinlich von der Individualität des Beobachters, wahr-
scheinlich auch von einer gewissen Uebung ab. Nach sehr oft wiederholten
aufmerksamen Eigen-Beobachtungen können hierüber folgende Daten vorge-
bracht werden.
Man kann nach ruhiger Exspiration die folgende Inspiration aufhalten
durch 10 Secunden, ohne irgend ein neues Gefühl, gegen die 15. Secunde
beginnt ein solches dem Bewusstsein sich aufzudrängen und kann mit all-
mäliger Steigerung bis zu 30 Secunden ausgehalten werden. Das bewusste
Gefühl, das man die ersten Male nicht sofort analysiren kann, stellt sich all-
mälig in voller Klarheit als aus zwei Factoren bestehend heraus. Der eine
Factor besteht aus einem immer intensiver werdenden Unbehagen, das auf die
Herzgegend, bei höheren Graden auch wie auf die Magengegend und das
gesammte Sensorium localisirt werden kann. Hierbei ist am Puls keinerlei
gleichmässige constante Anomalie zu bemerken. Der zweite Factor der bewussten
Empfindung besteht aus einem immer deutlicher werdenden Drange zur
Inspirationsbewegung, ist eigentlich eine intensive Vorstellung dieser Bewegung,
welcher Drang sich gegen den bewussten Willenseinfluss entwickelt, und den
man später durch bewusste Intendirung (nicht wirkliche Ausführung) der
antagonistischen Exspirationsbewegung noch einige Secunden unterdrücken
kann, der sich aber dann gegen den notorisch bestehenden Willen in die
wirkliche Inspirationsbewegung umsetzt. Es erfolgt eine tiefe Inspirations-
bewegung, auf diese eine eben so kräftige Exspiration, nach normaler Pause
910 UNTERSUCHUNG.
folgt in der Regel noch eine etwas verstärkte Inspiration, auf die dann der
normale Process weiter lauft, und ist damit jede subjective Empfindung voll-
ständig erloschen.
Unterbricht man den Athem nach einer sehr kräftigen Exspiration,
so beginnen die abnormen Gefühle schon gegen die 10. Secunde und können
höchstens bis zur 20. unterdrückt werden, dann erfolgt die Reflexbewegung.
Unterbricht man das Athmen nach einer sehr tiefen, kräftigen Inspiration,
so kann man bis zur 40. Secunde ohne neue Gefühle zuwarten, dann be-
ginnt ein ähnliches unbehagliches Gefühl in der Herzgegend sich zu ent-
wickeln wie früher, dabei noch ein immer mächtiger werdender Drang (d. i.
eine intensive Vorstellung) zu einer Expirationsbewegung, auch diese
kann man mittelst einer nur intendirten antagonistischen d. i. Inspirations-
bewegung noch bis über die 60 — 70. Secunde hinaus unterdrücken, dann
aber erfolgt die Ex s p ir a t io n s bewegung gegen den Willen. Auf eine kräftige
Exspiration folgt in der Regel noch eine etwas stärkere Inspiration, jedoch
nicht momentan nach beendigter Exspiration, ja man kann sogar wieder meh-
rere (5—8) Secunden abwarten, ohne zu inspiriren, und erst dann erfolgt sie
auch unwillkürlich. Nach erfolgter tiefer Inspiration kehrt die ursprüngliche
Norm zurück.
Erfolgt die Athmungsunterbrechung nach einer normalen ruhigen In-
spiration, so erfolgt die reflectorische Exspiration innerhalb 30 — 35 Secunden
und kann durch intendirte, antagonistische Bewegung höchstens noch um 10 Se-
cunden länger zurückgehalten werden.
Werden diese Untersuchungen, wenn auch in Pausen bis zu 10 Minuten,
zu oft etwa mehr als lOmal wiederholt, so bleibt für mehrere Stunden öfteres
Auftreten des leichtesten Asthmagrades zurück, dessen Besprechung weiter
unten folgt. Wiederholt man der Controle halber die Versuche an verschie-
denen Tagen, so bleiben die Wahrnehmungen des Reflexdranges fast immer
dieselben, w^ährend die einfach unbehaglichen Empfindungen in der Herz-
gegend an Intensität bedeutend schwanken, mitunter kaum mehr wahrnehmbar
sind, mindestens etwas später auftauchen.
Aus diesen Thatsachen ergeben sich folgende Sätze:
Bei allen 4 Versuchsarten erweist sich der entfallende Gasaustausch,
also die Hypervenosität des Blutes in den Lungen als einzige Ursache der
abnormen subjectiven Empfindung, — mindestens nach dem heutigen Stande
unseres Wissens — die augenscheinlich von einer abnormen Erregung des Her-
zens, dann auch des Sensoriumorgans, d. i. des Hirns, herrührt. — Hingegen
sind die reflectorischen Bewegungen, die einmal als Inspiration, das andere-
mal hingegen als E x sp i r at i o n auftreten, ausser der Hypervenosität des Blutes
noch von einem zweiten Factor abhängig, der augenscheinlich in den Modalitäten
der Lungenspannung und der durch diese beeinflussten Blutstromgeschwindig-
keit liegt. Man erkennt dies schon aus den Thatsachen, die oben bei jenem
Experiment beschrieben waren, wenn das Athmen nach einer forcirten In-
spiration, also bei höchst gespannten Alveolen unterbrochen wird. Da
folgt nämlich zunächst eine reflectorische Exspirationsbewegung. Wäre diese
nur durch die Hypervenosität des Blutes bedingt, so müsste auf die reflec-
torische Exspirationsbewegung momentan mit derselben zwingenden Gewalt
auch die Inspirationsbewegung folgen, was eben nicht der Fall ist, denn man
kann nach erfolgter Exspiration noch durch mehrere Secunden das Athmen
neuerdings anhalten, und erst nach diesen erfolgt zwangsweise die Inspiration.
— Wird das Athmen nach erfolgter Exspiration, also bei retrahirten Alveolen
unterbrochen, so erfolgt nach einer bestimmten, viel kürzern Zeit schon als
früher die reflectorische Inspiration. Die Bewegungen sind in beiden Fällen
vollkommen unabhängig vom Willen und bewirken immer ein sofortiges
Schwinden der subjectiven Empfindungen.
UNTERSUCHUNG. 911
Zu diesen reflectorisch erregten Athmungsbewegungen gehören denn doch
auch alle schon oben unter „gesteigerte Athmungsfrequenz" ange-
führten abnormen Respiratiousformen, wie sie bei allen acuten Erkrankungen
am Respirationsapparat (Pneumonie, Tuberculose, Pleuritis exsudativa), ferner
bei jedem intensiveren Fieber, nicht minder auch nach sehr raschen, länger
anhaltenden Bewegungen (z. B. Laufen etc.) aufzutreten pflegen. Wenn es
bei all diesen Steigerungen der Athmungsfrequenz zu keiner bewussten auf
das Herz bezüglichen Empfindung kommt, so liegt das wohl nur daran, dass
eben durch die gesteigerte Athmungsfrequenz das Entstehen so hoher Grade
von Hypervenosität des Blutes, die das Herz beeinflussen könnten, trotz der
Behinderung des Gasaustausches verhütet wird, üebrigens kommt es bei
mancher der genannten Krankheiten z. B. der pleuritischen Exsudation, wenn
selbe sehr rasch grosse Dimensionen erlangt, thatsächlich zu subjectiven Be-
klemmungsgefühlen; bei rasch in grossem Umfange sich entwickelnder Lungen-
infiltration ist wohl auch hie und da ein ähnliches Beklemmungsgefühl zu
constatiren, zumeist ist aber in solchen Fällen das Sensorium so benommen,
dass von einer bewussten Empfindung nicht die Rede sein kann.
Eben so gehören zu den reflectorisch, unwillkürlich erfolgenden Athmungs-
bewegungen alle jene hohen, ja höchsten Grade nicht selten mit Erstickungs-
gefahr verbundener Dyspnoe, die bei den meisten acuten Laryngeal-, Tra-
cheal- und Bronchialstenosen vorzukommen pflegen. Eben so auch die schon
oben erwähnten spärlichen Fälle nervöser Dyspnoe.
Erwähnt sei hier auch noch ein hie und da angegebenes subjectives
Gefühl mancher Kranken mit hochgradiger Dyspnoe, als würde ihnen der
Kehlkopf respective die Gegend desselben krampfhaft zusammengeschnürt;
es kommt diese Angabe eher bei Kranken vor, die notorisch keinerlei
Stenosen am Larynx und der Trachea haben.
Neben der künstlich hervorgerufenen, bewussten Empfindung eines
Athmungsbedürfnisses kommt eine native, derartige Empfindung in Folge
pathologischer Verhältnisse recht häufig vor, und zwar in den allerverschie-
densten Graden, von den eben nur merklichen bis zu den höchsten, die das
ganze Bewusstsein intensiv erfüllen und fast alle Lebensvorgänge beherrschen.
Es ist das das sogenannte Asthma*). Eine wissenschaftlich brauchbare Be-
schreibung der subjectiven Zustände des Asthma kann, wie die aller anderen
subjectiven Zustände nur von denkenden, im Selbstbeobachten geübten Indi-
viduen und da auch nur unter Anleitung eines Arztes, geliefert werden. Eine
Beschreibung der subjectiven Zustände bei den höchsten Asthmagraden könnte
nur von einem Arzte, der das Unglück hat, selbst daran zu leiden, geliefert
werden, wenn er hieran Interesse fände. Es mögen hier nun einige Daten
folgen, die sich auf die leichtesten und leicht mittleren Grade des Asthma
beziehen, die zunächst auf mehrjähriger Selbstbeobachtung längstvergangener
Jahre beruhen, aber ausserdem bei einer beträchtlichen Zahl intelligenter
Patienten, darunter auch Aerzte, ihre unzweifelhafte Bestätigung fanden.
Die leichtesten Asthmagrade bemerkt man gar nicht gleich beim
Beginn derselben, d. h. sie lenken die Aufmerksamkeit des Trägers nicht
sofort auf sich; oft bemerkt man sie wie zufällig bei gewissen Veranlassungen,
z, B. beim Befragtwerden, und indem sie einem derart ins Bewusstsein ge-
bracht wurden, erinnert man sich sofort mit Bestimmtheit, dass selbe bereits
mehr weniger lange Zeit vorher bestanden haben, aber nicht voll in's Bewusst-
sein traten. Man kann dabei alle seine Functionen ungestört verrichten und
hält sich, selbst wenn man sich der Anomalie bewusst wird, durchaus nicht
für krank, nicht einmal für leidend. Als Schema eines solchen, leichten Asthma
diene das Folgende. Man sitzt mit irsrend einer leichten manuellen oder auch
*) Vgl. meine „Diagnostik der Brastkrankheiten", Braumüller 1877, § 183.
912 UNTERSUCHUNG.
geistigen Arbeit beschäftigt, meist in einem etwas kühlem Kaume, nachdem
man sich früher durch eine ausgiebigere Bewegung massig erwärmt hatte,
die Aufmerksamkeit ganz absorbirt von der Arbeit, ohne jede Spur irgend einer
Anomalie. Man strengt sich schlechterdings nicht an, athmet ruhig bei der
Arbeit; irgend einmal legt man wie unbewusst die Arbeit einen Moment aus
der Hand, richtet sich im Sessel auf und athmet willkürlich recht tief ein,
dann eben so tief aus, fühlt sich darauf behaglich und arbeitet weiter. Nach
einigen Minuten wiederholt sich das Schauspiel, man wird sich aber noch
immer keiner unbehaglichen Empfindung bewusst, bis man nicht vielleicht
von jemandem gefragt wird, warum man so tief athme. Nun passt man auf
und merkt, dass man denn doch von Zeit zu Zeit ein leichtes unbehagliches
Gefühl bekomme, als hätte -man nicht ordentlich geathmet, es ist wie ein
leichter Druck, gewöhnlich auch in der unteren Herzgegend. Das Gefühl
erregt keinerlei Reflex, man kann es Minuten lang tragen, was auch oft
genug geschieht, aber es beeinflusst denn doch den Willen derart, dass man
einmal sich aufrichtet und recht tief athmet, dabei findet man volles Be-
hagen, und nun wiederholt man bei jedem Auftauchen des unbehaglichen
Gefühls willkürlich das tiefe Athmen. — Ein anderes Mal schlendert man
vielleicht langsam auf der Strasse hin bei etwas feuchtem, kühlem Wetter in
leichterer Kleidung, ist sich gar keiner Anomalie bewusst, bleibt aber doch
irgendwo wie unbewusst stehen, athmet recht tief ein und aus und geht dann
wohlgemut weiter, um nach einigen Minuten dasselbe zu wiederholen; wird
sich auch hier erst nach einiger Zeit der Anomalie bewusst. — Nach einigen
Tagen oder Wochen schwindet der ganze Vorgang von selbst, und man ver-
gisst bald ganz daran. Nach einer gewissen Zeit stellen sich ähnliche Zufälle
wieder ein, um nach einiger Dauer zu schwinden. Das ist das Bild des leich-
testen Asthma.
Mitunter geschieht es aber, wenn das leichte Asthma einige Tage be-
standen hat, dass das unbehagliche Gefühl, welches zum tiefen Athmen drängt,
allgemach intensiver wird, auch häufiger wiederkehrt, und was das wichtigste
ist, mit dem gewöhnlichen Tiefathmen höchstens für einige Augenblicke etwas
erleichtert, aber durchaus nicht beseitigt wird. Man wiederholt das Tiefathmen
bald wieder mit demselben negativen Erfolg. Dabei erscheint einem die
kräftige Einathmungsbewegung im Innern des Thorax wie ein Zug nach auf-
wärts, als sollte etwas von unten emporgehoben werden, wäre aber daselbst
fixirt. Die Empfindung des Zuges nach aufwärts wird durchaus nicht auf die
Thoraxwand bezogen, sondern erscheint wie frei im Innern des Thorax gegen
dessen Basis an der linken Seite gerichtet. Prüft man aber beim willkür-
lichen Tiefathmen die Bewegungen der Thoraxwand und der angrenzenden
Bauchwand mit der aufgelegten Hand sorgfältig und eingehend, so überzeugt
man sich bald, dass diese Bewegungen vollkommen correct und lückenlos statt-
finden, genau den Willensintentionen entsprechend, dass somit das abnorme
Gefühl im Innern nicht von einem Zurückbleiben der Bewegung an irgend
einem Punkte der Thoraxwand oder des Zwerchfells herrühren könne. Hat
man sich einige Male mit dem willkürlichen Tiefathmen vergebens abgemüht,
so kommt früher oder später ein Moment, in dem man ohne jedes weitere
Hinzuthun gleich beim Beginne eines tiefen Athemzuges merkt, es werde jetzt
besser gehen; so wie man dieses Gefühl wahrnimmt, nimmt auch der begon-
nene Athemzug wie plötzlich eine raschere, wie krampfhafte, aber immerhin
noch vom Willen geleitete Form an, das früher empfundene Hindernis weicht
plötzlich, und mit einem Euck erreicht die Bewegung ihre intendirte Wirkung»
und das Beklemmungsgefühl weicht sofort dem normalen, behaglichen Zustand.
Hiebei bemerkt man nicht selten, wenn man die Volumszunahme des Thorax
bei der befriedigenden Einathmung sorgfältig beobachtet, sowohl am Thorax
selbst als am Unterleib, dass diese Volumszunahme recht geringfügig sein
UNTERSUCHUNG. 913
kann gegenüber jenen, welche man bei dem nicht befriedigenden willkürlichen
Tiefathmen erzielt hatte, so dass es durchaus nicht die grössere Menge ein-
geathmeter Lui't sein kann, welche die Befriedigung veranlasste, sondern irgend
ein anderes mit der, bei grösserer krampfartiger Geschwindigkeit erfolgenden
Bewegung zusammenhängendes, augenscheinlich motorisches Moment der Ein-
athmungsbewegung. Von Belang ist auch die Thatsache, dass der Puls im
Momente der Lösung des Athmungswiderstandes zumeist etwas verspätet und
geschwächt empfunden wird. Hierauf hat man immer längere Zeit Ruhe,
aber allmälig kommt wieder ein analoger Anfall, um wieder ähnlich zu enden.
Hat man die Anfälle längere Zeit beobachtet, so drängt sich einem allmälig
der Vergleich des hier statthabenden Athmungstypus mit dem gewöhnlichen
Gähnen auf. Auch dieses erfolgt bekanntlich nicht immer in einem einfachen
glatten Zug, sondern mitunter mit mehrmaligem Stillestehen, bis dann endlich
zum Schluss ein plötzlicher kräftiger Ruck die ganze Bewegung zu einem
befriedigenden Ende führt.
Auf die hier beschriebene massige Steigerung des leichtesten Asthma-
grades folgt mitunter eine weitere Steigerung, die darin besteht, dass die
subjectiven Empfindungen schon wesentlich intensiver sind, die noch so kräftig
ausgeführten Athmungsbewegungen längere Zeit hindurch kein befriedigendes
Resultat ergeben, höchstens nur in langen Pausen ab und zu eine momentane,
wenn auch nicht volle Beruhigung gewähren. In Folge der subjectiven Em-
pfindung der Beklemmung wird man bald zu jeder ruhigem Thätigkeit unfähig,
besonders zu geistiger Arbeit. Aber selbst bei der relativ grössten Intensität
der peinlichen Empfindung erfolgt keinerlei unwillkürliche Reflexbewegung,
sondern es hängt das Tiefathmen eben nur vom Willen ab, und unterlässt
man es, so wird dadurch jenes lästige Gefühl nicht intensiver, selbst wenn
man noch so lange das Tiefathmen unterlässt; die zum Tiefathmen drängende
Wirkung steigert sich mit der Dauer nur durch die Summirung der Effecte,
wie bei manchem anderen an und für sich immer gleich bleibenden subjectiven
Reiz z. B. Jucken, Kitzeln etc. Am ehesten erleichtert man sich noch mit-
unter seinen Zustand, wenn man im Freien mit massig raschem allmälig an
Geschwindigkeit zunehmendem Schritt sich so lange ergeht, bis man etwas
warm geworden. Ein anderes Mal bringt man den Anfall zum Weichen,
wenn man sich niederlegt, und mit leichter warmer Decke bedeckt, in Ruhe
abwartet, bis der Körper sich ganz gleichmässig durchwärmt hat, wobei man
leicht einschläft, und im Erwachen sich wieder frei fühlt. Das hier geschil-
derte Asthma kann man als mittleren Grades bezeichnen. — Nun hört
aber der practische Arzt gar nicht selten über noch schwerere Grade klagen.
Zur Orientirung verwendbare Angaben erhält man jedoch von Spitalskranken
höchst selten, nur von intelligenten Privatclienten, die man durch Jahre
bereits ärztlich beobachtet hat, kann man richtige, das Wesentliche treffende
Mittheilungen erhalten. Solchen entstammen die folgenden Daten.
Es bemerkt mancher Patient, nachdem er einige Zeit hindurch leichtere
Asthmagrade hatte, eine Steigerung derselben in der Weise, dass er, sobald
er in rascherem Schritte zu gehen beginnt, besonders wenn es gegen den
Wind geschieht, bald von einer intensiven Beklemmung, Oppression befallen
wird, dass er schlechterdings nicht weiter gehen kann, seine Ausdrucksweise
lautet in der Regel, es gehe ihm der Athem aus. Fragt man ihn nach irgend
einer anderen localisirbaren Empfindung, so deutet die Mehrzahl sofort auf
die Herzgegend. Es kommt aber auch vor, dass Mancher Anfangs selbst bei
nachdrücklicher Wiederholung der Frage locale Empfindungen in Abrede stellt.
Nach 2 — 3 Tagen gibt er aber spontan an, er sei durch das Fragen erst auf-
merksam geworden, habe Acht gegeben, und in der That ein Unbehagen be-
merkt. Dabei deutet er zunächst auf die untere Brusthälfte als den Sitz
seines Leidens, drängt man ihn, die Stelle genauer zu bezeichnen, so rückt
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. lU. 5ö
914 UNTERSUCHUNG.
er mit der Hand nach links auf die Herzgegend, und zwar thut das der ganz
Ungebildete, Unwissende ebenso wie der Gebildete. Nicht selten wird nebst
der Herzgegend das linke Epigastrium mit als Sitz der abnormen Empfindung
bezeichnet.
Ganz Aehnliches geschieht dem Kranken beim Treppensteigen. Hat
man Gelegenheit, den Kranken bei solchen Anfällen direct zu sehen, so
bemerkt man, dass er in der That nur in Folge des rascheren Gehens oder
Treppensteigens, und nur während desselben nicht athmen kann, so wie er
stehen bleibt, wird das Athmen, wenn auch noch nicht in gewünschter Kraft,
aber doch immerhin sofort ermöglicht, und sobald er nur eine Anzahl
Secunden geruht hat, oder noch besser, wenn er sich irgendwo anlehnen oder
gar setzen kann, so athmet er in jeder gewünschten Intensität, erweitert
Brustkorb und Unterleib sogar über das normale Maass hinaus, allerdings ohne
von der lästigen Empfindung in der Herzgegend befreit zu werden. Erst
nach lange andauernder Ruhe kehrt allmälig der normale Zustand wieder,
um bei neuerlicher zu rascher Bewegung wieder in ähnlicher Weise gestört
zu werden.
In weiterer Steigerung des Uebels überkömmt es den Patienten selbst
bei voller Ptuhe bald allmälig, bald wie urplötzlich. Ersteres im wachen Zu-
stande, letzteres im Schlaf. Im ersten Fall stellt sich der peinliche Druck
auf der linken unteren Brustseite, ganz allmälig aber doch rasch ansteigend ein,
drängt ihn zu immer tieferem Athmen ohne jede Befriedigung, der Kranke
hat dabei oft noch ein hohes Schwächegefühl, mitunter Ohnmacht ähnliche
Anwandlungen, er sucht das offene Fenster, stützt sich womöglich auf die
Ellbogen nach vorne geneigt, um nur ja recht tief athmen zu können. Kömmt
ein Anfall im Schlafe, so wird der Kranke nicht selten scheinbar plötzlich
aus dem Schlafe geweckt, er setzt sich hastig aufrecht, oder springt mitunter
wie erschreckt aus dem Bette, ringt nach Athem, öffnet rasch ein Fenster u. s. w.
wie im frühern Fall.
Ein solcher Anfall dauert dann oft stundenlang. Im Beginne kann die
Athmungsfrequenz fast normal oder nur sehr wenig beschleunigt sein, die
Excursionen des Thorax und Unterleibes übersteigen sichtlich die normalen
Maasse. Allmälig aber sinkt die Frequenz eher unter die Norm herab, und
wird auch die Erweiterung des Thorax und Unterleibes allgemach immer
geringer, sinkt auf das Maass des allerruhigsten normalen Athmens herab,
während die Anstrengung der Athmungsbewegung fast unverändert fortbesteht,
ebenso wie das subjective Druckgefühl. Erst nach diesem Stadium höchster
Ermüdung weicht allmälig das subjective Druckgefühl, und hört auch die
Anstrengung zum Athmen nach und nach auf. Manchmal ist dieser Nachlass
vollständig, der Patient kann lange Ruhe haben, aber früher oder später
wiederholt sich der Anfall. Häufiger ist der Nachlass kein vollständiger, der
Kranke fühlt sich nur relativ leichter, ist aber durchaus nicht ganz frei von
Beschwerden, diese steigen oft schon nach wenigen Stunden wieder an, und
dauern solche Schwankungen bei stetigem Schwund der Kräfte oft Wochen
lang, wobei aber in Folge des Kräfteschwundes die Bewegungsintensität auch
auf der Höhe der Anfälle immer geringer wird, und die Form des einfach
dyspnoischen Athmens annimmt.
Dass diese höheren Asthmagrade hauptsächlich bei allerlei Herzkrank-
heiten vorkommen, ist längst bekannt. Nicht nur bei den verschiedenartigsten
Klappenfehlern, sondern auch bei allerlei entzündlichen Erkrankungen: Endo-
und Myocarditis, Pericarditis exsudativa, bei allerlei arteriellen Erkrankungen,
namentlich der Aorta, der Coronararterien, bei Degenerationen etc.
Alle bisher geschilderten Asthmagrade können ohne jede weitere Com-
plication von Seiten der Respirationsorgane sich einstellen, es bestehen weder
Husten noch Hustenreiz, noch irgend welche abnorme physikalische, namentlich
UNTERSUCHUNG. 915
auscultatorische Phänomene, die auf Katarrh hindeuten würden. Aber sehr
häufig combiniren sich dieselben denn doch auch mit mehr weniger intensivem
Katarrh der Luftwege, mit Husten, mehr weniger reichlicher Expectoration,
insbesondere allerlei lauten auscultatorischen Zeichen über der ganzen Lunge.
Derartige Katarrhe sind oft notorisch durch Herzklappenfehler namentlich
solcher an den Atrioventricularklappen beiderseits bedingt. Oft sind sie auch
mit chronischem altem Emphysem in Zusammenhang. Aber immerhin können
solche Katarrhe auch genuin auftreten, hie und da neben gewissen chronischen
Affectionen der Nasenschleimhaut, besonders ausgebreiteten Wucherungen
derselben einfacher oder polypöser Natur, die das Gesammt-Lumen der Nasen-
gänge oft in hohem Grade verengern; andere Male kommen solche mit
Asthma combinirte Bronchial- und Bronchiolar-Katarrhe wie es scheint ganz
allein ohne jede Complication zum Vorschein, und zwar in der Regel auch
anfallsweise, und diese sind es, die man allgemein als Bronchialasthma
zu bezeichnen pflegt.
Hat man Gelegenheit gehabt, eine längere Reihe solcher als „Bronchial-
asthma" bezeichneter Anfälle durch längere Zeit zu beobachten, so kann man
sich überzeugen, dass das Verhältnis zwischen dem Asthma und dem Katarrh
nicht immer dasselbe ist. In dieser Beziehung sind gerade solche Fälle
instructiv, die man vom ersten Momente der Bildung an beobachten konnte,
was freilich ziemlich selten der Fall ist, am ehesten noch bei Kindern mit
Nasenschleimhauterkrankungen. Da findet man denn im Anfang der Er-
krankung blos intensive Katarrhe, die sich zeitweise besonders im Winter
neben dem Nasenkatarrh auch über die Lungen ausbreiten, Husten, hoch-
gradige oder nur massige, einfache Dyspnoe d. h. forcirtes rasches Athmen
aber durchaus kein Asthma im Gefolge haben. Die Anfälle wiederholen sich
in jedem Jahr oft auch mehreremal, und mit jedem wiederholten Anfall
merkt man immer deutlicher den asthmatischen Charakter, d. h. die Kranken
beginnen über Druck auf der Brust zu klagen, und darüber, dass sie nicht
athmen können, während man doch die Athmungsbewegungen deutlich als
merklich verstärkt erkennt, ohne dass der Katarrh an und für sich intensiver
oder etwa ausgebreiteter geworden wäre. In solchen Fällen geschieht es,
dass sich in einer gewissen Phase der Krankheit der einfache dyspnoische
mit dem asthmatischen Athmungstypus combinirt. Sehr bald findet man dann
bei solchen Anfällen das Herz wesentlich dilatirt, besonders nach rechts,
welche Dilatation nach Ablauf des Katarrhs allmälig wieder schwindet,
wenigstens nach den ersten derartigen Anfällen.
Aber auch bei dem einfachen Bronchialasthma ohne Nasenaffection hört
man gar nicht selten von den Kranken, bei manchen freilich nicht gleich
beim ersten Befragen, sondern mitunter erst einige Tage nachher, dass sie
eigentlich schon vor den schweren Anfällen durch mehrere Jahre periodische
Hustenanfälle mit einfacher Dyspnoe hatten, die sie als gewöhnliche Katarrhe
gar nicht beachteten. Allmälig wären die Anfälle derart verändert aufgetre-
ten, dass Husten und Expectoration wohl wie früher, auch die Dyspnoe nicht
wesentlich anders erschien, dagegen ein subjectives Gefühl des Druckes auf-
trat, das allmälig immer heftiger wurde und schliesslich den Asthmacharak-
ter annahm. Auch hier sieht man dann in den Uebergangsstadien hie und
da eine Combination beider Athmungstypen. Nicht selten stellt sich neben
dem Druckgefühl auf der unteren vorderen Brust ein besonderes, das In-
spiriren begleitendes Gefühl ein, als wären die oberen Luftwege (larynx, trachea)
in verschiedenem Grade verengert, und doch erkennt man an der Raschheit
und dem Grade der Lungenerweiterung mit aller Entschiedenheit, dass eine
wirkliche derartige Verengerung nicht bestehen könne; was übrigens doch auch
mit der bekannten Thatsache übereinstimmt, dass an den genannten Stellen so
häufig recht intensive Schleimhautschwellungen bestehen, ohne jenes Gefühl
58*
916 ÜNTEKSÜCHUNG.
im Gefolge zu haben. Solche Asthmaanfälle zeigen dann, wenn man die
Kranken während der Asthmaperiode aufmerksam beobachtet, die eigenthüm-
lichen Variationen, dass einmal der Anfall mit verstärktem Husten einsetzt,
zu dem sich erst allmälig das subjective Asthmagefühl hinzugesellt. Ein
anderes Mal hingegen stellt sich zunächst ein massiges Asthmagefühl ein,
das sich successiv steigert, und erst allmälig tritt Husten, anfangs trocken und
vereinzelt, später immer dichter und mit immer mehr dünnflüssigem Sputum
auf. Eine Herzverbreiterung kann man auch hier manchmal nachweisen,
während in der Mehrzahl die starke Blähung der Lungenränder diesen Nach-
weis nicht sicher erbringen lässt.
Aus den bisher über das Asthma angeführten Daten ergeben sich
folgende Schlüsse und Erwägungen:
1. Das Asthma ist immer wenigstens seinem wesentlichsten Bestand-
theile nach, über den die Kranken am nachhaltigsten klagen, ein subjectives
Symptom, das immer als Druckgefühl, Beklemmung, Oppression, manchmal
als nicht zu beschreibendes beängstigendes, zum Tiefathmen drängendes und
doch auch hie und da die Athmungsbewegung selbst hemmendes Gefühl,
hemmend, weil durch die Athmungsbewegung jenes Gefühl sich eher steigert.
Dieses subjective Gefühl ist immer mit einem Drange zu möglichst tiefem
Athmen combinirt, es ist dem Kranken, als könnte und müsste er das peinliche
Gefühl nur durch möglichst tiefes Athmen beseitigen. Das Gefühl steigert
sich in Folge aller jener Bewegungen, die selbst im normalen Zustünde die
Herzthätigkeit zu steigern pflegen. Dabei bleibt das Athmen immer vollstän-
dig dem Willen unterworfen. Die möglichst tiefe Athmungsbewegung wird
aber wie schon erwähnt schon dadurch unmöglich gemacht, dass sie das ohne-
hin schon kaum erträgliche Druckgefühl nur noch mehr steigert (Vgl. folg.
Absatz sub. 8) ähnlich, wie z. B. pleuritische Schmerzen, die Athmungsbe-
bewegung hemmen. Ausserdem wird eine ungewöhnlich tiefe Athmungs-
bewegung, eben weil sie mit Heranziehung aller Muskeln, die für gewöhn-
lich beim Athmen gar nicht thätig sind, und die eben nur unter be-
stimmten Bedingungen oder Voraussetzungen als Athmungsmuskeln fungiren
können, intendirt werden muss — wegen dieser Heranziehung solcher Aus-
nahmsfactoren der Athmung, wie gesagt, wird das Athmen so oft geradezu
unmöglich, wenn nämlich jene Bedingungen, unter denen die ausnahmsweisen
Hilfsmuskeln in Action treten können, gar nicht herstellbar sind. Hierauf
sind schon jene an und für sich unscheinbaren Phänomene, die bei den
leichtesten Asthmagraden angeführt wurden, und die dann bei schwererem
Asthma nur dem Grade nach gesteigert, wieder vorgefunden wurden, zu be-
ziehen. Der Mensch mit leichtem Asthma legt, wenn er mit leichter Hand-
arbeit beschäftigt sitzt, für Momente die Arbeit aus der Hand, richtet sich
im Sessel auf um tief zu athmen; der auf der Strasse langsam wandelnde
bleibt zeitweise einen Moment stehen, dabei hält er sich, wenn es möglich
ist, mit der Hand ganz unscheinbar wo an, um tief zu athmen. In diesen
Fällen bestand noch kein Zwang, es hätten die vorbereitenden Bewegungen
auch unterbleiben können, ohne dass das Athmen deshalb überhaupt sistirt
worden wäre. Beim schwereren Asthma haben wir gesehen, muss jedes
schnellere Gehen, Treppensteigen zwangsweise sistirt werden, weil sonst das
Athmen wirklich unmöglich wird. Das Verständnis dieser Erscheinung ergibt
sich aus Folgendem.
Wenn man nur die gewöhnlichsten, ausnahmsweisen Hilfsmuskeln des
Einathmens, nämlich den Pectoralis und den Serratus anticus major, berück-
sichtigt, so sieht man schon, dass ersterer nur dann in Action treten kann,
wenn der Oberarm vollständig fixirt ist; der letztere nur wenn das Schulterblatt
vollkommen fixirt ist; der Sterno-cleido-mastoideos kann nur wirksam ein-
greifen, wenn der Kopf möglichst aufrecht steht; das Zwerchfell nur dann,
UNTERSUCHUNG. 917
wenn die Bauchpresse erschlafft ist; für so manche kleinere Aushilfsmuskeln
sind die Vorbedingungen ihres Eingreifens noch complicirter. Der Oberarm
kann bei keinerlei manueller Thätigkeit hxirt werden, desshalb muss man min-
destens einen Arm irgendwo aufstützen, um nur einseitig bei leichterem
Athmungsdrang den Pectoralis heranzuziehen. Das Schulterblatt kann in
erster Linie nur durch eine sehr kräftige Action eines bestimmten Theiles
des Trapezius fixirt werden, der aber durch die lihombodei, den Levator
scapulae unterstützt werden kann. Eine solche energische Action eines Muskels
ist während der Thätigkeit anderer Muskelgruppen niemals möglich, da solche
gleichzeitige Inanspruchnahme nach verschiedenen Richtungen wirkender
Muskeln erfahrungsgemäss immer nur nach längerer Dressur erlernt werden
können. Eine vollständige Schlaffheit der Bauchpresse fehlt bei jeder etwas
energischeren Bewegung irgend welcher anderen .Miiskelgruppen des Körpers,
immer ist die Bauchpresse bei kräftiger Thätigkeit welcher Art immer mehr
weniger energisch contrahirt, so dass das Herabsteigen des Zwerchfells nicht
möglich wird. Hiedurch wird das Athmen auch bei gesunden Menschen bei
kräftigen Muskelactionen temporär immer unterbrochen, so dass der Mensch
regelmässig Pausen eintreten lassen muss fürs Athmen. Sind diese Pausen
zu kurz oder zu selten, so wird auch beim Gesunden bald erhöhtes Athmungs-
bedürfnis eintreten. Bei dem Asthmatiker wird bei solchen Bewegungen das
Athmungsbedürfnis in viel kürzerer Zeit und viel intensiver auftreten, so dass
bei ihm der Drang hervortritt, möglichst viele Hilfsmuskeln zur Athmung
heranzuziehen, was aber so lange unmöglich ist, als noch überhaupt irgend
welche Muskeln am Körper nach anderer Ptichtung in Thätigkeit sind. So
erklären sich alle oben sowohl beim leichten als auch beim schweren Asthma
geschilderten Erscheinungen.
Ausser dem Hindernis, das aus allen anderen Muskelbewegungen für
das tiefe Einathmen der Asthmatiker resultirt, ist ein anderes in der sei es
von Anfang schon bestehenden, sei es erst während der Dauer des Asthma-
anfalles sich entwickelnden allgemeinen Schwäche des Körpers gelegen.
Ersteres sieht man bei allen Kranken, die durch die lange Dauer ihrer
Krankheit allmälig immer mehr herabkommen. Das letztere, nämlich die
Abnahme der Kräfte während der längeren Dauer eines Asthmaanfalles, sieht
man auch bei noch relativ kräftigen, gut genährten Individuen.
Aber gerade bei solchen noch kräftigen, gut genährten Individuen sieht
man mitunter ein neues Hemmnis für die Athmungsthätigkeit, während der
Asthmaanfälle, eben aus der noch gut erhaltenen Muskelkraft resultiren.
Man sieht nämlich bei solchen die Excursionen des Thorax und Unterleibes
allmälig immer kleiner und kleiner werden, nicht in Folge von Muskel-
schwäche, mindestens nicht von allgemeiner Muskelschwäche, sondern nur in
Folge allmälig immer unvollständiger werdender Exspirationen, so dass man
Thorax und Unterleib bei den Exspirationen immer näher zur Inspirations-
stellung stehen bleiben, und die folgenden Inspirationen eben deshalb trotz
aufgewendeter Kraft nur wenig Wirkung äussern sieht. Ob nun hieb ei eine
allmälige Ermüdung blos der Exspirationsmuskeln vorliegt, oder ob eine all-
mälige tonische Starre die Inspiratoren befällt, so dass sie auch während der
Exspiration nicht genügend erschlaffen, und dadurch der Wirkung der
Exspiratoren immer grösseres Hindernis entgegensetzen, oder ob beide
Factoren zusammenwirken zur allmäligen Verkleinerung der Excursionen,
lässt sich nicht für alle Fälle in gleicher Weise beantworten. Es mögen
wohl bei verschiedenen Individuen verschiedene Factoren in den Vorder-
grund treten.
Mag nun die Athmungsbewegung noch so intensiv ausfallen, Thorax
und Unterleib in viel höherem Grade erweitert werden, als normal, so wird
das subjective Gefühl der Oppression dadurch doch niemals behoben, es bleibt
918 UNTERSUCHUNG.
unverändert fortbestehen, und gerade hierin liegt das Charakteristische des
Asthma, es drängt wohl zum Athmen und doch bleibt das factische Athmen
ganz wirkungslos, so dass die Kranken in der Regel ihre Klagen auch in die
Worte kleiden, sie können nicht athmen, sie bekämen keinen Athem trotzdem
sie ununterbrochen und zwar oft recht tief athmen. Das Gefühl der Oppression
wird eher im Beginne der Anfälle, so lange die Patienten in der geeigneten
Position möglichst tiefe Athmungsbewegungen ausführen, allmälig immer
intensiver, während es später bei eintretender Ermüdung trotzdem die
Athmungsexcursionen immer kleiner werden, doch nicht weiter steigt, sondern
im Gegentheil sich allmälig doch vermindert, und thatsächlich früher oder
später gerade während der grössten Erschöpfung allmälig erlischt oder
mindestens sich derart vermindert, dass die Patienten einschlummern können.
2. Das subjective Asthmagefühl wird stets von allen Personen auf
die ganze untere, zumeist jedoch vorwiegend auf die linke untere Thoraxhälfte
bezogen, niemals anderswohin verlegt. Auch bei dem mit Katarrh ver-
bundenen Asthma wird die Empfindung immer nur auf die bezeichnete Stelle
verlegt, selbst wenn die auscultatorischen Zeichen des Katarrhs notorisch
an beliebigen anderen Stellen am deutlichsten sind. Würde auch nicht die
bekannte Thatsache, dass Asthma am häufigsten bei allerlei Herzkrankheiten
zu finden ist, von vorne herein dazu berechtigen, das pathologische Gefühl in
erster Linie auf das Herz zu beziehen, so müsste dies denn doch schon aus
der Constanten Localisation aller Kranken sich logisch ergeben, da man
sonst an der bezeichneten Stelle nur den linken Leberlappen und den Fundus
ventriculi zur Localisation heranziehen könnte. Kann man eine derartige
Annahme auch nicht in ganz exacter Weise widerlegen, so lässt sie sich
noch viel weniger in exacter W^eise stützen. Mit etwas mehr Berechtigung
könnte man allerdings das Zwerchfell zur Localisation heranziehen, doch
bliebe man die Antwort auf die Frage schuldig, warum denn immer nur das
umgränzte Stück des Zwerchfells der Sitz der Empfindung sein sollte, und
niemals irgend ein anderer Theil desselben. — Kann man nun mit jener
Berechtigung, mit der man überhaupt subjective Empfindungen localisiren
darf, unbedingt das hier vorliegende pathologische Gefühl auf das Herz be-
ziehen, so lässt sich eine weitere Localisation auf irgend einen bestimmten
Theil des Herzens nach den vorliegenden Wahrnehmungen schlechterdings
nicht durchführen. Es lässt sich nicht sagen, ob beide Ventrikel oder nur
einer, und welcher von beiden der Sitz der Empfindung sei, eben so wenig,
ob etwa auch die Atrien daran participiren. Wohl aber kann man nach
dem heutigen Stande der Physiologie mit Bestimmtheit sagen, dass dieses
subjective Gefühl nur in den Nerven des Herzens, sei es den Ganglien, sei
es den leitenden Fasern oder in beiden zugleich seinen primären Sitz habe,
und dass dasselbe aus irgend einer Reizung dieser nervösen Gebilde hervor-
gehen müsse. Ob aber die Nervenreizung in irgend welchen nutritiven Vor-
gängen in den Nerven selbst oder in der Einwirkung des kranken Muskel-
gewebes auf die Nerven seinen Grund habe, lässt sich selbstverständlich in
exacter Weise nicht beantworten, wenn man auch vermuthen kann, dass
bald die eine, bald die andere Möglichkeit, bald beide zugleich vorliegen mögen.
3 . Zur Frage derAetiologiedesAsthmanachbeiden seinen Erschei-
nungsformen der subjectiven und der objectiven ist Folgendes zu bemerken:
Das Experiment der willkürlichen Athmungsenthaltung zeigt constant ein un-
behagliches Gefühl in der Herzgegend und im Sensorium neben dem Drang
zur reflectorischen Athmungsbewegung. Jede Athmungsenthaltung muss zu-
nächst einmal in Folge der Sistirung der 0-Zufuhr directe Kohlensäure-
anhäufung im Blute, dann aber auch irgend eine Aenderung der Blutstrom-
geschwindigkeit in den Lungen zur Folge haben. Der Ausfall des Wechsels
an Spannung und Entspannung des Lungengewebes, so wie auch der Ausfall
I
UNTERSUCHUNG. 919
des Luftdruckwechsels, kann die Blutstromgeschwindigkeit nur vermindern,
diese Verminderung muss den Kohlensäuregehalt des Blutes wenn auch in-
direct nur noch mehr steigern. Da nun ausser der Kohlensäurevermehrung
im Blute keinerlei schädliches Agens vorliegt, so liegt es nahe, die abnormen
subjectiven Emptindungen mit dieser in causalen Zusammenhang zu bringen.
Dies erscheint um so logischer, als ja auch das physiologische Experiment
eine specitische Einwirkung der Kohlensäure auf den Circulations- und Re-
.spirations - Apparat nachweist. Gesteigerte Kohlensäurezufuhr zum Blute
bewirkt nämlich, nach vielfach constatirten, experimental-physiologischen Be-
funden, Steigerung des arteriellen Blutdruckes, ob in Folge von Verengerung
der kleineren, Muskelfasern führenden Arterien, wie viele Physiologen anneh-
men, oder in anderer Weise, ist minder wichtig. Etwas Aehnliches sieht ma n
thatsächlich doch auch bei anderen abnormen Beimischungen zum Blute (z. B.
bei Nierenkrankheiten, Bleivergiftung etc.). Dass gesteigerte Kohlensäure-
zufuhr zum Blute auch die Respiration beschleunigt, bedarf heutzutage kei-
ner weiteren Erörterung oder Beweisführung.
Das Asthma ist nun ebenfalls ein auf das Herz zu beziehendes subjec-
tives Symptom, allerdings ein wesentlich intensiveres; ist ferner ebenfalls mit
gesteigertem Athmungsbedürfnis verbunden, wenn auch mit einem bewussten
und willkürlich zu befriedigenden. Immerhin wird die Frage berechtigt sein:
ist nicht auch das Asthma auf abnorme Kohlensäure-Einwirkung zurück-
zuführen? — Diese Frage kann selbstverständlich in erster Linie nur mit
Hilfe rein klinischer Erfahrung beantwortet werden. Aber immerhin mag
schon hier darauf hingewiesen werden, dass eine solche andauernde, intensive
Erkrankung wesentlicher Gebilde des Herzens in Folge von COa-Einwirkung,
wie sie beim Atshma vorausgesetzt werden muss, auch vom physiologischen
Standpunkte sehr wohl erklärlich wäre. Nur müsste man die CO2 -Einwirkung
schon a priori nicht als einen acuten, sondern als einen chronischen, oft
vielleicht auf Jahre sich erstreckenden, aber nur in Perioden mit mehr
weniger langen Unterbrechungen sich vollziehenden Process voraussetzen
können. — Es wurde doch schon oben erwähnt, dass gesteigerte COa-Zufuhr
zum Blute den arteriellen Blutdruck steigere, wahrscheinlich in Folge von
Verengerung der kleineren Arterien. Man kann nun nicht sagen, es sei eine
weit hergeholte Möglichkeit, dass Kohlensäure-Ansammlung im Blute ent-
weder in den Arterien des Herzmuskels dieselbe Wirkung habe, wie an
anderen Arterien, und dass eine abnorme Contraction der Herzarterien, oder
— will man diese nicht gelten lassen, — eine unmittelbare Einwirkung der
Kohlensäure auf die Function des Muskels so wie auch auf dessen sensible
Nerven, ja nach längerer Dauer auch auf die vegetativen Vorgänge im
Muskel und Nerven Einfluss haben müsse. Ein solcher Einfluss müsste wohl
früher oder später irgendwelche pathologische Veränderungen in den bezügli-
chen Gebilden zur Folge haben. Sind aber einmal in den Herz-Ganglien pa-
thologische Veränderungen gesetzt, dann ist auch die Thatsache, dass beim
Asthma die Respiration nicht als unbewusster Reflexact, sondern als bewusste
willkürliche Bewegung durchgeführt wird, damit zu erklären: dass von den
erkrankten Ganglien Reflexwirkungen nicht blos zum Respirationscentrum des
Central-Nervensystems, sondern auch zur Hirnrinde erfolgen.
4. Wenden wir uns nun der rein klinischen Erfahrung zu, so kann man
allerdings auch auf eine Reihe von Thatsachen hinweisen, aus denen sich ein
Causal-Nexus zwischen COa-Einfluss und Asthma fast mit greifbarer Unmittel-
barkeit ergibt. In erster^ Linie gehören hieher die oben bei den verschie-
denartigen Asthmaformen angeführten Verengerungen der Nasengänge
durch allerlei Schleimhautwucherungen, am häufigsten bei Kindern, die im Be-
ginne nur zu intensiver einfacher Dyspnoe führen, so oft acute Exacerbationen
des Katarrhs und Ausbreitung desselben in den Bronchien und Bronchiolen statt-
920 UNTERSUCHUNG.
findet. Bei solchen Anfällen ist das Athmen sowohl von Seiten der Nasen-
gänge als auch der Bronchiolen behindert, es muss sich Kohlensäureanhäufung
im Blute entwickeln, die ihre schädliche Einwirkung auch hier sowohl auf
das Hirn als auch auf das Herz in leicht erkennbarer Weise manifestiren.
Dauert nämlich die primäre Erkrankung der Nasenschleimhaut, wie das
so oft der Fall ist, mehrere Jahre an, und wiederholen sich die katarrha-
lischen Anfälle auch öfter, so ist es eine bekannte Thatsache, dass die Kin-
der in ihrer geistigen Entwicklung entschieden zurückbleiben, und treten auch
allmälig wirkliche asthmatische Anfälle mit Erweiterung des rechten Her-
zens auf. (Vergl. oben über Asthmaformen.)
Ganz ähnliche Erscheinungen weisen auch allerlei chronisch sich ent-
wickelnde Stenosen der Luftwege, vom Larynx angefangen bis zu den
Bronchien hinab, auf. Auch bei diesen kommt es in der Regel, wenn ihre
Fortentwicklung so langsam erfolgt, dass sie mehrere Jahre andauert, allmälig
zu asthmatischen Erscheinungen, während bei acuten derartigen Stenosen
immer nur einfache hochgradige Dyspnoe sich zeigt. Hieher gehören so
manche durch Narben, oder langsam wachsende Geschwülste, Aneurysmen etc.
bedingte Stenosen.
Hieher kann man aber auch jene asthmatischen Erkrankungen rechnen,
die sich bei solchen Berafsarten bekanntlich oft entwickeln, deren Träger
fast täglich mehrere Stunden lang gezwangen sind, die Athmungsthätigkeit
durch auffällig protrahirte Exspirationen zu stören. So z. B. alle öffentlichen
Redner (Advocaten, Kanzel-, Parlamentsredner), Musikbläser, Sänger u. s. w.
Wenn solche Individuen auf die lang gedehnten Exspirationen nur ungenügende
Inspirationen folgen lassen, oder sich keine genügenden Ruhepausen gönnen
in ihrer Function, so muss die schon bei der protrahirten Exspiration be-
ginnende Kohlensäureanhäufung allmälig wachsen, und ihre schädliche Ein-
wirkung, wenn auch nur in Anfangs nicht merklicher Weise, im Laufe der
Jahre derart summiren, dass wirkliches Asthma sich einstellt.
Ob man nicht auch die in den letzten Jahren vielfach studirte Krank-
heitsform der „ lieber anstreng ung des Herzens'''- hier anreihen könne, darf
mindestens als noch berechtigte Frage gelten. Bekanntlich befällt diese
Krankheit nur Individuen, die einer lange anhaltenden übermässigen Körper-
anstrengung bei ungenügenden Pausen unterworfen sind. Bei jeder grossen
Körperanstrengung ist aber, wie bereits früher gezeigt wurde, das Athmen in
hohem Grade gestört, es können oft durch übermässig lange Zeit keine aus-
reichenden In- und Exspirationen stattfinden, wodurch nothwendiger Weise
Kohlensäureanhäufung im Blute eintreten muss. Die anhaltende Muskel-
thätigkeit muss aber doch auch eine gewisse Steigerung der Kohlensäure-
Production zur Folge haben. Somit 2 Quellen für abnorme Kohlensäure-
anhäufung. Die übermässige Kohlensäureanhäufung kann nach bekannten
experimentalphysiologischen Thatsachen eine Blutdrucksteigerung, mithin ver-
stärkte Action des Herzens zur Folge haben. Aber auch der anhaltende
Druck ausgebreiteter Muskelgruppen auf die in dieselben eingebetteten Gefässe
muss starken Widerstand im Gefässystem, folglich ebenfalls gesteigerte Herz-
thätigkeit zur Folge haben. Somit sind auch für die gesteigerte Herzaction
mindestens 2 verschiedene Factoren zu constatiren, zu denen wohl noch so
manche andere rein nervöse hinzutreten dürften. Thatsächlich ist doch die
gesteigerte Herzaction bei solchen Körperanstrengungen sehr bald, selbst von
Laien leicht zu erkennen. Die abnorme Beschaffenheit des Blutes, die an-
dauernde Anstrengung des Herzens können nun, wie das die Erfahrung wirklich
zeigt, schon nach relativ kurzer Zeit (einigen Wochen) eine schwere, acute
Erkrankung des Herzens begreiflich machen. Man kann ja übrigens hiebei
auch noch an manche andere Factoren denken, z. B. an abnorme Temperatur-
einflüsse, die nebenbei manchmal ihren Einfluss unbemerkt vom Patienten
geltend machen können, wozu die hochgradig gesteigerte Körpertemperatur
UNTERSUCHUNG. 921
auch an den Aussenflächen, die eventuelle starke Schweissecretion etc. hin-
reichende Gelegenheit bieten.
5. Bei allen acuten und chronischen Herzkrankheiten, Herzklappenfehlern,
Aorten- und Lungenarterienkrankheiten kommt es früher oder später zu
Störungen der Circulation. Diese Störungen gehen besonders bei Klappen-
fehlern aus den mechanischen Hindernissen für sich allein hervor, können
durch allmälige Anpassung des Herzens mindestens theilweise compensirt
werden und erreichen eben deshalb keine hohen Grade. Wird aber das Herz
in Folge seiner Anpassuugsvorgänge überangestrengt, oder sind die mecha-
nischen Hindernisse der Circulation zu gross, um ausgeglichen werden zu
können, oder sind schliesslich die betreffenden Individuen in Folge ihrer
Lebensweise, anstrengenden Arbeiten, ungünstigen Ernährungs- und Witter-
ungseinflüssen etc. ausgesetzt, so entstehen materielle Erkrankungen im Herz-
muskel selbst, die seine Leistungsfähigkeit herabsetzen. War das Herz von
vorne herein ohne Klappenfehler, erkrankt, so musste dessen Lei-
stungsfähigkeit selbstverständlich von vorne herein herabgesetzt werden. Die
Verminderung der Herzkraft muss nun die Circulation in directer Weise
stören, die Blutstromgeschwindigkeit mehr weniger hochgradig herabsetzen,
und sei es dadurch, sei es durch die abnormen Verhältnisse in den Capil-
laren der Alveolen, zur Kohlensäureanhäufung und zum Asthma führen. Ge-
rade diese, den Aerzten seit jeher bekannten Zustände, wurden mit dem
Namen Asthma cardiale belegt, zur Unterscheidung von dem Asthma bron-
chiale, und damit angedeutet, dass es zwei verschiedene Arten Asthma gebe.
6. Bei allen diesen Circulationsstörungen, die durch Klappenfehler oder
Herzkrankheiten bedingt sind, findet man sehr oft mehr weniger intensive
ausgebreitete Bronchialkatarrhe, die man von jeher als von den venösen Stau-
ungen in den Lungen abhängig betrachtete, die man also als Folgezustände
nicht aber als Ursachen jener krankhaften Zustände des Herzens ansah, durch
welche das subjective Gefühl des Asthma zu Stande kömmt. Diese Anschau-
ung bleibt unter allen Umständen richtig, wenn man auch zuweilen bemerken
kann, dass die consecutiven Katarrhe denn doch auch das Asthma steigern
können, namentlich wenn der Katarrh bis in die Bronchiolen vordringt.
Beim Bronchialasthma findet man in vielen Fällen ganz dasselbe Ver-
hältnis, wie bereits oben erwähnt war, es tritt notorisch zuerst das Asthma
auf und darauf entwickelt sich erst der Katarrh. Mag es nun auch Fälle
geben, wo der Katarrh zuerst in die Erscheinung tritt, und das Asthmagefühl
später, so muss denn doch das Asthmagefühl auf das Herz bezogen werden,
und können die Bedingungen desselben so vielen einschlägigen Erfahrungen
zu Folge keinesfalls in so kurzer Zeit entstehen, in der ein solcher Katarrh
in die Erscheinung tritt; sieht man doch tagtäglich viel schwerere Erkran-
kungen der Luftwege analoger Natur (bei Pneumonien, Pleuritiden, Tuber-
culosen etc.) ohne jemals mindestens in den ersten Tagen auch nur die lei-
seste Spur von Asthma zu finden. Dann aber mussten diese Bedingungen
andauernd vorhanden sein, wenn auch nur in latenter Weise, d. h. das be-
zügliche Gefühl musste dem Patienten nicht ins Bewusstsein treten. Der
Katarrh braucht nur die latenten Bedingungen des Asthma um ein weniges
steigern, und dieses tritt ins Bewusstsein. Erlischt der Katarrh nach einiger
Zeit, so bleibt von ihm nichts übrig, als höchstens eine gewisse Disposition,
was doch durchaus nicht identisch ist mit Latenz, die asthmatische Erkran-
kung des Herzens bleibt jedoch fortbestehen, auch wenn das Gefühl desselben
erloschen ist. Ob das Asthma ursprünglich bei seiner ersten Entstehung
durch Bronchialarkatarrh entstanden war, lässt sich nur in jenen seltenen
Fällen direct nachweisen, wenn man die Kranken durch viele Jahre vor dem
Auftreten des Asthma stetig zu beobachten Gelegenheit hatte, aber immer-
hin muss selbst bei früher nicht gekannten Kranken dieselbe Möglichkeit
zugegeben werden, mit der Voraussetzung, dass es gewiss eines langen Zeit-
922 UNTERSUCHUNG.
raumes vielleiclit mehrerer Jahre bedurfte, ehe die Bedingungen des Asthma
so weit entwickelt waren, dass letzteres in schwererer Form auftreten konnte.
Sobald die Bedingungen für Asthma einmal vorhanden sind, hat man es mit
einer Herzkrankheit zu thun, das Asthma ist eben so ein cardiales, als
wenn es ohne Katarrh entstanden wäre. Dass das Asthma sich auch ohne
vorausgehenden Katarrh entwickeln könne, haben wir schon an mannigfachen
Beispielen gesehen. Nach alledem könnte die Bezeichnung Bronchialasthma
nur als Abkürzung für Broncho cardiales Asthma gelten, und würde
sich nur auf eine ätiologische Varietät des Asthma, das seinem Wesen nach
nur als cardiales existirt, beziehen.
7. Während bei all den schwereren Asthmagraden Kohlensäureanhäu-
fung im Blute sich als wesentlichstes ätiologisches Moment dem unbefan-
genen Beobachter so zu sagen aufdrängt, ist bei den zuerst geschilderten leichten
und leicht mittleren Graden des Asthma ein ganz verschiedenes ätiologisches
Verhältnis der unmittelbaren Erfahrung zu entnehmen. In all jenen Fällen,
w^o das leichte Asthma bei sonst notorisch ganz gesundem Herzen auftritt, ist
überall nur der Aufenthalt in etwas kühlerer Luft, wo die Differenz gegen
die Normaltemperatur höchstens 1 — 2° R. beträgt, entweder bei anhaltender
Ptuhe oder bei langsamer Bewegung als unmittelbare Veranlassung des Asthma
zu erkennen; tiefere Temperaturgrade also wirkliche Kälte hat diese Wirkung
nicht. Allerdings ist auch vorausgegangene Erwärmung des Körpers durch
Bewegung vor der Abkühlung als constante Bedingung genannt. Soll nun
auch hier Kohlensäureanhäufung die Veranlassung sein, so müsste man die
massige Erwärmung des Körpers durch Bewegung als Ursache einer stärkeren
Kohlensäure-Production, die langsame Abkühlung der Hautoberfläche vielleicht
auch als irgendwie betheiligt an der Kohlensäureanhäufung annehmen, und
zwar letzteres vielleicht durch Verlangsamung der Kohlensäureabgabe. Wenn
beide Annahmen auch im Bereiche der Möglichkeit liegen, müssen sie doch
erst durch weitere Beobachtung und Forschung zu höherer Evidenz erhoben
werden. So lange das nicht geschehen, dürfte man doch auch an einen Nerven-
einfluss denken. Es könnte die dauernde Abkühlung der Körperoberfläche
als ein die Oberflächennerven treffender Pteiz bei gegebener Disposition auf
das Herz reflectirt werden, und an demselben jene anomalen Zustände her-
vorrufen, die zum Asthmagefühl führen. Solche Reflexe in Folge ganz massiger
Abkühlungen sieht man doch fast alltäglich nach verschiedenen Richtungen;
so z. B. bei gewissen katarrhalischen Dispositionen auf die bezüglichen Schleim-
hauttracte; bei rheumatischer Disposition auf die bezüglichen Gelenke, Muskel-
gruppen; bei neuralgischer Disposition auf die bezüglichen Nerven etc. Sind
einmal im Herzen jene anomalen Zustände wachgerufen, so könnten in Folge
gewisser Modificationen seiner Function auch im Kreislauf leichtere Störungen
auftreten, die eine consecutive, massige Kohlensäureanhäufung und damit den
Reiz für das Respirationscentrura im Gefolge haben. So wäre eine geschlossene
Causalkette für die Reihe der Erscheinungen mindestens als brauchbare Hypo-
these gegeben. Dabei bliebe aber noch die Frage, wie dann die Disposition
zu dem leichten Asthma entstehe, welche ätiologische Momente dasselbe her-
vorrufen. Diese Frage lässt sich vorläufig aus Erfahrungsthatsachen noch
durchaus nicht beantworten. Von 4 Aerzten, deren unmittelbare Erlebnisse
und Selbstbeobachtungen der obigen Darstellung des leichten Asthma zu
Grunde liegen, kann nur einer sich an bestimmte Ereignisse erinnern, die
mit der asthmatischen Disposition möglicher, ja wahrscheinlicher Weise zu-
sammenhängen. Er machte nämlich während eines Septembermonats eine
mehrwöchentliche Fusstour, fast täglich 6 — 9stündige Märsche, mit einer
beträchtlichen Last beladen, übernachtete wiederholt im Freien in Wäldern
mit ungenügender Bedeckung des Körpers, so dass er des Morgens immer
ganz erstarrt vor Kälte erwachte, wurde sogar 2mal Nachts von einem feinen
Sprühregen überrascht, so dass er ganz durchnässt erwachte. Trotzdem merkte
UNTERSUCHUNG. 923
er am Ende der Reise nichts Abnormes. Erst mehrere Monate später ent-
deckte er in der oben geschilderten Weise seinen asthmatischen Zustand,
und konnte sich bei der Entdeckung nur dessen erinnern, dass sein Zustand
schon geraume Zeit hindurch bestanden habe, als er auf ihn aufmerksam
wurde, ob er aber bis an die Zeit jener Fusstour zurückreichte, konnte er
nicht mit Sicherheit sagen.
8. Schliesslich mögen noch einige, wenn auch nur hypothetische Be-
merkungen über die specielle Natur der nächsten Asthmaursachen hier an-
gereiht werden.
Das Asthmagefühl wird constant als Druck bezeichnet und muss auch
bei den leichteren Graden als leichter Druck oder Spannung bezeichnet werden.
Hält man über analoge Empfindungen in den willkürlichen Muskeln des Kör-
pers Umschau, so wird man auf die so häulrge Verwendung derselben Bezeich-
nung von Druck, Spannung an Muskeln, die von leichterem Krampf befallen
sind, stossen. Solche leichte Krämpfe kommen ja in den Waden-, Arm-,
Nacken etc. Muskeln sehr oft vor, und zwar oft als ziemlich lange andauernde
Könnte es denn nicht auch im Herzmuskel eine Art leichten Krampfes oder
eines abnorm gesteigerten Tonus geben, der sich selbstverständlich nur
während der Diastole in der Weise manifestiren würde, dass die Diastole
keine vollständige Erschlaffung brächte, sondern auch noch mit einem leichten
Contractionsgrade versehen wäre, wie so häufig willkürliche Muskeln, die sehr
viel Arbeit leisten, auch in der Ruhe leicht contrahirt bleiben V Diese An-
nahme würde die Thatsache verständlich machen, dass leichteres Asthma in
der Regel durch einen wie unwillkürlich erfolgenden kräftigeren Athemzug
sich löst, dass dabei der Radialpuls sich meist etwas verspätet und schwächer
wird. Man kann sich nämlich denken, dass durch den im richtigen Moment
angebrachten kräftigen Inspirationszug der Rest der Contraction in der Dias-
tole sich auch löst, das Herz sich demzufolge etwas mehr erweitert, mehr
Blut aufnimmt, und die unmittelbar folgende Contraction nicht gleich alles
Blut austreibt. Eben so wäre die Thatsache verständlich, dass solches massige
Asthma in Folge einer langsam an Geschwindigkeit zunehmenden nachhaltigen
Bewegung sich allmälig vollständig verliert, dasselbe kann man doch auch
an den willkürlichen Muskeln, die von leichtem Krampf befallen sind, fast
constant constatiren. Und andererseits ist doch auch die notorisch günstige
Wirkung der Massage auf krampfhaft contrahirte Muskeln nur auf dasselbe
Princip zu beziehen.
Bezieht man die massigen Asthmagrade auf einen leichten Herzmuskel-
krampf, so ist es nur folgerichtig, dass man die schwereren Grade auf die
Anfänge einer wirklichen Parese des Muskels bezieht. Es folgen doch auch
bei den willkürlichen Muskeln diese beiden Anomalien als Gradationen eines
und desselben Leidens nicht selten unmittelbar aufeinander. Schwächung
des Herzmuskels ist ja bei all den schon genannten Krankheiten eine alte
geläufige und auch leicht beweisbare Annahme. In willkürlichen Muskeln
stellt sich bekanntermaassen schon bei beginnender Parese auch ein Gefühl von
Druck, das hier gewöhnlich mit dem Worte Schwere bezeichnet wird, ein.
Die Kranken nennen ihre Glieder wie bleiern schwer. Nun ist Schwere
fast dieselbe Empfindung wie Druck.
Das paretische Druckgefühl wird im Herzen selbstverständlich mit der
Systole sich geltend machen, es ist somit von vorneherein klar, dass dieses
Druckgefühl auch durch das kräftigste Athmen nicht erleichtert werden kann,
es wäre ja eher das Gegentheil zu erwarten. Eben so wäre es klar, dass jede
Verstärkung der Systole das Druckgefühl verstärken muss, weshalb jede
schnelle oder kräftigere Bewegung, die die Herzaction anregt, momentan den
Zustand des Kranken verschlimmert, im Gegensatz zu dem leichten Asthma,
wo nur langsame Bewegungen schlecht vertragen werden, schnelle in der
Regel besser.
924 UNTERSUCHUNG.
IL Empfindung von Hustenreiz.
Der Husten ist bekanntlich ein Reflexact, der durch einen bestimmten Reiz
innerhalb des Respirationsapparates ausgelöst wird. In ganz seltenen Fällen
kann Husten wohl auch von ausserhalb des Respirationsapparates gelegenen
Punkten ausgelöst werden. So z. B. vom Magen, vom Gehörgang, dem
Rachen etc. In all diesen Fällen gelangt der primäre Reiz gar nie als solcher
ins Bewusstsein, während der vom Respirationsapparat ausgehende primäre
Reiz in der Regel als irgend eine Empfindung oder mindestens als unbe-
stimmtes Gefühl ins Bewusstsein gelangt; wenn er genügende Intensität hat,
bei Jedermann, ist er nur schwach, so wird er nur von Personen, die im
Selbstbeobachten geübt sind, wahrgenommen, sonst z. B. durch den Bewegungs-
act mehr weniger verdeckt. - Dieser Hustenreiz wird oft als eine Art Kitzel
an irgend einem Punkte im Laufe der Luftwege percipirt, oft als ein leichtes
Brennen, Drücken, Kratzen, nicht selten auch als ziemlich intensiver stechen-
der Schmerz, oder als ganz unbestimmte unbehagliche Empfindung. Je be-
stimmter die Empfindung, um so leichter wird sie localisirt. Der stechende
Schmerz zumeist auf den Kehlkopf, der brennende, drückende, kitzelähnliche,
kratzende Reiz hauptsächlich auf die Trachea, eine nicht näher bestimmbare,
von Vielen als dumpfer Druck bezeichnete auf die vordere Brustplatte. — Die
nicht vom Respirationsapparat aus erregten Hustenbewegungen sind, abgesehen
von ihrer Seltenheit, zu wenig intensiv, dabei auch noch viel zu wenig exact
beobachtet, um dem Diagnostiker irgendwie als Behelfe dienen zu können.
Hier möge deshalb nur jener Husten berücksichtigt werden, der als Reflexact
notorisch durch die genannten Reize innerhalb des Respirationstractes aus-
gelöst wird.
Die Ursachen der bewussten Hustenreize sind mannigfacher Art. Das
Perceptionsorgan bilden selbstverständlich die in der Schleimhaut des Respi-
rationstractes verlaufenden, sensitiven Nerven. Die die Nerven reizenden
Agentien sind theils materieller, theils mechanischer oder dynamischer Art.
Bezüglich der Nerven muss man sich vor Allem die verschiedenartige Reiz-
barkeit derselben im ganz gesunden Zustande und unter allerlei abnormen
Verhältnissen gegenwärtig halten. Die Mehrzahl der factisch als Reize empfun-
denen Einwirkungen werden von ganz normalen Nerven gar nicht empfunden,
sondern nur von hyperästhetischen.
Alle sensiblen Nerven können hyperästhetisch werden, einmal in Folge
von allerlei Ernährungsstörungen, die sich an beliebigen Punkten im Verlaufe
derselben peripherisch und central entwickeln, dann aber auch durch allerlei
Vorgänge in jenen Geweben, in die die peripherischen Endigungen der Nerven
eingebettet sind. Solche Gewebsanomalien können in allen Gradationen von
Hyperämie, Entzündung mit deren Consequenzen, Epithelabschürfung, Hyper-
secretion, Erosionen, Ulcerationen vorhanden sein.
Die auf die Nerven einwirkenden Agentien sind in erster Linie mecha-
nischer Natur, durch allerlei der Athmungsluft beigemischte, an und für sich
unschädliche Substanzen, vermittelt, gewöhnlichen Staub, namentlich krystal-
linische Substanzen, steife Pflanzenhaare, die von den Blättern, Blüthen und
Früchten mancher Pflanzen zu gewissen Zeiten abfallen und der Luft in un-
sichtbaren Partikelchen beigemischt werden; bei verschiedenen Handwerken
und Gewerben durch Abreiben von verschiedenen zur Bearbeitung gelangenden
Rohstoffen, oder von den bereits fertigen Producten abfallender Staub pflanz-
licher, thierischer, auch mineralischer Stoffe etc.; alle derartigen Luftbeimen-
gungen wirken erst durch Summirung nach längerer Zeit, während welcher
in den bis dahin normalen Nerven noch keine bewussten Empfindungen zu
Stande kommen. Erst bis allmälig entzündliche Zustände, Katarrhe sich ein-
stellen und die Nerven hyperästhetisch werden, tauchen auch bewusste Husten-
reize auf, so oft die unreine Luft zur Einathmung gelangt. Hingegen gibt
es allerlei staubförmige und gasartige Beimischungen zur Athmungsluft, die
UNTERSUCHUNG. 925
auch die noch ganz normale Schleimhaut und deren Nerven sofort beim ersten
Contact reizen und Husten auslösen, z. B. gewisse scharfe pflanzliche Stofte,
Gewürze, ätherische Oele, Balsame etc., Chlor-, Amoniak-, etc., Gase. Bei all
diesen Stoöen muss man wohl die Einwirkung als nicht bloss vom mecha-
nischen Contact herrührend betrachten, ob es chemische oder anderweitige,
dynamische Processe sind, die der Reizung zu Grunde liegen, Hesse sich noch
nicht überall exact beantworten. Sind schon die normalen Nerven gegen
derartige Einwirkungen mehr weniger empfindlich, so werden die bei längerer
Einwirkung bald hyperästhetisch werdenden um so empfindlicher gegen die-
selben.
Besteht schon aus welchen Ursachen immer ein Reizungszustand der
Respirationsschleimhaut, mag diese in einfacher Hyperämie oder weiter gedie-
henen pathologischen Processen bestehen, und sind die Nerven in Folge dessen
hyperästhetisch, so genügt oft schon die mechanische Wirkung des einge-
athmeten Luftstromes, besonders wenn die Einathmung mit etwas grösserer
Intensität erfolgt, zur Erregung eines bewussten Hustenreizes. Die grössere
Einathmungsintensität kann oft zufällig, sei es willkürlich oder unwillkürlich,
erfolgen, folgt aber nach jedem kräftigeren Hustenstoss stets unwillkürlich.
Noch leichter bildet sich in Folge rascherer Einathmung Hustenreiz, wenn
die Luft obendrein auch noch plötzlich kalt wird, Ist der Sitz der Erkrankung
im Kehlkopf oder der Trachea, so erregt sehr häufig schon lauteres Sprechen
den Hustenreiz, wobei einmal die Muskelaction, ein anderesmal vielleicht die
grössere Vehemenz des Expirationsluftstromes als unmittelbare Veranlassung
dienen.
Sind nun auch all diese durch äussere Einwirkungen erzeugten Husten-
reize im Alltagsleben nichts weniger als selten, so verschwinden sie doch in
Bezug auf Häufigkeit neben dem durch innere Vorgänge in den Luftwegen
bedingten Hustenreiz. Diese Vorgänge bestehen in der allmäligen Ansamm-
lung allerlei Schleimhautsecrete und sonstiger pathologischer Excretions-
producte. Dass solche Se- und Excrete Husten erregen, braucht wohl nicht
erst gesagt werden, werden doch dieselben eben nur durch Hustenstösse
herausbefördert. Wie sie aber den Hustenreiz erzeugen, ist noch wenig be-
achtet worden. Aus alltäglich zu beobachtenden Thatsachen ergeben sich
hierüber folgende Schlüsse. Es lässt sich oft die Anwesenheit flüssiger Massen
in den Bronchien mit aller Sicherheit erkennen und stundenlang beobachten,
ohne dass es zum Husten kommt. Aber nicht bloss der Husten mangelt,
sondern es mangelt auch schlechterdings jeder Reiz nicht bloss, weil die
Aufmerksamkeit abgelenkt ist, sondern auch bei aufmerksamster Selbstbeob-
achtung intelligenter Menschen lässt sich nicht die leiseste Empfindung oder
irgend ein abnormes Gefühl constatiren. Irgend eine raschere Bewegung des
Oberleibes, irgend ein zufälliger kräftigerer Athemzug, irgend eine beliebige
Lageänderung kann plötzlich Husten und Expectoration zur Folge haben. Oft
folgen wohl Hustenstösse aufeinander, ohne dass es zur Expectoration kommt,
und dennoch hört der Husten wieder für längere Zeit auf. Nicht selten er-
folgt Husten wie periodisch, regelmässig in gewissen Zeiträumen, nachdem
sich sehr viel Secret angesammelt hat, und dauern dann die Hustenstösse so
lange fort, bis mindestens der grössere Theil der angesammelten Masse expec-
torirt ist. Es gilt dies nicht blos für Bronchiectasien, wo der Vorgang aller-
dings typisch ist, sondern auch bei allerlei catarrhalischen Secretansammlungen
in sonst normalen Bronchien. Oft werden beträchtliche Excretmassen ohne
Husten nur mittelst Räuspern leicht herausbefördert. Aus solchen täglich zu
beobachtenden Thatsachen lässt sich wohl mit Sicherheit der Schluss ziehen,
dass es weder eine einfache Contactwirkung, noch auch eine chemische oder
dynamische Wirkung sein kann, mittelst der die Nerven gereizt werden, da
sonst ein längeres Verweilen der Auswurfsstoffe in den Bronchien unmöglich
wäre, was doch nach obigen Thatsachen unzweifelhaft der Fall ist. Es können
926 UNTERSUCHUNG.
sonach eben nur mechanische Vorgänge, Bewegungen und deren "Resultate
die unmittelbare Ursache des bewussten Hustenreizes sein. Mögen die Secrete
durch den Respirationsluftstrom oder durch die eigene Schwere, durch Bewe-
gungen des ganzen Thorax, welcher Art immer, in Bewegung gesetzt werden,
so werden sie immer mit neuen Schleimhautpartien in Contact kommen. Der
Moment des Contactes kann wie bei allen Tastempfindungen auch an der
Schleimhaut je nach der Geschwindigkeit, mit der die zum Contact führende
Bewegung erfolgt, wohl auch je nach der Qualität der bewegten flüssigen
Masse, nicht minder aber auch je nach dem Reizbarkeitszustande der neu in
Contact gerathenden Schleimhaut variirende Empfindungen oder Gefühle
zur Folge haben, die dann den Reflexact auslösen. So wird es dann möglich,
dass der Hustenstoss, indem er die zu expectorirenden Massen gegen immer
neuere Schleimhautpartien schleudert, auch immer neuen Hustenreiz erzeugt;
oder dass eine solche fortgesetzte Locomotion der Excrete allmälig dadurch
unmöglich wird, dass letztere auf eine grosse Fläche ausgebreitet, in eine zu
dünne Schichte umgewandelt -wurden, um noch weiter fortgeschoben werden
zu können, folglich der immer neu sich bildende Hustenreiz allmälig ent-
fällt u. s. w. und erst dann wieder zum Vorschein kommt, wenn die dünne
Schichte der Excrete sich allmälig wieder zu einem compacten Klumpen zu-
sammengeballt hat.
Aus der hier beschriebenen Art des Zustandenkommens mancher Husten-
reize erklären sich manche oft genug zu beobachtende willkürliche Beein-
flussungen heftiger Hustenparoxysmen. Mancher Erwachsene, ja selbst intel-
ligentere ältere Kinder sind oft im Stande, selbst recht intensiven Husten-
reiz zu unterdrücken, wenn sie darauf aufmerksam gemacht werden, mit
einiger Willensanstrengung den Husten aufzuhalten; so wie dieses Zurückhal-
ten nur einige Momente angedauert hat, erlischt der Reiz von selbst, und der
Hustenanfall ist sistirt. Eben so können Viele, die auf einen kräftigen
Hustenstoss folgende, unwillkürliche Inspiration, wenn sie darauf aufmerksam
gemacht werden, eine Weile zurückhalten oder mindestens retardiren, und da-
durch einem neuern Hustenstoss vorbeugen u. s. w.
HL Schmerzhafte Empfindungen an oder in bestimmten
Regionen des Thorax.
Sämmtliche hieher gehörige Phänomene sind bereits in verschiedenen
früheren Artikeln dieses Werkes eingehend behandelt. Es wird somit genü-
gen, auf die bezüglichen Artikel hinzuweisen.
Solche schmerzhafte Empfindungen sind:
1. Die Stenocardie (s. unter Angina pectoris.)
2. Druckschmerzen bei Aorten-Aneurysmen (s. Arterienectasie.)
3. Verschiedene Neuralgien: Intercostale, subclaviculare combinirt mit
brachialer, Mastodynie oder Mastalgie (s. unter Neuralgien.)
S. STERN.
Untersuchung des TInterleihes,
Bei der Unterleibsuntersuchung trifi't man in erster Linie aut
gewisse objective Befunde, gleichzeitig aber mitunter auch auf subjective Phä-
nomene, die oft dieselbe diagnostische Wichtigkeit haben, wie die objectiven.
Ja man stösst hie und da auch nur auf subjective, zur Diagnose verwendbare
Angaben ohne jeden entsprechenden objectiven Befund. Es sind demnach die
subjectiven Symptome auch für die Unterleibsdiagnostik nicht minder wich-
tig wie die objectiven.
Die objectiven Symptome sind theils allgemeine, wenigstens in räum-
licher BeziehuDg, sie beziehen sich auf den ganzen Unterleib gleichmässig;
oder sie sind speciell localisirt auf bestimmte Stellen des Unterleibes ent-
sprechend der Lage bestimmter Organe; schliesslich können sie auf circum-
scripte Stellen von zufälliger Lage und Grösse sich beziehen.
UNTERSUCHUNG. 927
Die Untersuchung wird demnach zunächst eine allgemeine, auf den ganzen
Unterleib sich erstreckende, dann aber auch eine localisirte, theils auf ein-
zelne bestimmte Organe, theils auf zufällig bei der allgemeinen Untersuchung
constatirte Oertlichkeiten sich beziehende, sein müssen.
Die gesammte öbjective Untersuchung wird sebstverständlich auch hier
mit den einzelnen Sinnesorganen vorgenommen. Am zweckmässigsten vor
Allem mit dem Auge als Inspection, hierauf mit dem Tastsinn als Pal-
pation und schliesslich mit dem Gehör theils durch Percussion, theils
in ganz seltenen Fällen durch Auscultation. Die Palpation und die Per-
cussion können zu gewissen subjectiven Angaben Anlass geben, wenn
solche nicht schon ganz spontan vor der objectiven Untersuchung vorgebracht
A. Inspection des Unterleibs.
Die Inspection ergibt einmal gewisse räumliche, auf Dimensionen und
Formen bezügliche Symptome, dann aber auch hie und da einzelne optische, das
Colorit den Glanz betreffende Erscheinungen. In ganz seltenen Fällen können
auch gewisse Bewegungserscheinungen bei der Inspection constatirt werden.
/. Anomalien der Formen und Dimensionen.
Form und Dimension müssen am Unterleib immer im Zusammen-
hang betrachtet werden, weil sie sich gegenseitig bedingen. Die diesbezüg-
lichen normalen Verhältnisse können als bekannt vorausgesetzt werden, so
dass das Erkennen der Anomalien keiner besonderen Vorbereitung bedarf.
Die Dimensionen des Unterleibes können nach der Grösse der trans-
versalen Peripherie desselben in verschiedenen Höhen, bespielsweise in der
Nabelhöhe, Höhe der spina anterior sup. ossis ilei etc. beurtheilt werden; oder
nach verschiedenen Durchmessern, z. B. von vorne nach rückwärts, oder von
einer Seite zur anderen, oder auch der Längenachse des Körpers parallel. Mit
Hilfe mehrerer Peripherien und Durchmesser lassen sich auch alle Form-
anomalien hinreichend deutlich characterisiren.
Wir finden am Unterleib als Anomalien:
1. Vergrösserungen desselben in allen Gradationen, combinirt mit-
unter mit mancherlei Formanomalien. Die Vergrösserung äussert sich
in einer bald sphäroidischen, bald mehr ellipsoidischen Erhebung der vorderen
Bauchwand, wobei die grösste Peripherie in der Nabelhöhe oder etwas ober-
halb, nur selten unterhalb derselben zu finden ist. Bei massiger Vergrösse-
rung ist in der Regel nur der Durchmesser vorne-rückwärts vergrössert, der
laterale nicht. Bei bedeutender Vergrösserung ist auch der laterale Durch-
messer deutlich vergrössert; in einzelnen Fällen kann der letztere, besonders
in der Rückenlage sogar auffälliger vergrössert erscheinen, als der erstere. In
extremen Fällen der Volumszunahme kann sogar der Längendurchmesser
durch starke Empordrängung des Zwerchfells und der Rippen verlängert er-
scheinen. Wo der Lateraldurchmesser bedeutend verlängert ist, wird man in
der Rückenlage ein Ueberhängen der vorderen Bauchwand über die Seiten-
theile d. i. also eine Art Faltenbildung bemerken. Bei aufrechter Stellung
zeigt sich gewöhnlich ein solches Ueberhängen nach abwärts {Hängehauch).
Die ersten Grade der abnormen Volumszunahme sind nicht immer leicht
zu erkennen. Man muss da den Unterleib in der Rückenlage sorgfältig mit
dem Thorax, dem allgemeinen Ernährungszustand nämlich der Muskel- und
Fettentwicklung vergleichen.
Bei normalem Bau der Thorax, normaler und etwas subnormaler Muskel-
und Fettentwicklung, ragt die vordere Bauchwand in der Rückenlage nicht
über die Sternalebene hervor, und ist dieselbe gar nicht oder kaum merklich
convex, wird es erst gegen die Seiten hin. Wo demnach die vordere Bauch-
wand die Sternalebene noch so wenig überragt, oder w^o dieselbe etwa in der
Nabelregion schon merklich convex ist, da ist um so sicherer an eine Ano-
malie zu denken, je mehr sich der bezügliche Organismus abgemagert erweist.
928 UNTERSUCHUNG.
Die Yolumszunahme des Unterleibes kann wohl auch ohne pathologische
Processe in Folge von Fettansammlung als sogenannte Obesitas auftreten,
erreicht selbst in solchen Fällen mitunter ganz monströse Grade, bildet in
vorgerückterem Alter einen sogenannten Hängebauch. Der Ernährungszustand
des gesammten übrigen Organismus wird die Ursache der Volumszunahme in
der Eegel leicht erkennen lassen.
Von diagnostischer Wichtigkeit sind die Volumszunahmen des Unterleibes
eben nur bei normaler oder subnormaler Fettentwicklung im übrigen Körper.
Die Ursachen derselben sind:
Gasentwicklung, Meteorismus, Tympanites. Die Auftreibung kommt
in kurzer Zeit, längstens innerhalb einiger Tage zu Stande, erreicht nie
extreme Grade, wenn sie nicht etwa mit anderen Ursachen combinirt ist;
die Convexität nach vorne ist immer deutlich, der Lateraldurchmesser nur
wenig oder gar nicht vergrössert. Deutet auf verschiedene besonders
catarrhalische Darmerkrankungen, Unwegsamkeit des Darmes, Coprostase
etc. hin.
Weitere Ursachen der allgemeinen Volumszunahme des ganzen Unter-
leibes sind: Ansammlung von Flüssigkeit in Folge von Ex- oder von
Transsudation. Sie deutet mithin bei höherenGraden auf acute oder
chronische Peritonitis, — bloss letztere erreicht Maximalgrade — ;
auf Ascites in Folge von Lebercirrhose, wenn sonst kein Oedem am
Körper bemerkbar; oder Herzklappenfehler, wenn auch mindestens an
den unteren Extremitäten noch Oedem besteht. In seltenen Fällen kann dies
auch bei Lebercirrhose der Fall sein; auf MorbusBrightii, wenn allgemeiner
Hydrops vorhanden. Das Ueberhängen der Bauchwand nach den Seiten oder
nach abwärts deutet auf ungenügende Contraction oder ungenügende Spannung
der Musculatur. Massige Grade von Ascites können bei chronischer Myo-
carditis, bei chronischer Pericarditis, bei Bauchdrüsenscrophulose, manchen
chronischen Milztumoren bei Malaria, Leukämie gefunden werden. Die gering-
sten Grade eben noch erkennbar, kommen in Verbindung mit leichten
Oedemenan anderen Körperstellen, an den Knöcheln, Hand- und Fussrücken
etc., bei allerlei zu Marasmus führenden Erkrankungen vor (Hydrämie, Fett-
und Amyloid- etc. Degenerationen innerer Organe). Nicht selten beruhen grosse
Volumszunahmen auf einer Combination von hochgradigen Organanschwel-
lungen (Leber, Milz) oder Neubildungen mit Ascites. (Vgl. Palpation
und Percussion.)
Eine mehr weniger hochgradige Vorwölbung an begrenzten
Stellen der Unterleibswandungen kommt nicht selten vor, z. B. mitunter
vom rechten Pdppenbogen abwärts auf verschiedene Entfernungen hin, wobei
oft auch schon der untere Theil der Thoraxwand in beliebigem Umfange
merklich nach aussen gedrängt ist und manchmal die Vorwölbung auch nach
links auf variable Entfernung hin übergreift. Die Formanomalie ist in der
PtCgel sofort als auf die pathologisch vergrösserte Leber bezüglich, zu erkennen.
Aehnliche Formanomalien sieht man mitunter links unter dem Eippen-
bogen von der Mittellinie der Seitenwand nach vorne und abwärts bis gegen
den Nabel, auch noch über denselben hinaus sich erstrecken, diese lenkt den
Verdacht in der Eegel auf einen grossen Milztumor.
Eine eben nur angedeutete ganz massige Erhebung unter dem linken
Pdppenbogen, deren untere Grenze die Form der grossen Magencervatur zeigt,
bezieht sich in der Eegel auf den geblähten erweiterten Magen, oder mit-
unter auch auf den nur normale Gasmengen enthaltenden, stark erweiterten,
verdickte Wandungen darbietenden Magen.
Aehnliche partielle Vorwölbungen von minimaler Grösse etwa in der
Nabelregion oder am äusseren Leistenring verrathen sofort Hernien.
UNTERSUCHUNG. 929
An beliebigen anderen Stellen der Bauchwand wird jede Vorwölbung
auf irgend eine Neubildung oder partielle, entzündlich eSch wellung,
sei es in der Bauchwand oder unmittelbar hinter ihr in der Bauchhöhle etc.,
hinweisen.
2. Sehr häufig kommt eine abnorme Volumsabnahme am Unterleib
vor. Der Unterleib erscheint in der Rückenlage neben dem Thorax tief ein-
gesunken, mehr weniger concav, der Durchmesser von vorne nach rückwärts,
besonders in der Nabelgegend, auffallend klein. Es ist eine derartige Volums-
abnahme in der Regel nur eine Theilerscheinung allgemeiner höchstgradiger
Abmagerung; kommt aber mitunter auch bei anhaltender copiöser Darment-
leerung (z. B. Cholera) ohne parallele Abmagerung im übrigen Organismus zu
Stande.
Als eine nur örtliche Vertiefung im Niveau der Bauchwand kann die
sogenannte Diastase derselben in der Mittellinie angeführt werden. Diese
geht in der Regel vom Nabel aus bald nach aufwärts, bald wieder nach ab-
wärts, bald nach beiden Richtungen, stellt eine schmale, höchstens einige cm
breite, verschieden tiefe Spalte in der Bauchwand vor und kann wohl auch
zur Hernienbildung Anlass geben. Die Tiefe der Spalte hängt von der Fett-
lage der Bauchwand ab, ist also bei magern Individuen gering. Sie kommt
zumeist nur bei starkem Panniculus adiposus, besonders bei Weibern, hie und
da in Folge von Schwangerschaften, seltener durch hochgradigen Hydrops Ascites
zu Stande, in letzterem Falle ist sie viel seichter als sonst, infolge dessen oft
mehr für den Tast- als für den Gesichtssinn kenntlich. Im Wesentlichen bezieht
sich die Spalte auf das Auseinanderweichen der beiderseitigen langen, geraden
Bauchmuskeln an ihrer Berührungsstelle., In ganz seltenen Fällen sieht man
Diastasen auch ausserhalb der Mittellinie, ebenso solche in der Mittellinie von
ganz auffälliger, viele cm betragender Breite.
IL Anomalien des Colorüs und sonstiger optischer Eigenschaften der
Bauchwand.
Jene abnormen Färbungen, die auch am übrigen Körper in gleichem
Grade auftreten, z. B. Icterus, cachectische, pyämische, Malaria-, Morbus Ad-
disonii- etc. Farbe beziehen sich selbstverständlich nicht direct auf den Unter-
leib, wenn sie auch zumeist mit Erkrankungen von Unterleibsorganen zusam-
menhängen, wie Leber-, Magen-, Duodenum-, Gallenblase-, Milz-, Nebennieren-
etc. Erkrankungen. Es möge also diese kurze Erwähnung der genannten
Symptome genügen.
Ein für den Unterleib specifisches Symptom bilden gewisse Venen-
erweiterungen (Vgl. ,^Inspection" Bd. II, S. 317), die an der vordem
Bauchwand als verschieden breite und in verschiedenen Richtungen verlau-
fende, blaue Streifen erscheinen. Nur in seltenen Fällen scheinen diese Ve-
nenstreifen mehr weniger regelmässig radiär gegen den Nabel sich zu er-
strecken, um welchen herum sich manchmal wie ein kleiner venöser Ring
bildet, in dem sämmtliche Radien zusammentreffen {Caput medusae). Oefter
sind die Venen nur ganz unregelmässig verbreitet, bilden ein mehr weniger
dichtes Netz über der ganzen Bauchwand oder in seltenen Fällen auch nur
über einer Hälfte derselben. Diese Venennetze an der vordem Bauchwand
sind ein ziemlich verlässliches Zeichen der Lebercirrhose, ohne dass selbe bei
jeder Cirrhose vorhanden sein müssten. Sie bedeuten die Entwicklung eines
Collateralkreislaufes bei Unwegsamkeit der Pfortader in Folge der Cirrhose.
Beim Caput medusae ist es in der Regel die offen gebliebene Vena umbili-
calis, die das Blut der vordem Bauchwand der Mammaria interna zuführt.
(Vgl. Bd. H. S. 317.)
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. HI. Oy
930 UNTERSUCHUNG.
Hielier gehört auch ein gewisser abnormer Glanz der Hautober-
fläche, der sich in der Regel in Folge übermässiger Ausdehnung und Span-
nung der Bauchwand, namentlich an deren grösster Convexität entwickelt.
Als Contrastphänomen hiezu ist die Bauchwand zuweilen wie runzlig
oder auch mit allerlei gröbern und feinern Falten versehen. Es deutet
dies constant auf vorausgegangene mehr weniger starke Ausdehnung und
Spannung derselben durch abnormen Inhalt der Bauchhöhle. Schwindet der
letztere in relativ kurzer Zeit, so legt sich die gedehnte Cutis, da sie nicht
mehr ihre ursprüngliche Elasticität besitzt, in Falten.
Schliesslich gehören hieher auch noch die sogenannten Schwanger-
schaftsnarben an der vorderen Bauchwand von Weibern, die mindestens
eine Schwangerschaft durchgemacht haben. Man sieht eine Anzahl unregelmässig
über die ganze Bauch wand vertheilter, ein bis mehrere cm langer, höchstens
einige mm breiter Streifen, die nicht so sehr durch ihr Colorit, als durch ihren
schwachen Glanz von der übrigen Cutis abstechen und leicht als Narben er-
kannt werden, die von bis ins Corium reichenden Einrissen während der
Ausdehnung der Bauchwand zurückgeblieben sind.
III. Was die mitunter sichtbaren Bewegungen (Vgl. Bd. II, S. 317) an der
vordem Bauchwand anbelangt, so beziehen sich dieselben entweder auf den Herz-
stoss, der bei tiefem Zwerchfellstand durch die Lebermasse hindurch
in der Magengrube die Bauch wand erschüttert; oder tiefer abwärts in der
Medianlinie nicht selten auf die Pulsation der Bauchaorta bei mageren Indi-
viduen; schliesslich beziehen sich manche an verschiedenen Punkten der
Bauchwand sichtbare, in leisen Erhebungen fortschreitende Bewegungen auf die
übermässig angeregte Peristaltik einzelner Darmpartien, z. B. bei intensivem
Darmkatarrh, bei starker Gasansammlung in Folge von partiellem oder tota-
lem Darmverschluss etc.
Wichtiger als all diese Bewegungen sind aber der Brechact (Vomitus),
und das Aufstossen (Ructus). Der erstere besteht bekanntlich in einer hef-
tigen, krampfhaften Contraction der Bauchpresse gleichzeitig mit dem Zwerch-
fell, die noch durch eine antiperistaltische Bewegung des Magens und Oeso-
phagus unterstützt wird, wobei der Mageninhalt mehr weniger vollständig nach
aufwärts durch die Mund-, hie und da sogar durch die Nasenhöhle heraus-
befördert wird. Der Brechact bleibt meist vereinzelt, wiederholt sich aber
doch oft ein-, zwei- oder noch mehreremal, in kleineren circa ^/^stündigen oder
auch grösseren Pausen. Hie und da dauert aber die öftere Wiederholung des
Brechactes einen ganzen oder auch mehrere Tage lang an, ja sogar Wochen
oder Monate lang. Der Brechact ist eine Reflexbewegung, der immer ein Reiz-
zustand gewisser sensitiver Nerven, in erster Linie des Vagus vorausgeht,
w^elcher Reiz immer in höchst unangenehmer Weise als sogenannter Brech-
reiz empfunden wird. (Siehe subjective Symptome.) Der Brechreiz rührt am
häufigsten von allerlei Magenkrankheiten her; in zweiter Linie von Peritoneal-
erkrankungen, in welchem Falle wohl die Splanchnici in erster Reihe den
Brechreiz vermitteln; in dritter Linie sind es Hirnhaut- und Hirnerkrankungen
verschiedener Art, die den Brechreiz hervorrufen, wobei wahrscheinlich immer
der Vagus als Vermittler des Reizes fungirt. Vereinzeltes Erbrechen ent-
steht bekanntlich auch durch jede nachhaltigere Reizung des Rachenraumes
und Schlundes, sei es von aussen her, sei es durch innere Ursachen.
Was den Ructus, das Aufstossen, anbelangt, der auch als rudimentärer
Brechact angesehen werden kann, so kommt derselbe bekanntlich auch im
gesunden Zustande bei Gasbildung oder Zuleitung in den Magen vor. Hie
und da tritt derselbe aber als Krankheitssymptom in sehr lästiger Weise auf,
indem er sich häufig und oft Stunden lang wiederholt. Auch da ist es meist
pathologische Gasentwicklung im Magen, die infolge allerlei sogenannter ner-
vöser Dyspepsien zu Stande kommt, die dem Ructus zu Grunde liegt.
UNTERSUCHUNG. 931
B. Palpatiou des Unterleibs.
Das Palpiren oder Betasten der Körper ist eine verschiedenartige Sinnes-
function, je nachdem was man mit dem Tasten zu erkennen sucht. Im All-
gemeinen gibt es ein oberflächliches Tasten oder Tasten 7.az's;oyY]v, und
ein in die Tiefe Tasten oder, kurz ausgedrückt, ein tiefes Tasten, das
mit Druck und Vermittlung von allerlei räumlichen Wahrnehmun-
gen durch Bewegung des Tastorgans während des Tastens in die Tiefe ver-
bunden sein kann.
/. Oberflächliches Tasten.
Man erkennt mittelst einfachen Tastens: a) Manche Eigenschaften der
Cutisoberfläche, als da sind Temperatur, trockene und feuchte Be-
schaffenheit, glatte oder in verschiedenem Grade rauhe Oberfläche.
h) Gewisse spontane Bewegungen des Bauchhöhleninhaltes; künst-
lich durch Percussion oder sonstige Erschütterung erregte, mehr
weniger wellenförmige Bewegungen desselben; gewisse analoge Molecular-
bewegungen näher der Oberfläche.
Die unter a) angeführten Merkmale erkennt man am sichersten bei
der leisesten Berührung der Cutis ohne jeden Druck, und zwar wenn es sich
um Temperaturwahrnehmung handelt, mit der ganzen Hohlhandfläche, sonst
nur mit den Fingerspitzen, wobei man dieselben höchstens in den kleinsten
Dimensionen der Oberfläche entlang verschiebt.
Von den hiebei zur Wahrnehmung gelangenden Empfindungen ist die
abnorm erhöhte Temperatur nur dann von örtlicher Bedeutung, wenn
sie eben nur an der Bauchwand, sei es an ihrem ganzen Umfang, sei es an
umschriebenen Stellen, bemerkt wird, am übrigen Körper nicht. Sie deutet
dann immer auf einen entzündlichen Process im Innern, der mindestens an
die Wand heranreicht oder gar in dieser selbst localisirt ist.
Abnorme Feuchtigkeit durch Schweissbildung ist immer nur eine
Theilerscheinung allgemeiner Transpiration.
Abnorme Glätte der Cutisoberfläche ist immer mit abnormem Glanz
combinirt, bei extremen Spannungsgraden der Cutis durch Volumszunahme des
ganzen Unterleibs oder auch einzelner Theile desselben. — Hingegen ist
abnorme Rauhigkeit zumeist eine Theilerscheinung allgemeiner
Hautrauhigkeit bei manchen Hautkrankheiten, z. B. Ichthyosis u. a. ähnlichen.
Doch kommt in einzelnen Fällen eine specifische Rauhigkeit der Haut-
oberfläche bloss am Unterleib vor, bei der die Rauhigkeit auffallend weich
empfunden wird, wie etwa beim Sammt. Eine solche sammtweiche Bauchhaut
ist ein charakteristisches Zeichen des Schnapsmissbrauchs.
Was die oben unter h) angeführten Phänomene anbelangt, so
sind:
1. als spontane Bewegungen zu nennen gewisse intensive, an-
dauernde peristaltische Bewegungen, die auch schon als von aussen
sichtbare oben (Unterleib-Inspection III, eben so allg. Inspection Bd. II, S. 317)
erwähnt wurden. — Ferner sind zu nennen mancherlei arterielle Pul-
sationen und systolische Erschütterungen in der Magengrube, die
ebenfalls bereits an oben citirten Stellen genannt waren. — Schliesslich ge-
hört hieher ein mitunter, wenn auch nur selten, über dem Leberrande in ganz
bestimmter Weise erkennbares, dem pleuritischen Reiben ganz ähnliches
Vibrations-Phänomen bei bestehender Perihepatitis. Dasselbe Reiben
ist übrigens auch schon an anderen Stellen der Bauchwand beobachtet worden
Ferner das sogenannte Hydatiden seh wirren, ein mehr continuirliches, gleich-
massiges, sehr feines Vibriren über grösseren Echinococcussäcken Inder Leber,
deren Wand bis an die Oberfläche reicht. Das Schwirren stellt sich nicht blos
59*
932 UNTERSUCHUNG.
beim Anstossen wie die Fluctuation, sondern auch schon bei etwas rascherem
Berühren ein. Ist wohl nur sehr selten.
2. Was die künstlich zu erregenden Bewegungen anbelangt, so
ist einerseits die unter dem Namen Fluctuation bekannte Wellenbewe-
gung in flüssigen Ansammlungen der Bauchhöhle zu nennen; andererseits
das sogenannte Schwappen von Flüssigkeitsansammlungen an beliebigen
Punkten im Innern des Darmkanals, inclusive des Magens.
Die Fluctuation wird am zweckmässigsten angeregt, wenn man auf
einen beliebigen Punkt der Seitentheile der Bauchwand einen massigen
schnellenden Stoss führt; indem man z. B. den Zeigefinger einer Hand ilber
den benachbarten Mittelfinger legt und ihn von dieser Lage auf den bezüg-
lichen Punkt der Bauchwand herabschnellen lässt. Zugleich lege man die
zweite Hand mit ihrer ganzen Hohlfläche an irgend eine Stelle der gegenüber
liegenden Seitenwand lose auf und achte auf die beim Abschnellen des Fin-
gers auftretende Empfindung der Hohlhandfläche. Wird keinerlei specifische
Empfindung wahrgenommen, so verschiebe man die tastende Hohlhand so
lange, bis man nahezu die ganze entsprechende Bauchhälfte betastet hat. Ist
nun in der Bauchhöhle Flüssigkeit in etwas grösserer Menge angesammelt,
so wird man sehr bald an irgend einer Stelle derselben eine specifische Tast-
empfindung wahrnehmen, die ungefähr den Eindruck macht, als würde der
abschnellende Finger selbst gegen die tastende Hand fahren, d. h. die Tast-
empfindung ist deutlich begrenzt auf eine Fläche von der Ausdehnung einer
Fingerfläche. Je mehr Flüssigkeit in der Bauchhöhle, um so deutlicher die
Begrenzung der Tastempfindung, um so leichter die Fluctuation zu erkennen.
Geringe Mengen Flüssigkeit geben keine deutliche Fluctuation. Aber selbst
bei genügender Menge Flüssigkeit kann mitunter die Fluctuationsempfindung
fehlen, wenn z. B. viel Gas in den Gedärmen angesammelt, wenn viel Fett
an den Mesenterien und dem Netz sich befindet, wenn Darmverwachsungen,
Adhäsionen an der Bauchwand bestehen. Eine der Fluctuation ähnliche, selbe
leicht dem Ungeübten vortäuschende Tastempfindung entsteht auch bei hoch-
gradiger Schlafilieit des gesammten durch Fett stark vermehrten Bauchinhaltes
bei gleicher Schlaftheit der gesammten Bauchwand. Doch ist in diesem Falle
die Tastempfindung in der Regel auf eine grössere Fläche zu beziehen und
nicht deutlich begrenzt, sondern verliert sich nach den Seiten hin ins Unbe-
grenzbare.
Die Ursache der hier beschriebenen grosswelligen Fluctuations-
empfindung ist nicht in einer Wellenbewegung in physikalischem Sinne zu
suchen, eine solche kann sich nur in elastischen Medien in der Form von
stehenden Wellen entwickeln, die hauptsächlich durch Reflexion von elastischen
Grenzmedien zu Stande kommen. Bei dem totalen Mangel von Elasticität in
den ganz schlaffen Unterleibsmassen wird der Flüssigkeitsstrahl, den der ab-
schnellende Finger mittelst der eingedrückten Bauchwand in eine bestimmte
Richtung fortschleudert, entweder in gerader Linie an eine gegenüberstehende
Bauchwandpartie anprallen oder durch allerlei in seiner Richtung liegende
festweiche Massen mehr weniger von der ursprünglichen Richtung abgelenkt
und an irgend einer beliebigen anderen Stelle der Bauchwand anprallen, um
daselbst für die tastende Hand die genannte Empfindung herzustellen. Bei
dem Mangel von Elasticität kann dieser Flüssigkeitsstrahl nicht regelrecht
reflectirt werden, sondern fällt gewissermaassen aufgelöst in seine Elementar-
theile nach dem Gesetze der Schwere herab.
Ist aber so viel Flüssigkeit vorhanden, dass die Bauchwand stark ausge-
dehnt und dadurch gespannt, also elastisch wird, dann ändert sich das Ver-
hältnis allerdings dahin ab, dass nunmehr der ursprüngliche Flüssigkeits-
strahl von der elastischen Wand gesetzmässig reflectirt wird und zu stehen-
den Wellen, wenn auch nur kurze Zeit dauernden, führt. Zudem bilden sich
UNTERSUCHUNG. 933
in der gesammten Wand auch selbstständige stehende Wellen, die mit
denen der Flüssigkeit interferiren und so ein complicirtes Bild von oberfläch-
licher Wellenbewegung liefern. In diesem Falle findet die tastende Hand in
der That nicht bloss an einem Punkte, sondern überall an der ganzen Bauch-
wand die sogenannte klein wellige Bewegung. Ueber die Ursachen der
Flüssigkeitsansammlung siehe oben Inspection I, 1.
Das Schwappen wird am leichtesten erzeugt, wenn man alle 4 Finger
einer Hand oder mindestens die 3 längeren an den zu untersuchenden Punkten
der Bauchwand mit den Spitzen senkrecht aufstellt und daselbst unmittelbar
nach einander einige kurze, kräftige Stösse gegen die Tiefe führt. Am häufig-
sten gibt der stark erweiterte, über den Rippenbogen weit nach rechts und
abwärts vorragende Magen Anlass zu dieser Untersuchung; doch kann jedes
beliebige Darmstück ähnlich geprüft werden. Ist in dem von den Stössen
getroffenen Darmstück Flüssigkeit, so geräth dieselbe durch die rasch wieder-
holten Stösse in plätschernde Bewegung, die für die Finger eine leicht erkenn-
bare Empfindung herstellt. Das Vorhandensein der Flüssigkeit deutet, wenn
selbe nicht etwa von aussen eingeführt war. auf intensiven, acuten oder auch
exacerbirenden, chronischen Katarrh des bezüglichen Darmstückes und kann
in abwärts gelegenen Darmstücken etwa links in der Nähe der Flexura
sigmoidea zum Pro'gnosticiren bald zu erwartender wässeriger Entleerung
benützt werden.
//. Tiefes Tasten.
Man erkennt mittelst des tiefen Tastens:
a. Die Consistenz, d. h. den Weichheits- oder Härtegrad, die Ela-
sticität und die Ptesistenz gegen Totalverschiebung, d. i. Eingedrückt-
werden sämmtlicher Schichten der Bauchwand in die Tiefe; eben so die Con-
sistenz, Elasticität und Resistenz verschiedener fester Massen, die
nach innen unmittelbar der Bauchwand anliegen, hier allerdings minder genau
als an den oberflächlichen Schichten; den Umfang, d. i. die Begrenzung
der ersteren mindestens nach einzelnen Richtungen, die räumliche Beschaffen-
heit ihrer Oberfläche, ob diese nämlich eben oder uneben höcke-
rig ist.
h. Das Vorhandensein fester Massen in der Bauchhöhle in mehr
weniger grosser Entfernung von der Bauchwand, dieser also nicht
anliegend, eingehüllt von Eingeweiden oder sonstigen nicht festen Substanzen
z. B. Flüssigkeiten: nicht minder aber auch die Consistenz, Elasticität,
Beweglichkeit, Grösse, Form solcher in der Tiefe aufgefundenen festen
Massen.
a.
Man erkennt die sub a. angeführten Phänomene nicht durch einfaches
Tasten, sondern durch Drucktasten oder palpatorischen Druck. Selbstverständ-
lich ist dieser nur da anwendbar, wo er keine Schmerzen veranlasst. Um
ihn auszuführen, legt man die Fingerspitzen wie beim einfachen Tasten an
die zu untersuchende Stelle der Bauchwand, übt aber einen nach Bedarf all-
mälig sich steigernden Druck mittelst der tastenden Finger aus. Infolge des
Druckes werden die Fingerspitzen verschieden leicht und tief in die berührten
Gewebsmassen, Cutis, subcutane Gewebe etc. eindringen, eine Vertiefung er-
zeugen, die nach Form und Grösse mehr weniger genau den Fingerspitzen ent-
spricht, die seitliche Umgebung der von den Fingerspitzen berührten Flächen
nur in ganz minimalem, aber doch variablem Grade tangirt. Bei diesem Ein-
dringen der Fingerspitzen in die betasteten Massen erkennt man vor Allem
die Consistenz dieser Gewebe. Der Druck, den die Finger auf selbe aus-
üben, erzeugt auf die Gewebe dieser Finger einen Gegendruck, der successive
die CutiS; das subcutane Bindegewebe, wohl auch das Periost derselben com-
934 UNTERSUCHUNG.
primirt, ihre sensitiven Nerven erregt und die Empfindung des Druckes her-
vorruft. Neben der Druckempfindung, mag sie noch so intensiv sein, bleibt
die Tastempfindung unverändert fortbestehen, kann unter Umständen auch
eine neue Tastempfindung entstehen, wie wir später sehen werden. Schon
hieraus ergibt sich die physiologische Thatsache, dass die Druckempfindung
nicht durch dieselben Nerven vermittelt wird, wie die specifische Tastempfin-
dung. Der Grad der Druckempfindung, der bei dem Eindringen der Finger-
spitzen in die Gewebsmassen sich entwickelt, ist der Maassstab für die Weich-
heit oder Härte dieser Gewebe.
Das Eindringen der Fingerspitzen in die Gewebsmassen muss nicht etwa
erst mit dem Auge controlirt werden, sondern wird auch unmittelbar als Tast-
empfindung wahrgenommen, es gelangen nämlich um so mehr neue Punkte
der seitlichen Cutis der Fingerspitze zur Berührung mit der betasteten Masse,
je tiefer die Finger in dieselbe eingedrungen, und so entstehen mit dem
Tieferdringen immer neue Tastempfindungen.
Erst wenn die eng begrenzte, örtliche Vertiefung infolge des Finger-
druckes ein gewisses Maximum erreicht hat, beginnt bei weiterer Steigerung
des Druckes die eingedrückte Stelle einen Zug auf ihre seitliche Umgebung
auszuüben und selbe auch in die Tiefe zu ziehen, so dass sich dann eine
immer weiter ausgreifende Vertiefung der ganzen Bauchwand bildet. Diese
Verschiebung der Gesammtbauchwand wird um so leichter erfolgen, je weniger
letztere gespannt war. Die Resistenz gegen das Eingedrücktwerden wird
nur zum geringern Theile nach der Druckempfindung beurtheilt, weil diese
bei höheren Graden nicht leicht differenzirbar ist, zum grössern Theile wird
jene Resistenz nach dem Aufwand an Muskelkraft beurtheilt, welcher zur
Ueberwindung derselben nothwendig ist.
Sind nun die verschiedenen Schichten der Bauchwand und der ihr un-
mittelbar anliegenden anderen Stoffmassen von verschiedener Consistenz, so
muss das bei aufmerksamer langsamer Steigerung des Druckes dadurch zur
Wahrnehmung gelangen, dass das einige Zeit hindurch in willkürlicher Weise
geregelte Vordringen des Fingers in die Tiefe plötzlich ohne jede willkürliche
Einflussnahme gehemmt oder erleichtert wird, und nunmehr die Regelung des
Druckes zum Weitervordringen anders stattfinden muss, als bis dahin. Ist
man in einiger Tiefe auf resistentere Massen gestossen, so kann man durch
planmässige Aenderung der Druckstelle, indem man die Finger auf immer
neuere benachbarte Punkte aufsetzt und die neue Schichte in der Tiefe auf-
sucht, bald erkennen, ob das Niveau derselben überall dasselbe oder aber
stellenweise höher, stellenweise tiefer, also höckerig ist. Besonders wird diese
Unterscheidung erleichtert, wenn man mit mehreren Fingern gleichzeitig an
neben einander gelegenen Stellen untersucht; oder, wo dies möglich ist, einen
Finger während des Drucktastens nach verschiedenen Richtungen vorschiebt.
Auf dieselbe Weise kann man auch die Grenzen der resistenten tieferen
Schichten nach einzelnen Richtungen bestimmen.
Schon beim Prüfen der Consistenz mittelst Drucktastens wird man bei
einiger Aufmerksamkeit auch die Elasticität der bezüglichen Schichten
erkennen und mehr weniger genau differenziren können, selbstverständlich
ohne Zuhilfenahme des Gesichtssinnes. Ist nämlich der tastend-drückende
Finger in die Gewebsmassen eingedrungen, hat er an ihnen eine Vertiefung
erzeugt, so wird diese im Momente, wo der Druck aufhört, um so schneller
und um so vollständiger in die ursprüngliche Lage emporschnellen, je ela-
stischer die bezüglichen Gewebe; und umgekehrt wird die erzeugte Vertiefung
sich nach aufgehobenem Druck um so weniger ändern, je weniger elastisch
die Gewebe. Der in der Vertiefung ruhende Finger wird nun bei elastischen
Medien auch nach gänzlichem Aufheben des Druckes die Tastempfindung
unverändert behalten, auch wenn derselbe aus der Vertiefung langsam empor-
UNTERSUCHUNG. 935
gehoben wird, weil durch dieses Emporheben der Contact des Tastorgans mit
dem Betasteten infolge der raschen Erhebung des letzteren nicht unterbrochen
wird, während bei nicht elastischen Medien der Contact zwischen Tastorgan
und Betastetem in dem Momente aufhört, in dem man das erstere, wenn auch
noch so minimal, emporhebt, da ihm das letztere hiebei nicht folgt. Folglich
hört auch die Tastempfindung in demselben Momente auf. War der Finger
in die nicht elastische Masse tief eingedrungen, so wird bei langsamem Em-
porheben desselben zunächst der Contact mit der Volarfläche des Fingers
aufhören, während der der schmalen Randflächen noch fortbesteht und erst
bei vollständigem Herausheben des Fingers aus der Vertiefung auch allmälig
unterbrochen wird. Diesem Verhältnis entspricht denn auch vollständig die
Tastempfindung während des langsamen Heraushebens des Fingers. Erst
schwindet dieselbe an der Volarfläche und dann erst allmälig an den Rand-
flächen. Bemerkt sei hier noch, dass die Form der Vertiefung, die der Finger
in den Geweben bewirkt, durch die Dehnbarkeit der Oberflächenschichte der
diesbezüglichen Massen bestimmt wird. Je weniger dehnbar dieselben, um so
weiter greift die Vertiefung von der Druckstelle gegen die Seiten hin rings-
herum aus, so dass die Wände der Vertiefung um so schräger abfallen,
während bei hochgradiger Dehnbarkeit das Ausgreifen der Vertiefung viel
weniger weit reicht, so dass die Wände der Vertiefung umso steiler abfallen.
Auch dieses Verhältnis erkennt der tastende Finger leicht daran, dass die
Tastempfindung an den Randflächen des tastenden Fingers umso langsamer
emporsteigt, je weniger dehnbar, und umso schneller, je dehnbarer die Ober-
flächenschichte ist. Die grössere Dehnbarkeit einer Stoffschichte ist zumeist
combinirt mit verminderter, die geringere Dehnbarkeit mit vermehrter Ela-
sticität.
1. Die hier im normalen Zustande in Betracht kommenden Schichten
der Bauch wand sind: die Cutis, das subcutane Binde- und Fett-
gewebe, die Muskeln.
Nach innen wird die Muskelschichte nur vorne rechts, unter dem Rippen-
bogen vom Leberrand, rückwärts zu beiden Seiten der Wirbelsäule, unter der
letzten Rippe von den Nieren, sonst allenthalben von Eingeweiden begrenzt.
Die Consistenz der normalen Cutis, Bindegewebs- und Fettschichte ist
constant, erstere bekanntlich wesentlich grösser als letztere. Die Consistenz
der Muskeln variirt nach dem Contractionsgrade derselben.
Die Resistenz gegen das Eindrücken geht zumeist von der Muskel-
schichte als Folge ihrer Contraction oder passiven Spannung aus. Aber
immerhin spielt hiebei auch die Consistenz und das Volumen des Bauch-
höhleninhaltes eine wesentliche Rolle. Je mehr Gase im Unterleib, desto
geringer die Resistenz der Bauchwand. — Bei vollständigem Gasmangel steht
die Resistenz der Bauchwand in geradem Verhältnis zur Consistenz und dem
Volumen der ihr anliegenden Schichte des Bauchhöhlen-Inhaltes. Ausserdem ist
das Volumen des ganzen Bauchinhaltes insofern von Einfluss auf die Resistenz, als
bei abnormem Anwachsen desselben selbst eine passive Spannung der Bauch-
wandmusculatur zu Stande kömmt, die deren Resistenz ebenso steigert wie
ihre Contraction. — Ueber dem Leberrande trägt die jedenfalls consisten-
tere Lebermasse zur Steigerung der Resistenz mehr weniger bei. Eben
durch diese gesteigerte Resistenz lässt sich der Leberrand bei einiger Uebung
fast ausnahmslos seiner ganzen Länge nach, soweit er nicht von Skelettheilen
bedeckt ist, mit dem tastend drückenden Finger umschreiben. Und zwar am
zweckmässigsten nach der oben angegebenen Methode, Hat man mit dem
tastend drückenden Finger am Rippenbogen, etwa in der ParaSternallinie die
Leberresistenz deutlich erkannt, so verschiebe man denselben bei anhaltendem
Druck allmälig nach abwärts. Hiebei wird man früher oder später den freien
936 UNTERSUCHUNG.
Rand daran erkennen, dass der Finger über denselben bald in massig ein-
gebogenem Zustaade, wie über eine leiclit convexe Fläche, bald aber auch
wie über eine Ebene hinweg, gewissermaassen plötzlich in die Tiefe gleitet,
wobei die Resistenz sich sofort vermindert. Dieser Befund ist dem ganzen
Rande entlang, eben so wie in der ParaSternallinie in der grossen Mehrzahl
der Fälle sicher zu constatiren; höchstens über dem Rectus abdominis zu-
weilen erschwert.
2. Als Anomalien bezüglich der eben genannten Thatsachen kommen
vor, zunächst bezüglich der Consistenz und Elasticität:
a) Auffällige Zunahme der Consistenz der Bauch wand in so hohem
Grade, dass man dieselbe als „bretthart" zu bezeichnen pflegt. Kommt am
ehesten bei Scorbut gleichzeitig mit ähnlicher Consistenzzunahme an anderen
Körpertheilen, speciell den untern Extremitäten vor, ist bedingt durch Blut-
erguss in die Gewebe. Aehnliche Consistenzzunahme der Bauchwand kann
auch bei Bleicolik als Folge von Muskelkrampf beobachtet werden. Auch bei
mancher Peritonitis kann man in den ersten Tagen Aehnliches beobachten,
offenbar wieder als Reflexkrampf. Aber selbst bei manchen sonst gesunden
Individuen kann man eine solche Erstarrung der Bauchwand schon bei ein-
facher, leiser Berührung derselben, die dann von dem Individuum als Kitzel
empfunden wird, beobachten.
ß) Verminderung der Consistenz und Elasticität der Cutis
und der subcutanen Gewebe, die mit mehr weniger Schwellung derselben ver-
bunden ist. Bei höherem Grade dieses Symptoms erscheinen die genannten
Gewebe teigig weich. Die Ursache desselben ist immer Oedem, welches
zumeist eine Theilerscheinung von allgemeinem Hydrops ist. — Immer ist
mit dem Oedem der Bauch wand massige Volumszunahme des Unterleibs
corabinirt. Steigert sich die Volumszunahme in hohem Grade, so schwindet
das Oedem infolge der Spannung der Cutis fast vollständig, bleibt auf kleinere
minder gespannte Partien beschränkt.
7) Verminderung der Muskelcontraction bis zum gänzlichen
Fehlen derselben. Ist besonders dann auffällig, wenn starke Volumszunahme
des Unterleibs bestanden hat, besonders durch Fettansammlung, und das Fett
nun rasch zu schwinden beginnt. Da wird in einem gewissen Stadium der
Fettabnahme die ganze Bauchwand so schlaff und sammt dem Bauchhöhleu-
inhalt so leicht bevfeglich, dass man mitunter den ganzen Inhalt für Flüssig-
keit halten könnte. — War statt Fett flüssiger Erguss die Ursache der Volums-
zunahme, so ist bei rascherem Schwinden der Flüssigkeit dasselbe Phänomen
vorhanden. Offenbar wurden hier die Muskelfasern durch die starke Span-
nung derart geschwächt, dass sie sich nun nicht mehr auf ihre normale Aus-
dehnung contrahiren können.
Als Anomalien bezüglich der Resistenz können angeführt werden:
a) Ausbreitung der vermehrten Resistenz der Leber-
gegend sowohl nach links als auch nach abwärts in verschieden hohem
Grade. Bei sehr hohen Graden reicht dieselbe bis unter die Nabelgegend
und nach links bis an die Verlängerung der Mamillarlinie oder gar über
diese hinaus. Dabei ist das Unterleibsvolumen immer mehr weniger ver-
grössert, entweder in toto oder mindestens über der abnorm resistirenden
Masse. — Man fühlt die Consistenz, die Oberflächenbeschaffenheit derselben
in der Regel um so leichter durch, als die Bauch wand durch die Volums -
zunähme ausgedehnt, dünner, die Muskelschichte schlaff ist. Die Oberfläche
der resistirenden Masse ist bald glatt, bald aber mehr weniger höckerig. —
Immer handelt es sich um pathologische Vergrösserung der Leber: durch
interstitielle Entzündung, venöse Stauungen, Fett-, Amyloid- und ähnliche
Degenerationen, primären oder secundären Krebs. Letztere veranlassen oft
höckerige Beschaffenheit der Oberfläche. — Bei geringerer Ausbreitung der
UNTERSUCHUNG. 937
Fläche nach, hingegen stärkerer Prominenz, kann die resistirende Masse auf
einen Echinococcussack in der Leber hinweisen, der dann einmal an der etwas
grösseren Consistenz, ein anderesmal an nachweisbarer Fluctuation, in ganz
seltenen Fällen an dem sogenannten Hydatidenschwirren (Vgl. oben tastbare
Oberflächenphänomene) leicht erkannt werden kann.
ß) Aultreten analoger, hinter der Bauch wand zu constatirender
vermehrter Resistenz an verschiedenen anderen Punkten
ausser der Leberregion. Als hieher gehörig ist anzuführen:
Links unter der normalen Magen- und Milzgegeud erstreckt sich mit-
unter als resistenter Tumor die abnorm vergrösserte Milz unter dem
seitlichen und vorderen Rippenbogen nach vorne und abwärts in verschiedener
Ausdehnung, in maximo sogar bis über die Mittellinie, ziemlich weit über
den Nabel und nach abwärts bis in die Nähe der Spina anterior superior os-
sis ilei. Sie bedingt öfter auch bedeutende Volumszunahme des Unterleibes
schon vermöge des fast nie fehlenden Ascites (bei Malaria, Leukämie).
Rechts unten über der Fossa iliaca ist nicht selten eine abnorme Tiefen-
resistenz, allerdings nur von geringerer Ausdehnung, zu finden, bedingt durch
Exsudatbildung bei Perityphlitis. (Vergl. subjective Empfindungen.}
Unter der normalen Magengegend findet sich hie und da eine unter
dem Rippenbogen mehr weniger weit nach abwärts und gegen die Mittellinie
reichende, nur massig resistirende, elastisch-weiche Masse, die dem erweiter-
ten, in seinen Wandungen entweder nur einfach verdickten (bei man-
chem chronischen Katarrh) oder carcinomatös infiltrirten Magen
entspricht.
In ganz seltenen Phallen erfüllt eine intensive Resistenz ein ganzes
Hypochondrium bald rechts bald links. Dieselbe reicht in extremen Fällen
von der Wirbelsäule und der letzten Rippe nach vorne bis an die Fortsetzung
der Mamillarlinie und darüber hinaus, nach abwärts nahe an den Hüftbein-
kamm bei Hydronephrose, mancherlei Neubildungen in einer Niere.
An beliebigen Punkten der Bauchwand kann eine circumscripte Resistenz
von verschiedener Ausdehnung vorgefunden werden bei einfacher Copro-
stase, bei circumscripter Peritonitis.
Schliesslich sei auch noch erwähnt, dass manche ursprünglich aus der
Tiefe aufsteigenden Geschwülste in Folge ihres Wachsthums früher oder
später bis an die Bauchwand heranreichen können und dann ebenso direct
durch dieselbe tastbar werden, wie die oben genannten Tumores.
b.
Was die oben sub h. angeführten Phänomene, namentlich der Bauchwand
nicht anliegende feste Massen der Bauchhöhle und deren Eigenschaften
anbelangt, so ist über das Auffinden derselben Folgendes zu sagen.
Man wendet auch hiebei das Drucktasten an, steigert dasselbe aber in
viel höherem Grade, als in den früher besprochenen Fällen, sucht namentlich
die ganze Bauchwand möglichst weit in die Tiefe zu drücken. Man wendet
hiebei immer mehrere Finger einer Hand an und unterstützt die Untersu-
chung auch noch mit der zweiten Hand, indem man mit dieser an verschie-
denen Punkten der Bauchwand eine Art Gegendruck ausübt, man sucht
gewissermaassen den fraglichen Bauchinhalt gegen die tastend drückenden
Finger hinzudrängen. Hiebei wird man nun mitunter in verschiedener
Tiefe, wenn man die Finger nach den verschiedensten Richtungen hinlenkt
und sie vorzuschieben sucht, ganz plötzlich eine neue Tastempfindung, bald
wie aus der Tiefe herauf, bald wieder wie von einer Seite her empfangen,
trotzdem der tastende Finger unter einem starken, palpatorischen Druck
steht. Verfolgt man nun die neue Tastempfindung weiter, so erkennt
man bald, dass man es mit irgend einer neuen, mehr weniger consisten-
938 üNTEßSüCHUNa.
ten Masse zu thim hat, die man in ähnlicher Weise, wie die der Bauch-
wand^ unmittelbar anliegenden, weiter prüft. Zunächst wird man die Be-
weglichkeit der Masse durch gesteigerten Druck nach den verschieden-
sten Kichtungen beobachten, indem man darauf achtet, ob sie überhaupt,
und nach weichen Richtungen hin am leichtesten dem Druck ausweicht.
Ferner wird man ihre Begrenzung nach jenen Richtungen, nach welchen
es möglich ist, zu constatiren suchen, eventuell auch noch auf den Grad
ihrer Consistenz, Elasticität, Oberflächenbeschaffenheit achten.
Bei dieser Untersuchung leistet allerdings starke Spannung der Bauch-
wand, besonders durch Fettansammlung, aber auch solche durch beliebige
andere Ursachen, sehr grossen, nicht selten ganz unüberwindlichen Widerstand.
Man sucht diesen Widerstand - zu vermindern schon durch die zweckmässige
Lagerung des Kranken, die in der Mehrzahl in der Rückenlage mit an-
gezogenen Schenkeln, möglichst nach vorne gebeugtem Kopf und Rumpf
besteht. Aber auch kräftige Evacuationen des Darmcanals, warme Bäder
können eine gewisse Erleichterung der Untersuchung bewirken, wo man es
blos mit Fettansammlung zu thun hat.
Auf solche Art können sogar die Nieren, mindestens bei muskelschwachen,
mageren Individuen von vorne her nicht selten betastet werden. Man lässt
das betreffende Individuum die Rücken- oder auch die entgegengesetzte
Seitenlage zu jener Seite, an welcher untersucht werden soll, einnehmen,
Oberschenkel stark anziehen, Kopf und Rumpf möglichst nach vorne beugen.
Nun drückt man mit den Fingern einer Hand über dem Muse, quadratus
lumborum in der Nähe der letzten Rippe stark in die Tiefe, lässt die Finger
der anderen Hand zu gleicher Zeit vorne in der Mitte des Rippenbogens
einwärts in der Richtung gegen die Finger der zweiten Hand vordringen,
lässt ferner den Untersuchten während der Untersuchung wiederholt tief
athmen. Hiebei wird man nun selbst gesunde Nieren, besonders bei Weibern,
hie und da recht deutlich, öfter aber mindestens undeutlich wahrnehmen.
Bei Männern wohl seltener. Hingegen wird man pathologisch vergrösserte
oder dislocirte Nieren zumeist gut wahrnehmen.
Als pathologische Gebilde, die durch das Drucktasten in die Tiefe con-
statirt werden können, sind anzuführen:
die soeben genannten, beweglichen Nieren im seitlichen Theil
des Epigastriums bald rechts bald links an beliebigen Punkten. Sie werden
als leicht bewegliche, jedem Druck leicht ausweichende, die Nierenform zumeist
prägnant darbietende Geschwülste erkannt;
in der Gallenblasengegend, mitunter die stark vergrösserte, gefüllte
Gallenblase als mehr weniger birnförmige Geschwulst;
unweit der Gallenblasengegend, an verschiedenen Punkten einer über
Handteller grossen Fläche zwischen Mittellinie, rechten Rippenbogen und einer
transversalen Nabellinie, hie und da der durch Narben oder Carcinom
verdickte Pylorus in der Regel als leicht beweglicher, circa apfelgrosser
Tumor ;
rechts unter dem Leberrand in ganz seltenen Fällen ein mit letzterem
zusammenhängender Tumor, bestehend aus einem abgeschnürten Lappen
der sonst normalen Leber;
in der Mitte der Bauchwand um den Nabel herum, aber auch an
anderen Stellen, erscheint zuweilen eine elastisch-weiche, mehr weniger be-
wegliche, Kindskopf- oder auch darüber grosse Geschwulst, die man um so
sicherer als Convolut von verklebten Darmschlingen erkennt, je
mehr auch andere Zeichen einer bestehenden Peritonitis vorliegen;
im unteren Abschnitt der Bauchhöhle kommt eine grössere Anzahl ver-
schiedenartiger Geschwulstbildungen vor, die theils aus der Beckenhöhle
emporsteigen, theils in der Bauchhöhle selbst ihren Ausgangspunkt haben.
UNTERSUCHUNG. 939
Am häufigsten sind unter diesen die Cysten bei Weibern, vorwiegend von
den Ovarien ausgehend; Fibrome, Myome, oft vom Uterus und seinen
Adnexis; Sarcome, Carcinome, Cystosarcome, Cystocarcinome etc.
von beliebigen Punkten der Unterleibshöhlen. Viele dieser Geschwulstarten
füllen in Folge ihres stetigen Wachsthums die ganze Bauchhöhle aus, dehnen
sogar die Bauchwand in hohem Grade aus und präsentiren sich dann als
direct der Bauchwand allenthalben anliegende Massen. (Vergl. Percussion);
schliesslich mag hier noch der ums vielfache vergrösserten Harnbluse
Erwähnung geschehen, die gefüllt als halbkugelige oder halbellipsoidische,
mitunter ziemlich derb resistent anzufühlende Geschwulst über die Symphyse
emporsteigt, nicht selten sogar bis in die Nähe des Nabels hinanreicht. Die
Resistenz derselben rührt zumeist von einer hochgradigen Verdickung ihrer
Wände in Folge chronischer Cystitis oder carcinomatöser Degeneration her,
während ihre Volumszunahme auf eine mangelhafte Entleerung ihres Inhaltes
infolge von Degeneration ihrer Muskelschichte oder Lähmung derselben
zurückzuführen ist. Die letzte Ursache solcher Blasenleiden pflegt oft rein
mechanischer Natur zu sein. Prostatahypertrophie, besonders bei älteren
Männern, Harnröhrenstricturen, Steinbildungen in der Blase; ausserdem sind
es Nerven-, speciell Rückenmarksleiden, die nicht selten Lähmungen ver-
ursachen; hie und da treten derartige Lähmungen während allerlei schwerer
toxischer, fieberhafter Krankheiten, z. B. Typhus etc. allerdings nur vorüber-
gehend auf.
Ueber die bei den verschiedenen Formen der Palpation auftretenden
subjectiven Erscheinungen siehe Absatz E.
C. Percussion.
Was die Technik dieser Methode, die physikalische Analyse und all-
gemeine Semiotik des Percussionsschalles anbelangt, muss auf die specielle
Abhandlung über Percussion (Bd. III, p. 182) verwiesen werden, woselbst
auch schon der specielle diagnostische Befund für den Thorax angegeben ist.
Hier handelt es sich nur um den speciellen diagnostischen Befund am Unter-
leib. Dieser setzt sich aus einem normalen und aus einem abnor-
men oder pathologischen Percussionsbefund am Unterleib zusammen;
da der letztere sich nur bei sehr genauer Kenntnis des ersteren constati-
ren lässt.
I. Der normale Percussionsschall.
Der normale Percussionsbefund bezieht sich einerseits auf be-
stimmte, in der Bauchhöhle liegende Organe von constanter oder doch nahezu
constanter Lage, Grösse und Form und andererseits auf den gesammten
Darmtractus, dessen Lage, Dimensionen, Form und Inhalt ununterbrochenen
Variationen unterworfen sind. Zu den ersteren Organen kann man rechnen
Leber und Milz, aber auch Magen- und Harnblase, welch letztere allerdings
ihren Inhalt und theilweise ihre Dimensionen auch ändern, jedoch geschieht
dies in regelmässiger, im Vorhinein bekannter Weise.
1. Der Percussionsbefund der Leberregion gibt Aufschluss über die Pro-
jection der Lebercontouren auf die Aussenfläche des Körpers und wenigstens
annähernd auch über die Dicke der Leber in der Nähe ihrer Ränder. Aus
beiden Daten lässt sich die Gesammtmasse der Leber für diagnostische
Zwecke hinreichend genau abschätzen. Man erhält die Contouren der äussern
Projection, wenn man vor Allem den höchsten Punkt, bis zu dem die
Leber in der Zwerchfellwölbung emporragt, aussen am Thorax bezeichnet.
Ganz genau ist dieser Punkt wegen der Dicke der Lungenschichte wohl nicht
zu bestimmen. In -Wirklichkeit dürfte derselbe zumeist V2 — 1 ^^ höher
fallen, als die Percussion anzeigt. Da die Leber von rechts nach links allent-
940 UNTERSUCHUNG.
halben gleich hoch emporragt im normalen Zustande, so genügt es, diese
Höhe an einem einzigen, beliebig gewählten Punkte, z. B. rechts in der Para-
sternallinie festzustellen und durch den gefundenen Punkt genau transver-
sal eine Linie über die vordere und beiden seitlichen Thoraxflächen zu zie-
hen, um damit die obere Grenze der fraglichen Contouren festzustellen.
Nun sucht man den gut zugänglichen unteren Rand durch eine entspre-
chende Linie sichtbar zu machen; man sucht zu dem Zweck den untern E,and
durch exacte Percussion an einer beliebigen Anzahl von Punkten auf (in
der Regel genügen 3 — 4 solche Punkte, z. B. im Parasternal- und Sternalraum
rechts und Parasternal- eventuell auch noch Mamillarraum links; hier ist
der unvermeidliche Percussionsfehler schon viel geringer als an der obern
Grenze, übersteigt nicht 1—3^ mm. Die gefundenen Punkte macht man nun
durch beliebige Zeichen aussen kenntlich, verbindet die 3 — 4 Zeichen durch
Linien zu einer einzigen krummen, unregelmässigen Linie. Die letzte dieser
linksseitigen Linien verlängert man derart, dass sie sich mit der zuerst gezo-
genen Transversallinie schneidet, die erste rechtsseitige Linie hingegen verlän-
gert man parallel zur erstgezogenen oberen Transversallinie über die rechte
Seitenwand bis an die hintere Thoraxkante und verbindet schliesslich die
Endpunkte der beiden Transversallinien an der Seitenwand durch eine der
Thoraxkante entlang gezogene Verticallinie. So entsteht eine geschlossene
Fläche aussen, die eben als Projectionsfläche der ganzen Leber gelten kann.
Kennt man diese Fläche nach ihren durchschnittlichen Maassen im normalen
Zustande, so kann man jede neu gefundene danach beurtheilen, ob sie normal
sei oder nicht.
Der obere Grenzpunkt der Leber-Projection fällt nun durchschnittlich im
Parasternalraum auf die 5. Rippe, bald etwas über, bald wieder unter dieselbe,
sie wird durch die eben beginnende Abnahme des Percussionsschalles von
oben nach abwärts angezeigt; in derselben Höhe läuft nun auch die obere
Grenzlinie. Der untere Rand ist ebenfalls im Parasternalraum circa 2 — 5 cm
unter dem Rippenbogen, im Sternal- und linksseitigen Parasternalraum je um
1 — 2 cm höher zu finden; die entsprechenden Punkte werden bei sorgfältiger
Percussion durch das gänzliche Wegfallen der Dämpfung von oben nach ab-
wärts angezeigt. Der letzte linksseitige Grenzpunkt der Dämpfung fällt
nicht mehr unter den Rippenbogen, sondern auf die linke Thoraxhälfte,
und wird zweckmässiger durch Percussion von rechts nach links in be-
liebiger Höhe z. B. in der Höhe des 6. — 7. Rippenknorpels gesucht, anstatt
wie bei den früheren Punkten von oben nach unten. Dieser letzte Grenz-
punkt nach links fällt nun im Allgemeinen in der bezeichneten Höhe in den
Parasternalraum. {Vergl. die Farbendrucktafel Bd. I, pag. 224.)
Athmet der zu Untersuchende während des Percutirens recht tief ein,
so merkt man leicht, wie die Dämpfungsgrenze während des Einathmens
mehr weniger tiefer rückt, beim Ausathmen wieder zurückkehrt an die ur-
sprüngliche Stelle. Der Grad dieser Grenzverschiebung ist bei verschiedenen
Individuen auffällig verschieden. — Mit der Verschiebung der obern Dämpfungs-
grenze entsteht wohl auch eine Verschiebung des untern Leberrandes nach
abwärts, doch ist diese immer geringer als die erstere.
Was die Dicke der Leber in der Nähe der Ränder anbelangt, so lässt
sich dieselbe nach dem Grade der Dämpfung bei genügender Uebung leicht
beurtheilen.
Die Dämpfung beginnt bekanntlich an der 5. Rippe, ist aber nur par-
tiell oder relativ, d. h. es ist noch deutlicher Luft-, respective Lungenschall,
aber ein wesentlich schwächerer als höher oben zu hören. Diese partielle
Dämpfung geht an und unter der 6. Rippe in eine totale oder absolute über,
d. h. man hört gar keinen Luftschall mehr, sondern nur einen matten. In
der Nähe des Rippenbogens oder unter demselben hört man aber schon
UNTERSUCHUNG. 941
wieder einen mehr weniger stark gedämpften, annähernd tympanitischen Schall.
Die Dämpfung dieses Schalles Avird nach abwärts immer geringer, der tym-
panitische Schall wird immer lauter und deutlicher tympanitisch, bis er endlich
jenes Maximum erreicht, das er über der sonstigen Bauchwand zu haben
pflegt. Je nach der Dicke des Leberrandes reicht nun die Totaldämpfung
tiefer oder minder tief herab, und ist der als gedämpft zu hörende tympani-
tische Schall eben mehr oder weniger gedämpft. Hat man einmal durch
längere Uebung den durchschnittlichen Grad der Dämpfung im normalen
Zustande kennen gelernt, so ward man jede diesbezügliche Anomalie leicht
erkennen. So wie es sich im Parasternalraum verhält, ebenso verhält es
sich auch dem ganzen Leberrand entlang, überall folgt von oben nach ab-
wärts oder am Ende des linken Lappens von rechts nach links auf eine to-
tale zunächst eine partielle Dämpfung und erst auf diese der gar nicht ge-
dämpfte Normal-Schall.
Allerdings muss hiebei auch noch bemerkt werden, dass der Grad der
Dämpfung ausser von der Dicke der Leber doch auch noch von dem Gas-
gehalt der unter ihr liegenden Eingeweide abhängt. Je grösser dieser Gas-
gehalt ist, um so dicker musste die Lebermasse w^erden, um eine gleich
starke Dämpfung zu erzeugen, oder mit anderen Worten, dass bei gleich dicker
Lebermasse der Percussionsschall einmal mehr einmal weniger gedämpft erscheinen
kann, je nach dem Gasgehalt der Eingeweide. Man muss demnach immer
voraussetzen können, der Gasgehalt sei ein normaler, was man bei wieder-
holter Untersuchung des ganzen Unterleibes bald in verlässlicher Weise wird
constatiren können. Ist der Gasgehalt factisch über die Norm angewachsen,
dann ist es besser, das percussorische Urtheil über die Dicke der Leber so
lange zu suspendiren, bis derselbe wieder normal geworden ist. Die Beur-
theilung der Dicke des Leberrandes ist schon deshalb wichtig, w^eil jede Vo-
lumszunahme der Leber ganz besonders an den Rändern auffallend wird.
2. Der Percussionsbefund der Magenregion lässt sich am zweckmässigsten
durch die Fixirung eines grössten, transversalen, von rechts nach links gehenden,
und eines grössten, verticalen oder Höhendurchmessers, der von oben nach
abwärts geht, für die Magentonregion kenntlich machen, von einer Zeichnung
der Gesammtcontouren kann man wohl absehen. Man beginne die Trans-
versal-Percussion in der Höhe der beginnenden totalen Leber-Dämpfung etwa
am rechten Sternalrand, gehe von da nach links vor. Man findet hiebei, dass
der tympanitische Magenton als gedämpfter, durchschnittlich am linken Sternal-
rand beginnt, im linken Parasternalraum in einen nicht mehr gedämpften, meist
exquisiten, mindestens aber annähernd tympanitischen Schall übergeht, der sich
transversal bis an die Mittellinie der linken Thorax-Seitenwand oder auch
noch etwas darüber hinaus verfolgen lässt. Die Vertical-Percussion beginnt man
etwa in der Mamillarlinie oder neben derselben nach einwärts in der Höhe
der 5. Pdppe, geht genau in verticaler Richtung nach abwärts gegen den
Rippenbogen. Man findet hiebei gewöhnlich schon an der 6. Rippe einen
annähernd tympanitischen Schall, der an der 7. Rippe zumeist exquisit
tympanitisch wird und als solcher bis an den Rippenbogen reicht. Dieser
Befund bezieht sich auf den leeren oder nur sehr wenig lugesta enthaltenden
Magen und auf auch sonst, abgesehen vom Magen selbst, ganz normale Ver-
hältnisse seiner Umgebung.
3. Der Percussionsbefund der Milzregion bezieht sich nur auf den vor-
dem Theil der Milz, etwa jenen, der vor der Mittellinie der Thorax- Seitenw^and
liegt. Man kann auch diesen am zweckmässigsten durch einen verticalen und
einen transversalen Dämpfungsdurchmesser zur Anschauung bringen. Man
beginnt die Percussion bei rechter Seitenlage des zu Untersuchenden in oder
gleich hinter der Mittellinie der linken Seitenwand etwa in der Brustwarzen-
höhe, percutirt vertical abwärts gegen den Rippenbogen. Hiebei findet man
942 UNTERSUCHUNG.
ungefähr in der Gegend der 7. Rippe eine massige Abschwäcliung des Schalles,
keine totale Dämpfung, die sich auf cca. 2 übereinanderliegende Plessi-
meterstellen erstreckt; weiter abwärts in der Nähe des Rippenbogens hört
man schon nicht gedämpften Dünndarmton. Verfolgt man diese Dämpfung
in transversaler Richtung nach vorne, so erstreckt sie sich höchstens noch
über eine Plessimeterstelle, zumeist noch weniger weit.
4. Der Percussionsbefund der Blasengegend im normalen Zustande be-
steht in einer halbkreisförmig oberhalb der Symphyse sich erhebenden Däm-
pfung von variablem, 4— lOcw betragenden Halbmesser bei voller Blase. Die
Dämpfung schwindet nach der Blasenentleerung total, um innerhalb der
nächsten Stunden allmählig zum genannten Umfang anzuwachsen.
5. Der Percussionsbefund' an der übrigenBauchwand besteht in einem
mehr weniger deutlichen tympanitischen Ton von höchst variabler Tiefe,
Grösse und Sonorität und unterbrochen an verschiedenen variablen Stellen,
von Dämpfungen in verschiedenstem Umfang und Grad. Die Dämpfungen
beziehen sich nicht bloss auf Fäcalansammlungen, sondern auch, und zwar
viel häufiger, auf gasfreie, leere Darmschlingen. Ganz im Allgemeinen lässt
sich nur so viel sagen, dass der Schall dem Colon ascendens und transversum
entsprechend, sich recht oft durch seine Grösse und Tiefe von dem übrigen
Schall unterscheiden lässt, und dass in den seitlichen Hypochondrien zumeist
nur wenig sonorer Schall zu finden ist.
IL Anomalien des Percussionsschalles.
1. Anom^alien der Leberdämpfung.
Dieselben bestehen zumal in einer pathologischen Vergrösserung,
dann aber auch in einer pathologischen Verkleinerung derselben. Es
mögen hier nur jene Vergrösserungen ins Auge gefasst werden, die nicht auch
schon bei der Inspection durch starke Vorwölbung der Bauchwand über der
Leber kenntlich werden und ausserdem auch palpatorisch leicht zu erkennen
sind.
Die abnorme Vergrösserung erscheint als Verlängerung des Durch-
messers der partiellen oder relativen Dämpfung einmal vorwiegend nach auf-
wärts, ein anderesmal vorwiegend nach abwärts, oft aber auch gleichzeitig
nach beiden Richtungen. Nach aufwärts findet man mitunter die Dämpfung
schon an der 4. statt an der 5. Rippe, noch höher hinauf reicht dieselbe wohl
niemals durch Veränderungen am Lebervolum allein, sondern durch Combi-
nation der letzteren mit mechanischer Empordrängung der Gesammtleber in-
folge von Steigerung des Druckes innerhalb der Bauchhöhle im Allgemeinen.
Nach abwärts kann die partielle Dämpfung fast bis an die Nabelregion hin-
abreichen.
Viel häufiger ist die relative Dämpfung im Umfange des linken Leber-
lappens mehr weniger bedeutend vergrössert und zwar sowohl in verticaler, —
diese jedoch nur nach abwärts unter dem Rippenbogen sicher erkennbar, nach
aufwärts wegen der Herzlage minder sicher oder gar nicht, — als auch in
transversaler Richtung, in welcher die partielle Leberdämpfung mitunter an
die Milzdämpfung reicht.
Wichtiger als die Zunahme der partiellen ist die der totalen Dämpfung,
welche letztere sich oft neben gleichzeitiger Zunahme der ersteren, oft aber
auch bei unverändertem Bestände derselben, nicht selten sogar bei Verminde-
rung oder gänzlichem Fehlen derselben findet. Man stösst nämlich allent-
halben unvermittelt durch partielle auf eine totale, der Leber entsprechende
Dämpfung oder verfolgt eine totale Dämpfung allenthalben bis an den Leber-
rand, so dass auf die totale Dämpfung sofort ein gar nicht gedämpfter Darm-
ton folgt. Die Ausbreitung der totalen Dämpfung kann demnach in einzelnen
UNTERSUCHUNG. 943
Fällen dieselben Grenzen erreichen, wie sie oben für die partielle Dämpfung
angegeben wurden.
Das Emporrücken der rechtseitigen partiellen Leberdämpfung gegen die
4. Rippe bei unveränderter Erstreckung dersel])en nach abwärts bedeutet nur,
wenn keine mechanische Empordrängung nachweisbar ist, eine starke Volums-
zunahme des rechten Leberlappens bei massiger Blähung des unteren Lungen-
randes; begreiflicherweise muss hiebei vor Allem das Vorhandensein eines
rechtsseitigen, pleuritischen Exsudates oder einer Lungenintiltration ausge-
schlossen worden sein. Das Hinabrücken der partiellen Leberdämpfung
am untern Hände unter die normalen Grenzen gegen die Nabellinie hin ist
verschieden zu beurtheilen, je nachdem die obere Dämpfungsgrenze normal,
höher oder tiefer als die normale ist.
Ist die obere Dämpfungsgrenze auch höher und sind pleuritische Ex-
sudate oder Transsudate oder Lungeninfiltrate ausgeschlossen, so bedeutet die
Verlängerung der Dämpfungsgrenze nach abwärts einen höheren Grad der Vo-
lumszunahme der Leber, als wenn nur die obere Grenze emporgerückt ist.
Lässt sich ein grosses pleuritisches Exsudat rechts nachweisen, dann kann der
Tiefstand der unteren Leberdämpfungsgrenze auf Herabgedrücktsein des
Zwerchfells sammt der Leber durch das Exsudat bezogen werden. Ist die
obere Dämpfungsgrenze normal bei tiefer gerückter unterer, so kann eine
Combination von rechtsseitigem Lungenemphysem mit derselben Lebervolums-
zunahme, wie sie im ersten Fall bestand, angenommen werden; oder beim
Fehlen des Emphysems einfache, massige Volumszunahme des Leberrandtheiles
der Fläche nach, wie solche oft bei Fettlebern gefunden wird.
Ist aber bei abnorm tiefem Stande der unteren Grenze der partiellen
Dämpfung auch die obere Grenze tiefer gerückt, so muss an rechtsseitiges,
hochgradiges Emphysem oder Pneumothorax, bei sonst normaler oder vielleicht
massig vergrösserter Leberrandpartie, gedacht werden.
Die Vorrückung der Grenzen der partiellen Dämpfung über dem linken
Lappen nach abwärts und nach links ist ganz nach denselben Normen zu
deuten, wie beim rechten Lappen. Hier hat man es constant mit einer Ver-
grösserung der Leber ihrer Fläche nach zu thun.
Die Vergrösserung der Durchmesser der totalen Dämpfung hat sowohl,
wenn sie nur rechts als auch wenn sie zugleich auch links, sei es bloss nach
abwärts oder zugleich auch nach der linken Seite hin gefunden wird, immer
die Bedeutung einer hochgradigen Volumszunahme der Leber, entweder bloss
des einen oder eventuell beider Lappen. Nur bei extremem Grade der Vor-
rückung der rechtsseitigen Dämpfung nach aufwärts oder der linksseitigen
nach der linken Seite hin, wird der A^erdacht einer etwaigen Complication
mit pleuritischem Exsudate gerechtfertigt sein.
Alle diese Vergrösserungen des Lebervolumens können ihren Grund in
chronisch-interstitieller Entzündung, venöser Stauung (Muskatnussleber),
Echinococcussäcken, Carcinom etc. haben.
Die Verkleinerung der Leberdämpfung kann ebenfalls sowohl
als Verkleinerung der partiellen oder relativen, als auch als Verkleinerung
der totalen oder absoluten Dämpfung bestehen. Die Verkleinerung der par-
tiellen Dämpfung am rechten Lappen zeigt sich darin, dass dieselbe nicht
in der Höhe der 5. Rippe, sondern tiefer abwärts erst gefunden wird, oder
mindestens dass selbe, wenn sie auch an normaler Stelle schon bemerkt
werden kann, doch wesentlich geringer ist, als normal. Dabei kann die to-
tale oder absolute Dämpfung vollkommen normal oder auch mehr weniger
verkleinert sein. Die Verkleinerung zeigt sich eben darin, dass sie erst tiefer
unten als normal bemerkt wird. Ebenso kann dieselbe aber auch vollkommen
fehlen. So wie die beiden Dämpfungsgrade über der Thoraxwand sich verhal-
ten, können sie auch unter dem Rippenbogen sich verhalten. Hier hat man
944 UNTERSUCHUNG.
im normalen Zustande zuerst die totale und erst unter dieser die partielle
Dämpfung. Beide können nun verkleinert sein oder ganz fehlen. Die Däm-
pfung des linken Lappens kann in ähnlicher Weise verkleinert sein, nur be-
zieht sich dieselbe eben nur auf die relative Dämpfung, weil eine absolute
Dämpfung über dem linken Lappen im normalen Zustande gar nicht vor-
kommt. — Die Verkleinerung der Dämpfung wird auch hier einmal nur in
einem viel schwächeren Hervortreten der normalen Dämpfung innerhalb ihrer
normalen Grenzen bestehen, ein anderesmal hingegen in einer wesentlichen
Verkleinerung der normalen Grenzen ihres Gebietes sowohl in verticaler als
auch in transversaler Richtung.
Die Verkleinerung der rechtsseitigen Leberdämpfung kann entweder
Kleinheit der Leber oder, unter Umständen, emphysematische Blähung der
unteren Lungenränder anzeigen. Ersteres ist anzunehmen, wenn nicht bloss die
Dämpfungsfläche am Thorax selbst wesentlich verkleinert ist oder ganz fehlt,
sondern auch jene unter dem Rippenbogen. Ist aber die Dämpfungsfläche am
Thorax verkleinert oder fehlt sie ganz, hingegen jene unter dem Rippenbogen
normal oder gar vergrösser t, so wird man im ersten Falle an einfache
emphysematische Blähung des Lungenrades, im zweiten Falle an den Tiefstand
des Zwerchfelles in Folge von allgemeinem Emphysem denken müssen, Kleinheit
der Leber wird nur bei besonders aufiallenden Graden oder etwa im Zusam-
menhang mit anderen Symptomengruppen als pathologisches Phänomen be-
trachtet werden können, und müsste an Lebercirrhose oder an die hierzu-
lande so überaus seltene acute, gelbe Leberatrophie gedacht werden.
Die Verkleinerung der linksseitigen Leberdämpfung hat nur bei gleichem
Befunde rechts die Bedeutung von Leberkleinheit; für sich allein kann sie
eine solche Bedeutung nur im Zusammenhang mit anderen wichtigen Sym-
ptomen haben, sonst nicht.
2. Anomalien der Magentonregion.
Die Magentonregion kann abnorm vergrössert oder abnorm ver-
kleinert sein. Es kann aber auch di<e Qualität des Schalles, da es sich
hier nicht um eine Dämpfung handelt, mannigfach abnorm verändert sein.
Die Vergrösserung der Magentonregion ist jedenfalls das
diagnostisch wichtigste der genannten Phänomene. Die Grenzen des reinen
Magentones können vorrücken nach aufwärts, so dass man hie und da schon
in der Höhe der Herzdämpfung neben derselben nach links oder selbst an
der Herzdämpfung den leicht erkennbaren Magenton, in letzterem Falle selbst-
verständlich stark abgedämpft, durchhört. Eben so kann man denselben Ton
oft in gleicher Höhe über die ganze Seitenwand verbreitet hören, mitunter,
aber nicht immer, vorne und seitlich gleichzeitig.
Wichtiger ist die abnorme Ausbreitung des Magentones nach abwärts,
so wie auch die Ausbreitung nach rechts; am wichtigsten ist aber die
hochgradige Ausbreitung desselben nach rechts und abwärts, die man
mitunter bis an die Mittellinie und fast bis an die transversale Nabellinie rei-
chend findet. In solchen Fällen fällt es zumeist auf, dass der Magenton von
der ParaSternallinie ab nach rechts allmälig nur mehr abwärts gehört wird,
während er in den oberen Partien verschwindet, ohne dass man annehmen
kann, der Magenton wäre in den oberen Partien eben nur durch die Leber
abgedämpft, denn man hört an der Leberstelle nicht selten irgend einen
anderen Darraton durch. Die Configuration der Magentongrenzen ruft sogar
die Vorstellung wach, als wäre das Pylorusende des Magens gewissermaassen
in die Tiefe herabgesunken. Allerdings ist das Resultat der Magenpercussion
gegen rechts hin nicht immer sofort verlässlich, theils weil Dickdarmton hie
und da den Magenton vortäuschen kann, theils weil der Magenton selbst
seinen Charakter mitunter successive in der verschiedenartigsten Weise ab-
UNTERSUCHUNG. 945
ändern kann. Immerhin lässt sich aber behaupten, dass der geübte Unter-
sucher bei genügender Umsicht, bei öfterer Wiederholung der Untersuchung
an einem oder wenn nöthig auch noch am zweiten Tage vielleicht in allen
Fällen zur verlässlichen Ueberzeugung gelangen wird, um so eher, wenn auch
noch die Palpation zur Controle herangezogen wird.
Die Vorrückung des Magentones nach aufwärts deutet auf starke
Gasentwicklung im schlaffen, muskelschwachen Magen bei verstärktem Druck
innerhalb der Bauchhöhle, sei es in Folge von ähnlicher Gasbildung im Darm-
canal, sei es durch andere Ursachen. Die Ursache der Gasbildung ist zu-
meist chronischer, seltener acuter Magenkatarrh oder Magen-Darmkatarrh.
Hie und da können wohl auch rein nervöse Einflüsse im Spiele sein.
Die abnorme Ausbreitung des Magentones an der linken Seite .pflegt
speciell noch durch verbesserte Schallleitung von Seiten der erschlafften Lunge
mehr weniger unterstützt zu werden. Man bemerkt hie und da bei begin-
nender Pleuritis, eben so bei beginnender Pneumonie der seitlichen unteren
Lungenpartie hoch hinaufreichenden, exquisit tympanitischen Ton, den man
continuirlich nach vorne, wo derselbe gewiss nicht mehr von der Lunge selbst
herrühren kann, verfolgen kann. —
Die einfache Vorrückung nach abwärts ohne gleichzeitige nach auf-
wärts, kömmt hie und dabei linksseitigem, grossem pleuritischem Exsudat vor.
Man findet den Magenton erst in der Nähe des Rippenbogens, höher oben
gar nicht, dafür aber auch noch einige cm breit unter dem Rippenbogen.
Selbstverständlich rührt das Phänomen von der Herabdrängung des Zwerch-
fells sammt dem Magen her. Das abnorme Vorrücken nach rechts deutet
neben mehr weniger vermehrtem Gasgehalt auf bedeutend verkleinerten, lin-
ken Leberlappen.
Die Vorrückung nach rechts und abwärts deutet auf dauernde
Magenerweiterung. Die Ursachen sind zumeist: Pylorus Verengerung, sei es
durch Narben, sei es durch Carcinom; doch können auch atonische Zu-
stände bei chronischem Katarrh wenigstens temporär zu solcher Erweiterung
führen.
Eine Verkleinerung odergar vollständiges Fehlen des normalen
tympanitischen Magentones bei Vorhandensein eines gewöhnlichen Lungen-
schalles an dessen Stelle deutet auf hochgradiges Emphysem mindestens links
unten. In einzelnen Fällen kann man den vorhandenen normalen tympanitischen
Ton zum Schwinden bringen, wenn der zu Untersuchende wiederholt sehr
tief einathmet. Hiebei rücken nämlich die unteren Lungenränder in Folge
der tiefen Inspiration weiter vor als gewöhnlich und retrahiren sich bei der
Exspiration nicht vollständig, so dass allmählig eine stationäre Verschiebung
sich entwickelt, die erst nach längerer Zeit sich zurückbildet. Selbstverständ-
lich deutet das Phänomen auf verminderte Elasticität der Lungen, d. i. eine
Disposition zur Emphysembildung. Eine ähnliche Verkleinerung oder gänz-
liches Fehlen der Magentonregion und Ersatz des Magentones durch stark ge-
dämpften Schall deutet auf abnorm grossen linken Leberlappen, ist aber auch
nach Zufuhr grosser Mengen von Ingestis möglich.
Anomalien der Qualität des Magentones bestehen einmal
darin, dass derselbe ganz ungewöhnlich gross, aber nur dumpf tympanitisch
erscheint, ein anderesmal wieder darin, dass er wohl gross, dabei aber doch
nicht nur exquisit tympanitisch, sondern deutlich metallisch klingend
wird. In beiden Fällen ist abnorme Gasansammlung, das eine Mal bei über-
mässig gespannter, das anderemal bei vollständig paralytischer Muskelschichte
vorhanden. Man findet ersteres schon bei vielen acuten und chronischen Ma-
genkatarrhen, besonders bei nervös veranlagten Individuen; nicht selten aber
auch bei sogenannter nervöser Dyspepsie ohne objective katarrhalische
Symptome, bei mancher Form von Neurasthenie, Hypochondrie etc. Letzteres
Bibl. med, Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. DU
946 UNTERSUCHUNG.
findet man zumeist bei Typhus und anderen ähnlichen schweren Fieber-
krankheiten.
3. Anomalien der Milzdämpfung.
Diese besteht immer nur in einer Vergrösserung derselben. Sie erstreckt
sich manchmal von der normalen Stelle nicht nur mehr weniger höher hinauf
und tiefer hinab, sogar unter den Rippenbogen, und zwar immer als totale
Dämpfung, sondern ebensoweit nach vorne mindestens bis in die Axillar- oft
noch weiter bis in die Mamillar-, ja sogar bis in die ParaSternallinie, rückt
zugleich je weiter nach vorne, um so tiefer nach abwärts und geht in seltenen
Fällen in jene monströsen Dimensionen über, die schon bei der Inspection
und Palpation wahrnehmbar- werden und bereits daselbst erwähnt waren.
Die massigen Vergrösserungen der Milzdämpfung entsprechen kürzer dauerndem
Intermittens, Typhus, Lebercirrhose, allerlei länger dauernden venösen Stau-
ungen in Folge von Herzkrankheiten, acuter Miliartuberculose, Pyämie etc.
4. Anomalien der Blasendämpfung.
Auch diese besteht nur in einer mehr weniger bedeutenden Vergrösserung
der normalen, mit Beibehaltung der halbkreis- oder öfter halb elliptischen
Form derselben, wobei dieselbe bei extremen Graden bis in die Nähe des
Nabels reichen kann. Sie bedeutet immer Lähmung der Blase, theils in
Folge schwerer fieberhafter Krankheiten bei Kranken, die keiner ärztlichen
Beobachtung unterworfen waren, eben solchen mit Lähmungen in Folge von
Erkrankungen des Ceutralnervensystems; ferner in Folge von Stricturen der
Harnröhre, Prostatahypertrophien, allerlei Neubildungen in der Blase etc.
(VergL Palpation.)
.5. Anomalien im Percussions-Befund der übrigen Bauchwand.
Der Percussionsschall ändert seine normale Qualität, d. i. den
Tympanitismus mehr weniger auffällig; oder er wird abnorm gross oder
abnorm klein, respective abnorm gedämpft. All diese Anomalien
zeigen sich theils bei abnormer, hochgradiger Volumszunahme des Unter-
leibes, theils bei normalem oder nur wenig geändertem Volumen desselben.
Bei hochgradiger Volumszunahme findet man mitunter gegen die Mitte
der Bauchwand in verschieden grossem, aber immer doch recht bedeutendem
Umfange einen ungewöhnlich grossen, wenig oder gar nicht tympani-
tischen, dumpfen Percussionsschall, der in Wirklichkeit an den aus grösserer
Ferne gehörten Schall grosser Trommeln erinnert (Meteorismus, Tympanites).
Gegen die abhängigeren Partien kann mehr weniger gedämpfter, kleiner
oder auch ganz matter Schall bestehen. In seltenen Fällen kann der grosse
Schall abseits der Mitte wo immer gefunden werden, ist aber dann in der
Regel minder gross und erstreckt sich auch nur über eine kleinere Fläche.
Der Meteorismus deutet immer auf abnorme Gasansammlung im Darm-
rohr, wie sich solche in so hohem Grade ganz besonders bei Undurchgängig-
keit des Darmlumens an irgend einer Stelle oberhalb dieser Stelle zu ent-
wickeln pflegt. Aus der Grösse des Schalles ist hier kein sicherer Schluss
auf das Lumen der bezüglichen, gashaltigen Darmstücke zulässig, weil mehrere
stark geblähte Darmschlingen, die eng an einander gepresst liegen, wie ein
einheitlicher continuirlicher Gasraum schallen können. Die ündurchgängig-
keit des Darmrohres kann bedingt sein: durch narbige Strictur, Umschlin-
gung eines Darmstückes von membranösen oder strangförmigen Bindegewebs-
neubildungen, Druck irgend einer Neubildung auf ein Darmstück, Intussus-
ception, Achsendrehung; ferner durch Coprostase, Ansammlung von oft kaum
glaublichen Massen von Fäcalien, deren Weiterbeförderung dem atonischen Darm
temporär ganz unmöglich wird; Verstopfung einzelner Darmstellen durch grosse,
halte Scybala, um welche die bezügliche Darmwand entweder paralytisch ge-
UNTERSUCHUNG. 947
worden oder durch krampfhafte Contraction vor dem Scybalon ein Fort-
bewegungshindernis bildet; beginnende Peritonitis, bei der Paralyse oder
Atonie der Darmmuscularis in grossen Strecken ähnliche Wirkung hervor-
bringt etc. Der Meteorismus kann mit Ascites, verschiedenen Tumoren com-
binirt sein oder auch ohne jede Complication bestehen.
Ferner findet man bei hochgradiger Volumszunahme in der Rückenlage
des zu Untersuchenden, mitunter nur in der Mitte der vorderen Bauchfläche
oberhalb des Nabels, auf eine relativ kleine Fläche begrenzt, einen fast ganz
normalen oder exquisit tympanitischen Ton, der nach allen Ptichtungen abwärts
rasch abnimmt und bald einem ganz matten Schall weicht. Durch Lage-
änderung des zu Untersuchenden, d. h. wenn man ihn auf eine Seite legen
lässt, bemerkt man leicht, dass der normale tympanitische Ton von vorne nach
der höher liegenden Seite emporsteigt. Dieses Verhalten deutet auf eine
freie Beweglichkeit der gashaltigen Darmschlingen in ebenfalls frei beweg-
licher Flüssigkeit, wobei erstere vermöge ihres geringen specifischen Ge-
wichtes stets die höchste Lage einzunehmen streben. Derartige Bedingungen
können eben nur bei hydropischer Flüssigkeitsansammlung zu Stande kommen,
im Gegensatz zu exsudativer, bei welcher letzteren gewöhnlich allerlei Ad-
häsionen der Darmschlingen die freie Beweglichkeit derselben, sowie auch
der Flüssigkeit hindern.
Ein anderes Mal findet man bei hochgradiger Volumszunahme des
Unterleibes an der vorderen Bauchfläche allenthalben ganz matten Schall,
kaum dass im obersten Theil des Epigastriums mitunter an einer schmalen
Fläche etwas tympanitischer Ton gehört wird, hingegen findet man im
untersten Abschnitt der Seitenwände beiderseits bald mehr bald weniger
deutlich tympanitischen Schall. Ein solcher Befund deutet in der Regel auf
einen grossen Tumor, der die ganze Bauchhöhle erfüllt, und der die Gedärme
während seines langsamen Wachsens allmälig ganz gegen die Seiten und
abwärts hingedrängt hat. Derartige Tumoren kommen vorwiegend beim Weibe
vor in Form von einfachen oder mehrkämmerigen Cysten, Cystosarcomen,
Sarcomen, die von den Ovarien, den Tuben, dem Uterus, aber auch von be-
liebigen anderen Punkten der Bauchhöhle ausgehen können.
Bei normalem oder nur wenig vergrössertem Volumen des Unterleibes
findet man auch mitunter ausgebreiteten, ungewöhnlich grossen Percussions-
schall, bald wenig oder gar nicht tympanitisch, bald wieder viel reiner
tympanitisch als normal, mitunter sogar an verschiedenen Punkten mehr
weniger deutlich metallisch klingend. Beide Befunde deuten auf abnorme
Gasbildung in Folge von Darmkatarrh, im ersten Falle bei übermässiger
Spannung der Darmmuscularis, wie sie unter anderen auch bei mancherlei
Nervenleiden (Neurasthenie, Hysterie) zum Vorschein kommen, im zweiten bei
hochgradiger Atonie derselben, welche letztere so oft bei allerlei schweren
fieberhaften Krankheiten zu finden ist, die zu Affectionen der Darmschleimhaut
führen, z. B. Ileotyphus, Tuberculose, infectiöses gastrisches Fieber, dysen-
terische Processe etc.
Bei normalem oder nur wenig verändertem Unterleibsvolumen findet
man ferner allerlei umschriebene, constante Dämpfungen, die nicht von
normalen Fäcalansammlungen herrühren; weil sie eben tage- und wochenlang
unverändert fortbestehen und weil man oft ihre allmälige Entstehung be-
obachten konnte. Die auffälligsten Dämpfungen dieser Art sind:
In der rechten Fossa iliaca entwickelt sich nicht selten unter Fieber,
Schmerzen und sonstigen begleitenden Erscheinungen eine mehr weniger
intensive und ausgebreitete, aber den halben Beckenraum in der Regel doch
nicht überschreitende Dämpfung, die auf Exsudatbildung in Folge von Peri-
typhlitis hinweist.
60*
948 UNTERSUCHUNG.
Analoge Dämpfungen an beliebigen anderen Stellen acut oder subacut
entstanden, können durch partielle Peritonitis mit verschiedenen Adhäsionen,
zwischen nebeneinander liegenden Darmschlingen untereinander und mit der
Bauchwand, wobei zwischen denselben verschiedene Mengen von Exsudat,
Eiter etc. angesammelt ist, bedingt sein.
Aehnliche Dämpfungen, chronisch ganz langsam entwickelt, können auf
allerlei Tumoren hinweisen, die nach längerem Wachsen allmälig die ganze
Bauchhöhle ausfüllen können, wie sie bereits oben genannt wurden, die aber
mitunter lange Zeit ganz unverändert fortbestehen können, ohne zu wachsen.
Weitere circumscripte Dämpfungen, die von der Nierengegend ausgehend
allmälig eine ganze obere Hälfte der seitlichen Bauchhöhle ausfüllen, weisen
auf verschiedene Nierenentartungen, Hydronephrose, Carcinome etc. der Niere hin.
D. Auscultation.
Was die Auscultation des Unterleibes anbelangt, so kann die-
selbe hie und da zur Anwendung gelangen, um abnorme Töne der Eauch-
aorta oder anderer Baucharterien, Geräusche bei Aneurysmen etc. zu con-
statiren.
Bei anhaltender heftiger Darmperistaltik, die aber doch nicht von aussen
sichtbar ist, kann die Auscultation das anhaltende, mit der, in kleinen Wellen
ablaufenden Peristaltik verbundene, gurrende Geräusch als Zeichen derselben
constatiren.
Ebenso manche, seltene Reibegeräusche, besonders über der Lebergegend,
aber auch gleiche oder mehr weniger ähnliche, andere Geräusche an beliebigen
anderen Stellen der Bauchwand können durch Auscultation gefunden werden.
E. Subjective Phänomene am Unterleib.
Subjective Phänomene können bei Kranken (a) schon spontan ohne
jede äussere Einwirkung vorhanden sein, können aber auch (b) durch äussere
Einwirkungen, speciell durch Palpation und Percussion hervorgerufen
werden. Die Phänomene bestehen:
I. aus mehr weniger charakteristischen Schmerzempfindungen,
IL aus nur unbestimmten, den Gemeingefühlen ähnlichen, un-
behaglichen Empfindungen.
Beide Arten können von intelligenten Kranken mitunter mehr weniger
genau localisirt werden, mitunter aber auch nur höchstens ganz allge-
mein oder gar nicht.
A. Spontane Empfindungen.
L Die localisirbaren Empfindungen beziehen sich auf die be-
kannten einzelnen Organe der Bauchhöhle, d. h. sie werden auf solche Stellen
localisirt, die der Lage der genannten Organe entsprechen; oder sie beziehen
sich auf den ganzen Unterleib oder variable Theile desselben.
1. Am häufigsten ist der Magen der Sitz von allerlei schmerzhaften
Empfindungen. Sie werden von intelligenten Kranken als brennende, drü-
ckende, spannende, zusammenziehend krampfartige, oder auch als nicht cha-
rakterisirbare heftige Schmerzen angegeben, die in gewissen Fällen ohne jeden
erkennbaren äusseren Einfluss, in anderen hingegen bald unmittelbar, bald
später nach der Aufnahme von Speisen oder Getränken, nicht selten aber
auch eben nur bei leerem Magen empfunden und in diesem Falle mitunter
durch Speisenaufnahme gemässigt oder ganz aufgehoben werden. Sie werden
durch palpatorischen Druck oder Percussion als Schmerz gesteigert, mitunter
auch geradezu angeregt, wenn sie bis dahin nicht bestanden hatten.
Die einmal vorhandenen Schmerzen sind manchmal von kurzer Dauer,
sogar wie momentan; nicht selten mit blitzartiger Schnelle durch den Körper
UNTERSUCHUNG. 949
fahrend (lancinirend); manchmal jedoch dauern selbe mehrere Stunden, ja so-
gar Tage lang mit Schwankungen an. Ferner sind dieselben manchmal wie
fixirt an derselben Stelle, während sie ein anderesmal von ihrem nicht immer
deutlich zu umschreibenden Centralsitz nach den verschiedenen Richtungen
und auf beliebig grosse Entfernungen ausstrahlen können.
Die unmittelbare Ursache der Magenschmerzen ist:
et) Directe Reizung der peripherischen Enden der sensitiven
Nerven durch Ingesta verschiedenster Art, bald in Folge ihrer Quantität,
bald wieder in Folge ihrer Qualität (scharf, sauer, ätzend oder auch hart,
eckig, kantig, spitz etc.); durch pathologische, von der Schleimhaut aus-
gehende Veränderungen der Gewebe: allerlei Katarrhe, oberflächlich
entzündliche Processe, Erosionen, Geschwüre (besonders das Ulcus rotundum
mit fixem, localisirbarem Schmerz meist nach Nahrungsaufnahme) etc.; durch
theils quantitativ, theils qualitativ abnorme (meist hyperacidej Secrete;
durch tiefer sitzende pathologische Gewebsveränderungen, tie-
fere, entzündliche Processe, Narbenbildungen, Krebs Infiltration etc.
ß) Centrale Nerveneinflüsse aller Art, sowohl vom Hirn als auch
vom Rückenmark ausgehend, bei den verschiedensten Erkrankungen dieser
Centralsysteme. Die durch dieselbe Ursache veranlassten Schmerzen pflegen
speciell nicht selten den blitzartigen, lancinirenden Charakter zu zeigen.
y) Heftige peristaltische Contractionen müssen wohl auch als
nicht seltene, directe Ursache gewisser intensiverer, sogenannter krampfartiger
Schmerzen betrachtet werden, namentlich dürfte dies für Schmerzen, die regel-
mässig bei leerem Magen auftreten, gelten.
2. Nächst dem Magen ist der übrige Darmtractus häufig der Sitz
mehr weniger heftiger Schmerzanfälle, die gewöhnlich auf die Nab elumgebung
localisirt werden, mitunter aber auch auf gewisse seitliche Theile der Bauch-
wand, dann zumeist nur einerseits localisirt erscheinen. Die Schmerzen sind
in der Regel sehr intensiv, werden häufig als krampfartig {Colik) beschrieben,
zumeist aber wegen ihrer Heftigkeit gar nicht charakterisirbar. Auf Druck
steigern sie sich wohl' mitunter, aber gar nicht selten werden speciell die in der
Nabelumgebung localisirten Schmerzen auf Druck von aussen erleichtert, so
dass die Kranken selbst oft mit der Flachhand oder mit der Faust sich
möglichst kräftig an der schmerzhaften Stelle drücken. Auch hier ist die
Dauer sehr variabel von einigen Minuten bis zu Tagen. Die Ursachen sind
auch hier analog jenen im Magen, nur dass sich am Darmtracte der Perito-
nealüberzug eben so oft an der schmerzhaften Irritation betheiligt, als die
Schleimhaut. Auch sind hier rein mechanische Ursachen, Coprostase, Darmocclu-
sion und Aehnliches, viel häufiger gerade an den intensivsten Schmerzen be-
theiligt, und dürfte der rein mechanische Einfluss bis zum Krampf gesteigerter
Peristaltik eine viel ausgebreitetere Rolle bei den Intestinalschmerzen spielen
als sonst wo. Es müssen also hier nächst den verschiedenen katarrhalischen
Processen, den acuten und chronischen, die verschiedenartigen Ulcerationen,
von den einfachen Erosionen bis zu tiefgreifenden Zerstörungen, mitunter auf
kleinere Stellen begrenzt, oft aber sehr weit über ganze Darmabschnitte sich
erstreckend (Tuberculose, Dysenterie etc.), unter den Schmerzursachen genannt
werden, eben so verschiedene, besonders krebsartige Neubildungen, alle Formen
der Darmocclusion, mancherlei chronische Vergiftungen (z. B. Blei), etc. Auch
Erkrankungen des Centralnervensystems sind hie und da als alleinige Ur-
sache überaus heftiger Intestinalschmerzen zu constatiren. Derartige Schmer-
zen sind zumeist, analog den schon beim Magen beschriebenen, von nur
kürzerer Dauer, auch mitunter blitzartig durch den befallenen Körpertheil
schiessend (lancinirend).
3. Ein sehr weit über den ganzen Unterleib sich erstreckender,
nicht sehr intensiver, aber gleichmässig anhaltender, bei leichteren Graden als
950 UNTERSUCHUNG.
Brennen, Spannen bezeichneter, bei höheren Graden auch nicht charakterisir-
barer Schmerz pflegt acute Peritonitis zu begleiten. Hier ist die Em-
pfindlichkeit gegen äussere Einflüsse nicht selten aufs höchste gesteigert
(cutane Hyperästhesie). Die Kranken ertragen oft nicht die leiseste Berührung
der Haut. Der Schmerz kann, so wie die Peritonitis, auch auf einzelne Partien
der Bauchhöhle localisirt sein, ist dann gewöhnlich minder intensiv.
4. Schmerzen inderLebergegend sind in den verschiedensten Formen
zu finden. Oft ist nur ein dumpfes, gleichmässig anhaltendes Druckgefühl
über der ganzen Lebergegend, das sich zeitweise bis zu sehr hohen
Graden steigert, aber niemals anders als auf die ganze Lebergegend localisirt
werden kann. Aeussere Einflüsse, aufrechte Körperhaltung, Liegen auf einer
Seite, zumeist auf der linken,. Bewegungen des Rumpfes steigern die höchst
unbehagliche Empfindung, Druck von aussen nicht immer. Dauer der ab-
normen Empfindung: Tage bis Wochen. Der Schmerz ist in der Regel auf
interstitielle, hie und da aber auch auf parenchymatöse Hepatitis mit oder
auch ohne Perihepatitis zu beziehen. Dass auch allerlei Neubildungen in der
Leber an dem Entzündungsprocess betheiligt sein können, ist selbstverständlich.
Ein überaus heftiger, in Paroxysmen von einigen Stunden bis zu einigen
Tagen mit Schwankungen andauernder Schmerz geht nicht selten von der v o r-
deren Leberregion aus, der nur bei massiger Intensität mehr weniger genau
localisirt wird, mitunter sogar recht deutlich auf einen bestimmten Ausgangs-
punkt, der der Gallenblase entspricht. Bei vorsichtigem, sanftem, palpatori-
schem Druck lässt sich der Sitz des Schmerzes viel häufiger als angenommen
wird, auf die Gallenblasengegend localisiren. Bei hochgradiger Intensität wird
der Schmerz ausstrahlend nach den verschiedensten Richtungen, besonders
nach aufwärts selbst bis in die Schulter, vorwiegend die rechte etc. und
wird oft so intensiv, dass er Ohnmächten veranlasst. Die häufigste Ursache
solcher Schmerzen ist wohl die Cholelithiasis, doch können auch manche
andere Erkrankungen der Gallenblase, des Pancreas, ja selbst des Magens,
namentlich des Pylorustheiles zu analogen Schmerzanfällen führen.
5. Auch in der Milzgegend sind mitunter vorwiegend flüchtige,
stechende, aber doch auch andauernde Schmerzen zu constatiren, namentlich
Druck, Spannung. Es ist dies insbesondere bei raschem, stärkerem An-
schwellen der Milz bei Typhus, Intermittens, Leukämie etc. der Fall, wobei
augenscheinlich die starke Dehnung des Peritoneums die nächste Ursache des
Schmerzes ist, etc.
6. Nur selten kommen in der Nierengegend überaus heftige, in Pa-
roxysmen verlaufende, oft mehrere Tage andauernde Schmerzen, bald mehr
fixirt, bald auch ausstrahlend vor, wobei die Localisation immer nur ganz im
allgemeinen auf eines der Hypochondrien möglich ist. Bei vorsichtigem Druck
sind hie und da einzelne Punkte bald in der Nähe der Nieren, bald auch
weiter abwärts und vorne zu constatiren, an denen der Schmerz die höchste
Intensität erreicht. Es liegt bei derartigen Schmerzen immer mindestens der
Verdacht nahe, dass man es mit Nierensteinen zu thun haben könnte, die
irgendwo im Anfang oder unteren Lauf der Ureteren eingekeilt sind.
Schmerzen verschiedenster Art kommen übrigens in der Nierengegend
und deren Umgebung, oft sogar auf ziemlich grosse Entfernungen hin, vor,
dass man gar nicht sofort an eine Betheiligung der Nieren denken möchte,
und zwar zumeist bei Wandernieren, in welchem Falle der Zug der dislocir-
ten Niere auf die Peritonealfalte, in der dieselbe liegt, als Ursache des Schmerzes
zu betrachten ist. Ebenso kommen variable Schmerzen auch bei allerlei Ver-
grösserungen, Entartungen der Nieren, Neubildungen, Abscessbildungen an den
Nieren selbst oder deren unmittelbarer Umgebung vor.
IL Ausser den bisher genannten verschiedenartigen und verschieden in-
tensiven Schmerzempfindungen, die von allen Kranken ohne Ausnahme stets
UNTERSUCHUNG. 951
mit aller Entschiedenheit als Schmerzen bezeichnet werden, kommen im Unter-
leib noch allerlei unangenehme Empfindungen vor, die niemals als
Schmerzen, sondern als nicht charakterisirbares Unbehagen, aber trotzdem
als von mancherlei verschiedener Form und insbesondere verschiedener In-
tensität bezeichnet werden. Diese Unbehaglichkeitsgefühle können von dem
Kranken niemals deutlich localisirt werden, werden aber selbst bei leisem Druck
von gewissen Punkten des Unterleibes aus entweder überhaupt hervorgerufen
oder wenn sie schon spontan bestehen, gesteigert, eben so werden sie durch
jede noch so geringfügige Bewegung gesteigert, während sie bei absoluter
ßuhe am mildesten empfunden werden. Sie werden bald als Ueblichkeit,
bald als hochgradiges Schwächegefühl, als Gefühl des Vergehens, der
Ohnmachtsanwandlung bezeichnet, dabei sind mitunter eigenthümliche
Regungen vorhanden, wie wenn irgend welche fremde Körper im Innern sich
leise wellenförmig bewegen würden, mit der Tendenz gegen das Herz. Eben
so können sie von überaus peinlichen, unangenehmen Schwindelempfindungen
begleitet sein. Alle diese mannigfachen unbehaglichen Zustände können oft Tage
lang mit Schwankungen fortbestehen. Viel häufiger aber gehen selbe, wenn sie
nicht allmählig zum Schwinden gebracht werden, früher oder später in wirklichen
Brechreiz mit darauf folgendem Erbrechen oder Brechwürgen über. Es liegt
somit nahe anzunehmen, dass alle die angeführten und angedeuteten Unbe-
haglichkeitsgefühle, wenn sie auch im Beginne vom Kranken selbst nichts
weniger als wie Brechreiz empfunden werden, denn doch nur die ver-
schiedenen Vorstufen des Brechreizes sein könnten, welche Vorstufen oft
genug als solche, ohne sich weiter zu entwickeln, fortbestehen können durch
unbegrenzte Zeit.
In der That können alle diese unbehaglichen Gefühle eben so wie wirk-
licher Brechreiz fast von jedem Organe, von jedem Punkte der Bauchhöhle
ausgehen. Wenn sie auch am häufigsten von der Magenschleimhaut ausgelöst
werden, so ist denn doch bekanntlich oft genug irgend ein beliebiger Punkt
des Darmcanals, des Peritoneums, der Leber, Gallenblase etc. der Ausgangs-
punkt solcher Gemeingefühle, ebenso wie die verschiedensten Neubildungen
in der Bauchhöhle, wenn auch vielleicht nur indirect, durch Heizung des
Bauchfelles oder anderer Gewebe dieselben Phänomene hervorrufen können;
wie auch schliesslich verschiedene Erkrankungen des Hirns und seiner Häute,
speciell des Basalttheiles desselben, ganz analoge Erscheinungen zu veran-
lassen pflegen.
B. Künstlich erregte Empfindungen.
Bei vielen Kranken, die in der Ptuhelage gar keinen Schmerz, keinerlei
Unbehagen empfinden, oder bei denen derartige Empfindungen wohl bestanden
haben, aber bereits geschwunden sind, können durch äussere Einwirkungen
bei der Untersuchung, namentlich durch palpatorischen Druck, durch Percussion,
aber auch durch irgend welche Bewegungen, Lageveränderungen alle die oben
genannten Schmerzen und unbehaglichen Gefühle hervorgerufen werden, deren
Intensität proportional der Intensität der stattgehabten Einwirkung und deren
Dauer in der Regel proportional ihrer Intensität zu sein pflegt. Bei vor-
sichtigem, leisem Druck wird der Schmerz eben wahrnehmbar, schwindet in
der Regel sofort beim Aufhören des Druckes. Wird der Druck stärker oder
dauert er länger an, so wird der Schmerz allmählig auch stärker, kann unter
Umständen die höchsten Grade erreichen, combinirt sich nicht selten mit den
genannten unbehaglichen Empfindungen, und bestehen dann beide Empfin-
dungen selbst nach dem Aufhören des Druckes verschieden lange, oft mehrere
Stunden, ja Tage unter allmähliger Abnahme an. Oft erzeugt ein solcher
künstlich angebrachter Druck gar keinen Schmerz, sondern nur höchst un-
behagliche Gefühle, von denen mitunter die Angabe vernommen wird, dass
sie nach aufwärts wie gegen das Herz steigen.
952 UNTERSUCHUNG DER KINDER.
Alle diese künstlich erregten Empfindungen deuten in erster Linie auf
entzündliche Processe mehr chronischer Art, die bald circumscript, bald auch
weit ausgedehnt sein können, mitunter zu allerlei Verwachsungen, Eiteransamm-
lungen, Anschwellungen geführt haben, und welche, abgesehen von den ge-
wöhnlichsten Entzündungsreizen, nicht selten durch Neubildungen gutartiger,
besonders aber solcher bösartiger Natur hervorgerufen werden, indem dieselben
durch ihr rasches Wachsen die benachbarten Gewebe in der verschiedensten
Weise (Druck, Spannung, Zerrung, vitale Reizung) beeinflussen.
S. STERN.
Untersuchung der Kinder. Dieselbe hat ihre Elgenthümlichkeiten nach
der seelischen und nach der körperlichen Seite. Die erste kommt in der zunächst
noch gar nicht vorhandenen, dann mangelhaften Entwicklung der kindlichen Seele
zum Ausdruck, vermöge deren man erst keine oder nur instinctive Auskunft über
das Befinden und die Beschwerden des Kindes, später nur von der kindlichen
Grefühls- und Denkweise eigenthümlich gefärbte Mittheilungen erhalten kann. Zum
richtigen Verständnisse gehört, ebenso wie bestimmte Hinweise, die wir hier geben
können, eigenes liebevolles Eingehen des Beobachters auf das kindliche Wesen. Die
körperlichen Besonderheiten der Kinder kommen in den einzelnen Oertlichkeiten
und Organen zum Ausdruck und werden im Anschluss an die Untersuchung derselben
kurz berührt.
Wenn ein junger Säugling nicht lediglich trinkt und schläft, ein älterer nicht
zwischen der Nahrungsaufnahme ruhig spielt oder schläft, ein noch älteres Kind
nicht gehörig isst und seinem gewohnten Treiben nachgeht, so fehlt ihnen etwas.
Dies muss man zunächst im Gespräch mit den Angehörigen genauer zu erörtern
suchen und Kinder, die auf Fremde bereits zu reagiren vermögen, anfänglich igno-
riren, erst nach und nach mit scheinbar gieichgiltigen Dingen mit ihnen in Verkehr
treten. Während man in der Anamnese das berührte Verhalten, daran schliessend
den allgemeinen Stand der Entwicklung, Körpergewicht, Zahnen, Verdauung, Stuhl-
gänge, Athmung aufnimmt, während man später erst einige allgemeine Worte mit
dem Kind zu wechseln sucht, beobachtet man sein Verhalten in Aussehen, Mienen
und Geberden; womöglich wenn es noch schläft, jedenfalls vor allem andern: Ath-
mung und Puls.
Pulsschläge soll der Säugling von 0 — Y2 Jahr 120 — 140, von V2 — 1 J^^''
100—130, von 1 — 2 Jahren 90—120, das 2— 4jährige Kind 106, das 5— 8jährige
90 — 100, das 9 — 14jährige 83 — 88 haben; Athmungen das Kind im 1. Lebensjahr
etwa 26; tiefes Athmen, wie es auch zu lautem Schreien gehört, spricht gegen eine
entzündliche Affection der Brustorgane und auch des Gehirns, Dagegen ist dieses
Begleiter von Verdauungsstörungen, und unaufhörliches durchdringendes Schreien
deutet auf andere heftige Schmerzen, besonders im Ohre, in Knochen, Gelenken,
bei Blasenleiden und bei Entzündung der äusseren Bedeckungen. Aechzen und
Stöhnen ist charakteristisch für Entzündungen der Athmungsorgane. Mit an den
Anfang der Untersuchung kann man die Temperaturmessung legen, wenn sie, was
aber nur bei über 4 — 6 Jahre alten und nicht zu mageren Kindern angeht, in der
Achselhöhle vorgenommen wird. Bei jüngeren muss die Wäi^me im After ab-
genommen werden, dann wird man dies, weil viele Kinder das übelnehmen und schreien,
lieber später, jedenfalls nach der Percussion und Auscultation ausführen, weil letz-
tere in Kühe und Frieden leichtere und sichere Ergebnisse liefern. Im Mastdarm
des Kindes ist die Temperatur 0*3— 0"9'' höher als in der Achsel und die kind-
liche Temperatur überhaupt bis zum 7. Jahr ein wenig höher als die des Erwach-
senen, bei dem eine Abendtemperatur über 37*7'^ schon verdächtig wird, während
dies im jenem früheren Alter erst von 38*0° an der Fall ist.
Bei der Untersuchung des Kopfes ist die Form zu beachten (die rha-
chitische, tete carr^e, der Hydro-, der Mikrocephalus), die Fontanellen und Nähte, die
Consistenz der Knochen. Die Nähte sollen bei der Geburt keine, die kleinen Fon-
UNTERSUCHUNG DER KINDER. 953
tanellen keine erhebliche weiche Zwischensubstanz mehr erkennen lassen, die grosse
Fontanelle soll sich stetig verkleinern, so dass sie sich im 9. — 14. Monat, wenn
keine Rhachitis dazwischen kommt, schliesst. Diese letztere ist viel häufiger, als
die Aerzte gewöhnlich denken, und nicht bloss eine grossbleibende Fontanelle,
sondern auch die besonders längs der Hinterhauptnaht abzutastende Knochenerwei-
chung, Kraniotabes, habe ich in bedrohlichen Fällen von Convulsionen und Glottis-
krampf den behandelnden Aerzten entgehen sehen, wo die Beachtung derselben für
Behandlung und Ausgang des Leidens entscheidend war. Kopfschweiss und ab-
geriebene Haare am Hinterkopf sind weitere Begleiter der Rhachitis. Die vor-
getriebene Fontanelle bei Hyperämie und Erguss im Hirn, die eingesunkene bei
Atrophie und Diarrhöe sei nur erwähnt. Der Kopfschmerz, wo er nicht von einem
Gehirnleiden abhängt, kann auf eine, meist familiäre Migräne hindeuten, auf Ueber-
arbeiten in der Schule, auf Onanie, auf Nasenleiden.
Die Nase wird untersucht, wie beim Erwachsenen, mit entsprechend zierlicheren
Speculis, besonders nach Roth, Voltolini, Reichert, Fränkel, Matthieu, nöthigenfalls unter
Anwendung von 5— 10°/o Cocainlösung. Man versucht beim Kind so lange als möglich
mit einem Reüector ohne eingeführtes Speculum auszukommen. So auch beim Ohr, für
das nebenher dieselbe winkelig abgeknickte Sonde und Pincette, wie für die Nase, zum
Betasten und Austupfen brauchbar ist. Man wird auch hier oft und viel glatter zurecht-
kommen, wenn man bei Kindern nur mit Emporziehen der Ohrmuschel Gehörgang und
Trommelfell dem Auge zugänglich macht. Man nimmt dabei auch die Empfindlichkeit des
Ohres wahr und verabsäume nicht eine eventuelle Schwellung der Gegend hinter der Muschel
aufzudecken. Auch das Auge suche man, ohne gleich daran zu tasten, im Lauf einer Unter-
haltung ziT besichtigen, mit Vorhalten interessanter Dinge in die gewünschte Stellung
zu bringen. Sobald das Kind misstrauisch geworden, kann nur mit Gewalt und Schmerzen
in einem plötzlichen Kriegszustand das zusammengekniffene Auge wiedergeöifnet werden,
sei es mit geschickt flach bis zum Rand auf die Lider gelegten Fingern, sei es mit Des-
MARREs'schen Lidhaltern. Dem auf dem Schosse festgehaltenen Kinde muss der Kopf
zwischen den Händen eines zweiten Gehilfen oder den Knieen des Arztes fisirt werden.
Behufs Anwendung des Augenspiegels kann man auch beim Kind dreist einen Tropfen
O'o^o-iger Atropinlösang, auch Homatropin l"/,,, Ephedrin (1,0) -\- Homatropin. hydrochl.
(0"01 : 10) oder Cocain 4<'/o, deren pupillenerweiternde Wirkung rascher wieder vergeht,
eingeträufelt werden.
Bei Besichtigung der Mund-Rache nhöhle hindert zunächst die angeborene
Neigung, sich dagegen durch Mundschluss zu wehren. Bei älteren kann der Hausarzt,
wie ich jetzt erst wieder bei einem sonst sehr eigenwilligen Prinzen gesehen habe,
diese wichtige Procedur der ersten Kindheit sehr erleichtern, wenn er die Mutter
veranlasst, dem Kind gewohnheitsgemäss in typischer Weise in den Rachen zu sehen.
Dem Kleinen wird dann das zu etwas Alltäglichem und Selbstverständlichem. Ein
leichter Kunstgriff, den Mund zu öffnen, ist ein Druck auf den Schleimhautansatz der
nach aussen gewendeten Unterlippe. Beim zahnlosen Säugling kann man dann mit
dem Finger rasch zwischen die Kiefer fahren und so die Schleimhaut auf Soor,
Aphthen u. dgl., auch auf den allerseits interessirenden Zahndurchbruch untersuchen.
Schwieriger wird beim widerstrebenden Kind das Unternehmen, sobald Zähne da
sind. Zunächst bei diesen zu bleiben, so sind sie noch in ihrer Zahl, Form und Stel-
lung leicht klarzustellen, insbesondere die wichtigen Veränderungen an den Vorder-
zähnen, wo grübchenartige und streifige Defecte auf eine durch schwächende Mo-
mente (Rhachitis, Scrophulose etc., auch Lues) hervorgerufene Hypoplasie (Beeten,
Neumann) hinweisen. Lediglich auf Lues zu deuten sind nur die eigentlich Hut-
CHiNSON'schen Veränderungen am untern Zahnrand, der halbmondförmige Ausschnitt
desselben mit Abrundung der seitlichen Ecken. Will man nun bei bezahnten
Kindern weiter nach innen sehen, so halte ich, wenn man nicht nach dem erwähnten
Manöver mit der Unterlippe sofort mit einem dilatirenden Instrument (Spatel)
zwischen die Zähne kommt, mich nicht mit Nasezuhalten und ähnlichen Auskünften
auf, sondern gehe direct in der selbst beim älteren Kinde genügend zugänglichen
Lücke hinter den Zähnen mit dem Finger zwischen die Kiefer und gegen den
weichen Gaumen vor. Nun öffnet Würgen jedem Kind den Mund,- und geht man
mit dem Spatel sofort genügend weit auf den Zungenrücken, so kann man den
Mund offen halten für alles, was man will, zunächst für die Berücksichtigung
954 UNTERSUCHUNG DER KINDER.
u. s, w. der Racheuorgane. Einen wichtigen, weitern Zweck vei-folgt man damit
noch, die Entnahme von Untersuchungsmaterial aus dem Rachen. Bei Diphtheritis
bekommen wir es am bequemsten und unschädlichsten mit einem sterilisirten
Schwämmchen, das an die kranke Stelle angedrückt wird und dann seinen Inhalt
für Mikroskopirung und Impfung auf Blutserum darbietet. Aehnlich gewinnt man
Auswurf von hustenden Kleinen, die denselben allein noch nicht herausbringen. Man
nimmt ihn ebenfalls mit einem solchen Schwämmchen oder "Watte oder einem Ka-
theter aus dem Rachen, in den er während des Hustens geworfen wird, auf und
kann nun besonders die wichtige Untersuchung auf Tuberkelbacillen anschliessen.
Für längere Beschäftigung im Mund und Rachen wird man dann entweder die (höl-
zernen) Spatel zwischen den seitlichen Zähnen auf die Kante stellen oder einen um-
wickelten Keil zwischen die Zähne bringen. Um den Rachen zu durchtasten, benutzt
man den Langenbegk' sehen Finger, aber nicht für den zu fühlenden, sondern für
einen Finger der anderen Hand, die nur die Zähne auseinanderhält. Braucht man
für eingehenderes Zugreifen und Operiren ein längeres Offenstehen des Mundes, so
ist jetzt viel besser als die RosEK'sche Dilatationszange die dem O'DwYEE'schen
Intubationsbesteck beigegebene Mundklemme. Wahrscheinlich macht diese auch den
allerdings noch etwas ruhiger liegenden WniTBHEAD'schen Mundspiegel unnöthig.
Natürlich wird man bei jedem etwas älteren und verständigen Kind nach Bekannt-
machung mit ihm durch freiwilligen Vertrag alle diese Zwangsmassregeln für die Unter-
suchung unnöthig zu machen suchen. Dann würde man die nun eventuell folgende Pha-
ryngoskopie und Laryngoskopie wie beim Erwachsenen nur mit etwas kleineren Spiegel-
nummern Yornehmen können. Man cocainisirt mit 10''/o Lösung und nicht sehr vollem
Pinsel. Die Zunge wird von dem Untersucher vorgezogen oder mit dem Spatel nieder-
gedrückt. Der Spiegel für den Kehlkopf ist stärker, als beim Erwachsenen, 100 statt 135°,
abgeknickt (Roth). Statt mit dem Pharyngoskope, als welches wir einen kleineren, nach
Mackenzie benannten, am Stiele beweglichen Spiegel benutzen, können auch durch Fühlen
körniger, leicht blutender Massen die für Kinder wichtigen Pharynxgranulationen diagnosti-
cirt werden.
Bei der Untersuchung der Brust-Organe des Kindes percutire ich
nur ohne Instrumente, Finger auf Finger, wozu der gut schwingende Thorax sich aus-
nehmend eignet. Als Plessimeter wäre das SEiTz'sche geeignet, das eine viel schmä-
lere Hälfte hat, sowie das von Baas. Ich percutire nicht zu stark und berücksichtige,
dass die Rippe einen matteren Schall gibt, als das Interstitium, die starken gekrümm-
ten (scoliotischen) Stellen dumpfer klingen und das Geschrei die gleiche Folge hat;
insbesondere verdient die von A. Vogel aufgeklärte Thatsache Beachtung, dass H. U.
R. über der Leber dadurch eine Dämpfung erscheint, die bei den kurzen Inspira-
tionen zwischen dem Schreien wieder verschwindet. Nach Sahli finden sich die unteren
Lungengrenzen hinten in der Höhe des 11. Dornfortsatzes, vorn rechts an der 6. Rippe,
links in der Axillarlinie an der 9. Mir scheint, dass die Leber-Lungen- und Herz-
Lungengrenze beim Kind durchschnittlich um die Breite eines Interstitiums höher
liegt als beim erwachsenen Manne, die Leber also an dem unteren Rand der 5. Rippe.
Indem ich die Grenzen bei mittlerer Percussionsstirke so ziehe, dass der Finger
unterhalb auf deutlicher Dämpfung, oberhalb auf deutlich sonorem Schall liegt, ohne
Rücksicht auf relative und absolute Dämpfung, finde ich die obere Herzgrenze beim
erwachsenen Mann auf dem oberen Rand der 4. Rippe, beim Kind am unteren
Rand der 3. Rippe. Bestätigt und erklärt wird die Wahrnehmung dieser Unter-
schiede durch den auch von Sahli zugegebenen höheren Zwerchfellstand beim Kinde.
Nach der Breite geht die Herzdämpfung von der Mitte oder dem linken Rand des
Sternums bis zur oder gegen die Mamillarlinie. Der Spitzenstoss liegt im 4. oder 5,
Interstitium in oder innerhalb der Mamillarlinie. Im oberen Theil des Sternums
kann man oft eine vergrösserte Thymus oder geschwollene Bronchialdrüsen per-
cutiren (y. Bd. III. pag. 653).
Ueber die Percussion im Kindesalter kann nie ein Abschluss gemacht werden,
ohne den Beisatz, dass auch die untere Lebergrenze tiefer steht als beim Erwach-
senen, d. h. den Rippenbogen in der Mamillarlinie auch bei gesunden Kindern meist
um einen bis einige, 0"5 — 3'6, einmal bei einem 13jährigen 6*5 cm (Steffen) über-
UNTERSUCHUNG DER KINDER. 955
schreitet. Der normale, leere Magen ist nicht percutirbar. Die Percussion der Milz
hat dieselben Schwierigkeiten wie beim Erwachsenen und gibt nur bei continuirlicher
Beobachtung mit Aufzeichnung der Grenzen ein verwertbares Resultat. Ich fixire
die Percussionsergebnisse alle mit leichten Strichen eines in Tinte getauchten Höllen-
steinstiftes.
Wenn man nicht mit kalten Händen und Instrumenten und nicht ungestüm
percutirt, so kann man entgegen anderen Vorschriften die Percussion vor der Aus-
cultation vornehmen, weil bei jener Schreien eigentlich noch unangenehmer ist, liei
der letzteren aber leichter hervorgerufen wird. Percussion und Auscultation des Rückens
müssen im Sitzen ausgeführt werden, wobei das Kind an den Oberarmen dicht an
der Achsel gefasst und aufrecht gehalten wird. Ich behorche die Athmung direct
mit dem Ohre, für Ansatz des Hörrohres wäre eine weiche Gummiunterlage zweck-
mässig. Das kindliche Athmen ist immer rauher und durch Rasselgeräusche, welche
Flüssigkeitsansammlung im Halse beim Schreien machen und grob über die ganze
Brust ausstreuen, lasse man sich nicht irreführen. Die unglaublich kurzen Inspi-
rationen zwischen dem Schreien veranlassen zu grösster Aufmerksamkeit auf das
Einathmungsgeräusch und werden oft durch tönende Inspiration noch störender. Im
übrigen ist alles analog dem Erwachsenen, auch bei den Tönen und Geräuschen
des Herzens, welch letztere aber mit dem Stethoskop isolirt werden müssen.
Wichtiger als die bisherige Untersuchung ist bei dem kleinsten Kind, dem
Säugling, schon seinem Namen entsprechend, die Untersuchung des Bauches,
in besonderem der Verdauungsorgane. Wenn Aufstossen und Erbrechen auf acute Schä-
digung des Magens hindeuten, so wird eine Spülung des Magens den verdorbenen
und verderblichen Inhalt desselben auch den Augen und der Nase demoustriren.
Wenn Blähung, öftere Neigung zu Erbrechen, Vortreibung der Mageugegend, mangel-
haftes Gedeihen des Kindes, öfter auch ungenügender Appetit auf eine chronische
Störung des Magens hinweisen, so wird 2 — 2^2 Stunden nach einer regelrechten
Milchmahlzeit, wo der Magen leer sein sollte. Ausheberung und Ausspülung noch
einen manchmal g^rossen, unverdauten, gährenden Inhalt und damit ungenügende pep-
tische und motorische Leistung des Magens nachweisen. Percussion eines vollen
Schalls von der Magengrube ab und seitwärts bis zu einer Aeuderung des Klangs
lässt die Grösse des theilweise gasgefüllten Magens vermuthen. Wenn dann inner-
halb dieser Region durch verschiedene Seitenlagerung und Aufsetzen ein hin- und
herfliessender Speiserest an der jeweiligen, unteren Grenze percutirt werden kann,
so wird die Gegend schon ziemlich sicher als der dann gewöhnlich vergrösserte
Magen nachgewiesen. Wird hernach der Magen bei der Spülung mit Wasser stärker
gefüllt und wieder entleert, so kann man in der abwechselnd gedämpften, dann auch
vorgetriebenen, und wieder tympanitischen Region sehr scharf die Ausdehnung des
Magens bestimmen. Wenn ich dazu eben bei einem 4 kg schweren Kind, bei dem
schon lange durch Spülen nach 2^2 St. die motorische Insutficienz bekannt gewor-
den war, diese gedämpfte Auftreibung des Magens durch Einführen von 200 ccm
Flüssigkeit bis merklich unter den Magen bei kugeliger Vortreibung nach vom be-
werkstellige, so habe ich die Dilatatio ventriculi zweifellos nachgewiesen und einen
wichtigen Anhaltspunkt für die Behandlung noch sicherer gestellt. Wenn wir nun
mittels täglicher oder kurzperiodischer Kinderwägung die durch die Verdauung be-
wirkte, genügende oder mangelhafte Anbildung erkennen, so bleibt zu einer für unsere
jetzigen Kenntnisse ausreichenden, praktischen Erforschung des Verdauungsorgans nur
noch die bei darmkranken Kindern unbedingt vom Arzt selbst auszuübende fort-
laufende Controle der Stuhlentleerungen als Erfordernis übrig. Diese so natürliche
Pflicht kann trotzdem nicht nachdrücklich genug in Erinnerung gebracht werden. Die
Stühle müssen täglich der Zahl, der Farbe, Consistenz, dem allgemeinen, gleichmässigen
oder ungleichmässigen Aussehen, ferner der Reaction nach notirt und wo irgend
Anlass dazu vorliegt, mikroskopirt werden (Vergröss. 300). Schleim- und abnormer
Fettgehalt in Form von Fetttropfen und Fettnadeln lassen sich dabei ohne weiteres.
956 VARICELLEN.
halb- und unverdaute Stärke mittels LuGOL'scher Lösung nachweisen. Die wich-
tigsten diätetischen und therapeutischen Folgerungen entspringen aus dieser Controle.
Diagnostisch und therapeutisch zugleich verwertet sich dann die Darmspülung
in Form der Darmreinspülung, wie sie in meinen Büchern über „Kinderernährung'-
und „Lehrbuch der Kinderkrankheiten" (11, Aufl. Enke) näher beschrieben ist.
Wo es sich darum handelt, in beschränkter Zeit ein Urtheil abzugeben, ohne dass
gerade ein Stuhlgang vorliegt, oder wo man zu bestimmten Zwecken, Prüfung der
Eeaction, Untersuchung auf noch bewegliche Amöben, eines frischen Stuhlganges be-
darf, da kann man davon in der nöthigen Menge fast immer durch Einführen
eines After röhrchens z. B, aus hartem oder weichem, derb elastischen Kaut-
schuk erhalten. Ueber einen Punkt hat leider die Stuhlganguntersuchung bis jetzt
noch gar nichts ergeben, über- Vorkommen von Bacterien, die von Bedeutung für
Störungen der Verdauung sind. Wie es scheint werden sie von der Masse der ver-
schiedenen Darmparasiten noch zu sehr verdeckt. Nur Tuberkelbacillen sind direct
oder, indem man den Stuhlgang mit Wasser verrührt, durch ein Tuch laufen und
nun die Flüssigkeit einen Tag absetzen lässt, sicher nachweisbar. So findet man
die seltene Darmtuberculose und schliesst sie noch häufiger da aus, wo manche
noch zu leicht Tabes mesaraica annehmen, dann die Hände in den Schoss legen und
das Kind sterben Jassen, anstatt mit rationellen Ernährungsmaassnahmen der chro-
nischen Verdauungsschwäche zu Leibe zu gehen. Noch leichter findet man in mikro-
skopischen Stuhlpräparaten die Eier von Eingeweidewürmern und kann daraus solche
sehr regelmässig und auch dann erkennen, wenn der Abgang der Thiere selbst gerade
nicht dazu verhilft.
Den Urin vom Stuhlgang getrennt zu besichtigen und zu untersuchen, ist nur
bei dem schon etwas älteren und gebildeten Kinde einfach. Bei kleineren, je nach
der letzten Eigenschaft bis zu i/g oder 172 Jahren, bleibt nichts übrig, als sich
jenen mit Katheterisirung rein zu verschaffen. Man kann das mit metallenen Ka-
thetern, den dicksten, welche die Urethralmündung passiren, thun ; bei Knaben ziehe
ich, als schonender, zunächst weiche oder elastische, in schwierigen Fällen letztere
mit Mercierkrümmung vor, wiederum von einer der Urethralmündung entsprechenden
Dicke, gewöhnlich No. 6 — 8 der französischen Scala. Die elastischen Katheter liegen
vorher im Sublimat, auch Kresol, nicht Carbol; Nelatons und metallene kann man
kochen. Nur mit Hilfe dieser Untersuchung wird man auch bei kleinen Kindern die
von EscHEKicH und Tbumpp jetzt nachgewiesene und besonders bei letzteren überaus
häufige Colicystitis, d. i. eine Blasenentzündung mit Schleim und Eiter, welche
wohl durch das mit anwesende Bacterium coli veranlasst ist, aufdecken. Will man
aus dem gewonnenen Harn cultiviren, so wird es besser sein, die mit Sublimat etc.
desinficirten Instrumente nachträglich mit gekochtem Wasser zu spülen. Vermutheter
Urinverhaltung kann durch Betasten und Percutiren der Gegend über dem Schambein
näher getreten werden. Für Steinuntersuchung habe ich eine für Kinder recht ge-
eignete, elastische Sonde mit Metallansatz vorn und Gummischlauch und Olive am
äusseren Ende angegeben; mit der Olive im Ohr hört man die leiseste Berührung
des Steines. Insbesondere bei Urinbeschwerden und auch sonst untersucht man das
Präputium und wird sehr häufig eine Phimose, auch mit entzündlichen Beschwerden
dahinter finden und sich zu baldiger Operation veranlasst sehen. Dann schaue man
auch nach weiter zu vermuthenden Wasserbrüchen, Leisten- und Nabelbrüchen, denen
allen man bei kleinen Kindern schon zu Leibe gehen kann, was die letzten beiden
betrifft, sogar so früh wie möglich zu Leibe gehen muss. biedert.
Varicellen. (Windpocl-en, Variol. nothae; Variol. spur.; Petite veröle
volante; Wasserpocken; Schafpocken.) Unter Varicellen verstellt man
eine fast nur im Kindesalter auftretende, kurzdauernde Infections-
krankheit, die mit Bläschenbildung einhergeht. — Die Selbst-
ständigkeit des Leidens besonders der Variola gegenüber, deren Abgrenzung
wir noch zu besprechen haben werden, ist zu allen Zeiten lebhaft bestritten
VARICELLEN. 957
worden, heute aber wohl kaum mehr zu bezweifeln. — Die Krankheit ist
contagiös, tritt in häufigen, meist nicht sehr umfangreichen Epidemien auf,
kommt aber auch sporadisch vor. Ihre Ausbreitung ist unabhängig von der
Jahreszeit. Erwachsene werden fast niemals betroffen. Die Häufigkeit in
den verschiedenen Lebensjahren des Kindesalters gibt folgende Tabelle von
Baader wieder.
Von 584 Fällen waren ergriffen das
1. Lebensjahr 93mal = 16%
2. „ 70 „ = 12%
.8.-5. „ 219 „ = 37-5«/o
6.— 10. „ 191 „ = 32-70/0
11.-15. , 1 , ^ l-P/,
16 -20. „ 2 ., = 0-40/0
20.-40. „ 2(?), = 0-40/0
Das Geschlecht der Kinder ist ohne Einfluss.
Die Immunität nach einmaligem Ueberstehen der Krankheit ist keine
absolute, da ein wiederholtes Befallenwerden nicht gar selten beobachtet ist.
Krankheitsbild: Die Dauer der Incubation wird verschieden ange-
geben. Henoch bestimmt sie auf 13 — 14 Tage, jedoch scheinen die Schwan-
kungen sehr erhebliche zu sein. Demme berichtet über einen Fall, in dem
die Incubationszeit nur drei Tage, über einen anderen, in dem dieselbe drei
Wochen betrug. Die Schwankungen bei Bestimmung der Incubation sind ja
bei allen Infectionskrankheiten sehr erklärlich, da ja bei der Berührung mit
dem Infectionsstoff derselbe nicht sogleich in den Körper eingedrungen zu
sein braucht; es ist ja leicht denkbar, dass er auf der Haut oder in den
Kleidern haften bleiben kann, um durch irgend einen Zufall später von hier
aus die Infection zu bewirken. — Krankhafte Erscheinungen sind während
der Incubation kaum beobachtet worden. Ebenso symptomlos pflegt das
1 — 3 Tage dauernde Prodromalstadium zu verlaufen; hier sind aber doch
schon Krankheitsäusserungen wiederholt hervorgetreten. Sehen wir ab von
den unsicheren Angaben der Angehörigen über Verdauungsstörungen, Appetit-
losigkeit, Unlust u. s. w., so sind zunächst Temperatursteigerungen zuweilen
registrirt. Henoch sah dieselben nur in solchen Fällen, in denen gleichzeitig
Angina oder Conjunctivitis bestanden. Relativ häufig sah man flüchtige Ery-
theme, „Rash", die meist im Gesicht, nach Thomson besonders oft an der
Kopfhaut beginnend, schnell sich über den übrigen Körper ausbreiten.
Canstatt hat dysurische Beschwerden, Harndrang, Tenesmus als Prodrome
beobachtet. Vereinzelt stehen zwei Fälle von Demme: Einmal bestanden bei
einem 272jährigen Kinde drei Tage lang hohes Fieber, Somnolenz, eklamp-
tische Anfälle; in einem anderen Falle eröffneten 18 Stunden vor der Erup-
tion heftige, blutige Diarrhöen die Scene.
Das Eruptionsstadium beginnt mit dem Auftreten mehr oder weniger
zahlreicher, runder oder ovaler, meist bis linsengrosser, über die Umgebung
oft spurweise erhabener Flecke, die ganz unregelmässig über den
Körper zerstreut sind. Sehr schnell, in wenigen Stunden spriessen auf
jedem Fleckchen kleine Bläschen hervor, die auch rund oder oval, prall,
wasserhell sind, fast niemals die Andeutung einer Delle zeigen. Oft umgibt
das Bläschen der Rest des Fleckchens als rother Hof; ausnahmsweise kann
derselbe ziemlich gross und tiefroth gefärbt sein. Nur selten findet man
grössere oder gar ganz grosse Blasen; ebenso selten vergrössern sich die
Blasen nachträglich durch periphere Ausbreitung oder es kommt zu einer
Confluenz benachbarter Bläschen. Nach Thomson sollen zuweilen dieselben
gruppenförmig, wie beim Herpes Zoster angeordnet sein; jedoch soll das
nur an den Extremitäten zur Beobachtung kommen. — Der Inhalt der Bläs-
chen ist wasserhell, reagirt neutral oder alkalisch und enthält wenig Leuco-
cyten. Nur bei ausnahmsweise langem Bestände kündet eine Trübung des
958 VARICELLEN.
Inhalts einen grösseren Reichthum an Leucocyten an. — Aeltere Autoren
berichten über lufthaltige Varicellenbläschen {Variolae ventosae s. emphyse-
matosae); blutiger Inhalt soll vorkommen. — Der Sitz der zerstreuten Bläschen
ist vornehmlich der Rumpf, und hier sind besonders die Druck und Spannung
ausgesetzten Theile befallen. Bei Kindern, die vornehmlich auf einer Seite liegen,
sollen an dieser, bei solchen, die viel auf dem Rücken liegen, am Rücken
besonders die Varicellenbläschen auftreten. — Die Schleimhäute sind in
einem grossen Theil der Fälle mit ergriffen. An Lippe, Zunge, Zahnfleisch,
Wangenschleimhaut, am harten Gaumen, im Pharynx, an der Nasenschleim-
haut, an den Genitalien können Bläschen entstehen. Meistens präsentiren
sich die Veränderungen als rothe Erosionen, da bei der Zartheit der Epithelien
es gar früh zu einer Zerstörung der Bläschendecke kommt. — Der gewöhn-
liche weitere Verlauf des Exanthems ist nun, dass die Bläschen schrumpfen
und nach 1 — 2 — 4tägigem Bestände eintrocknen; es bilden sich gelbliche
Borken, die nach einigen weiteren Tagen abfallen und nur eine leicht pigmen-
tirte Hautstelle zurücklassen. Häufig wird die Bläschendecke durch die
kratzenden Finger schnell zerstört, da lebhaftes Jucken nicht selten die Affec-
tion an der Haut begleitet. — Die Eintrocknung der Bläschen erfolgt nicht
am ganzen Körper gleichmässig, da dieselben meistens schubweise auftreten
und daher verschiedenes Alter haben. Die Folge davon ist, dass man an der
Körperfläche gleichzeitig alle Stadien zu Gesichte zu bekommen pflegt.
Während der Eruption besteht stets Temperaturerhöhung, die wegen
ihrer Geringfügigkeit allerdings oft unbeachtet bleibt; sehr selten beträgt sie
mehr als 1 — 2 Grad. Dieser Fieberzustand hält aber niemals lange an; dass
er Störung des Allgemeinbefindens, Digestionsanomalien, bei kleinen Kindern
selbst Convulsionen unter Umständen im Gefolge haben kann, ist leicht ver-
ständlich.
Von sonstigen, häufigeren Begleiterscheinungen seien noch Drüsen-
schwellungen, Katarrhe der Luftwege hervorgehoben.
Nicht gar selten zeigt der eben geschilderte Verlauf mannigfache Ab-
weichungen, zu denen vor allem auch ein abortiver Verlauf gehört. Es ent-
stehen nur spärliche rothe Flecken, auf denen sich nur wenige oder gar keine
Bläschen bilden. Den Gegensatz hierzu bietet die abnorme Verlängerung des
Verlaufes durch selbst wochenlang einander folgende Nachschübe. Ist jeder
Nachschub von einer Temperatursteigerung begleitet, dann erhält man eine
sehr unregelmässige Temperaturcurve. Demme theilt zwei Fälle mit, die mit
Rash und hoher Temperatursteigerung einhergehende Nachschübe zeigten; in
beiden folgte später eine Nephritis. Zuweilen treten die Nachschübe sogar
so spät auf, dass man schon von Recidiven sprechen kann. Eigentliche Reci-
dive sind aber wohl nicht so häufig, wie manche Autoren früher angenommen
haben. — Eine abnorme Form des Verlaufes stellt die purulente Umwandlung
des Bläscheninhaltes dar; die entstehenden Pusteln zeigen oft eine Delle und
sind dann oft den Variolapusteln sehr ähnlich. Die Aehnlichkeit des Krankheits-
bildes wird noch grösser, wenn diese Vereiterung des Bläscheninhaltes sehr
ausgebreitet ist, da dieselbe dann zu hohem Fieber und erheblicher Störung
des Allgemeinbefindens Veranlassung gibt. Kommt es zur Zerstörung des
Coriums, dann folgt natürlich Narbenbildung, die sonst nur da statthat,
wo durch Kratzen erheblichere Läsionen entstanden sind. — Die grösste
Malignität erhält das sonst ziemlich unschuldige Krankheitsbild der Varicellen,
wenn es zur Gangränescenz kommt (Varkellae gangraenosae). Nachdem bereits
Biedert die Möglichkeit unter Citirung englischer Autoren (Hutchinson,
Crocker, Barlow) erwähnt, hat Demme zwei charakteristische Fälle mit-
getheilt: Der erste betraf einen 2% Jahre alten Knaben, der mit hohem
Fieber erkrankt; 24 Stunden darauf Varicellenexanthem. Unter Fortbestand
des Fiebers beginnt einen Tag später die Gangränescenz entsprechend den
VARICELLEN. 959
Bläschen; es kommt zur Blosslegung und brandigen Zerstörung des Coriums,
zur Entstehung zahlreicher grosser Substanzverluste; Exitus letalis. Im zwei-
ten Fall brachen bei einem durch Pertussis, Pneumon. catarrh., Morbilli sehr
herabgekommenen Kinde ohne Prodrome Varicellen aus. Hinter dem Ohr ent-
steht dann Gangrän, die zur Blosslegung von Gefässen und Nerven führt;
später kamen gangränöse Stellen am übrigen Körper hinzu. Nur durch ener-
gische, locale Jodanwendung wird Heilung erzielt.
Nachkrankheiten der Varicellen waren früher kaum allgemein bekannt,
bis Hexoch die Aufmerksamkeit auf die 1 — 2 Wochen später auftretende
Nephritis vavicellosa lenkte, welche gar nicht so selten zu sein scheint.
Uebrigens ist dieselbe schon früher von englischen Autoren beobachtet worden.
Der Verlauf der Nephritis scheint ein milder zu sein. — Auf der Haut hat
man nach Varicellen mancherlei Aifectionen entstehen sehen, von denen ich
nur den wohl mit Urticaria papulosa zu identiticirenden Varicellen- Strophu-
lus hervorheben möchte.
Varicellen können im Anschluss an andere Infectionskrankheiten des
Kindesalters auftreten, sich aber auch direct mit solchen combiniren. Morbilli,
Scarlatina, Diphtherie können gleichzeitig mit Varicellen die Kinder befallen.
Ursache. Das Virus der Varicellen kennen wir noch nicht; es ist
jedenfalls mikrobiärer Natur. Alle bisher als Urheber der Varicellen bezeich-
neten Mikroorganismen haben sich nicht als solche legitimiren können.
Diagnose. Bei der Abgrenzung der Varicellen kommen zunächst eine
Pteihe von Hautleidcn in Frage, die hier kurz citirt werden müssen: Der
Pemphigus w^eist grössere, schlaffe Blasen auf, verläuft langsam. Der
Herpes simplex (labialis, facialis, genitalis) zeigt eine umschriebene Gruppe
kleiner Bläschen auf entzündlichem Grunde, während für den Herpes Zoster die
typische Anordnung entsprechend dem Nervenverlaufe charakteristisch ist.
Bei der Miliaria finden wir miliare Bläschen mit saurem Inhalt auf be-
deckten Körpertheilen neben starken Schw^eissen. Das Ekzema vesicu-
losum ist meist ein umschriebenes Leiden mit lebhaft entzündlichen Haut-
veränderungen.
Die Syphilis, wo sie zu Pustelbildung führt, — Bläschen kommen
nicht vor — , könnte nur in den seltenen Fällen in Frage kommen, in
welchen die Varicellenbläschen eine pustulöse Veränderung erfahren. Die
infiltrirte Basis, sonstige luetische Erscheinungen werden aber immer leicht
Varicellen ausschliessen lassen. — In allen diesen Fällen ist die Abgrenzung
eine leichte. Schwieriger ist zuweilen die Abgrenzung der Variola. Wir
werden die nöthigen Anhaltspunkte gewinnen, wenn wir die gegen die Iden-
tität beider Leiden sprechenden Gründe durchgehen, welche ja wunderbarer
Weise noch immer Vertheidiger findet.
Die Dualisten führen folgende Differenzen ins Feld: Während im Pro-
dromalstadium der Variola meistens recht starke Beschwerden, besonders
quälende Kreuz schmerzen vorhanden sind, verläuft dasjenige der Varicellen
fast stets ohne jedwedes Symptom. — Die Variolapustel geht hervor aus einer
Papel, ist gedellt, tritt mit Vorliebe zuerst im Gesichte auf. Bei den Vari-
cellen dagegen, wo es zur Pustelbildung kommt, vermisst man das papuläre
Vorstadium, meistens — nicht immer — auch die Delle. Die Vertheilung
der Pusteln ist eine regellose. Allerdings ist hier die Grenze oft schwer zu
ziehen, wenn man erst spät hinzukommt, die Pusteln und zwar gedellt, fertig
vorfindet. Man hat dann keinen Anhaltspunkt dafür, ob dieselben ein papu-
läres Vorstadium gehabt haben oder nicht. Es kann da die Unterscheidung
auf Grund des augenblicklichen Krankheitsbildes, des Status präsens. sehr,
sehr schwierig, ja unmöglich sein. Ich habe das selbst vor nicht langer Zeit
durchkosten müssen, als mit Rücksicht auf die polizeilichen Maassnahmen
eine schnelle Entschliessung verlangt wurde. — Von Bedeutung ist ferner,
960 VARICELLEN.
dass die Eruption des Variolaexanthems auf einmal auftritt, keine Nachschübe
zeigt, was bei den Varicellen fast die Regel ist. Bei letzteren zeigen deshalb
die Patienten gewöhnlich alle Stadien des Exanthems neben einander. — Das
Fieber gestaltet sich bei der Variola bekanntlich so, dass es im Prodromal-
stadium lebhaft hervortritt, um mit der Eruption abzufallen. Bei den Vari-
cellen dagegen tritt die Temperatursteigerung erst gleichzeitig mit der Erup-
tion ein. — Sehr wichtige, dreist entscheidende Differenzen finden wir in der
Immunisirungsfrage. Es ist eine sichere Thatsache, dass die Impfung nicht
gegen Varicellen schützt und unmittelbar nach Ueberstehen der Varicellen
stets von Erfolg ist. Ich habe jüngst ein Kind mit bestem Resultate geimpft, j
bei welchem die Varicellen gerade im Ablaufen begriffen waren. Dieser Um- ^
stand macht auch begreiflich,' dass die Varicellen fast ausschliesslich Kinder
ergreifen, während Variola meist Erwachsene befällt, bei denen die durch die
Impfung erworbene Immunität bereits erloschen ist. — Experimentell ist
Freyer dieser Frage näher getreten: Er hat ein Kalb mit dem Inhalte der
Varicellenbläschen geimpft — keinerlei Wirkung. Kurze Zeit darauf impfte
er dasselbe Kalb mit Vaccine — voller Erfolg. Entsprechend diesen Thierver-
suchen ist es auch niemals gelungen, durch Impfung mit dem Inhalte der
Vaccinebläschen beim Menschen Variola zu erzeugen, was ja mit Hilfe des
Pustelinhaltes der Variola ein Leichtes ist. Ich brauche ja nur auf die früher
viel geübte Variolisation hinzuweisen. Die Uebertragung des Varicellen-
inhaltes auf andere Menschen, die Steiner achtmal mit positivem Erfolge
ausgeführt hat, bewirkte nach achttägiger Incubation und viertägigem Prodro-
malstadium mit erheblichen Störungen den Ausbruch eines Varicellenexan-
thems.
Alle diese Momente sind so eindeutig, dass ein Zweifel an der Ver-
schiedenheit der beiden in Rede stehenden Krankheiten kaum obwalten kann,
wenn auch klinisch zuweilen momentan Schwierigkeiten der Diagnose er-
wachsen. Stellen wir ihl folgenden die Differenzen kurz tabellarisch zu-
sammen: .
Varicellen. Variola.
Kaum nennenstverte Prodrome. Starke Beschwerden im Prodromal-
stadium; besonders quälende Kreuz-
schmerzen.
Fast ausschliesslich nur Kinder Jedes Alter ergriffen^ Kinder relativ
ergriffen. am wenigsten, da hei ihnen die durch
die Impfung erworbene Immunität noch
schützt.
Bläschen, die aus Flecken^ nicht aus Pusteln, die ein papuläres Vorstadium
Papeln hervorgehen, keine Delle zeigen, haben, deutlich gedellt sind, zuerst meist
regellos am Körper vertheilt sind. an der Stirn, in der Umgebung des
Mundes sich localisiren.
Eruption erfolgt schuhiveise, daher Eruption auf einmal; keine Nach-
Bläschen in allen Stadien sichtbar; Schübe.
Nachschübe.
Temperatursteigerung bei Beginn der Temperatursteigerung im Prodromal-
Eruption. Stadium; Temperaturabfall beim Aus-
bruch des Exanthems.
Impfung schützt nicht gegen Vari- Impfung schützt vor Variola ; Vaccine
cellen; Impfung nach Varicellen hat haftet nicht bei solchen, die Variola.
immer Erfolg. überstanden haben.
Mit dem Bläscheninhalt ist es nie- Impfungen mit dem Inhalt der
mals gelungen., Variola zu erzeugen. Variolapusteln ruft Variola hervor
(Variolisation).
•VARIOLA. 961
Anatomie: Der Sitz der Varicellenbläschen ist ein sehr oberflächlicher,
der Bau derselben ein fächriger. Sticht man ein Bläschen an, dann sickert
die Flüssigkeit nur sehr allmälig aus.
Prognose: Der Verlauf der Windpocken ist in der weitaus grössten
Mehrzahl der Fälle ein so günstiger, dass die Krankheit kaum zu irgend
welchen Bedenken Veranlassung gibt. Lebensgefahr bringen nur die Varicellae
gangraenosae.
Therapie: Man kann sich auf allgemeine, diätetische Maassnahmen
beschränken. Gegen lebhafteres Jucken ist eine Kühlsalbe
Adeps. lanae 5 0
üng. Zinc. henzoat. 10' 0
Aq. Rosar. 20-0
Menthol 1-0
M. f. ung.
zu empfehlen. Mit Rücksicht auf die Möglichkeit des Eintritts einer Nephri-
tis wird man die Kinder bei ungünstiger Wirkung 1 — 2 Wochen das Zimmer
hüten lassen. — Etwaige Complicationen behandelt man symptomatisch. Her-
vorzuheben ist nur, dass Demme, wie oben erwähnt, einen schweren Fall von
gangränösen Varicellen durch energische und wiederholte örtliche Application
von reiner Jodtinctur zur Heilung brachte. jessner.
Väriolcl {Variolois, Pocken, Blattern). Unter den rein contagiösen
Krankheiten nehmen die acuten Exantheme die erste Stelle ein, eine
Gruppe von Erkrankungen, welche neben typischen Allgemeinerscheinungen
durch einen besonderen, wohlcharakterisirten Hautausschlag, welcher nur
der einzelnen Gruppe eigenthümlich ist, ausgezeichnet, auftritt. Hervorragend
unter diesen acuten Infectionskrankheiten sind zu jeder Zeit die Pocken
gewesen, nicht nur, weil sie sehr genau charakterisirt in ihrem Verlaufe
sind, sondern vor allem deshalb, weil es kaum eine Erkrankung giebt, welche
in früheren Jahrhunderten, vor Einführung der segensreichen Vaccination,
solche Verheerungen angerichtet hat : Tausende und Abertausende von Opfern
forderte sie auf ihren Seuchezügen, sie wurde zur rechten Volkskrank-
heit, durchschnittlich fiel ihr der zehnte Theil der Bevölkerung alljährlich
zum Opfer, während sie ein anderes Zehntel entstellt zurückliess.
Das Wort „Pocken" bedeutet eigentlich „Beutel" oder „Sack" und bezeichnet
ursprünglich das hervorstechendste Symptom des acuten Exanthems auf der Haut; den-
selben Sinn hat das Wort „Variola", welches das Biminutivum von Varus, der Knoten,
ist und auf die Pustel- und Knötchenbildung auf der Haut hinweist. Die langsame Ent-
wickelung der medicinischen Kenntnisse im Mittelalter brachte es mit sich, dass die Variola
häufig mit anderen Krankheiten, welche auch mit Knötchen- oder Pustelbildung auf der
Haut einhergehen, verwechselt wurde; Verwechselungen mit der Pest, mit Syphilis und
selbst mit Masern fanden sehr lange Zeit statt; als man diese Krankheiten von einander
differenciren lernte, bürgerte sich in England für die schwarzen Pocken die Bezeichnung
^small-pox,^ in Frankreich „petite-verole'^ ein, zum Unterschiede von der Syphilis, welche
den Namen ^grosse FocTcen"' führte.
Das Heimatland der Pocken ist nicht sicher bekannt, es ist aber
bestimmt erwiesen, dass Europa nicht die Heimat der Variola ist und dass
erst spät die Pocken in Europa auftraten. In China und Hindostan sind
die Blattern seit mehr denn 1000 Jahren vor unserer christlichen Zeitrech-
nung bekannt gewesen, wurde doch in Indien lange vor Christi Geburt eine
eigene Göttin als Schützerin gegen die Seuche verehrt und durch die Priester
dieser Göttin als Schutz gegen die Krankheit die Inoculation der Pocken
ausgeübt. Auch im Centralgebiet von Afrika sind die Pocken seit alter
Zeit bekannt. Die ersten Berichte über das Vorkommen von Pocken in
Europa tauchen in den südeuropäischen Ländern im zweiten Jahrhundert
nach Christus auf; Gregor von Tours liefert die erste Beschreibung einer
ßibl, med.WiBsenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. öl
962 VARIOLA,
Pocken epidemie 581 nach Chr., welche fast im ganzen Süden von Europa
wüthete. Den Arabern verdanken wir die ersten guten, wissenschaftlichen
Nachrichten über die Variola, vor allem ist es Rhazes, welcher 900 nach
Chr. anschaulich und therapeutisch vernünftig das Kapitel der Variola be-
handelt. Entsprechend der mangelhaften Communication und der wenig
dichten Bevölkerung verbreitete sich die Blatternkrankheit nur langsam in
den mittel- und nordeuropäischen Ländern, erst die Kreuzzüge brachten rasche
Ausbreitung und schlimme Epidemien mit sich im Gefolge. Hatte England
schon 1241 die Pocken kennen gelernt, so wurden sie erst viel später,
nämlich 1493 aus den Niederlanden nach Deutschland eingeschleppt.
Auch in Amerika waren die Pocken unbekannt, sie gelangten aber sehr
bald nach der Entdeckung dahin, und schon 1527 starben in einer verheerenden
Seuche Millionen Leute in Mexico; von hier strahlte die Epidemie über ganz
Amerika aus. Spätere neue Seuchen sind wahrscheinlich durch Neger, welche
aus Afrika importirt wurden, veranlasst worden, ganze Völkerstämme sind in
Amerika durch die Pocken ausgestorben.
Aetiologie,
Die Pocken pflanzen sich nur durch Ansteckung fort, jede
andere Art der Entstehung von Variola ist ausgeschlossen. Die Natur des
Pockengiftes ist aber noch nicht mit Sicherheit erkannt, es liegt zwar die Ver-
muthung nahe, dass es sich um Mikroorganismen handelt, und dahin zielende
Untersuchungen von Weigert, Cohn, Klebs, Pfeiffer, Zülzer, Chauveau,
Burdon- S ANDERSON, Guarnieri {Cytoryetes variolae), denen ich mich an-
schliesse, lehren die Anwesenheit von Bakterien in den Pockenpusteln und in-
neren Organen, aber mehr können wir heute doch nicht sagen, als dass uns
das specifische, organisirte Pockengift noch unbekannt ist. Die häufigste
Quelle der Ansteckung sind Pockenkranke selbst, das Krankheitsgift
haftet an dem Kranken und ist enthalten in den Pockenpusteln. Die frühe-
ren Pockeninoculationen beweisen dies zweifellos. Früher hat man, ehe die
Kuhpockenimpfung bekannt war, Impfungen mit Blatterninhalt an Gesunden
vorgenommen, die Variolation, weil man wusste, dass die Krankheit, nach
absichtlicher Ansteckung durch Einimpfen von Pustelinhalt erzeugt, gewöhnlich
milder verlief, als wenn sie auf natürlichem Wege zum Ausbruche kam; die
Variolation ist der Vorläufer der Vaccination, sie verschafft nicht nur
eine leichtere Pockenerkrankung, sondern gewährt auch Schutz gegen eine
neue Erkrankung an Variola. Diese Pockeninoculationen beweisen auf das
deutlichste, dass das Gift am wirksamsten ist unmittelbar vor dem Eintritte
der Eiterung in den Pusteln, wenn der vordem klare Pockeninhalt sich zu
trüben beginnt. Die Infectionsfähigkeit der Pusteln nimmt später etwas ab,
sie ist aber noch hochgradig und fast nie versagend auch nach dem Ein-
trocknen des Pusteleiters. In China verwandte man früher die Pocken-
schorfe zur Erzeugung von Pocken, indem man sie an Stelle der Impfung in
die Nase von Gesunden einbrachte; gepulverte Pockenschorfe wurde als taug-
liches Impfmaterial empfohlen. Das Pockengift besitzt eine ausserordent-
lich grosse Lebensfähigkeit, in eingetrocknetem Zustande, von der Luft
abgeschlossen, kann der Pockeneiter Monate und Jahre lang aufbewahrt wer-
den, ohne seine Infectionsfähigkeit zu verlieren; der Luft ausgesetzt, ver-
schwindet langsam die Ansteckungsfähigkeit, doch wissen wir nicht, ob der
Pockenkeim einfach abstirbt, oder ob er sich mehr und mehr der Luft mit-
theilt und auf diese Weise verschwindet, eine bemerkenswerte Tenacität aber
zeigt das Pockengift jedenfalls auch, wenn der Poekeneiter der Luft ausge-
setzt ist. Durch Chlor, Brom, Jod, schwefelige Säure, Alkohol, Carbol-
säure, Sublimat, Jodoform, hohe Hitzegrade werden die Variolakeime abge-
tödtet.
VARIOLA. 963
Die Secrete der Kranken, Schweiss, Thränenflüssigkeit, Speichel,
Auswurf, Urin und Fäces enthalten das Pockengift nicht, vorausgesetzt, dass
ihnen kein Pockeneiter beigemischt ist, alle Impfungen mit solchem Materiale
ergeben ein negatives Resultat; fraglich ist es auch, ob das Blut der Pocken-
kranken infectionsfähig ist oder nicht, sichere Beweise liegen nicht vor, die
Verfechter der Infectionsfähigkeit des Blutes stützen sich auf den Versuch
ZüLZERS, welcher mit dem Blute eines Pockenkranken einem Affen Blattern
inoculirte, und auf die Experimente Osianders, welcher durch das Blut pocken-
kranker Schafe gesunde Schafe wirksam impfen konnte; ich selbst habe Blut
von Pockenkranken auf Kälber übergeimpft und keine Pusteln erzeugen kön-
nen; die allgemeine Ansicht geht denn auch dahin, dass es noch zweifelhaft
ist, ob das Blut der Variolaerkrankten im Stande ist, die Erkrankung zu
übertragen; ich weise jedoch auf die Wahrscheinlichkeit hin, dass nur im Be-
ginne der Erkrankung, vielleicht nur in dem Incubations- und Invasionsstadium
im Blute die Variolakeime kreisen und dass deshalb das Blut nicht während
des ganzen Verlaufes der Krankheit infectiös ist.
Alle Pockenkranke bringen dann nicht nur Ansteckungsgefahr, wenn sie
mit Pusteln und Krusten bedeckt sind, mit sich, sondern auch im Initial-
stadium; wenn noch keine Spur von Pockenausschlag besteht, kann Infection
erfolgen, selbst für das von allen Krankheitssymptomen freie I neu batio ns-
stadium muss man die Möglichkeit der Ansteckungsfähigkeit zugeben; ein
Theil der Fälle, in denen die Patienten die Quelle der Ansteckung nicht an-
zugeben wissen und angeblich nie mit Pockenkranken zusammengekommen
sind, beruht auf Uebertragung von Kranken, welche sich noch im Initial-
stadium befanden. Classisch für die Möglichkeit der Ansteckung im Incu-
bationsstadium ist die Erfahrung von Schaper in der Berliner Charite; von
dem amputirten Oberarme einer Frau, welche vor und zur Zeit der Operation
nicht das kleinste Symptom einer Allgemeinkrankheit bot, wurden Haut-
stückchen zur Transplantation auf vier andere Personen benutzt. Mehrere
Stunden nach der Operation erkrankte die amputirte Frau unter den Prodromal-
erscheinungen der Pocken, welche zwei Tage später ausbrachen. Am 6. Tage
nach der Transplantation erkrankte auch eine derjenigen Personen, auf
welche Hautstückchen übertragen worden waren, an Pocken.
Das Pockengift haftet aber nicht nur am Kranken selbst, sondern es
überträgt sich von ihm auch auf Gegenstände, welche mit dem Kranken
in irgend eine Berührung gekommen sind und mit Pockeninhalt verunreinigt
werden. In erster Stelle sind naturgemäss Betten, Wäsche und Kleidungs-
stücke infectiös, aber auch Geldstücke, Papiergeld, Zeitungen, Briefe, welche
durch die Hände von Pockenkranken gegangen sind, verbreiten die Seuche;
bekannt sind Ansteckungen durch Wagen, welche Pockenkranke transportirt
hatten, locale Endemien sind verursacht worden unter Arbeitern, welche
Lumpen sortirten, wenn die Lumpen mit Pockeneiter inficirte Wäsche- und
Kleidungsstücke enthielten, noch nach Jahren sind solche Wäschestücke zur
Ansteckung geeignet. Wie todte Gegenstände die Ursache der Verbreitung
abgeben, so sind überhaupt alle Personen, w^elche mit Pockenki'anken
zusammenkommen, wie Aerzte, Wärter, Geistliche, im Stande, die Vermittlung
neuer Ansteckung zu übernehmen, wenn sie in ihren Kleidern, an ihren
Händen Pockeninhalt mit sich weitertragen; die Ansteckung durch dritte
Personen ist ein fester Erfahrungssatz; auch durch Hausthiere, wie Hunde
und Katzen, findet eine Verbreitung statt, wenn sie in ihren Haaren Pustel-
eiter weiter transportiren. Sicher wird das Contagium der Pocken durch die
Luft übertragen, zwar glauben wir nicht mehr an Ausdünstungen, welche
der Kranke durch die Athmung und Haut exhalirt, als die Träger der An-
steckung, sondern wir müssen annehmen, dass durch die Luft eingetrockneter
Pockeninhalt verbreitet wird. Dadurch erklärt es sich, dass Möbelstücke aus
61*
964 VARIOLA.
dem Zimmer des Kranken, auch wenn sie der Poekenkranke oder eine
Mittelsperson nie berührt hat, Träger des Pockengiftes sein können, der in
der Luft suspendirte eingetrocknete Pustelinhalt hat sich eben auf ihnen
niedergeschlagen- Je mehr Pockenkranke zusammenliegen und je weniger
gelüftet wird, um so grösser ist die Ansteckungsgefahr für alle, welche in
das Krankenzimmer treten, auch wenn sie die Kranken gar nicht berühren.
Nicht nur in dem Krankenzimmer und der unmittelbaren Umgebung des
Patienten ist die Ansteckung durch Vermittlung der Luft möglich^ sondern
auch in einer gewissen beschränkten Entfernung vermag die Luft die
Krankheit zu übertragen; es ist nicht selten vorgekommen, dass das Pocken-
contagium sich auf Nachbarhäuser übertragen hat, ohne dass ein Verkehr
stattfand, selbst wenn die Häuser nicht unmittelbar aneinander stiessen; Er-
fahrungen aus der Nachbarschaft von Pockenisolirhäusern lehren dieses auf
das deutlichste; die Gefahr für die Nachbarschaft ist um so grösser, je
fleissiger die Fenster der Pockenhäuser geöffnet werden; mit zunehmender
Entfernung von den Kranken und dem Krankenhause schwindet die Gefahr,
welche die Luft als Vermittler der Ansteckung bildet, rasch, die Keime
werden offenbar allzusehr und überallhin ausgebreitet, als dass eine zur An-
steckung nothwendige Zahl von Bakterien vorhanden ist; nur in diesem Sinne
wollen wir bei der Bezeichnung bleiben, dass durch die Luft das Pockengift
rasch „verdünnt" und unwirksam wird.
Mit dem Tode des Kranken erlischt die Ansteckungsgefahr nicht,
denn auch die Leichen an Pocken Verstorbener sind noch ansteckend, das
Leben des Variolagiftes ist nicht abhängig vom Leben des Kranken, auf dem
todten Menschenkörper bewahrt der Pockeninhalt seine Virulenz für lange,
lange Zeit; auch in den beerdigten Leichen bleibt die Lebensfähigkeit der
Variolakeime über Wochen, vielleicht Monate hinaus erhalten.
In den Körper des Gesunden gelangt das Pockengift vorwiegend
durch die Einverleibung von den Respirationsorganen aus; schon von
der Nasenschleimhaut aus kann die Infection stattfinden, wie die alten
chinesischen Inoculationsmethoden durch Einbringung von Borken in die
Nase beweisen. Der Aufnahme von Pockengift durch den Verdauungs-
canal wurde früher eine grössere Bedeutung beigelegt als heutzutage; die
Möglichkeit der Infection von der Schleimhaut des Tractus intestinalis muss
man sicher zugeben, nach dem Verschlucken von Pockeneiter und Borken hat
man schwere Variola entstehen sehen und in Bengalen war es gar die
landläufige Methode, um Variola zu inoculiren, während neuere Thierversuche
negative Resultate ergaben. Von der unverletzten äusseren Haut werden
die Variolakeime nicht aufgenommen, aber jede, noch so kleine Continuitäts-
trennung der Epidermis öffnet der Infection die Pforte; Fälle von
directer Uebertragung von Pockengift auf Wunden sind an Zahl sehr selten;
dass die unverletzte Haut das Pockencontagium nicht eintreten lässt, wussten
schon seit uralten Zeiten die Br ahm inen Indiens, welche die Pocken-
inoculation in der Weise vornahmen, dass sie auf eine wundgeriebene Stelle
des Unterarmes mit Pockeneiter getränkte Baumwolle auflegten.
Die Disposition zu den Pocken ist eine ganz allgemein ver-
breitete; bei fast allen Menschen ist die individuelle Disposition in
hohem Grade vorhanden. Nur verschwindend wenige Menschen besitzen eine
angeborene Immunität gegen Pocken; vor der Vaccination sind nur
wenige Menschen, welche sich der Ansteckungsgefahr aussetzten, verschont
geblieben; ,,von Pocken und Liebe bleiben wenige Menschen frei", sagt ein
Sprichwort des Mittelalters. Kein Lebensalter gewährt einen Schutz
gegen die Pocken, selbst das Kind im Mutter leibe wird nicht verschont,
pockenkranke Schwangere haben Kinder geboren, deren Haut mit Pocken-
pusteln bedeckt war, welche die Spuren der abgelaufenen Erkrankung aufwiesen,
•VARIOLA. 965
bei Zwillingsgeburten hat man sogar beobachtet, dass nur das eine Kind
pockenkrank war, es finden sich selbst Beispiele in der Literatur, dass ganz
gesunde, nie von Pocken befallene Mütter an Variola kranke Kinder geboren
haben; wie weit die Ansicht, dass eine Infection des E'ötus ohne Erkrankung
der Mutter möglich ist, zu Recht besteht, lässt sich nicht entscheiden, doch
stimmen wir Curschmann bei, wenn er einen Theil solcher Beobachtungen
darauf zurückführt, dass die Mutter an Variola sine exanthemate litt und das
Kind inficirte. Die Placenta schützt den Fötus nicht stets vor der In-
fection von der Mutter aus, sondern sie lässt das Pockeagift hindurchtreten;
auf solche Weise allein können wir uns erklären, dass das Kind im Uterus
erkrankt, da selbstverständlich nur durch das Blut der Mutter das Kind an-
gesteckt werden kann; bei der Doppelfrucht erkrankt nur ein Kind, wenn
jedes Kind seine eigene Placenta hat oder gesonderte Gefässsysteme ohne
Anastomosen für jedes Kind in der gemeinsamen Placenta bestehen.
Die meisten Pockenfälle kommen zwischen dem 1. und 40. Lebens-
jahre vor, in den ersten Lebensmonaten ist die individuelle Disposition
geringer, jenseits des 40. Lebensjahres vermindert sich die Empfänglichkeit,
aber selbst hochbetagte Greise werden von den Pocken nicht verschont. Das
Geschlecht hat keinen Einfluss auf die Uebertragbarkeit der Variola,
Männer und Frauen erkranken gleichmässig häufig, wohl sind Männer durch
ihren Beruf und ihre sociale Stellung häufiger der Gefahr ausgesetzt, anderseits
erhöhen aber Schwangerschaft und Wochenbett die Disposition,
so dass annähernd ein Ausgleich zu Stande kommt. Klimatische Ver-
hältnisse sind für die Ausbreitung der Pocken gleichgiltig, ebenso wie die
Jahreszeiten, die Witterung und die Lage des Ortes, die Pocken
verbreiten sich überall da mit Leichtigkeit, wo sie empfängliche Individuen
antreffen; äussere Umstände können insofern einen Einfluss ausüben,
als Zusammenhäufungen von Menschen in Kriegszeiten, grosse Jahrmärkte,
lebhafter Verkehr die Ausbreitung der Erkrankung befördern.
Unter den verschiedenen Menschenracen sind die Farbigen und vor
allem die Neger ausserordentlich mehr zu Pockenerkrankungen geneigt als
die Weissen.
Die individuelle Disposition ist nicht bei allen Personen gleich-
wertig. Man sieht gleichalterige gesunde Leute, der nämlichen Ansteckung
gleichlange ausgesetzt, nicht stets an derselben Form der Variola erkranken,
sondern man kann beobachten, dass die eine Person die leichtere Form
der Variolois davon trägt, während die andere an echter Variola erkrankt und
dass hinwiederum durch die Variolois bei anderen Leuten Variola erzeugt
wird. Bei dem einen ist die Empfänglichkeit für Pocken grösser als bei
dem andern. Die geringere Empfänglichkeit einzelner Personen erklärt viel-
leicht die Beobachtung, dass trotz der gleichen und gleichlangen Ansteckungs-
gefahr der Zeitraum bis zum Ausbruch der Pocken bei einzelnen
Leuten über die normale Dauer sich erstreckt. Es giebt auch eine tempo-
raere Immunität, indem dieselben Leute bei einer Epidemie trotz dauernder
Ansteckungsgefahr unversehrt bleiben, welche bei der nächsten Ansteckungs-
möglichkeit sofort erkranken. Wie aber Schwangerschaft und Menstruation
die individuelle Disposition für das Pockencontagium steigern und die ver-
mehrte Empfänglichkeit durch das häufige Auftreten der hämorrhagischen,
ausserordentlich gefährlichen Variola beweisen, so sollen auch Potatoren,
Reconvalescenten, geschwächte Personen und Leute, welche, wie
Heizer und Köchinnen, dem Feuer ausgesetzt sind, zu den schwersten
Formen der Pocken besonders geneigt sein. Im Gegensatz zu diesen Er-
krankungen gibt es eine Gruppe von Krankheiten, welche die persönliche
Empfänglichkeit für die Pockenkrankheit vermindern, das soll vor allem
für die acuten Infectionskrankheiten, wie Masern, Scharlach und
966 VARIOLA.
Typhus gelten, in deren Verlauf die Aussicht, an Variola zu erkranken,
eine sehr geringe ist, so dass also ein gewisses Ausschlussverhältnis
bestände. Wir müssen sagen, dass wir uns mit diesem Satze nicht recht
befreunden können, sondern glauben, dass die Disposition nur scheinbar ver-
mindert wird aus dem Grunde, weil bereits an Typhus oder Scharlach er-
krankte Leute durch ihre Erkrankung weniger mit anderen Personen zu-
sammen kommen. Noch weniger bewiesen ist es, ob die Influenza, Ma-
laria und Pertussis die Möglichkeit der Ansteckung vermindern. Sicher-
lich kommen Pocken gleichzeitig mit anderen Infectionskrankheiten bei
der nämlichen Person vor, Masern, Scharlach, Erysipel, Syphilis, Typhus und
Intermittens können zu derselben Zeit bestehen, unmittelbar voraufgehen oder
sich anschliessen. Chronische Erkrankungen des Herzens oder der
Lungen sind ohne Einfluss auf die individuelle Disposition, sie trüben
allerdings die Aussicht auf einen guten Verlauf der Pocken.
In hervorragender Weise wird die Empfänglichkeit für Variola beein-
flusst durch das Ueberstehen der Pockenkrankheit selbst: bei den
allermeisten Menschen erlischt mit der einmaligen Erkrankung an Pocken
die Disposition für das ganze Leben, es tritt die erworbene Immunität
ein. Aber auch hier giebt es Ausnahmen, Louis XV. von Frankreich starb
im 64. Jahre an Pocken, obwohl er im 14. Lebensjahre dieselben schon einmal
überstanden hatte; es sollen sogar mehrmalige, 5- und 6malige Erkrankungen
derselben Personen vorgekommen sein, selbst wenige Monate nach dem Be-
stehen der Seuche will man neuen Pockenausbruch bei den nämlichen Kranken
beobachtet haben. Ein nochmaliges Befallenwerden von Pocken soll einen
milderen Verlauf bedingen, doch auch hier sind die Ausnahmen zahlreich.
Eine ähnliche Wirkung auf die Disposition für Erkrankung an Menschen-
pocken, wie sie dem einmaligen Ueberstehen der Variola eigenthümlich ist,
gleichgiltig, ob die Pocken durch einfache Ansteckung oder durch die ältere
Methode der Variolation, durch Verbinden von Wunden mit von Pockeneiter
durchtränkter Watte übermittelt wurden, hat die Schutzimpfung mit Kuh-
pockeninhalt, die Vaccination. Diese erworbene Immunität ist aber
nicht so vollständig und lange anhaltend, wie sie das Ueberstehen der Pocken-
krankheit bedingt; sie ist nur eine relative, indem die Vaccination im All-
gemeinen nur einen absoluten Schutz von etwa 10 Jahren verleiht, so dass
dann eine neue Vaccination, die Revaccination, vorgenommen werden
muss. Aber auch selbst dann, wenn seit der frühesten Kindheit keine er-
neute Impfung ausgeführt wird, bleibt die Empfänglichkeit für die Pocken
auch für spätere Jahre vermindert, indem bei einer späteren Ansteckung als
Ptegel nur die leichtere Form der Pocken, die Variolois zum Ausbruch
kommt.
Symptomatologie.
Von dem Augenblicke an, in welchem die Ansteckung stattfindet,
bis zum Beginn des Ausbruches der Pockenkrankheit vergehen 10 — 14
Tage, selten nur 6—8 Tage, was bei hämorrhagischen Pocken beobachtet
worden ist, noch seltener nur 5 Tage. Bei absichtlicher Uebertragung
von Pocken durch die Inoculation ist der Zeitraum bis zum Beginne der Er-
krankung wesentlich kürzer, oft nur 2 — 3 Tage. Während dieser Zeit, dem
Incubationsstadium, fühlen sich die meisten Menschen äusserst wohl
und bieten auch keine objectiven Erscheinungen dar; nur in seltenen Fällen
zeigen sich, zumal gegen das Ende der Incubation hin, leichte, vage Störungen,
wie Schwindel, Mattigkeit, Kopfschmerz, Appetitlosigkeit, geringe gastrische
Beschwerden, geringe Kreuzschmerzen, Pharynxkatarrh mit entzündlicher
Schwellung und Röthung der Uvula und der Tonsillen, Frösteln, geringe
Temperatursteigerung.
VARIOLA. 967
Die ersten Symptome der Erkrankung beginnen mit dem Initial-
oder Invasions- oder Prodromalstadium. Nur in der Minderzahl der
Fälle geht das Incubationsstadiura allmählich, ohne markante Grenze in das
Initialsstadium über; in den meisten Fällen beginnt es mit einem deutlichen,
heftigen Schüttelfroste oder mit mehreren Frostschauern, während
welcher die Körpertemperatur rasch auf 39*5 bis 40^ C. schon am ersten
Tage emporsteigt, geringe morgendliche Remissionen zeigt und am
2. und 3. Tage noch etwas höher geht, bis auf 40'5^ 41 ^ und sogar bis-
weilen 42" C. erreicht. Hand in Hand mit der Erhöhung der Körperwärme
geht die Circulation und die Athmung, Der Puls ist stark beschleunigt
und macht bei erwachsenen, kräftigen, sonst gesunden Männern 100—120,
bei Frauen 120 — 140 und bei Kindern 140 — 160 Schläge in der Minute, das
Gesicht ist geröthet, die Carotiden klopfen. Die Athemzüge sind kurz,
flach und oberflächlich, ihre Zahl in der Minute auf 30—40 vermehrt; die
Kranken athmen mühsam und klagen vielfach über Dyspnoe, ohne dass eine
locale Störung in der Lunge vorhanden ist. Die Ursache scheint mehr ner-
vöser Natur zu sein, es hat oft den Anschein, als ob gerade im Invasions-
stadium der Variola die Athemfrequenz weit grösser sei, als sie bei anderen
Erkrankungen mit gleicher Fieberhöhe auftritt. Zu gleicher Zeit besteht
lebhafter Durst, grosse Schwäche, ein ausgeprägtes Gefühl von Mattig-
keit und Zerschlagensein in allen Gliedern, so dass die Patienten sich
kaum auf den Beinen halten können. Die Haut fühlt sich heiss und trocken
an, die Zunge ist dick belegt, sehr hässlicher Geschmack im Munde führt
zu schnellem Foetor ex ore, der Appetit liegt gänzlich darnieder, Aufstossen,
Brechneigung, Würgebewegungen, wiederholtes, mühsames, oft
galliges Erbrechen quälen die Patienten, der Stuhl ist verstopft, nur selten
bestehen Durchfälle. Häufig besteht heftiger Schmerz oder dumpfer Druck
im Epigastrium, namentlich nach mehrfachem Erbrechen. Eine grosse Un-
ruhe und Schlaflosigkeit bemächtigt sich der Patienten, leichte De-
lirien stellen sich bei schwächlichen und erregbaren Patienten ein; vor allem
verfallen Kinder in Delirien, bei ihnen werden auch partielle Zuckungen
und Zähneknirschen, selbst epileptiforme Krämpfe beobachtet, co-
matöse Zustände kommen im Initial Stadium nur selten vor. Fast con-
stant klagen die Patienten über Kopfschmerz, welcher den ganzen Kopt
einnimmt oder die Stirngegend ergrifien hat und ausserordentlich heftig ist;
manchmal ist der Hinterkopf der Sitz dieses peinigenden Schmerzes, bisweilen
tritt der Schmerz halbseitig auf und folgt den Verästelungen des Trigeminus.
Neben diesem Kopfschmerz besteht bei vielen Kranken ein ausgesprochenes
Schwindelgefühl, welches beim Aufrichten bis zur Ohnmachtsanwandlung
führen kann. Zu den subjectiven Symptomen gesellen sich in der Mehrzahl
der Fälle Ptückenschmerzen, vor allem Lenden- und Kreuzschmerzen
intensivster Art. Ziehende, reissende Schmerzen in den unteren Extre-
mitäten und in den Bauchdecken, Anästhesien, Hyperästhesien und Parästhe-
sien in den Beinen treten nicht selten hinzu, sie beweisen, dass der Kreuz-
schmerz im Initialstadium der Pocken weniger auf einer Hyperämie der Nieren
beruht, als vielmehr auf meningeal er Hyperämie des Lendenmarkes.
Die Kreuzschmerzen kommen bei der Variola häutiger vor, als bei der Va-
riolois, am häufigsten und heftigsten bei der Variola hämorrhagica. Der
Urin ist concentrirt, dunkel gefärbt, seine Menge vermindert, entsprechend
dem Fieber. Für gewöhnlich enthält der Harn kein Eiweiss, nur in beson-
ders schweren Fällen, vor allem, wenn dieselben hämorrhagisch werden, findet
man früh Albumen. Frauen klagen nicht selten über Strangurie; auf-
fallend häufig sieht man bei erkrankten Frauen die ^Menstruation ent-
weder rechtzeitig, jedoch profus, oder zu früh auftreten.
968 VARIOLA.
Zu den weniger constanten Symptomen gehören von Seiten der
Lungen die physikalischen Zeichen einer vorwiegend trockenen Bron-
chitis. Manchmal tritt auch eine leichte Angina auf, in diffuser
Schwellung und Röthung der Mandeln und des Gaumens, bisweilen auch in
einer fleckweisen, acuten Hyperämie bestehend. Mit dieser leichten Angina
geht Schnupfen, verbunden bisweilen mit mehrfachem, heftigem Nasen-
bluten, Conjunctivitis mit Thränenträufeln und Lichtscheu häufig
Hand in Hand; seltener pflanzt sich die acute Angina auf den Kehlkopf
fort, so dass Heiserkeit im Gefolge ist.
Das Herz betheiligt sich insofern an den Veränderungen des Invasions-
stadiums, als bei reizbaren, nervösen Personen und Alkoholikern gern Herz-
klopfen eintritt und bisweilßn eine Dilatation des rechten Ventrikels
zur Beobachtung kommt; der erste Ton an der Herzspitze kann unrein oder
durch ein blasendes, weiches, systolisches Geräusch ersetzt werden. In den
meisten schweren Fällen ist die Milz angeschwollen; öfters ist die Leber-
gegend auf Druck empfindlich und die Leber vergrössert.
Während des Initialstadiums treten am 2. oder 3. Tage auf der Haut
Exantheme auf, welche vom wirklichen Pockenausschlag unabhängig sind
und mit ihm nicht verwechselt werden können. Diese Veränderungen auf
der Haut, welche wir als Prodromal- oder Initialexantheme be-
zeichnen, stellen entweder ein bald diffuses, scharlachartiges, bald fleckiges,
masernartiges Erythem dar oder ein punktförmiges, öfters stecknadelkopf-
grosses, auf grössere Flächen dichtgedrängtes, hämorrhagisches Exanthem
im Hautgewebe dar; manchmal sieht man bei den nämlichen Patienten
Petechien und Sugillationen an der einen Körperstelle, reines erythe-
matöses Exanthem an der anderen, sogar Petechien auf erythematischem
Grunde. Die Prodromalexantheme haben gewisse Lieblingsstellen,
namentlich ist der bevorzugte Sitz des hämorrhagischen Exanthems die
untere Bauchgegend mit den Genitalien und die Innenfläche der Oberschenkel.
Liegen solche Patienten mit geschlossenen Beinen da, so bietet das Exanthem
die Form eines Dreiecks, dessen Spitze dem Mons pubis zugekehrt ist,
während die als Basis zu denkende Grenzlinie quer über den Bauch in der
Gegend des Nabels verläuft, das Smo-^'sche Schenkeldreieck veranschaulichend.
Es kann auch der hämorrhagische Ausschlag die Seiten des Bauches befallen,
von hier aus den Brustkorb bis zu den Achselhöhlen hinaufsteigen, die an-
grenzenden Theile des Oberarmes und des Musculus pectoralis major in den
Bereich ziehen (Olerarmdreieck Simon's) oder auf der Aussenfläche des Unter-
schenkels herabgehen. Das einfach erythematöse Exanthem ist nicht so
scharf an gewisse Lieblingsstellen gebunden, es überzieht bisweilen den
grössten Theil des Körpers, doch zeigt es bisweilen eine gewisse Vorliebe
für die Streckseite der Extremitäten, namentlich an den Gelenken. Die
erythematöse Röthung verschwindet in der Regel spurlos nach wenigen
Stunden oder nach eintägiger Dauer, doch gehören Fälle mit mehrtägiger
Dauer nicht zu den grossen Seltenheiten, während die hämorrhagischen
Flecken ihre Spuren längere Zeit zurücklassen. Die Stellen des Sitzes des
Erythems und der Petechien können später von dem echten Pockenexanthem
befallen werden. Nicht in allen Epidemien treten die Initialexantheme gleich-
massig auf, in manchen Epidemien sind sie häufiger als in anderen. Im
Allgemeinen deuten schwere Prodromalsymptome nicht auf eine be-
sonders ernste Form der Erkrankung hin, selbst Petechien können bei
leichten Fällen vorkommen, während das Erythema variolosum
vorzugsweise bei weniger schweren Pockenfällen aufzutreten
pflegt. Das Invasionsstadium beträgt durchschnittlich drei, selten vier
Tage, ehe der wirkliche Pockenausschlag beginnt. Es kann aber mit dem
Initialstadium die Krankheit überhaupt schon ihr Ende erreichen und
VARIOLA. 969
anderseits schon bevor das wirkliche Pockenexanthem sich einstellt, der
Tod eintreten. Die erste Form stellt eine besonders leichte Gruppe der
Variolois dar, die Variola sine exanthemate; man findet in jeder
Epidemie, dass Leute, welche sich einer Ansteckungsgelegenheit ausgesetzt
haben, mit den sämmtlichen Initialsymptomen, selbst mit dem Erythem und
den Petechien des Prodromalexanthems erkranken, am 3. oder 4. Tage aber fällt
das Fieber rasch ab und die Erkrankung ist beendigt; diese Febris vari-
olosa sine exanthemate ist schon lange bekannt und besteht zu Recht,
Den Gegensatz zu dieser leichten Erkrankung bildet die stets tödlich ver-
laufende Purpura variolosa: bereits im Prodromalstadium stellt sich eine
allgemeine hämorrhagische Diathese ein, massenhafte grössere
Blutungen in der Haut, welche bald unregelmässige Sugillationen, bald
Infiltrate, bald Knoten von verschiedener Grösse darstellen, bilden sich
schon am 2. oder 3. Tage des Initialstadiums, sie wachsen mit grosser
Schnelligkeit an Zahl und Grösse und sind namentlich in der Unterbauch-
gegend am grössten. Blutungen in die Conjunctiva, Hämorrhagien in das
Zellgewebe der Augenlider, Blutungen aus der Nasenhöhle und dem Munde,
sanguinolenter Auswurf, selbst Hämoptoe, Albuminurie, Hämaturie, Häma-
temesis, Meläna, Metrorrhagie, bei Schwangeren profuse Uterusblutungen und
Abortus, ebenso bei der Section nachweisbare Blutungen in inneren Organen
bewirken raschen Kräfteverfall, so dass der Tod schon am 3. oder 4. Tage
eintritt; zu einem wirklichen Pockenexanthem kommt es nicht. Diese fürchter-
lichste Form der Pocken befällt mit auffallender Häufigkeit kräftige,
jugendliche Personen; die Besinnlichkeit ist meistens bis kurz
vor dem Tode erhalten; gegen Ende der Erkrankung ist durch die zahlreichen
Blutergüsse in die Haut der Körper, namentlich der Rumpf, fast schwärzlich
oder blaugrau gefärbt.
Wenn das Prodromalstadium — und das ist überwiegend der Fall —
seinen gewöhnlichen Verlauf nimmt, so reiht sich ihm das Stadium an, in
welchem der Pockenausschlag sich entwickelt und seine verschiedenen
Phasen durchläuft. Die einzelnen Stadien des Verlaufes des Pockenexanthems
theilen wir ein in das Entwicklungsstadium, Stadium eruptionis, welchem das
Stadium der Reife oder Blüte oder Eiterung, Stadium floritionis s. matu-
rationis s. suppurationis folgt; das Stadium crustosum s. exsiccationis et decrii-
stationis, die Zeit der Eintrocknung des Exanthems und des Abfalles der
Borken, beschliesst den Wandlungsprocess der Pocken auf der Haut. Während
diese Stadien sich aneinanderreihen und ihren Cyclus durchlaufen, lassen
sich zwei typische Formen der Pocken aufstellen, welche zwar nicht
durch eine scharfe Grenze getrennt sind, sondern vielfach in einander über-
greifen, aber doch zweckmässig gesondert werden, weil die erste Form, die
Variola vera, geradezu das classische klinische Bild liefert, während
die andere Gruppe, die Variolois, welche eine leichtere Form des Pocken-
processes darstellt, die Symptome weniger ausgeprägt documentirt.
Das Stadium eruptionis der Variola vera beginnt damit, dass
auf der Haut unter leichtem Brennen und Jucken kleine, rothe Fleckchen
auftreten, welche auf Fingerdruck abblassen und zunächst nur auf einer
umschriebenen Hyperämie beruhen. Diese rothen, schwach erhabenen
Stippchen und Fleckchen, welche an Masernfleckchen erinnern, treten fast
immer zuerst im Gesichte und auf der behaarten Kopfhaut auf in
Hirsekorn- und Stecknadelkopfgrösse und sind mehr oder weniger dicht
gestellt; um die Augen, die Nase und den Mund, auf der Stirn erscheinen
sie am intensivsten dichtgestellt; etwas später, aber noch an dem näm-
lichen Tage, verbreitet sich das Variolaexanthem über den Rumpf und die
Extremitäten, zuerst an der Brust und den Armen, dann am Bauche und
zuletzt die Beine herabsteigend bis auf die Füsse. Die Dichtigkeit des Aus-
970 VARIOLA.
Schlages nimmt überall zu, aber die Fleckchen bleiben am Rumpfe doch weit
spärlicher an Zahl als im Gesichte und auf der Kopfhaut; reichlich sind sie
auf den Streckseiten der Extremitäten und namentlich auf den Fingern; das
Schenkeldreieck ist meistens sehr wenig befallen. Stellen, welche
aus irgend einem Grunde hyperämisch sind, wie z. B. durch lang-
dauernden Druck, Quetschung, durch Pinselung mit Jodtinctur, in Folge von
Senfpapieren oder Cataplasmen, werden in der Regel reichlicher besetzt. Aus
den rothen Fleckchen werden sehr rasch schon am 2. Tage der Eruption
kleine, dunkelrothe, deutliche, erhabeneKnötchen, konisch geformt,
Papeln, so dass man von einem Stadium papulosum si^richt. Die Fleckchen
und Papeln sitzen mit Vorliebe um die Haar bälge, die Mündungen der
Talgdrüsen und der Schweissdrüsen als Mittelpunkt herum. Das Stadium
eruptionis mit dem Stadium papulosum besitzt in der Regel eine Dauer von
2 Tagen. Am 2. Tage oder auch am 3. Tage der Eruption, was also
dem 5., respective 6. Krankheitstage — das Initialstadium zu drei Tagen
gerechnet — entspricht, bildet sich auf der Spitze der Papeln ein
kleinesBläschen mit hell er, durchsichtiger, opaline r Flüssigkeit
gefüllt, dadurch, dass die Epidermis von dem Rete Malpighii abgehoben wird.
Die Bläschen nehmen mehr und mehr an Inhalt zu, so dass sie fast in
Form und Grösse einer halben Erbse über die Haut hervorragen. Dieses
Stadium vesiculosum tritt nicht gleichzeitig an allen Körpertheilen auf, sondern
gerade, wie die Fleckchen und Papeln von der Kopfhaut und dem Gesichte
aus nach abwärts steigen, sind auch die Bläschen zuerst im Gesichte und
auf dem Kopfe am deutlichsten ausgebildet und schreiten langsam auf die
anderen Körperabschnitte fort. Wenn die Bläschen eine gewisse Grösse
erreicht haben, so tritt bei vielen derselben in der Mitte eine leichte Ein-
ziehung ein, die sogenannte centrale Delle oder der Pockennabel,
welcher bei weiterer Zunahme der Flüssigkeit sich später ausgleicht. Wird
ein Bläschen angestochen, so entleert sich nur ein Theil desselben, nicht
der ganze Inhalt sofort, eine Folge des Umstandes, dass die Bläschen nicht
einen einzigen Hohlraum darstellen, sondern einen fächerigen, durch
ein Maschenwerk ausgezeichneten Bau besitzen. Wenn das vesi-
culöse Stadium drei Tage bestanden hat, also die Erkrankung am 9. Tage
angelangt ist, so beginnt sich der klare Inhalt der Bläschen durch Eiter-
beimischung zu trüben und allmählich eitrig trübe und molkig zu werden:
das Stadium suppurationis nimmt seinen Anfang.
Das Stadium suppurationis zeigt das völlig ausgebildete Pocken-
exanthem. Die Bläschen nehmen an Grösse zu und stellen wahre Pusteln
vor; man wendetauch deshalb die Bezeichnung Stadium pustulosum an.
Je stärker sich die Pockenpustel mit Eiter füllt, umsomehr gleicht sich die
Oberfläche aus und der Pockennabel verschwindet; im Innern gehen
die Scheidewände verloren. Der rothe Saum der Pocken wird intiltrirt,
er verbreitert und verdunkelt sich, die Umgebung wird hyperämisch geschwellt,
so dass ein rother Hof, Halo, die Pustel umgibt; stehen die Pocken dicht, so
fliesst dieser breite, rothe Hof mit dem Hofe der nächsten Pocken zusammen,
so dass die Röthung und Schwellung der Haut eine diffuse wird.
Die eitrige Umwandlung beginnt ebenfalls im Gesichte zuerst, welches
wie von einer Eitermaske überzogen und furchtbar entstellt ist; durch die
Schwellung der Haut in der Umgebung der Pusteln und durch das Confluiren
dieser Schwellungen, Variolae confluentes, ist das Gesicht zu einer unkennt-
lichen Masse aufgetrieben; in dem lockeren Bindegewebe der Augenlider ist
die Schwellung besonders stark, so dass selbst bei nur wenigen Pusteln,
Variolae discretae, viele Kranke tagelang die Augen zu öffnen nicht im
Stande sind. Gross sind die Klagen über die Schmerzen im Gesichte, nicht
minder über die Schmerzen in der behaarten Kopfhaut, so dass selbst das blosse
VARIOLA. 971
Aufliegen des Kopfes auf dem weichen Kissen unerträgliche Schmerzen berei-
tet. Die Pocken am Rumpfe und den Extremitäten bleiben, wie im Stadium
papulosum und vesiculosum, auch in diesem Stadium pustulosum ein bis zwei
Tage hinter den Entwickelungsphasen der Pocken im Gesichte und auf der
Kopfhaut zurück, so dass es vorkommt, dass die Pustel im Gesichte schon ab-
zuheilen beginnt, während sie sich an den Beinen erst ausbildet. An den
Händen, wo der Ausschlag, selbst wenn die Pusteln am Rumpfe mehr ver-
einzelt, getrennt, discret auftreten, sehr dicht zu sein pflegt, sind die Schmerzen
ebenfalls sehr gross, zumal an den Fingern, deren Haut im Normalen straff
gespannt ist, bei Schwellung nicht sehr nachgeben kann und einen grossen
Nervenreichthum besitzt. An den Fussohlen und in der Hohlhand kommt es
wegen der hornigen Epidermis nicht zu wirklichen Pusteln, sondern nur zu
einfachen, röthlich durchschimmernden Flecken oder zu nur wenig erhabenen
Papeln, sehr selten auch zu blasigen Erhebungen der Haut.
Das Blüte- oder Eiterstadium erreicht gewöhnlich mit drei
Tagen, mit dem 9. Tage nach dem Auftreten des Exanthems oder mit dem
12. Krankheitstage sein Ende.
Das Stadium exsiccationis, welches das Stadium suppurationis ablöst, be-
ginnt ebenfalls meistens im Gesichte, wo das Exanthem am frühesten auftrat.
Ein Theil der Pusteln fängt an einzutrocknen, bei welchem Vor-
gange wieder eine Delle (secundäre Delle) auftreten kann, der Pustel-
inhalt wird honiggelb, die Pustel wird schlaffer und vertrocknet zu einer
dunkelbraunen Kruste. Ein anderer Theil der Eiterpocken platzt, ihr
Inhalt entleert sich theilweise nach aussen, der ausgeflossene Eiter bildet
gelbe oder braune, feste Krusten, auch der in der Pustel zurückgeblie-
bene Theil vertrocknet rasch und bildet Borken, welche anfangs der Unter-
lage noch fest anhaften. Durch diese Krustenbildung, welche das Gesicht
larvenartig überzieht, kann das Aussehen des Patienten noch mehr entstellt
werden. Noch mehr als im Gesichte kommt es am Rumpfe und den Glied-
massen zum Platzen der Eiterblasen, der entleerte Pustelinhalt zersetzt sich
auf der Haut, so dass die Kranken einen höchst widrigen, unerträglichen
Geruch verbreiten; Bett- und Leibwäsche werden von dem sich zer-
setzenden Eiter durchtränkt und vermehren den penetranten Geruch. An den
Fussohlen und der inneren Handfläche fängt oft die Abtrocknung
früher an, als an den übrigen Theilen des Rumpfes und der Extremitäten, es
bilden sich dort seltener Pusteln, so dass die Abtrocknung rascher hervortritt,
die Borken haften aber dort im Allgemeinen sehr lange. Je weiter die Krusten-
bildung fortschreitet, umsomehr blasst die Umgebung der Pocken ab, die
Schwellung lässt nach, die Kranken werden wieder kenntlich und die Augen
öffnen sich wieder. Während die Schmerzhaftigkeit nachlässt und vor allem
die klopfenden und spannenden Schmerzen verschwinden, tritt ein unerträg-
licher Juckreiz und quälendes Beissen ein, so dass nur wenige Patienten
der Neigung zum Kratzen widerstehen können; durch das Kratzen unter-
halten die Patienten die Eiterung und Krustenbildung und verzögern die Ab-
heilung. Allmählich beginnen die Borken abzufallen, das Stadium decru-
stationis s. reparationis aber tritt nicht überall gleichmässig auf, sondern es
ist verschieden, je nach der Tiefe, in welche das Pockengeschwür vordringt;
beschränken sich die Pocken nur auf die Oberfläche der Haut, so bleiben
die Schorfe gewöhnlich nicht länger als drei bis vier Tage haften; hat die
Verschwärung den Papilla rkörper mitergriflen, so halten sich die Krusten
weit länger. Nach Abfall der Krusten bleiben hyperämische undetwas
pigmentirte, braunrothe Flecken zurück, welche, solange die Haut
noch geschwollen ist, etwas erhaben sind, bald mehr bald weniger roth er-
scheinen, je nach den Temperatureinflüssen; allmählich blassen sie ab und
verschwinden gänzlich und spurlos, aber nur dann, wenn die
972 . VARIOLA.
Pockenpustel nicht in die Tiefe der Haut eindrang; in diesem Falle bilden
sich vertiefte, strahlige Narben aus, welche anfangs auch braunroth
pigmentirt sind, schliesslich aber weisser als die Haut werden und bleibende,
hässliche Entstellungen im Gefolge haben; entsprechend der Eigenthümlichkeit
der Variola, gerade das Gesicht hervorragend zu befallen, sind auch dort
die entstellenden Narben, vor allem an und auf der Nase, am zahlreichsten.
Das Abfallen der Borken beginnt etwa 14 Tage nach dem Auftreten des
Exanthems, es dauert verschieden lange, im Allgemeinen nimmt der Verlauf
der Pocken 4 — 6 Wochen in Anspruch.
Die Pocken befallen aber nicht nur die äussere Haut, sondern auch die
Schleimhäute, vorwiegend diejenigen Schleimhäute, welche der äusse-
ren Oberfläche nahe gelegen sind. Schon im Prodromalstadium
zeigt sich die Mitbetheiligung der Schleimhäute auf das deutlichste. Die M u n d-
und Rachenhöhle vor allem sind stark hyperämisch, es bilden sich hype-
rämische Knötchen, welche anfangs als weissliche oder perlgraue Papeln auf
rothem Grunde erscheinen; es entwickeln sich aber keine vollständigen,
grossen Pusteln wie auf der äusseren Haut, sondern unter dem Einflüsse
der warmen Mundflüssigkeit findet eine Maceration der abgehobenen
Epitheldecken statt, die Epitheldecke wird abgestossen und der subepithe-
liale Substanzverlust ist die Ursache kleiner, oberflächlicher Geschwüre. Durch
Confluiren der kleinen Geschwüre können grössere Geschwürsflächen ent-
stehen. Die Beschwerden, welche die Pocken auf den Schleimhäuten
hervorrufen, sind entsprechend dem jeweiligen Sitze verschieden; vor allem
bestehen im Stadium suppurationis grosse Schmerzen und locale Störun-
gen. Die Schleimhäute werden nicht überall gleichmässig befallen, son-
dern auch hier macht sich eine gewisse Prädilection bemerkbar. Die
Innenfläche der Lippen und Wangen, der weiche Gaumen und die
Mandeln sind besonders dem Exanthem ausgesetzt, dem Kranken rinnt
der Speichel fortwährend aus dem Munde, das Schlingen verursacht
grosse Pein und ist fast unmöglich, selbst einfache Flüssigkeit herunter zu
schlucken, sind die Kranken oft nicht im Stande. Die Zunge ist ebenfalls
häufig mit Pocken besetzt, sie kann während des Processes so ausserordentlich
anschwellen, dass sie in der Mundhöhle nicht Raum genug hat, sondern
zwischen den Zahnreihen herausragt (Glossitis variolosa). Vom Pha-
rynx geht der Pockenprocess gewöhnlich auch auf die Nasenhöhle fort,
so dass die Nase gänzlich verstopft und mit Borken angefüllt, für die Athmung
nicht durchgängig ist; auch auf die Tuba Eustachii und das Mittel-
ohr schreitet die Pockeneruption fort und ruft Ohrenschmerzen, Ohrensausen
und Schwerhörigkeit hervor; selbst auf dem Oesophagus nistet sich das
Variolaexanthem ein und vermehrt die Schluckbeschwerden. Häufiger ist es
der Fall, dass der Kehlkopf und die Luftröhre befallen werden; je
weiter aber das Exanthem in die Luftwege hinabsteigt, umsomehr nimmt die
Dichte der Efflorescenzen ab. Durch die Kehlkopfbetheiligung wird die
Stimme rauh und heiser, heftiger Husten tritt hinzu, vielfach auch gänz-
liche Aphonie. Tiefgreifende Geschwüre in der Kehlkopfschleimhaut,
Perichondritis mit Knorpelnecrose sind nicht selten zu beobachten,
während acutes Glottisödem die Athmung »in bedrohlicher Weise er-
schwert. Die Pocken auf der Tracheal- und Bronchialschleimhaut steigern die
Hustenbeschwerden erheblich. Auch die Conjunctivalschleimhaut
wird nicht verschont. Lichtscheu und Thränenfluss treten schon im Initial-
stadium auf, im Stadium suppurationis fliesst eitriger Schleim zwischen den
Lidern, welche erheblich geschwollen sind, hervor. Auf der Schleimhaut der
untersten Mastdarmpartie ist das Exanthem schon sehr selten, es verräth
sich durch Tenesmus alvi und grosse Schmerzen bei der Defäcation. Die
Schleimhaut der Vulva und Vagina, selbst die Vaginalportion des
VARIOLA. 973
Uterus kann unter spannenden und brennenden Schmerzen in den Ge-
schlechtstheilen der Sitz der Variola sein. Die Urethra wird sehr selten
von Variolaefilorescenzen befallen, es finden sich aber gelegentlich Pocken
auf der Schleimhaut, dicht an der Mündung, so dass Beschwerden bei der
Harnentleerung und Ischurie auftreten können. Häufig werden die Schmerzen
in der Vulva und Urethra erst dann beobachtet, wenn die Beschwerden in der
Mundhöhle schon nachlassen, weil die Mundhöhle früher und intensiver be-
fallen wird.
Gleichzeitig mit dem Stadium reparationis auf der äussern
Haut vollzieht sich auch die Abheilung auf den Schleimhäuten, die
Salivation lässt nach, die Dysphagie vermindert sich rasch, die Heiser-
keit, der Husten, die Lichtscheu, die Ischurie verschwinden der Keihe
nach. Die Pockengeschwüre auf den Schleimhäuten lassen nur
vorübergehende, ober fläch liehe Spuren und Verfärbungen zurück.
Während nun das Exanthem auf der äussern Haut und den Schleim-
häuten seine Veränderungen, beginnend mit dem Auftreten der umschriebenen,
hyperämischen Fleckenbildung und schliessend mit der Reparation, durch-
macht, betheiligt sich das Allgemeinbefinden der Patienten an diesem
Stadium in ausgesprochenem Maasse. Zunächst zieht das Fieber unsere Auf-
merksamkeit auf sich. Im Initialstadium setzt es rasch mit einem deut-
lichen Schüttelfrost oder wiederholtem Frösteln ein und steigt in dem schon
oben erwähnten Modus auf -j- 40*^ C, und kann selbst -\- 42*^ C. erreichen.
Mit der dritten oder höchstens vierten Fieberexacerbation zeigen sich gewöhn-
lich die ersten Spuren des Variolaexanthems auf der Haut: das Fieber sinkt
nun rasch im Stadium eruptionis und geht oft in einem Zuge bis zur
Norm oder unter dieselbe; in den ersten Fällen geschieht aber der Ab-
fall der Temperatur langsamer und unvollständiger, nach remittirendem Typus
mit oft noch ziemlich erheblichen abendlichen Erhebungen ; in den schwersten
Fällen geht der Nachlass des Fiebers nicht bis zum normalen Werte herab.
Sowie der Inhalt der Pusteln eitrig zu werden beginnt, also das Stadium
suppurationis oder pustulosum am 9. Krankheitstage seinen Anfang
nimmt, steigt das Fieber allmählich wieder; diese Febris secundaria s. siippu-
rativa ist nicht von der variolösen Infection wie das Fieber im Initialsta-
dium hervorgerufen, sondern es ist ein symptomatisches Fieber und
als Eiterfieber aufzufassen. Manchmal wird das Eiterfieber mit einem
Froste oder wiederholtem Frösteln eingeleitet, es hält verschieden lange an,
entsprechend der Heftigkeit des Falles, und bewegt sich zwischen 3 bis G
Tagen, In besonders schweren Fällen werden ebenso hohe Temperaturen
wie in dem Prodromalstadium erreicht, bei massigem Verlaufe steigt die
Temperatur abends auf -|- 39*^ und -\- 39-5*^ C; man beobachtet auch Fälle,
in welchen es trotz sehr ausgedehnter und tiefgreifender Eiterung nicht zu
einer entsprechenden Temperatursteigerung kommt. Die Fiebercurve des
Suppurationsstadiums ist von derjenigen des Invasionsstadiums dadurch
verschieden, dass sie unregelmässiger verläuft und stärkere Morgenremissionen
zeigt. Tagesdiöerenzen von PC sind gewöhnlich. Mit dem Fortschreiten
der Decrustation geht die Temperatur ly tisch herunter und der Kranke
wird fieberfrei. Kommt es wlihrend der Abtrocknung der Pusteln wieder zu
Fieber, so liegt irgend eine der zahlreichen Complicationen vor.
Dem Verlaufe, welchen das Pockenfieber durchmacht, folgen in ihren
Eigenthümlichkeiten die Respiration, die Circulation, das Allge-
meinbefinden und die Körperfunctionen. War während des Initial-
stadiums die Athmung flach, oberflächlich und jagend, die Pulszahl auf
120 und mehr gestiegen und das Allgemeinbefinden des Patienten sehr
gestört, so treten mit dem Eruptionsstadium die schweren Allgemein-
erscheinungen erheblich zurück, die heftigen Kreuz- und Rückenschmerzen, der
974
VARIOLA.
quälende Kopfschmerz nehmen ab, die Puls- und Athemfrequenz nähert sich der
normalen Ziffer, die Kranken sind meistens guten Muthes, sie erfreuen sich oft
einer vollständigen Euphorie und glauben, das Schlimmste überstanden zu ha-
ben; wenn während des Initialstadiums leichte Delirien oder Convulsionen zum
Ausbruch gekommen waren, so schwinden diese gänzlich, und wohlthätiger
Schlaf tritt an ihre Stelle. Nicht lange aber dauert diese Ruhe vor dem Sturme
an. Mit dem Eiterstadium stellt sich rasch das Gefühl der
schweren Erkrankung wieder ein. Die Frequenz des Pulses und der
Athmung nimmt zu, 100 — 120 Pulsschläge, 30 — 40 Athemzüge leiten die
schwere Störung wieder ein, die Schmerzen steigern sich, das Nerven-
system wird erheblich geschädigt, grosse Unruhe und Schlaflosigkeit
schwächen den Kranken und gerade in dem Zeitabschnitte der Febris suppura-
TEMPEEATÜRCÜRVE
der Variola veras.
tiva sind Störungen des Sensoriums und schwere Delirien besonders
häufig; in diesem Stadium müssen die Kranken sorgfältig überwacht werden, weil
sie für sich und ihre Umgebung gefährlich werden können, leicht gewalt-
same Handlungen vornehmen oder Fluchtversuche machen. Diese Delirien
beruhen nur zum Theil auf der Heftigkeit des Fiebers, zum andern Theil
auf Gehirnhyperämie, welche mit der ungeheuren Schwellung der Kopf-
und Gesichtshaut zusammenhängt. Alkoholmissbrauch begünstigt das
Auftreten der Delirien, welche manchmal Tage und Nächte lang fortdauern.
Mit dem Beginne der D e er u Station bessert sich das Allgemeinbefinden wie-
der, und mit der fortschreitenden Abheilung der Pusteln geht die Genesung
vorwärts, die Patienten werden wieder ruhig; sie schlafen besser, die Darm-
thätigkeit regelt sich wieder und der Appetit stellt sich langsam ein, doch
erholen sich die Kranken nur äusserst langsam.
Der Harn, welcher im Initialstadium hochgestellt und spärlich ist, wird
ini Eruptionsstadium heller und reichlicher, im Suppurationsstadium steigt
sein specifisches Gewicht wieder, seine Menge nimmt ab und bei langdauerndem
Eiterfieber tritt geringe Albuminurie zu Tage.
Zwei Gruppen der Variola vera zeichnen sich durch einen ausser-
ordentlich schweren, fast stets tödlichen Verlauf aus, die Gruppe der Variolae
conßuentes und der Variolae haemorrhagicae seu nigrae.
VARIOLA.
975
Die Variola confluens bildet eigentlich die stärkste Entwickelung
des typischen Processes der Variola vera; in Folge dessen ist die Scheidungs-
linie nicht stets scharf gezogen, weil natürlich Uebergänge aus der Variola
vera in das Krankheitsbild der Variola confluens stattfinden und man auf
diese Weise im gegebenen Falle schwanken kann, ob man schon die Variola
confluens vor sich hat oder nicht. Die ausgesprochenen Variolae con-
fluentes leiten sich schon durch besonders heftige Initialsymptome
ein, indem das Fieber ungewöhnlich heftig ist und in vielen Fällen die
Eruption viel rascher als bei der Variola vera, öfter schon 12 — 18 Stunden
früher erfolgt. Die Flecken und Papeln verbreiten sich viel rascher über
den ganzen Körper, so dass nicht selten im Gesichte und auf dem übrigen
Körper das Exanthem gleichzeitig hervorbricht. Namentlich auf dem Ge-
TEMPERATÜRCURVE
der Variola haemorrhagica pustulosa.
sichte und den Händen sind die Maculae so dicht gesät, dass sie fast mit-
einander verschmelzen; entwickeln sich die Knötchen, so fliessen sie
rasch auf grösseren Strecken zusammen. Noch mehr confiuiren die einzelnen
Herde, wenn die Suppuration begonnen hat; Hunderte von Pockenpusteln
greifen in einander über, die schmalen Hautleisten zwischen den einzelnen
Pusteln verschwinden und die Oberhaut wird in grossen, eitrigen Blasen ab-
gehoben. Das Gesicht, die Hände und häufig die Unterarme scheinen in
einer Art Pergamentmaske zu stecken, und das Gesicht ist unkenntlich. Sehr
gross sind die Schmerzen und die entzündlich-ödematöse Schwellung der
Haut. Am übrigen Körper bleiben die Pocken fast immer, wenn auch sehr
dicht gestellt, dennoch discret oder nur auf kleinere Strecken confluirend.
Auch auf den Schleimhäuten findet eine ausserordentlich reiche Pocken-
eruption statt, wodurch der qualvolle Zustand der Kranken bis in das Un-
erträgliche gesteigert wird und selbst die Todesursache gebildet werden kann.
Auf der Schleimhaut des Mundes, der Lippen und des Rachens fliessen die
Pusteln zu Eiterflächen zusammen, der Gaumen, die Tonsillen, die hintere
Pharynxwand, die Nasenhöhlen sind mit eiternden Geschwürsböden in erheb-
licher Breite überzogen, die Glossitis variolosa ist besonders bei der Variola
confluens zu erwarten; auch auf den anderen Organen sind die Begleit-
erscheinungen besonders heftig. Wie die localen Symptome, so erreichen auch
976
VAEIOLA.
die Allgemeinerscheinungen die höchsten Grade. Das hohe Initial-
fieber fällt nicht nach dem Ausbruche des Exanthems von seiner ausser-
gewöhnlichen Höhe {-\- 41—42° C.) herab, sondern hält sich auf -{- 39,5
bis 40,0'^ C. und geht unmittelbar in das Suppurationsstadium über, in
welchem es noch höher ansteigt. Furibunde Delirien sind bei dieser Va-
riola confluens besonders häufig, selbst comatöse Zustände sind nicht selten.
Complicationen gefahrvoller Art stellen sich häufig ein, Pneumonie, Pleu-
ritis, sehr böse Bronchitiden, heftiges, unstillbares Erbrechen und Würgen,
hartnäckige Diarrhoen, ziemlich bedeutende Albuminurien bedrohen das Leben
unmittelbar. Die Sterblichkeit ist bei der Variola confluens eine sehr
grosse, meistens sterben die Patienten in dem Stadium der Abtrocknung an
Erschöpfung und an den Complicationen; seltener tritt der Tod unter dem Bilde
TEMPEKATURCÜRVE
der Purpura variolosa.
der Pyämie ein. Der Tod kann in jedem Stadium durch Herzparalysis ein-
treten, selbst schon im Eruptionsstadium bei hyperpyretischen Temperaturen
von -\- 42'' — 43° C. (Variola typhosa s. adynamica der älteren
Pathologie). Die Genesung schreitet äusserst langsam fort, multiple Abs-
cesse in der Haut, ausgedehnte Phlegmonen, Erysipelas, Furunculosis unter-
brechen gerne die Reconvalescenz; unter den grossen, fest zusammenhängen-
den Borken, welche sehr lange anhaften, sammeln sich häufig Eitermassen
an, so dass gerade diese Patienten einen widerlichen Geruch verbreiten, und
schliesslich bleiben sehr hässliche, oft abschreckende, entstellende Narben
zurück.
Die Variolae haemorrhagicae pustulosae, die echten schwarzen Pocken,
sind die schlimmsten Pocken, nur wenige Kranke überleben diese schwere
Infection, welche [eine allgemeine hämorrhagische Diathese bedingt.
Es handelt sich hierbei um dieselbe schwere Infection, welche im Initial-
stadium die fürchterlichste Form der schwarzen Pocken, die Purpura
variolosa bedingt und schon tödtet, ehe es zu einer Exanthemeruption
gekommen ist. Bei der Variola haemorrhagica tritt der hämorrhagische
Charakter erst dann hervor, wenn die Papeln oder Blasen oder Pusteln sich
ausgebildet haben. Die Art und Weise, in welcher sich die hämorrhagische
Form anzeigt, ist sehr verschieden; die Papeln können sofort nach ihrem
VARIOLA. 977
Ausbruche blutig werden, manche sind schon im Entstehen blutig; es können
sich auch zuerst die Papeln zu den Bläschen entwickeln, ehe die i)lutige Bei-
mischung in dem Bläscheninnern auftritt, andererseits wird erst der Pustelinhalt
blutig, schwarzroth. In den typischen Fällen ist fast die gesammte Pocken-
zahl blutig gefüllt. Neben dem Exanthem treten in der Haut zahlreiche
Petechien, Knötchen und grosse Ecchymosen auf. Die Entwicklung dieser
Variolae nigrae geht nicht gleichzeitig überall vor sich, sondern allmählich;
mit einer grossen Vorliebe zeigen sich zuerst an den unteren Extremitäten
die hämorrhagischen Veränderungen. Hierbei ist aber zu erwähnen, dass bei
Personen, welche während der Erkrankung hin- und herlaufen, rein mechanisch
die Pusteln der unteren Extremitäten sich mit Blut füllen können, während
alle Symptome der hämorrhagischen Diathese fehlen; diese Pocken mit blu-
tigem Pustelinhalt sind keine echten Variolae nigrae. Bei diesen nehmen
neben der äussern Haut auch die Schleimhäute und die inneren Organe an
der Erkrankung den lebhaftesten Antheil. Hämorrhagien und Pustel-
bildung in der Schleimhaut der Mund- und Rachenhöhle, in der Conjunctiva,
Blutungen aus dem Mund- und Nasenraum, aus den Luftröhren und Lungen,
aus dem Magen-Darmkanal, aus den Nieren und dem Uterus, führen zu früh-
zeitigen, schweren Collapszuständen; am constantesten sind Metrorrhagien
bei Frauen im Anschluss an Geburten, Abortus, oder an die Menstruation,
fast ebenso häufig sind bei ihnen Hämaturie und Melaena; Hämatemesis und
Hämoptysis sind seltener. Das Allgemeinbefinden ist schon im Initial-
stadium intensiv gestört, wir haben aber kein Symptom, das die Ver-
muthung auf kommende Variolae nigrae stützen könnte; fast stets ist der
Kreuzschmerz ungewöhnlich heftig, wie bei der Purpura variolosa, ent-
sprechend den grossen Blutungen in das Nierenbecken, das Nierengewebe und
das retroperitoneale Bindegewebe, welche man bei der Section neben der
meningealen Blutüberfülle des Rückenmarkes und seiner Häute als Zeugen
der beträchtlichen Hyperämie findet. Das Fieber, welches im Prodromal-
stadium sehr hoch auftritt, ist oft während der Eruption und des ganzen
Krankheitsverlaufes relativ niedrig, bei älteren und kachektischen Personen,
bei Potatoren erreicht häufig die Körperwärme noch nicht -|- 39 'O*^ C; die
Temperatur kann aber auch anhaltend hoch sein; fast nie aber hat sie die ty-
pische Curve der Variola vera.
Die Pulszahl ist stets sehr gross und dadurch oft auffallend ab-
stechend von der niedrigen Temperatur. Bei sehr grossen Blutungen und
den dadurch bedingten Collapszuständen hebt sich die Pulsfrequenz auf
140—160 Schläge in der Minute, während das Thermometer nicht + 36" C
Körperwärme aufweist. Die Variolae nigrae bringen in der Regel nicht so
rasch wie die Purpura variolosa den Tod, die Heilung ist aber auch hier
ausserordentlich selten, der zunehmende Collaps und das Coma erlauben kaum
jemals auch nur die leiseste Hoffnung auf Genesung. Die Aetiologie der
Variola haemorrhagica pustulosa ist gänzlich dunkel; im Gegensatz zur Pur-
pura variolosa, welche besonders kräftige, jugendliche Personen befällt, sucht
die Variola nigra mit Vorliebe unter den älteren Personen jenseits der vier-
ziger Jahre, unter den decrepiden und kränklichen Leuten und Reconvale-
scenten, unter den Schwangern und Wöchnerinnen ihre Opfer aus.
Die zweite Gruppe der Pocken, die Variolois, ist keine von
der Variola vera irgendwie principiell verschiedene Erkran-
kung, sondern nur eine leichtere Form des allernämlichen Pockenprocesses
mit der nämlichen Aetiologie. Auch lässt sich nicht stets eine scharfe Grenze
zwischen den beiden Pockenformen ziehen, vielmehr kommen die mannig-
faltigsten Zwischenstufen vor. Die Variolois, auch Variola mitiyata s. moch-
ficata benannt, ist im Allgemeinen dadurch charakterisirt, dass sie milder und
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III.
978 VARIOLA.
schneller verläuft, ein spärliches Exanthem besitzt, ärmer an Complicationen
ist und keine entstellenden Narben hinterlässt.
Die Variolois kommt vorzugsweise vor bei Personen, welche ent-
weder schon einmal die Pocken überstanden haben oder geimpft sind. Man
findet aber auch Leute, welche von Natur aus für das Pockencontagium weniger
disponirt sind und zur Zeit der schlimmsten Epidemien nur leicht an Variolois
erkranken. Diese angeborene, verminderte Disposition ist relativ selten. Sicher
bewiesen ist die Thatsache, dass das einmalige Ueberstehen der Blattern und
die Vaccination vor der Variola vera schützt; je mehr die Schutzimpfung mit
Kuhpocken an Ausbreitung gewonnen hat, umsomehr verschwindet die Variola
vera und umsomehr drängt sich in Epidemien die Variolois vor, so dass in
Ländern, in welchen, wie in Deutschland, die Schutzpockenimpfung consequent
und streng durchgeführt wird, die Variola vera selten geworden ist und die
verheerenden Epidemien der früheren Jahrhunderte der Neuzeit gänzlich
unbekannt geworden sind; nur selten sieht man in Deutschland durch Pocken-
narben entstellte Leute. Selbst wenn seit dem Ueberstehen der Variola oder
seit der Vaccination lange Jahre verflossen sind, schwindet nicht vollständig
der erworbene Schutz gegen die Pockeninfection, weil in der Regel nur Vario-
loiden, höchst selten echte Variola solche Personen befallen; ein vollständiger
Schutz gegen die Pocken besteht aber nur eine gewisse, bei dem Einzelnen
verschieden lange Zeit.
Das Initialstadium der Variolois unterscheidet sich vom Prodro-
malstadium der Variola vera durch eine geringere Dauer, welche sehr
selten die fast constante Zahl von drei Tagen der echten Pocken erreicht,
sondern mit zwei, oft schon mit einem Tage beendigt ist, es kann selbst das
Prodromalstadium vollständig fehlen oder doch so geringfügig sein, dass es
übersehen wird und es scheint, als ob das Eruptionsstadium ohne Vorboten
eingesetzt hat. Häufig dauert aber auch das Invasionsstadium der Variolois
länger als drei Tage und die subjectiven Symptome sind sehr schwer, so dass
schon im Prodromalstadium die Eigenthümlichkei t der Variolois, mit
Bezug auf Dauer und Verlauf der einzelnen Stadien und der einzelnen Er-
scheinungen eine grosse Mannigfaltigkeit und Unregelmässigkeit gegenüber
den Bildern der Variola vera zu zeigen, hervortritt. Sprechen im Allgemeinen
besonders leichte Initialsymptome für die Variolois, so lässt sich doch nicht
mit Bestimmtheit sagen, ob sich Variolois oder Variola vera entwickeln wird.
Die Variola mitigata entbehrt nicht der initialen Exantheme; die nicht
hämorrhagischen, rein erythematösen Ausschlagsformen, sowohl die maculösen,
als auch die flächenförmigen gehen fast nur der Variolois voraus; je aus-
gebreiteter das reine erythematöse oder maculöse Prodromal exanthem ist,
umsomehr wird man, auch selbst bei schweren Störungen des Allgemein-
befindens, die mildere Variolois prognosticiren dürfen, während die pete-
chialen Initialexantheme mit ihrem Lieblingssitze im Schenkeldreieck
fast immer die Variola vera ansagen.
Im Stadium eruptionis macht sich die nämliche Unregelmässigkeit
gegenüber dem so regelmässigen Verlauf der Variola vera geltend. Das
Exanthem der Variolois breitet sich nicht regelmässig vom Gesichte auf
den Ptumpf und vom Rumpfe auf die Extremitäten aus, vielmehr kommt das-
selbe manchmal am Rumpfe zuerst oder an mehreren Körperstellen gleich-
zeitig zum Ausbruch. Die Eruption vollzieht sich bisweilen ungemein
rasch hintereinander, so dass die definitive Zahl der Pocken sehr schnell er-
reicht ist, oft aber zieht sich die Eruption durch neue Nachschübe ungewöhn-
lich lange hin; man sieht dann Papeln und Stippchen neben schon weit
vorgerückten Pusteln frisch auftreten, so dass bisweilen die verschiedensten
Entwicklungsstufen des Pockenausschlages auf kleinem Räume neben einander
bestehen. Die Pocken sind weit weniger zahlreich als bei der Variola, die
VARIOLA. 979
Zahl kann so gering sein, dass man nur einzelne Exemplare im Gesicht oder
an anderen Körperstellen auffindet, welche fast ohne Störung des Allgemein-
befindens verlaufen und die Bezeichnung Variolois localis begründen; im
Gegensatz hiezu kann aber auch die Variolois ziemlich dicht gestellt, nament-
lich im Gesichte auftreten. Während aber die einzelnen Efflorescenzen
sich in keiner Beziehung von denen der ^'ariola vera unterscheiden, ent-
wickeln sich dieselben jedoch bei der Variolois nur selten ebenso vollkommen
wie bei der Variola vera und führen weit seltener bis zur Betheiligung des
Papillarkörpers in der Haut. In der Regel verwandeln sich die Papeln schneller
in Bläschen und die Bläschen schneller in Pusteln, als bei den echten Pocken;
die Pusteln der Variolois sind zuweilen kleiner, gewöhnlich fehlt ihnen die
centrale Delle, sie vertrocknen oft schon, ehe sie völlig eitrig geworden sind:
selbst in jenem Stadium kann das Exanthem der Variolois vollständig zurück-
gehen, so dass die Variolois abortiva das Feld beherrscht; es kommen
Fälle vor, wo nur Flecken und Papeln sich ausbilden und dann die Erkran-
kung abortivirt. Die Variola sine exanthemate lässt es überhaupt nicht zum
Exanthem kommen, sondern mit dem Prodromalstadium ist das Ende der Er-
krankung bereits erreicht.
Im Stadium suppurationis der Variolois zeigen sich die wichtigsten
Abweichungen von der Variola: die Pocken sind nur ganz oberflächlich,
der rothe Hof, welcher die Pocken umgiebt, bleibt schmäler und schwillt
weniger an; in Folge dessen ist die Spannung der Haut, der grosse
Schmerz und das entstellende Bild auch nicht entfernt ähnlich dem
Krankheitsverlaufe der Variola vera. Wesentlich anders verläuft auch das
Fieber. Das Initialfieber fällt mit oder gleich nach der Eruption sehr steil
und rasch ab, so dass schon am Ende des ersten oder im Beginne des zweiten
Tages die normale Körperwärme erreicht ist; es bleibt dann die Temperatur
vollständig normal, sie steigt, entsprechend der geringen Pustelzahl und der
nur oberflächlichen Eiterung, auch im Suppurationsstadium nicht oder erhebt
sich im Beginne der Maturation für höchstens einen Tag in massiger Weise;
gerade das Fehlen oder die geringe Höhe der Febris secundaria mit kurzem
Verlaufe ist für die Variolois charakteristisch. Mitunter kommt sogar in keinem
Stadium Fieber zum Ausbruch, trotzdem unverkennbar ein Pockenexanthem
in spärlicher Zahl vorhanden ist; diese Fälle bezeichnet man als Variola
afebrilis.
Das Stadium exsiccationis beginnt bei der Variolois gewöhnlich schon
am 5. bis 6. Tage nach dem Beginne der Eruption; die meisten Pocken ver-
trocknen einfach, ohne zu bersten, zu bräunlichen, dünnen Krusten, andere
Pocken werden nicht eingedickt, ihr Inhalt wird resorbirt und statt des Schor-
fes stösst sich die welke und vertrocknete Hauthülse ab. Die meisten Schorfe
fallen schon nach 3 — 4 Tagen ab und hinterlassen geröthete, etwas promini-
rende Flecken, welche bald spurlos verschwinden; es können aber auch bei
der leichtesten Variolois einzelne Pocken vorkommen, welche das Gewebe der
Cutis ergreifen und dieselben Narben hinterlassen wie die Variola vera. Die
Gesammtdauer bei der Variolois ist wesentlich kürzer als bei der böseren
Form.
Die Schleimhäute werden bei der Variolois ebenso befallen wie bei
der Variola vera, aber in bedeutend milderem Grade, die Pockenent-
wicklung ist spärlich und wenig intensiv, oft findet man nur einfache Piöthung
und Schwellung der Schleimhäute; die durch die Betheiligung der Schleim-
häute gesetzten Symptome treten dementsprechend weniger heftig auf, der
Speichelfluss, die Schlingbeschwerden, die Heiserkeit, der Husten, die Ver-
stopfung der Nase, die Lichtscheu und das Thränenträufeln sind zwar ganz
gewöhnliche Begleiter der Variolois, doch weit entfernt von den Beschwerden
der Variola vera. Das Wohlbefinden des Patienten ist überhaupt weniger
62*
980
VARIOLA.
gestört: mit dem fast kritischen Abfall des Fiebers im Eruptionsstadium tritt
ein Wohlbehagen ein, welches auch im Suppurationsstadium wenig oder gar
nicht getrübt wird; schwere Complicationen kommen nur sehr selten vor.
Die Verschiedenheit in der Ausbildung des Varioloisexanthems, zumal
im Stadium pustulosum, hat zu einer grossen Zahl von gesonderten klinischen
Unterabtheilungen geführt, in welchen allein die äussere Form der Pocken
den Ausschlag gibt; wir betonen, dass ein principieller Unterschied zwischen
den einzelnen Gruppen nicht besteht, sondern dass ausschliesslich das Aus-
sehen, die Gestalt der Efflorescenzen die Benennung bedingt. So nennt man
Variolois miliaris diejenige Form, bei welcher sich nur hirsekorngrosse,
gelbliche Bläschen entwickeln, welche nicht weiter wachsen, sondern durch
Eintrocknung verschwinden. ' Wenn die normal grosse Pustel sich zu einer
TEMPERATURCURVE
der Variolois.
grösseren Blase mit serös-eitrigem Inhalte ausdehnt, so tritt die Bezeichnung
Variolois pemphigosa ein. Die erstgenannte Form ist häufiger als die
zweite. Selten ist auch die Variolois siliquosa, jene Pustelform, bei
welcher der Inhalt vollständig resorbirt wird, so dass nur eine leere, luft-
haltige Hautblase als Schale zurückbleibt. Bei der Variola vera soll auch
eine ähnliche, lufthaltige Blase beobachtet werden, welche aber dadurch ent-
steht, dass in der Pustel selbst durch Zersetzung des Eiters Gase sich ent-
wickeln ; diese, Variola emphysematica genannte Form, beruht auf sep-,
tischen Vorgängen und ist fast ausnahmslos tödlich. Als Variolois ver-
rucosa beschreibt man diejenigen Krankheitsbilder, in deren Verlaufe bloss
solide, conische Knötchen mit einem nur kleinen, gelbliche Flüssigkeit ent-
haltenden Bläschen an der Spitze auftreten; wenn das Bläschen eingetrocknet
und der Schorf abgefallen ist, so bleibt der solide Theil der Pocken als
warzenartige Erhebung der Haut noch längere Zeit haften. Die Bezeichnung
Variolois globulosa, acuminata, crystallina, lymphatica, se-
rosa, fimbriata erklärt sich von selbst nach dem Inhalte oder der Form der
Pusteln; grossen Werth hat diese Eintheilung sicher nicht.
Ausserordentlich mannigfaltig sind die Complicationen und Nach-
krankheiten, welche bei den Pocken, vorwiegend der schwereren Form,
seitens der verschiedensten Organe beobachtet werden. Ein Theil der Com-
VARIOLA. 981
4)licationen verdient nur mit Unrecht diesen Namen, weil viele derselben
mehr oder weniger direct mit der Localisation des Krankheitsprocesses auf
der Haut und den Schleimhäuten zusammenhängen; andere Begleiterscheinungen
sind auf die schweren Ernährungsstörungen in Folge der Krankheit zurück-
zuführen. Auf der Haut findet man multiple Furunkeln und mehr oder
weniger grosse Hautabscesse; unter Umständen sind die letzteren Begleit-
erscheinungen einer py am i sehen Infection; selten treten Erysipele
und tiefgreifende Phlegmonen auf. Durch localeErnährungsstörung
kommt es in der Umgebung der Efflorescenzen zu Hautgangrän, man
heisst diesen Zustand auch Variola gangränös a; am häufigsten zerstört
die Gangräna die Haut des Scrotum. Der bisweilen auftretende Decubitus
an den Druckstellen des Kranken beruht auf der nämlichen Ursache. Mul-
tiple Muskelabscesse kommen im intermusculären Bindegewebe zur
Beobachtung. Von Seiten des Bewegungsapparates treten besonders
häufig die Gelenke mit entzündlichen, schmerzhaften Schwellungen in den
Beobachtungskreis; mit Vorliebe werden die grossen Gelenke befallen, in
deren Gelenkhöhle serös-fibrinöse oder serös-eitrige Ergüsse statthaben; die
serösen Exsudate werden wieder resorbirt, während die serös-eitrigen Ergüsse
zur vollständigen Vereiterung des Gelenkes mit Betheiligung der Knorpel-
und Knochenenden führen können; vollständige Ankylosenbildung kann daraus
resultiren. Periostitis an einzelnen oder mehreren Knochen begleitet
solche Processe oder kommt für sich allein vor. Nicht minder ernst sind die
Veränderungen, welchen das Auge im Verlauf der Pocken ausgesßtzt ist.
Der einfache Katarrh der Conjunctiva ist ein fast regelmässiges Variolasymptom,
welches nicht viel auf sich hat; schon mehr der Beachtung werth ist der eitrige Binde-
hautkatarrh, welcher noch dadurch gesteigert wird, dass durch die ödematöse Schwellung
der Augenlider die Augen nicht geöffnet werden und die Eitermassen nicht abfliessen
können. In einzelnen Fällen sind dij^hthe ritische Processe auf der Conjunctiva
gefunden worden, sie können zum gänzlichen Untergange des Auges führen. Subconjunc-
tivale Hämorrhagien begleiten die Variolae haemorrhagicae oder die Purpura vario-
losa. Auf der Conjunctiva palpebrarum entwickeln sich bisweilen echte Variola-
pusteln, selten trifft man sie auf der Conjunctiva bulbi an, bisweilen dem Cornealrande
so nahe, dass sie auf die Hornhaut übergreifen. Anf der Cornea sind Variolapusteln kaum
jemals zur Entwicklung gekommen, dagegen sind ulceröse Vorgänge auf der Cornea nicht
allzu selten. Die Keratitis superficialis circumscripta, welche kurz vor oder im
Beginne des Stadium exsiccationis zur Entwicklung kommt und häufiger als die Kera-
titis interstitialis diffusa auftritt, kann Hypopionbildung, Perforation der Cornea,
Irisprolaps, vordere Synechien, acute und chronische Iritis mit Pupillenverschluss, selbst
vollständige Bulbnsphthisis nach sich ziehen Die selten beobachtete Keratoma lacie
trübt gleichfalls die Aussicht auf eine befriedigende Abheilung der mitbetheiligten Augen.
Reine Iritis und Iridochorioiditis treten als Nachkrankheiten auf, in vereinzelten
Fällen sind Glaskörpertrübungen, Trübungen auf der hinteren Linsenfläche,
acutes Glaucom, Retinitis, Neuroretinitis undParalyse eines Augenmuskels
beobachtet worden.
Im Verlauf der hämorrhagischen Pocken sind Blutungen in der Chorioidea
und Retina zu erwarten; durch diese Netzhautblutungen kann es zu plötzlicher Erblin-
dung kommen.
Ungemein häufig ist das Gehörorgan bei den Pocken erkrankt, fand
-doch Wendt an 168 Leichen, dass nur zweimal das Ohr von Veränderungen,
welche der Pockenprocess bedingt, frei war, also in mehr als 987o das Ge-
hörorgan nicht intact gelten konnte.
In der Ohrmuschel finden sich fast stets Pusteln, wir begegnen ihnen auch im
äusseren Gehörgange, soweit er knorpelig ist, jedoch weit seltener; im inneren Ohre
und in der Tuba Eustachii kommen pustulöse Erkrankungen nicht vor, wohl aber treten
Störungen im Gehörorgane, welche von der Affection des äusseren Gehörganges oder
von der durch die Tuba Eustachii fortgeleiteten Rachenstörung herrühren oder unmittel-
bar dem Pockenprocess eigen sind, in den Beobachtungskreis. Ohrensausen. Klingen.
Schwerhörigkeit, stechende Schmerzen erklären sich leicht durch die Hyperämie und
Schwellung im knöchernen Theile und am Trommelfelle; oft steigert sich die
entzündliche Schwellung so sehr, dass es zu einem eitrigen Exsudate im Mittelohr
kommt; in besonders heftigen Variolafällen widersteht selbst das Felsenbein nicht. Ca-
riöse Processe in ihm und schwere Entzündungen des Mittelohres hinterlassen nur zu
982 VARIOLA.
gerne chronisclie Otitis media, grosse Trommelfellperforationen, Schwerhörig,
keit und selbst vollkommene Taubheit.
Die Nasenschleimhaut, auf welcher Hyperämie, Pustelbildung
und Schwellung immer zu finden sind, häufig derart, dass sie die Nasen-
höhle gänzlich verstopfen oder zu Blutaustritten in die Schleimhaut und nach
aussen führen, kann in beschränkter und grosser Ausdehnung ulceriren.
Die Verschwärungen greifen unter Umständen auf die Knochen und
Knorpel über, durch welche Vorgänge Difformitäten der Nase, Functions-
störungen und Verwachsungen verursacht werden können.
Die Schleimhaut der Mund- und Rachenhöhle, welche, wie bereits
früher ausgeführt wurde, ausserordentlich stark an dem Pockenprocesse be-
theiligt ist, schwebt in Gefahr, dass auf ihr tiefgreifende Geschwüre Platz
greifen; selar häufig finden sich auf ihr, zumal an den Tonsillen und auf den
Gaumenbögen, phlegmonöse Entzündungen und Abscessbildungen;
auch in der Zunge können phlegmonöse Processe sich einnisten und zur
Vereiterung führen; auf den Mandeln und dem weichen Gaumen finden sich
nicht nur necrotische Veränderungen, sondern mit einer sehr grossen
Vorliebe auch diphtheritische Veränderungen; es ist aber für uns
fraglich, ob wirklich so häufig Diphtheritis sich hinzugesellt,
als man im Allgemeinen annimmt, vielmehr halten wir es für
zutreffend, dass die Diagnosis Diphtheritis vielfach mit Un-
recht gestellt wird, weil dicht gestellte oder gar confluente Pocken mit
pockigen, unregelmässigen Substanzverlusten im Gewebe die diphtheritische
Verschwärung und den Belag vortäuschen können; mit Bestimmtheit kann
ich anführen, dass in einem von mir beobachteten Falle, welcher einen
diphtheritischen Belag auf den Mandeln zu repräsentiren schien, keine
LöFFLEE'schen Diphtheriebacillen nachzuweisen waren, so dass es sich um
eine Pseudodiphtheritis handelte; ebenso wird es auch in vielen ähn-
lichen Krankheitsbildern sein. Als seltene Complicationen von Seiten
der Mund- und Rachenhöhle sind Noma, Retropharyngealabscesse,
Gangrän der Uvula und Behinderung der Beweglichkeit der Zunge durch
Narbenzüge beobachtet worden. Entzündungen der Speicheldrüse
sind dagegen wieder häufiger; die leichten Formen der Parotitis haben
auf den Ablauf der Variola keinen Einfluss, sie bilden nur zum Theil die
Ursache der quälenden Salivation, der andere Theil ist eine Reflex-
erscheinung, von der entzündeten Mundschleimhaut ausgelöst; bei den
schwersten Fällen der Variola kann aber eine eitrige oder jauchige
Parotitis auftreten, die letztere Entzündung begleitet als metastatische
Entzündung die pyämische Complication der Variola. Auch in dem
submaxillaren Zellgewebe können phlegmonöse Vorgänge sich breit
machen. Die Unterkieferdrüsen sind sehr oft schmerzhaft und ge-
schwollen.
Die Speiseröhre macht im Allgemeinen nur wenige eigene Symptome;
die Pusteln auf dem oberen Theile des Oesophagus steigern die schon vor-
handenen Schluckbeschwerden, sogar die Erscheinungen einer phlegmonösen
Oesophagitis können sich hinzugesellen. Der Magen unterliegt vorwiegend
den gewöhnlichen Gesetzen jeder ernsten und fieberhaften Erkrankung, wie
Appetitlosigkeit, Aufstossen, Herabsetzung der Verdauungsfähigkeit, relativ
häufig findet sich Erbrechen; Hämatemesis und Meläna im Verlaufe der
hämorrhagischen Pockenform sind böse Gäste. Der Darm übt in der Regell
seine Functionen nur träge aus, doch sollen auch durch Katarrhe hartnäckige
Durchfälle vorkommen, welche die allgemeine Ernährungsstörung noch mehr
vergrössern und selbst das Ende der Variola überdauern können, solche
Formen werden als Variola dvsenterica bezeichnet. Auch das Bauchfell
VARIOLA. 983
bleibt der Gefahr der Entzündung nicht gänzlich entrückt, doch ist die Peri-
tonitis sehr selten und wenn sie vorkommt, durch locale Ursachen bedingt.
Ebenso wichtig wie die Complicationen des Digestionsapparates sind
diejenigen des Respirationssystems. Der Katarrh des Larynx ist
so häufig, dass man ihn gar nicht zu den Complicationen rechnet; er verläuft
auch in der Regel einfach und folgenlos; schlimmer sind die wirklichen
Complicationen des Larynx, wenn der Katarrh der Kehlkopfschleimhaut durch
phlegmonöse Processe und Geschwüre abgelöst wird und submucöse
Abscesse, Perichondritis, Necrosis der Knorpel das Feld be-
herrschen; im günstigsten Falle lassen sie chronische Heiserkeit oder selbst
völlige Aphonie in Folge der Difformität und Ankylosenbildung zurück, sie
können auch selbst noch lange nach Ablauf der Variola tödten. Acutes
Glottisödem kann in jeder Phase der Pocken den Tod bedingen. Wie der
einfache Larynxkatarrh, so sind auch die Bronchitis und Tracheitis fast
regelmässige Begleiter der Variola; abgesehen davon, dass sie Husten
und geringen Auswurf bedingen, ist ihr Verlauf ein gänzlich gutartiger.
Beschränkt sich aber dieser Luftröhrenkatarrh nicht auf die groben Bronchien,
so entwickelt sich ein diffuser Bronchialkatarrh, welcher die Respiration
sehr erschwert. Die schweren Formen der Bronchitis führen bei Kindern
gerne zu katarrhalischer Pneumonie; auch croupöse Pneumonie
kommt als Complication nicht selten vor; meine Meinung geht aber dahin,
dass diese Pneumonien nicht immer, selbst nicht einmal in ihrer Mehrzahl,
croupöser Natur sind, sondern, dass es sich um secundäre Erkrankungen
handelt; diese können zwar das klinisch-physikalische Bild der croupösen
Pneumonie liefern, in Wirklichkeit aber haben sie mit dem FßÄNKEL'schen
Diplococcus pneumoniae nichts zu thun, sondern sind reine Streptococcen-
Pneumonien, wie ich sie bei der Influenza nachgewiesen habe. Unter den
sonstigen Complicationen von Seiten der Lungen sind hypostatische Pneu-
monien von übler Vorbedeutung, nicht minder das acute Oedema pul-
monum und die beobachtete Lungengangrän. Die gangränöse Ver-
schwärung in der Lunge kann grosse Blutungen hervorrufen, meistens aber
sind die Lungenblut ungen im Gefolge der hämorrhagischen Pocken zu
beobachten. Pleuritis tritt sehr häufig zu der Variola, sie hat eine be-
sondere Neigung, eitrig zu werden; man sieht die Rippenfellentzündung ein-
und doppelseitig.
Das Circulationsgebiet weist eine weniger reiche Betheiligung an
den Complicationen auf. Die Pericarditis ist zwar relativ häufig, entweder
primär entwickelt oder secundär von einer Pleuritis hergeleitet, doch ist sie
bei weitem seltener als die Brustfellentzündung; auch ihr Exsudat wird gerne
eitrig. Endocarditis, selbst die ulceröse, septische Form zeugt in
seltenen Fällen für die Möglichkeit der Betheiligung des Herzens an den
acut-entzündlichen Processen. Der Herzmuskel selbst verliert bei längerer
Fieberdauer in Folge parenchymatöser Degeneration frühzeitig an Kraft und
hat alle Charaktere der Herzschwäche, oder er liefert das klinische Bild
einer Myocarditis, welche bisweilen so häufig vorkommen soll, dass man
für sie den Namen Myocarditis variolosa eingeführt hat.
Die Begleiterscheinungen von Seiten der Nieren werden, abgesehen
von den Schmerzen im Rücken, im Harne kund. Albuminurie findet sich
sehr häufig im Verlaufe der Pocken, bisweilen schon in der Prodromalperiode.
Bald ist das Eiweissharnen nur febrile Folge, bald ist es auf paren-
chymatöseDegeneration zurückzuführen; wirkliche, ausgesprochene, acute
Nephritis ist jedoch selten. Die öfters auftretende Hämaturie kann aus
dem Nierenbecken und den Ureteren einerseits, der Harnblase anderseits
stammen; das aus dem Nierenbecken stammende Blut ist dem Harne gleich-
massig beigemischt, während das Blut, w^elches aus der Harnblase unmittelbar
984 .. VARIOLA.
stammt, diese innige Vermischung nicht zeigt, sondern geronnen, in kleineren
Gerinnseln auftritt, lebhaft roth von Farbe ist und am Schlüsse des Harn-
geschäftes häufig gänzlich unverändert entleert wird.
Der Geschlechtsapparat ist vorwiegend beim weiblichen Geschlechte
betheiligt. Beim Manne findet sich mehrfach Orchitis, welche bald in den
Häuten des Hodens, bald im Hodenparenchym selbst ihren Sitz hat und ge-
wöhnlich gutartig verläuft. Es sind allerdings auch schon phlegmonöse
Abscessbildungen in den Hoden beobachtet worden. Bei Frauen kommen
Uterusblutungen ungemein häufig vor, entweder kurz vor der Menstruation,
dieselbe einleitend, oder die Menstruation wird zur Metrorrhagie, oder als
pseudomenstruale Gebärmutterblutungen; besonders schlimm wird
die Blutung, wenn Wöchnerinnen von den Pocken befallen werden; erkranken
Schwangere an Variola, so erfolgt oft Abortus oder Frühgeburt, die späteren
Monate der Gravidität neigen mehr zu vorzeitigerem Partus als die ersten;
alle diese Blutungen steigern die allgemeine Erschöpfung bedrohlich.
Von Seiten des Nervensystems ist die Betheiligung am Pockenprocesse
eine grosse. Sehen wir ab von den bereits erwähnten Delirien, welche einen
maniakalischen Charakter annehmen können, so folgen doch bisweilen
■dauernde Geisteskrankheiten der abgelaufenen Variola. Im Ganzen
kommt es nicht häufig zu wirklichen entzündlichen Processen im Gehirne:
Meningitis, Encephalitis, Encephalomalacie oder Encephalorrhagie
sind seltenere Complicationen; relativ häufig triöt man Aphasie und
Dysarthrie als Folgen encephalitischer Herderscheinungen (Hypoglossus-
lähmung) an. Das Rückenmark erkrankt gerne an Myelitis disse-
minata unter dem Bilde von Lähmungen und Ataxien; wiederholt ist acute
aufsteigende Spinallähmung beschrieben worden. Lähmungen der
Blase kommen sowohl im Beginne als auch nach Ablauf der Variola vor.
Neuritis begleitet die Blattern selten. Zweifelhaft ist es, ob als Nach-
krankheit der Pocken Epilepsie vorkommt; Katalepsie ist mit Sicherheit
beschrieben worden, Diabetes mellitus und insipidus können sich
jedenfalls den Pocken anschliessen.
Defluvium capillitii tritt bei vielen Patienten ein, wenn die
Borken der Pusteln sich abzulösen beginnen; handelt es sich hierbei nur um
eine Ernährungsstörung, wie es auch bei anderen schweren Krankheiten der
Fall ist, so wachsen die Haare wieder; wenn aber der Pockenprocess die
Haarbälge zerstört hat, so kommt kein Wiederersatz zu Stande. Verlust der
Nägel ist sehr selten.
Nach schwerer Erkrankung bleibt zuweilen auf lange Zeit ein hoher
Grad von Erschöpfung zurück, so dass die Patienten sich nur ungemein
langsam erholen; selbst hy dropische Erscheinungen gesellen sich zu
diesen Schwächesymptomen. Marantische Venenthrombosis an einer
unteren Extremität oder an beiden Beinen fehlt gelegentlich nicht.
Von Nachkrankheiten, welche erst lange Zeit nach Abheilung der
Variola ihre Symptome setzen, führen wir noch die Narbengeschwulst,
Keloid, auf der narbigen Haut an; die Haut kann noch Jahre lang der
Sitz von störender Acne rosacea werden.
Ein Curiosum ist es, wenn durch die Pockennarben allmählich sich eine
Strictur des Oesophagus entwickelt.
Anatomie.
Der Träger des Pockengiftes ist uns unbekannt, auch die Neuzeit
hat bis heute das Dunkel noch nicht lichten können. Man wird jedoch
nicht fehl gehen, wenn man auch für die Variola parasitäre Momente auf-
stellt. Es ist eine Pteihe Beobachtungen über Bacterienbefunde mitgetheilt
worden, aber ob diese Bacterien constant vorkommen und ob sie Variola
. VARIOLA. 985
erzeugen können, steht nocli lange nicht fest. Am meisten Beachtung ver-
dienen die Untersuchungen von Weigert, welcher in den oberflächlichen und
den tiefen Schichten des Corium gruppenweise und schlauchförmig angeordnete
Spaltpilzherde nachwies; diese Bacillen sind aber nur in den ersten Tagen
der Erkrankung nachweisbar und verschwinden in den späteren Stadien.
Was die histologischen Verhältnisse anlangt, so beruht der rothe Fleck auf
einer Erweiterung der Blutgefässe, auf einer fleckweisen Hyperämie, welche sich
durch die ganze Dicke der Cutis fortsetzt. In den tieferen Schichten des Rete
Malpighii treten die ersten Veränderungen auf: aus den Gefässen des Papillar-
körpers tritt reichlich Lj^mphe aus, durch sie quellen die Zellen auf und verwandeln
sich in schollige, homogene, an Grösse und Gestalt unregelmässige, kernlose Gebilde. Diese
Umwandlung der Epithelzellen nennen wir mit Weigert Coagulationsnecrosis. Durch
iliesen Vorgang kommt es zu einer circumscripten Umfangszunahme der Epidermis,
mit dem blossen Auge auf der Haut als die Papel sichtbar, weil die Schwellung der
Mittelschichte der Epidermis die Hornhaut über das Niveau hervorwölbt. Zwischen die
schollig degenerirten Epithelzellen ergiesst sich mehr und mehr die reichlicher aus dem
Papillarkörper hervortretende Lymphe und drängt die necrotischen Zellen auseinander;
hierdurch entstehen kleine Hohlräume, in welchen sich die Lymphe ansammelt; die
schollig degenerirten Zellen werden durch das stetige Anwachsen des Papillarkörper-
exsudates zu dünnen Membranen und P'äden comprimirt und ausgezogen, ohne
da s s jedoch die einzelnen Zellen auseinander gerissen werden. Auf diese Weise entwickelt sich
ein vollständiges Maschen werk, dessen Wände die Reste der Epithelzellen bilden. Dieses
mit Lymphe gefüllte, fächerige Maschennetz ist die Pocke im Stadium ves i-
culosum. Wird ein solches Bläschen angestochen, so entleert sich naturgemäss nicht das
ganze Bläschen, sondern nur ein Theil seines Inhaltes. Während dieses Vorganges schwellen
die Papillen durch seröse Durchtränkung etwas an, ihre Gefässe erweitern sich und wer-
den stärker geschlängelt, Eiterzellen treten aus den Gefässen aus und mischen sich
mehr und mehr der Lymphe bei, so dass allmählich der klare Inhalt der Bläschen gänzlich
eitrig wird. An einer grossen Zahl der Pockenbläschen bemerkt man eine centrale Ver-
tiefung, den Pockennabel oder die Delle, deren Ursache keine einheitliche ist; vor-
zugsweise findet sich der Pockennabel bei solchen Bläschen, welche sich rings um einen
.Haarbalg oder um eine Schweissdrüse entwickeln; weil nun die Epidermis mit ihrer Horn-
schicht sich in die Scheide des Haarbalges fortsetzt und der Ausgang der Schweissdrüsen
in derselben Weise mit der Epidermis unmittelbar verbunden ist, so wird die Pusteldecke
an dieser Stelle durch den in diese Einstülpungen sich hineinschlagenden Hornfortsatz der
Epidermis niedergehalten und kann sich nicht wie die anderen Theile der Epidermis leicht
abheben. Nicht alle Pocken mit Dellen sitzen aber um Haarbälge und Drüsenausführungs-
gänge herum; bei diesen Pusteln entsteht der Nabel dadurch, dass die Proliferationsvor-
gänge durch Zellwucherung in den peripheren Theilen eine Erhebung der Randtheile be-
wirken, während die abgestorbene Partie in der Mitte die Pockendelle bildet; die Schwel-
lung der peripheren Theile der Pocken geht rasch und voluminös vor sich, so dass das
Centrum, welches nur massig und langsam durch die Eiterung emporgehoben wird, ver-
tieft erscheint. Bei anderen Pocken hinwiederum sind die Maschen in der Mitte am wenig-
sten dehnbar, mehr resistent, so dass hier die Epidermisoberfläche eingesunken erscheint.
Je mehr der Pustelinhalt eitrig wird, umsomehr verschwindet die Delle, dadurch dass das
centrale Retinaculum nachgiebiger oder völlig zerstört wird. Fangen die Pusteln an ein-
zutrocknen, so bildet sich auch bei solchen Pocken, welche vorher keine Delle hatten, eine
neue Einsenkung in der Mitte, der secundäre Nabel, aus, weil die centrale, die älteste
Partie, früher eintrocknet als die jüngere, periphere Zone und früher einsinkt.
Die eigentliche Pockenefflorescenz hat ihren Sitz in der Epidermis;
auf der Höhe der Suppuration ist der Papillarkörper, welcher im Beginne des Exan-
thems etwas geschwellt sein kann, durch den Druck des Pustelinhaltes leicht compri-
mirt und abgeflacht; in solchen Fällen trocknen die Pockenzellen frühzeitig ein; unter
den Borken bildet sich eine neue Epidermis durch völlige Regeneration der Epi-
thelien; ist diese vollendet, so fällt die Borke ab, ohne dass eine Narbe zurückbleibt,
höchstens bleibt schon einmal, wenn der Papillarkörper stark durch den Druck der Pustel
abgeplattet war, eine seichte Vertiefung, welche nach einiger Zeit gänzlich und folgenlos
verschwindet, zurück. Wenn aber die Pocken sich nicht auf die Epidermis beschränken,
sondern auf die Cutis greifen und die Papillarpartie in die Entzündungen hin-
einziehen, so wird der Papillarkörper stark eitrig infiltrirt; durch die Eite-
rung schmilzt ein mehr oder weniger grosser Theil des Papillarkörpers ein, im Inhalte der
Pockenpustel finden sich neben den Eiterzellen Fetzen des zerstörten Papillarkörpers,
dessen resistentere Theile der Eiterung länger widerstehen und einen unebenen Geschwürs-
grund verursachen. Die Borken haften weit länger als bei der oberflächHchen Pustel in
diesen unregelmässigen Vertiefungen; die Heilung erfolgt nur durch Narbenbil-
dung, deren Ausdehnung und Form von der Intensität der Zerstörung und der Beschaffen-
heit des Geschwürgrundes abhängt; fast stets sind die Narben strahlig und hässlich.
986 VARIOLA.
Die Pusteln der verschiedenen klinischen Formen der
Pocken unterscheiden sich in ihren anatomischen Verhältnissen
nicht von einander; bei der Variola haemorrhagica pustulosa wird
durch beigemischtes Blut der Pustelinhalt mehr oder weniger roth bis schwärz-
lich gefärbt. Bei dieser Form der Pocken kommen in den verschiedensten
Organen mehr oder weniger Blutergüsse vor, selbst im Knochenmarke, in den
Scheiden der peripheren Nerven und dem subcutanen Fettgewebe; in den
weniger intensiven Formen bleibt der Papillarkörper frei von Hämorrhagien,
bei der Purpura variolosa sind diese Blutaustritte, welche durch Aus-
wanderung rother Blutzellen durch die Gefässwand, zum kleinsten Theile
vielleicht auch durch Rhexis entstehen, am grössten.
Abgesehen von der Haut gewähren auch die Schleimhäute und in-
neren Organe der pathologischen Anatomie bei der Variola eine reiche Aus-
beute. Die Schleimhäute sind vielfach katarrhalisch geröthet und geschwollen,
doch auch specifisch betheiligen sich mit Vorliebe am Pockenprocesse diejenigen
Schleimhäute, welche der atmosphärischen Luft besonders zugänglich sind.
Am dichtesten mit Pockenefflorescenzen besät ist die Nase, die Mund- und
Zungenschleimhaut, besonders oft die Tonsillen und der weiche Gaumen;
in der Trachea bis hinab zu den Bronchien dritter Ordnung finden
sich Pockenpusteln, zuweilen sogar confluirend, während in den feinen und
feinsten Bronchien sehr starke, acute Katarrhe ihre Symptome setzen. Der
Oesophagus ist weniger reich an echten Pockenpusteln, nur in seinen
oberen Partien kommen die Efflorescenzen vor, welche jedoch sehr dicht stehen
können. Im Magen sind Pusteln sehr selten, katarrhalische Erscheinungen
und leichte Haemorrhagien kommen schon häufiger vor. Der Darm, welcher
katarrhalisch sich ebenfalls an der Variola betheiligt, trägt höchst selten und
dann nur im alleruntersten Theile des Mastdarmes Pockenbläschen. In
der Harnblase sind niemals Pusteln gefunden worden, dagegen in der
Harnröhre, an der äusseren Mündung, in vereinzelten Fällen. Die Vulva
und Vagina gewähren relativ häufig den Anblick von Pusteln. ^ Die serösen
Häute sind niemals von Pockenefflorescenzen befallen, doch finden sich Hy-
perämien, Blutungen und Entzündungen sehr häufig; besonders betheiligt ist
die Pleura; die Peritonitis und Meningitis sind, wie die Pericarditis, sehr
selten.
Je nach Heftigkeit und Dauer der Erkrankung sind die anatomischen Ver-
änderungen der Leber, Nieren und Milz verschieden; meist sind sie körnig
getrübt und fettig degenerirt, oft so intensiv, wie bei der Phosphorver-
giftung. Tritt der Tod ganz im Anfange der Erkrankung ein, so können diese
Organe völlig gesund erscheinen, ein Befund, welcher für die Purpura variolosa
ziemlich charakteristisch ist. Die Milz ist bei Personen, welche im Eruptions-
oder Blütestadium gestorben sind, vor Allem bei der schwereren Variola vera,
bedeutend geschwollen und von weicher Consistenz; in der Purpura findet man
das Organ zwar klein, jedoch erscheinen die Follikel oft ungewöhnlich stark
geschwellt. Die mesenterialen Lymphdrüsen sind häufig acut ver-
grössert. Wo die Leber und Nieren stark verändert sind, da findet man die
Herzmuskulatur in der nämlichen Weise trübe geschwellt oder fettig
entartet. Das Gehirn und Rückenmark sind meistens unverändert, nur
finden sich zuweilen Hyperämie und Oedem, sehr selten wirkliche Entzün-
dungsvorgänge; nicht ganz so selten sind die Oophoritis und Perioopho-
ritis. Fast alle inneren Organe können bei der Variola haemorrhagica mit
Blutungen durchsetzt sein: Petechien, Ecchymosen sind auf den serösen
Häuten zahlreich; blutige Exsudate in der Pleurahöhle und in dem Pericar-
dium kommen häufig zur Beobachtung; im Zellgewebe des Beckens, des Me-
diastinums, im retroperitonealen Bindegewebe und in den Nierenkapseln, in den
Luftwegen, im Verdauungscanale, in der Uterus- und Tubenschleimhaut, den
VARIOLA. 987
Nierenbecken und Nierenkelchen, in den Urcteren und in den Hoden, in den
Nervenscheiden, allüberall linden sich Blutungen in grösserer oder geringerer
Ausdehnung. Die Nierensubstanz, die Leber und Milz, das Centralnerven-
system sind selten der Sitz von Hämorrhagien. Die Muskulatur ist
Schinken färben und trübe; körnige Trübung und wachsartige Entartung zeigt
das mikroskopische Bild. Die Schweiss- und Haarfollikel sind meistens
unbetheiligt. Das Blut hat mitunter eine theerartige Farbe, jedoch sehr
tiüssige Beschaffenheit; bei hämorrhagischen Pocken soll eine deutliche Ent-
färbung der rothen Blutkörperchen bestehen, und im Blutserum sollen Hä-
matinkrystalle gefunden werden. Das anatomische Bild der Complicationen
ergiebt sich von selbst aus der Beschreibung der Symptome.
Diagiiosis.
Die Diagnosis der Pocken bietet, wenn das Blütestadium schon ein-
getreten ist, kaum jemals den Grund zu Irrthümern dar; bei der Variola und
der intensiven Form der Variolois ist der pustulöse Ausschlag so charakte-
ristisch, dass nur selten Schwierigkeiten entstehen. Bei leichten Pocken, na-
mentlich bei denjenigen Fällen, in welchen nur sehr spärliche, vereinzelte und
wenig entwickelte Pusteln auf der Haut auftreten, können Zweifel aufsteigen,
ob ein Pustelsyphilid, ob Acne pustulosa, Impetigo contagiosa
oder einfache Impetigo vorliegt; die Unterscheidung ist aber möglich,
weil die letzteren Ausschlagsformen nur sehr wenig das Allgemeinbefinden
stören, vor Allem frei sind von intensivem Kopfschmerze, Kreuzschmerzen und
Erbrechen und schneller abheilen; die pockenartigen Ausschläge im Verlaufe
der Syphilis sind dem variolösen Exanthem an Aussehen nahestehend, jedoch
besteht bei der Syphilis das Exanthem gleichmässig, während das variolöse
fortschreitet, stets Efflorescenzen in verschiedenen Stadien der Blüte und
Verschorfung zu gleicher Zeit zeigt. Bei Fiebernden kann Borkenkrätze
mit Pocken verwechselt werden, in zweifelhaften Fällen entscheidet aber sicher
das Auffinden von Krätzmilben und Milbeneiern. Diese Möglichkeiten der
Verwechselungen sind aber sehr selten, so dass man im Allgemeinen die
Diagnosis der ausgebildeten Pocken als eine sehr leichte bezeichnen muss.
Grössere Schwierigkeiten stellen sich der Diagnosis in der ersten Zeit der
Variola, im Prodromal- und Eruptionsstadium entgegen; die richtige
Erkenntnis kann sogar ganz unmöglich sein, zumal, wenn es sich um verein-
zelte Fälle von Variola handelt und die Aetiologie im Stiche lässt. Es ist
aber vom grössten Werte, die Fälle schon möglichst früh zu erkennen, damit
keine weitere Infection stattfinde. Nur bei dem hämorrhagischen^ Ini-
tialexanthem, das hauptsächlich im Schenkeldreiecke seinen Sitz hat, kann
die Diagnosis auf Variola vera nicht schwanken. Die maculösen und dif-
fusen Prodromalexantheme der Pocken haben nichts Charakteristisches
an sich, sie geben vielmehr gerne den Anlass zur Verwechslung mit Masern,
Scharlach, exanthematischem Typhus und Erythema exsudati-
vum papulatum. Was die Morbilli anlangt, so macht sich bei ihnen der
charakteristische Schnupfen, die Conjunctivitis und Bronchitis schon im Ini-
tialstadium geltend, während bei der Variola gewöhnlich erst später, im
Blütestadium, solche Katarrhe sich einstellen. Das Erscheinen des eigent-
lichen Pockenausschlages in Form zahlreicher Fleckchen und Knötchen im
Gesichte kann so sehr einem Masernausschlage gleichen, dass man that-
sächlich auf kurze Zeit eine Unterscheidung nicht treffen kann. Die Angabe,
dass die Masernflecken von Anfang an grösser als die Pockenstippchen sind
und sehr rasch, oft fast gleichzeitig auf Gesicht und Rumpf sich entwickeln,
während die Variola am Kopfe beginnt und nur langsam auf den Rumpf fort-
schreitet, ist an und für sich gewiss in vielen Fällen richtig und zur Er-
kennung wichtig, aber für die grosse Zahl der irregulären Variolafälle finden
■988 VARIOLA.
allzuviele Abweichungen statt, als dass man diese Beschreibung verwerten
könnte, Wichtiger ist das Verhalten des Fiebers. Die hohen Temperaturen
von -|- 40*0^ bis -f- 41 •0*' C, welche im Invasionsstadium der Pocken fast
regelmässig vorhanden sind, kommen bei den Masern nur ausnahmsweise vor,
vielmehr bewegt sich die Temperatur der Morbilli zwischen -|- 39^ und
40'0" C; bei der Variola fällt das Fieber mit oder in dem Beginne des
Stadium eruptionis constant, oft ganz rapide, zum normalen Werte ab,
während bei den Masern die Temperatur mit der Eruption noch erheblich an-
steigt oder sich mehrere Tage auf der gleichen Höhe hält, um am 3. oder
4. Tage plötzlich und kritisch zur normalen oder subnormalen Höhe abzu-
fallen. Es gibt aber immer noch Fälle, welche nicht frühzeitig zu differen-
ziren sind; zum Glück lösen sich die Zweifel rasch; schon nach 24 Stunden
bilden sich auf der Mund- und Kachenschleimhaut auf den Papeln kleine
Bläschen und Blasen, und die Diagnosis auf Pocken ist entschieden. Der Fieber-
verlauf der Variola ist auch für die Unterscheidung von Scharlach von
grosser Wichtigkeit, weil bei der Scarlatina die Temperatur mit Ausbruch des
Exanthems auf -\- 40" C. und höher ansteigt und erst nach 5 bis 7 Tagen
langsam abfällt.
Die Röthung der Haut bei Scharlach, welche ziemlich gleichmässig
sich schnell über den Körper verbreitet, ist dem Ausschlage der pustulösen
Pocken nicht sehr ähnlich; auch das scharlachähnliche Initialexanthem der
Pocken ist wesentlich verschieden. Dagegen ist es oft schwierig, die Scarla-
tina von der schwersten Form der Pocken, der Purpura variolosa zu unter-
scheiden. Das Scharlachexanthem aber lässt meistens Gesicht und Mund frei; es
besteht im Anfange seiner Entwicklung ziemlich regelmässig aus äusserst
zahlreichen, dicht gedrängt stehenden, kleinen Punkten, welche mehr oder
weniger intensiv roth, aber immer durch vollkommen normale, blasse Haut
von einander getrennt sind. Bei der foudroyanten Variola dagegen ist die
Haut, namentlich im Gesichte, stärker gedunsen, die Eöthung viel dunkler
und oft strichweise stärker von Petechien durchsetzt; das eigenthümliche Angst-
gefühl, die Anästhesien oder Parästhesien sind nur der Variola nigra eigen.
Der Eintritt von Blutungen mit Abfall der Temperatur sichert die Diagnose
der Variola haemorrhagica, non pustulosa.
Im Prodromalstadium entscheidet eine ausgeprägte Angina mit An-
schwellung der benachbarten Lymphdrüsen für Scharlach. Von Typhus
exanthematicus ist die Unterscheidung im Prodromalstadium höchst schwierig,
bei der Variola sowohl, wie bei Flecktyphus steigt die Temperatur rapide und
hoch an, sie bleibt aber beim exanthematischen Typhus auch nach dem Aus-
bruche des Exanthems tagelang in gleicher Höhe bestehen; eine gewisse Röthe
der Haut und zwar gerade an den Stellen der variolösen Initialexantheme
kommt dem Flecktyphus wie der Variola zu. In Zeiten von Variolaepide-
mien werden recht häufig Fälle von Erythema exsudativum papulosum
für Pocken im Stadium der Knötchenbildung gehalten, zumal wenn sie mit
leichtem Fieber verlaufen und der Ausschlag die Lieblingsstellen der Variola
befällt; die Temperatursteigerung ist aber niemals sehr hoch und die Stirn
meistens frei von Ausschlag; im subcutanen Gewebe finden sich vollkommen
symmetrisch an beiden Körperhälften zahlreiche Infiltrate bei dem papulösen
Erythema exsudativum, welchem ganz besonders die Initialsymptome der Va-
riola fehlen; auch der Kreuzschmerz ist nicht vorhanden, und die Allgemein-
erscheinungen sind gering. Oft sind bei diesem Erythema die Fusssohlen
vorwiegend betroffen, was bei der Variola im Anfange nur selten vorkommt.
Im Invasionsstadium der Pocken sind noch Verwechslungen möglich mit
Meningitis, Pneumonie und Abdominaltyphus. Bei Typhus steigt
aber die Temperaturcurve nur langsam an und erreicht erst am 4. oder 5.
Tage 40", zu einer Zeit also, in welcher die Pockenefflorescenz jeden Zweifel
VARIOLA. 989
beseitigt; im Initialstadium lassen heftige Schmerzen in den Beinen die Ver-
muthung auf kommenden Typhus zu.
Die Meningitis kommt insofern in Betracht, als bei ihr sowohl wie
bei der Variola im Invasionsstadium intensive Kopfschmerzen, Schwindel,
Delirien, selbst comatöse Zustcände und Convulsionen mit hohem Fieber vor-
kommen. Die Meningitis basilaris setzt aber frühzeitig ihre Local-
symptome. Verwechslungen mit Meningitis convexitatis und Cere-
brospinalmeningitis mit ihrer Nacken- und Rückensteifheit sind kaum
zu befürchten.
Intensives Fieber, initialer Schüttelfrost und sehr hohe Athemfrequenz
kommen auch der P n e u m o n i a c r o u p o s a zu, so dass man im Initialsta-
dium der Variola unter Umständen an eine Pneumonie denken kann. Die
physikalische Untersuchung der Lungen sichert aber vor Irrthümern, jedoch
muss man sich erinnern, dass in sehr seltenen Fällen eine centrale Pneu-
monie sich dem Nachweise entziehen kann; das Auffinden von FRÄNKEL'schen
Pneumococcen schützt vor Irrthümern.
Bei oberflächlicher Untersuchung kann es vorkommen, dass der inten-
sive Kreuzschmerz zu der Annahme einer Lumbago verleitet, auch haben die
dem Initialstadium der Variola eigenthümlichen Schmerzen zu Verwechs-
lungen mit Wehen bei Graviden geführt, ein Irrthum, vor welchem die
Untersuchung schützt, bei welcher man aber nicht vergessen darf, dass Abor-
tus, Frühgeburt und Blutungen alltägliche Folgen der Variola sind.
Prognosis.
Die Prognosis der Variola ist von verschiedenen Factoren abhängig.
Die Pockenkrankheit war die furchtbarste Seuche der früheren Jahrhunderte,
etwa 10— 127o aller Todesfälle entfielen auf die Pocken, der zehnte Theil aller
Neugeborenen starb in den ersten Lebensjahren an den Blattern.
Die Empfänglichkeit der einzelnen Personen gegenüber den
Pocken ist ausserordentlich gross, so dass nur wenige Menschen von den
Pocken verschont bleiben; diese individuelle Disposition wird aber
auffallend günstig durch dieVaccination geändert, so dass vaccinirte Leute
entweder gar nicht oder vorzugsweise an leichten Formen erkranken; waren
früher die schweren Pockenformen die allgemeine Regel, so bilden sie heute
nur die Ausnahme, und die leichteren Varioloisfälle das Hauptcontingent.
Wo die Impfung gut durchgeführt wird, da gestaltet sich die Prognose er-
heblich besser, so dass in Preussen in den Jahren 1816 bis 1860 nur O-T'^/o
der Gesammtsterblichkeit auf die Variola fällt. Grösser noch ist der Segen
des für das deutsche Reich am 8. April 1874 beschlossenen Impfgesetzes,
nach welchem jedes, nicht vorher durchblätterte Kind vor Ablauf des auf das
Geburtsjahr folgenden Kalenderjahres vaccinirt und jeder Schüler innerhalb
des Jahres, in welchem er das 12. Lebensjahr zurückgelegt hat, re vacci-
nirt werden muss; erheblich günstig wirkt auch die erneute Revaccination
der Soldaten ein. Durch diese staatliche Fürsorge sank die Zahl der Todes-
fälle an Blattern im deutschen Reiche bei circa 60 Millionen Einwohnern von
1886 bis 1894 auf nur 126 jährlich im Durchschnitt. Von einer Million
Einwohner des deutschen Reiches erlagen von 1889 bis 1893 jährlich nur
2*3 den Pocken, während die Länder mit mangelhafter Vaccination oder Impf-
freiheit traurige Zahlen liefern; so beträgt in französischen Städten auf 1
Million in gleichem Zeiträume die Anzahl der Todesfälle an Pocken 147-6,
in Belgien 252-9, in Oesterreich 313'3, in Russland von 1891 bis 1893 836-4.
Ohne den Segen der Vaccination und Revaccination hätten in Deutsch-
land bei gleicher Blatternsterblichkeit wie in Frankreich nicht 126, sondern
7221, nach belgischem Maasse bestimmt 12584, nach dem Verhältnis in
990 VARIOLA.
Oesterreich 15558 und gar nach der Erfahrung Russlands 41584 Personen
an Pocken sterben müssen.
In der deutschen Armee sind Dank der strengen Handhabung der
Schutzimpfung seit 1873 nur zwei Todesfälle an Blattern vorgekommen,
und im deutsch-französischen Kriege von 1870/71 verlor die deutsche Armee
nur 300 Mann durch diese] Krankheit, die französische dagegen 23.400
Soldaten. Es sind thatsächlich seit Einführung und strenger Durch-
führung des Impfgesetzes die Pocken in Deutschland eine seltene Krank-
heit ; die wenigen Erkrankungen , welche man in Deutschland noch
beobachtet, sind immer wieder vom Auslande eingeschleppt worden und
dementsprechend erklärt es sich, dass die meisten dieser Fälle in den
Grenzgebieten und Seestädten - des Pteiches vorkommen. So betrafen während
der Jahre 1886 bis 1892 von den im ganzen deutschen Reiche gezählten
891 PockentodesfäUen 833 die Grenzgebiete und Seestädte. Die Pocken-
kranken, welche ich in Bonn und Köln zu sehen Gelegenheit hatte, waren
alle aus Belgien unmittelbar zugereist. Die Erfolge in Deutschland sind
zu glänzend, als dass selbst die äusserst seltenen, etwaigen Impfschäden
in Frage kommen könnten. Je näher die Kranken dem Termine der
Impfung oder Revaccination stehen, umso leichter ist der Verlauf. Abwei-
chungen von dieser Regel sind thatsächlich nur Ausnahmen. Das beste Bei-
spiel bietet die Erkrankungsfrequenz kleiner Kinder; raffte früher die Variola
10% aller Kinder weg, so sind in unserer Zeit Erkrankungen der Kinder an
Pocken sehr selten und ist die Sterblichkeit fast auf Null gesunken, schwere
Pockenformen kommen kaum noch im Kindesalter vor. Erst später, wenn die
Wirkung der Vaccination, resp. Revaccination allmählich nachlässt oder erlischt,
gewinnt die Variola wieder an Ausdehnung und Heftigkeit, jedoch bleibt stets
die leichte Form der Variola, die Variolois vorherrschend. An Variolois
an und für sich stirbt wohl kaum ein erwachsener, sonst gesunder Mensch,
Complicationen und individuelle Verhältnisse verursachen die Todesfälle, Die
Mortalität für nicht geimpfte Blatternkranke beträgt 14*8 bis 63%, für
geimpfte Blatternkranke 0 bis 12'57o. In der Epidemie von Montreal, 1886,
starben von 1332 in das Hospital aufgenommenen Kranken 620 oder 46%;
bei den Geimpften betrug die Mortalität 19*5 %, bei denUngeimpften 65-470-
Für uns unterliegt es keinem Zweifel, dass die Sterblichkeit an Pocken nach
Einführung der Schutzpockenimpfung ausserordentlich abgenommen hat, so
dass in den civilisirten Ländern mit Vaccinationspflicht die Prognose bedeu-
tend günstiger geworden ist, als sie früher war. Die Variola vera hat aber
auch heute noch nicht ihre Schrecken verloren; Cürschmann fand unter 850
von ihm beobachteten Pockenkranken 235 an Variola vera und 615 an Vario-
lois leidend; die Varioloispatienten hatten 0% Mortalität, die Variola vera
aber 42%% Todesfälle.
Am ungünstigsten gestaltet sich die Prognosis der Variola vera bei der
Purpura variolosa, welche ausnahmslos zum Tode führt, noch bevor es
zum Ausbruche des Pockenexanthems gekommen ist; die Purpura variolosa non
pustulosa führt mit Recht den Namen Variola acutissima. Fast ebenso
sicher tödlich ist die Variola haemorrhagica pustulosa; nur in sel-
tenen Ausnahmen überstehen die Patienten diese Pockenform, wenn nämlich
die Blutungen erst sehr spät auftreten oder nur in wenig ausgedehnter Weise.
Die Variolae confluentes führen in ausgesprochenen Fällen vorwiegend den
Tod im Gefolge; für sie beginnt die Gefahr erst im Suppurationsstadium;
je zahlreicher die Efflorescenzen vorhanden sind, je dichter sie stehen und je
mehr Pusteln gleichzeitig ihren Inhalt in Eiter umwandeln, je grösser die
Eiterflächen sind, umso bedenklicher ist die Prognosis. Das Suppurations-
fieber, welches in solchen Fällen bedrohlich auftritt und hohe Grade erreicht,
ist die Ursache des letalen Ausganges; die Temperatur Steigerung
VARIOLA. 991
ist jedoch niclit allein der Stützpunkt für die Voraussage; von ebenso
schlimmer Vorbedeutung ist es, wenn bei confluirenden Pocken während des
Eiterungsstadiums die Temperatur nicht so hoch steigt, als man
nach der grossen Ausdehnung der Krankheit und dem Verhalten des Kranken
erwarten sollte. Wenn nämlich die Zerstörung und Abscedirung der
Haut sehr gross ist, so ist oftmals die Fieberbewegung relativ niedrig, wäh-
rend die Krankheitserscheinungen besonders schwer sind, Delirien auftreten
und der Kräfteverfall einen hohen Grad erreicht; der Kranke geht ähnlich wie
nach ausgedehnten Verbrennungen oder andersartiger Zerstörung der Haut
zu Grunde. Je weniger normale Haut im Suppurationsstadium übrig bleibt,
umso ungünstiger ist die Prognosis.
Die Mortalität der einzelnen Epidemien ist eine sehr ver-
schiedene; leichte und kleine Epidemien bestehen fast nur aus milde ver-
laufenden Fällen von Variolois; je mehr die Varioloisform vorherrscht, umso
günstiger ist die Sterblichkeitszifler, welche oft nur 8— 10% beträgt. Andere
Epidemien liefern eine Mortalität von 35 und mehr Procent, wenn, durch die
äusseren Verhältnisse bedingt, die Variolois in die Minderzahl tritt und die
schweren Formen der Variola vera vorwiegen.
Die Jahreszeiten sollen insofern für die Mortalität von Belaug sein,
als der Hochsommer die Kranken im Ganzen mehr gefährdet als die übrigen
Jahreszeiten; der Einfiuss der Monate ist jedenfalls ein rein äusserlicher und
geringer, sowohl im bittersten Winter, als im wärmsten Hochsommer bleibt
im Allgemeinen die Gefahr die gleiche.
Die Variolaepidemie ist im Allgemeinen gegen Ende der Seuche
weniger reich an Todesfällen, als im Beginne oder in der Mitte des Auftretens,
jedoch ist auch hierin nichts Gesetzmässiges, da es bewiesen ist, dass oft
gegen das Ende der Epidemie hin die Mortalität ausserordentlich gross wird.
Die Prognosis der Blattern zieht weiterhin die individuellen Ver-
hältnisse in Betracht. Zunächst wirkt das Lebensalter auf den Aus-
gang bestimmend ein, weil Kinder und alte Leute bedeutend mehr gefährdet
sind als die mittleren Altersclassen. Besteht im Allgemeinen kein Unter-
schied, welchen das Geschlecht der Erkrankten bedingt, so ist die
Prognosis dennoch erheblich trüber, wenn Frauen in der Schwanger-
schaft oder im Wochenbette von den Pocken befallen werden; Aborte
und Frühgeburten einerseits, profuse Metrorrhagien anderseits sind oft zu
gewärtigen und höchst ungünstige Complicationen. Der Ausgang der Erkran-
kung an Variola wird weiterhin durch die Constitution beeinflusst. Die
Gefahr, den Blattern zu erliegen, ist bei scrophulösen, anämischen, kachek-
tischen Personen weit grösser als bei vollsaftigen, blühenden und kräftigen
Leuten; für jene Patienten kann selbst die leichteste Form der Variolois
gefährlich werden, zumal Kranke mit vorgeschrittener Lungentuberculosis
und chronischer ISIephritis gelten für besonders gefährdet: Reconvale-
scenten von anderen Krankheiten, wie Typhus, Pneumonie, Polyarthritis
rheumatica acuta unterliegen sehr leicht der Seuche. Besonders ungünstig
gestaltet sich die Prognosis bei Potatoren. Der chronische Alkoholismus
liefert einen hohen Antheil an den hämorrhagischen Formen der Variola,
das Delirium tremens tritt sehr gerne hinzu und ist von übler Vorbedeutung;
viele Säufer sterben an den leichten Arten der Blattern schon dahin, weil
durch den Abusus alcoholicus die inneren Organe fettig degenerirt sind und
der Erkrankung keinen Widerstand leisten können.
Im Initialstadium die Prognosis zu stellen, ist meistens eine
heikle Sache. Das Invasionsfieber ist insofern von Bedeutung, als bei
geringer Intensität desselben eine leichte Form der Pocken zu erwarten ist;
schweres Fieber und schwere Allgemeinerscheinungen bedeuten aber nicht
eine ausgedehnte und böse Eruption, da sowohl schwere als gelinde Formen
992 VARIOLA.
der Variola folgen können; sieht man doch, dass ein ganz besonders schweres
Invasionsstadium in eine ausserordentlich leichte Variolois ausläuft. Die
Initialexantheme erlauben schon häufiger einen Schluss auf die kommen-
den Efflorescenzen und deren Gefahren, indem die rein erythematösen
Formen mit grosser Wahrscheinlichkeit der Variolois oder der leichten
Variola vorausgehen, und zwar scheint öfters die Variolaefflorescenz um so
discreter und oberflächlicher zu sein, je ausgebreiteter das Erythem war.
Wenn andererseits das hämorrhagischeinvasionsexanthem, besonders
im Schenkel- und Oberarmdreieck, auftritt, so ist die Variola vera zu erwarten.
Bestimmend auf die Prognosis wirken endlich die Coraplicationen
ein, besonders gefürchtet sind das Glottisödem, die pseudodiphtheritischen
und gangränösen Processe des' Rachens und der Tonsillen, Erysipelas, Pneu-
monie und Cerebralerscheinungen wie furibunde Delirien, Coma und Convul-
sionen.
Was die Dauer der Erkrankung anlangt, so hängt dieselbe in
uncomplicirten Fällen lediglich von der Menge der Efflorescenzen und
deren Rückbildung ab. Bei den leichten Fällen der Variolois und
Variola levis, bei welchen das Fieber fehlt oder schon in 2 — 3 Tagen beendet
ist, kann die Dauer nur wenige Tage betragen, bei den meisten Formen
ist die Dauer 3 — 4 Wochen und bei der Variola vera 4 — 6 Wochen, ehe
sämmtliche Borken abgefallen sind. Die zahlreichen Complicationen und
Nachkrankheiten ziehen die Reconvalescenz ausserordentlich, oft
monatelang hin; auch bei den einfachen Fällen der Variola sind die Schwäche,
Anämie und Abmagerung gross, vor Allem bei der Variola haemorrhagica
pustulosa erholen sich die Patienten nur sehr langsam von der grossen Er-
schöpfung.
Therapie.
Die Behandlung der Pocken hat zwei grosse Aufgaben in den Bereich
der Betrachtung zu fassen: die Prophylaxis und die eigentliche thera-
peutische Wirksamkeit am Krankenbette.
Die Prophylaxis hat bei keiner anderen Erkrankung soviel Gutes
geschaffen, als bei der Variola. Zwei Maassregeln sind es, welche der
prophylaktischen Thätigkeit harren, einmal die Weiterverbreitung der
ausgebrochenen Pocken zu hemmen und anderseits die ausser-
ordentlich grosse Empfänglichkeit des Menschen für die
Variola, die individuelle Disposition zu vernichten oder abzu-
schwächen.
Um die Weiterverbreitung der Pocken nach Möglichkeit zu verhindern,
i st eine strenge Isolirung der Patienten unumgänglich noth wendig ;
diese Maassnahme ist aber nur in der Minderzahl der Fälle hinreichend durch-
zuführen. In den ärmeren Classen der Bevölkerung und in dicht bewohnten
Häusern ist die genaue Absonderung der Kranken nicht möglich; hier tritt
die Ueberführung in das Krankenhaus in ihr zwingendes Recht. Die Kran-
kenhäuser müssen für Pockenkranke gänzlich gesonderte Abtheilungen
haben, noch weit besser ist es, besondere Spitäler einzurichten, welche
weit ab von anderen Wohnungen liegen, grosse Räume und vorzügliche Ven-
tilation haben, an einem luftigen und gesunden Orte gebaut sind und gute
Einrichtungen für die Entfernung der Abfallstoffe und Abwässer besitzen.
Hospitalschiffe sind zur Aufnahme Variolaerkrankter sehr geeignet!
Das Pflegepersonal muss den Verkehr mit Gesunden gänzlich meiden
oder, wenn dieses nicht möglich ist, auf das geringste Maass beschränken
und darf auch dann nur mit anderen Leuten zusammentreffen, wenn alle
anhaftenden Keime durch grösste Sauberkeit, Waschen der Hände mit Subli-
mat oder Carbolsäurelösung, Wechseln der Kleider, längeren Aufenthalt in
frischer Luft, möglichst entfernt sind. Jeder einzelne Fall von Variola
VARIOLA. 993
muss der Behörde angezeigt werden, weil sie gegen Verschleppung der
Seuche die nothwendigen Maassregeln ergreifen muss. Wenn der Pockenkranke
sein Haus nicht verlassen will, sosoll die Gesun dheitspolizei das Haus
absperren und für Jeden kenntlich die Aufschrift, dass in diesem Hause die
Pocken herrschen, anbringen. Die Geräthschaften, Kleider, Wohnung, Betten,
überhaupt alle Gegenstände, welche mit dem Kranken in Be-
rührung kommen, sind auf das radicalste zu desinficiren. Die Vernich-
tung der Krankheitskeime geschieht am besten durch Feuer, doch nur
weniger wertvolle Sachen, wie alte Kleidungsstücke, Bettstroh, Lumpen,
Effecten von geringem Werte, kann man in dieser Weise vernichten. Zur
Desinfection ist besonders geeignet Erhitzen in Wasser dampf; dieses
Verfahren vernichtet die Krankheitskeime mit grosser Sicherheit und be-
schädigt die meisten Gegenstände nicht; Wäsche, Kleidung, Bettdecken,
Matratzen werden leicht durch das Dampfverfahren desinficirt. Lederwaren,
Pelzwerk, Gummiwaren, geleimte, polirte und fournirte Gegenstände werden
aber durch diese Methode unbrauchbar. Durch Ausklopfen, Ausbürsten
und Lüften strebt man solche Pelz- und Polsterwaren ihrer Ansteckungs-
gefahr zu entkleiden, doch leider nicht mit absoluter Sicherheit, jedenfalls
muss man monatelang lüften und auf den Gebrauch dieser Gegenstände ver-
zichten. Geschirre, Wäschestücke, kleine Metall waren kann man durch Aus-
kochen desinficiren, indem man sie in siedendes Wasser, welchem etwas Soda
zugesetzt ist, legt; die Auskochung muss wenigstens längere Zeit, bis zu einer
Stunde, fortgesetzt werden. Zur Desinfection der Holzmöbel, der Zimmerwände
und Fussböden dient sehr zweckmässig eine Carholseifenlösung, welche in der
Weise hergestellt wird, dass man einer aus 3^ Schmierseife {Sapo viridis) und
100^ heissen Wassers bestehenden Lösung bg reiner Carbolsäure unter fortdau-
erndem Umrühren zusetzt und mit dieser Lösung die W^ände und Möbel ab-
wäscht. Schuhwerk und Lederwaren lassen sich ebenfalls auf diese Weise
zweckmässig behandeln, nicht minder mit Eiter, Blut oder Körperausleerungen
beschmutzte Bett- und Leibwäsche, welche man in dieser Lösung aufweicht.
Da man mit der Wahrscheinlichkeit rechnen muss, dass in dem unteren Theile
des Mastdarmes, der Vagina und der Urethra Pockenpusteln sich entwickeln
und ihren Inhalt den Ausleerungen beigesellen, so muss man auch die Face s
und den Urin keimfrei machen; in gründlicher Weise besorgt dies die
Kalkmilch, eine Auflösung von 1 Theil zerkleinertem, reinem gebranntem
Kalke auf 4 Theile Wasser; in ungefähr gleichen Mengenverhältnissen mit
den Ausscheidungen gemischt, tödtet sie die Krankheitskeime in kurzer Zeit.
Diese Kalkmilch lässt sich ausserdem zur Desinfection des Krankenzim-
mers verwenden, indem man die Wände und Fussböden mit ihr tüncht oder
streicht und nach Ablauf einiger Zeit wieder abwäscht. Sind die Wände
tapezirt, so entfernt man die Ansteckungsgefahr durch Abreissen der vorher
mit Kalkmilch behandelten Tapeten, welche man ebenfalls durch Feuer ver-
nichtet. Die Behandlung der verdächtigen Gegenstände mit Lösungen von
Eisen- oder Kupfervitriol oder mit Schwefeldämpfen ist durchaus unzu-
verlässig; auch die Ptäucherung mit Chlorgas und das Zerstäuben von ver-
dünnter Carbolsäure erreicht den gewünschten Erfolg nicht, weil das Des-
infectionsmittel nicht in genügender Menge einwirkt. Die Pockenkranken
selbst dürfen nicht eher in den allgemeinen Verkehr zurückkehren, als bis
alle Borken sich abgestossen haben und unter ausgiebiger Anwendung von
Seife mehrere Vollbäder applicirt worden sind. Stirbt der Variolakranke,
so zwingt die Gefahr der Krankheitsübertragung durch die Leiche zur
schnellen und zuverlässigen Entfernung aus der Nähe lebender Menschen; es
ist nothwendig, die Todten so bald wie möglich zu begraben oder die Leichen
in abgesonderten Räumen, den Leichenhallen, auf den Begräbnisplätzen
bis zur Beerdigung aufzubewahren. Um aber auch bei der Ueberführung der
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. orf
994 VARIOLA.
Leiche zur Leichenhalle oder zur Grabstätte die Ansteckungsgefahr niöglichst
zu verringern, soll man jede Ausstellung des Todten verbieten
und ohne Trauergefolge die Beerdigung vollziehen; der Sarg muss wohl ver-
picht und gedichtet sein, den Leichnam soll man in carboldurchtränkte
Tücher einhüllen und etwaige Absonderungen aus der Leiche durch Säge-
spähne und Torfmull, ausgestreut auf den Boden des Sarges, auffangen und
so ihr Durchsickern verhindern. Durch Einlegen von ungelöschtem Kalk in
den Sarg oder Einschütten in das Grab, kann man die Vernichtung der
Krankheitskeime, welche der Leiche anhaften, befördern. Die Variolaleiche
muss in ein etwa 2m tiefes Grab versenkt und mit Erde bedeckt werden;
wann eine beerdigte Leiche ihre Ansteckungsgefahr verloren hat,
lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, doch scheint die Lebensfähigkeit der
Krankheitskeime in beerdigten Leichen früher als in nicht beerdigten ver-
nichtet zu werden, jedenfalls aber schützt die den Sarg bedeckende Boden-
schicht vor der Uebertragung. Der Transport von Personen, welche an
Variola gestorben sind, ist unter allen Umständen zu verbieten. Die Leichen-
verbrennung zerstört jeden Variolakeim auf das allersicherste.
Zu den prophylaktischen Maassregeln gehört auch die Controle des
allgemeinen Verkehrs. Wo Variolafälle sich häufen oder gar eine Epi-
demie herrscht, wo Orte unmittelbar bedroht sind, da ist jede Anhäufung von
Menschen zu verbieten, vor Allem diejenigen Gelegenheiten, zu welchen auch
von auswärts Leute herbeiströmen, wie Volksfeste, Jahrmärkte, Kir-
messen, Wallfahrten; in der befallenen Stadt untersage man auch Co n-
certe und Theater, Sperren, See- und Landquarantaine ent-
sprechen den gehofften Erwartungen meistens nicht, weil sie oft sich
nicht durchführen lassen, häufig auch gerade die Wächter oder Truppen die
Erkrankung verbreiten. Auch auf die Versendung lebloser Gegenstände
muss man sein Augenmerk richten: Lumpen, Federn, Wolle, welche mit
Variolagift beschmutzt sein können, haben zweifellos die Pocken aus weiter
Ferne übertragen; es ist deshalb durchaus geboten, alle derartigen Sendungen
zu verbieten; bei zuverlässiger Verpackung kann man die Versendung zwar
gestatten, jedoch die Bearbeitung am Bestimmungsorte nur dann erlau-
ben, wenn eine regelrechte Desinfection unter Aufsicht einer sachverständigen
Behörde ausgeführt wurde. In vielen grösseren Städten und einzelnen Land-
kreisen sind in der Neuzeit Desinfectionsanstalten errichtet worden,
welche nicht nur die Wohnungen und die Utensilien der einzelnen Familien
desinficiren, sondern auch Warensendungen ihrer Gefährlichkeit entkleiden kön-
nen; als besonders gefährlich haben sich die Lumpen erwiesen, Lumpen-
sortirer erkranken relativ oft an Pocken.
Hatte der eine Weg der Prophylaxe als Ziel, die Verbreitung der aus-
gebrochenen Erkrankung zu verhindern, so strebt der zweite Weg dahin,
die Empfänglichkeit der Gesunden für die Erkrankung zu besei-
tigen oder möglichst herabzusetzen und die Menschen auf diese Weise für
die Ansteckung unempfindlich zu machen. Was auf diesem Wege erreicht
worden ist, steht einzig gross in der Geschichte der Medicin da, es ist das
Euhmesblatt der Vaccination.
Schon den frühesten Beobachtern war es aufgefallen, dass das einmalige ü eber-
stehen der Blattern eine grosse Immunität gegen eine neue Ansteckung verleiht, und
da man erfahren hatte, dass eine absichtliche Infection meist günstiger und leichter verlief
als eine zufällige, so brachte man Gesunde, vor Allem Kinder, absichtlich in die Nähe von
Pockenkranken und suchte sie mit Menschenpocken, eiterdurchtränktem Verbandmaterial,
durch Einbringen von Pockenkrusten in die Nase, durch Verschlucken von Pockenschorfen,
durch Verbinden von zufälligen oder absichtlichen Hautverletzungen mit Pockeneiter zu
inficiren. Allmählich entwickelte sich aus diesen rohen Versuchen die Methode, durch
Ueberimpfung von Pustelinhalt der Variolakranken auf Gesunde die Pocken zu erzeugen.
Diese Art der Uebertragung, welche man Pockeninoculation oder Variolation nennt,
"wurde schon in Indien und China in uralter Zeit geübt, sie gelangte auf ihrem Zuge auch
VARIOLA. 995
nach Vorderasien und dann nach Constantinopel. Grosses Aufsehen erregte es, als 1717
die Gemahlin des englischen Gesandten in Constantinopel, Lady Worthly Montagae, ihre
Kinder inoculiren Hess iind die Variolation 1721 in England bekannt machte. Rasch fand
die Inoculation der Pocken zahllose Anhänger in England, Amerika, F'rankreich, Deutsch-
land und in allen civilisirten Ländern. Was man von der Variolation erwartete, hielt sie
thatsächlich, indem die auf diese Weise erzeugten Pocken in der Regel nicht sehr zahl-
reich, discret, nicht confluirend aufti'aten und sehr häufig ohne Eiterungsfieber abheilten.
Diese willkürlich erzeugten Blattern gewährten denselben Schutz gegen eine neue Er-
krankung an Variola wie die Durchblatterung mit natürlichen Pocken. Jedoch auch grosse
Uebelstände hafteten der Inoculation mit Pockengift an, weil auch schwere Erkrankungs-
fälle mit tödlichem Ausgange vorkamen, und im Durchschnitt etwa ein Todesfall auf
300 Einimpfungen mit Pockeninhalt fiel, wesentlich aber ferner deshalb, weil solche inocu-
lirte Leute eine Ansteckungsgefahr für die Umgebung wurden, indem von den solcher
Weise Geimpften aus die Variola auf die Ungeimpften übertragen werden konnte und erst
recht eine Variolaepidemie zum Ausbruch brachte. Durch die JENNEa'sche Entdeckung
wurde die Variolation überflüssig und ihrer Gefahren wegen in den zwanziger Jahren ge-
setzlich verboten. Die Edward jENiXER'schen Untersuchungen, welche in seinem be-
rühmten Buche: An inquiry into the causes and effects of the variolae vaccinae, known
by the name of the cowpos, London 1798, dargelegt sind, gipfeln in der Erkenntnis, dass
Schutzimpfung mit Thierpocken dem Geimpften und seiner Umgebung
keine Gefahren bringt, dabei aber nahezii den gleichen Schutz gegen An-
steckung mit Menschenblattern verleiht, wie die Variolation. Bei verschie-
denen Hausthieren und manchen anderen Thieren nämlich, welche mit dem Menschen in
Berührung kommen, beobachtet man pockenartige Exantheme, welche mit der menschlichen
Variola sehr viel Gemeinsames haben. Am häufigsten trifft man diese Thierpocken,
wie man sie im Gegensatz zu den Menschenpocken heisst, bei Pferden, Schafen und Kühen
an, bekannt als Equinola, Ovinola und Vaccinola. Die Equinola, die Pferde-
pocken, Mauke genannt, stellt ein pustulöses Exanthem dar, welches in den Fesselgelenken,
zumal der Hinterbeine auftritt und niemals die gesammte Haut befällt; das Contagium
ist nur im Inhalte der Pusteln enthalten und verbreitet sich nicht durch die Luft; von
allgemeinen Erscheinungen ist der Ausbruch dieser Pferdepocken nicht begleitet. Viel
schwerer als die Equinola verläuft die Ovinola, welche den menschlichen Pocken un-
gemein ähnlich ist, indem sie mit schweren Allgemeinstörungen verläuft, einen Pocken-
ausschlag auf dem ganzen Körper hervorruft und ebenso ansteckend ist, wie die originären
Menschenpocken. Schweine, Kaninchen, Hunde, Affen können in mehr oder weniger ähn-
licher Weise wie Schafe erkranken. Bei Kühen nehmen die Blattern einen sehr leichten
Verlauf; es kommt nicht zu Allgemeinerscheinungen, sondern es handelt sich um eine
rein örtliche Erkrankung, welche fast ausschliesslich am Euter und an den Zitzen der
Kühe beobachtet wird. Die Kuhpocken, Variola vaccina, cow-pox, übertragen sich nicht
durch die Luft, sondern, wie bei der Equinola, horse-pox, haftet das Contagium in dem
Pustelinhalte. Auch bei Ziegen stellen die Pocken nur eine locale Erkrankung vor. Der
Inhalt aller Thierpocken ist. gerade wie derjenige der Menschenpocken, übertrag-
bar, und zwar nicht nur auf Thiere derselben Species, sondern auf alle an-
deren Thiere, welche an Pocken erkranken können und vorher erwähnt wurden ; es ent-
steht aber bei der Ueberimpfung immer nur diejenige Pockenform, welche
dem betreffenden Thiere eigenthümlich ist. Es ist lange bekannt gewesen, dass
die Kuhpocken dadurch entstehen können, dass sie durch die Hände von Melkern, welche
sich mit maukekranken Pferden vorher beschäftigt hatten, von den Pferden auf das Euter
der Kühe übertragen wird. Pferdepocken können dadurch verursacht werden, dass
Bettstroh von pockenkranken Menschen als Streu im Stalle benutzt wird. Werden
Kühe mit menschlicher Variola am Euter geimpft, so entsteht keine allgemeine Er-
krankung, sondern nur eine rein locale Blatternkrankheit. Auch bei directer Ueber-
impfung der Equinolapustel wird bei der Kuh die Variola vaccina erzeugt. Auf den
Menschen kann die Pferdemauke ebenso wirksam wie die Kuhpocken übertragen werden;
Stallknechte, Hufschmiede erkranken durch den Verkehr mit maukekranken Pferden an
den Händen mit einem charakteristischen Pockenexanthem. Von den Kuhpocken stand es
ebenfalls scüon lange fest, dass Melker und Melkmädchen leicht pustulöse Exantheme an
den Fingern davontragen, wenn sie mit wunden Händen solche Kühe melkten, welche
an ihren Zitzen Pockenpusteln hatten. Auch wenn man Ovinola auf Kühe über-
impft, entsteht keine allgemeine Erkrankung, sondern nur die rein örtliche Variola vaccma.
Durch alle diese Beobachtungen und Versuche ist es zur Genüge bewiesen, dass die Thier-
und Menschenpocken in sehr enger Verwandtschaft stehen und vielleicht alle auf dem-
selben, uns noch unbekannten mikroskopischen Pilze beruhen. Zu gleicher Zeit hatte
sich aber auch bei den zufälligen Infectionen mit Variola vaccina und Equinola ergeben,
dass solche Personen während Variolaepidemien von der Seuche verschont
blieben oder doch nur in unerheblicher Weise erkrankten. Schon lange vor Jenker
hatte der Amtmann Jobst Böse in der Nähe von Göttingen auf diese Erfahrung hinge-
wiesen, SuTTON und Fewster berichteten 1768 an das Aerztecollegium in London über
ihre Erfahrungen, ohne jedoch Beifall zu finden. Bei den Gebirgsbewohnern Mexico's ist
63*
996 VAHIOLA.
nach A. von Humboldt die Schutzkraft der Kuhpocken bekannt gewesen und ausgenützt
worden. Der Schullehrer Plett in Stakend orf bei Kiel war der erste, welcher
1791 zur prophylaktischen Maassregel absichtlich mit Kuhpockeninhalt drei Kinder des
Pächters Martini auf Hasselberg impfte; die geimpften Kinder blieben von den Pocken
verschont, während die nicht geimpften Geschwister an Menschenblattern erkrankten; zu
jener Zeit entgieng kaum ein Mensch den Pocken. Erregte diese Thatsache grosses Auf-
sehen, so fand sie doch keine Würdigung bis zur Veröffentlichung Jenner's im Jahre 1798,
in dessen Heimat Glocestershire es unter der viehzuchttreibenden Bevölkerung eine alte
üeberlieferung war, dass Personen, welche beim Melken pockenkranker Kühe einen ähn-
lichen Ausschlag erlitten, gegen die Variola gefeit seien. Jekner lieferte den unumstöss-
lichen Beweis, dass es sich nicht um Zufall handelte, sondern um einen wirklichen
Schutz: am 14 Mai 1796 impfte er von dem Arme des Milchmädchens Sarrha Nelmess,
welches sich an einer pockenkranken Kuh beim Melken inficirt hatte, den 8-jährigen
Knaben James Phips mit Kuhpockeninhalt. Diese Kuhpocken verliefen regelmässig und
als Jenner am 1. Juli desselben Jahres, also nach 47 Tagen, den Knaben mit Variolagift
inoculirte, erwies sich diese Variolation als gänzlich unwirksam. Das Pockengift haf-
tete nicht bei dem Knaben. Ebenso erfolglos blieb die Variolation bei 10 Personen mit
zufällig acquirirten Kuhpocken und bei 7 Personen mit Kuhpockenimpfung. In der Folge
haben zahlreiche Controlversuche die Richtigkeit der alten Erfahrung und des jENNER'schen
Experimentes bestätigt; auch die Impfung von verschiedenen Thierspecies mit Kuhpocken
und Variola ergab dieselbe Uebereinstimmung. Sehr rasch verbreitete sich nun die Lehre
von der Schutzkraft der Vaccination unter den Gebildeten, bereits 1799 entstand in London
die erste Impfanstalt und schon 1800 wurde in Deutschland und Frankreich geimpft. Der
Segen der Impfung ist heute für einen einsichtigen Mediciner nicht mehr zweifel-
haft, in keinem civilisirten Staate sollte die gesetzliche Durchführung der Vaccination
mit Kuhpockenlymphe fehlen. Der heutigen Methode der Impfung in Deutschland mit
animaler Kuhpockenlymphe, bestehend aus dem Inhalte der bei Kälbern durcli
Impfung erzeugten Kuhpocken selbst, haften keine Mängel an, üebertragungen von Er-
krankungen irgend welcher Art sind gänzlich ausgeschlossen. Die ungemein seltenen Fälle
von Impfschädigungen, wie Rothlauf, Drüsenentzündung, haben mit der Impfung
nichts zuthun, sie können nach der Impfung wie nach jeder anderen Haut-
wunde vorkommen und beruhen auf einer Vernachlässigung in der Behand-
lung der kleinen Hautverletzung oder der Pustel. Wir müssen den Wert der prophy-
laktischen Vaccination rückhaltslos anerkennen. Wir geben der Kuhpockenimpfung den
Vorzug vor allen anderen Impfungen mit dieser oder jener Thierpockenart, weil die Va-
riola vaccina am meisten local auftritt und am wenigsten Allgemeinerscheinungen, auf den
Menschen überimpft, erzeugt. Die einmalige Schutzpockenimpfung mit Kuh-
lymphe erzeugt aber keine Immunität gegenüber den Menschenpocken für
das ganze Leben, sondern die Erfahrung hat ergeben, dass von Jahr zu Jahr nach der
Impfung die Schutzkraft abnimmt und bei vielen Menschen überhaupt schliesslich gänzlich
verschwindet, so dass man gegen die Variola nur dann gesichert ist, wenn neue Im-
pfungen vorgenommen werden; im Allgemeinen kann man aus der Erfahrung die Lehre
schöpfen, dass eine Wiederimpfung, Revaccination, spätestens alle zehn Jahre vorzu-
nehmen ist. Die militärpflichtige, männliche Bevölkerung Deutschlands unterliegt einer
dritten gesetzlichen Impfung bei der Einstellung in das Heer mit unendlichem Segen für
die Armee.
Brechen nun irgendwo die Pocken aus und ist die erkrankte Person isolirt,
so müssen sofort alle Personen desselben Hausstandes geimpft oder revaccinirt
werden; das gesammte Pflege- und Wartepersonal des Kranken mttss sich der Impfung
unterziehen; Wäscherinnen und Putzfrauen, welche nur mit der Wäsche oder den Klei-
dungsstücken oder dem Zimmer des Pockenkranken in Berührung kommen. Kranken- und
Leichentransporteure, Leichendiener, Todtengräber sollten neu geimpft werden; wir
rathen, selbst Neugeborene oder schwächliche kleine Kinder sofort zu impfen, weil die
Folgen der Impfung bei weitem nicht so schwer wiegen, als das Befallenwerden von echten
Pocken. Es kann aber bei der Impfung, resp. der Wiederimpfung vorkommen, dass Leute,
welche frisch oder vor einigen Tagen geimpft sind, dennoch an Menschenpocken erkranken,
und dass die Kuhpockenimpfung neben der Variola verläuft, ohne dass die eine
Erkrankung die andere modificirt. Diese Fälle beweisen, dass die Impfung mit Kuhlymphe,,
im Stadium incubationis der Pocken vorgenommen, die bereits vorhandene, aber noch latente
Erkrankung an Variola nicht tangirt und nicht coupirt, und dass ebensowenig die Incu-
bation der Blattern die Disposition für die Variola vaccina aufhebt. Erst am 10. — 12.
Tage nach der Vaccination tritt der Schutz gegen die Variola in Kraft Immerhin wird
man auch bei denjenigen Personen, bei welchen man schon eine Infection mit Variolagift
zu vermuthen berechtigt ist, die Impfung oder Wiederimpfung mit Kuhlymphe sofort vor-
nehmen. Bei Variolaepidemien sollte überhaupt jeder, auch wenn er gar nicht mit Pocken-
kranken mittelbar oder unmittelbar in Berührung kommt, von neuem geimpft werden.
Wenn wir uns der eigentlichen Behandlung des an Pocken Er-
krankten zuwenden, so handelt es sich bei der Therapie nur um
VARIOLA. 997
diätetische und symptomatische Maassregelü, weil wir kein
Mittel kennen, welches im Stande ist, den cyclischen Verlauf
der Variola zu mildern oder abzukürzen. Wohl ist eine ganze Reihe
Specifica gegen die Pocken empfohlen worden, von welchen wir die Tinctura
Sarraceniae purpureae, Chinin, Xylol, Thymol, Acidum carbolicum, Acidum
salicylicum, Calomel, Kalium bromatum, Kalium jodatum, Ergotin, Opium
mit Aether, Resorcin, Hydrochinon, Acidum tannicum, Natrium arsenicosum,
Oleum terebinthinae, die Transfusio sanguinis, die Kaltwasserbehandlung, warme
Bäder nennen, allein beglaubigte Erfolge liegen von ihnen ebensowenig vor,
wie von der Anwendung von Schwitzcuren, Brech- und Abführmitteln, mit
welchen unsere Väter in der Incubationszeit das Pockengift auszutreiben
hofften.
Im Initialstadium der Variola ist erst recht jedes empfohlene
Mittel erfolg- und nutzlos, auch die Vaccination hat keinen Zweck mehr,
wir können nur das Verhalten des Patienten regeln und einzelne Symptome
gesondert behandeln. Der Kranke muss in einem grossen, luftigen Zimmer
liegen, dessen Temperatur gleichmässig bei Tag und Nacht auf -j- 14 — 15" R.
gehalten und welches dunkel gemacht werden kann; es muss von den anderen
Wohnräumen abgesondert liegen. Die Bettdecken sollen warm, aber nicht
schwer und zu dick sein, einer besonders hohen Bettwärme bedarf es nicht,
leicht bedeckt und leicht bekleidet liegen die Kranken zu Bett. Dann ver-
ordne man für die Patienten eine leichte, flüssige Kost, wie Milch, Fleisch-
suppen mit Ei, Pepton- oder Somatosenzusätze, Fleischsaft, Beeitea, Fleisch-
gelee, Haferschleim, Gerstenschleim, Reis- und Griessuppen; den Alkoholisten
muss man von vorneherein starken Wein und Cognac geben, den anderen
Patienten kann man mehrmals täglich ein Glas leichten Rhein- oder Roth-
weins gestatten. Als Getränke eignen sich am besten frisches Wasser,
säuerliche Limonade, schleimige Getränke, wie Eiweissabkochungen und Reis-
Avasser; ferner Mineralwässer, künstliches Selters- und Sodawasser. Mit der
Verordnung von Acidum muriaticum 2,0 : 200-0 oder der Potio Riveri ist
arzneilich für die meisten Fälle genug gethan. Ist der Durst sehr gross, so
treten Eisstückchen in die VerOrdnungsvorschrift ein; durch die Eispillen
wird auch das häufige; quälende Erbrechen wirksam bekämpft. Bei leichten
Brechneigungen schafft schon die Potio Riveri oder die Anwendung von
Brausepulver eine Erleichterung; bei unaufhörlichen, schmerzhaften Brech-
und Würgebewegungen thut das Extractum Belladonnae (0'5:20"0; 4mal
täglich 20 Tropfen), das Codeinum phosphoricum (0*4: 15,0; stündlich 15
Tropfen), das Morphinum muriaticum (0'2:20"0; 3m al täglich 20 Tropfen)
und die Tifictura opü simplex (3mal täglich 20 Tropfen) gute Dienste; in den
schlimmsten Fällen muss man O'Ol — 0*02 Morphium subcutan in die Magen-
gegend injiciren. Bei bestehender Stuhlträgheit sorgt man mii Rhabarber
als Infusum (5-0:150*0; 2stündlich einen Esslöflel voll) oder als Pulver in
Tablettenform (0-5— l'O; 2mal täglich) für eine hinreichende Entleerung; den-
selben Zweck erfüllen auch die AßttelsaJze, die Senna und Pulvis liquiritiae
■compositus. Gegen den Kopfschmerz hilft nichts besser als die Application
«ines Eisbeutels auf den Kopf; auch die Kreuz seh merzen bekämpft man
am besten mit einem Eisbeutel; zu warnen ist dringend von der Anwen-
dung localer Hautreize, weil gerade an solchen gereizten Hautstellen
die spätere Pockeneruption besonders reichlich sein würde. Wenn im Pro-
dromalstadium die Temperatur sehr hoch auftritt, so erweisen sich
kalte Abwaschungen und kühle Vollbäder als äusserst wohlthätig. Der sche-
matischen Anwendung von Chinin, Phenacetin, Antifebrin, Antipyrin and
ähnlichen Antifebrilia können wir uns nicht anschliessen, wohl aber ist es
rathsam, schon im Invasionsstadium von der Digitalis (Inf usum foliorum Di-
gital. 1' 5: 130-0; 2sf dl. 1 Esslöffel voll oder Pulveris fol. Dirjitcd , 2sfdl. 0-15 bis
998 VARIOLA.
zehn Pulver verbraucht sind oder Pulv. fol. Digital. 1-5 Succ. et pulv. radic.
Liquiritiae q. s. ut f. pilul. N. XX; 2stdl. 2 Pillen zu nehmen) Gebrauch zu
machen, wenn schwächliche, ältere oder dem Abusus alkoholicus huldigende
Personen die Herzschwäche befürchten lassen.
Im Stadium eruptionis bedürfen die leichten Formen der Variolois
nur der diätetischen Maassregeln, eine specielle Behandlung ist unnöthig; die
Patienten bleiben leicht zugedeckt zu Bette und werden zweckmässig leicht
ernährt. In den schweren Fällen von Yariolois und bei der Variola
vera hat die Behandlung sehr vieles auszuführen. Zunächst strebt man
danach, den Ausbruch der Pockenpusteln möglichst leicht zu machen,
um die Zerstörung der Haut und die entstellenden Narben zu vermeiden.
Eine gauze Keihe von Vorschlägen und Beobachtungen ist auf diesem
Gebiete der Therapie entstanden, ohne dass aber auch nur eine einzige
Methode allseitigen Beifall hätte finden können. Am meisten angewendet
wird die Kälte und das mit vollem Rechte, weil sie in der Form von
Eiscompressen die heftigen, spannenden Schmerzen mildert, die Schwellung
und Röthung der Haut herabsetzt und dadurch die Kranken wesentlich er-
leichtert. Stehen die Pocken sehr dicht, so empfiehlt es sich, die Kälte
trocken anzuwenden in der Form von Eis- oder Wasserbeuteln, um die Ma-
ceration der Epidermis zu vermeiden. Die Schmerzhaftigkeit und Spannung
der Haut kann auch durch die Anwendung von kalten oder lauen Bädern
herabgesetzt werden, jedoch lässt sich diese Maassregel nicht in allen Fällen
durchführen, bei dicht besäter Haut ist es kaum möglich, den Patienten an-
zufassen und ihn in das Bad zu setzen, und nur unter grossen Schmerzen
möglich, ihn abzutrocknen. Die Kälteanwendung schützt vor derZer-
störung der Haut nicht, ebenso hat sie keinen Einfluss auf die Zahl
und Ausbildung der Pusteln. Weniger günstig als Kälte Avirken warme
Cataplasmen ein, wohl vermögen sie die Schmerzen und die Spannung zu
mildern, jedoch trifft sie der Vorwurf, dass sie die Eiterung der Pocken-
pusteln eher anregen als vermindern und dass sie die gesunde wie kranke
Haut leicht noch mehr hyperämisch machen und entzünden. Gegen die oft
sehr heftigen Schmerzen an den Händen und Füssen werden mit gutem Er-
folge hydropathi sehe Ein Wickelungen angewendet, nicht minder zu em-
pfehlen sind prolongirte, lauwarme Hand- und Fussbäder.
Den Pocken au sschlag selbst zu modificiren, hat man auf zweierlei
Weise versucht. Die älteste Methode besteht darin, dass man die Pusteln
möglichst frühzeitig ansticht und den Eiter entleert; unmittelbar folgt der
Incision der Pocken eine massige Erleichterung; die Wirkung zu ver-
grössern, pflegt man die Efflorescenzen nach der Incision mit dem Höllen-
steinstifte zu ätzen. Bei dicht gestellten oder confluirenden Pocken lässt
sich diese Behandlungsweise nicht durchführen, bei discreten, vereinzelten
Pusteln, zumal wenn sie durch ihren Sitz besonders unangenehm sind, wie
z. B. im Gesichte, kann man von dieser Therapie Gebrauch machen, obwohl
man sich erinnern muss, dass gerade bei vereinzelten Pocken der Papillar-
körper überhaupt nicht in den Bereich der Eiterung gezogen wird und des-
halb auch keine Narbe zu erwarten steht. Obwohl auch in der Neuzeit hervor-
ragende Aerzte, wir nennen Liebekmeister, glauben, dass durch dieses schon
von den Arabern geübte Verfahren einzelne Efflorescenzen in der Entwick-
lung gehemmt werden, sind wir der Ansicht, dass durch die Incision der
Pocken mit und ohne nachfolgende Höllensteinätzung die Narbenbildung im
jeweiligen Falle nicht gehindert werden kann. Die andere Methode erstrebt,
den Pustel in halt zum Gerinnen oder noch vor der Bläschenbildung
die Efflorescenz zum Ptückgange zu bringen. Für wiederholte Bepinselung
der Pocken im Eruptionsstadium, besonders im Gesichte, mit Tinctura Jodi,
erheben sich gewichtige Stimmen; dieselbe gute Wirkung schreibt man der
VARIOLA. 999
Höllensteinlösimg zu und den Auftragungen von CoUodium, welch letzteres zu
gleicher Zeit eine günstig wirkende Compression ausüben soll. Warm
empfiehlt Zuelzer den innerlichen Gebrauch des Xylol, 2 — 3 stdl. Otj — ro
in einer Mixtur mit Rothwein und Mucilago Gummi oder tropfenweise
(10—20 Tropfen) mit Rothwein; man kann Xylol auch verabreichen in einer
unvollkommenen Emulsion mit Eigelb und etwas Alkohol. Die hauptsäch-
lichste Wirkung des Xylo! besteht in einer Coagulation des Pustelinhaltes;
Xylol hat die Eigenschaft, die Lösungen der Albuminate zu coaguliren, ist
gut diffusibel, frei von schädlichen Nebenwirkungen und kann in solchen
jSIengen verabreicht werden, dass es noch seine Wirkung auf den Pocken-
inhalt äussern kann, ausserdem besitzt es eine adstringirende Eigenschaft,
welche die beim Durchgange durch den Körper aus dem Xylol sich bildende
Tolursäure hat, und desodorisirende Wirkung. Unter dem Einflüsse des
Xylol gerinnt der Pustelinhalt, welcher ziemlich schnell vertrocknet und nur
ausnahmsweise zu einem vorzeitigen Bersten der Pusteln führt; der Athem
und die Hautausdünstung nehmen bald den eigenthümlichen Geruch des
Xylol an. Die Ausführungen Zuelzer's und seiner Freunde sind an und für
sich richtig; aber selbst Zuelzer muss zugeben, dass auch bei Anwendung
des Xylol die Mortalität dieselbe blieb; die neueste Zeit ist in Folge dessen,
wie über die Pinselungen mit Jod und Höllenstein, so auch über das Xylol
fortgeschritten. Eines besonderen Rufes erfreute sich das QuecJcsüher^ welchem
manche Autoren geradezu eine specifische Wirkung gegenüber den Pocken
zuschreiben wollen. Mit dem Emplastrum mercuriale {Emplastrum de Vigo)
bedeckte man larvenartig das ganze Gesicht; in der Larve waren Ausschnitte
für den Mund, die Nase und die Augen; tagelang blieb dieses Pflaster liegen.
An Stelle des Mercurialpflasters ist von anderer Seite das Sublimat {O'l — 0'2
auf 150 Wasser) in der Form von Aufschlägen empfohlen worden. Eine
specifische Wirkung können wir in unserer Zeit dem Queksilber
nicht mehr zugestehen, wohl wirkt das Sublimat desinficirend auf die
geborstene Pustel ein und vermindert als feuchter Aufschlag die Spannung
und den Schmerz, jedoch lässt sich dasselbe mit jedem anderen feuchten Um-
schlag erreichen, ohne dass man bei confluirenden Eiterflächen eine Intoxi-
cation zu befürchten hätte; demselben Zwecke dienen die Aufschläge mit
Carholsäui-elösungen, sie ätzen und maceriren aber auch die Haut, ohne etwas
Specifisches zu leisten und ohne von der Befürchtung der Intoxication frei zu
sein. Nichtsdestoweniger sieht man bisweilen günstige Erfolge, nicht minder
von der Anwendung des Emplastrum mercuriale, dessen Erfolg nur darin liegt,
dass durch die Maske auf das Gesicht ein leichter Druck ausgeübt wird
und zu gleicher Zeit die Salbe eine schützende und etwas erweichende
Decke bildet. In derselben Weise wirkt auch die Schwimme/ sehe Paste
(Äcid. carholic. i'O — lO'O^ Olei olivarum 40-0, Cretae optim. tritae 60'0, M. f.
pasta moUis.J, mit welcher Leinwandlappen bestrichen werden, welche man in
Gestalt einer Larve auf das Gesicht oder auf die vorzugsweise befallenen
Hautpartien auflegt; auch mit dieser Paste werden die localeu Beschwerden
gemildert; was aber hauptsächlich wirkt, ist der leichte Druck und vor Allem
das Fett. Einfache, häufige Oeleinreibungen von Mandel- oder
Olivenöl, indifferente Pflaster von Unguentum simplex, Unguentum
boricum Listeri, Auflegen von Compressenoder Watte, welche mit
Oel oder Glycerin getränkt sind, Lanolin, Vaselin wirken ebenso
erleichternd durch Verminderung der Spannung der Haut, und deshalb ist
ihr Gebrauch dringend zu empfehlen; jedoch k e i n e s von allen diesen Mitteln
kann nach unserer Ueberzeugung die Narbenbildung beeinflussen;
ihr Einfluss ist rein symptomatisch; ihre Anwendung trägt wesentlich auch
zur Verhinderung von Verunreinigungen der eiternden Pusteln bei. Im Sta-
dium exsiccationis, in welchem man dem Kranken eine kräftige, aber
1000 VARIOLA.
leicht verdauliche Diät, bestehend aus zartem Geflügel und Fleisch, Milch
und Eiern, Wein und Compotten geben soll, muss man den Patienten ein-
dringlich vor dem Abkratzen der Borken warnen, weil es die endgiltige
Abheilung verzögert; vor unwillkürlichem Abkratzen der Krusten im Schlafe
schützt man zumal die Kinder am einfachsten dadurch, dass man auf die
Streckseite der Arme ein Stück Pappdeckel, von der Mitte des Oberarms bis
zur Mitte des Unterarmes, mit Watte umwickelt, befestigt; der Arm kann
nicht gebeugt werden, und dadurch ist ohne jede Belästigung des sonst frei
beweglichen Armes wenigstens das Gesicht vor dem Wundkratzen geschützt.
Das Jucken und Spannen vermindern Einreibungen mit einem milden Fett
erheblich. Lauwarme Bäder, täglich oder jeden zweiten Tag ausgeführt,
bringen dem Kranken auch in dieser Hinsicht grosse Erleichterung und ent-
fernen die fest anhaftenden Borken, unter welchen gerne die Eiterung fort-
besteht; warme Aufschläge haben denselben Erfolg in räumlich beschränkter
Weise.
Auf die Bildung der Narb en nach Abfall der Kruste haben wir keinen
Einfluss; wiederholte Abreibungen mit Sand sollen die zurückbleibenden Haut-
defecte verbessern und beseitigen.
Der genesene Patient darf nicht eher zu anderen Leuten gehen, als
bis jede Kruste abgestossen ist und wiederholte Bäder mit reichlicher Ab-
seifung jeden anhaftenden Krankheitskeim entfernt haben.
Neben der Behandlung derPustel auf der Haut erwachsen der
Therapie noch eine Menge anderer Aufgaben. Im Eruptions- wie im Suppu-
rationsstadium ist es das Fieber, welches einer besonderen Beobachtung be-
darf, vor Allem im Eiterstadium, in welchem im malignen Falle der Tod ein-
zutreten pflegt. Bei besonders heftigem Eiterfieber, welches keine genü-
genden Morgenremissionen macht, ist Chinin in grossen Dosen (TO — 1*5 (j)
anzuwenden; mit einer einmaligen grossen Gabe pro die kommt man viel
weiter, als mit der 3 — 4 stündlich wiederholten Dosis von 0"1 — 0"15 g. Än-
ti'pyrin, Äcetanilid^ Phenacetin, salicylsaures Natrimn, welche man bei Schluck-
beschwerden oder erheblicher Magenstörung per clysma eingeben kann, setzen
rasch, aber nur vorübergehend, die Temperatur herab. Kalte Bäder drücken,
wenn sie durchführbar sind, die Fieberwärme herunter, allein ihre Wirkung
beschränkt sich nur auf einen halben oder einen ganzen Grad und ist nicht
so nachhaltig, wie wir es bei Abdominaltyphus zu sehen gewohnt sind. Auch
das Chinin wirkt bei der Variola nicht so prompt, als wie bei anderen fieber-
haften Krankheiten; es kann ebenfalls in Klysmaform einverleibt werden.
Die Betheiligung der Mund- und Rachenhöhle an dem Va-
riolaprocesse erfordert dringend die Anwendung von desinficirenden
und adstringirenden Mund- und Gurgelwässern, um die Geschwüre
möglichst zu reinigen und den scheusslichen Foetor ex ore zu beseitigen.
Mit gutem Erfolge wenden wir schwache Lösungen von Liquor ferri ses-
quichloraU (TG : 100"0), von Kalium chloricmn (3"0 : lOO'O), Acidum carhoUcum
(l'O :100'0), Kali hijpermanganicum (ro : lOO'O), Aqua cJilori (3"0 : lOO'O),
Resorcin (2*0 : lOO'O), Natrium hihoracicum (5"0 : 100"0), Aluminium acetico-
tartaricum (2*0 : lOO-Q), Tinctura Jodi (0*5 : lOQ-O), Acidum iannicum (2*0 : 100),
Alumen (rO: 100) an. Inhalationen mit diesen Gurgelwässern empfehlen
sich im gegebenen Falle sehr, nicht minder die unmittelbare Auftragung ver-
mittelst des Zerstäubers oder die vorsichtige Betupfung mit einem
Wattebausch, welcher vorne auf einem Stäbchen befestigt ist. Auch macht
man mit befriedigenden Resultaten von Insufflationen Gebrauch. Bleibt
bei dieser Behandlung der Schmerz im Munde und Rachen gross und mildern
sich die Schluckbeschwerden nicht, so setzt man den Gurgelwässern Narco-
tica zu, wie Aqua amygdalarum amararum und lauracerasi (5'0: 100*0),
Tinctura opii simj^lex (2-0 : lOO'O), Extractum opii (O'ö : 100*0), Extractum
VARIOLA. 1001
Hyoscijami (rO: 100-0); jedoch muss man den Patienten vor wiederholtem Herab-
schlucken dieser Lösungen warnen. Man kann auch die locale Anwen-
dung in den Bereich der Behandlung ziehen, und zwar am besten das Cocainum
muriaticum in einer Lösung von 10— 2070; weniger gut bewährt sich als ört-
liches Anaestheticum das Morphinuni muriaticum (0'5 : lO'O Glycerin). Schlei-
mige Getränke mildern gleichfalls die Schlingbeschwerden, welche auch
durch Eispillen wirksam bekämpft werden können. Nimmt der Larynx
durch acute entzündliche Schwellung und Pustelbildung erheblich an dem
Verlaufe der Variola th eil, so muss man frühzeitig Inhalationen und In-
sufflationen von Adstringentien anwenden und eine Eiscravatte an-
legen, um dem Glottis ödem vorzubeugen. Das acute Glottisödem
entwickelt sich oft überraschend schnell, jeden Fall von intensiver Heiserkeit
muss man genau überwachen; steigt die Athemnoth mit deutlichem Stridor,
so kann man bei kräftigen Personen ein Em et ic um in Anwendung ziehen;
prompt wirkt der Tartarus stibiatus, 0"05— 0*2 pro dosi; das CujJrum sulfuri-
cum (0"1 mit Saccharum alhum und Amylum m 0"5, alle 10 Minuten ein
Pulver, bis Erbrechen erfolgt; bei Kindern alle 10 Minuten einen Kinderlöffel
voll von Cupri sulfurici O'ö : 50 0 Aq. dest.), die Radix Ipecacuanhae 0*25 — l'O
in refracta dosi; als besonders gut bewährt führen wir an:
Pulveris Badic. Ipecac. o'O Pidveris radic. Jpecac. 2'0
Tartari stihiat. 0'2 Tartari stibiat. 003
Oxymell. Scillae SO'O Oxymell. Scillae 20'0
Aq. desiillat. 60' 0 Aq. destillat. 20 0
JJ. S. Umgeschüttelt, alle 10 — 15 Mi- Jj. S. Alle 10 Minuten einen Kinder-
nuten einen Esslöffel voll bis zum löffd loll, bis Erbrechen erfolgt; für
Erbrechen; für Erwachsene. Kinder.
Das Emetinum (O'OOö— 0*01) und die subcutane Injection von Apomor-
phinum hydrochloricum (0*1 : lO^O Aquae destillatae, V2 Spritze voll für Er-
wachsene; bei Kindern ^2 Spritze voll von einer Lösung 0-02 : lO'O). Lassen
die Kräfte und der Allgemeinzustand des Kranken die Anwendung des Brech-
mittels nicht zu, so führe man schleunigst Scarificationen der ary-epi-
glottischen Wülste aus; wenn diese nichts nützen, so zögere man nicht mit
der T r a c h e 0 1 0 m i e.
Das Nervensystem, welches zumal bei der Variola vera erheblich
tangirt ist, bedarf einer besonderen Ueberwachung; im Suppurationsstadium
verlangt der Kopfschmerz aufs neue nach dem Eisbeutel, die allgemeine
Unruhe, die starken Delirien und die lebhaften Schmerzen, verbunden
mit Schlaflosigkeit, erheischen die subcutane Anwendung von Morphinum
muriaticum (O'Ol — 002 pro Spritze); dieselbe Behandlung fordern starke
meningitische Keize. Bei Alkoholisten bricht sehr gerne das Delirium
tremens aus, gegen welches sich, abgesehen von reichlichem Alkoholgenuss,
das Chloralhydrat besser bewährt als das Morphium; am einfachsten ist es,
die nothwendige Dosis Chlorcd (2'0 in 30^ Wasser gelöst) per anum bei-
zubringen, die Wirkung dieser nach Bedürfnis mehrmals in 24 Stunden wieder-
holten Injection ist zuverlässig und stösst nicht auf Hindernisse, während
heftige Schlingbeschwerden die Aufnahme vom Munde aus unmöglich machen
können. Dringend weisen wir darauf hin, dass selbst leicht Erkrankte
in der heftigsten Weise deliriren können und maniakalische Anfälle nicht zu
den Seltenheiten gehören; damit solche Patienten sich selbst und anderen
keinen Schaden thun, ist die sorgsamste Ueberwachung nothwendig, die Zwangs-
jacke giebt, wenn der Eisbeutel, das Morphium und das Chloral nicht aus-
reichen, die einzige Möglichkeit, den Kranken vor sich selbst zu schützen.
Nimmt im Verlaufe des Eiterungsstadiums die Kraft mehr und mehr
ab, so zögere man nicht, concentrirte Fleischbrühe, grosse Dosen starken
Weines, Cognac, starken Kaffee und Thee neben arzneilichen Analepticis
1002 VENENKRANKHEITEN.
ZU reichen. Unter den Excitantien bevorzugen wir den Carapher, entweder
als Pulver 0*2 — O'S zweistündlich verabreicht oder subcutan injicirt als Camph.
1-0 : Ol. amygdal. dulc. 9-0, stündlich 1—2 Spritzen voll. Aether sulfuricus
(innerlich 20 Tropfen in Zuckerwasser stündlich oder subcutan 1 — 2 Peavaz-
sche Spritzen, so oft wiederholt, bis der Puls sich hebt) und Moschus (per os
als Pulver von 0-2 zweistündlich verabreicht oder als Tinctura Moschi mehr-
mals 2 Spritzen voll einverleibt) besiegen häufig den Herzcollaps, die
Coß'einpräparate erstreben denselben Zweck; man verabreicht einfaches Coffei-
num natrio-benzoicum in Pulverform als V2 9 Dosen mehrmals täglich oder
injicirt subcutan {Coffein, natrio-benzoic. 2'0 : ö'O Aq. destillat; eine Spritze
voll, nach Bedarf), ebenso Coffeinum natrio-cinnamylicum und tiatrio-salict/Ucum,
von beiden, gelöst im Verhältnis- von 1-6 : 5-0 Aquae destiUatae, 2— 3 Spritzen voll.
Die einzelnen Complicationen der Variola, wie Pneumonie, die Pleu-
ritis, die Abscedirung der Haut, die Iritis, werden gerade so behandelt, als
ob es sich um eine primäre Erkrankung handle.
Fruchtlos und eitel ist leider unsere Therapie, wenn es sich
um die Bekämpfung ausgesprochener hämorrhagischer Variola oder
der Purpura variolosa handelt. Das Chinin, selbst in grossen Dosen,
hat keinen Einfluss auf diese Erkrankungsform, laue Bäder mit kalten Ueber-
giessungen halten den Verfall nicht auf. Das Ergotin, selbst in grossen Dosen,
das Seeale cornutum, der Liquor ferri sesqiiichlorati, das Hydrustiniim und
Hydrastinum hydrochloricmn, das Plmnbum aceticum. die Digitalis und Säuren,
Eisbeutel und Eiswassereinläufe lassen uns vollständig bei der Bekämpfung
der Blutungen aus der Lunge, dem Magen, den Nieren und dem Genital-
apparate im Stiche. Und doch darf man nicht versäumen, die Tonica und
Pieizmittel, wie Campher, Aether \m^ Moschus, in grossen Dosen anzuwen-
den; ist auch der Erfolg ein verschwindend kleiner, so erfüllt man immerhin
eine theoretische Aufgabe; das Gute gewollt zu haben, muss dem Arzte ein
Trost und eine Aufmunterung sein, gegenüber der hämorrhagischen Pocken-
form, welche wohl immer mit dem Tode endigt. prior.
Venenkrankheiten. (Venenentzündungen, Venenthromhose.) Die Venen-
wände und das von ihnen gebildete Lumen kann der Sitz bösartiger Ge-
schwülste sein, welche von der Nachbarschaft her die Venen ergreifen und
in sie durchbrechen. Hierdurch entstehen nicht nur „locale Störungen",
sondern der Eintritt der Geschwulstpartikelchen in die Blutbahn veranlasst
auch die Verschleppung derselben in andere Organe (Metastasenbildung).
Näheres hierüber findet sich in der Disciplin „Chirurgie" dieses Sammel-
werkes, wo von dem Wachsthum der malignen Neoplasmen des Speciellen
die Eede ist.
Tuberculose der Venen findet sich bei allgemeiner acuter
Miliartuberculose. In der Venenwand sitzen miliare Knötchen, oft von
Hirsekorn-Grösse, oft aber auch nur mit dem Mikroskope zu entdecken.
Grössere Tuberkel in der Venenwand findet man oft in der Nähe tuberculöser
Herde, insbesondere auch „scrophulöser" Lymphdrüsen. Durch die Ent-
stehung solcher Tuberkelknoten ist nach Weigert ein pathogenetisches
Moment für die Entwicklung allgemeiner acuter Miliartuberculose
gegeben.
Auch Ptotzknötchen entwickeln sich in der Venenwand, fortgeleitet
von den primären Tnfectionsherden und andererseits wieder der Ausgangs-
punkt zur allgemeinen Dispersion der Rotzinfection (Israel).
VENENKRANKHEITEN. 1003
Sieht man von den eben erwähnten selteneren Erkrankungen der Venen
ab, so beschränkt sich die Pathologie der Venenerkrankungen hauptsächlich
auf das Gebiet der Entzündung und Thrombose. ■)
Cruveilhiek behauptete: La phlebite domine toute la pathologie, weil
er der Ansicht war, dass jede Entzündung mit einer Entzündung der
kleinsten Venen (CapülarphleUtis) beginne. Andererseits meint er, dass jeder
Venenentzündung eine Gerinnung des Blutes vorausgehe. Rokitansky stellte
die Lehre auf, dass es eine primäre Thrombose gäbe, welche secundär Phle-
bitis, und eine primäre Phlebitis, welche secundär Thrombose veranlasse.
ViRCHOw fügte hinzu, dass die einfache Thrombose ohne vorausgegangene
Phlebitis weit häutiger sei, als die durch Phlebitis bedingte.
Die Venenentzündung beginnt entweder als Endophlebitis — der
Entzündungsreiz wirkt von innen her — , dieselbe findet sich nach vorher-
gegangener Thrombose als Folge derselben; oder als Periphlebitis — das
Entzündung erzeugende Moment hat von aussen auf die Venenwand seinen
Angriff unternommen, derart entstehen die acuten Venenentzündungen bei
Phlegmonen, die einzelne Körpertheile in fortschreitend diffuser Ausdehnung
betreffen. Je nach dem Grade der Entzündung, respective der Beschaffenheit
des Entzündungserregers giebt es eitrige oder gangränöse Venenentzündungen,
die gonorrhoische Infection, namentlich wenn sie als Tripperrheumatismus
auftritt, erzeugt acute Phlebitiden (Maetel); desgleichen begleiten dieselben
rheumatische Gelenksaffectionen (Lannois).
Die chronischePhlebitis ist bisweilen ein Ueberbleibsel der acuten,
tritt aber auch primär in varicösen Venen auf. Sie betrifft hauptsächlich
das Bindegewebslager der Vene und führt zur A'erdickung und Ptigescenz
der A'enenhäute — arterien-ähnlicher Habitus der Venen (Rokitansky).
Fälle von Phlebosclerose, Verdickung der Venenwandungen und Verengerung
des Lumens derselben, bei normalem Verhalten der Arterienstämme hat H. Schlesikger
beschrieben und gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass man diese permanent
bleibenden Venenveränderungen wohl unterscheiden müsse von eigenthümlichen Contractions-
zuständen, welche an den Hautvenen mancher Individuen sichtbar sind. Schlesinger be-
schreibt dieses Phänomen wie folgt: „An manchen Tagen als gut stricknadeldicke und
weit darüber starre titränge durch die abgemagerten Hautdecken deutlich fühl- und
sichtbar, waren sie an anderen Tagen nicht palpabel und nur als blaue, durch die Haut
durchscheinende Fäden zu erblicken."
Selten findet sich ein -der Endateriis chronica entsprechender
Process an den Venen. Nach Weigert sieht man dies bei Lebercirrhose
im Gebiete der Pfortader, aber auch an varicös erweiterten Venen der
unteren Extremitäten. An der Innenwand sind trübe, gelbliche, manchmal
Kalk enthaltende Stellen zu bemerken.
In Folge chronischer Phlebitis kommt es zur P hiebe ctasie. Dieselbe
ist entweder eine gleich massige, cylindrische mit geradem Verlaufe des
Gefässes oder eine ungleichmässige mit gewundenem Verlaufe. Häufig
kommt es zur sackartigen Ausbuchtung der Venenwand, es entsteht ein
Varix (Cirsus).
Die Ursachen der Phlebectasie sind aber nicht blos Entzündungen
der Venenwände, sondern können auch auf andere Weise zu Stande kommen.
Circulationsverlangsamung und -hemmung in Folge von Lungen und Herz-
affectionen, Druck und Zerrung eines Venenstammes, protrahirte, den Ptückfluss
des Blutes hemmende Körperstellung (Entwicklung der Varices bei Individuen
mit permanent stehender Beschäftigung).
Die Varicositäten finden sich:
a) an den unteren Extremitäten im Gebiet der Vena saphena. Dieselbe
veranlasst Oedem, Entzündung und Sclerosirung des umgebenden Bindegewebes und führt
andererseits zur Entstehung der hartnäckig recidivirenden Ulcera cniris,
-) Vergleiche auch die Artikel .Pfortaderkrankheiten'', Bd. UI. pag 230 und „Srnw-s-
thromhose^ Bd. III. pag. 511.
1004 VENENKRANKHEITEN.
l) am Samenstrang und den Venen des Hodens: Varicocele (CirsoceUj.,
c) an den Blasenvenen: Blasenhaeworrhoiden. Sie geben zu Blasenblutungen
Veranlassung. Auch die Venensteinbildang ist nach Rokitansky nirgends so häufig als im
Plexus vesicalis;
d) an den Venen der weichen Hirnhaut: die Venenstämme der Pia sind ge-
schlängelt und knäuelartig gewunden, kommt insbesondere bei Alkoholikern vor;
e) an den Venen der Bauch haut: erscheint in der Form eines den Nabel
kranzförmig umgebenden Geflechtes (Caput Medusae) und findet sich bei Circulationshin-
dernissen innerhalb des Abdomens.
f) an den Venen des Oesophagus: kommt als Folgezustand der Lebercirrhose
vor und giebt zu Oesophagusblutungen Veranlassung;
g) am häufigsten an den Mastdarmvenen (Hämorrhoiden) : Bildung von haselnuss-
bis wallnussgrossen Knoten zwischen Afterrand und Sphincter externus. Dieselben geben
zu einer Reihe von Beschwerden (Blutungen, Mastdarmvorfall, Mastdarmblennorrhoe,
ülcerationen der Schleimhaut etc.) Veranlassung.
Die Behandlung aller dieser Zustände ist eine vorwiegend chirurgische und wird mit
ausführlicher Schilderung der speciellen Symptome in der Disciplin ^Chirurgie^ dieses
Sammelwerkes besprochen.
Thrombosen der Venen bestehen in einer PMüllung des Venen-
lumens mit einem Biutcoagulum, das dasselbe entweder vollständig obturirt
oder manchmal auch nur wandständig sitzt, eine grössere Strecke der Vene
einnimmt und sich oft verzweigend in Seitenäste fortsetzt.
Im Jahre 1889 habe ich einige „Beiträge zur Aetiologie und Casuistik der Venen-
thrombose" geliefert und anlässlich dieser Publication die Frage von der Entstehung der
Venenthrombosen ausführlich erörtert. Die wesentlichsten Punkte meiner Abhandlung
(Wiener medicinische Presse Nr. 16, 17 und 18) kann ich an dieser Stelle wiederholen.
Welche Momente gelten als Thrombose veranlassend?
1. Druck auf die Vene (Ligatur, Geschwülste etc.) — Compressions-
thrombose.
So führt DüCHEK unter 19 Fällen von Thrombose im Gebiete der oberen
Hohlvene 6mal Druck von Seiten eines Aneurysma der Aorta als Ursache
der Venencompression an. Die Thrombose der Pfortaderäste und der Leber-
venen bei Cirrhose und luetischer Hepatitis gehören ihrer Aetiologie nach
zur Compressionsthrombose.
2. Erweiterung der Venen — Dilatationsthrombose. So entstehen
Thromben in varicös erweiterten Venen.
3. Die traumatische Thrombose {Aderlassthrombose, Ämputations-
thrombose). Die Verschliessung durchschnittener Gefässe ist ein normaler
physiologischer Vorgang; er wird pathologisch, wenn sich die Thrombosirung
abnorm weit fortsetzt. So rechnet man hierher die Verschliessung der Ge-
lasse an der Insertionsstelle der Placenta durch Thrombose, die bei mangel-
hafter Contraction des Uterus leicht weiter fortschreitet. Andere Autoren
machen für das Entstehen dieser Thromben die mangelhafte Contractions-
fähigkeit der Gefässe selbst verantwortlich, indem bei Schwächezuständen,
z, B. im Puerperium, der normale NerveneiDfluss auf die Contraction der
Gefässe ausbleibt.
4. Vorherige Gerinnung des Blutes in den Capillaren, da die Vis a tergo
fehlt. (Thrombosirung der Lungenvenen bei Pneumonie, der Lebervenen bei
Hepatitis.)
5. Fortgesetzte Thrombose, die sich an die letztgenannte Art der
Thrombose direct anschliesst. So schreitet die Thrombenbildung von den
Cruralvenen bis in die Vena cava oder von den Pfortaderästen bis in den
Stamm derselben fort.
6. Perforation eines Neoplasma, Parasiten oder irgend eines andern
Fremdkörpers, insoferne derselbe die Circulation hemmt und zum Haften
weisser Blutzellen Veranlassung bietet. Hieher gehören die Fälle von Ein-
VERDAUUNGSSTÖRUNGEN IM SÄUGLINGSALTER. 1005
dringen der Echinococcenblasen, Distomum haematobium und anderer Ento-
zoen in das Gebiet der Vena portae.
Prof. WiNGE theilt einen Fall von Thrombose der Pfortader in Folge
von Perforation derselben durch eine Fischgräte mit, und 1842 hat schon
Lambron Pylephlebitis suppurativa durch eine vom Pylorus in die Vena mesa-
raica superior eingedrungene Fischgräte beschrieben.
7. Secundäre Thrombose nach Phlebitis. Diese ist relativ selten
und kommt, wie Köster und Ebeling nachgewiesen haben, dadurch zu Stande,
dass die von aussen nach innen fortschreitende Entzündung der Venenwand
zur „Intravasation" in das Lumen des Gefässes führt, d. h. zur Ablagerung
weisser und rother Blutzellen aus den Vasa vasorum der Wand auf die Innen-
fläche der letzteren.
8. Endlich die sogenannte ^^marantische Thrombose'-'' : In Folge vermin-
derter Triebkraft des Herzens kommt es zur Circulationsverlangsamung.
Während die älteren Autoren die Stauung des Blutes allein als eine für die
Entstehung von Thromben hinreichende Ursache halten, glaubt Weigert, dass
erst die durch Circulationshemmung entstehende Ernährungsstörung die Ge-
rinnung des Blutes veranlasse.
Die Meinung Weigert's, dass Thrombose nur entsteht, wenn eine
Gefässstelle ihres Endothels verlustig gegangen ist, steht im
Widerspruch einerseits mit den Angaben von Eberth und Schtmmelbusch,
welche mittheilten, dass die Intima necrotisch sein oder vollständig fehlen
könne und das Blut dennoch nicht gerinne, andererseits mit den Experimenten
Freund's, welche bewiesen, dass es hauptsächlich physikalische Momente sind,
welche die Gerinnung des Blutes hemmen, resp. befördern.
Für die Erklärung einer Reihe von Thrombenbildungen, insbesondere
das relativ häufige Vorkommen von Venenthrombosirung bei Chlorose (Ha-
ngt und Mathieu, H. M. Tückwell, Bennet, Eichhorst, Huels) — secun-
däre Pulmonalarterien-Embolie ist dann oft die Ursache plötzlichen Todes
(Rendu, J. Weiss) — muss als ursächliches Moment eine erhöhte Coagula-
tionsfähigkeit des Blutes, eine veränderte Blutzusammensetzung, welche
die Gerinnung begünstigt, angesehen werden.
Die Folgen der Venenthrombose äussern sich in localer Circula-
tionsstörung, die an den Extremitäten in der Form des Oedems auftritt. Es
giebt Fälle von Venenthrombose, wo nur ein einziges Gefäss obliterirt ist, es
giebt aber auch solche, wo die Thrombosirung gleichzeitig fast alle grossen
Körpervenen betrifft (Dabeaüx, Hüels, J. Weiss). Relativ häufig kommt
Venenthrombose an den unteren Extremitäten unter dem Bilde der Phleg-
masia alba dolens bei Wöchnerinnen vor.*)
Wenn nicht irreparable Ursachen der Thrombose zu Grunde liegen, so
pflegen Thrombosen an den Extremitäten unter strenger Ruhe, Hoch-
lagerung, Umschlägen mit BüRROw'scher Lösung, vorsichtiger Einpinselung
mit Oleum cinereum, roborirender Diät und eventuell therapeutischer Beein-
flussung des anämischen Zustandes vollständig zu heilen. Die Hauptgefahr
droht immer von Seiten der zu befürchtenden Embolie der Pulmonalarterie.
JUL. WEISS.
Verdauungsstörungen im Säuglingsalter. Die Verdauungstörungen
der Säuglinge weichen in ihrer Aetiologie, in Verlauf und Behandlung so sehr
von denjenigen des späteren Lebens ab, dass sie eine gesonderte Besprechung
erfordern. Wenn wir von den Verschiedenheiten absehen, welche durch die
Organisation und die geringere Widerstandsfähigkeit des kindlichen Körpers
*) Vergl. hierüber den ausführlichen Artikel im Bande ^GeburtsJnJfe und Gynäkologie"
pag. 646
1006 VERDAUUNGSSTÖRUNGEN IM SÄUGLINGSALTER.
bedingt sind, so liegt der Unterschied zwischen den im Säuglingsalter und
den im späteren Leben auftretenden Verdauungsstörungen im Wesentlichen
darin, dass bei den ersteren die übergrosse Zahl der Erkrankungen sich
auf dem Boden der Dyspepsie entwickelt, während bei den letzteren die ana-
tomische Veränderung vorausgeht und die Dyspepsie erst die secundäre
Folgeerscheinung darstellt. Die Geschichte zeigt, dass das Verständnis und
der Fortschritt in unserem Capitel steht und fällt mit der Beachtung, ^velcher
man die Dyspepsie gewürdigt hat. Freilich geht es nicht an, den Begrifi der
Dyspepsie ins Ungemessene zu erweitern und bei langdauernden Diarrhöen
beispielsweise von chronischer Dyspepsie zu sprechen. Es ist ein Verdienst
von Baginsky und Marfan darauf hingewiesen zu haben, dass sich schon
sehr frühzeitig im Anschlüsse an Dyspepsie entzündliche Veränderungen der
Darmw^and einstellen. Allein dies benimmt der Dyspepsie nichts von ihrer
Bedeutung, da sie ja doch noch für die Ursache und die Art der Behandlung
bestimmend ist. Ich schicke der Deutlichkeit halber die Eintheilung der im
Nachfolgenden zu besprechenden Störungen voraus.
Ausgangspunkt der meisten Erkrankungen ist die Dyspepsie, worunter
ich jede Abweichung von dem normalen Verlaufe der Verdauung verstehe,
gleichviel ob diese durch ungenügende Leistung seitens der Verdauungs-
organe (organisch bedingte Dyspepsie) oder durch die chemische Beschaffenheit
der Nahrung, resp. abnorme bakterielle Zersetzungen derselben bedingt ist
(alimentäre Dyspepsie). Die letztgenannten Vorgänge sind insoferne die wich-
tigsten, als durch diese ausserhalb oder erst innerhalb des Darmkanales ab-
laufenden Zersetzungen (ektogene, resp. endogene Gährungen) toxische Sub-
stanzen gebildet werden, welche zunächst eine örtlich reizende Wirkung auf
die Darmschleimhaut, unter Umständen aber auch schwere Allgemeinerschei-
nungen und zahllose anderweitige Folgezustände im Gefolge haben.
Die örtlichen Reizwirkungen rufen als ersten Grad der Reizung den
Katarrh (von xata-pöco, ich fliesse herab) hervor, der seinen Namen von der
abnorm reichlichen Secretion von Schleim seitens der Darmwände erhalten
hat. Erst der nächst höhere Grad, der durch besonders intensiv oder wieder-
holt einwirkende Reizung hervorgebracht wird, wird als Darmentzündung be-
zeichnet. Je nach dem Sitze unterscheidet man Katarrh, resp. Entzündung
des Magens, des Dünn- und des Dickdarmes, je nach Dauer und Verlauf
eine acute und eine chronische Form. Neben diesen auf dyspeptischer Grund-
lage sich entwickelnden Erkrankungen giebt es noch solche, welche als spe-
citische, dem Kindesalter bis zu einem gewissen Grade eigenthümliche Infec-
tionen aufgefasst werden müssen.
I. Organisch bedingte Dyspepsie.
Eine Störung im Ablaufe der Verdauung kann bedingt sein durch solche
anatomische Anomalien, Entwicklungshemmungen oder -Störungen, die schon
im fötalen Leben entstanden sind. Ich spreche hier nicht von jenen Miss-
bildungen, welche mit der Fortdauer des extrauterinen Lebens nicht vereinbar
sind. Allein es giebt auch Anomalien, welche durch Kunsthilfe beseitigt
werden können (Atresia ani), oder die Functionen des Darmtraktes nur stören,
jedoch das Leben und die Entwicklung des Organismus nicht unmöglich
machen. Hierher gehören beispielsweise die Verengerungen des Pylorus und
des Dickdarmes, die zu erschwerter Fortbewegung des Inhaltes und dadurch
zur Entstehung von Ektasien Veranlassung geben.
An dieser Stelle sei auch einiger dem Säuglingsalter eigenthümlicher
Krankheitszustände Erwähnung gethan, welche ebenfalls in gewissen anato-
mischen Verhältnissen des Darmes begründet sind und hier am besten ihre
Stelle finden.
VERDAUUNGSSTÖRUNGEN IM SÄUGLINGSALTER. 1007
Es ist 1. das sogenannte habituelle Erbrechen, eine bei Brust-
wie künstlich geucährten Kindern häufig beobachtete Erscheinung. Unmittelbar
oder einige Zeit nach dem Trinken lassen sie einen Theil der Milch ohne
Anzeichen von Ueblichkeit oder Aufstossen aus dem Mundwinkel heraus-
fliessen. Dabei ist die Ernährung oft nicht im Geringsten gestört; im Gegen-
theil, es handelt sich zumeist um reichlich, ja überreichlich genährte und
demzufolge kräftig entwickelte Säuglinge. („Speikinder — Gedeihkinder".)
Die Ursache dieses Zustandes wird man wohl in der Kleinheit und
Ueberladung des Magens einerseits, der vertikalen Lage desselben und dem
schwachen Verschlusse der Cardia andererseits zu suchen haben. Schaukeln,
Wickeln, Herumtragen, auch Schreien der Kinder unmittelbar nach der Mahl-
zeit begünstigt das Erbrechen, das, solange es sich lediglich um das Auf-
stossen nicht geronnener Milch handelt, thatsächlich harmloser Natur ist.
Unbedingte Kühe und Abkürzung der Trinkzeit bringen dasselbe meist, jedoch
keineswegs immer, zum Schwinden.
Bei künstlich genährten Säuglingen kommt die Milch zumeist geronnen
und auch wohl längere Zeit nach dem Trinken zum Vorschein. Hier liegt
die Gefahr einer Verwechslung mit Gährungsdyspepsie näher. Jedoch sieht
man auch diesen Zustand, der oft in einer individuellen Reizbarkeit der
Magennerven begründet sein mag, meist mit Vollendung des ersten Viertel-
jahres von selbst schwinden.
2. Die habituelle Obstipation, die zu seltene oder quantitativ un-
genügende Entleerung, ist eine der häufigsten und wichtigsten Functions-
störungen des Kindesalters bis gegen das 4. Lebensjahr und insbesondere des
Säuglingsalters. Man wird in der mangelhaften Entwicklung und Uebung der
Bauchmuskeln, in der geringen Mächtigkeit der Muscularis und der unver-
hältnissmässigen Länge des Dickdarmes begünstigende Momente für die Ent-
stehung erblicken können. Auch Erblichkeit und Art der Ernährung sowie der
vorausgegangeneu Erkrankungen spielen hier eine Rolle.
Brustkinder sind seltener davon betroffen, ja die Rückkehr zur Amme
ist manchmal das letzte Heilmittel einer hartnäckigen Verstopfung. Dagegen
disponirt die Kuhmilch durch die grosse Menge der schwer resorbirbaren
Bestandtheile, insbesondere der Salze, zur Bildung harter Knollen, die durch
die Bauchdecken gefühlt und im Dickdarme nur langsam fortbewegt werden.
Die Knollen können die Consistenz und Trockenheit von Thonkugeln an-
nehmen und bei der Entleerung die Schleimhaut des Rectums verletzen.
Das am meisten angewandte und auch wirksame Mittel sind Kly stiere
und Kamillenthee oder Wasser, dem man etwas Salz, Oel, Glycerin zusetzen
kann. Auch Seifenwasserklystiere, Stuhlzäpfchen und Glycerin-
seife, geschnitten, sind beliebte Hausmittel. Besser ist es immerhin, wenn das
allzuhäufige Klystieren vermieden wird; bei intelligenten Müttern und etwas
älteren Säuglingen kann alsdann die Massage des Unterleibes versucht
werden. Innere Mittel können in Form von Zusätzen zur Milchnahrung ge-
geben werden. Rahmzusatz zur Milch, Zucker, insbesondere grössere Mengen
von Milchzucker und Mannazucker, am besten der von mir schon vor
Jahren empfohlene Zusatz von 1—3 Esslöffel Malzextract (Löfflund's oder
Liebe's Kindernahrung) bewirken oft anhaltend breiigen Stuhl und sind zu-
gleich Nährmittel. Nur im Nothfalle greife man zu Medicamenten, unter
denen sich nur für rasche Entleerung das Calomeloder das Ol. ricini mit
Syr. Mannae zu gleichen Theilen gemischt, für länger fortgesetzten
Gebrauch das Podophijllin, Magnesia cum rlieo, die verschiedenen Präparate der
Pharmakopoea elegans, das Extractum Sagradae, Tamarindenpastillen, bei gleich-
zeitiger Appetitlosigkeit auch Tr. rhei Darelli oder 1—2 Esslöffel Karlshader
Mühlbrunnen, der Milch zugesetzt, bewährt haben.
1008 VERDAUUNGSSTÖRUNGEN IM SÄüGLINGSALTER.
Zu warnen ist namentlich bei ganz jungen, an der Brust genährten
Kindern vor der Verwechslung dieses Zustandes mit der Inanition, wobei na-
türlich ebenfalls nur wenig und selten Koth abgesetzt wird, sowie mit Ver-
engerungen des Dickdarmes, Spasmus des Sphincter oder gar entzündlichen
Erkrankungen des Peritoneums.
3. Ein mit der habituellen Obstipation häufig vergesellschafteter, jedoch
auch für sich allein vorkommender Zustand ist die Kolik oder richtiger
Enteralgie. Ich spreche hier nicht von den die verschiedensten Darmerkran-
kuDgen begleitenden Schmerzen, sondern nur von den anscheinend ohne er-
kennbare Ursache auftretenden, im Unterleibe localisirten Schmerzparoxysmen,
bei denen die Kinder plötzlich in den heftigsten, aber doch eigenthümlich
rythmisch sich folgenden Tönen zu schreien und mit den Füssen zu stram-
peln anfangen. Sie werden dabei blau und in Schweiss gebadet, ohne dass es
gelingt, durch die üblichen Beruhigungsmittel eine Pause im Schreien zu
erzielen. Es ist nicht unmöglich, dass die Kleinen in diesem forcirten Schreien
und dadurch bewirkten lebhaften Muskelcontractionen ein Mittel zur Erleich-
terung und Abkürzung des Anfalles besitzen.
Zumeist handelt es sich um gut genährte, etwas überfütterte Säuglinge
(Brustkinder werden ebensowohl betroffen wie künstlich Genährte), deren
Abdomen besonders stark aufgetrieben und hart gespannt ist und die an
häufigen Blähungen leiden. Der Stuhl ist bald angehalten, bald wieder
dünn, fast niemals ganz normal. Die Anfälle können mehrmals des Tages
sich wiederholen und bis zu einer Stunde und länger dauern. Nicht selten
werden sie durch den Abgang einer Blähung oder eines spritzenden Stuhles
beendet.
Die Ursache dieser schmerzhaften Erregung der Darmnerven ist nicht
mit Sicherheit bekannt; vielleicht trägt die übermässige Dehnung einzelner
Dünndarmschlingen durch besonders reichliche Gasentwicklung und begünstigt
durch die Schwäche der Muskulatur die Schuld. Jedenfalls muss die Therapie
in diesem Sinne vorgehen; genaue Controlle und regelmässige Intervalle
zwischen den Mahlzeiten, Sorge für regelmässigen Stuhl, dazu der Gebrauch
einer die bekannten Carminativa enthaltenden Medicin mit etwas Opium:
Aqua menth. Aqua foenicul^ Aqu. carminativa ää 30- 0, Tr. opii gtt. 1 — II
Syr. spl. lO'O M. I). S. 2 sidL; {Kaffeelößel) oder Ol. chamomillae, Tr. opii
spl. git. I — II, Sacch. lactis 10' 0, M. f. p. JD. ad scat. S. Messerspitzenioeise
1 — 2 stdl. Bei bestehender Dyspepsie ist auch die Anwendung von Calo-
mel im Beginne geboten. Im Anfalle selbst wird Compression und Erwär-
mung des Abdomens angenehm empfunden: Auflegen von heissen, mit
Camillen gefüllten Säckchen, Umschläge mit Kamillenthee,
Massage, laues Bad; ferner Einführen des Darmrohres, eines Seifen-
zäpfchens oder wiederholte Kamill enkly stiere, bis Entleerung erfolgt.
Ungleich wichtiger und bedeutsamer als diese grob anatomischen Ver-
hältnisse sind die feineren Unterschiede der histologischen Structur und Function,
welche zwischen dem Darmcanal des Säuglings und des Erwachsenen be-
stehen. Der Verdauungsapparat befindet sich zur Zeit der Geburt noch im
Stadium der Entwicklung, die erst gegen das vierte Lebensjahr hin in den
histologischen Details abgeschlossen scheint. Daraus erklärt sich die Zart-
heit der Wandungen, die leichtere Verletzlichkeit und geringere Leistungs-
fähigkeit des kindlichen Darmcanales ohne Weiteres. Jedoch sind nicht alle
Functionen in gleicher Weise rückständig. Während in Bezug auf Resorptions-
vermögen der Darmcanal des Säuglings denjenigen des Erwachsenen nicht nur
relativ, sondern sogar absolut übertrifft, besteht ein grosser Defect bezüglich
der Secretion und Leistung der Verdauungsenzyme, so dass dem Säugling keine
andere Nahrung als die ohne weitgehende, fermentative Umwandlung resor-
birbare Milch gereicht werden kann. Das einzige, sichere Kennzeichen, ob
VERDAUUNGSSTÖRUNGEN IM SÄUGLING SALTER. 1009
der Darmkanal eines Kindes diesen normalen Grad der Entwicklung erreicht
hat, vermögen wir darin zu erblicken, dass das Kind im Stande ist, die ihm
in entsprechender Quantität und Qualitcät dargebotene Milch — ich spreche
hier nur von der naturgemässen Ernährung mit Muttermilch ~ in normaler
Weise auszunützen. Ist dies nicht der Fall, erscheinen im Stuhle unverdaute
weisse Käse- und Fettflocken, so liegt eine functionelle Dyspepsie vor, die sich
bei Brustkindern, wenn sie sich überhaupt als lebensfähig erweisen, im wei-
teren Laufe der Entwicklung zumeist von selbst behebt.
Sehr viel schwieriger liegt die Frage bei den Kindern, welche von
vorneherein auf Kuhmilch angewiesen sind. Es ist eine durch tausendfältige
Erfahrung erwiesene Thatsache, dass auch die schwerer verdauliche Kuhmilch,
in entsprechender Weise verdünnt, von dem Verdauungstracte des Neugebore-
nen ertragen und ausgenützt wird. Allein es bedarf dazu, soll dies in einem
für das Nahrungsbedürfnis des Organismus ausreichendem Maasse geschehen,
jedenfalls einer grösseren Leistungsfähigkeit als dies bei Frauenmilchernäh-
rung nothwendig wäre. So ergiebt es sich, dass unter den künstlich genähr-
ten die Percentzahl derjeniger Säuglinge, welche die Milch, speciell das
Casein nicht oder nicht in genügender Weise auszunützen vermögen, eine
sehr viel grössere ist als bei den Brustkindern. Ja man könnte vielleicht
sagen, dass bei ganz jungen Säuglingen die Ausnützung der Kuhmilch nur
ausnahmsweise eine normale ist und dass in der weitaus grösseren Zahl der
Fälle ein Theil der Milchbestandtheile als „schädlicher Nahrungsrest" (Bie-
dert) den Darm durchwandert und verlässt.
Die Stühle dieser Kinder sind auffällig copiös und enthalten schon
makroskopisch sichtbare Milchbestandtheile, Casein und Fett, welch letzteres
dem Stuhle die hellgelbe, bisweilen geradezu weisse Farbe und fettige Con-
sistenz verleiht. Häufig kommt es dann auf den Windeln zu einer grünen
Verfärbung des anfangs weissen Stuhles. Die Darmsecrete treten bei uncom-
plicirten Fällen dieser chronischen, functionellen Dyspepsie ganz zurück. Häufig
besteht sogar Neigung zur Verstopfung.
Die nächste Folge dieses Zustandes ist natürlich die schlechtere Ent-
wicklung und geringere Körpergewichtszunahme dieser Kinder, die bis zur
hochgradigsten Atrophie fortschreiten kann, so dass schliesslich die er-
schreckenden Bilder der aus Haut und Knochen zusammengesetzten Kinder
mit greisenhaften Gesichtern und mächtig aufgetriebenem Bauche resultiren
(Paidatrophie). Noch schlimmer sind die Wirkungen auf den Darmkanal
selbst, der durch den Nahrungsballast beschwert und gereizt wird. Zugleich
wird dadurch eine gefährliche Disposition für die Entwicklung der gleich zu
besprechenden abnormen Zersetzungen des Darminhaltes geschafien, an die
dann das ganze Heer der Darmkatarrhe und ihrer Folgezustände sich an-
schliesst. Eine packende, lebendige Schilderung dieser Vorgänge findet sich
in dem Werke Paerot's über ^.AtJirepsie'-'- .
Die Therapie dieser chronischen, functionellen Dyspepsie fällt zusammen
mit der Ernährung im Säuglingsalter, wie sie in Bd. L S. GOl abgehandelt
ist. Die Kegeln der künstlichen Ernährung bezwecken ja nichts anderes als
eben die Unterschiede und Nachtheile der Kuhmilch gegenüber der Muttermilch
nach Möglichkeit auszugleichen. Hier wäre insbesondere an die so noth-
wendige Beschränkung in Menge und Volumen, sowie an die Versuche zu
erinnern, das Kuhcasein in eine leichter verdauliche Form überzuführen:
Voltmer's peptonisirte Milch und das Pankreas-Milchpulver von Th. Timpe
in Magdeburg. — Ausgehend von dem neuerdings constatirten Mangel an Salz-
säure im Säuglingsmagen habe ich in jüngster Zeit mehrfach Zusatz von ver-
dünnter Salzsäure zur Milch, unmittelbar vor dem Trinken mit gutem Erfolge
angew^andt.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III, 04
1010 VERDAUUNGSSTÖRUNGEN IM SÄUGLINGSALTER.
II. Alimentäre Dyspepsie.
Dieselbe verläuft je nach der Art der Ernährung verschieden, und so
ergiebt sich die natürliche Gruppirung in solche Kinder, die an der Brust, in
solche, die mit Kuhmilch, und solche, die mit amylumhaltiger Nahrung auf-
gezogen werden. Die Schädlichkeiten der Nahrung selbst können wieder be-
ruhen in der Zusammensetzung derselben, d. i. also chemischer, oder in den
Veränderungen, welche sie durch die Einwirkung von Spaltpilzen erleiden,
d. i. also bakterieller Natur sein. Die letzteren werden, je nachdem die
Zersetzungen ausserhalb oder erst innerhalb des Darmrohres erfolgen, in
ektogene und endogene unterschieden. (Vergl. Escherich: Die Patho-
genese der bakteriellen Magen-Darmerkrankungen. Wiener med. Presse 1889.)
Alimentäre Dyspepsie der Brustkinder.
Das Stillvermögen der Frauen ist quantitativ wie qualitativ in raschem
Rückgange begriffen, und so erklärt es sich, dass gerade beim Brustkinde
Fehler der chemischen Zusammensetzung der Milch relativ häufig Veran-
lassung zu Verdauungsstörungen geben. Dazu kommt, dass die Art der
Nahrung, Medicamente, Gemüthszustand, körperliche Erkrankungen, Men-
struation u. a. m. die Beschaffenheit der Milch zweifelsohne beeinflussen,
wenngleich man in neuester Zeit bemüht ist, diese Momente, sowie die
percentische Zusammensetzung überhaupt als irrelevant hinzustellen. Die
Kriterien einer guten, zur Säuglingsernährung geeigneten Milch sind in dem
Capitel: Ammenwahl Bd. I. S. 39 angeführt. Damit ist auch die Therapie
einer durch den Genuss schlechter Frauenmilch hervorgerufenen Störung
gegeben.
Da die Frauenmilch in sterilem oder nahezu sterilem Zustande getrun-
ken wird, so können nur die endogenen Gährungsdyspepsien in Betracht
kommen. Thatsächlich findet man nicht so selten bei etwas älteren Säuglin-
gen, zumal wenn sie an der Brust einer milchreichen Amme sich kräftig ent-
wickelt haben, Anzeichen einer zunächst noch auf den Magen beschränkten
saueren Dyspepsie: Aufstossen, Erbrechen topfiger Milch längere Zeit nach
der Mahlzeit, saurer Geruch aus dem Munde etc. Hier ist zumeist Ueber-
fütterung und allzuhäufiges, unregelmässiges Trinken die Ursache. Etwas
Hungernlassen, Beschränkung und Regelung der Mahlzeiten, Acidum muria-
tium oder Acidum lacticum vor der Mahlzeit sind meist genügend zur Besei-
tigung.
Die Gährungsdyspepsien des Dünndarmes entstehen zum
grössten Theile durch Fortsetzung der Magengährung auf den Dünndarm,
wobei sich dann die Erscheinungen an die schon vorhandenen Symptome der
Magenerkrankung anschliessen. Sehr viel stürmischer verlaufen dieselben,
wenn es zu einer primären, endogenen Gährungsdyspepsie kommt, wie sie
beispielsweise durch anaerobe Bacterien, welche erst im Darme die Bedingungen
für ihre Entwicklung finden, hervorgebracht wird. Endlich kann noch eine
Steigerung der normalen, durch das Bact. lactis aerogenes unterhaltenen
Gährung dyspeptische Erscheinungen hervorrufen. Dieselben äussern sich
durch stark seröse, wie aus einer Spritze mit gleichzeitigem Gasabgang ent-
leerte Stühle. Sie bestehen aus unverdauten, weissen Käsebrocken, suspendirt
in einer trüben Flüssigkeit. Die letztere reagirt zumeist stark sauer, bisweilen
ist ein deutlicher Geruch nach Buttersäure vorhanden; enthält wenig Schleim,
einzelne Epithelzellen, Leukocyten und eine vom Normalen deutlich abwei-
chende Bacterienvegetation, indem eben das die abnorme Gährung veran-
lassende Bacterium in ganz überwiegender Menge angetroffen wird. Die
Stühle wiederholen sich nach Art der Dünndarmstühle nicht allzuoft, sind
aber jedesmal mit starken Wasser- und Nahrungsverlusten für das Kind ver-
bunden. Dabei ist das Abdomen aufgetrieben, Leibschmerzen und Blähungen
VERDAUUNGSSTÖRUNGEN IM SÄUGLINGSALTER. 1011
sind die regelmässigen Begleiter. Es ist das Bild der von den älteren Autoren
so genannten Diarrhoea acida^ die freilich, je heftiger die Erscheinungen, um
so früher, wenn nicht sofort die entsprechende Behandlung eingeleitet wird,
in einen acuten Darmkatarrh überzugehen pflegt.
Die Behandlung richtet sich gegen die bestehende Gährung, die aus
Gründen, die ich seinerzeit (1. c.) auseinandergesetzt habe, stets eine sauere,
d. h. durch bacterielle Spaltung des Milchzuckers entstandene, ist. Es handelt
sich also in erster Linie darum, die gährenden Massen aus dem Darme zu ent-
fernen. Es geschieht dies am zweckmässigsten durch Calomel (0*005 — 0*02^
nach dem Alter des Kindes), zweistündlich bis zur Entleerung eines oder
mehrerer Milchstühle verabreicht. Es wird damit zugleich eine gewisse des-
inficirende Wirkung auf den Darminhalt ausgeübt. Andere geben Ol. ricini
mit Besorcin. Zugleich wird die Nahrung auf 6 — 12 Stunden ausgesetzt, an
deren Stelle schwacher russischer Thee mit ein paar Tropfen Cognac oder
Rollgersten- oder Eeiswasser gereicht. Nach dieser Hungerperiode kann das
Kind wieder auf kurze Zeit und in langen Zwischenräumen angelegt werden,
wobei die ausfallenden Mahlzeiten durch Thee oder Reisschleim ersetzt werden.
Zur Milderung des Reizzustandes wird zweistündlich eine Wismuthmixtur
(Bismuth. salicyl. 5:100 Aqu., Mucilago Gummi und Syr. spl. aa. 10- 0) gereicht.
Die Prognose dieser Zufälle ist bei Brustkindern und sofortiger energischer
Behandlung günstig, wenngleich das Körpergewicht in wenigen Tagen sehr
zurückgeht; sehr viel weniger günstig verlaufen diese Dyspepsien bei Kuh-
milchkindern, insoferne hier eine sehr viel grössere Neigung besteht, in den
Zustand des Katarrhs überzugehen.
Alimentäre Dyspepsie der mit Kuhmilch ernährten Kinder.
Die Kuhmilch stellt, auch wenn sie in tadelloser Qualität gereicht mrd,
gegenüber dem geringen Verdaungsvermögen vieler Säuglinge schon an und
für sich eine Noxe dar, wie dies bei Besprechung der functionellen Dyspepsie
bereits ausgeführt wurde. Hier ist nur von jenen Schädlichkeiten die Rede,
welche durch eine Abweichung von der normalen Beschafienheit und Zu-
sammensetzung der Kuhmilch, also durch sogenannte Milchfehler bedingt
sind. Auch hierin kann auf das Capitel über Ernährung der Säuglinge
verwiesen werden.
Die häufigsten und praktisch wichtigsten Veränderungen der Kuhmilch
werden durch bacterielle Zersetzungen hervorgebracht, und zwar spielen hier
im Gegensatze zur Frauenmilch die ektogenen Zersetzungen die weitaus grössere
und bedeutsamere Rolle. Die Infection mit zahllosen Spaltpilzen erfolgt, wie
ich in einer gemeinsam mit Cnopf ausgeführten Untersuchungsreihe festgestellt
(Verh. der Gesellschaft für Kinderheilkunde in Heidelberg 1889), schon un-
mittelbar nach dem Verlassen des Euters. In der Zeit, die bis zur Ablieferung
der Milch ins Haus des Consumenten verstreicht, hat die Zahl der Spaltpilze
pro cm^ 100.000 bis 1 Million, bei schlecht gehaltener Milch ein Vielfaches
dieser Zahl erreicht. Unter diesen finden sich nur ausnahmsweise eigentlich
pathogene Bacterien (Tuberkelbacillen, Streptococcen etc.), und auch diesen
kommt in der Regel keine grössere Bedeutung zu, da sie sich in der Milch
nicht vermehren und durch das übliche Kochen mit Sicherheit getödtet wer-
den. Die weitaus grösste Zahl gehört den saccharolytischen Arten an, welche
den Milchzucker unter Bildung von organischen Säuren vergähren und dadurch
die sogenannte Spontangerinnung der Kuhmilch herbeiführen. In jeder Milch
findet sich ausserdem eine gewisse Anzahl der sog. peptonisirenden oder pro-
teolytischen Bacillen, auf deren Bedeutung als Toxinbildner Flügge neuerdings
die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Die Thätigkeit derselben in der frischen
Milch sistirt jedoch alsbald unter dem Einflüsse der von Saccharolyten ge-
bildeten Säuren, die schliesslich allein das Feld beherrschen. Ausser diesen
64*
1012 VERDAUUNGSSTÖRUNGEN IM SÄUGLINGSALTER.
giebt es natürlich noch eine Anzahl indifferenter Milchbacterien, denen keine
stärkere Gährwirkung zuzukommen scheint. Es sind dies vorwiegend die
Coccenarten, während die früher genannten Bacterien den Kurzstäbchen und
Bacillen angehören.
Die Art dieser in der frischen Milch ablaufenden Gährungen zeigt nun
grosse quantitative und qualitative Unterschiede je nach der Temperatur, in
der sich die Milch befindet. Soxhlet hat gezeigt, um wie viel rascher auch
eine reinlich gemolkene Milch zur Gerinnung kommt, wenn sie bei höherer
Temperatur (20 — 30° Celsius) gehalten v^^ird, und meine eigenen Untersuchungen
haben erwiesen, dass nicht nur die Zahl, sondern auch die Art der Bacterien
und ihre Stoffwechselprodukte verschieden sind bei kühler und bei sehr
warmer "Witterung. Die Milch nimmt im letzteren Falle toxische Eigen-
schaften an. Daraus erklärt sich zur Genüge der schädliche Einfluss der
hohen Sommertemperaturen auf die Säuglinge, insbesondere diejenigen, die
mit einer von weit hergebrachten Kuhmilch ernährt werden.
Eine besondere Art der Zersetzung erleidet die Milch, wenn sie auf
hohe Temperaturen erhitzt und dann unter pilzdichtem Verschlusse weiter
aufbewahrt wird, wie dies im Soxhletapparat, sowie bei der sogenannten
Dauermilch geschieht. Durch die Siedetemperatur werden alle Bacterien ge-
tödtet; es bleiben nur die widerstandsfähigen Sporen der proteolytischen Ba-
cillen zurück, die nun die ihnen zukommende Zersetzung des Käsestoff'es be-
ginnen. Auch dadurch erhält die Milch unter Umständen toxische Eigen-
schaften, die jedoch nicht gerade durch Abbau des Eiweissmoleküles zu ent-
stehen brauchen, sondern, wie eine neuerdings erschienene Arbeit von Lübbeet
zeigt, an die Bacterienleiber selbst gebunden sein kann.
Die vorstehenden Ausführungen zeigen, wie mannigfaltig die Zer-
setzungen sein können, welche die Milch in der Zeit, bis sie ins Haus, resp.
zum Genüsse des Säuglings kommt, erleidet. Dementsprechend erscheint der
Symptomencomplex, der nach Einführung der ektogen zersetzten Milch auf-
tritt, ziemlich wechselnd. Erbrechen, sofort oder einige Zeit nach dem Trin-
ken, wobei unverdaute und sauer riechende Milchreste entleert werden, Ueblich-
keit, Mattigkeit, Appetitlosigkeit; in vielen Fällen noch seröse, dyspeptische
Stühle als Zeichen, dass ein Theil der Milch auch den Darmcanal gereizt
hatte, bisweilen auch plötzliche Temperatursteigerung und Convulsionen. Der
Brechreiz hält meist durch längere Zeit an, so dass durch einige Stunden jede
Nahrung, insbesondere aber Milch, erbrochen wird. Die schwersten Fälle der
ektogenen Intoxication, die mit ausgesprochener nervöser Depression und
Collapserscheinungen einhergehen und zumeist tödlich enden, werden als
Cholera infantum bezeichnet und sind unter „Bi"echdurchfall der Säug-
linge" in Bd. IS. 189 d. W. nachzusehen.
Bei nicht allzuheftiger Reizung und richtiger Behandlung kann die
Störung in kurzer Zeit vorübergehen; wirken jedoch die Schädlichkeiten sehr
intensiv oder wiederholt ein, so kommt es zu entzündlichen Veränderungen
der Schleimhaut und damit zum acuten Gastrointestinalkatarrh.
Die Prophylaxe der Erkrankung fällt zusammen mit den Vorschriften
über Sterilisirung der Kuhmilch.
Die Therapie muss in erster Linie Entfernung der toxischen Massen an-
streben. Finden sich trotz des Erbrechens noch Milchreste im Magen, so findet
hier die Magenspülung ihre wichtigste Indication; die Entleerung des Darmes
geschieht mittels Calomels. Die wirksamste Bekämpfung des ursächlichen Gäh-
rungsprocesses besteht jedoch in der Entziehung des gährfähigen Materiales,
des absoluten Verbotes von Milch, sowie zuckerhaltiger Nahrung. Dagegen sind
eiweisshaltige Substanzen (Eiweisswasser, Kalbsknochenbrühe), indiö'erente
Getränke (russischer Thee), bei älteren Kindern auch dünne Abkochungen von
Pteis und Rollgerste erlaubt. Den Uebergang zur Milchnahrung lasse ich
VERDAUUNGSSTÖRUNGEN IM SÄUGLINGSALTER. 1013
bei Kindern jenseits des ersten Lebensmonates mit ganz dünn mit Wasser
eingekochten Kindermehlen vornehmen, denen dann allmählich je nach der
Toleranz des Darmes Milch zugemischt wird. Medikamente: Wismuth wie oben,
Taningen.
Die endogenen Gährungen der mit Kuhmilch genährten Kinder stellen
zumeist nichts anderes dar als die Fortsetzung der ausserhalb begonnenen
Zersetzungen. Der von mir (1. c.) hervorgehobene Umstand der fast voll-
ständigen Bindung der Magensalzsäure durch die reichlich vorhandenen Kalk-
salze begünstigt das Eindringen lebender Mikroorganismen in den Darmtract
der künstlich genährten Kinder, da hiedurch die desinficirende Fähigkeit des
Magensaftes behindert, ja völlig aufgehoben wird.
Die durch Mageng ährung hervorgerufene Dyspepsie kann plötzlic h
beginnen im Anschlüsse an eine durch den Genuss zersetzter Milch hervor-
gerufene Störung. Die Entleerung des Magens ist auch bei wiederholtem
Brechen keine vollständige und so wird die in den Magen eingeführte Milch
stets von Neuem in den Gährungsprocess hineingerissen. Oder sie entsteht
langsam, schleichend, in ähnlicher Weise wie bei den Brustkindern durch un-
regelmässige und übermässige Zufuhr von Milch. Gelegentliches Erbrechen
topfiger Milch, saurer Geruch aus dem Munde, Aufstossen, Singultus, Appetit-
losigkeit, Aufgetriehensein der Magengegend sind die gewöhnlichen Anzeichen.
Auch bei den Gährungsdyspepsien des Darmes überwiegen die-
jenigen Formen, die im Anschlüsse an schon bestehende Magengährungen sich
einstellen. In vielen Fällen scheint es sich einfach um die chemische Rei-
zung der Darmschleimhaut durch die Berührung mit dem veränderten Inhalte
des Magens zu handeln, oder um eine directe Fortsetzung derselben. Sel-
tener kommt es zur Entwicklung primärer Gährungsdyspepsien, wie sie bei
Brustkindern erwähnt wurden.
Therapeutisch gelten die dort aufgestellten Regeln mit der Erweiterung,
dass hier, w^o die Rücksicht auf das Versiegen der Brustdrüsensecretion weg-
fällt, die Sistirung der Milchzufuhr, resp. des Zuckers noch länger ausgehalten
werden kann und soll. Die Rückkehr zur Milch muss besonders vorsichtig
und unter genauer Controlle der Stühle geschehen.
Aus den dyspeptischen Zuständen heraus bei längerer, wiederholter, bis-
weilen aber auch noch ganz kurzer Einwirkung des toxisch wirkenden Darm-
inhaltes entsteht die Mehrzahl der
III. Entzündliche Erkrankungen des A^erdauungstractes im
Säuglingsalter.
Dieselben sind klinisch dadurch charakterisirt, dass die functionellen
Störungen eine gewisse Selbständigkeit erlangen und unabhängig von dem
ursprünglich einwirkenden chemischen Reize fortdauern.
Gleichzeitig erscheinen in den Ausleerungen abnorme Mengen unverän-
derten Schleimes, sowie bei den höheren Graden weisse und rothe Blut-
körperchen, sowie Epithelzellen. Der leichtere Grad der Entzündung wird als
Katarrh, der höhere als Entzündung, Enteritis bezeichnet. Bei beiden
werden anatomische Veränderungen der Darmschleimhaut gefunden, die sich
makroskopisch als Injection, Quellung und feine Granulirung der Schleimhaut,
Schwellung und Infiltration der Follikel darstellen. Die mikroskopische
Untersuchung zeigt das Epithel der Oberfläche vielfach abgestossen, das
Stützgewebe zwischen den Drüsen zellig infiltrirt, die Drüsen selbst zum Theil
fehlend, durch Anhäufung von Rundzellen ersetzt, ihre Zellen zum Theil
cystisch degenerirt. In der Submucosa besteht meist nur mächtige Schwellung
der Follikel, Ausdehnung der Gefässe. Die Solitärfollikel des Dickdarmes
durchbrechen vielfach die Mucosa und bilden kleine kraterförmige Ge-
1014 VERDAUUNGSSTÖRUNGEN IM SÄUGLINGSALTER.
sdiwürchen, durch welche sich der zellige Inhalt unter Hinterlassung einer
pigmentirten Narbe entleert.
Die entzündlichen Zustände werden nach ihrer Localisation und nach
ihrem Verlaufe eingetheilt.
Wie schon oben mitgetheilt, theilen die auf den Magen einwirkenden
Reize sich meist auch den oberen Partien des Dünndarmes mit, so dass
isolirte Magenerkrankungen auf dyspeptischer Grundlage nur selten beobachtet
werden. Die Autoren gehen jedoch zu weit, wenn sie das Vorkommen der-
selben überhaupt in Abrede stellen. Ich habe allerdings nur bei älteren
Säuglingen typische abnorme Gährungsprocesse mit Katarrh und Ausdehnung
durch längere Zeit verfolgt und dauernd auf den Magen beschränkt gesehen;
der Stuhl war dabei wie bei der Gastrektasie der Erwachsenen spärlich, zu
Verstopfung neigend. In der weitaus grösseren Zahl der Fälle finden wir die
Magenerkrankung als Theilerscheinung eines Gastro- intestinalkatarrhes, dessen
Symptomatologie und Behandlung unter Brechdurchfall abgehandelt ist.
Die weitaus grösste Zahl der Verdauungsstörungen im Säuglingsalter
entwickelt sich auf dem Boden der Dyspepsie. Es mag dahingestellt bleiben,
ob und in wie weit noch andere Ursachen, wie Erkältung, Zahnung, Parasiten
im Stande sind, primäre, d. h. ohne dyspeptisches Vorstadium entstandene
Darmkatarrhe zu erzeugen. Hingegen kennen wir eine Reihe wohlcharakteri-
sirter Krankheitsbilder, welche sich dadurch, dass sie durch specifische Ursachen
hervorgerufen sind oder in ausgesprochen endemischer oder epidemischer
Form auftreten, als selbständige Infectionskrankheiten ausweisen. Es sind
dies der Soor, Cholera infantum, eine Form der acuten Enteritis
mit Schwellung und Geschwürsbildung der PEYER'schen Haufen und die E n-
teritis follicularis, denen sich dann noch die durch die Ansiedlung
thierischer Parasiten im Darmkanal hervorgerufenen Störungen anreihen.
Hierher gehören auch die aus der Pathologie des Erwachsenen bekannten
Darminfectionen: Typhus abdominalis und Cholera asiatica, denen
sich neuerlich noch eine Streptococcen-Enteritis (Tavel) zugesellt hat.
Betreffs der letzteren sei auf die einschlägigen Artikel des Werkes verwiesen.
Der Soor wird in der Regel als eine häufige, relativ harmlose, örtliche
Erkrankung der Mundhöhle und des Rachens betrachtet, der nur ausnahms-
weise den Oesophagus und Magen, fast niemals die Darmschleimhaut befällt.
Erst in den letzten Jahren ist man wieder darauf aufmerksam geworden, dass
er als Gewebsparasit auch in die tieferen Schichten, ja in die Blutgefässe ein-
dringen kann. Der Grund, weshalb ich den Soor an dieser Stelle anführe,
liegt nicht in den örtlichen Veränderungen, die er durch seine Ansiedlung
hervorruft, sondern in seiner Bedeutung als Gährungserreger, auf die insbe-
sondere von Plaut hingewiesen worden ist. Es ist bekannt, dass der Soor
sich häufig bei Säuglingen mit gestörter Verdauung findet. Der Zusammen-
hang wird in der Regel so aufgefasst, dass die Verdauungsstörung die An-
siedlung des Soores begünstigt. Ich möchte jedoch glauben, dass auch der
umgekehrte Fall eintreten kann und die mit der Milchnahrung verschluckten
Pilzmassen eine Gährung im Darme hervorrufen, welche zur Dyspepsie und in
der Regel rasch zu entzündlichen Erkrankungen Veranlassung geben.
Die Diagnose der Soorenteritis ergiebt sich aus dem Nachweise
reichlicher Soormassen im diarrhoischen Stuhle. Dass es sich dabei nicht nur
um verschluckte Pilze handelt, geht aus dem Umstände hervor, dass diesel-
ben noch vorhanden sein können, wenn der Soor schon von allen sichtbaren
Schleimhäuten entfernt ist.
Die Therapie fällt mit derjenigen der Gährungsdyspepsie zusammen.
Oertlich pflegen wir sorgfältige Entfernung der Soormassen und Bepinselung
mit 27o HöllensteinlösuDg; innerlich Resorcin in P/o Lösung anzuwenden.
VERDAUUNGSSTÖRUNGEN IM SÄUGLINGSALTER. 1015
Die Cholera infantum ist bereits in dem mehrfach erwähnten Artikel
von Pott (Bd.I,pag. 189) abgehandelt; ich will hier nur mit einigen Worten dar-
auf eingehen, weshalb ich die Erkrankung an dieser Stelle nochmals anführe;
obgleich ich nicht im Stande bin, einen specifischen Pilz als Erreger der-
selben zu bezeichnen. Es bedarf da vor Allem einer genaueren Begriffs-
bestimmung. Das Wort Cholera infantum, synonym mit Suynmer-complaint,
wurde zuerst von den amerikanischen Paediatern zur Bezeichnung jener
schweren, unter Collapserscheinungen rasch tödlich verlaufenden Brechdurch-
fälle gebraucht, welche in den dort abnorm heissen Sommermonaten die
Säuglingswelt der Grosstädte decimiren. Der Ausdruck wurde von den fran-
zösischen und deutschen Autoren angenommen, die Begriffsbestimmung jedoch
dahin erweitert, dass darunter alle jene Magendarmkatarrhe zusammengefasst
■wurden, welche durch besondere Intensität der Erscheinungen, acutesten Ver-
lauf und raschen Eintritt des CoUapses ausgezeichnet sind, insbesondere dann,
wenn diese in irgend einer Form endemisch oder epidemisch auftreten. Es
ist einleuchtend, dass in den Rahmen dieser Definition ätiologisch sehr ver-
schiedene Krankheitsbilder fallen. So sprechen beispielsweise auch die an
Findelhäusern thätigen Aerzte von einer in der kalten Jahreszeit epidemisch
auftretenden Cholera infantum der Ammenkinder, obgleich es sich hier doch
sicherlich um Zustände handelt, die von den ursprünglich mit diesem Wort
bezeichneten toto coelo verschieden sind. Um diese zunehmende Verwirrung
und Willkürlichkeit im Gebrauche eines nun einmal eingebürgerten Wortes
zu beseitigen, schlage ich vor, das Wort Cholera infantum nur in seinem
ursprünglichen, engsten Sinne zu gebrauchen und nur jene Fälle damit zu
bezeichnen, in welchen ein acutester, mit schwerenCollapser schei-
nungen einhergehender Brechdurchfall im Anschlüsse an den
Genuss einer bei zu hoher Temperatur aufbewahrten zersetz-
ten Milch entstanden ist. Die Cholera infantum wäre darnach als eine
Intoxication durch ektogen zersetzte Milch zu betrachten. Die Differential-
diagnose gegenüber der gewöhnlichen alimentären Dyspepsie der Kuhmilch-
kinder (s. oben) ist in dem acuten Verlaufe und den schweren begleitenden
Allgemeinerscheinungen, insbesondere dem Collaps gelegen.
Die Enteritis follicularis, zu unterscheiden von den durch Fortschreiten
einer Darmreizung oder durch Genuss unzweckmässiger Nahrung entstan-
denen Dickdarmkatarrh (Bd. I S. 562), stellt sich trotz der ausgesprochenen
örtlichen Krankheitserscheinungen durch den regelmässigen Beginn mit Fieber
und das epidemische Auftreten als eine echte Infectionskrankheit dar. Be-
trifft vorzugsweise Kinder in der zweiten Hälfte des ersten Jahres bis zum
dritten Jahre hinauf, kommt jedoch auch bei jüngeren und älteren Kindern
vor. In Bezug auf die Jahreszeit schleppt sie der Cholera infantum nach.
Sie tritt insbesondere im Herbst und Frühjahr bald sporadisch, bald in Haus-
epidemien, namentlich in Spitälern auf. So hatte ich verflossenen Winter
Gelegenheit, eine solche Epidemie in meiner Klinik zu beobachten, welche
fast alle Kinder der oben genannten Altersklasse ergriff.
Pathologisch-anatomisch stellt sie sich dar als eine primäre Erkrankung
der Follikel des Dickdarmes, welche mächtig anschwellen, bersten und ver-
eitern. Die dazwischen liegende Schleimhaut ist lebhaft entzündet, geschwellt,
der ganze Darm ödematös verdickt. Bisweilen sind auch noch die untersten
Partien des Dünndarmes mit ihren Plaques in den Process einbezogen. In
schweren Fällen greift die Verschwärung auch auf die zwischenliegende
Schleimhaut über und erzeugt grosse, buchtig - zackige Defecte, die oft mit
missfarbenen Auflagerungen bedeckt sind. Stets sind gleichzeitig die Mesen-
terialdrüsen geschwellt und geröthet.
Kommt es zur Ausheilung, so kann die Schleimhaut in den Zustand
des chronischen Katarrhs mit Verdickung und Hypertrophie übergehen. An
1016 VERSTOPFUNG.
Stelle der vereiterten Follikel erscheinen dünne, bräunlich pigmentirte, runde
Karben; nur bei sehr ausgedehnter Ulceration kann es zu Narbenbildung und
Stricturen im Dickdarme kommen. Die Natur des Contagiums und die Art
seiner Verbreitung sind noch vollständig dunkel.
Das klinische Krankheitsbild ist in meisterhafter Weise von Wider-
HOFEE geschildert worden. Inmitten voller Gesundheit erkrankt das Kind
mit Fieber, das 40° und mehr erreichen kann. Kurze Zeit nachher stellen
sich blutig-schleimige Dejectionen ein, die unter Tenesmus entleert werden.
Die Zahl der Ausleerungen kann 20 — 30 pro die erreichen, ohne dass Er-
scheinungen von Exsiccation oder auch nur ein besonderer Verfall und
Abmagerung des Kindes wahrnehmbar sind. Die meisten Stühle bestehen
eben aus geringen Mengen gallig gefärbten, glasigen, froschlaichartigen
Schleimes, der mit grauen Eiterpartickeln und hellrothen Blutpunkten durch-
setzt ist; dazwischen hin und wieder ein mehr weniger gut verdauter, kothiger
Stuhl aus dem Dünndarme. Die Kinder sind dabei bald unruhig, von Kolik
geplagt, bald apathisch, die Haut blass, pappig, das Abdomen eingesunken,
das Colon in der linken Fossa iliaca nicht selten als härtlicher Strang fühlbar.
Magenstörungen fehlen zumeist, doch kommt ein- oder mehrmaliges Erbrechen
im Beginne vor; Appetit fehlt. Die acuten Erscheinungen, sowie das Fieber
gehen in den nächsten Tagen etwas zurüc|i:; in den schweren Fällen folgt
ledoch darauf eine neuerliche Verschlimmerung aller Symptome, die wohl
einem Fortschreiten des Processes im Darmrohre entspricht. Jüngere, zarte
Kinder können diesen wiederholten Attaquen erliegen. Ist dies nicht der
Fall, so geht zuerst das Fieber in stafielförmigem Abfall zurück, dann ver-
mindert sich die Zahl und der Blutgehalt der Stühle, aber auch in der Kecon-
valescenz droht noch die Gefahr des Hydrocephaloids, der Nephritis, Cysti-
tis oder complicirender Bronchitis und Pneumonie. Nur sehr langsam stellt
sich der frühere Ernährungszustand wieder her. Die Kinder bleiben auf-
fällig lange blass und mager.
Die leichteren Attaquen, die namentlich bei älteren Kindern beobachtet
werden, machen nur eine rasch vorübergehende Temperatur Steigerung und
schleimige Diarrhöen.
Die Prognose ist im Allgemeinen günstig, doch kann bei jungen
Kindern immerhin schon ein Todesfall im acuten Stadium eintreten. Dagegen
ist die Zahl derjenigen, welche den erwähnten Nachkrankheiten erliegen, keine
so geringe; insbesondere gilt von dies von den im Spitale entstandenen Fällen.
Therapeutisch kann man im Beginne eine vorsichtige Darmspülung mit
1% Tanninlösung, später Stärkekly stiere mit Opium, bei starkem Blutgehalte
auch mit Höllenstein, versuchen. Das Fieber kann, wenn es nothwendig, durch
Chininum tannicum und Priessnitz-Binden bekämpft werden. Als Nähr- und Heil-
mittel zugleich wende ich, dem Rathe Wideehofer's folgend, die LiEBiG'sche
Milch-Malzsuppe an, anfangs verdünnt mit der Hälfte Wassers. Gegen die
nach Abklingen der acuten Erscheinungen noch andauernde abnorme Schleim-
absonderung hat sich launigen, bei andauernder entzündlicher Reizung Wis-
miith oder gerhsaures Chinin bewährt. escherich.
Verstopfung. Unter Obstipation {Stuhlträgheit , Hartleibigkeit) versteht
man gewöhnlich eine Verzögerung der Stuhlentleerung, wobei man als fest-
stehend annimmt, dass der gesunde Mensch innerhalb von 24 Stunden min-
destens einmal Stuhlgang haben müsse. Wir können uns dieser Definition nicht
ohne weiters anschliessen, da in ihr das persönliche Moment fehlt. Und doch ist
dies gerade heutzutage, wo man es vergessen hat, dass es Krankheit ohne
Kranken nicht giebt, das Wichtigste. Den Kranken wieder in den Vorder-
grund zu stellen, sollte das Streben der Aerzte sein — denn nur dann wird die
„Krankheit" aus einem sinnlosen Wort zur Thatsache — wenn sie am Menschen
VERSTOPFUNG. 1017
in die Erscheinung tritt. Wir können daher, im Grunde genommen, überhaupt
nicht von „Verstopfung" an sich sprechen, sondern von Menschen, die ver-
stopft sind. Wir nennen aber den verstopft, dessen Stuhlentleerungen so
selten oder so gering oder so hart sind, dass ihm dadurch Beschwerden oder
Schaden zugefügt werden.
Haben wir erst einmal diese Grundlage geschahen, dass thatsächlich eine
„Krankheit" an sich nicht existirt, so können wir wohl zur bequemeren
Uebersicht den Ausdruck „Verstopfung" wieder aufnehmen. Allerdings müssen
wir uns dabei bewusst bleiben, dass wir leicht Missverständnisse herbeiführen
können. Die falschen Anschauungen der vom Menschen unabhängigen Krank-
heit sind jedoch in der Sprache zu fest eingewurzelt. Der Versuch, etwas
daran zu ändern, würde vorläufig scheitern, jedenfalls aber zu weit grösseren
Schwierigkeiten führen, als wenn wir uns dem allgemeinen Gebrauche fügen.
Eine gewisse Anzahl von den Erscheinungsformen der Verstopfung
scheiden wir aus, w^eil sie in anderen Artikeln des Sammelwerkes behandelt
werden, so die acut verlaufenden Fälle, die absoluten oder durch grobe me-
chanische Hindernisse bedingten Verstopfungen (Darmverschlingung, Bruch-
einklemmung, Geschwülste etc.). Wir beschränken uns darauf, einen kurzen
Ueberblick über die sogenannte chronische oder habituelle Verstopfung
zu geben, die in der häufigen und lang andauernden Wiederholung der ein-
zelnen Stuhlverhaltungen ihr charakteristisches Merkmal hat. Wir heben
dabei nur gewisse Punkte hervor. Welche Absicht uns bei dieser scheinbar
unvollständigen Form geleitet hat, ist leicht zu erkennen.
Die chronische Obstipation gehört zu den verbreitetsten Leiden. Man
wird kaum fehlgehen, wenn man bei weitaus der Mehrzahl der Kranken an-
nimmt, dass die Stuhlverhältnisse in Unordnung sind. W^enn man das be-
denkt, erscheint der Spott Molieres über die Purgierärzte doch etwas billig.
Die verhöhnten Leibreiniger hatten nicht so Unrecht, und gewiss war der alte
Hufeland mit seinem Grundsatze, „kalter Kopf, warme Füsse und offener
Leib" der Wahrheit weit näher als viele unserer angestaunten Kor}TDhäen.
Der unläugbare Erfolg, den gewisse Leute, wie Kühne etc. ab und zu haben,
ist nicht zum wenigsten darauf zurückzuführen, dass sie auf die oder jene
Weise den Augiasstall ausmisten, den die meisten Menschen mit sich herum-
tragen. Unsere vielgerühmte Statistik lässt uns freilich hier wie anderswo
vollständig im Stich, und man ist darauf angewiesen, nach Hörensagen zu ur-
theilen oder, wenn man dazu zu wenig gläubig ist, nach den eigenen Er-
fahrungen. Und die haben uns wenigstens gelehrt, dass es keinen Stand,
keinen Beruf, kein Gewerbe giebt, in dem nicht das Uebel der Hartleibigkeit
verbreitet wäre, dass es auf dem Lande so gut wie in der Stadt herrscht.
Nur die eine Thatsache springt in die Augen, dass weit mehr Frauen
als Männer an Verstopfung leiden, was theils durch die „Schamhaftigkeit"
oder vielmehr Prüderie des Weibes bedingt ist, theils durch mannigfache
Schädigungen, denen die Frau durch Sitte, Gewohnheit, Mode etc. ausge-
setzt ist. Im Allgemeinen waren bisher wenigstens die Säuglinge von dem
Leiden so gut wie frei. Seitdem die Hygiene uns jedoch mit den zahllosen,
künstlichen und halbverdauteii Kindermehlen und mit dem Soxhletapparat
beglückt hat, nimmt auch unter ihnen die Zahl der Hartleibler zu.
In der Aetiologie der Verstopfung begegnen wir denselben Schwierig-
keiten wie in der Definition. Unser Sprachgebrauch, oder besser gesagt, die
ärztliche „Ursachsucherei", die jetzt in dem Streben nach „causaler Behand-
lung" ihre fragwürdigen Triumphe feiert, hat über den vielen hygienischen
Lehrsätzen, Entdeckungen und Erfindungen uns ganz vergessen lassen, dass
neben den äusseren Schäden doch auch noch ein Mensch existirt, auf den die
Schäden treffen, und dass ohne dieses Menschenkind überhaupt keine Verstopfung
■eintreten kann. Der Mensch ist das Product seiner Lebensweise. Und da
1018 VERSTOPFUNG.
diese Lebensweise ungleich, rec'ht complicirt und unübersicMlich ist, so
muss man sich sagen, dass die Ursachen der Verstopfung im concreten
Falle auch recht variabel sind, und dass mit den üblichen Schlagwörtern
„Mangel an Bewegung, sesshafte Lebensweise etc." so gut wie gar nichts
gethan ist. Eine allgemeine Aetiologie aufzustellen, ist überhaupt nicht
möglich, weil das Leben auch unter den einfachsten Verhältnissen viel zu
bunt ist, um es ganz übersehen zu können. Wie falsch gerade solche Sätze,
wie „Mangel an Bewegung" etc. sind, davon kann sich jeder überzeugen,
der sich die Mühe giebt, unter die Bauern oder die Arbeiter zu gehen. Die
haben gewiss genug Bewegung, und doch leiden auch dort die Menschen mehr, als
man ahnt, an Stuhlträgheit. So einfach, wie man es sich nicht nur bei der Ver-
stopfung, sondern bei allen sogenannten Krankheiten mit den Ursachen gemacht
hat, liegt die Sache nicht. Die Natur ist nicht wissenschaftlich genug,
um exacte Experimente wie im Laboratorium anzustellen. Der Chemiker kann
wohl bis zu einem hohen Grade von Gewissheit annehmen, welche Reaction
bei einem Versuche eintreten wird. Wir praktischen Aerzte aber sind, wenn wir
ehrlich und nicht völlig blind sein wollen, ausser Stande zu sagen, durch
diese Ursache tritt jene Krankheit ein. Es mischt sich bei allen Experi-
menten der Natur ein räthselhafter Factor ein, den man bald „innere Ur-
sache", bald „Prädisposition", bald „individuelle Anlage" genannt hat, und
der uns eben immer wieder und wieder die Thatsache vor Augen führt, dass
die sogenannten „Krankheitsursachen" gar keine Ursachen sind, sondern es
erst durch den Menschen werden, oder vielmehr durch das Miteinanderwirken
aller Factoren, deren Product der Mensch ist. Wir müssen uns also immer
bewusst bleiben, dass eine Verstopfung nicht durch eine bestimmbare Ur-
sache hervorgerufen wird, sondern durch die gesammten Lebensverhältnisse
des Menschen.
Gehen wir von dieser Anschauung aus, so lassen sich allerdings einzelne
Factoren, gewissermaassen die ,, Grundlagen des Menschenlebens", herausgreifen
und bis zu einem bestimmten Grade in ihrer verstopfenden Wirkung beur-
theilen. Nur treten sie nicht für sich in Erscheinung, sondern stets in Ab-
hängigkeit von anderen mehr oder minder wichtigen Momenten.
In erster Linie kommt unter diesen Factoren der Inhalt des Darmes
in Betracht. Ebenso wie es keine Diarrhoe ohne Darminhalt giebt, so existirt
auch keine Verstopfung ohne ihn. Das Charakteristische der Obstipation ist ja
gerade, dass Stoffe im Darm längere oder kürzere Zeit zurückgehalten wer-
den, die rascher und gründlicher entleert werden müssten. Der Inhalt des
Darmes setzt sich nun, abgesehen von den Absonderungen des Darmcanals, im
Wesentlichen aus dem zusammen, was beim Essen und Trinken eingeführt
wird. In der Nahrungsaufnahme im weitesten Sinne des Wortes ist sicher das
wichtigste Moment zu suchen. Man weiss das ja schon seit undenklichen Zeiten,
und seit lange gelten bei Aerzten und Laien eine Reihe von Speisen und
Getränke, wie Reis, Rothwein, Hülsenfrüchte, Mehlspeisen etc. mit mehr
oder weniger Recht für verstopfend. Viel weniger hat man jedoch andere
Vorgänge berücksichtigt, die gewiss bei der Nahrungsaufnahme und ihren
Wirkungen auf die Darmthätigkeit eine grosse Rolle spielen. Die Mischung
der Speisen und Getränke, ihre Menge, die Zeit, Zahl und Grösse der ein-
zelnen Mahlzeiten, die Form, in der sie genossen werden, roh, gekocht oder
gebraten, die Art, wie die Nahrung einverleibt wird, ob sie gut oder schlecht
zerkaut und eingespeichelt wird etc., das alles sind Dinge, die eine weit
grössere Bedeutung haben, als man gemeinhin anerkennt. Die Wirkung des
Darminhaltes auf die Verstopfung lässt sich im concreten Falle meist sehr
sicher beurth eilen, namentlich aus dem Erfolge der Behandlung. Um so
schwieriger ist es, allgemeine Sätze aufzustellen, weil Ursache und Neben-
ursache, Wirkung und Nebenwirkung zu sehr ineinandergreifen und bald aus
VERSTOPFUNG. 1019
der Ursache die Wirkung, bald aus der Wirkung die Ursache wird. So viel
lässt sich jedoch ohne weiteres bestimmen, dass der Darminhalt direct und
auf Umwegen seine Wirkung entfalten kann und meist auch in dieser doppelten
Weise entfalten wird: direct dadurch, dass er mit oder ohne gewisse schwer
controlirbare Eigenschaften thermischer, chemischer, bakterieller Natur etc.
zu massenhaft ist und das Darmrohr, besonders den Mastdarm zu sehr er-
-weitert, oder dass er zu gering ist, um einen genügenden Reiz für die De-
fäcation abzugeben, oder schliesslich, dass er wegen seiner Härte nur schwer
und mit Schmerzen weiter getrieben und entleert werden kann; indirect da-
durch, dass er durch seine Masse, Bildung von Gasen, etc., kurz hauptsächlich
durch mechanische Einwirkungen auf Darm und Bauchwand, weiterhin aber
auch auf den gesammten Organismus zu Circulations- und Ernährungsstörungen
führt, die ihrerseits sich wiederum in einer mangelhaften Thätigkeit der
Nerven und Muskeln im Bauche documentiren.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem weiteren wichtigen Factor, der
Kleidung und Bedeckung des menschlichen Körpers. Auch hier handelt
es sich im wesentlichen um mechanische Einflüsse von Druck und Zug, wenn
auch nebenher diese oder jene anderweitige Eigenschaft mitspricht. Ohne
weiteres klar ist das bei einer ganzen Reihe von Kleidungsstücken, die einen
directen Druck auf Bauchwand, Darm und Darminhalt ausüben, wie beispiels-
weise das Corset, die engen Taillen, Rock- und Hosenbänder, Uniformen etc.
Dasselbe gilt aber auch — und hier kommen wir auf einen faulen Fleck
unserer praktischen Thätigkeit zu sprechen — von den Binden und Bandagen,
mit denen die ärztliche Welt kritiklos und kurzsichtig die Menschheit quält.
Es ist kaum auszudenken, welches Elend gerade durch die vielgerühmten,
mechanischen Hilfsmittel der Medicin bei Kranken und Gesunden angerichtet
worden ist und zwar Elend, das nicht nur in der doch verhältnismässig
noch harmlosen Verstopfung besteht, sondern nur zu oft völlig den Menschen
ruinirt. Für unsere speciellen Zwecke können wir leider nur die Einwirkung
dieser Dinge auf Darm und Darmthätigkeit in Betracht ziehen. Hier springt
es aber in die Augen, dass beispielsweise ein monate- und jahrelang getra-
genes Bruchband fast mit Nothwendigkeit zu allerlei Störungen in der Koth-
entleerung führen muss, und wem das nicht ohne weiteres einleuchtet, der
braucht sich nur ein einziges Mal die weitgehenden Muskelatrophien, die
Blutstörungen und Ernährungsstörungen in der Umgebung der Bruchbänder
anzusehen und zu überlegen, welche ausgedehnten Insulte vorangegangen
sein müssen und noch bestehen. Dasselbe ist natürlich auch bei allen übrigen
Druckwirkungen der Fall, wie sie durch Suspensorien, Gebärmutter- und
Afterpessarien, Nabel- oder Nierenbänder, Menstruationsbinden etc. herbei-
geführt werden. Neben diesen gewissermassen direct auf die Baucheingeweide
wirkenden Momenten kommen jedoch noch andere versteckte Eigenschaften
der Kleidung in Betracht. Ebenso wie die durch Corset etc. verursachten
Störungen in der Circulation und Ernährung des Bauches rückwirkende Kraft
auf die anderen Körpertheile ausüben, so ist auch unter gewissen Voraus-
setzungen dauernder Druck an entfernten Stellen des Rumpfes, Kopfes oder
der Gliedmaassen im Stande, die Darmthätigkeit zu schädigen, und es ist
durchaus keine Uebertreibung, wenn man den einschnürenden Strumpfbändern,
den engen und hohen Kragen, den Reitstiefeln, weiterhin den Gypsverbänden
etc. eine, wenn auch complicirte Einwirkung zuschreibt.
Als drittes, wichtiges Moment fügen wir dem vorhergehenden noch die
Thätigkeit des Menschen im allgemeinen Sinne, wie sie sich in Bewegung
und Ruhe äussert, hinzu. Beide haben gewiss einen grossen Einfluss auf
die Stuhlentleerung. Es ist ein alter Erfahrungssatz, — und die Begründung
dieses Satzes durch Reflexion Hesse sich unschwer finden — dass das Be-
harren in ein und derselben Stellung, sei es nun, welche es sei, im Laufe
1020 VERSTOPFUNG.
der Zeit und durch die Gewohnheit zur Stuhlträgheit führt. Von der so-
genannten „sitzenden Lebensweise" hört man überall reden, und der Mangel
an Bewegung wird nur zu häufig einseitig als Ursache der Verstopfung an-
gesehen. Kichtig ist es ja auch, dass man unter Umständen durch das lange
Sitzen verstopft werden kann, aber eben durch das lange Sitzen, nicht durch
das viele. Und nicht allein das Sitzen hat diese Wirkung, sondern auch das
Liegen, das Stehen, das Knieen, ja selbst das Gehen.
Der Satz, dass nicht das häufige Sitzen, Liegen, Stehen, Gehen etc. Ver-
stopfung hervorruft, sondern dass die Länge der Einwirkung dabei von Bedeutung
ist, stellt einen der Hauptgesichtspunkte für die Beurtheilung der Verstopfung,
sowie vieler anderer Leiden dar. Gerade Leute, die an sogenannte „gesunde"
Bewegung gewöhnt sind — gesund nennt der Mensch, der übrigens mit dieser
Bezeichnung völlig kritiklos um sich wirft, unter anderen solche Dinge,
denen er eine öffnende Wirkung zuschreibt, — wie Reiter, Ruderer, Veloci-
pedisten, Sportsleute aller Art, Fabriksarbeiter, Officiere, aber auch Gewohnheits-
spaziergänger etc., leiden nicht selten an erschreckender Stuhlträgheit. Darin
spricht sich recht deutlich die Thatsache aus^ vor der Aerzte und Laien
sich stets die Augen zuzuhalten scheinen, dass an sich nichts „gesund"
oder „ungesund" ist, und dass, was dem einen süss schmeckt, für den an-
deren bitter ist.
Mit der „Gewohnheit" tritt nun auch der vierte, wichtige Lebensfactor
an uns heran, den wir in unsere Betrachtung ziehen wollen, der psychische
Einfluss. Unsere „Cultur und Bildung" — das sind ja die Schlagwörter, die
man jetzt allerorten loben hört, obwohl man nicht recht begreift, was daran
lobenswert ist, haben es mit sich gebracht, dass die Menschen gar nicht
auf ihre Stuhlverhältnisse achten und so leben, als ob ihnen die Mutter
Natur eine Blechröhre statt eines Darmes mitgegeben hätte. Man hat in
unserer „raschlebenden" Zeit nicht mehr die Müsse, sich darum zu beküm-
mern, wie der Darm functionirt. Merkwürdig ist es aber doch. Zum
Essen hat man immer Zeit, auszuleeren, dazu fehlt sie. Und so wandeln denn
unsere Culturpächter herum als lebendige Spülichtfässer. Weit schlimmer
steht es noch mit den Frauen. Das verruchte Wort „es schickt sich nicht," das
so viel namenloses Elend über die Frauen und durch die Frauen über die
Menschheit gebracht hat, herrscht auch hier. W^enn es nicht anders geht,
wollen die zarten Mädchenblüten wenigstens darin Engel scheinen, dass sie
die natürlichsten Dinge als ihrer unwürdig abzulegen suchen. Und weil sie
nun leider nicht wie die kleinen Putten auf den Madonnenbildern ohne
das „Ziel der pädagogischen Bemühung" geboren sind, so suchen sie
wenigstens dieses schmutzige „Geschäft" nach Möglichkeit zu unterdrücken.
Schmutzig nennt ihr das, ihr reinen Frauen? Jawohl die Hände und das
Gesicht, vielleicht auch Rumpf und Füsse könnt ihr euch waschen, aber dass
der Darm auch gewaschen wird, das haltet ihr nicht für nöthig, dünkt euch
gar reinlich, wenn ihr wochenlang den Dreck mit euch herumschleppt. Wie
heisst es doch? „Oben hui, und unten pfui!"
Mit diesen ganz allgemeinen Andeutungen glauben wir die Aetiologie
der Verstopfung abbrechen zu können. Es sind die Momente, die, wie wir
später sehen werden, auch in der Behandlung wieder in den Vordergrund
geschoben werden müssen. Gewiss würde es leicht sein, Bände über Aetiologie
der Obstipation zu schreiben, und es wird darin ja auch allerseits genug ge-
leistet. Aber wir würden uns, wenn wir weiter in diese Fragen eintreten
wollten, in das Unendliche verlieren, denn thatsächlich kann unter Um-
ständen alles, was an den Menschen herantritt, Verstopfung verursachen, unter
anderen Umständen nichts. Ausschlaggebend ist dabei, wie wir nochmals be-
tonen, der Mensch als Product seiner Lebensverhältnisse. Aber es ist Sache
des Arztes, als Künstler zu forschen und zu bestimmen, welche Factoren im
VERSTOPFUNG. 1021
einzelnen Falle die Verstopfung herbeigeführt haben. Für unsere Zwecke ge-
nügte es, das zu erwähnen, was zum Verständnis der allgemeinen Behandlung
unumgänglich nothwendig ist.
Nachdem wir so in ganz allgemeinen Zügen die Aetiologie der Ver-
stopfung skizzirt haben, tritt die Frage an uns heran, welche Vorgänge sich
im Darmcanal bei der Obstipation abspielen. Meist wird das Wesen der
Stuhlverhaltung in einer verminderten, peristaltischen Bewegung des Darmes
gesucht. Das ist bis zu einem gewissen Grade richtig, aber doch nicht ganz.
Man vergisst dabei — abgesehen davon, dass doch auch andere Bewegungen
als die peristaltischen bei dem Vorwärtstreiben des Kothes thätig sind — dass
die Darmbewegung in hohem Grade von dem Darminhalt abhängig ist, dass ohne
Darminhalt wohl jede Bewegung aufhört. Die Wechselwirkung zwischen Darm-
inhalt und Darm ist, wie das schon in dem Artikel über Diarrhoe betont wurde»
das Wesentliche bei der Kothbildung und Kothentleerung. Unter günstigen
Verhältnissen, wie sie der Durchschnittsmensch, der sogenannte „gesunde
Mensch" bietet, wird diese Wechselwirkung sich so gestalten, dass die Stuhl-
verhältnisse ohne alle Beschwerden bleiben. Aendern sich die gegenseitigen
Einwirkungen von Inhalt und Darm, so werden je nach der Art dieser Ver-
änderungen bald Diarrhoen, bald Verstopfungen auftreten, wobei das eine Mal
der Darminhalt flüssiger bleibt, häufig genug in Folge einer rascheren Darm-
thätigkeit, ein anderes Mal wird er fester und härter. Es besteht also ab-
solut kein Gegensatz zwischen Diarrhoe und Verstopfung, beides sind viel-
mehr Gradunterschiede und stehen in einem ähnlichen Verhältnisse zu ein-
ander wie Wärme und Kälte. Das ist nicht allein deswegen wichtig, weil
dadurch die Thatsache der raschen Folge von Diarrhoe und Verstopfung, wie
sie das Leben oft bringt, alles Paradoxe verliert, nicht allein deswegen, weil
es ein Fingerzeig für die Therapie ist, sondern vor allem deshalb, weil
uns hier wie überall die Grundlage alles medicinischen Denkens und Handelns
entgegentritt, dass Krankheit nicht im Gegensatz zu Gesundheit steht, eben-
sowenig wie die Physiologie zur Pathologie, sondern dass auch hier nur ver-
schiedeuwertige, nicht verschiedenartige Formen des Lebens oder der Lebens-
betrachtung bestehen, dass zwischen der Gesundheit und der Krankheit eine
ununterbrochene Kette von Uebergängen geknüpft ist. Das ist die Grund-
lage des ärztlichen Denkens und Handelns. Sie sollte es wenigstens sein.
Wer aber bedenkt, dass sie es heutzutage nicht mehr ist, wird sich nicht
wundern, dass eine Einigung in den medicinischen Anschauungen so schwer
zu erreichen ist.
Es ist begreiflich, dass wir bei unseren Anschauungen über den Ab-
schnitt „Symptome und Folgeerscheinungen" hinweggehen. Der Gedanke,
dass die „Krankheit" in einem bestimmten Herde sesshaft sei und von hier
aus andere Organe gewissermaassen in Mitleidenschaft ziehe, ist ein Irrthum,
weil nie ein Theil des menschlichen Körpers für sich allein erkranken kann,
sondern stets nur der gesammte Mensch. Ist der Mensch aber erst erkrankt,
so kann man w^ohl im concreten Falle häufig den Schluss ziehen, hier be-
stehen Störungen in der Darmthätigkeit, die weiterhin in Verbindung mit
einer Menge anderer Factoren hier und dort Circulations- und Ernährungs-
störungen herbeigeführt haben. Man ist aber nicht im Stande, von vornher-
ein zu sagen, wenn Stuhlverstopfung besteht, tritt Appetitlosigkeit oder Kopf-
schmerz oder Aufgetriebenheit des Leibes ein. Es Messe das ja die Ver-
stopfung als Ursache der Kopfschmerzen bezeichnen, was sie doch gewiss nicht
ist oder wenigstens nicht für sich allein ist.
Der Befund der pathologischen Anatomen ist im Allgemeinen gering.
Dass Erweiterungen und Verlängerungen einzelner Gebiete des Darms, mit-
unter auch des gesammten Darms vorkommen, dass häufig die Wandungen
erschlafft sind, besonders in den unteren Theilen und oberhalb der Schliess-
1022 VERSTOPFUNG.
muskeln, dass sich die Zeichen weitgehender Blutstockungen, Erweiterungen
der Gefässe, Atrophien der Schleimhäute und der IVluscularis finden, ist ohne
weiteres einleuchtend.
Die Prognose ist im Allgemeinen durchaus günstig zustellen, wenig-
stens giebt es für den Arzt kaum eine dankbarere Behandlung, als die Stuhl-
trägheit eines Menschen zu beseitigen. Bleibt der Kranke sich selbst über-
lassen, so werden sich vielfach seine Leiden durch den Wust von Miss-
bräuchen und Unsitten, den man das moderne Leben nennt, verschlimmern
oder nicht bessern. Am ungünstigsten gestaltet sich die Prognose jedoch
dann, wenn der Kranke lege artis mit Abführmitteln und Klystieren etc.
behandelt wird, worüber wir bei der Therapie des nähern sprechen werden.
Wir finden hier die allerdings nicht seltene, aber um so merkwürdigere
Thatsache, dass sich die Prognose durch die Behandlung häufig verschlechtert,
und zwar um so mehr verschlechtert, je gründlicher die Behandlung ist und
je länger sie dauert.
Wenn wir nun zu dem letzten und zweifellos wichtigsten Theil der
Abhandlung übergehen, zur Therapie, so müssen wir wieder vorausschicken,
dass es lediglich eine Concession dem Sprachgebrauch gegenüber ist, wenn
wir von einer Behandlung der Verstopfung reden. Es widerspricht im Grunde
genommen völlig unseren Anschauungen, da wir niemals eine Krankheit,
sondern stets nur einen Kranken behandeln. Jedoch sind wir durch die Art
des Themas zu gewissen Zugeständnissen gezwungen, die wir nur soviel als
irgend möglich einzuschränken suchen.
Das Ziel bei der Behandlung verstopfter Menschen ist, sie so umzuwan-
deln, dass sie von selbst und ohne alle künstliche Einwirkungen regelmässigen
und ausgiebigen Stuhlgang haben, und zwar bei jeder Lebensweise, wie sie
der Durchschnittsmensch führt. Denn nur dann können wir von einer wirk-
lichen Heilung sprechen, wenn die Stuhlentleerung wieder zur natürlichen
Function, wie das Essen, Trinken, Schlafen, Athmen etc. geworden ist. Alle
Hilfsmittel, die uns Wissenschaft, Kunst, Erfahrung etc. an die Hand geben,
sind nur ein nothwendiges Uebel, und das Streben muss dahin gerichtet sein,
sie entbehrlich zu machen. Allerdings lässt sich dieses Ziel oft nicht er-
reichen. Wir müssen uns dann damit abfinden, dass der Kranke immer noch
krank ist, und müssen versuchen, die Kunsthilfe wenigstens nach Möglich-
keit einzuschränken und sie dem täglichen Leben anzupassen. Solche Mittel,
die nicht zu sehr aus dem Rahmen des Durschnittslebens herausfallen, bieten
sich uns in grosser Zahl, und es wird fast immer möglich sein, mit der Zeit
sie soweit einzuschränken, dass der Kranke keinerlei Beschwerden davon hat
und sich nicht mehr bewusst ist, irgend etwas für die Piegelung seines
Stuhlgangs zu thun.
Die Wege, auf denen dieses Ziel erreicht wird, sind je nach den Ver-
hältnissen des concreten Falles sehr verschieden. Wenn man sich den Satz
gegenwärtig hält, dass der Mensch, sei er nun gesund oder krank, stets das
Product seiner Lebensverhältnisse ist, so wird man durch Beseitigen oder
Abändern schädigender Momente oder durch Einfügen neuer zweckentspre-
chender Factoren meist ein günstiges Resultat herbeiführen. Die wichtigen
Punkte in der Lebensweise des Einzelnen herauszufinden, die auf die Darm-
thätigkeit und Stuhlentleerung einwirken, ist die Aufgabe des Künstlers, und
diese Aufgabe tritt im gegebenen Momente stets in neuer Form an den Arzt
heran und fordert eine neue Lösung von ihm. Von vornherein ein bestimmtes
Schema kritiklos aufzustellen und die Kranken hinein zu zwingen, bleibt ein
grober Kunstfehler, wenn es auch vielfach auf Universitäten so gelehrt und
oft von den Aerzten so geübt wird. Freilich, wenn man sich in der Literatur
umsieht, wenn man ins Leben tritt und das Thun und Treiben der Menschen,
nicht bloss der Aerzte, ansieht, so fragt man sich, ob es denn ie möglich
VERSTOPFUNG. 1023
sein wird, diese Mauern von Thorheit und Unverstand zu durchbrechen.
Ueberall herrscht die Methode, die Schablone, und der Pfuscher construirt
sich ebenso gut sein System wie der Arzt. Als ob es jemals ein System
gegeben hätte, das dem Leben genügte, oder als ob es je solch ein System
geben könnte! Während man hier die alten abgetretenen Pfade todter Schulen
wandelt und mit Abführmitteln, Klystieren, Brunnenkuren Verstopfung be-
kämpft, schwört man dort auf die Massage und Mechanotherapie; jener erhofft
Wunder von der Suggestion oder der Elektricität und dieser packt seine
Kranken in Wasserumschläge; und last not least kommt der Naturpächter und
zeigt triumphirend seine Pflaumen und Aepfel. Und jeder ist überzeugt,
dass sein Weg der einzig richtige ist, jeder verlangt von der Mutter Natur,
sie soll sich seinem eigensinnigem Dünkel fügen, und wenn sie es nicht thut,
so macht er bewusst oder unbewusst dem Kranken einen Vorwurf daraus.
Vielen Hunderten hat er mit seiner Praxis geholfen. Ist es nicht ein boden-
loser und ganz verwei'flicher Eigensinn, dass der eine sich nicht helfen lassen
will? Der Arzt soll Diener der Natur sein, so sprechen sie alle, aber in
Wahrheit wollen sie das Leben meistern, wollen Herren sein und denken es
zu erreichen, wenn sie kein anderes als ihr eigenes Brevier lesen.
„Nil nocere!" das sollte der oberste Grundsatz jeder Therapie sein.
Aber leider ist es auch nur eine Phrase, ein todtes Wort geworden. Wem
das übertrieben erscheint, möge sich den Schlendrian ansehen, der in dem
Gebrauche der Abführmittel herrscht, die Gewissenlosigkeit, mit der tagtäglich
an kranken Menschen gesündigt wird. Freilich ist es sehr bequem, jeden
Kranken, der über Verstopfung klagt, täglich mit einem Tränkchen oder ein
paar Pillen auf den Nachtstuhl zu nöthigen, aber eine Kunst ist es nicht, und
die Folgen des leichten und leichtsinnigen Piathes bleiben nicht aus. Wer
sich jemals mit der Wirkung der Abführmittel beschäftigt hat, muss doch
wissen, dass selbst das mildeste Laxans niemals die unregelmässige Darm-
thätigkeit regeln kann. Das Abführmittel ruft im gesunden Darme beschleu-
nigte Bewegung hervor, erzeugt eine künstliche Diarrhoe. Es wird also damit
ein stärkerer Reiz auf den Darm ausgeübt. Gewissermaassen ist es ein
Peitschenhieb. Sicher kann man damit die müde Muskulatur des Darms zu
einer ausgiebigeren Thätigkeit anspornen, und es ist auch ganz in der Ord-
nung, wenn man im Nothfalle von der Peitsche Gebrauch macht. Aber eben
nur im Nothfalle. Man soll den Menschen nicht platzen lassen. Wer täglich
von neuem durch den erhöhten Reiz den Darm zur grösseren Thätigkeit
treibt, handelt genau so unüberlegt, wie der Kutscher, der das müde Pferd,
ohne jedes Maass, vorwärts schlägt. Der Augenblick kommt, wo die Peitsche
versagt und keine Wirkung mehr zu erreichen ist.
Ganz besonders scharf müssen wir uns hier gegen die salinischen
Abführmittel aussprechen. Sie stammen meist aus „Curorten", sind von
„Curärzten" erfunden und empfohlen worden und werden häufig „curgemäss",
d. h. völlig nach der Schablone, gebraucht. Viel schlimmer ist es aber —
und das muss doch einmal ausgesprochen werden, — dass mit den Mittel-
salzen gar nicht das erreicht werden kann, was eigentlich der Zweck des
Abführmittels ist. Gewiss ist man im Stande, damit eine Entleerung herbei-
zuführen. Aber diese Wirkung wird nur zum allergeringsten Theil durch eine
Darmthätigkeit erreicht. Maassgebend sind vielmehr die endosmotischen und
exosmotischen Vorgänge. Der Darm wird wie ein Closet mit Wasser aus-
gespült. Ein solches „Grossreinemachen" mag ja ab und zu ganz nützlich
sein — entbehrlich ist es wohl fast immer — aber niemals kann es die leben-
dige Thätigkeit ersetzen und noch viel weniger kann es, methodisch geübt,
die stockende Function wieder anregen.
Ganz ähnlich liegt die Sache mit den Darmeingi essungen und
Klystieren.
1024 VERSTOPFUNG.
Auch sie können wohl hie und da einmal ohne Schaden verwendet
werden. Wenn sie jedoch Tag für Tag gegeben werden, bloss weil es in
den Büchern steht und hergebrachter Brauch ist, so kann man das
wirklich nur „groben Unfug" nennen. Rademacher, dessen Schriften jetzt
leider kein Mensch mehr kennt, hat nicht ganz Unrecht mit seiner Behaup-
tung, dass die Aerzte durch das Studium „verstandesverkrüppelt" würden. Denn
bei gesundem Verstände muss man schlechterdings einsehen, dass eine Er-
schlaffung und Ausdehnung des Dickdarmes und Mastdarmes unausbleiblich
ist, wenn tagtäglich einige Liter Wasser hineingepumpt werden. Nil nocere!
Nil nocere!
Hält man den Gedanken fest, dass das Abführmittel nur ein nothwendiges
Uebel ist, so ergiebt sich die- Anwendungsweise von selbst. Man sollte Ab-
führmittel im Allgemeinen nur geben, wenn innerhalb 24 Stunden keine
Entleerung eingetreten ist, dann aber in solcher Menge, dass auch wirklich
Stuhlgang erfolgt. Erreicht man diesen Zweck nicht, so thut man besser, erst
am nächsten Abend wieder etwas einzugeben, womöglich die doppelte Portion.
Nur so bekommt man ein deutliches Bild davon, wie stark der abführende
Reiz eigentlich im gegebenen Falle sein muss. Das beliebte „zweistündlich
einen Esslöffel voll" verwirrt nur, genau so wie das „Nacheinnehmen." All-
mählich sucht man die Dosis immer mehr zu verkleinern, bis die Kranken gleich-
sam vom purem Lecken an der Digestivpille oder vom Ansehen Stuhl bekommen.
Dabei ist es auch meist wünschenswert, dasselbe Mittel nicht zweimal hinter-
einander zu geben, schon um der Gewöhnung vorzubeugen, aber auch, um den
Darm für die verschiedenartigsten Reize empfänglich zu machen. Abwechs-
lung ist das halbe Leben.
Da wir im Gegensatz zu den üblichen Gepflogenheiten nur im Nothfalle
von den Stuhlmitteln Gebrauch machen, müssen wir versuchen, die Verstopfung
auf anderem Wege zu beseitigen. Thatsächlich ist das, allerdings häufig
auf sehr mühsamen Wegen und nur mit grosser Geduld fast immer zu
erreichen. Der Mensch ist das Product seiner Lebensverhältnisse im weitesten
Sinne des Wortes. Ist er krank, so müssen die einzelnen Factoren seines
Lebens geändert werden, so dass ein neues, möglichst gesundes Product ent-
steht. Bei verstopften Menschen, wie überhaupt bei allen Kranken, ist es
daher die erste Aufgabe, den Patienten in die thunlichst einfachen Bedin-
gungen mit Essen, Trinken, Schlafen, Athmen, Bewegen, Ruhen etc. zu
bringen und zu beobachten, wie er sich bei einer übersichtlichen und zweck-
entsprechenden Lebensweise verhält. Denn nur so bekommt man einen Ueber-
blick über die individuelle Krankheit des Menschen, nur so lässt sich eine
wirkliche Diagnose stellen, die etwas anderes ist, als ein blosses Wort, die
vor allem uns das giebt, was der Zweck der Diagnose sein sollte, aber leider
nicht ist, einen Fingerzeig für die Behandlung. Im Laufe der Zeit lassen
sich dann bequem die Aenderungen vornehmen, die nach den Bedürfnissen
und Wünschen des Kranken nothwendig und zweckmässig sind. Dabei wird
sich sehr bald herausstellen, falls das nicht schon von vornherein klar war,
dass neben und mit der Verstopfung eine ganze Reihe anderer Beschwerden
einhergehen, die für die Behandlung neue Gesichtspunkte bieten, so dass
häufig viel schwerere und dringendere Leiden bestehen, die zuerst und vor
allem Abhilfe verlangen. Nicht selten ist man gezwungen, vorerst die Rück-
sicht auf die Hartleibigkeit ganz hintanzusetzen, ja letztere für den Augen-
blick noch zu verstärken. Freilich ist das dann eine harte Geduldsprobe
für Arzt und Kranken. In solchen Momenten zeigt es sich deutlich, wie
gross oder gering die Befähigung des Einzelnen für seinen Beruf ist, ob er
es versteht, das Vertrauen und den unbedingten Glauben des Patienten
aufrecht zu halten. Denn auf der geistigen und moralischen Ueberlegenheit
des Arztes seinem Kranken gegenüber beruhen in letzter Linie die
VERSTOPFUNG. 1025
Erfolge. Bei der Verstopfung, wie bei allen anderen Leiden, ist es nicht
immer nöthig oder] auch nur nützlich, blind darauf los zu curiren, um die
subjectiven Beschwerden zu beseitigen. Häufig genug gleicht das nur dem
Zudecken eines Müllhaufens. Mit der Beseitigung des Schuttes und Abfalls
verschwindet der Gestank, den der Haufen verbreitet, von selbst und dauernd,
während eine noch so dichte Decke doch nur palliativ wirken kann. Genau
so werden aber eine ganze Keihe von chronischen Obstipationen scheinbar
ganz von selbst heilen, w^enn man die Wurzeln ausrottet, aus denen sie ent-
standen sind. Namentlich gilt das von Verstopfungen, die durch ausgedehnte
Ernährungs- und Circulationsstörungen bedingt sind, und die bei einer zweck-
mässigen Regelung der örtlichen Blutvertheilung ohne Schwierigkeiten fort-
zuschaffen sind. Wir machen hierbei wiederum auf den grossen Wert der
localen, heissen und kalten Applicationen in Gestalt von Bädern, Waschungen,
Ein Wicklungen etc. aufmerksam, die neben anderen Dingen ganz besonders
geeignet sind, Schwankungen in der Circulation und Ernährung local und
allgemein herbeizuführen oder auszugleichen.
Wir mussten dieser Dinge hier kurz erwähnen, ehe wir zu dem uns ge-
stellten Thema der „Behandlung der Obstipation" übergehen konnten, weil
W'ir sonst Missverständnissen ausgesetzt sind. Nach unserer Anschauung ist
es stets die Hauptsache, zuzusehen, wer behandelt werden soll, mit der weit-
gehendsten Berücksichtigung aller seine Individualität bedingenden Momente,
und dann erst zu erwägen, womit sie behandelt werden, und was mit ihm
geschehen soll. Wenn wir im Folgenden kurz einige der zahlreichen Ge-
sichtspunkte darlegen, die uns bei der Behandlung verstopfter Menschen leiten,
so sind wir uns bewusst, dass wir nur wenige der Mittel und Wege geben,
die zu dem Ziel führen. Wir sind weit entfernt davon, unsere ßathschläge
für unbedingt richtig zu halten. Sie erscheinen uns zweckmässig und nützlich
und haben sich für uns bewährt. Wir beanspruchen jedoch nicht, dass irgend
ein Mensch ausser unseren eigenen Kranken daran glauben soll. Von denen
freilich erwarten wir Vertrauen und Gehorsam.
Wir haben oben gesagt, dass das Wesentliche bei der Verstopfung die
gestörte Wechselwirkung zwischen Darminhalt und Darmwandung sei. Daraus
ergiebt sich schon, dass in der Behandlung eine Würdigung des Darminhaltes
nach Art, Grösse, Mischung etc. von entscheidender Bedeutung ist. Leider
sind die Menschen vielfach nur daran gew^öhnt, darauf zu achten, ob etwas
aus dem Darm herauskommt. Was eingeführt wird, ist ihnen meist ganz
gleichgiltig. Und doch liegt hier oft der Schlüssel, der den Riegel vor dem
After hebt. Der moderne Mensch ist gewöhnt, auf einmal grosse Mengen von
Speisen und Getränken einzuführen. Mit dieser Gewohnheit^ muss man
brechen und an die Stelle der seltenen, grossen Mahlzeiten häufigere, kleine
treten lassen. Dann vermeidet und beseitigt man nicht allein die im Laufe
der Zeit verhängnisvollen Folgen des mechanischen Druckes, wie sie sich in
den Säftestockungen und der Störung von Nerven- und Muskelthätigkeit aus-
sprechen, nicht allein die grosse, meist mit Fettansatz verbundene Ausdeh-
nung des Leibes, die mit einer Schwächung der Bauchpresse Hand in Hand
geht; vor allem gewöhnt man auch allmählich den Darm, der bisher in seiner
Erregbarkeit immer mehr geschwächt wurde, wieder auf kleinere Reize zu
reagiren. Während vorher bei dem grösseren Raum, den der ausgedehnte
Darm und Leib bot, erst bei ausgiebigen Kothmassen der Drang zur Stuhl-
entleerung eintrat, muss man durch Hebung und Gewöhnung versuchen, ihn
wieder für geringere Mengen reizbarer zu machen. Selbstverständlich kann
auch zeitweilig die umgekehrte Forderung an den Arzt herantreten, durch
die Nahrung grössere Rückstände im Darm sich anhäufen zu lassen, um durch
den vermehrten Druck von oben und die erhöhte Spannung eine Entleerung
herbeizuführen. Eventuell lässt sich das durch Einschränkung der Fleisch-
Bibl. med. WisBenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. DO
1026 VERSTOPFUNG.
zufuhr bis zur absoluten Pflanzenkost erreichen. Letztere bietet ja schon durch
die groben Bestandtheile, die sie dem Koth zuführt, ein nicht za unter-
schätzendes Hilfsmittel.
Wenn so die Menge und Zahl der Mahlzeiten einen gewissen Einfluss
auf die Darmthätigkeit haben, so ist das ebenso mit ihrer Mischung der Fall.
Die Speisen und Getränke für sich allein einzuführen, empfiehlt sich schon
deshalb, weil die einzelne Menge dann von selbst geringer wird, andererseits
gewinnt man aber auch so einen Ueberblick, welche Dinge im concreten
Falle eine Wirkung auf die Verstopfung in einem oder andern Sinne haben.
Man kann dann leicht durch Bevorzugen oder Einschränken bestimmter
Nahrungsmittel wesentliche Modificationen herbeiführen. Aber auch hier muss
der Arzt zeitweilig durch eine zweckentsprechende und gehäufte Mischung von
stuhlwirkenden Speisen Einfluss zu gewinnen suchen. x4.bgesehen von diesen
immerhin seltenen Forderungen ist es nützlich, gerade alle diese Dinge, die
erfahrungsgemäss die Darmthätigkeit fördern, für sich allein zwischen den
einzelnen Mahlzeiten zu geben, w^omöglich nüchtern des Morgens oder Abends,
kurz vor dem Niederlegen.
Solcher stuhltreibender Nahrungsmittel giebt es eine grosse
Menge, die mehr oder weniger kräftig wirken. Wir nennen hier beispielsweise
die verschiedenen Compots, Obstsorten, vor allem Backpflaumen, Fruchtsäfte,
Honigkuchen, Schrotbrod, Pumpernickel, Salzwasser, heiss oder kalt, Apfelwein,
Buttermilch, saure Milch etc. Dabei muss der Arzt ebenso wie bei den Ab-
führmitteln Wert darauf legen, dass diese Dinge abwechselnd gebraucht
werden, um einer Gewöhnung an das oder jenes Mittel vorzubeugen. Das
Ziel ist stets, auch diese scheinbar harmlosen Hilfen allmählich entbehrlich
zu machen, und man erleichtert sich diese Aufgabe bedeutend, wenn man eine
möglichst reiche Abwechslung schafft
Hand in Hand mit diesem Bevorzugen stuhlfördernder Speisen geht ein
Verbot von verstopfenden Nahrungs- und Genussmitteln, wie Reis, Rothwein,
Hülsenfrüchten, eventuell auch von Mehlspeisen. Unter Umständen ist es
zweckmässig, Kaffee, Thee, Chocolade etc. zeitweilig fortzulassen, schon um
der meist ganz nutzlosen Belastung des Darmkanals mit diesen Dingen vor-
zubeugen, aber auch andererseits, um sie, die manchmal recht nützlich zur
Regelung des Stuhlgangs verwendet werden können und die leicht durch den
gewohnheitsmässigen Gebrauch ihre abführende Kraft verloren haben, wieder
wirkungsvoll zu machen.
Die Durchführung dieser Verordnungen, denen wir noch eine ganze
Reihe anderer hinzufügen könnten, bietet keine erheblichen Schwierigkeiten.
Die eigentliche Kunst des Arztes zeigt sich erst dann, w^enn es gilt, den
Kranken wieder von den diätetischen Vorschriften zu emancipiren, ihn in das
Durchschnittsleben zurückzuleiten. Gewisse Anhaltspunkte für diese schwie-
rige Aufgabe giebt der Satz, dass man die stuhlbefördernden Dinge allmählich
immer kleiner werden, sie tageweise ganz ausfallen lässt, sie zu den verschie-
densten Zeiten verordnet, um sie schliesslich ganz fortzulassen. Andererseits
muss man versuchen, die verbotenen Speisen und Getränke zunächst für sich
allein, später in beliebiger Mischung wieder einzuschalten und unter ständiger
Controle die Mengen der einzelnen Mahlzeiten zu steigern und die Zahl je
nach Bedürfnis einzuschränken. Meist wird auf diese oder andere Weise ein
günstiges Resultat erreicht, ist das nicht möglich, so lassen sich wenigstens
stets die Verordnungen so dem Leben des Kranken anpassen, dass er keine
Unbequemlichkeiten von ihrer Durchführung hat, ja kaum mehr merkt, was
mit ihm geschieht.
Eine besondere Sorgfalt erfordert die Kleidung der Kranken. Dass der
Kampf gegen das Corset hier wie anderswo eine grosse Rolle spielt, versteht
sich von selbst. Damit allein ist es aber nicht gethan. Man muss versuchen,
VERSTOPFUNG. 1027
alle einschnürenden und einengenden Kleidungsstücke, wenigstens zeitweise,
zu entfernen. Vor allem aber muss hier noch eins betont werden, was ^\'ir
schon bei der Aetiologie der Verstopfung sagten, das Beseitigen aller Arten
von Bruchbändern, Suspensorien, Pessarien etc., so weit das irgend möglich
ist. Die Fahrlässigkeit, mit der Aerzte und Laien diese Dinge verwenden,
als ob sie ganz gleichgiltig und unschädlich seien, ist erschreckend. Wir
geben zu, dass hie und da das Tragen eines Bruchbandes etc. berechtigt und
nothwendig sein kann, gegen den skandalösen Mis.sbrauch aber, der damit
getrieben wird, müssen wir auf das energischeste Front machen. Wer aufmerk-
sam dem Elend nachspürt, das täglich durch ein kritikloses Verwenden dieser
oft wichtigen Hilfsmittel unserer Kunst entsteht, wird mit Schrecken gewahr
werden, -^ie verderblich im Grunde genommen diese Bereicherung unseres
Könnens gewirkt hat. Wenn einmal der Mensch geboren sein wird, der eine
wahrhafte und wirklich nützliche Geschichte der Medicin schreiben kann
sollte er nicht vergessen, neben dem Morphium und Alkohol und den vielen
anderen „Errungenschaften" auch diese erbärmliche Mechanotherapie an den
Pranger zu stellen.
Wir können hier füglich die Mittel anreihen, die uns feuchte und
trockene Wärme oder Kälte zur Behandlung Verstopfter bieten. Auch hier
kommt es häufig genug darauf an, eine möglichst reiche Abwechslung zu
schaffen. Allerdings kann der Arzt genöthigt sein, zeitweilig diese oder jene
Form der Anwendung mehr zu bevorzugen. Xeben den mannigfachen Um-
schlägen um den Leib, die von dem einfachen Guttaperchapapier bis zu den
heissen oder kalten Einwicklungen eine reiche Auswahl geben, kommen hier
namentlich wieder die localen Bäder in Betracht. Wir weisen nochmals
darauf hin, dass gerade die heissen Applicationen in Gestalt von Sitzbädern,
aber auch Arm- und Fussbädern ausserordentlich wertvoll sind und meistens
den Vorzug vor den kühlen Bädern verdienen. Damit soll jedoch nicht ge-
sagt sein, dass letztere nicht auch vielfach mit grossem Xutzen verwendet
werden können. Ganz ähnlich verhält es sich mit den heissen und kalten
Abwaschungen mit oder ohne nachfolgendes Abtrocknen oder Frottiren. Hier
wie anderswo hat sich uns der Satz bewährt, dass Theüwaschungen meistens
eine günstigere Wirkung enthalten, als die beliebten Abreibungen des ganzen
Körpers. Sehr zweckmässig ist es ab und zu, die Feuchtigkeit^ des Leibes bei
geöffneten Fenstern und Thüren durch den Luftzug trocknen zu lassen, um
gewissermaassen eine künstliche ..Erkältung des Bauchs" herbeizuführen.
Einen der wichtigsten Factoren in der Behandlung der Hartleibler bildet
die Mechanotherapie als Piegelung der Bewegung und Piuhe im weitesten
Sinne des Wortes. Ein häufiger Wechsel zwischen Thätigkeit und Ausruhen
ist sehr wichtig. Es kommt gar nicht so sehr darauf an, dem Körper gewalt-
same und langandauernde Anstrengungen zuzumuthen. Gerade den häufigen
und sehr billigen Piath, durch langes Spazierengehen die trägen Functionen
wieder anzuregen, halten wir für sehr verfehlt. GeT\iss ist gegen die Spazier-
gänge an sich, wenn sie in massigen Grenzen und vor allem öfter am Tage
betrieben werden, gar nichts einzuwenden. Allheilmittel sind sie aber nicht,
und daraus einen Sport zu machen, ist zum mindesten unnütz, wenn nicht
schädlich. Ganz abgesehen davon taugt ein solcher ärztlicher Piath schon
deshalb nichts, weil weitaus die grösste Mehrzahl der Menschen einfach nicht
die Zeit zu solchen Verordnungen hat. Thatsächlich kommt man auch viel
weiter, wenn man Wert darauf legt, jede einförmige Thätigkeit des Menschen
oft zu unterbrechen, selbst wenn es nur für wenige Augenblicke der Fall ist.
Auch der beschäftigteste Mensch hat Gelegenheit dazu, hie und da für einige
Zeit die Stellung zu wechseln, die Beine gegen den Leib zu drücken und
tief Luft zu holen, den Leib zu schlagen und zu kneten oder sich mit dem
Bauch über eine Stuhllehne zu legen und Athem zu schöpfen. Er kann für
65*
1028 VERSTOPFUNG.
Minuten aufstehen und im Zimmer umhergehen, die Arme und Beine ausgiebig
bewegen und so neue Druck- und Circulations Verhältnisse herbeiführen.
Aus der sitzenden Stellung in die liegende oder stehende überzugehen
und umgekehrt, durch irgend einen Druck oder mechanischen Reiz die Bauch-
presse anzuregen und zu kräftigen, durch zahlreiche kurze Unterbrechungen
die stockenden Säfte in rascheren Fluss zu bringen, durch Athmungsversuche
und häufiges Gebrauchen der Bauch- und Rumpfmuskeln einen Einfiuss auf
den Leib und den Bauchinhalt zu gewinnen, das sind weit einfachere und
zweifellos weit wirksamere Mittel. Die natürlichen Kräfte, die jedem Menschen
zur Verfügung stehen, soll der Arzt nach Möglichkeit ausnützen. Er soll den
Kranken lehren, seine Organe und Glieder zu gebrauchen, die leider im ge-
wöhnlichen Leben so häufig einrosten und verstauben. Die Menschen müssen
wieder lernen, dass ihnen der Bauch nicht bloss zum Vollschlagen gegeben
worden ist, sondern zur lebendigen Thätigkeit. Es kann gar nicht genug
Wert darauf gelegt werden, die Kranken sich selbst massiren zu lassen, aus
sich selbst heraus Hilfsquellen zu finden, um die träge Darmthätigkeit wieder
anzuregen. Dabei lassen sich so unendlich viel Variationen und Compli-
cationen finden, die einzelnen Maassnahmen lassen sich so leicht den Bedürf-
nissen und dem Charakter des kranken Individuums anpassen, und man erzielt
mit all dem so erfreuliche Resultate, dass es kaum erklärlich erscheint, warum
diese Dinge so wenig Würdigung finden. Es ist wirklich oft schwer, sich
des Gedankens zu entschlagen, dass die allzu grosse Gelehrsamkeit vielleicht
doch das einfache Denken hindert, und Rademachee mit seinem harten Spruch
von der Verstandesverkrüppelung der Aerzte fällt uns ganz unwillkürlich
wieder ein.
Selbstverständlich schliesst dieses Ausnützen der natürlichen Kräfte des
Individuums den Gebrauch aller anderen Hilfsmittel, die uns Wissenschaft,
Kunst und Erfahrung an die Hand geben, nicht aus. Vielmehr lassen sie
sich mit dem günstigsten Erfolge in zahllosen Variationen und Combinationen
gleichzeitig verwerten. Reiten und Rudern, Radfahren und Tennisspielen,
Bergsteigen und Turnen und wie diese Dinge alle heissen mögen, sind unter
der Voraussetzung, dass sie nicht sportmässig und mit nutzloser Kräftever-
geudung, sondern mit Maass und Ziel betrieben werden, oft recht brauchbare
Unterstützungen. Vor allem gilt das auch von einer zweckmässigen Massage
des Leibes. Wir betonen auch hier wiederum, was wir schon in dem Artikel
über Mechanotherapie hervorhoben, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt,
ob der einzelne Handgriff ganz kunstgemäss ausgeführt wird, dass Intensität,
Zeit, Dauer und Häufigkeit der einzelnen Proceduren weit mehr in das Ge-
wicht fallen.
Von den zahlreichen Gesichtspunkten, die weiterhin bei der Behandlung
Verstopfter in Frage kommen können, wollen wir hier zum Schluss nur noch
einen hervorheben, der eine ganz besondere Wichtigkeit hat und leider in
der Praxis vielfach vernachlässigt wird. Es ist eine bekannte Thatsache, dass
der Wille und Gedanke des Menschen einen grossen Einfiuss auf die Regelung
seiner Stuhl Verhältnisse hat. Genau so wie jede Mutter ihr Kind daran ge-
wöhnt, zur bestimmten Stunde seine „Geschäfte" zu erledigen, sollte es auch
der Arzt mit seinen Kranken halten. Tag für Tag sollte er ihn zur bestimm-
ten Stunde gleichsam „anhalten", und wenn er sich auch nicht gerade daneben
zu stellen und mitzudrücken braucht, so muss er doch immer wieder dem
Patienten einschärfen „Versuche es täglich von neuem, geh' zur bestimmten
Stunde auf das Closet und mühe dich ab, gewöhne dich daran, werde reinlich
und ordentlich." Die Kinder macht man bettrein, die Hunde stubenrein und
die Erwachsenen muss man wieder darmrein machen. Oft ist es geradezu
verblüffend, wie schnell der Erfolg kommt und wie rasch der Darm Geschmack
an der ungewohnten Thätigkeit findet, wenn man ihm täglich etwas anbietet.
VERTIGO. 1029
Wenn wir so ganz kurz einige Andeutungen über die verschiedenen
Hilfsquellen zur Behandlung gegeben haben, so bleibt uns noch übrig, noch-
mals es auszusprechen, dass wir alle diese Mittel, eins wie das andere, stets
nur als nothwendige Uebel betrachten und sie so rasch als möglich entbehr-
lich zu machen suchen. Unser Ziel ist immer, den Menschen so umzugestalten,
dass er von selbst regelmässigen Stuhlgang bekommt. Deshalb
richtet sich unser ganzes Streben auch niemals darauf, um jeden Preis die
Verstopfung zu beseitigen, die doch nur ein Symptom dafür ist, dass der Ge-
sammtorganismus nicht mehr gehörig functionirt, sondern wir versuchen, durch
eine Kegelung der gesammten Ernährungs- und Circulationsverhältnisse des
Menschen Einfluss auf den Kranken und seine individuelle Krankheit zu gewin-
nen. Wir sind weit davon entfernt, irgend ein bestimmtes Schema aufzustellen,
sind im Gegentheil fest davon überzeugt, dass es unendlich viele Wege giebt,
um zum Ziele zu gelangen, und dass es im gegebenen Falle nur darauf ankommt,
den kürzesten Weg zu betreten. Wir bilden uns nicht ein, stets diesen kürzesten
Weg gegangen zu sein, beanspruchen es vielmehr als unser gutes Recht, zu
irren. Andererseits halten wir aber unbedingt an dem Satz fest, dass die
Behandlung des Arztes nur individualisirend sein darf, dass er nur Kranken
helfen soll und nicht Krankheiten bekämpfen. Wir haben in unserer kurzen
Abhandlung nicht eine Anleitung zur Bekämpfung der „Verstopfung" geben
wollen. Wir kennen keine Verstopfung, sondern nur verstopfte Menschen.
Wir behandeln keine Verstopfung, sondern nur verstopfte Menschen.
SCHWEKLNGEE-GRODDECK.
Vertigo. [Schioindel.) Die Definition des Begriffes „Schwindel" muss,
wenn man praktische Gesichtspunkte in's Auge fasst, nicht vom Standpunkte
der experimentellen Physiologie, sondern vom Gesichtspunkte der subjectiven
Symptomatologie definirt werden. Schwindel ist ein subjectives Symptom,
welches der Kranke dem Arzte angiebt, wenn er merkt, dass die Willkür der
gewöhnlich ausgeführten Bewegungen gehemmt ist, wenn er fühlt, dass er
beim Aufstehen, bei ruhigem Gehen oder bei etwas forcirter Bewegung nicht
mehr jene Sicherheit besitzt, wie vordem, wenn er häufig gezwungen ist,
plötzlich stehen zu bleiben, sich an einen Gegenstand anzuklammern oder
irgendwo momentan niederzulassen, um nicht umzufallen. Wohl zu unter-
scheiden ist der Schwindel von gewissen Zwangsbewegungen, die fälschlich
unter dem Begriffe „Vertigo" subsummirt werden und deshalb auch nicht an
dieser Stelle, sondern im Artikel „ Zwang sbetvegungen" Besprechung finden.
Am häutigsten hört der Arzt die Klage über Schwindel von älteren Per-
sonen, bei deren genauerer Untersuchung sich Arteriös der ose als Ursache
findet. Pdgidität der Gehirnarterien bei mehr oder weniger ausgeprägter
Functionsunfähigkeit der Herzpumpe bedingt locale Circulationsstörungen
in den corticalen und subcorticalen Gehirncentren und macht oft frühzeitig
darauf aufmerksam, dass ein apoplectischer Insult droht.
Ebenso oft hört der Praktiker die Klage des Schwindels von anä-
mischen Personen, bei denen ebenfalls die gestörte Blutversorgung jenes
Organs, welche das Bewusstseinsgefühl beherrscht, die Ursache dieser Er-
scheinung vorstellt.
Andererseits scheint auch eine momentane Blutüberfüllung des
Gehirns, wie sie bei plethorischen Individuen in Form von Congestionen
gegen den Kopf sich äussert, Schwindelerscheinungen hervorzurufen.
Bei Individuen, welche sich körperlich und namentlich geistig über-
arbeitet haben, welche stundenlang bei angestrengter Arbeit und in unreiner
Atmosphäre zugebracht, treten ebenfalls Schwindelanfälle auf. Bekannt ist
ferner das Auftreten des Schwindels nach acuter Alkoholintoxication
1030 VOMITÜS.
{Bausch), nach Intoxicationen mit Opium, Nicotin und ähnlichen
Narcoticis.
Bei Dyspepsien, und zwar oft solchen ganz einfacher Natur, jener
Form, die wir als verdorbenen Magen oder mit einem wissenschaftlichen Ter-
minus als „acuter Magenkatarrh" bezeichnen, kommt Schwindelgefühl als
Symptom {Vertigo e stomacho laeso) ebenso vor, wie es sich zuweilen auch
bei Personen zeigt, welche an mehrtägiger Obstipation leiden.
Ein häufiges Symptom ist der Schwindel bei Erkrankungen des Auges
und des Ohres. Bei ersteren kommt er namentlich bei Augenmuskel-
lähmungen vor, bei letzteren bei verschiedenen Oh raff ectionen (Fremd-
körper und Ohrenschmalz im - äusseren Gehörgange, Otitiden verschiedener
Art etc.).
„Elektrischer Schwindel" tritt beim Durchleiten des galvanischen
Stromes quer durch den Kopf auf und ist, wie Hitzig nachwies, immer von
gleichzeitigen zwangsweisen Augenbewegungen begleitet.
Vertigo tritt ferner bei ganz normalen Individuen auf, wenn dieselben
rasch fahren, heftige Drehbewegungen ausführen, von Höhen in die Tiefe
schauen u. s. w.
Der Schwindel ist endlich ein Symptom intercranieller Veränderungen
organischer Natur: Meningitis, Gehirnabscesse, Gehirntumoren.
Physiologische Experimente, namentlich die berühmten Floüeens 'sehen
Versuche (experimentelle Durchschneidung der Bogengänge bei Tauben), sowie
die Thatsache, dass die sogenannte MENiEü'sche Krankheit, deren Haupt-
symptom Schwindelgefühl ausmacht, als eine Labyrintherkrankung zu deuten
ist, haben zu der Anschauung geführt, dass das innere Gehörorgan die Function
habe, unser Bewusstsein vom Gleichgewichte des Körpers im Baume zu regu-
liren. Eine Reihe von Schwindelformen, wie z. B. den obengenannten Magen-
schwindel, hat man als eine reflectorische Reizung des inneren Gehörorgans
erklärt. Man hat ferner den Schwindel, welcher bei Augenmuskellähmungen
vorkommt, aus der von Högyes gefundenen Thatsache abgeleitet, dass von
den häutigen Labyrinthen „reflexanregende Nervenfasern" zu beiden Bulbi
hinziehen. Mag man sich nun auch diesen Erklärungen anschliessen, so muss
man doch andererseits daran festhalten, dass eine ganze Reihe von Schwindel-
gefühlen, wie sie bei verschiedenartigen Erkrankungen nach obiger Aufzählung
vorkommen, durch allgemeine Circulationsstörungen im Bereiche des
Gehirns, insbesondere der Gehirnrinde, zu Stande kommen.
Eine Krankheit „Schwindel" giebt es nicht; es ist ein vieldeutiges Symp-
tom, nach dessen Ursachen man immer im speciellen Falle suchen muss, um
darnach die Prognose und Therapie einzurichten. jul. vv^eiss.
VomitUS {Brechen^ Erbrechen) ist die Herausbeförderung von Magen-
inhalt durch den Mund. Dasselbe entsteht dadurch, dass unter dem Ein-
flüsse eines nervösen Centrums sich der Magen unter gleichzeitiger Betheili-
gung der Bauchpresse kräftig contrahirt. Vomitus wird ausgelöst:
1. durch directe Erregung der peripheren Vagusendigungen in der
Schleimhaut des Magens. (Magenkatarrh, acute Dyspepsie, Gastritis
toxica, Magencarcinom, Ulcus ventriculi, Magenectasie etc.)
2. Durch abnorme Erregung des centralen Ursprungs des Vagus bei
Erkrankungen des Gehirns und seiner Häute (Gehirnanämie, Gehirn-
erschütterung, Gehirntumoren; Meningitis). Eine Erregung des in
die Medulla oblongata verlegten Brechcentrums wird ferner angenommen bei
dem Erbrechen Fiebernder, beim Vomitus der Nierenkranken, resp.
Urämiker, und bei dem durch Brechmittel veranlassten Erbrechen. Auch
die Crises gastriques der Tabiker gehören in diese Gruppe.
VOMITÜS. 1031
3. Reflectorisch durch Uebertragung eines Reizes von einem sen-
siblen Nerven auf den Vagus. Hieher gehört das Erbrechen bei Peritonitis,
bei Erkrankungen des Darmes, bei Gallen- und Nierensteinen und
bei Erkrankungen der weiblichen Sexualorgane {Vomitus gravi-
darum ").
Reflectorisch wird ferner Erbrechen durch Berührung des Zungengrundes
und Schlundes, namentlich der hinteren Rachenwand erzeugt. So entsteht
der Vomitus bei Untersuchung mit Spatel oder Kehlkopfspiegel;
bei Rachen- und Larynxkatarrhen und bei Lungenaffectionen, wenn
zäh haftender Schleim die hintere Schlundwand und ihre nächste Umgebung
reizt. Aus gleicher Ursache zeigt sich Vomitus bei Hypertrophien der
Tonsillen und acut entzündlichen Mandelaffectionen. Dagegen wird
der Vomitus matutinus potatorum auf eine directe Erregung der Magennerven-
Endigungen infolge bestehenden schleimigen Magenkatarrhs zurückgeführt.
Vomitus stellt somit ein Symptom dar, das bei einer grossen Anzahl
von Krankheiten auftritt, eine selbstständige Krankheit, eine Neurose
des Magens bildet nur der sogenannte Vomitus nervosus, der nachfolgend aus-
führlich besprochen werden soll. e.
Unter Vomitus nervosus versteht man einen Vorgang, bei welchem
eine eigentliche Magenaffection nicht vorliegt, sondern wo der Magen nur das
Auslösungsorgan für den Brechact darstellt. Man kann beim nervösen Er-
brechen unterscheiden centrale oder periphere Ursachen.
Zu den ersteren gehören Gehirnaffectionen, Veränderungen
des Blutes, Circulationsstörungen und Intoxicationen. Zu den
letzteren gehören die Einwirkungen auf die vielfachen nervösen Endverzwei-
gungen der sympathischen Geflechte und der Vagusbahnen. Drittens ist die
reflectorische Form des Erbrechens zu nennen, wie sie sich bei Erkrankung
sämmtlicher in der Bauchhöhle gelegenen Organe findet. Hierhin gehören
ferner auch die praktisch-wichtigen Formen des juvenilen Erbrechens,
des periodischen Erbrechens und der Crises gastriques. Im Fol-
genden haben wir es im Wesentlichen mit dem nervösen Erbrechen im enge-
ren Sinne zu thun.
Aetiologie: Auch hier finden sich wieder dieselben prädisponirenden
Momente, wie wir sie bei anderen Magenneurosen kennen gelernt haben, ins-
besondere eine hysterische oder neurasthenische Grundlage; und daher kommt
es, dass das nervöse Erbrechen vorzugsweise eine Affection des weiblichen Ge-
schlechtes ist. Zu den directen Ursachen gehören Schreck, Aerger, geistige
Ueberanstrengung, auch abnorme Irritationen der Sexualsphären.
Symptomatologie: Das Erbrechen zeigt im Allgemeinen sehr charak-
teristische Kriterien. Es erfolgt in der Regel ohne besondere Nausea und
ohne besondere Schmerzempfindung in der Magengegend, das Erbrechen ist
unabhängig von der Qualität und Quantität der Nahrungsaufnahme, obgleich es
begreiflicherweise bei angefülltem Magen leichter und copiöser erfolgt als um-
gekehrt. Die Menge des Erbrochenen ist selbstverständlich wechselnd, aber es
verdient bemerkt zu werden, dass es sich fast immer nur um einen Theil der
eingeführten Nahrungsmittel handelt. Es geht dies schon daraus hervor, dass
sich in den meisten Fällen Harn- und Stuhlabscheidung fast normal verhält
und dass der Ernährungszustand in toto selbst bei jahrelangem Bestehen des
Leidens ein guter, selbst vorzüglicher bleiben kann. Es hängt mit der ganzen
Natur der Krankheit zusammen, dass dieselbe verschiedenartige Schwankungen
*) Vergl. hierüber den ausführlichen Artikel ^Byperemesis gravidarum"- im Bande
„Geburtshilfe und Gynäkologie" pag. 376.
1032 VOMITUS.
zeigt, dass Tage heftigen Erbrechens mit solchen leidlichen Befindens ab-
wechseln, aus Ursachen, die wir nicht in jedem Falle übersehen können, nur
tritt, wie bei anderen Magenneurosen, das calmirend wirkende Moment der
Ruhe und Abgeschlossenheit, andererseits der excitirend wirkende Einfluss
seelischer Erregung unverkennbar im Krankheitsbilde hervor. Charakteristisch
ferner ist der Umstand, dass der Appetit von einzelnen Ausnahmen abgesehen
nicht allein erhalten, sondern oft sogar gesteigert ist. Die Untersuchung
des Mageninhaltes hat mir in den Fällen, die ich zu beobachten Gelegenheit
hatte, stets normale Verhältnisse ergeben.
Von den eben genannten Krankheitssymptomen heben sich die Fälle von
periodischem und juvenilem Erbrechen besonders ab.
Das juvenile (puerile) Erbrechen kommt ganz besonders bei Schul-
kindern im Alter von 7 — 15 Jahren vor und wird ganz besonders bei schwäch-
lichen, anämischen oder neuropathisch veranlagten Kindern beobachtet. Hier-
bei spielen nicht allein Ueberanstrengung, sondern auch schroffe Behandlung,
körperliche Züchtigung, Furcht vor Strafe, schlechten Zeugnissen u. a. eine
wichtige Rolle. Im Uebrigen unterscheidet sich das Erbrechen in keiner Weise
von den oben geschilderten hysterischen Formen, doch zeigt speciell das ju-
venile Erbrechen eine ausserordentliche Neigung zu Recidiven, was praktisch
wohl zu beachten ist.
Das periodische Erbrechen ist im Jahre 1882 zuerst von Leyden als
selbständige Neurose beschrieben worden. Das Krankheitsbild ist ausgezeich-
net durch anfallsweise auftretende Brechattaquen. Die Anfälle können in
Zwischenräumen von Wochen oder Monaten auftreten; in den meisten Fällen
ist die Periodicität eine regelmässige, in anderen zeigt sie dagegen keinen
regelmässigen Typus. Der Anfall beginnt entweder unter gewissen charak-
teristischen Prodromen (Unbehaglichkeit, Mattigkeit, leichte Uebelkeit,
Schwindelgefühl), oder setzt mit voller Gesundheit ein.
Die ersten Erscheinungen des Anfalls entsprechen fast ganz den bei
Crises gastriques und bestehen in heftigen nach dem Bauche und Rücken zu
ausstrahlenden Schmerzen in der Magengegend, welchen dann sehr bald
copiöses Erbrechen erfolgt. Zunächst wird etwa vorhandener Mageninhalt,
später Schleim, schliesslich Galle erbrochen. Dabei ist das Befinden der
Kranken scheinbar ein schweres und ernstes, das Gesicht sieht verfallen aus
wie bei asiatischer Cholera, der Puls weich und leicht unterdrückbar, die
Haut trocken, die Temperatur niedrig, der Leib kahnförmig eingezogen. Die
Urin- und Stuhlsecretion wird geringfügig oder selbst ganz unterdrückt. Die
Krankheitserscheinungen werden in der Regel des Nachts unterbrochen, die
Patienten verfallen in einen tiefen Schlaf, aus dem sie entweder gekräftigt
und gesund erwachen, oder um von neuem von dem qualvollen Brechreiz ge-
plagt zu werden. So kann sich der Anfall auf mehrere, selbst 8 — 14 Tage
hinziehen, bis dann ebenso plötzlich, wie der Anfall eingetreten ist, die
Reconvalescenz beginnt, in der sich die Patienten meist auffallend schnell
erholen, bis sie wieder durch einen neuen Anfall ihrer Thätigkeit entrissen
werden.
Diagnose und Differentialdiagnose. So einfach die Diagnose
des nervösen Erbrechens in vielen Fällen erscheint, so schwierig ist sie in
complicirt liegenden. Die Entscheidung, ob eine functionelle Neurose oder
ein centrales Leiden vorliegt, erfordert meist eine länger eingehende Be-
obachtung. In zweifelhaften Fällen ist meist auf das Vorhandensein von Stau-
ungspapille {Gehirntumor), auf etwa vorhandenes Eiweiss im Harn (enurämisches
Erbrechen), sowie auf etwaige Genitalaffectionen zu achten. Differentialdia-
gnostisch von Wichtigkeit ist ferner das periodische Erbrechen. Letztere
Diagnose darf nur dann und auch da nur mit Vorbehalt gestellt werden, wo die
minutiöseste Untersuchung keinen Anhaltspunkt für das Zugrundeliegen von
WANDERORGANE. 1038
Tabes ergeben hat. Nach meinen Erfahrungen gehört das Vorkommen von
anfallsweise auftretendem Erbrechen mit zu den ersten Erscheinungen der
grauen Degeneration der Hinter stränge. Differentialdiagnostisch kommt ferner
in Betracht Gastroxijnsls (Rossbach). Die letztere unterscheidet sich von dem
periodischen Erbrechen einmal durch die Aetiologie, da sie im Wesentlichen
geistige Arbeiter betrifft, ferner ist das Auftreten der Anfälle irregulär und
der Salzsäuregehalt des Magens stets gesteigert. Von der Hypersecretion von
Magensaft ist der Vomitus nervosus leicht zu unterscheiden, wenn man Ge-
legenheit hat, die erbrochenen Massen nach den hierfür giltigen Regeln zu
untersuchen.
Therapie. Die Therapie des Vomitus nervosus ist in erster Reihe
causal; wo eine directe Ursache nicht ermittelt werden kann, muss man
symptomatisch vorgehen. Erste Bedingung ist Ruhe des Kranken, womöglich
Bettruhe, alle äusseren Einflüsse, welche erregend auf den Kranken wirken
können, müssen thunlichst fern gehalten werden, die Ernährung sei leicht,
aber ausreichend, und bestehe vorwiegend aus leicht assimilirbarer, aber fester
Kost. Milch, Suppen, Weine sollen thunlichst eingeschränkt werden. Im
Uebrigen sind specielle Grundsätze für die Diät bei nervösem Erbrechen nicht
zu geben. Man wird es hier wohl auf vorsichtiges Experimentiren ankommen
lassen müssen.
Von Arzneimitteln ist in schweren Anfällen das Morphium^ subcutan
gegeben, das zuverlässigste und am schnellsten wirkende
Mittel. In Fällen von periodischem Erbrechen und Crises gastriques ist es
durch nichts zu ersetzen, in leichteren Anfällen mag man sich mit Morphium
innerlich oder in Suppositorien oder auch mit Code'in, Extract. Belladonnae,
Antipyrin oder sonstigen sedativen Mitteln behelfen. Von letzteren haben
sich nur das Menthol 2:120, das Chloralhydrat {lg pro dosi) und die Brom-
alkcdien von Nutzen erwiesen. In Fällen von periodischem Erbrechen schien
mir die Anwendung des constanten Stromes — Anode in der Gegend des
Magens, Kathode auf dem Rücken in den Intervallszeichen applicirt — von
günstigem palliativen Erfolge zu sein. boas.
Wanderorgane. Als Wanderorgane, d. h. Organe, welche ihre anato-
mische Lage verändern und hierdurch zu mannigfachen Beschwerden Veran-
lassung geben können, sind Leber, Milz und Niere bekannt.
I. Wanderleber.
Unter den erworbenen Lageveränderungen der Leber zieht die Wander-
leber, Hepar migrans oder mobile, die Aufmerksamkeit auf sich, weil sie an
und für sich ein seltenes Leiden vorstellt und zu grossen Beschwerden den
Anlass geben kann.
Die Geschichte der Wanderleber reicht nicht weit zurück, sie iimfasst nur wenige
Decennien der Neuzeit; Cantani war 1866 der erste medicinische Schriftsteller, welcher auf
das klinische Bild aufmerksam machte; seit jener Zeit hat sich unsere Kenntnis erweitert,
zumal in den letzten Jahren, in welchen die Enteroptosis *) als klinisches Capitel häufiger
bearbeitet worden ist.
Die Aetiologie von Hepar mobile giebt nur wenige Anhaltspunkte,
welche zu einer Erklärung ausreichen. Mit nur höchst seltenen Ausnahmen
kommt die Wanderleber bei Frauen zur Beobachtung, und zwar bei Frauen,
welche mehrfach geboren haben und jenseits des 30. Lebensjahres stehen.
Schwangerschaften und daraus resultirende Erschlaffung und Verdünnung der
Bauchdecken begünstigen demnach das Leiden; ich kenne einen Fall, in
welchem eine sehr bewegliche, echte Wanderleber sich entwickelte, bei einer
älteren, unverheirateten Person, welche nie geboren hatte, deren Bauch aber
*) Vergl. Artikel „Enteroptose'' , Bd. I, pag. 568.
1034 WÄNDERORGANE.
durch eine grosse Ovariencyste jahrelang abnorm aufgetrieben war; die chirur-
gische Entfernung des Tumors liess sehr schlaffe Bauchdecken zurück; im
Zeiträume von fünf Jahren nach der Operation ist die Leber immer tiefer und
tiefer gesunken, so dass der anfangs niedrige Grad von Hepar migrans zu
einem typischen sich entwickelt hat. In gleichem Sinne wirken Diastasen der
Musculi recti abdominis. Was Geburten und Tumoren thun, das bewirken
auch rapide Abmagerungen sehr fetter Personen, bei welchen ebenfalls häufig
sehr schlaffe Bauchdecken zurückbleiben. Es soll weiterhin nach Springen
von beträchtlicher Höhe, nach Heben schwerer Lasten und nach sehr starkem
Schnüren Wanderleber zur Entwicklung gekommen sein. Ob aber alle diese
angeführten Momente für sich allein im Stande sind, Hepar mobile zu,
bewirken, begegnet starkem Zweifel; es scheint uns vielmehr, als ob eine an-
geborene Länge oder Nachgiebigkeit des Ligamentum Suspensorium hepatis
die prädisponirende Ursache bilde, zu welcher sich die begünstigende äussere
Veranlassung hinzugesellt. Bei allen Sectionen fanden sich sehr lange, dünne
und schlaffe Aufhängebänder der Leber; nun ist es aber kaum anzunehmen,
dass das im Allgemeinen sehr straffe und starke Ligamentum Suspensorium
durch das Eigengewicht der Leber so ausserordentlich gedehnt und verlän-
gert werden könne; meine Versuche an Leichen zeigen wenigstens, dass
eine sehr beträchtliche Kraft nothwendig ist, um das Aufhängeband auch
nur wenig zu strecken.
Die klinischen Veränderungen, welche Hepar migrans bietet, bestehen
darin, dass die Leber ihre gewöhnliche Stelle verlässt und tief in den Bauch-
raum hinabsteigt. Die Grade, in welchen die Leber dieses thut, sind na-
türlich sehr verschieden, allen aber ist es gemeinsam, dass die Leber leicht
fühlbar ist und durch äusseren Druck mit der Hand nach oben in ihre nor-
male Lage zurückgebracht werden kann. In besonders markanten Fällen steht
die obere Grenze der Leber tiefer als der untere Rand des knöchernen Brust-
korbes. Der mit der Hand in der rechten Bauchhälfte fühlbare Tumor hat
die Gestalt der Leber, vor Allem sind die beiden Incisuren der Leber deutlich
zu tasten; bisweilen kann man sogar das Ligamentum Suspensorium hepatis
als dünnen Strang fühlen; die Geschwulst ist stets abnorm beweglich und
folgt auch deutlich bei Seitenlagerungen des Patienten den Gesetzen der
Schwere; in der Regel ist die Wanderung der Leber nach abwärts viel deut-
licher und grösser als die Verschiebbarkeit bei seitlichem Lagewechsel. Die
Wanderleber folgt auch den respiratorischen Bewegungen. Ueber der Wander-
leber besteht ein gedämpft tympanitischer Schall, welcher wechselt, je nachdem
die Lage ist und Dünndarmschlingen sich zwischen die Bauchwand und die
Leber drängen; in solchen Fällen kann man sehr leicht die Darmschlingen
auf der Leber palpiren und verschieben; in der Rückenlage ergiebt die Wander-
leber nur selten eine absolute Dämpfung, weil sie zurücksinkt und sich von
der vorderen Bauchwand entfernt. An der Stelle der normalen Leberdämpfung
fehlt natürlich die charakteristische Dämpfung; wenn die Wanderleber so tief
nach abwärts steigt, dass sie überhaupt mit ihrer oberen Grenze nicht mehr
den Brustkorb berührt, so ist es höchst auffallend, dass zwischen dem Lungen-
schall und dem gedämpften Schall der abwärts gewanderten Leber ein mehr
als handbreites Gebiet hellen, tympanitischen Schalles gelagert ist. Sowie nun
mit der Hand die Leber nach oben geschoben wird, verkleinert sich dieser
tympanitische Bezirk, und bei gänzlicher Reposition geht wieder der Lungen-
schall in die Leberdämpfung unmittelbar über.
Die subjectiven Beschwerden von Hepar migrans sind nicht ein-
heitlich ; bald fehlen sie vollständig und nur durch Zufall wird die Geschwulst,,
sei es durch den Arzt, sei es durch den Patienten in der rechten Bauchhälfte
gefunden; bald sind sie gross und mannigfach, aber doch so wenig charak-
teristisch, dass sie auch andere Störungen in der Bauchhöhle begleiten
WANDERORGANE. 1035
könnten. Zunächst verursacht die Entdeckung der Wanderleber dem Patienten
nicht geringe Furcht, und es bedarf eines imponirenden Zutrauens, den
Kranken zu überzeugen, dass die Wanderleber keine bösartige Geschwulst im
Abdomen ist. Andere Leute klagen fortwährend über Schmerz in der rechten
Bauchhälfte bis hinauf zur Brustwarze, bald sind es Zerrungs- und Spannungs-
gefühle, welche nur in der Rückenlage schweigen, beim Gehen und Stehen,
beim Heben und Springen aber sehr heftig belästigen; grosse Schmerzen
können, wie alle Leberschraerzen, bis in die rechte Schulter strahlen. Ver-
dauungsstörungen finden sich nicht selten, weniger sind es unmittelbare Be-
lästigungen des Magens, als vielmehr des Darmes; der Darminhalt staut sich
durch den Druck, welchen von aussen her die Leber auf das Darmrohr ausübt,
so dass Stuhlträgheit häufig ist; die Absonderung der Galle in das Duodenum
kann eine Benachtheiligung erfahren durch Verzerrung und Verdrehung des
Ductus choledochus, mehrfach ist auch Icterus zur Beobachtung gekommen; durch
diese Störungen entwickeln sich in der Folge allerlei Verdauungsbeschwerden,
wie Aufstossen, Uebelsein, Appetitlosigkeit, Flatulenz, Brechneigung und Er-
brechen. Die von mir oben erwähnte Patientin hat bei nur kurzem Ver-
weilen in der linken Seitenlage grosse Uebelkeit, die sich unter heftigen
Schmerzen bis zum galligen Erbrechen steigert.
Die Diagnose der Wanderleber ist in manchen Fällen leicht, sie
kann aber auch sehr schwer sein. Entscheidend bei der Diagnosis ist die
Leberform des Tumors, die respiratorische Verschieblichkeit, die Möglichkeit
der Reposition, das Fehlen der Leberdämpfung an der normalen Stelle und
das Wiedererscheinen der Leberdämpfung nach der Reposition. Es sind aber
selbst für den erfahrenen Kliniker Verwechslungen möglich, zwar nicht mit
den einfachen Nachbarorganen und beliebigen Tumoren, aber wir finden in
der Literatur Beispiele, in welchen die Wanderleber mit dem krebsig
entarteten Netze, welches vollständig die Contouren der Leber hatte, ver-
wechselt wurde; auch Verwechslungen mit eigenthümlich gestalteten Ge-
schwülsten der Ovarien und des Uterus, sowie der Nieren sind möglich. Der
Entscheid kann auch schwer werden, wenn die Wanderleber durch peritonitische
Processe mit Darmschlingen und Nachbarorganen verwächst, ihre charakte-
ristische Form durch Verwachsungen, Verdrehungen und Auflagerungen ganz
verliert und in dem entzündlichen Conglomerat nicht mehr abgegrenzt werden
kann; es kann auf diese Weise aus dem Hepar mobile eine dislocirte, fixirte
Leber werden; für eine einfache dislocirte, fixirte Leber, welche ursprünglich
ein echtes, breit wanderndes Organ war, steht mir die Sectionserfahrung zur
Verfügung, laut welcher ein Carcinom des Coecum die Darmwand bis zur
Serosa durchsetzt hatte und auf ihr peritonitische Entzündung bewirkte,
welche zu einer Verwachsung der Coecumwand mit dem vorderen Rande
der unteren Leberfläche führte; durch diese Verwachsung wurde die Wan-
derleber in ihrer Dislocation fixirt.
Die Behandlung der Wanderleber hat das Bestreben, die reponirte
Leber an ihrer normalen Stelle zurückzuhalten; diesen Zweck suchen Leib-
binden verschiedenster Art zu erreichen. Leider aber lässt sich bis jetzt
nicht viel Gutes berichten. Alle Binden, selbst diejenigen mit guter Pe-
lottenvorrichtung, lassen uns vielfach im Stiche; gelingt es aber, in dieser
mechanischen Weise die reponirte Leber in ihrer normalen Lage zurückzu-
halten, so schwinden auch rasch die subjectiven und objectiven Beschwerden,
weil das Lebergewebe bei der Wanderleber in der Regel nicht verändert ist.
n. Waudermilz.
Viel mehr als alle anderen Unterleibsorgane ist die Milz zu Dislocationen
geneigt, indem sie in passiver Weise nach oben und unten verschoben werden
kann. Meteorismus, Abdominalgeschwülste, Ascites drängen die Milz weit
1036 WANDERORGANE.
nach oben und lockern ihre Verbindungen; pleuritische Ergüsse, Pneumo-
thorax, Pyopneumothorax, Wirbelsäule Verkrümmungen, Difformitäten des knö-
chernen Thorax rücken sie nach abwärts. Man geht aber auch hier nicht fehl,
wenn man für echte Lien mobile als prädisponirendes Moment eine un-
gewöhnliche, angeborene Länge und Erschlaffung des Ligamentum phrenico-
und gastrolienale, des wirklichen Ligamentum Suspensorium lienis und des
Ligamentum pleurocolicum, des Unterstützungsbandes, annimmt; es kann in
Ausnahmsfällen allein die fortwährende Zerrung eine Verlängerung bewirken,
sogar eine vollständige Zerreissung ist beobachtet worden. Jedenfalls gelang
es mir an der Leiche nur mit erheblicher Kraft, das Ligamentum Suspen-
sorium zu dehnen oder gar zu.zerreissen. Besteht nun ^ und das ist wohl
die Regel — eine angeborene abnorme Länge und Schlaffheit dieser peri-
tonealen Verbindungen der Milz, so kann ein Schlag oder Stoss in die Milz-
gegend, das Heben sehr grosser Lasten, Springen, Hustenparoxysmen die ver-
anlassende, äussere Ursache für die Entstehung der Milzdislocation sein. Nimmt
die Grösse der Milz durch Tumorenbildung, chronische Entzündungen er-
heblich zu, so zerrt fortwährend das gesteigerte Milzgewicht an den Auf-
hängebändern und zieht die Milz aus ihrem normalen Bette nach abwärts;
chronische Milztumoren in Folge von Malaria und Intermittens, Leukämien,
Pseudoleukämien spielen deshalb in der Aetiologie eine Rolle. In leichten
Graden von Dislocation der Milz nach unten findet man dieses Organ nur
wenig unter den Rippenbogen herabgesunken, sie kann aber auch bleibend
und tief in den Bauchraum hinabsteigen und das Bild von Lien mobile oder
migrans veranschaulichen. Die Beweglichkeit kann ausserordentlich beträchtlich
sein; die Wandermilz folgt allen Lagen des Körpers, sie kann an jeden Ort
des Abdomen hingelangen; am häufigsten sinkt sie unter das Epigastrium, in
die linke Fossa iliaca, aber auch in die rechte Darmbeingegend und selbst
in das kleine Becken. Gewöhnlich liegt die Wandermilz mit dem Hilus nach
aufwärts sehend da, während ihr vorderer oberer, mit Einkerbungen versehener
Rand der vorderen Bauchwand anliegt; sie kann mehrere Male um ihre eigene
Längsachse gedreht sein. Das Ligamentum gastro-lienale, welches auseinander-
gewichen ist, bildet mit den Arterien und Venen der Milz und in Folge dessen
mit dem Pancreas einen langen Strang, der öfters um seine Längsachse spiralige
Windungen ausgeführt hat. Man findet auch bisweilen in der Leiche, dass
das Pancreas sich wieder von diesem Strange abgelöst hat. Die Wandermilz
kann verschiedenen Veränderungen unterliegen, indem sie mit benachbarten
Organen verwächst, dadurch einen Theil ihrer Beweglichkeit verliert oder
überhaupt gänzlich in ihrer Dislocation fixirt wird. Es kommt auch vor, dass
die Milzgefässe durch die Zerrung und Drehung des Stranges obliteriren;
fettige Degeneration, Schrumpfung, Atrophie der Milz sind in solchen Fällen
die natürlichen Folgen. Ganz von ihrem Ligamentum befreit hat man schon
die Milz aufgefunden; auch in solchen Fällen ist die fettige Degeneration und
die Atrophie unausbleiblich.
Die Diagnose von Lien mobile ist in den meisten Fällen nicht schwer,
es gelingt leicht, die Milz an ihrer Form zu erkennen und die Einkerbungen
zu tasten. Die Milzdämpfung an der normalen Stelle fehlt, was allerdings
auch sonst häufig genug vorkommt, bei der Wandermilz aber tritt die Däm-
pfung in der linken Brustkorbseitenwand wieder auf, wenn man die Milz
wieder reponirt hat. Auch in den Fällen, in welchen die dislocirte Milz
durch Verwachsungen fixirt ist, lässt sich fast ausnahmslos die Figur der Milz
deutlich fühlen.
Bei fettarmen Personen mit schlaffer Bauchwand kann man bisweilen
die Gestalt der Milz durch die Bauchdecken hindurch sehen, sogar den Puls
der Milzarterie im Hilus fühlen.
WANDEROEGANE. 1037
Die Wanderrailz findet sicli häufiger beim weiblichen Geschlechte, möglich,
dass hier die durch Schwangerschaft bewirkte Erschlaffung der Bauchdecken
eine Rolle spielt.
Auch an anderen Symptomen ist die Wandermilz nicht arm; zwar giebt
es sehr viele Fälle von einlachem Lien mobile, in welchen die Kranken ganz
frei sind von Beschwerden, bei denen die .Wandermilz nur einen zufälligen
Befund bildet, aber manche Patienten klagen über Schmerzen in der linken
Bauchgegend, über das Gefühl der Schwere und der Zerrung bei Bewegungen,
Schmerzen in der linken Schulter und allgemeine Verdauungsbeschwerden,
wie Aufstossen, Uebelsein und Brechneigung. Der Magen leidet sehr gerne
bei der Wandermilz dadurch, dass das dislocirte, gezerrte Pancreas auf seinem
Wege zum Milzhilus über das untere Stück des Duodenum zieht und dasselbe
bis zur Undurchgängigkeit comprimireu kann. Die Folgen dieser Verengung
des Duodenumlumens machen sich bald für die Magenverdauung geltend.
Stauungen des Inhalts führen zu Katarrhen und selbst zu Magendilatationen
mit ihren Folgezuständen.
Wenn die Wandermilz mit den Nachbarorganen verwächst, so setzt diese
Verwachsung gesonderte Symptome; z. B. sehen wir Tenesmus der Blase bei
Verwachsung mit der Harnblase, hochgradige Verstopfung bei dauerndem
Druck auf den Mastdarm, oft auch Tenesmus alvi, motorische oder sensorische
Störungen in einer, besonders der linken, oder in beiden unteren Extremitäten
durch Druck auf die austretenden Nerven. In seltenen Fällen tritt der Tod in
Folge der durch die Wandermilz gesetzten localen Bedingungen ein, so durch
vollständigen Darmverschluss, durch Gangrän des Magenfundus in Folge von
übermässiger Zerrung und Verschluss der Fundusarterien, durch Magen-
erweiterung und durch Störung der Nierenthätigkeit in F'olge von Druck auf
den Ureter oder auf die Nierengefässe; solche schlimme Ausgänge können
sowohl bei frei beweglicher als auch bei mehr adhärenter Wandermilz vor-
kommen.
Die Erkennung der Wandermilz hat nur selten differentielle, dia-
gnostische Punkte zu untersuchen, es sollen gelegentlich Verwechslungen mit
Netzgeschwülsten, Nierentumoren, abgeschnürten Leberlappen, Ovarienneu-
bildungen vorkommen, doch sichert die wiederholte Untersuchung in ver-
schiedener Lagerung des Patienten vor Irrthümern.
Die Therapie der Wandermilz stellt sich die Aufgabe, die Milz
möglichst zu reponiren und vor allen Zerrungen an ihrem Stiele zu bewahren,
sie erreicht diese Wünsche durch Bauchbinden mit und ohne Pelotten, nach
Art der Bruchbänder, mehr oder weniger vollständig. Ist die Milz vergrössert,
so muss ausserdem die Behandlung, welche der Ursache der Milzvergrösserung
entspricht, in ihr Recht treten. Kommt man mit den Bandagen nicht zum
Ziele, so darf man sich, zumal in schwereren Fällen, an die Splenotomie wagen.
ni. Wanderniere.
Unter Wanderniere, Nierenectopie, Ren migrans s. mobilis, floating
kidney, rein flottant, versteht man eine Lockerung der Befestigung der Niere,
durch welche die Niere sich aus ihrer Lage entfernen und mehr oder weniger
weit in der Bauchhöhle bewegen kann. Die Kenntnis der Wanderniere gehört
der neueren Zeit an und knüpft sich vorwiegend an die Namen Ratek,
Baillie, Aberle und Landau an.
Aetiologie. Die Wanderniere ist ausserordentlich häufig, auch
heute noch ist sicherlich, trotz der weit entwickelten Untersuchungstechnik,
ein Theil von dunklen Klagen über Unterleibsstörungen auf eine nicht er-
kennbare Wanderniere zurückzuführen. Die statistischen Zusammenstellungen
schwanken unter einander erheblich, zumal, wenn die Statistik sich nur auf
diejenigen Fälle von Wandernieren stützt, welche irgendwelcher Beschwerden
1038 WANDERORGANE.
wegen zur Untersuchung kommen. Untersucht man Patienten auf Wander-
niere hin, auch ohne dass sie auf die bewegliche Niere mit ihren Klagen
hinweisen, so findet man jedenfalls sehr häufig, dass ohne irgendwelche Be-
schwerden eine weitbewegliche Niere besteht. Rollet fand auf Oppolzer's
Klinik, dass auf 250 Patienten überhaupt ein Fall von Wanderniere komme.
Im ViECHOw'schen pathologischen Institute kamen allerdings nach Pieper
nur 0'l7o Wanderniere vor, und die Obductionen in der Charite Hessen bei
9658 Leichen nur neunmal die Wanderniere erkennen, diese Zahlen sind
aber sicherlich viel zu klein, weil gerade bei der Section, wenn nicht speciell
darauf geachtet wird, die Wanderniere übersehen werden kann, da sie in der
Leiche sehr gerne in ihre normale Lage zurücksinkt, wofern sie nicht durch
Verwachsungen verhindert ist. Achtet man in den Leichen speciell auf
die Wanderniere, so muss man Weigert und Kellert beistimmen, dass
dieselbe bei den Sectionen weiblicher Leichen ein recht häufiger Befund ist.
Beim Lebenden wird die Wanderniere ausserordentlich häufig bemerkt; je
weiter die diagnostische Fertigkeit fortschreitet, um so grösser wird die Zahl
der constatirten Wandernieren, so dass Lindner auf jede fünfte bis sechste
Frau eine Wanderniere rechnet.
Das weibliche Geschlecht ist mit Vorliebe von der Nierenectopie
befallen. Von 314 Fällen kommen nur 41 auf Männer; Dietl glaubt gar,
dass auf 100 Frauen nur ein Mann kommt. In den allermeisten Fällen ist
der Sitz der Wanderniere rechtsseitig. Nach der Auseinandersetzung
Edinger's war unter 173 sicher beobachteten Fällen 152mal die rechte
Niere beweglich, 12mal die linke, 9mal handelte es sich um eine doppel-
seitige Wanderniere. Bei der doppelseitigen Wanderniere ist die
Beweglichkeit rechts meistens grösser als links.
Die Wandernieren finden sich in jedem Lebensalter, im kind-
lichen Alter sind sie ^ehr selten; Beobachtungen, dass Wandernieren
in dem ersten Lebensdecennium vorkommen, sind von Steiner und mir
veröffentlicht worden, auch im zweiten Lebensdecennium ist die Wanderniere
selten. Die meisten Wandernieren kommen auf die Zeit von 25 und 45 Jahren.
So finden wir von 100 Beobachtungen im ersten Lebensdecennium nur 6 Fälle,
auf das zweite fallen 2 Beobachtungen, während das dritte 15, das vierte 43,
das fünfte 21, das sechste 9 und das siebente Decennium 4 Fälle umfasst.
Die Wanderniere kann angeboren sein oder während des Lebens
erworben werden. Was die angeborene Wanderniere anlangt, so sind
abnorme anatomische Zustände im Verhalten des Peritoneums
vorwiegend geeignet, eine erhebliche Beweglichkeit zu begründen. Eine
geringe Beweglichkeit der Niere nach unten und innen ist schon unter
normalen Verhältnissen vorhanden, weil, wenn wir von dem intraabdominellen
Drucke absehen, nur der peritoneale Ueberzug der vorderen Wand der
Nierenkapsel bei Bewegungen der Niere nach innen und die Gefässstämme
bei Bewegungen nach aussen Widerstand setzen. In Fällen von angeborener
Wanderniere ist die Niere im Bindegewebe, welches abnorm schlaff ist, locker
eingebettet und ihre Gefässe sind verlängert; das Peritoneum kann Falten
bilden und sogar die Niere von allen Seiten vollständig umziehen, derart,
dass es ein vollständiges Mesenterium derselben bildet. Es kann sogar das
Peritoneum sich auf die hintere Wand der Niere begeben und dort ein
Gekröse von grosser Beweglichkeit bilden. Wird auch durch die haupt-
sächlichsten Ursachen der angeborenen Wanderniere, wie abnorme Länge der
Blutgefässe, abnorme Schlaffheit des Bindegewebes, welches die Niere ein-
bettet, nicht jedesmal eine angeborene Wanderniere verursacht, so wird doch
wenigstens die Disposition für eine bewegliche Niere geschaffen,
wie denn überhaupt für das Zustandekommen einer erworbenen Wanderniere
die anatomischen Vorbedingungen meistens angeboren sind.
WANDERORGANE. 1039
Wenn wir kurz die normale Anatomie der Niere, soweit sie uns
hier von Belang ist, betrachten, so liegen die normalen Nieren auf dem
Musculus quadratus lumborum und den zwei letzten Costalansätzen des
Zwerchfelles in der Fettkapsel eingebettet. In der ersten Jugend und in
der Fötalzeit besitzt die Niere noch keine Fettumhüllung. Die hintere Wand
der Kapsel, welche ziemlich derb erscheint, ist durch Adhäsion an der Ad-
ventitia der Aorta und auch an derjenigen Fuscie befestigt, von welcher die
Pars lumbalis diaphragmatis überzogen wird und welche den Namen Ligamentum
Suspensorium renis (Englisch) führt. Das vordere Blatt dieser Kapsel adhärirt
dem Peritoneum oben nur sehr lose, weiter unten aber fester; im späteren
Lebensalter, etwa vom achten Jahre an beginnend, wird der Raum zwischen
Tunica propria renis und der Kapsel mit Fett prall ausgefüllt. Durch diese
Ausdehnung treten weitere Verwachsungen mit der hinteren und seitlichen
Bauchwand ein, und es bildet dann diese Fettkapsel nach Edinger das eigent-
liche Befestigungsmittel der Niere. Im normalen Zustande spannt sich das
Bauchfell straff über die vordere Seite der Kapsel hin; ausserdem aber ist
die Niere noch in ihrem Bette befestigt durch ihre Lage dicht an der Wirbel-
säule, durch ihre Gefässe und durch den ihr benachbarten Ursprung der
Mesocola des Dickdarmes. Auch der intraabdominale Druck trägt zur Pietention
der Niere in ihrer normalen Lage bei. Veränderungen in diesen Bedingungen,
durch welche die Niere in ihrer normalen Stelle zurückgehalten wird, schaffen
entweder unmittelbar selbst die erworbene Wanderniere oder machen die
Bildung überhaupt möglich. Diese Veränderungen sind, wie die unmittelbaren
Ursachen der Wanderniere, sehr mannigfaltig; in vielen Punkten ist aber
heute noch die Aetiologie dunkel.
Die Aetiologie der erworbenen Wanderniere führt zunächst
als Entstehungsmoment das Schwinden des Fettes der Nieren-
kapsel an. Bei allen consumptiven Zuständen kann das Fett gänzlich oder
erheblich aus der Nierenkapsel schwinden. War es vorher sehr reichlich,
so lässt sich thatsächlich die Niere leicht in dem subserösen Gewebe ver-
schieben, es lockert sich auch die Spannung des Peritoneums, das im normalen
Zustande straff über die vordere Kapselseite gespannt ist, wodurch die Beweg-
lichkeit der Niere noch mehr ermöglicht wird. Für alle Wandernieren aber
ist jedenfalls das Schwinden des Fettgewebes der Kapsel nicht die einzige
Ursache; denn, wenn die schnelle Abmagerung wirklich der alleinige Grund
wäre, so müsste die Wanderniere bei der grossen Häufigkeit der Consumptions-
zustände noch viel häufiger bei denselben vorkommen. Auch widersprechen
häufige Sectionsresultate, in welchen man trotz schneller und erheblicher
Abnahme der Fettmassen die Fettkapsel der Niere noch sehr gut entwickelt
findet, wie man auch gar häufig eine sehr dürftige Fettkapsel bei im übrigen
sehr fetten Individuen antrifft. Gewiss aber müssen wir den Schwund des
Fettgewebes der Nierenkapsel als ein mögliches Causalmoment gelten
lassen, vor Allem, wenn die Wanderniere bei schneller Abmagerung vorher
fettleibiger Personen auftritt.
Unter den ätiologischen Momenten finden wir den Zug der Därme, die
Herabzerrung des Peritoneums durch Zug von Hernien, besonders
bei schlaffen Bauchdecken und lockerer Anheftung des Peritoneums an die
hintere Bauchwand. Alle Umstände, welche zu schlaffen Bauchdecken führen,
bewirken zu gleicher Zeit eine Lockerung in dem gewöhnlichen Befestigungs-
mittel der Niere.
Es kann auch die Niere selbst durch Volumszunahme ihre
Wanderung bewirken. So findet man als Ursachen der Wandernieren die
Gewichtszunahme der Niere bei Geschwülsten, bei Steinbildung und
Hydronephrosis. Die Anzahl der so entstandenen Wandernieren ist nicht
gross, weil gerade in solchen Fällen oft paranephritische Entzündungen feste
1040 WANDERORGANE.
Verwachsungen der Niere mit den Nachbarorganen an dem ursprünglichen
Standorte bewirken. Nach einigen französischen Autoren soll die Men-
struation günstig auf die Entstehung der Wanderniere einwirken, weil
während der Menstruation die Nieren grösser würden und nach der Men-
struation wieder abschwellten, und durch dieses periodische An- und Ab-
schwellen eine Erschlaffung der Kapsel bedingt werde. Eine grosse Be-
deutung können wir dieser Volumszunahme der Niere durch Congestions-
zustände nicht zugestehen; es müssten dann auch die acuten Entzündungen
und Stauungshyperäraien alltägliche Ursachen für die Wanderniere sein,
ausserdem aber ist es noch nicht einmal bewiesen, dass überhaupt zur Zeit
der Menstruation die Nieren hyperämisch werden und anschwellen.
Für Ren migrans wirken entschieden begünstigend Erkrankungen
der weiblichen Sexualorgane, namentlich Lageveränderungen derselben,
Retro- und Anteflexio, Anteversio, Prolapsus uteri und vaginae, und zwar
unmittelbar dadurch, dass alle Verschiebungen der Beckeneingeweide einen
Zug an dem Ureter ausüben, mittelbar durch Verschluss der Ureteren und
Hydronephrosen-Bildung in Folge der Lageveränderung. Auch Neubildungen
an der Gebärmutter kommen in ätiologischer Hinsicht in Betracht.
Die zahlreichen Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane deuten
schon darauf hin, dass, wie die obige Mittheilung über die Häufigkeit der
beweglichen Nieren schon zahlenmässig angeführt hat, vor Allem Frauen
von der Wanderniere betroff en werden. Für diese Häufigkeit kommen
aber noch andere Momente in Erwähnung. Schon von Cruveilhier wird als
ein ursächliches Moment das feste Schnüren angegeben; er fand bei
Frauen, welche tiefe Schnürfurchen der Leber hatten, die rechte Niere bis-
weilen in der Fossa iliaca, bisweilen vor der Wirbelsäule, bisweilen im Niveau
des Ursprunges des Mesenteriums, in welches sie eingebettet waren. Die
seltenere Wanderung der linken Niere erklärt sich dadurch, dass das linke
Hypochondrium, von der Milz und dem Magenfundus eingenommen, den
Druck des Corsetes ungestrafter erträgt als das rechte, in welchem die
massige Leber den Druck des einzwängenden Corsetes auf die rechte Niere
übermittelt.
Einen hervorragenden Grund für die Entstehung der erworbenen Wander-
niere giebt die Thatsache an die Hand, dass vorwiegend Frauen, welche
mehrfach geboren haben, bedeutend häufiger als Mädchen und Frauen,
welche noch nicht oder nur einmal geboren haben, an dem Procentsatze der
Häufigkeit der Wanderniere betheiligt sind. In Folge der wiederholten
Schwangerschaften tritt eine Erschlaffung der Bauchdecken ein, durch welche,
sowie durch den dadurch verminderten intraabdominellen Druck, welcher
nach Senator sogar die Hauptrolle für die Festhaltung der Niere an ihrem
normalen Sitze spielt, die Entstehung von Ren migrans bewirkt wird. Aus
demselben Grunde sieht man Nierenectopie entstehen nach beseitigtem
Ascites, nach Entfernung von grossen Unterleibsgeschwülsten
und Verschwinden von grossen Fettmassen im Bauchraume und in
den Bauchdecken. Auch in solchen Fällen, in welchen man in der Aus-
dehnung und Schlaffheit der Bauchdecken, sowie in der Vergrösserung des
Bauchraumes die Bedingung für das Zustandekommen der Wanderniere er^
kennen kann, bleibt die Thatsache bestehen, dass auch hier die rechtsseitige
Wanderniere die linksseitige an Häufigkeit weit überholt. Von Belang hierfür
ist die anatomische Anordnung der Nieren, indem die rechte Niere
stets schon unter normalen Verhältnissen, vielleicht durch die respiratorische
Bewegung der Leber bedingt, mehr beweglich ist, als die linke, welch
letztere ausserdem stärker befestigt ist als die rechte, weil links die Vena
suprarenalis unmittelbar in die Vena renalis einmündet, und dadurch die
linke Niere gewissermaassen an die linke, stets unbewegliche Nebenniere
WANDERORGÄNE. 1041
fixirt ist, während die rechte Niere ihr Blut durch die Vena suprarenalis in
die Vena cava inferior leitet und dadurch den Vortheil der innigen Ver-
bindung mit der stabilen Nebenniere nicht geniesst. Dann hat auch Zucker-
KANDL eine neue Fascia rectorenalis beschrieben, welche nach vorne mit
denjenigen Theilen des Peritoneum parietale zusammenhängt, welche bei der
Fixirung der AutTiängebänder des Dickdarmes sich zu einer bindegewebigen
Membran umwandeln und namentlich bei der linken Niere eine zweite
äussere Kapsel erzeugen. Endlich spannt sich vor der linken Niere das
Mesocolon ascendens aus, während der Darm selbst die linke Niere von
aussen umgreift. Durch alle diese jMomente ist die linke Niere mehr fixirt
als die rechte. Begünstigend gesellt sich die anatomische Anordnung hinzu,
dass die rechte Niere längere Arterien hat, während die kurzen Gefässe der
linken Niere noch im Pancreas und Duodenum eine Stütze finden.
Die Wanderniere kann weiterhin dadurch entstehen, dass durch me-
chanische Verdrängungen von Seiten der Nebenorgane die
normale Niere aus ihrem Lager geschoben wird; Tumoren in der
Lel)er und Milz sind als Ursachen der Pten mobilis bekannt; sogar Tumoren
der Nebenniere, wie des Pancreas, können die Nieren dislociren. In allen
diesen Fällen entwickelt sich die Ectopie sehr langsam, man bezeichnet diesen
Zustand als spontane Dislocation. Bekannt ist auch, dass die Niere ihren
Halt in seltenen Fällen von Wirbelcaries verliert.
Wenn nun die erwähnten ätiologischen Momente mehr in inneren Ver-
änderungen des Bauchraumes oder in der Bauchdecke zu suchen waren, so
bleiben demgegenüber Gruppen von Wandernieren, welche als unmittelbare
Ursachen andere Veranlassungen haben; sehr häufig bildet eine der obigen
Ursachen die Prädisposition. Als Ge leg enheits Ursachen für die er-
worbene Wanderniere gelten traumatische Einflüsse, wie Schlag, Stoss,
Fall. Man hat Wanderniere zum Vorschein kommen sehen nach hart-
näckigem Husten, starkem Pressen infolge von Stuhlver-
stopfung, hartnäckigem und häufigem Erbrechen; vor allem aber sind
schwere körperliche Arbeiten und Heben schwerer Lasten an-
zuführen, und hierin liegt die Erklärung für die Thatsache, dass gerade bei
der ärmeren, schwer arbeit enden Bevölkerung die Wanderniere
vorwiegend angetroffen wird.
Pathologische Anatomie. Eine im Leben mit Sicherheit constatirte
Wanderniere kann in der Leiche leicht übersehen werden, da sie, wie im
Leben in der Rückenlage, so auch in der Leiche in ihre normale Lage
zurückgekehrt sein kann.
Im Allgemeinen giebt die Wanderniere wohl niemals die unmittelbare
Todesursache ab und ist deshalb oftmals nur zufälliger Sectionsbefund. Ge-
wöhnlich liegt die Wanderniere in einer fettarmen Kapsel. Die Ver-
bindung der Nierenkapsel mit dem Bauchfell ist erheblich gelockert, und sehr
oft ist die Niere um eine ihrer Achsen gedreht. Das Fett der Nierenkapsel
bei der beweglichen Niere erscheint meistens auch dann geschwunden, wenn
ein allgemeiner Fettschwund nicht auffällt. Die Niere kann nur innerhalb
eines Kugelabschnittes bewegt werden, dessen Ptadius der Länge der Nieren-
gefässe entspricht. Die Wanderniere kann nach abwärts, nach innen und
vorne gelagert sein; man findet sie in der Leiche in allen möglichen Posi-
tionen, aus welchen sie meistens sehr leicht in die normale Lage zurück-
gebracht werden kann. Darmschlingen überdecken fast stets die Wander-
niere, welche aber auch, wie in einem von mir mitgetheilten Falle, unmittel-
bar unter der Bauchdecke liegend aufgefunden werden kann, wenn das Peri-
toneum sehr erschlafft ist und sich mit der Niere weit vorstülpen lässt.
Die Blutgefässe sind je nach der mehr oder minder grossen Beweglichkeit
der Niere verlängert und die LTreteren entsprechend der Beweglichkeit
Bibl. med. Wisaeascliaften. I. Interne iledicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. 66
1042 WANDERORGANE.
gekrümmt. Die anderen Bauch einge weide sind häufig verändert.
Namentlich die Dickdarmflexuren sind öfters durch die Nieren, welche
in ihr Mesocolon wandern, aus ihrer Lage gebracht, oder sammt diesen Mesen-
terien nach ab- und einwärts verdrängt. Varietäten des Bauchfelles
findet man häufig. Es ist aber nicht immer leicht zu unterscheiden, ob es
sich um Ursachen oder Folgezustände der beweglichen Niere handelt. Adhä-
sive Entz ündungen und Verwachsungen mit Nachbarorganen
sind selten; dadurch würde aus einer Wanderniere eine fixe Dislocation
der Niere werden. Als Folge, aber auch als Ursache der Wanderniere
wird gelegentlich die Hydronephrose aufgefunden. Diejenigen Fälle, in
welchen eine dislocirte Niere an die Gallenblase und das Colon trans-
versum durch festes Bindegewebe angeheftet gefunden wurde, oder in
welchen durch den Druck der Wanderniere auf die untere Hohlvene
eine Thrombose der Vena cava inferior verursacht wurde, sind grosse
Seltenheiten.
Die Nebenniere wandert nicht mit, sie wird immer an ihrer nor-
malen Stelle gefunden, wie Weigert festgestellt hat.
Die angeborenen Wandernieren unterscheiden sich von erworbenen
vielfach dadurch, dass die Nierengefässe Abnormitäten in Zahl, Ur-
sprung und Verlauf zeigen. Ferner finden sich gerade bei den angeborenen
Formen Abnormitäten des Peritoneums mit Vorliebe. So hat man z. B. die
Wanderniere in einer eigenen Peritonealfalte, M es onephron, aufgehängt ge-
funden, in welcher sie in der Nähe der vorderen Bauchwand lagerte. Ferner
sieht man das Endstück des Dickdarmes bisweilen in pathologischer Lage.
Solche Wandernieren, welche in Bauchbrüchen aufgefunden werden, sind
nach Ebstein als angeboren zu betrachten.
Symptomatologie. Eine grosse Anzahl von Wandernieren, und
zwar von weitbeweglichen Wandernieren, bedingt durchaus keine Be-
schwerden, sodass man die bewegliche Niere nur ganz zufällig findet. In
anderen Fällen bestehen vielerlei subjective Beschwerden, welche sich
bis zu den lebhaftesten Klagen steigern können. Es klagen dann die Pa-
tienten über allgemeine Verstimmung, unbestimmbares Gefühl von Uebel-
befinden, über ein Gefühl von Druck und Schwere im Unterleibe, das sich
bei ruhigem Verhalten nur selten bis zu lebhaften Schmerzensausbrüchen
steigert. Stehen und Gehen vermehrt dieses Druckgefühl im Leibe, einfache
Umdrehungen im Bette können plötzlich einen Schmerzausbruch bewirken.
Dyspeptische Zustände, wie Uebelsein, Brechneigung und wirkliches Erbrechen,
kolikartige Schmerzen gesellen sich häufig hinzu. Manche Kranken haben
deutlich das Gefühl, als ob etwas im Leibe losgehackt sei und sich in der
Bauchhöhle hin- und herbewege. Andere Patienten hinwiederum klagen leb-
haft, dass stunden- und tagelang ein Gefühl von Druck, Schmerz und Ziehen
im Bauche sie quäle, welches vollkommen für längere Zeit verschwunden
sein kann. Das Krankheitsbild der subjectiven Symptome ist ein sehr buntes
und mannigfaltiges, je nachdem die Empfindlichkeit des Patienten ist. Sehr
häufig spielt daher die ganze Schmerzempfindung auf das Gebiet der psy-
chischen Verstimmungen über, so dass manche Kranken das Bild der Me-
lancholie darstellen. Bei sehr vielen Frauen steigern sich alle subjectiven
Beschwerden zur Zeit der Menstruation. Die psychische Depression erreicht
oft sehr hohe Grade, wenn die Patienten den Tumor der Wanderniere zu-
fällig selbst entdecken. Die Schmerzen, welche von der Wanderniere be-
dingt sind, und wie wir ausführten, auf mehr vagen, unbestimmten Schmerz-
empfindungen beruhen, werden sehr häufig durch wirkliche neuralgische
Schmerzen auf der Seite der beweglichen Niere bis zum Unerträglichen
gesteigert. Diese Neuralgien sitzen vorwiegend, aber durchaus nicht immer,
in der Nierengegend; sie können auch im Verlaufe des Nervus ischiadicus,
WANDERORGANE. 1043
in den Zwischenrippenräuraen, in den Schultern, in der Gegend des Nabels
und in der vorderen Bauehwand ihren Sitz haben. Man hat sogar rechsseitige
Wanderniere mit linksseitiger Intercostalneuralgie in Connex gefunden. Auch
die mannigfaltigsten Intestinalneuralgien kommen vor. Die Neuralgien
strahlen vielfach längs des Ureters nach der Blase, dem Samenstrange, den
Hoden und andererseits den grossen Schamlippen aus. Diese Schmerzen ent-
stehen theils durch Zerrung der Nierennerven durch die Verlagerung des
Organs, theils durch Druck auf den Plexus lumbalis. Von dem gezerrten
Plexus lumbalis und den ihn umgebenden, sympathischen Ganglien pflanzt
sich in sehr vielen Fällen der Reiz direct auf andere Nervenstämme fort.
Bei den Schmerzen in der Scapulargegend und bei den Intercostalneuralgien
handelt es sich um Reflexvorgänge. Der ganze Schmerzcomplex wird ^
hervorgerufen oder erheblich gesteigert durch anstrengende Bewegungen,
Heben schwerer Lasten, lange Märsche, Tanzen, Reiten, Fahren auf schlechten
Wegen und in Wagen mit schlechten Federn. Bei manchen Patienten kann
der Schmerz sogar willkürlich erzeugt werden, w^enn solche Kranke sich einfach
auf die der Wanderniere entgegengesetzte Seite legen, wodurch oflenbar die
Wanderniere ihren Ort wechselt. Bedeutende, energische, plötzliche Lage-
veränderungen der Niere können durch Zerren des Peritoneums und seiner Nerven
intensiven Leibschmerz mit Erbrechen und vollständigen Collapszuständen
herbeifühen. Die bewegliche Niere kann ihrerseits durch Druck auf ein-
zelne Organe Krankheitssymptome hervorrufen. Magenectasien
können dadurch entstehen, dass die Wanderniere auf den Pylorus des Magens
oder auf den absteigenden Theil des Duodenums drückt und eine äussere Ste-
nose bewirkt, welche allmählich durch den gestörten Durchtritt des Magen-
inhaltes zu einer Magenerw^eiterung führen muss. Andere Autoren, wie
Lindner, halten nicht den Druck der beweglichen Niere auf den Pylorus oder
auf das tixirte Stück des Duodenums für die Ursache der Magenerweiterung,
sondern den Zug des nach unten und innen sinkenden Organes, welcher Vor-
gang Verdauungsstörungen mit Retention von Mageninhalt erzeugen kann.
Es ist nämlich möglich, dass durch einfachen Zug an der Niere nach unten
und innen das Duodenum an einer mehrere Querfinger breit unterhalb des
Eintrittes der Gallengänge liegenden Stelle einknickt. Die Magenectasie
als Folgezustand der Wanderniere darf man mit Bezug auf die
Häufigkeit nicht überschätzen, es kann nämlich auch die Magenectasie
das Primäre sein und erst durch den Zug des dilatirten Magens, nach Litten,
die Wanderniere entstehen, andererseits ist auch in vielen Fällen nachgewiesen
w^orden, dass es sich um einfaches Zusammentreffen von Magen-
erweiterung und Wanderniere handelte.
Die Wanderniere wird öfters von Icterus begleitet, indem durch Druck
auf die Gallenwege die Bedingung für die Gelbsucht geschaflen wird. Der
Icterus kann sehr hartnäckig sein, aber auch rasch vorübergehen; bei den
hartnäckigen Formen kann die Ursache auch darin liegen, dass durch die
beweglichen Nieren Verlagerungen von Bändern oder Verw^achsungsstörungen
entstehen, welche den Gallenabfluss in das Duodenum verhindern.
In mechanischer Weise kommen auch vielfach Stuhl v er stopf ungen
zustande, namentlich durch Druck auf das Colon. Die Blutgefässe können
ebenfalls durch den Druck der beweglichen Niere zu besonderen Symptomen
führen; es bilden sich Oedeme der einen oder beider unteren Extremitäten aus,
in Fällen, in welchen durch Druck die grossen Venen im Bauchraume be-
hindert sind. Als seltene Folge der mechanischen Einwirkung fügen wir an,
dass eine Wanderniere bei Frauen die Ursache eines Abortus werden kann.
Der Harn ist für gewöhnlich durchaus normal, vorausgesetzt, dass die
Niere selbst nicht anderweitig erkrankt ist; dui'ch die Umwandlung in eine
Wanderniere wird ihre Thätigkeit nicht verändert, nur in sehr seltenen
66*
1044 WANDEßORGANE.
Fällen sind Abweichungen gefunden worden. So kennt man das Bestehen
einer Polyurie, welche unmittelbar nach der Reposition der Wanderniere
wieder verschwand. Vorübergehende Veränderungen in der Harnzusammen-
setzung beruhen auf rasch vorübergehenden Torsionen oder Knickungen
der IJreteren und der die Nieren ernährenden Blutgefässe. Rasch aber
und markant ändert sich die Eigenschaft des Harnes, wenn die heftigen
Paroxysmen auftreten, welche wir nach Dietl als Einklemmung s-
erscheinungen der Nieren bezeichnen. Nach heftigen körperlichen An-
strengungen, nach forcirten Bewegungen, aber auch ohne jedwede nachweis-
bare Ursache werden plötzlich die Patienten von Frösteln oder wirklichem
Schüttelfrost und von grossen, oft furchtbaren Schmerzen im Leibe befallen;
grosses Angstgefühl und Erbrechen tritt hinzu, kalter Schweiss, Ohnmächten
•und wirklicher Collaps folgen häufig nach. Der Urin wird sehr spärlich,
dunkel, er enthält frühzeitig Schleim und Eiter, häufig auch massige Blut-
beimischungen; während dessen wird der Leib gegenüber der Palpation sehr
empfindlich.
War es vor dem Anfalle möglich, die Wanderniere zu fühlen, so kann
man frühzeitig eine grosse Schmerzempfindung der Niere feststellen, meist
aber wird der Leib so sehr gespannt und empfindlich, dass die Palpation
unmöglich wird. Die ganzen Einklemmungserscheinungen verlaufen unter
dem Bilde einer partiellen oder universellen, stürmischen Peri-
tonitis; thatsächlich handelt es sich auch um eine acute Entzündung
des Peritoneums, welche in circumscripter Weise meist zu einem deutlichen,
entzündlichen Ergüsse führt, welcher nach Ablauf von ein oder zwei Wochen
wieder verschwindet. Zuweilen entwickelt sich auch ein grösseres^ peritoni-
tisches Exsudat. Wenn die Schmerzparoxysmen nachlassen, so wird die Harn-
entleerung, welche während der Anfälle fast vollständig versiechen oder ge-
legentlich gänzlich stocken kann, wieder reichlicher und häufig über die nor-
male Menge vermehrt; sehr rasch wird der Harn dann frei von allen patho-
logischen Beimischungen. Die von Dietl aufgestellte Ansicht, dass die
Niere infolge ihrer Lageveränderung im umgebenden Bindegeweb e und Peri-
toneum wirklich incarcerirt werde und durch die Einklemmung Peritonitis
secundär erzeuge, erfreut sich vieler Anhänger; sie lässt aber für manche
Fälle den Beweis vermissen.
Die Ursache dieser Paroxysmen finden Andere in einer Compres-
sion des Ureter zwischen Wirbelsäule und Niere oder darin, dass die
Niere sich um ihre eigene Achse drehe und durch die Torsion
den Ureter verschliesse, so dass die Erscheinungen im Krankheitsbilde auf
eine acute Hydronephrosis zurückzuführen wären. Andere wiederum
finden die Erklärung für das DiETL'sche Krankheitsbild in plötzlichen
Störungen der Circulation der Nierengefässe, besonders der
Nierenvenen durch Torsion oder Abknickung oder durch spitzwinklige
Insertion der Nierengefässe, infolge der Lageveränderung und Achsendrehung
der Wanderniere. Der Verlauf der Einklemmungserscheinungen ist gün-
stiger, als man nach den bedrohlichen Anfangserscheinungen erwarten sollte.
Sobald es gelingt, die Niere in ihre normale Lage zurückzubringen, sei es
anfangs oder später nach Ablauf der stärksten Exsudation, hören die Erschei-
nungen ziemlich rasch auf.
Untersucht man das Abdomen eines Patienten, welcher an Wander-
niere leidet, so findet man einen glatten Tumor, welcher die Gestalt der
Niere nicht selten vollkommen wiedergiebt. Die Palpation wird am besten
bei horizontaler Lage des Patienten mit angezogenen Oberschenkeln und
möglichst schlaffen Bauchdecken ausgeführt; häufig empfiehlt sich auch die
Rückenlage des Patienten mit etwas erhöhtem Oberkörper und leichter seit-
licher Neigung. Die Untersuchung wird bimanuell ausgeführt. Während die
WANDERORGANE. 1045
eine Hand in die Lumbaigegend einsetzt, übt die andere Hand im Hypochon-
drium, eventuell unter dem freien Rippenrande von vorn nach hinten einen
Druck aus, so dass beide Hände sich entgegendrängen; auch der vollkomme-
nen Seitenlage kann man sich mit Erfolg bedienen, weil die Bauchdecken
dann noch mehr entspannt sind und gelegentlich dadurch erst die Wander-
niere aus ihrem normalen Lager heraus in die palpirende Hand hineinfällt.
Handelt es sich um eine Wanderniere, so ist der Tumor derbe, von elastischer
Resistenz und besitzt eine bohnenförmige, ovale Form mit convexem Rande,
während man in anderen Fällen auch die Einkerbung des Hilus greifen kann.
Der Tumor ist immer beweglich, so dass man ihn häufig nach allen
Seiten hin sehr weit verschieben und unmittelbar an seine normale Stelle
zurückbringen kann. Nicht immer aber lässt sich die Geschwulst in allen
Contouren genau verfolgen, man fühlt dann den Tumor nur als unbestimmte,
umgrenzte, glatte, pralle Resistenz. Der Tumor wechselt mit Bezug auf
seinen Sitz je nach dem Grade der Beweglichkeit der Niere, so dass man
ihn entweder unter dem freien Rande des Rippenbogens oder tiefer gelegen,
gegen den Nabel zu oder unterhalb des Nabels, bisweilen sogar in der Fossa
iliaca fühlt. Bald liegt er undeutlich in der Tiefe, bald unmittelbar unter
den Bauchdecken. In einzelnen, der Palpation besonders leicht zugänglichen
Fällen, kann man sogar die Pulsation der Arteria renalis fühlen. Der Tumor
der Ren migrans ist meistens wenig empfindlich, er kann aber auch sehr
empfindlich sein, so dass die Betastung der Wanderniere Unbehagen, Uebel-
keit und selbst Erbrechen im Gefolge haben kann. Bei der Untersuchung
ist es oft überraschend, dass eine sonst leicht nachweisbare Wanderniere
plötzlich verschwunden ist und auch für Tage, selbst Wochen verschwunden
bleiben kann. Man ward sich in zweifelhaften Fällen mit Vortheil der Unter-
suchung auch bei aufrechter Stellung des Kranken bedienen können. Zu dem-
selben Zwecke dient auch die Untersuchung in der Knieellenbogenlage des
Patienten, wobei in der That die Geschwulst an der vorderen Bauchwand
sehr deutlich palpabel ward, so dass man bei allen Leuten, die der Wander-
niere verdächtig sind, die Untersuchung in aufrechter Stellung und in Knie-
ellenbogenlage ausführen muss (Peioe).
Die Lendengegend, an welcher die AYanderniere sitzt, erscheint bei
der Inspection häufig etwas abgeflacht und eingesunken, wenn die Wander-
niere nicht an ihrer normalen Stelle sitzt. Es soll dann auch die Lenden-
partie bei der Palpation eine geringere Resistenz bieten. Die Lenden-
gegend erreicht ihr normales Niveau wieder, wenn die Niere an ihren nor-
malen Ort zurückgekehrt ist. In der Knieellenbogenlage macht sich diese
Abflachung am deutlichsten bemerkbar; sie ist aber immerhin unbedeutend
und in vielen Fällen nicht zu finden. Die Percussion der leeren Lumbai-
seite ergiebt einen lauteren Schall als die normale Seite; aber auch dieses ist
nicht immer zutreffend. Die PercussiondesTumors ergiebt in der Regel
höchst unsichere Resultate, weil fast immer Darmschlingen sich zwischen die
Bauchwand und den Tumor drängen. Liegt einmal die Niere ganz dicht
unter einer schlaffen Bauchdecke, sodass man sie zwischen die Finger nehmen
kann, so hebt sie sich bei der Percussion durch einen dumpfen Percussions-
ton ab.
Diagnose. Die Diagnose der Wanderniere ist nur dann leicht,
wenn man den fühlbaren Tumor als Niere erkennen kann. Sie stützt sich
wesentlich darauf, dass der Tumor eine glatte Oberfläche hat, ovale, bisweilen
nierenförmige Gestalt besitzt und sich leicht in die Lumbaigegend der ent-
sprechenden Seite verschieben lässt. Das Eingesunkensein der betreffenden
Lendengegend, der lautere Percussionsschall dieser Seite, das Verschwinden
der Abflachung der Lendenpartie und das Gleichwerden des Percussionsschalles
auf beiden Seiten nach Reposition der Wanderniere tragen zur Erkennung
1046 WANDERORGANE.
der Ren mobilis wesentlich bei. Im Allgemeinen ist die Palpation von Leuten,
welche an Wanderniere leiden, leicht, indem derartige Patienten, wie aus der
Aetiologie der Wandernieren erhellt, selten sehr fettleibig sind und meistens
schlaffe, dünne Bauchdecken haben. Es kommen aber für die Differential-
diagnose andere Geschwulstarten, wenn die Nierenform des Tumors sehr
unsicher ist, für uns in Betracht. Dabei aber handelt es sich nur um solche
Tumoren, welche beweglich sind. Bei rechtsseitiger Wanderniere kann eine
ausgedehnte Gallenblase zu Irrthümern den Anlass geben. Diese ist
aber nicht kugelig, bohnenförmig, sondern länglich, leicht Üuctuirend und an
ihrem oberen Ende nicht abgrenzbar. Bei linksseitiger Wanderniere kann die
Wandermilz in Frage treten.. Diese aber hat meist noch deutliche Milz-
form und unterscheidet sich vor allem dadurch, dass die Milz vor den Darm-
schlingen liegt und deshalb stets eine deutliche Dämpfungsfigur an der Bauch-
wand macht. Vor Verwechslungen mit Kothb allen schützt immer die zu
verschiedenen Zeiten wiederholte Untersuchung; die Kothballen sind fast stets
eindrückbar und schieben sich im Darm weiter; die Entleerung des Darmes
durch Einlaufe wird jeden Zweifel beseitigen. Die Untersuchung wird über-
haupt durch eine vorhergehende reichliche Entleerung des Darmes erleichtert.
Vielfach geben langgestielte Ovarientumore zu Verwechslungen Anlass;
sie sowohl, wie die Uterusfibroide sind aber von der Ren migrans da-
durch verschieden, dass ihre Beweglichkeit nach oben immer beschränkter und
schmerzhafter ist als bei der Wanderniere. W^eiterhin hat die Diöerential-
diagnose noch zu denken an Schnürleber, Leber mit abgeschnürten
Lappen, Echinococcen im Netz, Drüsengeschwülste, Tumoren
des Magens, Pancreas und Darmes. Die Rectaluntersuchung mit der
Hand ist im Stande, manchen dunklen Punkt zu erhellen. Für die Diagnose
ist auch der Umstand zu beachten, dass der Tumor der einfachen
Wanderniere nicht wächst. Schwieriger wird das Erkennen, wenn sich
in der beweglichen Niere Hydronephrose entwickelt, oder wenn durch
entzündliche Verwachsungen mit den Nachbarorganen die Wanderniere ihre
Beweglichkeit verloren und zu einer fixen, dislocirten Nierenectopie
sich umgewandelt hat. In solchen Fällen kann man häutig erst die Diagnose
dann stellen, wenn Einklemmungsparoxysmen das erwähnte Symptomenbild
geben. Recht schwierig und gar unmöglich wird die Diagnose, wenn ein
Tumor überhaupt nicht palpirbar ist. Die Diagnose sucht dann An-
haltspunkte in den subjectiven Beschwerden, w^elche nach activen und passiven
Bewegungen besonders heftig werden, während die Rückenlage den Schmerz
aufhebt oder erheblich vermindert. Auch Schmerzempfindungen bei Lage-
wechsel, Liegen auf der Seite, Erbrechen unter solchen Voraussetzungen,
werden für die Diagnose verwertet; aber mit solchen Symptomen kann man
doch nicht mehr als eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose liefern. Die
Wahrscheinlichkeitsdiagnose gewinnt an Wert, wenn Erscheinungen auftreten,
welche das Bild und den Verlauf der DiETL'schen Symptoine zeigen. Unmöglich
ist die Diagnose dann, wenn die Wanderniere durch Cysten oder Carcinome
degenerirt und dadurch ihre ursprüngliche Form verliert.
Prognose und Verlauf. Ein Todesfall an einfacher Wanderniere
gehört jedenfalls zu den allergrössten Seltenheiten, so dass nach dieser
Richtung hin die Prognose eine gute ist. Die Einklemmungsersch ei-
nungen und die Entwicklung einer circumscripten Peritonitis bergen schon
eher Gefahren in sich, aber thatsächlich pflegen auch solche Fälle von acuten
Einklemmungssymptomen gut zu verlaufen. Die Prognose ist von Trousseau
treffend durch die Bemerkung gezeichnet worden, dass die Prognose der
Wanderniere in keiner Weise ernsthaft sei; nur die Irrthümer, zu denen das
Leiden Veranlassung geben kann, machten die Störung zu einer ernsten. Ist
somit die Voraussage für das Leben eine gute, so ist sie, was die Heilung
WANDERORGANE. 1047
anlangt, ungünstig. Eine Heilung ist möglich, aber nur ausserordentlich
selten. Man hat nach Wochenbetten, nach langer Rückenlage die Wander-
niere schwinden sehen, aber im Ganzen sind das nur Ausnahmsfälle.
Therapie. Die Aufgabe der Behandlung der Wanderniere hat zwei
Punkte zum Vorwurf, die Wanderniere an ihre normale Stelle
zurückzubringen und sie an dieser Stelle festzuhalten. Die
Reposition der palpablen Niere ist meist eine einlache Manipulation,
indem man in der Rückenlage des Patienten mit der Hand einen leichten
Druck von vorne und unten nach hinten und oben ausüljt. Häufig fällt sogar
in der Rückenlage die dislocirte Niere von selbst in ihre normale Lage. Die
Reposition wird durch reichliche Entleerung des Darmcanals erleichtert.
Nicht so einfach ist die Retention der Niere nach der Reposition. Elastische
Leibbinden, leichte Bandagen mit elastischen Pelotten, Gurte von Kautschuk-
getlecht sind vielfach empfohlen und angewandt. Für jeden einzelnen Fall ist
die Bandage besonders anzupassen. Die Binden und Bandagen führen sehr oft
nicht zum Ziele; entweder rutscht der Verband, odör es rutscht, wie das
meistens der Fall ist, die Niere unter dem Verbände fort, vor Allem, wenn
man einen etwas stärkeren Druck ausübt. Diese Nachtheile werden zum
Theil vermieden durch die Pelotte von Guenau de Mussat, in Form eines
Winkelmaasses. Denselben Zwecken genügt oft eine einfache breite Leibbinde,
welche an der Stelle, wo die Niere hervorzukommen pflegt, eine starke,
elastische Pelotte trägt. Relativ gute Resultate geben die HAAXEx'schen Leib-
binden, die von Zuelzer angegebene Binde, welche aus einem System von
elastischen (Gummistreifen) und unnachgiebigen, festen Bändern, etwa 8 — 10
in der Breite, welche durch Querbänder verbunden sind, besc eht und einen
festen Abschluss gestattet. Viel angewandt wird ein Corset, das bis zu den
Schambeinen und zu den PouPAEx'schen Bändern verlängert wird. Es bedeckt
so den ganzen Bauch und übt, ohne fest geschnürt zu sein, einen gleich-
massigen Druck auf den Bauchinhalt aus, während es durch seine Befestigung
am knöchernen Thorax nicht verschiebbar ist. Diese künstlichen Bauch-
decken wirken günstig, weil sie nicht nur die Baucheingeweide ruhig stellen,
sondern auch den Hängebauch und die davon abhängenden Beschwerden tem-
porär beseitigen. Alle Bandagen müssen fortwährend getragen werden; da-
neben muss der Patient alle forcirten Bewegungen meiden, die beengende
Bekleidung bei Seite lassen und für leichte Darmentleerung sorgen, um die
Nachtheile des Fressens bei Obstipation zu vermeiden. Handelt es sich um
Leute, v/elche sehr abgemagert sind, so muss man durch geeignete Kost die
allgemeine Ernährung wieder heben, hat man doch nach der Mastcur bis-
weilen gute Resultate gesehen, ebenso nach der lange Zeit durchgeführten,
tonisirenden Behandlung, welche die subjectiven Beschwerden mindert.
Während der Ei nklemmungsersch einungen ist die Reposition
der Wanderniere nicht leicht, da selbst leichter Druck auf die Wanderniere
schmerzhaft ist; man soll aber trotzdem die Reposition so früh wie möglich
versuchen und kann sich eventuell der Narcose bedienen. Von einem allzu
forcirten Versuche muss man aber abrathen, da selbst vollständiger CoUaps
und Erbrechen solchem Eingriffe folgen kann. Zweckmässig ist es, sofort die
Rückenlage einnehmen zu lassen, wodurch schon oft die Schmerzen bedeutend
nachlassen. Mit Hilfe eines protahirten, warmen Bades, warmen Aufschlägen
und einer Morphiumeinspritzung gelingt häufig die Reposition in sanfter
Weise. Gelingt sie aber nicht, so erfordert die Ausbildung der Entzündung
absolute Ruhe, Eisbeutel, bisweilen locale Blutentziehung und Opium innerlich,
wie es die Therapie der acuten Peritonitis erheischt. Lassen die stürmischen
Erscheinungen nach, so muss man die Reposition aufs neue versuchen. Die
Reposition kann aber unmöglich werden, wenn durch die Entzündung eine
Verwachsung der Wanderniere mit der Umgebung zustande kommt.
1048 WEIL'SCHE KRANKHEIT.
Es bleibt aber eine Anzahl von Fällen, in denen sich eine
Linderung der von der Wanderniere abhängigen Symptome auf keine
Weise erzielen lässt. In solchen Fällen drängen die neuralgischen
Schmerzen, die dyspeptischen Erscheinungen, das ganze Heer der subjectiven
Klagen, die wiederholten Einklemmungen zu dem Versuche eines operativen
Eingriffes, welcher wesentlich in dem Versuche der Fixation der beweglichen
Niere an die Bauchwand besteht.
Prophylactisch lässt sich nicht sehr viel gegen die Wanderniere er-
zielen; doch kann man immerhin die Disposition für die Wanderniere ver-
mindern, wenn man bei Hängebauch, sehr schlaffen Bauchdecken und erheb-
licher, rascher Abmagerung bei vorher fetten Leuten eine zweckmässige
Binde tragen lässt. prior.
Weil'SChe Krankheit, im Jahre I886 berichtete A. Weil im ^BeuUchen
Archiv für Minische Median'^ über vier Krankheitsfälle, welche folgendes
Bild darboten. Kräftige Individuen erkrankten plötzlich unter Fiebererschei-
nungen von typhösem Charakter (Delirien, Somnolenz), während sich objectiv
Icterus, Leber- und Milzschwellung, sowie Zeichen von Nephritis (Albuminurie,
Cylinder, Blutzellen) constatiren Hessen. Nach circa 8 Tagen fiel die Tem-
peratur, sowie die eben geschilderten Erscheinungen allmählich zur Norm ab.
Die Reconvalescenz war nur eine sehr langsame, indem bei drei Kranken ein
Recidiv eintrat, welches ebenfalls circa eine Woche dauerte.
Anschliessend an diese Mittheilungen von Weil sind im Laufe des ab-
gelaufenen Decenniums eine grosse Reihe analoger Beobachtungen von ver-
schiedenen Autoren veröffentlicht worden (E. Wagner, Fiedler, Pfuhl,
HuEBNER, M. Weiss u. a.).
Auf Grund des gesammten Beobachtungsmaterials kann man sagen, dass
die WEiL'sche Krankheit eine acute Infectionskrankheit ist, die meist
ohne Prodrome mit Schüttelfrost einsetzt, auf der Höhe ihrer Erscheinungen
durch einige Tage hohes Fieber zeigt, welches nach einigen Tagen staffei-
förmig abfällt, um manchmal in der nächsten Woche wieder zu recidiviren.
Nebst den oben geschilderten Symptomen der Leber- und Milzvergrösse-
rung und des reichen Gehaltes des Harns an Eiweiss und Form-
bestandtheilen sind intensive Muskelschmerzen, namentlich
Wadenschmerzen, für die Erkrankung geradezu charakteristisch. Die
Symptome von Seiten des Digestionstractes sind dieselben wie bei an-
deren fieberhaften Infectionen: Appetitlosigkeit, trockene Zunge, Erbrechen,
Stuhlretardation oder Durchfälle. Auf der Haut zeigen sich Herpes-
Bläschen um Lippen und Nase, seltener ausgebreitete Exantheme von bald
Roseola-artigem, bald Urticaria-ähnlichem Charakter. Von Com-
plicationen und Nachkrankheiten wurden beobachtet: Nasenbluten,
Parotitis, Iridocyclitis, Augenmuskel-, Facialis- und Extremitätenparese.
Wiederholt wurde die Frage discutirt, ob die als WEiL'sche Krank-
heit beschriebenen Fälle wirklich einen Morbus sui generis darstellen oder
unter schon bekannte Krankheitstypen anderer Art einzureihen seien. Seit
Landouzy kennen wir einen Typhus hepatique, einen Abdominaltyphus,
der mit Icterus verlauft, wir wissen ferner, dass durch Fleischvergiftung
Gastroenteritiden hervorgerufen werden können, die ein ähnliches Bild bieten
wie die als WEiL'sche Krankheit beschriebenen Fälle, wir kennen endlich Fälle
von einfachem, katarrhalischem Icterus, welche zuweilen mit Milzver-
grösserung und Fieber einhergehen. Wenn man also an der Berechtigung der
WEiL'schen Krankheit als selbstständigen Krankheitstypus festhält, dann darf
man nur jene Fälle damit bezeichnen, welche die oben geschilderten Erschei-
nungen vollständig und in typischer Form darbieten. Diese Bezeich-
WERLHOF'SCHE KRANKHEIT. 1049
nung wird freilich nur so lange klinischer Nothbehelf bleiben, als nicht
ein speciiischer Mikroorganismus in diesen Fällen gefunden wird.
Die Prognose der WEiL'schen Krankheit ist eine durchaus günstige.
Differentialdiagnostisch kommen ausser Typhus, acuter Gastro-
enteritis auch noch die acute gelbe Leberatrophie, Miliartuberculose und acute
Phosphorvergiftung in Betracht.
Die Therapie ist eine symptomatische. " w.
Werlhof sehe Krankheit. (Morbus macuUsus WerlhofU. — Purpura
haemorrhagica.)
Es sind bald 1 50 Jahre verflossen, seitdem Werlhof ein Krankheits-
bild beschrieben, welches sich in der Hauptsache als erworbene, hämorrha-
gische Diathese kennzeichnet und den Purpuraformen anreiht. Die von
Werlhof gezeichnete Gestaltung des Leidens ist noch heute als raustergiltig
anzusehen, wenn auch die Meinungen darüber, wie sich dasselbe zu den
anderen, hämorrhagischen Erkrankungen stellt, noch nicht geklärt sind.
Wegen des Näheren auf das im Artikel ^Purpura'^ Gesagte verweisend, sei
hier nur kurz hervorgehoben, dass man unter WERLHOF'scher Krankheit nur
die selbständig, als acut verlaufendes Leiden, sporadisch auftretende hämor-
rhagische Diathese versteht, während man jede secundär, als Complication
oder Nachkrankheit anderer Erkrankungen auftretende Neigung zu Hämor-
rhagien nicht zu ihr zählen darf. Dagegen scheint es nicht motivirt, die-
jenigen Fälle, in denen die Blutungen sich nur auf die Hautdecken beschränken,
als Purpura simplex etc. abzutrennen, vielmehr gehören alle, nicht sympto-
matischen Purpuraformen zum Morbus maculosus; nur ein gradueller Unter-
schied zwischen ihnen ist anzuerkennen. — Den Scorbut muss man zur Zeit
noch von dem Morbus maculosus abtrennen; ob es stets so bleiben wird, sei
dahingestellt.
Symptomatologie: Die WERLHOF'sche Krankheit kann in jedem
Lebensalter, bei kräftigen wie bei schwächlichen Individuen ausbrechen, be-
vorzugt aber jugendliche Individuen bis zu 30 Jahren. Es ist ein Irrthum,
anzunehmen, dass eine gewisse, constitutionelle Schwächung als Basis des
Leidens vorhanden sein muss. — Dem eigentlichen Beginn des Leidens gehen oft
eine Keihe von Tagen Prodrome unbestimmter Natur voraus, ein Gefühl von
Abspannung, Müdigkeit, Appetitlosigkeit. Die erste eigentliche Krankheits-
erscheinung stellen meistens Hämorrhagien in der Haut dar, welche vor-
nehmlich und zuerst die unteren Extremitäten befallen. Die Grösse und Form
der einzelnen ist sehr verschieden, man findet Petechien, Vibices, grössere
Ecchymosen, zuweilen auch hämorrhagische Papeln und Blasen. Nur sehr
selten kommt es zur Bildung ausgedehnter Blutergüsse im subcutanen Binde-
gewebe. Die Zahl der Hämorrhagien nimmt gradatim nach oben zu ab, und
nur in den schweren Fällen findet man stärkere Betheiligung der Gesichtshaut.
Die ziemlich acut erfolgende Eruption geht oft mit leichtem Fieber einher, das
keinerlei regulären Typus zeigt. Einen ernsteren Charakter gewinnt das
Leiden, sobald sich Blutungen aus den Schleimhäuten, auf denen, soweit sie
sichtbar sind, auch Petechien und Suftusionen sich bilden, in den inneren
Organen oder in den serösen Körperhöhlen, was sehr selten ist, hinzugesellou.
Es sollen auch Fälle beobachtet worden sein, wo die Hämorrhagien sich nur auf
Schleimhäute etc. beschränkten, während die Hautdecke ganz frei von ihnen
blieb. — Magenblutungen geben sich gewöhnlich durch stärkere Hämatemesis
kund, können aber gleich den Darmblutungen auch latent verlaufen. Eine
Beobachtung der Faeces ist daher um so nöthiger, je weniger ein anämischer
Zustand durch andere Erscheinungen erklärt werden kann. Grosse Gefahren
können auch eine Epistaxis, eine Hämoptoe, eine stärkere Hämaturie mit sich
1050 WERLHOF'SCHE KRANKHEIT.
bringen, noch grössere eine Blutung in edle Organe, vor allem in das Hirn;
die Symptome werden natürlich dem Sitze der Blutung entsprechen.
Der Verlauf der Krankheit ist ein ganz verschiedener. Bald kommt
es nach 1 — 2 Wochen, ohne dass gefahrdrohende Symptome hervorgetreten
wären, zu schneller Genesung, bald zieht sich das Leiden durch fortgesetzte
Blutungen wochenlang hin, führt zu den höchsten Graden der Anämie mit all'
ihren Folgen, um aber doch schliesslich in Genesung zu enden, bald endlich
bewirkt nach heftigen, grösseren Blutungen acut, oder nach weniger heftigen,
aber sich hartnäckig wiederholenden kleineren Blutungen subacut sich ent-
wickelnde Anämie den tödlichen Ausgang. Festgehalten muss werden, dass
jederzeit eine leichte Form in eine schwere übergehen kann und man in allen
Fällen auf ernstere Blutungen jederzeit gefasst sein muss. — Recidive nach
kürzerer oder längerer Zeit sind durchaus nicht selten.
Die genauere Untersuchung des Kranken ergiebt im ganzen wenig Auf-
fallendes: Das Zahnfleisch ist — im Gegensatz zu Scorbut — fast stets
normal, eine Angina nicht selten. — Die Athmungsorgane zeigen, wenn sie
nicht der Sitz von Blutungen sind, nichts abnormes. — Die Herzthätigkeit
ist, so lange nicht nennenswerte Blutverluste eingetreten sind, nur ent-
sprechend dem etwa bestehenden Fieber beschleunigt; ist es zu starker Anä-
mie gekommen, dann hört man oft anämische Herzgeräusche, der Puls ist
klein und frequent. — Die Leber ist nur sehr selten etwas geschwollen;
zu Icterus kommt es in Folge des Morbus maculosus fast niemals. Es ist
das der Thatsache gegenüber, dass hämorrhagische Diathese als Folge eines
stärkeren Icterus auftreten kann, wohl zu beherzigen. — Fast constant findet
man eine deutliche Schwellung der Milz.
Die Blutuntersuchung giebt wenig Anhaltspunkte für die Entstehung
des Leidens; man findet Microcyten, zuweilen etwas Leucocytose. Bei starken
Blutverlusten geht der Hämoglobingehalt der Abnahme der rothen Blut-
körperchen parallel herunter.
Als Complicationen sind Erytheme, Urticaria, Schleimhautgeschwüre
zu nennen.
Aetiologie: Eine bestimmte Ursache ist noch nicht bekannt, betreffs
der Noxen microbiärer Natur verweise ich auf das bei „Purpura"' Gesagte.
Diagnose: Der Morbus maculosus muss abgegrenzt werden vor allem
von allen hämorrhagischen Erkrankungen secundärer Natur, wie wir sie bei
vielen acuten Infectionskrankheiten (Sepsis, Diphtherie, Scarlatina, Variola,
Typhus etc.) beobachten; es werden sich dieselben wohl meistens durch das
Fehlen anderweitiger Symptome ausschliessen lassen. Aber auch bei chro-
nischen Infectionskrankheiten, wie bei der Syphilis, können wir petechialen
Exanthemen begegnen. — Einwirkung von Giften muss man natürlich aus-
geschlossen haben, ebenso auf Idiosyncrasie beruhende Hämorrhagien nach
manchen Medicamenten (Quecksilber). — Dass Hämophilie anamnestisch berück-
sichtigt werden muss, ist selbstverständlich. — Mit der Abgrenzung gegen-
über den anderen Purpuraformen, resp. der Peliosis rheumatica, werden wir
uns jetzt nur noch wenig Mühe geben, da die Affectionen alle keine princi-
piellen Verschiedenheiten bieten, dagegen werden wir dem Scorbut gegenüber
an dem Fehlen der charakteristischen Gingivitis festhalten. Ob Uebergänge
zwischen beiden Leiden vorhanden sind, bleibe hier unerörtert.
Anatomie: Die pathologischen Veränderungen bieten wenig Charak-
teristisches, da sie einerseits nur die durch die Blutungen auf Haut, Schleim-
häuten und in den inneren Organen bewirkten Anomalien, andererseits die
Folgen starker Anämie uns vor Augen führen. — Die mikroskopische Unter-
suchung hat bisher vergeblich nach Veränderungen in den Wandungen der
Blutgefässe geforscht, die pathognomonisch für den Process hätten sein
können.
ZAHNEN. 1051
Prognose: Die früher bei Morbus maculosus Werlhofii gestellte
ungünstige Prognose ist nicht berechtigt, da der grössere Theil der Patienten
gesund wird. Jedoch herrscht insofern eine Unsicherheit in der Prognose,
als milder Beginn durchaus nicht schwere Blutungen ausschliesst und wir vor
Ablauf des Leidens keinen Anhaltspunkt für die Gestaltung desselben haben, so-
weit derselbe nicht durch die constitutionelle Beschaffenheit des Erkrankten
gegeben ist.
Therapie: Eine specifische Therapie besitzen wir nicht, betreffs der
symptomatischen verweise ich auf den Artikel ^^Purjmra.''
JESSNER.
Zahnen. Die künftigen Zähne liegen beim Neugeborenen vorgebil-
det in kleinen Höhlen des Kiefers. Der gegen den Zahnrand hin knor-
pelige Verschluss dieser Zahnhöhlchen schwindet im Laufe der Entwick-
lung der Zähne, und ebenso schwinden die Weichtheile, die darüber liegen
und von dem wachsenden Zahn auf dem „Weg nach Freiheit" durchdrun-
gen werden müssen. Auf diese physiologische, ohne jeden gewaltsamen Druck
vor sich gehende Art des Processes stützen sich jetzt diejenigen, welche
unter Führung von Kassowitz jede Beleidigung und Zerrung des Zahnfleisches
bei der Zahnung und jede davon hergeleitete pathologische Erscheinung ab-
leugnen. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass Einschnitte auf einen
noch tief liegenden Zahn ruhig wieder vernarben, zum Beweis dafür, dass
dieser Zahn seine Bedeckung nicht in einen gespannten Zustand gebracht
hatte, infolge dessen nach dem erlösenden Schnitt die Ränder hätten
auseinander klaffen und klaffend hätten bleiben müssen. Kassowitz erzählt
sogar, dass John Hunter auf einen einzigen Zahn 10 und 20mal incidirt
hätte und der Schnitt jedesmal wieder verheilt wäre. Das müssen denn
freilich noch sehr tief steckende Zähne gewesen sein, über denen das weiter
oberhalb befindliche Fleisch noch durchaus nicht gespannt gewesen zu sein
braucht, wenn es auch die unmittelbar über dem Zahn befindlichen Schichten
vielleicht sehr wohl waren. Ich kann wenigstens bezeugen, dass Einschnitte
einer nur noch sehr dünnen, über dem Zahn befindlichen Schleimhautschicht
sofort dauernd klafften und den Zahn zutage treten Hessen. Anderntheils
sehe ich eben wieder seit 14 Tagen 2 Schneidezähne eines Kindes durch die
nur noch ganz dünne Haut weisslich schimmern, so dass man jeden Tag den
Durchbruch erwartete — vergebens. Man könnte dies „vergebens" wohl so
erklären, dass die 2 Zähne aus irgend einem Grund ihr Wachsthum einstellten
— auch das Gesammtwachsthum des Kindes erfuhr in dieser Zeit einen Still-
stand — und desshalb den kleinen Piest ihrer Hülle nicht sprengten. Wenn
das Zahnfleisch einfach infolge eines Entwicklungsvorganges auseinanderfiele,
statt gesprengt zu werden, so ist eine solche lauge Dauer des letzten zum
Zerfall bestimmten Restes etwas weniger verständlich. Man müsste dann an-
nehmen, dass auch der Zerfall aussetzte, weil das W^achsthum eine Unter-
brechung erfuhr. Noch mehr! Als das Durchschimmern des Zahnes ganz un-
mittelbar dem Durchbruch vorauszugehen schien, da trat ein mehrtägiges
Fieber ein, für das mit aller Sorgfalt keinerlei Grund, weder in den äusseren
Decken noch den innern Organen, die der Verdauung eingeschlossen, zu finden
war. Damit trat eine Abnahme des Körpergewichts ein, noch ehe ich dem
Fieber zulieb die Nahrungszufuhr vermindert hatte, und das erwähnte ganz un-
erwartete Ausbleiben des Zahndurchbruchs. Dieses Ausbleiben also könnte
gleichfalls die Folge des Zahnfiebers gewesen sein und wieder das plötzliche
Aufhören des Fiebers nach wenigen Tagen die Folge des Aufhörens des Zahn-
wachsthums. Ich sage nicht, dass das so war, weil ich es nicht beweisen
kann, und weil noch viel mehr Fälle vorkommen, wo ein derartiger Kreislauf
der Erscheinungen nicht hervortritt, jedenfalls nicht beobachtet wird.
1052 ZAHNEN.
Wenn man aber auch, wie ich mit Kassowitz that, das Zahnen als einen
physiologischen und in der Regel mehr oder weniger spurlos verlaufenden
Process annimmt, wenn man auch den Modus, mit dessen Beschreibung wir
begonnen haben, als einen anerkennt, der den glatten Verlauf als selbstver-
ständlich erscheinen lässt, so dürfen dieser Regel zulieb die Möglichkeiten
ungewöhnlicheren Ablaufs nicht mit Schweigen übergangen werden. Vielmehr
ist an ihrer Hand darauf hinzuweisen, dass wie bei der weiblichen Menstrua-
tion, für deren ungestörten Ablauf eigentlich noch besser gesorgt ist, so auch
beim Zahnen unter die Mehrzahl physiologischer Fälle mehr oder weniger ab-
norme eingestreut werden können.
Sonach mögen wir zunächst an der Hand des von Kassowitz reichlich
beigebrachten und studirten Materials sehen, ob und wie weit solche zu er-
warten sind. Kassowitz nennt zunächst 3 gleichgestimmte Vorgänger in der
Frage, Wichmann (1797), Politzer (1814) und im Wesentlichen auch
Fleischmann (1876), die jeden krankmachenden Einfluss des Zahnprocesses
ablehnten, und macht dann auf die sehr bemerkenswerte Thatsache aufmerk-
sam, dass die Dentitio difficilis absolut keine oder, sagen wir lieber, fast
keine Casuistik habe, dass einzelne Beobachtungen sich in der Literatur, wie
in den Berichten der Spitäler und Polikliniken nicht oder fast nicht aufgezählt
tinden, dass irgend systematische Thermometer-Untersuchungen über Zahn-
fieber von niemandem geliefert worden seien. Wenn er dann aber für die
zeitweise, wie ich auch weiss, sehr aufdringliche Schmerzhaftigkeit beim
Durchbruch der Weisheitszähne besondere Verhältnisse am Kiefer als Grund
angiebt, so giebt er implicite doch besondere Verhältnisse zu, unter denen auch
die Dentitio einmal unangenehm, difficilis werden kann,
Kassowitz hat dann selber eine imposante Masse von Kindern bei Be-
handlung der Rhachitis, beim Impfen, sonst in der Poliklinik während des
Zahnprocesses gesehen, andere in seiner Privatpraxis länger beobachtet,
endlich seine 4 eigenen Kinder in der ganzen Entwicklung fortlaufend ver-
folgt und niemals eine Entzündung im Munde, nie Krämpfe, allge-
meine und Glottis kr ämpfe, Diarrhoen, Temperatur Steigerungen
gesehen. Insbesondere an seinen eigenen hat er absolut keine der genannten
Störungen mit oder ohne Fieber gefunden, die in regelmässigen Perioden mit
den Zahndurchbrüchen gekommen und gegangen wären, auch nicht einen mit
diesen congruenten Entwicklungsstillstand, welchen Dehio aus einer eigenen
und einer Aufzeichnung von Woeonichow berechnet hatte. Nicht minder
fehlten in seinem ganzen Material Stomatitiden, bei welchen dieser Zu-
sammenhang hervorgetreten wäre. Während von 40.000 von Kassowitz be-
obachteten Kindern 25.000 im Alter der Zahnung standen, fielen von 482
Mundentzündungen nur 301 in dieses Alter, d. i. 62-57o Kinder zahnten und
62'4% aller Stomatitiden fielen ins Alter der Zahnung, eine Uebereinstimmung,
wie man sie nicht besser zu recht machen könnte, um zu zeigen, dass das
Zahnen ganz irrelevant ist für das Auftreten einer angeblich durch dasselbe
veranlassten Entzündung. Alle Beachtung verdient, dass gegenüber diesen
spärlichen Mundentzündungen, die allenfalls auf die Zähne bezogen werden
können, nach Angabe von Kassowitz diejenigen Leiden um diese Zeit ge-
wöhnlich übersehen werden, welche bei Kindern ausserordentlich häufig
und die Ursache dervermeintlichen Zahn fi eher und Zahnkrämpfe
seien: in erster Linie die zahlreichen selbstständigen Anginen, dann nicht
selten unbeachtete Lymphadenitiden, Wechselfieber, Pneumonieen, Otitiden u. a.
Dass die Convulsionen von Zahndurchbruch hervorgerufen wwden, ist der
Thatsache gegenüber wenig wahrscheinlich, dass die Convulsionen gerade im
jüngeren Alter häufiger sind, im spätem aber verlangsamter (erschwerter) Zahn-
durchbruch und Convulsionen, einschliesslich Glottiskrampf, durch eine Ur-
sache gleichmässig bedingt würden, die Rhachitis.
ZAHNEN.
1053
Das allergrösste Verdienst hat sich der Kampf gegen die „Zahnkrank-
heiten" erworben, so weit er sich gegen die „Zahndi arrhoe" richtet. Ich
lasse ganz dahingestellt sein, ob all die Erklärungen, die Kassowitz für
eine jedesmalige andere Ursache der Diarrhoe giebt, richtig sind. Die Hauptsache
in diesem Theil des Kampfes ist die Vertreibung der stumpfsinnigen Idee,
dass man gegen eine Zahndiarrhoe nichts machen könne, weil sie unumgänglich,
nichts zu machen brauche, weil sie unschädlich, nichts machen dürfe, weil
sie nützlich sei. Einen Scliaden von einer diätetischen Cur dieser Diarrhoe
hat sicherlich nie ein Mensch gesehen, die abergläubische Unterlassung dieser
Cur aber sicherlich schon viele Menschen umgebracht. Dies würde erst recht
bewiesen, wenn das richtig wäre, was die Anhänger der Zahnkrankheiten be-
haupten, Kassowitz aber bestreitet, dass zur Zeit des Zahnens die Säuglings-
sterblichkeit zunimmt, da hieran die Verdauungsstörungen gewiss ihren üb-
lichen vorwiegenden Antheil hätten.
Ich hatte seinerzeit aus der 8. Auflage Vogel's (1880) in die 9. d. i.
meine 1. Auflage (1887) das Citat übernommen, wonach Israeli in Amsterdam
bei Zusammenstellung einer oOjährigen Kindersterblichkeit ein erstes Maximum
im 1. Lebensmonat, ein zweites im 3. und 4., endlich ein drittes im 7. und
8. Monat beobachtet hätte. In letzter Periode, wo die Sterblichkeit 3 — 4mal
so gross, als im 5. und 6., gewesen sei, wurde als Ursache dazu der Beginn
des Zahnens angenommen. Nun würde dies schon zweifelhaft, weil das 3. — 4.
Monatsmaximum doch sicher einen andern Grund hat, wahrscheinlich den ersten
Einbruch vorwiegender künstlicher Ernährung, gleichsam die erste Ablac-
tation; für das 2. Maximum wäre sonach die gleiche Ursache, die hier meist
zur Ausführung kommende, definitive Ablactation, naheliegend. Kassow^itz' Nach-
weis, dass in Wien 1889 die Kindersterblichkeit im ersten Jahr von Trimester
zu Trimester stetig sank, rief bei mir zuerst dass Misstrauen in jene Statistik
und ihre Deutung wach, obwohl noch nicht ausgeschlossen war, dass innerhalb
des ganzen 3. Trimesters doch eine umschriebene Erhebung der Mortalitäts-
curve vielleicht hätte, wie in Amsterdam, zur Beobachtung kommen können,
dann aber die längere Beobachtungsdauer in Amsterdam beweisender gewesen
wäre. Ich habe aber schon in die 1893er Auflage meines Buches über „Kinder-
ernährung" (S. 4) eine Statistik von Faer aus England von 1838—1854 nach
Westergaard beibringen können mit Angaben der Sterblichkeit nach ein-
zelnen Monaten des ersten Lebensjahres. Danach starben, durch Multipli-
cation mit 12 für jeden Monat aufs Jahr berechnet, von 100 Kindern im
1. M.
2. M.
3. M.
4 M.
5. M.
6. M.
7. M.
8. M.
9. M.
10. M.
n.M.
12 M.
57,1
21,8
15,7
13,18
12.6
12,0
11,5
10,9
10,5
10,0
9,5
9,16
Und jetzt kann ich eine von Eröss mitgetheilte Tabelle über die Ber-
liner Sterblichkeit der nicht ausschliesslich an der Brust ernährten Kinder
(Stat. Jhrb. der Stadt Berlin) beifügen, wonach von 1000 lebenden Säuglingen
starben im
1. M.
1890 a- JloO.OO
2. M. 3. M
81.06 ! 67.99
4. M.
58.09
5. M. j 6. M.
46.27 40.65
7. M. : 8. M. ! 9. M. 10. M. 11. M. 12. M.
34.82 31.70 27.88 24.84 21.14 18.34
b. 6.56 8.86 1 12.36 14.13 12.55 ; 12.78 10.68
7.32 7.58 5 87 5 49 4.11
a. (175.56
89.18 71.01
57.24 1 50.60 1 38.84 30.96 25.79 j 23.31 19.36 I 16.33 "j 15.33
b. [ 8.54
1160 13.55
13.79
14.93 11.81
9.44
8.71 9.07 7.42 4.65 , 4.75
1054 ZAHNEN.
In der 2. Reihe h ist jedesmal der Multiplicator beigesetzt, um welchen
diese Sterblichkeit diejenige der ausschliesslich an der Brust Genährten übertrifft.
Die englische Statistik wie die Linie a der Berliner sinkt in einer Gleichmässig-
keit ab, in welcher kaum ein Platz für einen üblen Einlluss des Zahnens zu
sein scheint. In den Linien h der letztern findet sich allerdings ein leichtes An-
steigen im 9. beziehungsweise 9. und 10. Monat, welches auf einen schlimmeren
Eintiuss der künstlichen Ernährung in diesen Monaten, wo vielleicht rasch
eine grössere Zahl Kinder derselben unterworfen werden, oder auf einen solchen
des Zahnens auf die Brustkinder in den vorhergehenden 7. und 8. Monaten
gedeutet werden könnte, der dann in aufiälliger Weise die gleichen Monate,
wie in Amsterdam beträfe. Jedenfalls tritt in Bezug auf die Sterblichkeit
der supponirte Einfluss des Zahnens ausserordentlich zurück, sowohl hinter den
der Gewöhnung an das Leben überhaupt, als hinter den der Ernährung. Die
Kinder, welche sich mit diesen Factoren nicht abfinden können, sterben
rascher ab, und in jedem spätem Monat bleiben desshalb immer mehr von
den adaptirten leben, sodass die Mortalitätslinie in dieser Gleichmässigkeit
sinken muss, wenn nicht ein sehr starker Einfluss des Zahnens darauf vor-
handen ist, der sonach ausgeschlossen erscheint.
Um so mehr Berücksichtigung verdient es indessen, wenn in dieser ge-
bundenen Route doch noch etwas kenntlich bleibt, was — wie wir bemerkten
— auf das Zahnen hindeutet. Und dafür, dass man dies als Entwicklungs-
störung nicht ganz von der Hand weisen kann, spricht dann noch der „Zahn-
knack" in den Curven über das Wachsthum der Kinder, die Camerer aus
allem zugänglichen guten Material zusammengestellt hat (J. f. K. N. F. XXXVI),
und der in die 36. — 40. Woche am deutlichsten fällt, wo die Gewichtszu-
nahme sogar hinter der nachfolgenden zurückbleibt, während die mangelhafte
Entwicklung vielleicht schon von der 28. Woche ab, also schon vom 7. bis 9.
Monat an, wie für die Sterblichkeitsverschlechterung, sich leise geltend macht.
Dass dieses Zurückbleiben der Gewichtszunahme in seinen ausgesuchten Fällen
nicht von der Entwöhnung abhängen könne, bew^eist Camerer damit, dass
seine Brustkinder zu sehr verschiedenen Zeiten und nicht gerade in dieser
Zeit abgewöhnt wurden, noch mehr aber damit, dass die von jeher künstlich
genährten Kinder dieselbe Erscheinung zur selben Zeit zeigen. Das wird ins
Gewicht fallen für Dehio, den Kassowitz in seiner Annahme einer einfachen
Entwicklungsstörung durch das Zahnen bekämpft.
Es würde auch für die Möglichkeit verw^ertet werden können, dass die
Vorgänge in der Mundhöhle während des Zahnens, und sei es nur das Beissen
auf alles Mögliche, das man den Kindern hier gestattet, auf eine Vermehrung
und ungünstige Entwicklung der Absonderung und des Pilzstandes in dieser
Höhle und somit durch Infection der Nahrung auf Störung der Verdauung
hin wirken. Bekanntlich weise ich auf die Möglichkeit einer Schädigung der
zugeführten Nahrung durch Mundinfection unter verschiedenen Verhältnissen,
so auch beim Zahnen seit Langem hin. All das würde aber nicht für die
Gleichgiltigkeit und Nützlichkeit oder auch nur für die Unabänderlichkeit einer
Zahndiarrhoe zu verwerten sein, und so stehen wir praktisch wieder voll
auf der Seite von Kassowitz in seinem Kampfe gegen die hergebrachte Mei-
nung von der Dentitio difficilis.
Verhältnismässig viel leichter, als das seither Besprochene, wiegt das,
was noch bleibt. Zahnhusten, der als krampfhafter Refiex- oder als Er-
kältungshusten infolge der Durchnässung der Brust durch Geifern entstehen
soll; Augenentzündungen, die erst nach Durchbruch von (Eck-, Augen-)
Zähnen heilen. Wenn auch andere, wie Henoch, das letztere einmal gesehen
zu haben scheinen, so existirt sonst darüber doch wiederum keine wirkliche
Casuistik, und nicht besser steht es in dieser Beziehung um die E. Ppeiffer'-
schen Zahnpocken, die gleich nach dem Vortrag Pfeipfer's in Heidelberg
ZAHNEN. 1055
von Hochsinger wie nachher von Kassowitz für Liehen iirticatus oder Pru-
rigo mitis erklärt wurden. Wenn nun auch dies schon in jener Sitzung von
Wyss und Ranke, z. B. mit dem Hinweis darauf, dass die „Zahnpocken" auch
auf den Handtellern vorkämen, der Prurigo levis nicht, zurückgewiesen und
die Afi'ection damals als eine besondere Hautkrankheit der Kinder schliesslich
in Geltung blieb, so wurde doch weder im Allgemeinen noch in einzelnen
beobachteten Fällen und Eruptionen eine solche Congruenz mit dem Zahn-
durchbruch gezeigt, dass dadurch eine Verknüpfung mit denselben erwiesen
schiene. In dieser Hinsicht erscheinen also, wie ich mich überzeugt habe, die
Einwürfe von Kassowitz ebenfalls berechtigt.
Wenn sonach anerkannt werden muss, dass dessen umfassende und gründ-
liche Untersuchungen eine ausserordentlich verdienstliche Peinigung in dem
Theil der Pathologie, in welchem die „Zahnkrankheiten" nisteten, vorgenommen
haben, so ist doch mein Widerstreben, irgend eine wissenschaftliche Frage
für unweigerlich und endgiltig abgethan erklären zu lassen, altbegründet und
durch die Erfahrungen mit den Thymuskrankheiten neu gestärkt. Auch fühle
ich mich entschieden sowohl durch eine gewisse Ehrfurcht vor den Alten, deren
Angaben doch nicht immer einfach aus den Fingern gesogen waren, ebenso
beeinflusst, wie durch modern denkende und klar beobachtende Collegen, die
auf Grund ihrer Familienerfahrungen Zahnbeschw^erden der Kinder als etwas
ganz Zweifelloses bezeichnen. Ich habe deshalb schon meine eigene Erfahrung
in den Anfang dieser Besprechung und neue statistische Gesichtspunkte in
die Betrachtung der Möglichkeit, dass Verdauung und Ernährung durch das
Zahnen beeinflusst wurden, in diesem Sinne eingeflochten. Ich möchte jetzt,
einer Aufi'orderung von Kassowitz selbst nachkommend, kurz auf eine Anzahl
anscheinend besser fundirter Einzelfälle, die ich zum Theil früher schon er-
wähnt habe, zurückkommen.
Selbst Zahnfieber will Tedeschi 1889 in zahlreicheren Temperatur-
messungen constatirt haben und eine Hautaffection, wenn auch anders geartet, so
doch analog den Zahnpocken, hat Toedeus 1890 in Form einer neuropathischen
Cyanose an Extremitäten, Gesicht oder Ptumpf bei mehreren Zahndurchbrüchen
wiederholt beobachtet. Ich habe mitten in gut geordneter Ernährung bei
einem Säugling „plötzliche Diarrhöe und graue Geschw^ürchen an der Zungen-
spitze gerade da, wo am oberen Zahnfleischrand 2 gelbbelegte, lineare Ulcera"
den eben dem Durchbruch nahen oberen Schneidezähnen aufsassen. Mit Er-
scheinen des erstdurchbrechenden, rechten Zahns schwinden hier die Er-
scheinungen, links dauern sie noch 3 Wochen bis zum Zahndurchbruch, und
erst dann hört auch die Verdauungsstörung völlig auf. Damit decken sich
die HENOCH'schen Beobachtungen über Erodirung und leichte Blutung des
ganzen Zahnfleisches und besser noch über dunkle Röthung und obei-flächliche
Ulceration der auf die durchbrechenden Zähne beschränkten Stellen des Zahn-
fleisches. Bemerkenswert ist hierzu das Zugeständnis des Collegen und
Zahnarztes Landsberger, der, sonst völlig Kassowitz betreffend das Nicht-
pathologische des Zahnprocesses beipflichtend, Entzündung und Ulcerationen
an durchbrechenden Zähnen zugiebt und auf Infection der frisch wunden Zahn-
fleischränder mit Nahrung, Schnullern, Beissobjecten, Fingern der Wärterinnen
etc. schiebt („Die Praxis" 1896). Auf dem Gebiet der reflectorischen Nerven-
und Hirnerscheinungen liegen zw'ei weitere Beobachtungen vor. Die w^eitest-
gehende wäre die von Concetti (1891), wonach 2 Kinder einer Familie unter
Symptomen von Hirnerkrankung und Krämpfen, während das Zahnfleisch über
den vorbrechenden Zähnen starke Veränderungen zeigte, gestorbep wären,
während das dritte und vierte von denselben Erscheinungen, und zwar wieder-
holt bei neuen Zahndurchbrüchen, durch Zahnfleischeinschnitte befreit wurden.
Während ich nicht sagen kann, dass ich von Einschnitten in einigen als be-
sonders geeignet erscheinenden Fällen einen ebenso eclatanten Nutzen ge-
1056 ZWANGS-BEWEGUNGEN.
sehen hätte, fand ich doch bei einem sehr nervösen, aber nicht rhachitischen
2jährigen Knaben, der früher lange an gestörter Ernährung gelitten hatte,
ein ähnliches Zusammentreffen von Krankheitserscheinungen mit Zahndurch-
brüchen. Ohne anderen Anlass wird der Junge verdriesslich, empfindlich,
will immer liegen, klagt anhaltend über Kopfweh, hat angehaltenen Stuhl und
Temperaturen von 38 — 38"7. Da kein anderer Grund tiefer zu finden, fürchten
wir nach mehrwöchentlicher Dauer die Entwicklung eines Hydrocephalus, bis
plötzlich nach Durchbruch eines Backzahnes das Aufhören aller Störungen
von dieser Furcht befreite. Bei den zwei folgenden Backzähnen kamen die
gleichen Beschwerden und das gleiche Ende zur Beobachtung. Bei dem vierten
und letzten der Gruppe und der nächstfolgenden wurde sonderbarer Weise
nichts mehr davon bemerkt, vielleicht weil der Junge kräftiger geworden
und dem Einfluss der vorausgegangenen Verdauungsstörungen mehr entrückt war.
Ich will nun nicht behaupten, dass die spärlich hier beigebrachten Er-
fahrungen ein starkes Gegengewicht gegen die mächtige Fülle der Beweise
und Gründe von Kassowitz bieten oder dass danach auch ein solches für
die Zukunft zu erwarten wäre. Es wird sich wohl nach meiner im Laufe der
Jahre gewonnenen Anschauung, der auch Landsberger jetzt Ausdruck verleiht,
so gestalten, dass nicht das Zahnen Beschwerden macht, sondern dass das-
selbe beschwerlich gemacht werden kann durch zukommende äussere (infec-
tiöse) Ursachen oder innere schädigende Umstände, wie besondere Reizbarkeit
des Kindes, ungünstige Stellung des Zahnes oder Verhältnisse im Kiefer und
dgl. Für jetzt mag als recht gelten, wenn Guaita in einem offenen Brief
an SoMMA nach Befragen von 1650 Müttern leichte örtliche Beschwerden und
Reflexstörungen, unruhigen Schlaf, Verdauungsstörungen etc. als Folgen des
Zahnreizes einräumt, aber sich im Uebrigen auf den Standpunkt von Kasso-
witz stellt: „Die Dentitionskrankheiten sind in Mehrheit der Ausdruck irgend
eines anderen pathologischen Vorganges."
Nun wohl! Mit den Dentitionskrankheiten in ihrer alten Form und Be-
gründung ist damit aufgeräumt. Uebersehen wir aber nicht, dass mit dem
Verwerfen der alten Deduction das Feld frei gemacht ist für eine neue Induc-
tion, etwa in der Weise, wie Anfänge in dem Vorstehenden enthalten sind.
Der negirende Standpunkt geht soweit, als eine gut beobachtete, ihm entge-
genstehende Casuistik fehlt. Er muss verlangen und demnach auch erlau-
ben, dass eine solche beigebracht werde und kann demnach die Acten noch
nicht schliessen.*) biedert.
Zwangs- Bewegungen im weitesten Sinne des Wortes stellen alle ohne
oder gegen den Willen erfolgenden motorischen Entäusserungen dar. Sie
können entweder psychisch vermittelt sein und sind dann zumeist Zwangs-
handlungen, oder sie entstehen auf rein mechanischem oder reflectorischem
Wege und sind dann zum Theil als Muskelkrämpfe oder diesen verwandte
Zustände aufzufassen.
Die Genese der Zwangs-Handlungen ist m dem Aitikel „Zivangs-
vor Stellungen''^ erörtert. Sie kommen zustande, wenn die Zwangsvorstellungen
nicht zu beherrschende Impulse zum Handeln auslösen und gebieterisch zu
entsprechenden Thaten antreiben. Sie können durchaus harmloser Natur sein,
wie beständiges Sichumkleiden, Waschen der Hände, Berührung gewisser
Gegenstände u. dgl. m., oder sehr verhängnisvoller Art, wie Morde, Selbst-
morde, Brandstiftungen.
*) Mittlerweile haben wir Gelegenheit gehabt, das im Eingang erwähnte Kind un-
ter noch merkwürdigeren, immer mit kommenden Zähnen in zeitlicher Verbindung stehen-
den Umständen sterben zu sehen, und die Section hat keine anderweitige Erklärung für
den Tod gebracht.
ZWANGSBEWEGUNGEN. 1057
Den reinsten Typus der organisch entstandenen Zwangsbewe-
gungen stellen eigenthümlich krampfhafte, nach abnormen Richtungen hin
erfolgende Bewegungen dar, die bei Menschen und Thieren nach einseitigen
Verletzungen des Mittelhirns (besonders des Sehhügels, des Hirnschenkels,
der Brücke) eintreten. Hieher gehören die Reitbahn- oder Manege-
Bewegung, bei der das verletzte Thier unausgesetzte Bewegungen in der
Peripherie eines Kreises ausführt; die Wälz- oder Rollbewegung, wobei
es sich beständig um seine Längsachse wälzt; die Zeiger-Bewegung,
wobei das Thier sich als Radius eines Kreises bewegt, in dessen Centrum die
Hinterbeine bleiben; endlich krampfhaftes Vorwärts- oder Rückwärtseilen.
Auch Strabismus und Nystagmus werden beobachtet.
Infolge functioneller Reizung der Hirnrinde beobachten wir man-
cherlei Zwangsbewegungen bei Geistesstörungen, wie namentlich bei der
Manie und der Katatonie, wie des Näheren in den betrefienden Artikeln aus-
geführt ist.
Einen vorwiegend reflectorischen Charakter hat endlich eine
grössere Reihe von Zwangsbewegungen, die gemeinhin als „Krämpfe" be-
zeichnet werden. Hieher gehören namentlich der Facialis-Krampf (der in
einem besondern Artikel geschildert ist), die Maladie des Tics, die Respirations-
Krämpfe, die Wein-, Lach- und Schreikrämpfe, die Krämpfe im Bereiche des
motorischen Astes des Trigeminus, im Bereiche des Nervus accessorius und
des Hypoglossus.
Maladie des Tics convulsifs (Maladie des Tics impulsifs, Tic
genercd, Erinnerungsh'ämpfe), eine seltene Motilitäts-Neurose, die sich in der
Regel auf hereditärer Grundlage in der Kindheit entwickelt, kennzeichnet sich
durch Zuckungen der Gesichtsmuskeln, durch combinirte, sich stets in der
gleichen Weise wiederholende Bewegungen, durch Koprolalie, Echolalie, zu-
weilen auch durch Echokinesis.
Das Leiden entwickelt sich zumeist nach einer Gemüthsbewegung, sel-
tener nach Traumen oder Infectionskrankheiten.
Zuerst treten Zuckungen der Gesichtsmuskeln auf, wie Augenblinzeln,
Verziehen des Gesichts u. a, m.; sodann solche der Halsmuskeln (Sterno-
cleidomastoideus, Cucullaris). Später folgen Zwangsbewegungen, die den An-
schein des Zielbewussten haben, wie durch einen Affect oder durch die Ge-
wohnheit bedingt scheinen (Greifen nach dem Gesicht, Ausspeien, in die Hände
Klatschen, Tanz- oder Springbewegungen), obwohl sie thatsächlich unwill-
kürlich eintreten. Die Bewegungen werden nun in stereotyper Weise immer
und immer wiederholt. Weiter wird der Articulations- und Phonations-
Apparat in Mitleidenschaft gezogen. Der Kranke muss unartikulirte Laute
ausstossen, Thierstimmen (Bellen, Krähen) imitiren, selbstgemachte Worte
stets wiederholen. Oder er äussert Worte obscönen Inhalts (Schweinehund!
Hure !) — Koprolalie, muss gehörte Worte nachsprechen — Echolalie, oder
gesehene Bewegungen nachahmen — Echokinesis.
Da die Intelligenz zumeist nicht beeinträchtigt ist, so leiden die erwach-
senen Kranken sehr unter diesem Zwange. Oft gelingt es ihnen, mit grosser
Energie die Bewegungen zeitweise zu unterdrücken — allerdings nur auf
Kosten grosser, innerer Unruhe und Angst. Auch durch Ablenkung der Auf-
merksamkeit treten sie mehr zurück, so bei einsamer Beschäftigung, während
sie durch den Verkehr mit der Umgebung und namentlich durch auftauchende
Affecte mächtig gesteigert werden.
Der Verlauf, der oft sehr erhebliche Remissionen und Exacerbationen
aufweist, ist stets chronisch, auf Jahre ausgedehnt. Zuweilen tritt Genesung
ein, in den meisten Fällen dauert aber das Leiden bis zum Lebensende.
Die Diagnose, namentlich von Tic convulsif, von Chorea minor und
Hysterie ist in ausgebildeten Fällen leicht zu stellen.
Bibl. med, Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III. o7
1058 ZWANGSBEWEGüNGEN.
Behandlung: Bromsalze und Chloralhydrat, namentlicli aber Isolirung
in Verbindung mit milder Hydrotherapie und Heilgymnastik.
Eespirationskrämpfe. Der seltene tonische Zwerchfellskrampf,
charakterisirt durch vorgewölbtes Epigastrium, weit herabgehenden hellen
Lungenschall, sehr beschleunigte Brustathmung mit grosser Athemnoth, ist
entweder hysterischer Natur und dann günstig zu prognosticiren, oder ernster,
besorgniserregender Art und dann durch kalte Begiessungen, heisse Umschläge,
Elektricität, Morphium und Chloroform energisch zu behandeln.
Der sehr häufige klonische Zwerchfellskrampf {SinguUus,
ScMucksen) hat in den gewöhnlichen leichten Fällen keine pathologische Be-
deutung. In schweren Fällen mit gewaltsamer Inspiration und sehr gehäuften
Kramplhewegungen wird Athmen, Essen und Sprechen sehr behindert. Bei
Hysterischen wird der Singultus zuweilen chronisch und dann höchst lästig.
Mitunter bildet er das ominöse Symptom im letzten Stadium eines organischen
Hirnleidens, wie Apoplexie, tuberkulöse Meningitis. Nicht selten wird der
Krampf durch Reize von der Geschlechtssphäre und den Verdauungscanal
ausgelöst.
Der Singultus ist gewöhnlich schon durch forcirtes Anhalten des Athems,
durch Ablenken der Aufmerksamkeit, oder durch Schreck zu corrigiren, in hart-
näckigen Fällen sind ableitende und krampfstillende Medicamente anzuwenden.
Nahe verwandt sind die Gähn- und Nieskrämpfe, die Lach-, Wein-
und Schreikrämpfe, welche weitaus am häufigsten bei Hysterischen auf-
treten, allein oder mit anderen krampfhaften Zuständen verbunden. Bald
nur vorübergehend und dann ohne weitere Bedeutung, können sie in anderen
Fälle n durch ihre Hartnäckigkeit oder beständige Wiederholung sich als sehr
peinliche Zustände darstellen.
Die Krämpfe im motorischen Aste des Trigeminus sind bald
tonischer, bald klonischer Art.
Beim tonischen Krämpfe sind die Kiefer so fest aneinander gepresst,
dass sie der activen und passiven Trennung den lebhaftesten Widerstand
entgegensetzen, die Kau- und Schläfemuskeln springen wulstartig hervor und
fühlen sich bretthart an. Am häufigsten beobachtet man diesen Trismus
bei Tetanus und Meningitis, seltener bei Tetanie und Erkrankungen des Pons,
vorübergehend bei hysterischen und epileptischen Anfällen.
Beim klonischen Krämpfe bestehen rhythmische Bewegungen des Unter-
kiefers in zumeist vertikaler Richtung, zuweilen bis zum ;, Zähneklappern"
gesteigert, am häufigsten bei Hysterie und Epilepsie.
Die Prognose des Kaumuskelkrampfes ist (wenn kein organisches
Leiden vorhanden) günstig. Die Behandlung hat sich zunächst nach den
zugrunde liegenden Ursachen zu richten, sodann beruhigende Mittel anzu-
wenden.
Krampf im Gebiete des Hypoglossus, Zungenkrampf, wird
als isolirte (von hysterischen oder epileptischen Krämpfen unabhängige)
Krampfform nur selten beobachtet.
Beim tonischen Krampf wird die hart und fest gewordene Zunge
intensiv gegen den Gaumen oder die Zähne gepresst, wodurch das Sprechen
und Schlucken mehr oder weniger erschwert wird.
Die klonischen Zuckungen stossen die Zunge bald in schnellem, bald
in langsamem Tempo aus dem Munde heraus und herein oder drehen sie um
ihre Längsachse.
Die Krämpfe treten in der Regel in Anfällen von bald kürzerer, bald
längerer Dauer ein, die sich sehr selten oder sehr häufig wiederholen können,
Sie entwickeln sich gewöhnlich auf neuropathischer Anlage und werden
öfters bei Hysterischen und Epileptischen beobachtet. Sie können bei Dis-
ponirten durch Gemüthsbewegungen oder durch Kauversuche ausgelöst werden.
ZWANGSBEWEGUNGEN. 1059
Die Prognose ist im Allgemeinen nicht ungünstig.
Behandlung: Entfernung etwaiger reizender Ursachen, allgemeine
Kräftigung, galvanischer Strom, Beruhigungsmittel.
Die Krämpfe im Bereiche der Hals- und Nacken -Muskeln
sind in der Regel sehr hartnäckiger Art. Sie treten bald ein-, bald doppel-
seitig auf und befallen nur wenige oder eine grössere Zahl von Muskeln. Am
bekanntesten sind die Accessorius-Krämpfe, d. h. die Krämpfe der von
Nervus accessorius versorgten Muskeln. Doch sind diese selten isolirt, viel-
mehr beobachten wir die allerverschiedensten Combinationen der befallenen
Halsmuskeln.
In erster Linie beruht dies Leiden auf neuropathischer Belastung, wes-
halb es auch in Verbindung mit anderen Neurosen und mit Psychosen zur
Beobachtung kommt. Weit seltener kann eine traumatische oder reflectorische
Entstehung nachgewiesen werden. Auch Alkohol- und Blei-Intoxication, sowie
organische Gehirnleiden können zuweilen eine ursächliche Bedeutung haben
Erscheinungsbild: In der Regel dominiren die klonischen Zuckun-
gen, neben welchen vorübergehend tonische Muskelspannungen auftreten. Ist
nur ein M. sternocleidomastoideus befallen, so wird das Gesicht nach der
anderen Seite gedreht, das Ohr dem Schlüsselbein genähert, das Kinn gehoben.
Oft ist zugleich der M. cucullaris der gleichen Seite befallen, dadurch wird
der Kopf gleichfalls nach der anderen Seite aber auch nach hinten gezogen.
Beim Krampf beider Cucullares wird der Kopf einfach nach hinten geworfen.
Klonische Zuckungen der tiefen Halsmuskeln (M. recti capitis) erzeugen die
namentlich bei kleinen Kindern beobachteten Nick- oder Salaam-Krämpfe.
Die Zuckungen sind von sehr verschiedener Stärke, geringgradig oder
so hochgradig, dass der Kopf gewaltsam hin- und hergeworfen wird, und
dass Essen, Sprechen und Schlafen sehr erschwert werden. Jede Gemüths-
bewegung, sowie die Selbstbeobachtung und der Versuch, die Krämpfe zu
unterdrücken, pflegen dieselben zu steigern, während die körperliche und vor
Allem die geistige Ruhe, ferner die Ablenkung der Aufmerksamkeit mildernd
einwirken. Die Zuckungen können beständig andauern, oder in Anfällen auf-
treten. Sie sind nur selten von Schmerzen oder anderen nervösen Störungen
begleitet. Dagegen sind häufig verschiedenartig gestaltete psychische Störun-
gen zugleich mit den Krämpfen oder mit ihnen alternirend zugegen.
Es handelt sich in der Regel (wenn wir von den seltenen Fällen ab-
sehen, in welchen die Krämpfe Symptome eines organischen Gehirnleidens
sind) um einen Reizzustand in den Nervenkernen oder Centren ohne nach-
weisbare Veränderungen. Wahrscheinlich werden die entsprechenden Centren
in der Hirnrinde am häufigsten den Ausgangspunkt bilden.
Die Prognose ist im Allgemeinen wenig günstig. Spontanheilung tritt
nur in leichten Fällen ein; die Therapie vermag gar in einigen Fällen Heilung
zu bringen, meist aber bleibt das Leiden Jahre lang und selbst während des
ganzen Lebens bestehen, nachdem es eine gewisse Höhe erreicht hat. Es
kann in schweren Fällen zum Lebensüberdrusse führen.
Die Behandlung hat vor Allem den Patienten vor Erregungen zu
schützen und ihm einen isolirten Aufenthalt, fern von fremder Beobachtung,
zu verschaffen, mit leichter, nicht anstrengender Beschäftigung. Tonisirende
Behandlung mit reizloser Diät. Vermeidung des etwa zugrunde liegenden
Abusus alcoholicus; Hydrotherapie. Krampf mildernd wirken Bromsalze, Opium
und Morphium, sowie Nervina. Anwendung von Stützapparaten. Elektrische
Behandlung, namentlich Application der Anode auf der N. accessorius, der
Kathode auf die krampfenden Muskeln; auch Faradisation. Derivantia, nament-
lich Zugpflaster und besser noch Ferrum candens auf die Nackengegend.
Die operative Behandlung (Durchschneidung, Dehnung und selbst Resec-
tion der N. accessorii) hat nur selten dauernde Erfolge aufzuweisen. kien.
67*
106Ö ZWANGSVOESTELLüNGfiN.
Zwangsvorstellungen. Zwangsvorstellungen nennen wir un-
willkürlich im Bewusstsein auftauchende, sowie mit krankhafter Intensität und
Dauer in diesem fixirte Vorstellungen, lästige Gedanken, deren Ungereimtheit
die Betroffenen einsehen, sie aber nicht zurückzudrängen vermögen, da sich
dieselben beständig in ihr Bewusstsein eindrängen und den logischen Ablauf
der Vorstellungen stören. Sie können zu Impulsen zu entsprechenden Hand-
lungen — Zwangshandlungen — werden. Die letzteren sind die psycholo-
gischen Folgen der Zwangsvorstellungen in gesetzmässiger Weiterentwicklung.
Aetiologie. Ursächlich beruhen die Zwangsvorstellungen theils auf
ererbter Anlage zu Gemüths- und Nervenkrankheiten, theils auf intensiven
Einwirkungen auf das Gemüth, wie durch die Anwesenheit bei Unglücks-
fällen und anderen erschütternden Ereignissen, sowie durch anderweitige
schreckhafte Einwirkungen. Oefters lassen sich dieselben auch auf sexuelle
Ueberreizung, namentlich durch Masturbation, zurückführen.
Sie bilden in der Regel keine selbständige Erkrankung, vielmehr zumeist
nur sehr hervortretende Syndrome bei mancherlei Nerven- und Geisteskrankheiten.
Namentlich werden dieselben einerseits bei Hysterie, Hypochondrie und
Neurasthenie, andererseits bei Melancholie und Paranoia beobachtet.
Daneben wird, aber seltener, auch eine selbständige Form des „Irreseins in
Zwangsvorstellungen" wahrgenommen.
Die hereditären Fälle entwickeln sich nicht selten während der Zeit der
Pubertät, aber auch zur Zeit der Gravidität und des Klimakteriums. Frauen
werden häufiger als Männer befallen.
Entwicklung. Die Zwangsvorstellungen entstehen entweder spontan,
oder werden durch äussere Ereignisse wachgerufen. Im ersten Falle erwachsen sie
nicht auf dem gewöhnlichen psychologischen Wege durch Gedanken- Association,
vielmehr durch innere, das psychische Organ treffende Reize. Durch diese
Entstehung erklärt sich ihr das bewusste Vorstellungsleben störender, fremd-
artiger Inhalt. Dadurch bilden sie eine Analogie zu den Primordial-
Delirien, welche gleichfalls aus dem Unbewussten aufsteigen, im Gegen-
satze zu den auf psychologischem Wege durch Association und Reflexion
gebildeten Wahnideen.
Es sind spontane, primäre Schöpfungen eines abnorm veranlagten oder
eines kranken Gehirnes, gerade wie die Hallucinationen. Ihre Vorstufe bilden
die noch in das Bereich der Gesundheit fallenden Vorstellungen, Bilder,
Melodien, die sich zeitweise unwillkürlich unserem Bewusstsein aufdrängen,
unser Denken stören, beunruhigen und ablenken, aber mit Aufbietung grosser
Willenskraft wieder verscheucht werden können.
Da wo ein äusseres Ereignis den Anstoss zur Bildung von Zwangsvor-
stellungen giebt, erklärt sich dies durch eine abnorme Empfänglichkeit des
Gehirnes infolge neuropathischer Constitution, namentlich zur Zeit der
Menstruation und Gravidität. Organ-Gefühle und Neuralgien können bei der
Entstehung mitwirken {Zwangs-Empfindungen).
Zum Begriffe der Zwangsvorstellung gebort 1. eine Vorstellung mit an sich
nicht widersinnigem Inhalt, 2. ein Ich, das unvermögend ist, die Vorstellung
zu hemmen, Sie unterscheidet sich von der Wahnvorstellung durch ihr Ver-
halten gegenüber dem Bewusstsein, indem jene willig aufgenommen, doch
dauernd als krankhaft beurtheilt und bekämpft wird.
Bei uncomplicirten Zwangsvorstellungen ist das Bewusstsein klar, der
Kranke erkennt dieselben als solche an und sucht sie mit aller Macht zurück-
zudrängen. Besteht eine krankhafte Stimmung, so ist diese weit häufiger die
Folge der Zwangsvorstellung als deren Ursache.
Die am meisten beobachteten Zwangsvorstellungen, die wir deshalb als
die echten bezeichnen können, sind „nicht emotiv", d. h. von keiner Affect-
grundlage getragen; sie sind für die hereditäre Neurose charakteristisch. Ohne
Stimmungs- Anomalie, wie aus heiterem Himmel, bricht die fremde Idee in das
ZWANGSVORSTELLUNGEN. 1061
ahnungslose Bewusstsein herein. Der Kranke muss plötzlich an eine ihn selbst
überraschende, mit seinen übrigen Vorstellungen gar nicht zusammenhängende,
sogar oft aufs Grellste mit diesen contrastirende Vorstellung denken.
Die „emotiven" Zwangsvorstellungen entstammen dagegen stets einer
vorbereitenden depressiven Grundlage. Oft handelt es sich um beginnende
Melancholiker, welche in ihrer peinlichen Rathlosigkeit nach Ursachen ihrer
Stimmungs-Aenderung suchen. Da taucht plötzlich die Erinnerung an ein
erschütterndes Ereignis auf und diese Vorstellung bleibt haften. Nun muss
das „Ich" trotz anfänglichen inneren Widerstrebens dem aufgezwungenen Ge-
danken nachhängen, bis dieser immer mehr fixirt wird.
Die „nicht emotiven" Zwangsvorstellungen treten in der Regel isolirt
auf. Sie entstehen bei erblich Veranlagten manchmal schon im zarten Kindes-
alter, weiter während der Pubertät im Puerperium und Klimakterium, ferner
nach gehäuften Pollutionen (Onanie), weiter bei invalider Nervengrundlage bei
hysterischen und melancholischen Psychosen. Sie sind bald nur vorüber-
gehende Erscheinungen, bald dauern sie während des ganzen Lebens an.
An die ursprünglich isolirten Zwangsvorstellungen können sich in der
Folge weitere psychopathische Erscheinungen anschliessen, so dass sich ein
selbständiges Irresein entwickelt, in welchem die Zwangsgedanken die Haupt-
rolle spielen, welche Störung wir am besten als „Irresein in Zwangsvor-
stellungen" benennen und für eine der Aeusserungen des hereditären Irre-
seins halten.
Manche Autoren sprechen von einer „Verrücktheit in Zwangsvorstellungen",
welche Bezeichnung wir aber für keine glückliche halten, da sie den Begriff
der Verrücktheit allzu sehr erweitern würde.
Das Irresein in Zwangsvorstellungen ist eine echt constitutio-
nelle, dauernde, im Grossen Ganzen stationäre, jedenfalls nicht zu psychischer
Schwäche fortschreitende Krankheitsform. Wie die primordialen Wahnideen
der Verrücktheit stehen hier die Zwangsvorstellungen störend, überraschend
und fremdartig dem bewussten Vorstellungsleben gegenüber. Sie haben die
gleiche überwältigende Bedeutung für das Bewusstsein, werden aber noch von
diesem — und darin liegt eben der cardinale Unterschied — als fremdartig
erkannt.
Die Erkrankten sind hereditär und neuropathisch belastete oder durch
Masturbation, Typhus, geistige Ueberanstrengung geschwächte Individuen, die
zumeist schon während der Entwicklungsjahre erkranken.
Mitten im geistigen Wohlbefinden werden sie, ohne Affecte, von Zwangs-
gedanken befallen, die mit krankhafter Intensität und Dauer, aller entgegen-
gesetzten Willensenergie zum Trotze, im Bewusstsein verharren, bis sie end-
lich spontan zurücktreten, um nach kürzerer oder längerer Frist von einem
neuen lästigen fixen Gedankenkreise abgelöst zu werden. Oft folgt das
erste Auftreten einer die Erregbarkeit steigenden somatischen (Menses, körper-
liches Unwohlsein) oder psychischen (Gemüthsbewegung, Erwartungsaffect)
Ursache. Nun muss der Kranke beständig über seine, stets von Neuem auf-
tauchenden, Zwangsideen nachdenken, grübeln, verificiren mit höchst pein-
lichem; unabweislichem Drange, durchaus unfähig, dieselben aus seinem Be-
wusstsein zu verscheuchen. Secundär stellt sich alsbald heftige Angst ein bis
zur Verzweiflung. Der Ergriffene fürchtet beständig, in der Richtung seiner
Zwangsvorstellung fortgetrieben zu werden und in ihrem Sinne handeln zu
müssen.
Der Inhalt der Zwangsvorstellungen zeigt sehr grosse Verschieden-
heiten. Während er bei den spontan entstandenen durchaus unberechenbar
ist, besteht er bei den durch Wahrnehmungen erzeugten in der fortwährenden
Reproduction der durch jene Apperceptionen hervorgerufenen gemüths-
erschütternden Vorstellungen und den daraus abgeleiteten Befürchtungen und
1062 ZWANGSVORSTELLUNGEN.
Antrieben, die dann verstärkt hervortreten, wenn etwa die ursprüngliche
Wahrnehmung oder eine ihr verwandte wiederkehrt. Aber auch schon die
entferntesten Erinnerungen an die früheren peinlichen Erlebnisse können in-
folge der krankhaft gesteigerten Eindrucksfähigkeit die entsprechenden Zwangs-
vorstellungen auslösen.
Ganz harmlose Zwangsvorstellungen bilden den Zahlen- oder Lese-
zwang; sehr lästig für die Umgebung ist der krankhafte Frage-Zwang,
die „Grübelsucbt", die zu stets neuen, unerschöpfbaren Fragen über den gleichen
Gegenstand führt. Für den Betroffenen sehr peinlich ist die Vorstellung des
sexuellen Unvermögens, welche sehr leicht zu einer psychischen Impotentia
coeundi führen kann. Oft haben die Zwangsvorstellungen einen religiösen Inhalt:
da handelt es sich z. B. um die Fragen über die Existenz Gottes oder die der
Dreieinigkeit; da steigen im Gebet unwillkürlich die Worte „ verflucht '^ statt
geheiligt, „Hölle" statt Himmel auf. Oder es drängen sich metaphysische
Begriffe in Frageform auf, z. B. „was ist der Mensch?" „wie ist die Welt ent-
standen?" In anderen Fällen handelt es sich um Fragen aus dem alltäglichen
Leben: „ist auch der Kassenschrank geschlossen? das Licht gelöscht?" Bei
manchen Kranken wird durch den Anblick eines Messers die Vorstellung von
Mord oder Selbstmord, beim Anblick von Wasser der Gedanke, Andere hin-
einzuwerfen, ausgelöst. Typisch sind ferner die Zwangsvorstellungen der Verun-
reinigung durch Schmutz oder Gift. Beim Anblick von Hunden tritt die Furcht
vor „Wuthgift", bei Berührung von Kupfer diejenige vor „Grünspan" auf.
Jetzt wähnt der Betroffene, er selbst und seine Familie seien vergiftet, er
wird von reactionärer Angst befallen und wird zu beständigem Waschen und
Putzen getrieben, um sich von dem vermuthlichen Gifte zu befreien (Zwangs-
handlung).
Man hat besondere Typen dieses „Zwangs-Irreseins" aufgestellt, von
welchen namentlich Legrand du Saulle's „Grühelsucht und Berührungsfurcht"'
(Folie du donte avec delire du toucher) hervorgehoben sei.
Zu den Zwangs- Vorstellungen im weiteren Sinne des Wortes müssen
auch die krankhaften Furcht-Zustände gerechnet werden, die man als
„Phobien^^ bezeichnet hat. Sie sind ein häufiges Symptom neurasthenischer
Zustände, und äussern sich in irgend einer äusserst quälenden Furcht, welche
jeweils unter besonderen Umständen eintritt und durch alle Anstrengungen
des Willens nicht überwunden werden kann. Sobald und so oft die gleichen
Umstände sich einstellen, kehrt die gleiche Furcht- Vorstellung mit gleichem
Zwang wieder. Alle Vernunftgründe prallen an ihr unfehlbar ab.
Die bekannteste Zwangs-Vorstellung unter der Form der krankhaften
Furcht bildet die von Westphal in die Literatur eingeführte Platz-Angst,
Agorophobie, d. h. die Furcht, grosse Plätze ohne Begleitung zu über-
schreiten. Aehnliche Furcht-Zustände bilden die Höhenfurcht, die Furcht
vor engen Räumen, die Claustrophobie, die Furcht vor Menschen, die
Anthropophobie, die Furcht vor dem Alleinsein, die Monophobie, die
Furcht vor Allem, die Pantophobie u. a. m.
Der Verlauf der Zwangsvorstellungen vollzieht sich in der Regel mit
Remissionen nnd Exacerbationen. Isolirte Zwangsvorstellungen können dauernd
zurücktreten, können aber auch infolge der bestehenden grossen Impressiona-
bilität durch geringe Anlässe leicht wieder geweckt werden. Zumeist ist der
Verlauf chronisch, aber nicht progressiv. Das Vorstellungsleben bleibt nur
formell geschädigt, während sich psychische Schwäche nicht einstellt. Ein
Uebergang von Zwangsvorstellungen in Wahnvorstellungen wird nur selten
beobachtet, wenn auch vorübergehend einmal eine Correctur nicht eintritt.
Intercurrent können sich melancholische Zustände einstellen, auch Taedium
vitae, namentlich bei dem Zwangsgedanken „irrsinnig zu werden".
ZWANGSVORSTELLUNGEN. 1063
Verschlimmernd auf diese Zustände wirken der Menstruation, Exacerbation
zugrunde liegende Neuropathien, Gemüthsbewegungen, Alleinsein, Mangel an
Beschäftigung, während Thätigkeit, Verkehr, Reisen u. dgl. m. zerstreuend
und dadurch ablenkend wirken. Auch Zuspruch pflegt in der Regel wenigstens
eine vorübergehende Beruhigung zu bringen. Während sich viele Zwangs-
vorstellungen niemals weiter entwickeln, können andere zu ^Zwangshandlungen
fortschreiten.
Die Zwangshandlungen, die psychologische Weiterentwicklung der
Zwangsvorstellungen, sind nichts Anderes als motorische Reflexe, als Entla-
dungen im Sinne der qualvollen Gedanken. Sie stellen sich in vielen Fällen als
die nothwendige Folge der letzteren dar. Der von der Zwangsvorstellung des
Hinaussteigens Gefolterte wird sein Fenster mit Stricken und Bändern ver-
schliessen; wer den Gedanken hegt, mit jedem scharfen Instrumente die Um-
gebung verletzen zu müssen, wird Messer und Scheeren verbannen. Wer sich
vor Grünspan fürchtet, wird die Berührung aller Metalle und insbesondere der
Thtirklingen vermeiden; wer sich überall zu beschmutzen wähnt, wird seine
Hände immer und immer wieder waschen; wer beständig onanistische Frictionen
durch die Kleider befürchtet, wird sich in sonderbaren Bewegungen und ge-
zwungenen Stellungen ergehen, um sich zu schützen.
Neben diesen psychologisch motivirten Zwangshandlungen werden auch
solche mitunter ganz instinctiv vollbracht. Manche derselben sind völlig
harmlos, wie die „Such-Manie^^ (Aussuchen des ganzen Hauses um ein Nichts),
die „Wasch-Manie^\ schlimmer der zeitweilige Aneignungstrieb von allen
möglichen fremden Gegenständen; sehr zu fürchten endlich ist der Trieb zum
instinctiven Selbstmord, der nicht ganz selten mehrere Glieder derselben
Familie ohne jeden äusseren Grund, oft in demselben Lebensalter, ja in der-
selben Jahreszeit mit dämonischer Gewalt erfasst.
Die Prognose der Zwangsvorstellungen ist — wie aus der Schilderung
ihres Verlaufes hervorgeht — im Allgemeinen eine üble. Remission und zeit-
weiliges Zurücktreten derselben wird gar nicht selten beobachtet, zumeist aber
lassen Rückfälle nicht allzu lang auf sich warten. Dauerndes Schwinden ein-
mal fixirter Zwangsvorstellungen kann nur bei ganz isolirten Gedanken von
kürzerer Dauer gehoflt werden. Immerhin sind einige Fälle von ausge-
sprochenem „Irresein in Zwangsvorstellungen '^ in der Literatur verzeichnet,
welche nach mehrjährigem Bestehen zur Genesung kamen.
Die Behandlung der Zwangsvorstellungen kann nur eine symptoma-
tische und indirecte sein. In erster Linie gilt es, die neuro- oder psycho-
pathische Grundlage zu bekämpfen — unter strenger Individualisirung. Alle,
auch die scheinbar unerheblichsten somatischen Anomalien (gastrische und
sexuelle Störungen, Neuralgien, Anämie, Fluxionen, namentlich auch Uterin-
Leiden) müssen therapeutisch iDceinflusst werden. Man suche dem Kranken
Muth und Selbstvertrauen einzuflössen und ihn vor Hoffnungslosigkeit zu be-
wahren. Dagegen wird durch eine directe Bekämpfung der zwingenden Ge-
danken selten Vortheil, eher Nachtheil, gebracht. Ablenkende Thätigkeit bringt
entschieden mehr Gewinn. Unter Umständen muss eine medicamentöse Be-
handlung (Morphium, Opium, Bromsalze, Chinin, Zinc. valerian.) während der
schlimmsten Zeiten eingeleitet werden; in anderen Fällen können hydrothera-
peutische Curen, Gebirgs- oder Seeluft indirect fördernd wirken.
KIRN.
Sachregister.
A.
Aachen I 148.
Abasie I 217.
Abbazzia I 148, II 426, III
832.
Abdomen, Auscultation III
948.
— Farbe III 927.
— Form und Dimensionen
III 927.
-- Inspection III 927.
— Palpation III 931.
— Percussion III 939, 942.
— Untersuchung III 926.
Abdominaltyphus I 7, 181.
— anatomische Verände-
rungen bei I 8.
■ — Diagnose des I 15.
— Fiebercurve I 679.
— im Kindesalter I 16.
— Mortalität des I 16.
— Therapie beil 16,11139.
Abführcuren I 301.
Abführmittel III 1023.
Abklatschungen II 125.
Ablactatio I 582, 602.
Ablactationsdiarrhoe I 582.
Abou-Rakaba II 313.
Abortivformen des Schar-
lach III 433.
Abreibungen II 105,
Abscess des Gehirnes I 740.
— - der Leber II 465.
— der Lungen III 803.
— der Milz II 719.
.— der Niere III 83.
— paranephritischerlll 84.
— retropharyngealer 1310.
— des Ptückenmarkes III
394.
— stercoraler III 149.
— subphrenischer III 540.
— der Thymus III 651.
Absence = Absentia epilep-
tica I 594. .
Absinthepilepsie 1 590.
Absolutes Galvanometer I
507.
Abvreichen I 407.
Acanthocephalen I 465, I
489.
Accessorius-Krämpfe III
1059.
Accessoriuslähmung I 25.
Acephalocysten I 430.
Acetessigsäure I 797.
Aceton I 141, 403, II 571,
III 413, 662, 671.
Acetonämie III 413.
Acetoncoma I 321.
Acetonurie I 797.
— febrile I 672, 812.
Acetylessigsäure I 403, III
412.
Acholie II 196, III 536.
Achroodextrin II 621.
Achsendrehung des Darmes
I 574.
Achylia II 564.
— ex anadenia II 565.
— gastrica II 565.
Acidbutyrometrie II 336.
Aciduliruug des Blutes III
412.
Aconitin I 85.
Acorie II 601.
Actinomykose III 530.
—der Lungen 1 320, III 290.
Addison' sehe Krankheit 1 27.
Adelaide II 427.
Adenie III 349.
Adenom des Darmes III 47.
— des Magens III 42.
— des Nabels III 3.
— der Nieren III 52.
Adenosarcoma pleuraelll 3 6 .
Aderlass I 171, 737, III
268.
Aderlassthrombose III 1004.
Adiaemorrhysis I 727.
Adiaemörrhysis cerebri acuta
I 728.
— cerebri chronica I 730.
Adipositas I 642.
— cordis I 636, II 222.
Adynamie I 27.
Aegophonie I 140.
Aegypten II 430.
Aequivalent, psychisches I
600.
Aerotherapie III 292.
Aesthesiometer von Sieve-
king II 340.
Afebrile Phthisis I 324.
Affectiones spasmo-paraly-
tiques infantiles II 347.
Affenhand II 667, 756, in
566, 586.
Ageusie I 777.
— periphere I 778.
Agoraphobie III 66, 1062.
Agraphie I 93, 96.
Agrypnie I 31, III 73.
Ainhum in 680.
Ajaccio II 426, in 831.
Akinese des Magens II 553,
Akne cachekticorum III 482.
— pustulosa III 987.
— scorbutica III 456.
Akratothermen •= indiffe-
rente Th. I 148.
Akrodynie III 181.
Akromegalie III 634.
Alassio II 427, III 832.
Albuminometer II 337.
Albuminurie I 34, 318, 798.
— accidentelle I 36.
— cardiale II 63.
— cyklische III 17.
— falsche I 36.
— febrile I 811.
— nephrogene I 36 III
12, 16.
— bei is'eugeborenen I 37,
III 17.
1066
SACHREGISTER.
Albuminurie, physiologische
I 37.
— renale I 36, III 12, 16.
— wahre I 36.
Albumose I 35.
Albumosenpepton II 578,
III 828.
Albumosurie I 672, 799.
Aleukocytose II 575.
Alexanderbad I 149.
Alexandria II 427.
Alexie I 93, 95.
Alexine I 177.
Algesimeter I 539.
Algier II 426, II 831.
Alimentation forcee II 455,
III 828.
Alkalescenz des Blutes I 48,
49, 400, III 412.
— des Harnes I 796.
Alkalische Säuerlinge 1 146.
Alkalisch-muriatische Säuer-
linge I 146.
— salinische Quellen 1 146.
Alkaptonurie I 799.
Alkohol I 20, 440, II 295,
III 267, 829.
— amblyopie III 663.
— intoxication II 340, III
1029.
— lähmung III 663.
— missbrauch,Herzvergrös-
serung bei II 217.
— Vergiftung 1352, III 663.
Allantoin I 795.
Allochirie I 545.
Allorhythmie II 61.
Also-sebes I 146.
Altersblödsinn I 386.
Alveolarcolloid I 480.
— ectasie I 546.
— epithelien III 526, 746.
Amalfi II 427.
Amaurose,hysterischeII 173.
— bei Syringomyelie HI
576.
— bei Tabes III 596.
— urämische III 9.
Amblyopie I 543.
Ambrosia artemisiaefolia i
250.
Amenorrhoe I 155.
Amentia III 140, 345.
Amme, Ernährung durch die
II 439.
Ammencontractur III 602.
Ammenwahl I 39.
Amnestische Aphasie I 98.
Amoeba coli I 42.
— — dysenterica III 689.
Amöbendysenterie I 42.
— enteritis I 42.
Amoniämie I 46, III 662.
Ammonshorn, Sklerose des
I 596.
Amphorisches Athmen 1136,
III 756.
Amputationsthrombose III
1004.
Amyelie III 398.
Amyloid des Darmes III 767.
Amyloydentartung II 643.
Amyloidleberll 501 III 768.
AmyloidmilzII719, III 768.
Amyloidniere I 807, III 76 9.
Amyloidreaction III 769.
Amyotrophiamyelopathicall
753..
Amyotrophie, myopathische
II 750.
— spinale II 754.
Amyotrophische Lateralskle-
rose II 754, III 585.
— Spinalparalyse II 409.
Anaciditas II 618.
Anadenia ventriculi I 249.
Anaemia cerebri I 726.
— chronica gravis I 70,
243.
— chronica levis I 70.
— chronica levis simplex
I 70.
— infantum pseudoleukae-
mica I 69.
— lymphatica III 349.
— perniciosa I 70, II 15,
563, 574.
— perniciosa progressiva I
72.
— pseudoleukaemica I 70.
— pseudoleukaemica infan-
tum III 353.
— scorbutica III 456.
— splenica III 349.
— ■ splenica Somma I 69.
— syphilitica I 69.
— ■ traumatica I 69.
Anämie I 47, 357, 812.
— acute I 53.
— des Gehirns I 726.
Anämie bei Lues I 69.
— bei Rachitis I 69.
— des Rückenmarkes III
394.
— der Phthisiker III 840.
— der Ziegelarbeitern 24.
Anämien im Kindesalter I
68.
Anaesthesia dolorosa I 119.
Anästhesie I 541, II 172.
— der Conjunctiva II 173,
III 576.
— der Kehlkopfschleimhaut
I 309.
— relative I 542.
— - sensorische I 542.
— des Trigeminusgebietes
ni 576.
Anakusie I 543.
Analeptica I 54, II 295.
Analgesie I 539.
Anamnese III 882.
Anarthrie I 93, II 165.
Anasarca II 101.
Anchylostomiasis II 24.
Anchylostomum duodenale
I 65, 482.
Anchylostomuminfection II
24.
Andreasberg II 428, 429,
430.
Anämie megalosplenique I
70.
— simple I 70.
Anesthesie parsegmentsgeo-
metriques I 543.
Aneurysma I 107, 347.
— dissecans 1 107, III 408.
— verum I 107.
Anfälle, epileptische I 592,
— hysterische II 180.
— urämische I 356.
Angina I 201.
— Ludovici III 434.
— maligna I 418.
— parenchymatosa III 423.
— pectoris 173, 119, 345,
II 225.
— pectoris vasomotoria I
73; 345.
— scarlatinosa III 423.
Angioneurotisches Larynx-
ödem I 309.
Angioneurotische Oedeme II
111.
SACHREGISTER.
1067
Angst II 184, 677, III G5,
1062.
— Behandlung der II 361.
Anguillula intestinalis I 65,
480; 482. .
— stercoralis I 65.
Angulus Ludovici III 748.
Anidrosis III 570.
Anorexia nervosa II 602.
Anorexie I 77.
— hysterique II 602.
Anorganische Geräusche II
53.
Anosmia gustatoria I 768.
— respiratoria I 768.
Anosmie I 543, 767.
— traumatische I 773.
Anschoppung, Stadium der
III 252.
Anterolateraler Strang III
392.
Anthelminthica II 17.
Anthrakosis der Lungen II
801, III 724.
— pulmonum, als Gelegen-
heitsursache der Tuber-
culosis III 724,
Anthrax I 350, II 710.
Anthropophobie III 1062.
Antifebrin I 86.
Antiperistaltik I 576.
Antiphlogose I 171.
Antiphthisin III 819.
Antipyrese I 16, 81.
Antipyrin I 87, 354.
Antitoxinbehandlung des Te-
tanus III 626, 630.
Antitoxine I 422, II 245.
Antweiler's Pepton III 828.
Anurie II 183, III 9, 13.
Anxietas tibiarum III 67.
Aorta, Atherom der ab-
steigenden I 344.
— Ruptur der III 408.
— Stenose der I 330.
Aorta thoracica I 231.
Aortenklappen, Endocarditis
der I 339.
— Insufficienz der I 132,
II 38.
— Stenose der I 132, II
45.
Aortensystem, angeborene
Enge des I 330.
Aortitis, gichtische I 110.
Apathie I 371.
Apepsia hysterica II 602.
Apex pulmonis I 225.
Aphasie I 93.
— amnestische I 98.
— motorische I 93, II 525.
— sensorische I 93, II 525.
Aphonie III 759.
Aphthae tropicae III 674.
Aphthen I 98, III 765.
Apnoe infantum II 460.
Apoplectischer Insult I 101,
733.
Apoplexia intestinalis neona-
torum II 676.
— sanguinea I 731.
Apoplexie foudroyante 1 102,
733.
Apparate, zur Diagnostik II
320.
— zur Drainage II 127.
— elektromedicinischel 507.
— zur Punctio thoracis II
124.
Appendices epiploicae 1236.
Appendicitis III 150, 181.
Appetit I 77, II 600.
Appetitlosigkeit I 77, 239.
Apyrexie III 858.
Aräometer II 337.
Are en cercle II 181.
Arcachon II 426.
Archigetes Sieboldii I 477.
Arco II 429, III 831.
Arcus aortae I 230.
Argent. nitric. I 196, III
601.
Argon III 293.
Argyll- Robertson'sches
Symptom III 596.
Argyrosis II 317.
Arhythmie 11 61.
Arosa II 429.
Arsenbäder I 149.
Arseniklähmung III 663.
Arseniktherapie der Chorea
I 260.
— der Tuberkulose III 822,
Artere de l'hemorrhagie
cerebrale I 101.
Arteria basilaris I 531.
— brachialis I 531.
— cai'otis I 230.
— coeliaca I 236,
— corpor. callosi I 531.
Arteria cystica I 234.
— duodenalis superior, in-
ferior I 234,
— epigastrica I 232.
— fossae Sylvii I 102, 531.
— gastro-epiploica I 235.
— hepatica I 234.
— iliaca I 232,
'— lienalis I 235,
— mesenterica inferior I
237.
— — superior I 235, 237.
— pulmonalis I 531.
— renalis I 532.
— retinae I 532.
Arteriae diaphragmaticae I
225.
— intercostales I 225,
— mammariae I 225.
— thoracicae I 225.
Arterieller Leberpuls II 43.
Arterienectasie I 104.
Arterienstämme, Compres-
sion der II 670.
Arterienthrombose I 127.
Arterientönen bei Insuff.
aortae 11 43.
Arteriitis umbilicalis III, 3,
Arterio capillary fibrosis I
125,
Arteriosklerose I 124, 343.
III 1029,
— Herzvergrösserung bei II
217.
Arthritis gonorrhoica I 758.
— rheumatica I 755,
— sicca der Greise II 649.
— uratica I 149, 778.
Arthrogryphosis III 602.
Arthropathie III 394, 597.
Articulation der Stimme I
139.
Ascariden I 483, 309, II
198,
— infectiou II 22.
Ascaris lumbricoides I 484.
— suilla I 484.
Ascendirende Paralj'se 1 378.
Ascite de jeunesfillesIII226,
AscitesII63,110,468,494,
— Behandlung des II 122.
— chylosus I 262.
— Diagnose des II 114,
Aspergillus fumigatus III
530.
1068
SACHREGISTEK.
Aspergillusmykose der Lun-
gen III 290.
Asphyctische Cholera II 279.
Aspirationsdrainage, perma-
nente vonBülauIII 247.
Aspirationsspritze von Dieu-
lafoy III 245.
Aspirationsumfang II 703.
Astasie I 271.
Asthenie des Magens II 553.
Asthenische Lähmungen III
392.
— Pneumonie III 259.
Asthma 1250,313,11136,
III 532, 896, 911.
— Aetiologie III 918.
— bronchialel 313,111915.
— bronchocardiale III 922.
— cardialel639,II59, 70,
m 921.
— cyanoticum II 460.
— dentientium 11 460.
— dyspepticum III 248.
— essentielles I 198.
— humidum I 348.
— idiosynkrasicum I 197.
— nervosum I 197, 312,
348.
— spasmodicum I 197.
— thymicum II 460, III
654.
— uraemicum III 9.
Asthmakrystalle I 199, III
528.
Astrophobie III 66.
Ataktisches Stadium der
Tabes III 598.
Ataxie, cerebellare I 273, II
526.
— corticale I 376.
— hereditäre I 688,11407.
— hysterische I 271.
— juvenile 11 407.
— locomotrice progressive
III 591.
— sensorische I 273.
— tabische I 275.
— Theorie der III 601.
Atelectase der Lungen II
530.
■ — angeborene II 531.
— erworbene II 531.
Atelomyelie III 398.
Atherom der absteigenden
Aorta I 344.
Athetose I 128.
— bilaterale I 128, 261.
— halbseitige II 388.
Athetosis duplex II 374.
Athmen, abgeschwächtes III
754.
— amphorisches I 136, III
756.
— bronchiales I 136, III
755.
— Chey^ne-Stocke'sches III
900.
— metamorphosirendes III
756.
— saccadirtes III 754.
— verschärftes III 754.
— vesiculäres I 135.
Athmung III 749.
— in verdichteter Luft III
304.
— in verdünnter Luft III
306.
Athmungscuren I 299.
Athmungsorgane I 145.
Athrepsie I 193, III 1009.
Athyrea III 658.
Atmosphärendruck III 294.
Atonie des Darmes I 573.
— des Magens I 573.
Atrophia muscularis II 746.
— progressiva neurotica II
765.
■- — progressiva spinalis II
.755.
Atrophie I 193, 240.
— der Brustmuskulatur I
358.
— des Darmes II 563.
— degenerative II 750.
— des Facialis III 576.
— des Gehirns I 382, 748.
— des Herzens I 319.
— individuelle II 751.
— der Leber II 472.
— der Lunge I 318.
— der Magenschleimhaut
II 563, 573, 618.
— en masse III 566.
— der Muskeln II 746.
— des Rückenmarkes III
399.
— der Thymus III. 650.
— der Thyreoidea III 658.
— der Yorhofsmuskulatur I
332.
Atrophie der Zunge III 576.
Atropin III 839.
AttonischerWahnsinnll 363.
Aufblähung des Magens II
587.
Aufschrecken, nächtliches III
170.
Aufsteigender Croup I 277.
Aufstossen III 930.
— nervöses II 604.
Augenmuskelkrämpfe III
608.
Augenmuskellähmungen I
155,430,11526,694,
III 594.
— Schwindel bei III 1030.
Aura II 592.
Auscultation III 753.
— des Abdomens HE 948.
— des Herzens und der
grossen Gefässe I 128.
— der Lungen I 134.
Ausfallssymptome H 523.
Auskochen III 993.
Aussee n 67, III 832.
Auswurf III 523 (s. Sputum).
— bei Infarcten II 60.
— bei Pneumonie III 254.
— bei Tuberculosis pul-
monum III 740.
Autogenetische Dyskrasie I
140.
Autointoxication I 140, II
300, 348, III 410.
Autointoxicationsdelirien II
348.
Autophagie I 399.
Autosuggestion II 147.
Autotoxicosen II 300, III
662.
Axillarlinien III 193.
Axillarvenenton II 49.
Azoren II 425.
Azoturie I 399.
B.
Bacillus pneumoniae HI 250.
Bacteriämie, heterologe, III
510.
— homologe III 510.
Bacterium coli commune I
636, 702, II 692, III
155, 216.
— maidis IH 175.
Bacteriurie III 510.
SACHREGISTER.
1069
Badecuren I 300.
Baden I 147, 148.
Baden-Baden I 145, 149,
II 428.
Badeorte I 144, 212, 11
67, 424.
Bäder I 83, 133.
Bäderbebandlung des Fiebers
I 83.
— der Nephritis III 13, 26.
— der Pneumonie III 265.
— des Typbus I 18.
Babama II 425.
Balearen II 427.
Balneotherapie I 143.
Bandwurmcur II 15.
Bandwurmmittel II 17.
Bandwürmer I 464, 471,
II 14.
Bantingcur I 698.
Barästbesiometer I 537.
Barbados II 425.
Barlow'scheKrankbeit 1150,
III 458.
Basalmeningitis III 693.
Basedow'scbe Krankheit I
153.
— Herzvergrösserung bei
II 227.
Basissymptome II 528.
Basophile Zellen I 186, III
511.
Batterie, transportable 1 507.
Batterien, galvanische I 507.
Bauchfell
— Anatomie des II 233.
— Entzündung des III 215.
— Neubildungen des III 54.
— Tuberkulose des III 788.
Bauchböble, Neubildungen
der m 41.
— Punktion der I 232.
— Topographie der 1231.
— Wassersucht der II 103.
Bauchspeicheldrüse s. Pan-
krea s.
Baunscheidtismus I 303.
Becken, osteomalacisches m
107.
Begriffscentrum I 94.
Beinahrung I 602.
Bekleidungscuren I 303.
Bell'scbes Gesetz III 393.
Benecke'sche Carcinomcur I
296.
Benzol II 18.
Benzosol III 821.
Benzoyl-Gujacol III 821.
Beobachtungswahn III 135.
Bergen II 424.
Bergkrankheitll 24, III298.
Beri-Beri III 683.
Beri-Berilcähmung III 663.
Bermudas II 425.
Berührungsempfindung 1537
Berührungsfurcht III 1062.
Beschäftigungskrampf,
tonischer III 602.
Beschäftigungsneurosen I
165, 271, 526.
Bettnässen I 583.
Bewegungskrankheiten 1148
Bewegungsspiele II 414.
Bex II 429.
Biarritz II 426.
Biedert'sches Rahmgemenge
I 605.
Biermer'scher Schallwechsel
III 788.
Bigeminie II 61.
Bilaterale Athetose I 128.
Bilharzia haematobia 1464,
II 11, III 682.
Bilin I 145, 146.
Biliöse Pneumonie II 208,
III 259.
Bilirubinurie I 799.
Blak Vomit I 750.
Blankenberghe I 148, II
425.
Blase, Katarrh der I 808,
II 136, 777.
— Percussion der III 942,
III 946.
Blasenspringen, metallisches
III 788.
Blasensteine I 808.
Blasenvenen III 1004.
Blasen wurm I 475.
Blattern III 961.
Blaud'sche Pillen I. 67.
Blausucht I 306, III 892.
Bleilähmung I 165, III 31,
III 663.
Blepharitis raarginalis III
467.
Blitzkatarrh II 306.
Bloedschyters III 691.
Blödsinn I 364.
Blut, Dichte des I 48.
Blut, Reaction des I 48.
— Spectroskopische Unter-
suchung des I 183.
Blutbefund bei Anämien 1 50.
— bei Leukämie II 510.
Blutbrechen I 786, III 869,
877.
Blutcylinder I 801, III 17.
Blutdichte, Bestimmung der
I 182.
Blutentziehung I 171.
Blutentziehungscuren I 302.
Bluterbrechen I 786, III
869, 877.
Blutfarbstoff im Sputum III
746.
— Bestimmung des I 183.
Bluthusten I 788, III 741.
Blutiger Hirnschlag I 731.
Blutinjection, subcutane II
456.
Blutkörperchen, kernhaltige
I 50, III 510.
— rothe I 48.
im Sputum III 746.
— weisse I 48, III 510,
. 515.
im Sputum III 746.
Blutkörperchenzählapparat I
184, II 332.
Blutkrankheiten 1148, 173.
Blutplättchen I 48.
Blntreinigungscuren I 301.
Blut-Schatten III 526.
Blutserum I 48.
Blutserumtherapie I 177.
Blutsturz I 788.
Blutungen, meningeale III
111.
Blutuntersuchung I 182, III
763.
Bogota II 429.
Bordighera II 427.
Bostock'scher Katarrh 1 249.
Bothriocephaliden I 471,
476.
Bothriocephalus cannelatus
II 19.
— cristatus II 29.
— latus I 65, II 14.
Bougies, Bouchard'sche III
95.
Bourbonne-les bains I 146.
Bozen II 429.
Brachialneuralgie III 59.
1070
SACHREGISTER.
Bracbiotonus rheumaticusIII
602.
Bradycardie II 647, 0 902.
Bradylalie III 444.
Bräune, häutige I 275,
Brand der Lunge I 314,
II 534.
Brausen II 135.
Brechcuren I 302.
Brechdurchfall I 255.
— der Säuglinge I 189, III
1012.
Brechen I 713, lU 1030.
Brechruhr I 255.
Bronipräparate I 598.
Bromtherapie III 73.
Bronchialaffectionen I 200.
— im Kindesalter I 213.
Bronchialasthma 1145, 197.
Bronchialathmen I 136, III
256, 755.
Bronchialdrüsen, Tuberku-
lose der 1 324, III 736.
Bronchialerweiterung 1205.
Bronchialgerinnsel III 527.
Bronchialkatarrh I 201.
— acuter III 531.
— in der Aetiologie der
Tuberculosis III 723.
Bronchialkrampf I 197.
Bronchialpfröpfe II 536.
Bronchialstenosen I 310.
Bronchiektasie I 205, III
153, 802.
Bronchien, Affectionen der
I 200.
— Katarrhe der I 201.
— Neubildungen der III 3 5 .
Bronchiolitis I 202, 217.
Bronchitis acute I 202.
— capillaris I 202, 213,
217, 311.
— catarrhalis I 201.
— chronische I 213, 221.
— fibrinosal 281, 312,111
532.
— fötide I 204.
— putride I 204, III 532.
— seröse I 203.
— Simplex I 213.
— suffocativa I 213, 220.
Bronchoblenorrhoe I 203.
33ronchokatarrh I 213.
Bronchophonie I 139, III
, 256, 755.
Bronchopneumonie I 206,
III 269.
— grippöse III 283.
— verkäsende III 732.
Bronzed-skin I 27.
Bronzehaut I 155.
Bronze-Krankheit I 27, III
551.
Broten wing I 388.
Brown - Sequard'sche Läh-
mung III 396.
Bruit de moulin III 791.
— de pot feie III 752.
— de roue hydraulique III
791.
Brunnencuren I 300.
Brust und Baucheingeweide,
Topographie der I 224.
Brustbräune I 73.
Brustfell I 225.
— Chylus im I 264.
— Entzündung des III 236.
— Tuberkulose des III 7 3 5 ,
757.
— Tumoren des III 34.
Brusthöhle .Neubildungen der
III 34.
Brustmessung II 703.
Brustnahrung I 194.
Brustschmerzen III 757.
Brustspielraum II 703.
Brustumfang II 703.
Brustwarze I 40.
Brysons Zeichen I 155.
Bubonenpest III 227.
Bulbärparalyse III 127.
Bulbärsymptome III 573.
Bulbusklappenton II 49.
Bulbuspuls II 49.
Bulimie II 600.
Burdach' scherStr ang III 3 9 2 .
Burnay 'scher Punkt III 161.
Bursa omentalis major 1234.
— omentalis minor I 234.
C.
Cachexia cardiaca II 58.
— exophthalmica I 153.
— scorbutica III 456.
— strumipriva I 158, II
812.
Cachexie I 238.
— bei Malaria II 631.
— thyreoidienne I 153.
Cadenabbia II 429.
Cadix II 426.
Cairo II 428.
Caissonarbeiter, Krankheiten
der III 300.
Calculi biliarii II 692.
— cystidis I 808.
— pulmonales III 734.
— renum III
Callore del fegato III 171.
CalomelbeiAbdominaltyphus
I 16.
— bei Dyspepsia infantum
I 196, III 1008.
— bei Herzfehlern II 71.
— bei Nephritis III 13.
Canaren II 425.
Cancer pyr oticus II 202.
Cannes II 427.
Cantharidin III 819.
Capacität, vitale III 749.
Capillarblutungen im Gehirn
I 732.
Capillarbronchitis 1 24, 311.
Capillarphlebitis III 1003.
Capillarpuls II 41.
Capri II 427.
Capsula interna, Localsymp-
tome bei Erkrankungen
der II 525.
Caput Medusae n 319,494,
III 929, 1004.
Carabazel II 427.
Carbolfuchsin III 745.
Carbolseifenlösung III 993.
Carbunkel II 716.
Carcinom des Bauchfells III
54.
— der Bronchien III 35.
— des Coecum III 164.
— des Colon III 379.
— des Darmes III 47.
— des Duodenum II 205,
III 379.
— der Gallenblase III 49.
— der Gallenwege II 49.
— des Gehirns I 744.
— des Herzens III 37.
— der Leber II 201, 475,
III 49.
— der Lungen I 321, IH
36.
— des Magens n 205, 565,
III 42.
— der Nebennieren HI 53.
— der Nieren III 52, 91.~
SACHREGISTER.
1071
Carcinom des Oesophagus
III 38, 93.
— desPankreasUI5l,121.
— der Pleura III 52, 241.
— des Kückenmarks III
399.
— der Thymus III 40.
Carcinoma fungus hämato-
des II 481.
Carcinomcachexie I 244.
Cardia I 232.
— Krampf der II 605.
Cardiale Oedeme II 109.
Cardialgie I 247, IH 867.
— nervöse III 873.
— bei Ulcus III 873.
Cardiogmus II 72.
Cardiopalmns II 72.
— strumosus I 153.
Cardiorrhexis III 405.
Cardiospasmus II 605.
Carditis = Myocarditis s. d.
Carrefour sensitif II 526.
Caryophyllaeus I 476.
Castellamare II 427.
Catalepsis pulmonum II 460.
Catania II 427.
Cataplasmen I 136, III 998.
Catarrhus acidus II 618.
— aestivus I 249.
Cattivo male III 171.
Cavernen III 734, 751.
— bronchiektatische I 205,
III 734.
Cavernome III 50.
Cellules meduUaires II 510.
— ■ rouges I 70,
Centrale Pneumonie III 258.
Centralwinduugen, Local-
symptome bei Erkran-
kungen der II 524.
Ceutrifugen II 335.
Centripetaler Venenpuls II
42.
Centrum cilio- spinale II 701,
III 393.
Centrum semiovale, Local-
symptome bei Erkran-
kungen des II 525.
Cercarien I 467.
Cerebellare Ataxie I 273,
II 526.
Cerebellum, Localsymptome
bei Erkrankungen des
II 525.
Cerebrale Kinderlähmung II
374.
— Pneumonie III 280,
Cerebraler Rheumatismus I
764.
Cerebrasthenie III 69.
Cerebropathia toxaemica III
336.
Cerebrospinalmeningitis I
251.
Cervicalanschwellung III
391.
Cestodenl 464, 471, II 14.
Ceylon II 425.
Chalicosis der Lungen III
724, 801.
Charakter, hysterischer, II
183.
Charbon II 714.
Charcot-Leyden'sche Kry-
stalle 1199, 251, 312,
633, II 25, 511.
Cheiromegalie III 572.
Chemosis, extravasculäre II
301.
Chiavari II 426.
Chinin als Antipyreticum I
86.
— gegen Malaria II 633.
Chinininjectionen 11 634.
Chininum tannicum gegen
Diarrhoe III 1016.
Chiragra I 779.
Chloasma cachecticorum III
774.
— phthisicorum III 774.
Chlor I 795.
Chloroform I 461.
Chlorose 1 52, 59, 70, 357.
— egyptische I 465.
Cholämie II 495, III 536.
Cholangitis catarrhalis 1698.
— suppurativa I 702.
Cholecystitis catarrhalis
699.
— suppurativa I 702,
Cholelithiasis I 248,
Cholera I 255, 351.
— asiatica, Fiebercurve
682,
— asphyctische II 279.
— einheimische I 491.
— europaea I 491.
— fulminante II 279.
— indigeua I 490,
Cholera indische II 247.
— infantum I 191, III
1012, 1014.
— nostras I 491.
— sicca II 279.
— Verbreitung der U 255.
Cholerabacillen I 633, II
287.
— in den Tropen III 696.
Choleraexanthem II 284.
Cholerainfection II 260.
Choleraniere II 271.
Choleratropfen I 496.
Choleratyphoid II 280.
Cholerrhagie I 491.
Cholestearinkrystalle III
529.
Cholestearinsteine I 691.
Cholurie 1 799.
Chondrodystrophie III 659.
Chorea I 255.
— chronica adultorum II
397.
— electrica I 259, 11 179,
III 131.
— hereditaria der Erwach-
senen I 260.
— Huntingtoni II 397.
— hysterica I 259.
— infantum congenita II
374,
Choreatische Parese II 388.
Chorioidealtuberkel HI 705.
Chvostek'sches Zeichen III
610.
Chylöser Ascites I 262,
Chylothorax I 264.
Chylurie I 799.
Cigarrenarbeiterkrampf I
164,
Cimiez II 427,
Circuläres Irresein I 264.
Circulatiousstörungen des
Gehirnes I 726.
Cirrhose annulaire II 492.
— hypertrophique avec ic-
tere II 491.
— insulaire II 498.
— monolobulaire II 498.
— multilobulaire II 492.
Cirrhosis hepatis II 202,
490.
— nodosa tuberculosa III
r- o *^
/ OO.
— pulmonum II 531.
1072
SACHREGISTER.
Cirrus I 466.
Cirrusbeutel I 466.
Cirsomphalos 11 494.
Cirsus m 1003.
Clapotement II 557.
Clar'sches Spirometer 11 329.
Clarke'sche Säulen III 391.
Claudication ictermittente III
31, 649.
Claustrophobiein 66, 1062.
Ciavierspielerkrampf I 164.
Claviis hystericus l 176.
Cleisagra I 779.
Cliquetis metallique I 75.
Clownismus II 191.
Clysma nutriens II 455.
Cocainismus II 346.
Coccygodynie II 176.
Codein I 211, 219, 249,
558, II 601, III 997.
Coenurus I 475.
Coffein I 127, II 69.
Colik in 949.
Colica flatulenta II 609.
— hepatica I 693,
— mucosa I 630, II 609.
— saturnina II 609.
Colicystitis III 956.
Colitis membranacea I 566.
— mucosa I 566.
— stercoralis II 609.
CoUaps der Halsvenen II 50.
CoUaterale Oedeme II 110.
Colliquation III 767.
Colloidkrebs III 44.
Colon ascendens I 235.
— descendens I 235.
— transversum I 235.
Coma carcinomatosum 1 321,
— diabeticum III 414.
Combinirte Klappenfehler II
54.
Commabacillen 11 287.
Commissur, graue, III 391,
— weisse III 391.
Como II 429.
Compensation der Klappen-
fehler n 30.
Compensatorische Oedeme II
111.
Compressionen der Arterien
III 762.
Compressionsatelektase II
531.
Compressionsmyelitis II 406;
779.
Compressionsstenosen III 9 5 .
Compressionsthrombose III
1004.
Compressorium II 533.
Concretio cordis III 201.
Condurango gegen Magen-
carcinom II 578.
Conjunctivitis plyctaenulosa
II- 469.
Constitutioneller Diabetes I
400.
Constitutionsanomalien III
532.
Consumptio I 238.
Contractur, hysterische II
179.
Contractura essentialis II
374.
— tonica extremitatum II
374.
Contracture essentielle III
602.
Contracture des nourrices
III 602.
— rheumatismale intermit-
tente III 602.
— tabetique III 125.
Contractures des extremit^s
III 602.
Conus terminalis III 391.
Convexitätsmengitis II 693.
Convulsionen I 269, 458,
III 1052.
Coordination I 271.
Coordinationsstörungen I
271.
Coprostase III 1016.
Coqueluche II 365.
Cor adiposum I 636, II 222.
Corde colique transverse I
569, 570.
Corfu 11 426.
Coronarsklerose I 127.
Corpora restiformia, I^ocal-
symptome bei Erkran-
kungen der II 527.
Corpora quadrigeraina, Lo-
calsymptome bei Er-
krankungen der II 526.
Cortex radicis Granati II
17.
Corticale Agraphie I 97.
— Alexie I 96.
Corticale Aphasie, moto-
rische I 94.
— — sensorische I 94.
Coruna II 426.
Coryza I 201.
Costaldurchmesser II 704.
Coup de barre I 750,
Cow-pox III 995.
Craniotabes III 367.
Cretinisme sporadiquellS 13.
Cretinismus I 158, II 228,
in 659.
Crie hydrocephalique II
694, III 703.
Crises gastriques I 247, III
. 1031.
Croup I 275.
Croup d' emblee I 275.
Croupöse Pneumonie, III
249.
— im Kindesalter III 278.
Cruor sanguinis III 649.
Crura cerebelli, Localsymp-
tome bei Erkrankungen
der II 527.
Crura cerebri, Localsymp-
tome bei Erkrankun-
gen der II 527.
Cruralarterie, Auscultation
der II 43.
Cruralarteriendoppelton II
43.
Cryptococcus Xanthogenicus
I 750.
Cuba II 425.
Cubitalarterie, Auscultation
der II 42.
Cudowa I 144, 149.
Cuneus II 525.
Cur I 294.
Curen, magnetische I 302.
— physikalische I 298.
— pneumatische I 299.
Curorte I 144, 211, II 67,
424, III 831.
Curschmann'sche Spiralen
III 526.
Cyanose I 306, III 892.
Cyclische Psychose I 264.
Cylinderzellenkrebs III 42.
Cylindroide III 18.
Cypern II 426.
Cysticercoid I 476.
Cysticercus I 475, II 21.
— des Auges II 21.
SACHREGISTER.
1073
Cysticercus cellulosae I 463.
— fusciolaris I 476«
— des Gehirns 1 749, II 21.
— des Herzens II 21, 225.
— racemosus I 749.
— tenuicollis I 479.
Cystinsteine III 27.
("ystinurie I 800.
Cystitis I 808, II 136, 777.
Cysto taeuiae I 478.
Cytoryetes variolae III 962.
D.
Dactylotonus III 602.
Dactylus-Eliythmus I 336.
Dämpfung III 193.
Dampfbäder II 118, 138.
Dandyfever I 388.
Darm, Amyloid des III 767.
— Atrophie des II 563.
— Geschwüre des I 574.
— Incarceration des I 574.
— Invagiuation des I 574,
n 350.
— Katarrh, acuter I 562.
— — chronischer I 564.
— Xeubildungen des III 47.
— Xeurosen des II 609.
— Stenosen des I 573.
— Tuberkulose des III 767.
— Verschluss des I 573.
Darmblutungen bei Abdomi-
naltyphus I 11.
Darmcanal I 235.
Darmcoucremente I 631.
Darmeingiessungen I 446,
II 293, III 1023
DarmeinschiebuDg I 574,
II 350.
Darminhalt I 627^ III 1018.
Darmirrigationen II 138.
Darmkatarrh, acuter I 562.
— clironischer I 564.
Dai'mkolik, nervöse III 78.
Darmkrankheiten, Balneo-
therapie der I 145.
Darmceurosen II 609.
Darmschwindsucht III 698.
Darmtrichine I 487.
Davos II 429.
Decubitus I 775, III 394.
Defecte der Kammerscheide-
wand I 328, II 57.
— der Yorkammerscheide-
wand II 56.
III
II
Defervescen/ I 678.
Degeneratio adiposa cordis
I 636, II 789,
— amyloidea II 618.
Degeneration des Herzens II
784, 789.
— der Leber II 501.
— der Milz II 719.
— der Muskeln II 746.
— des Myocards I 341.
— der Nieren III 85.
— des Rückenmarks
33, 398.
Degenerative Atrophie
750, 752, 759.
Degeneratives Irresein 1 3 5 9 .
Delirien im Fieber II 349.
Delirium postepileptisches,
raisonnirendes I 600.
— tremens II 341,111260.
— — Unterscheidung von
Meningitis II 696.
Dementia I 364.
— acuta I 364.
— functionelle I 364.
— katatonische II 365.
— organische I 364.
— paralytica I 368.
— senilis I 386.
Dengue-Fieber 1388, II 313,
III 697.
Dentalparalysen III 397.
Dentitio difficilis 11 410.
Dentition III 1051.
Dentitionskrankheiten III
1056.
Derivationscuren I 302.
Dermatomykosis III 773.
Dermatophon II 322.
Dermoidcysten des Gehirns
I 77.
— der Lungen III 37.
— des Peritoneums III 55.
Desassimilation II 2.
Desceusus viscerum I
Desinfection II 291.
— locale I 493.
Desinfectionsanstalten
994.
Desintegration der Muskel-
fasern III 405.
Desquamatio furfuracea III
423.
— membranacea III 423.
568.
III
Desquamativ-Pneumonie II
531.
Deviation conjugu^e II 694.
Dextrocardie II 457, III
516.
Dextrose I 397,
Diabete gras I 403.
Diabetes, cerebraler 1810.
' — constitutioneller I 400.
— insipidus I 389, 813.
— lipogener I 403.
— mellitus I 243, 356,
396, 813.
— Paukreasveränderungen
bei III 119.
— traumaticus praecoxl404.
— — tardivus I 404.
Diaceturie I 797.
Diät II 432.
— bei Diarrhoe I 415.
— bei Herzfehlern II 72.
— bei Hydrops II 119.
— bei Magenatonie II 559.
— bei Magencarcinom I
577.
— bei Magendilatation II
592.
— bei Magenkatarrh 1718.
— bei Magensecretionsstö-
rungen II 607.
— bei Nierenentzündung
III 15, 25.
— reizlose II 458.
— der Säuglinge II 448.
— der "Wöchnerin 11 441.
Diätetik des Greisenalters
II 649.
Diätetische Curen I 294.
Diätschemen bei Diabetes
I 406.
Diagnostik, Instrumente zur
II 320.
Diamine I 342.
Diaminurie I 800.
Diaphoretica II 117.
Diarrhoe I 467, I 627.
— acute I 400.
— Cholera- II 273.
— chronische I 410.
— katarrhalische III 674.
— nervöse III 78.
— Ursachen der I 410.
Diarrhoea ablactatorum I
582.
Diarrhoea acida III 1011.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd III.
68
1074
SACHREGISTER.
Diarrhoea acliposa 408,
— marasmatica III 674.
— miasmatica III 674.
— serosa I 408, III 674.
— stercoralis I 408.
— verminosa II 23.
Diastematomyelie III 398.
Diastolischer Venencollaps
I 334.
Diathese, athritisch-nratische
I 346.
— hämorrhagische III 969.
— harnsaure II 1.
Diazoreaction von Ehrlich
I 671.
Dichte des Blutes I 48.
Dieulafoy's Aspirations-
spritze in 245.
Digitalis l 85, 553, 558,
562, 642, II 68, 116,
216; 219, 220, 789,
III 268, 997.
Dilatation des Herzens II
214, 225.
— des Magens II 580.
— des linken Yentrikels II
31, 35, 45.
— des rechten Ventrikels
II 38, 52, 57, 216.
— des rechten Vorhofes 11
47.
Dilatationsthrombose III
1004.
Diphtherie I 278, 342, 410,
418.
— Fiebercurve bei I 681.
— Hydrotherapie II 139.
■ — hypotoxische I 428.
— Immunisirung II 237.
— bei Masern II 730.
— des Oesophagus III 102.
— primäre I 428.
— progrediente I 428, 429.
— secundäre I 428, 434.
— septicaemische I 432,
— Serumtherapie der I
440a, II 245.
Diphtheriebacillus I 420.
Diphtherieheilserum I 180,
440a, II 245.
Diphtherielähmung I 430,
III 663.
Diphtherienephritis III 21.
Diplegia cerebralis II 374.
— spastica II 374.
Diplegie ni 30.
Diplegische Contraction II
759.
Diplococcus lanceolatus I
252.
— pneumoniae II 309, 315,
III 199, 249.
Diplomyelie III 398.
Diplopie I 154.
Dipsomanie I 363.
Dislocation des Herzeus III
761.
— der Leber III 1033.
— des Magens II 580.
— der Milz IH 1035.
— der Mere in 1037.
Disposition für Tuberculosis,
angeborene III 722.
ererbte III 718.
— — erworbene III 722.
Disseminirte Sklerose III
440.
Dissociation I 541.
— syringomyelique I 541.
— — de la sensibilitö III
568.
Distomum crassum I 465,
. II 12.
— cygnoides I 468.
— haematobium I 65, 187,
471,1111,198,11188.
— hepaticum I 468, II 12,
198.
— heterophyes I 470.
— holostomum I 468.
— lanceolatuml469,II12.
— ophthalmobium I 471.
— pulmonale I 465, 470.
II 12.
— sineuse I 470, II 12.
- — spathulatum I 465, 470,
II 12.
Distomum-Infection II 12.
Dittrich'sche Bronchial-
pfröpfe 1204, III 531.
Diuretica II 71.
Diuretin II 71, 117, 497,
III 13, 26.
Diverticulum Vateri, Car-
cinom des II 205.
Divertikel der Speiseröhre
III 96.
Dobberan I 148.
Dochmius duodenalisl 464,
481.
Dochmius trigonocephalus I
483.
Doppelempfindung I 545.
Doppelgeräusch, Duroziez'-
sches II 43.
D oppelseitige Athetose 1261.
Doppelton über den Arterien
II 43.
Dorsalclonus III 507.
Dosis zur Bandwurmcur II
16.
Douchen II 135.
Douleur phrenique III 202.
Drahtpuls III 14.
Drainage II 123.
— bei Hydrops II 71.
— Nadel- II 127.
— Trichter- II 127.
Drastica II 119.
Drucklähmung, Erb'sche II
395.
Drucklähmungen III 30.
Druckpunkte II 175.
Drüsenfieber III 280.
Duchenn'sche Krankheit II
755.
Ductus arteriosus Botalli I
320, II 57.
— choledochus I 234.
Krebs des II 198,
204.
— cysticus I 234.
— hepaticus I 234.
— Pecquelianus I 231.
— thoracicus major I 231.
— venosus II 213, III 1.
Dünndarm I 235.
Dünndarmcarcinomelll 379.
Dünnschiss I 407.
Dunkle Entladung I 505.
Duodenalkatarrh I 700.
Duodenalstenose I 441.
— hohe I 441, 576.
— tiefe I 441.
Duodenalulcus III 878.
Duodenum I 235.
— Carcinom des II 205.
— Ulcus des III 878.
Dura mater cerebralis,
Krankheiten der III 169.
— — spinalis, Krankheiten
der III 112.
Durand 'sches Mitteil 697.
Durchfall I 407.
SACHREGISTER.
1075
Durchfall bei Abclominalty-
plius I 10.
— bei indischer Cholera II
273.
— der Säuglinge I 189.
Durchfluss I 407.
Duroziez'sches Doppelge-
räusch 11 43.
Durstcuren 1 294.
Dysarthrie I 442,
Dyschromatopsie I 543.
Dyscrasia exoplithalmica 1
153.
Dyscnteria tropica 111 688.
Dysenterie I 351, 443.
Dysentcrielähmung 111 663.
Dysgeusie 1 778.
Dysgraphie I 446.
Dyskrasie, autogenetische 1
140.
— liarnsaure 11 1.
Dyskrasien 111 533.
Dj'Slexie I 447.
Dysmyotonie 111 638.
Dyspepsia enterica nervosa
111 77.
Dyspepsie 1 146, 111 68,
1010.
— der Säuglinge 111 1006.
Dysphagia spastica 111 99.
Dysphagie 111 93.
Dyspnoe 11 59, 111 895.
— asthmatische 1 199, III
896.
— bei Bronchitis infantum
I 215, 218.
— exspiratorische III 898.
— hysterische I 348.
Dysthyrea III 658.
Dystrophia musculorum pro-
gressiva I 449, n 753,
III 643.
— muscularis hjq^erplastica
1 457.
E.
Eberth-Gaffky 'scher Bacillus
I 7.
Ebsteincur I 648.
Echinococcus I 475, III 88.
— der Gallenwege I 705.
— des Gehirnes I 749.
— des Herzens II 226.
— hominis 1 480.
— der Leber II 502.
Echinococcus multilocularis
1 480.
— im Netz III 1096.
— der Nieren 111 86.
— veterinorum 1 480.
Echinococcuskrankheit 1
480.
Echinorhynchen 1 489.
Echinorhynchus gigas I 489.
Echokinesis III 1057.
Echolalie 1 366, 111 1057.
Eckelcuren I 302,
Eclampsia infantum 1 458.
— tetaniformis neonatorum
111 626.
Eclampsien, reflectorische I
459,
Egyp tische Chlorose 1 465.
Eifersuchtswahn II 344,
Eileiter 1 235,
Eingeweidevorfall I 568,
Eingeweidewürmer 1 463,
Einpackung, feuchteil 139.
— trockene II 138.
Einpissen 1 583.
Einschiebung des Darmes I
574, II 350.
Einwicklungen, hydropathi-
sche III 998.
— nasse 1 84,
Einziehungen, systolische
III 207,
Eisenpräparate I 67, 72.
Eisenquellen I 67.
Eisenstaub, im Sputum 111
746.
Eiterfieber 1 611.
Eiweissproben 1 35,
Eiweisswasser III 1012.
Ejaculation III 393.
Ekthyma III 465,
Ekzem, acutes I 619.
Ekzema vesiculosum III 9 5 9 ,
Ekzeme, scrophulöse 111
465, 466,
Elastische Fasern III 527,
745, 805, 808.
Elektrisation, directe II 561,
Elektrischer Schwindel III
1030,
Elektrocutane Sensibilität 1
503, 1 539.
Elektroden I 510.
Elektrodiagnostik I 497.
Elektrodiagnostischer Appa-
rat von Gärtner 11 338.
Elektrodiagnostische Grenz-
werte 1 490.
— Instrumente II 338.
Elektrolyse 1 122.
Elektromedicinische Appa-
rate 1 507.
Elektropunktur 1 122.
Elektrotherapie I 512.
Elephantiasis 1 616.
— italica III 171.
Elö-Patak I 145.
Elster I 146, 149.
Emaciatio 1 238.
Embolie I 101, 530.
Embolien der Lungenarterie
I 316, 324.
Embryocardie I 75.
Emetin III 1001.
Empfindungsstörungen 1 535
Emphysem I 208, 317, 326,
348, 545.
Emphysema alveolare I 545.
— interlobulare 1 545.
— interstitiale 1 545.
— pulmonum I 545.
— vesiculare I 545.
Emphysemtheorien I 548.
Emplastrum mercuriale 111
999.
— de Vigo m 999.
Empyem in 237.
Empyema cystidis felleae I
708, 709.
— hypophrenicum III 540.
— necessitatis III 243.
— pulsans n 319, 111 243.
Ems 1 145, 146, 147.
Encephalitis acuta infantum
II 374.
— sclerotica infantilis II
754.
Encephalomalacie 1 738.
Endarterien 1 532.
Endocardiale Geräusche I
131.
Endocarditis 1 144, 554.
— der Aortaklappen 1 339.
— diphtheroides I 559.
— granulosa I 554.
- — maligna I 554.
— polyposa I 554.
— septica I 559.
— Simplex I 544,
68*
1076
SACHREGISTER.
Enclocarditis sklerotische I
112.
— ulcerosa I 559.
— valvularis I 113.
— verrucosa I 554.
Endogene Anämien I 61.
Endophlebitis III 1003.
Endothoracaler Kropf I 310.
Engelskjön's Methode I 522.
Englische Krankheit III 3 6 5 .
Engouement III 279.
Entartungsreaction I 601.
Entbindungslähmung II 395,
III 247, 248.
Enteralgie I G09.
Enteritis HI 1013.
— acuta I 562.
— chronica I 562, 564.
- — crouposa I 566.
— fihrinosa, I 566.
— follicularis IH 1015.
— ■ membranacea I 566.
630.
Enteroklyse I 16.
— von Cautani II 293.
Enterolithen III 152.
Enteroptose I 568, III
1033.
Enterostenose I 573.
— chronische I 575.
Entite morbide I 568.
Entladung, dunkle I 505.
Entwöhnung I 582.
Entwöhnungscuren I 301.
Entzündliche Leukocytose I
62.
Entzündung III 1003.
— der Nabelgefässe III 3,
Enuresis I 583.
— mechanica I 583.
— paralytica I 584.
— spastica I 584.
Eosin - Methylenblaufärbung
I 187.
Ephemera I 588.
Ephemeres Fieber III 280.
Epidemische Genickstarre I
251.
Epilepsia gravis I 591.
Epilepsie I 590.
— hemiplegique II 524.
— Jakson'sche I 594, U 524.
Epileptische Geistesstörun-
gen I 599.
Epiploon I 236.
Epithelcylinder III 17.
Epithelien im Sputum III
746, 805.
Epitheloide Zellen III 729.
Equinola HI 995.
Erbrechen IH 869, 930,
1030.
— habituelles in 1007.
— juveniles III 1032.
— nervöses II 606.
— periodisches III 1032.
— pueriles III 1032.
Erb'sche Drucklähmung II
395.
— Entbindungslähmung II
395.
— Lähmung III 247, 248.
Erection III 393.
Ergotm gegen Enuresis I
586.
— gegen Scorbut III 460.
— gegen Tabes III 601.
Ergotinismus gangraenosus
m 663. '
Ergotintabes HI 397.
Ergotismus III 181.
Erhaltungseiweiss I 238.
Erinnerungskrämpfe III
1057"
Erkältung in der Aetiologie
der Tuberculosis HE
723.
Ernährung, künstliche 11
453.
— künstliche der Säuglinge
I 604.
— der Säuglinge I 601.
Ernährungstherapie I 607.
Erschöpfung, nervöse III 63.
Eructatio nervosa II 604.
Erweiterung der Gallenblase
I 708.
Erysipel, Fiebercurve I 681.
— des Neugeborenen m 3.
Erysipelas I 611.
— ambulans I 615.
— bullosum I 613.
— crustosum I 613.
— erraticum I 615.
— gangraenosum I 615.
— habituale I 616.
— internum I 350.
— migrans I 615.
— pustulosum I 613.
— vesiculosum I 613.
Erysipelcoccen I 618.
Erythema exsudativum III
335.
— nodosum III 355.
— papulatum II 284.
— papulosum III 988.
— variolosum III 968.
Erythrodextrin II 621.
Er^^thromelalgie I 540.
Esbach's Albuminometer II
337.
Eselinnenmilch III 823.
Eudiämorrhysis I 727.
Eustrongylus gigas I 483,
Excitantien 125, 195, 441,
II 70, 295, 789, III
224, 267, 289.
Excretionszellen I 465.
Exogene Anämien I 65.
Exophthalmia cachectica I
153.
Exophthalmus I 154.
Expectorantien I 210, II
373, III 289, 836.
Expectoration III 899.
— maulvolle III 328.
523, 803.
Expressionscur I 299.
Extractum Belladonnae II
373.
— Canadense III 460.
— Colombo II 578.
— Condurango II 578.
— Sagradae III 1007.
Extravasculare Chemotaxis
II 301.
F.
Fachingen I 145, 146.
Facialiscentrum II 523.
Facialiskrampf III 660,
1057.
Facialislähmung I 624.
Facialisphäuomen III 610.
Facies cholerica II 276
— hippocratica I 493, III
218.
— myopathica I 452.
— tetanica III 622.
Fadenprobe, Garrod'sche auf
Harnsäure I 783, II 6.
Fadenwürmer I 464, 480.
Faeces I 627.
Faeces-Untersuchung I 627.
Färbuns; des Blutes I 184.
SACHREGISTER.
1077
Falkenstein 11 429, 430.
Fallsucht I 590.
FamilientuberculosisUI 720.
Faradischer Strom I 519.
I'^aradymeter von Edelmann
II 339.
Farcin acuter III 385.
Farcinosis III 380.
Faröer Inseln II 424.
Fascia rectorenalis III 1041.
Faserkrebs III 42.
Fasern, elastische im Spu-
tum in 527, 745.
Fassform des Thorax II 318.
Fassphänomen III 507.
Fasteuscorbut III 468.
Fauteuil trepidant III 126.
Febricula I 677.
Febrile Acetouurie I 812.
— Albuminurie I 811.
Febris catarrhalis I 588.
— coutinua I 677.
— flava I 750, III 697.
— fluviatilis III 692.
— herpetica I 588,111280.
— hungarica II 628.
— iutermittens II 624, III
694.
dissecta II 630.
erratica II 630.
■ — — uonana IL 629.
— — perniciosa algida II
630.
apoplectica II 630.
epileptica II 631.
comatosa II 630.
syncopalis II 630.
— — — tetanica II 631.
quintana II 629.
— — quotidiana II 629.
tertiana II 629.
— methaematemica I 686.
— miliaris III 545.
— recurrens I 677, III
854.
— remittens I 677.
— rheumatica I 588.
— secundaria III 973
— suppurativa III 973.
Fechterstelluug bei Cholera-
leichen II 269.
Federdynamometer Eegnier
II 340.
Fernwirkungen II 523.
Fett inExsudatenl 262, 264.
Fett im Harn I 799, 805.
— im Stuhl I 631, 635.
Fettdegeneration des Her-
zens I 637.
— der Leber II 501.
— der Niereu III 11,
— des Pankreas III 117.
Fettembolien I 531.
Fettherz I 636, II 222.
Fettleber III 768.
Fettleibigkeit I 642.
Fettsäurekrystalle III 528.
Fettsäuren I 795, III 411,
525.
Fettstühle I 628.
Fettsucht I 149, 642.
Feuchte Einpackung II 134.
Fibringerinnsel im Herzen
II 77.
— bei Pneumonie III 254.
Fibrinöse Pneumonie I 809.
Fibrinöse Pseudobronchiti-
den I 312.
Fibrinurie I 800.
Fibrome innerer Organe s.
Neubildungen innerer
Organe III 34.
Fidschi-Inseln II 425.
Fieber I 81, 662.
— bei Dengue I 388, III
697.
— gelbes III 697.
— hämoglobinurisches III
695,
— hectisches III 776.
— — Therapie des I 81
III 838.
Fiebercurve bei Abdominal-
typhus I 9, 679.
— bei Cholera asiatica I
682, II 275.
— bei Diphtherie I 681.
— bei Erysipel 1614,681.
— bei Malaria I 683, II
629.
— bei Miliartuberkulose I
682, III 706.
— bei Morbilli I 681, II
726.
— bei Phthisis florida III
778, 779.
— — pulmonum consum-
mata III 778.
— bei Pleuritis I 682.
— bei Pneumonie I 682,
Fiebercurve bei Purpura
variolosa III 976.
— bei Pyämie I 682.
— bei Kheuraatismus acu-
tus I 683, I 761.
— belRubeolae I 681, III
389.
— bei Scarlatina III 420.
— bei Syphilis I 683.
— bei Tuberculosis pulmo-
num I 682, III 777.
— bei Typhus exanthema-
ticus I 680, III 847.
— bei Typhus recurrens I
680.
— bei Varicellen I 681.
— bei Variola vera I 681,
III 974.
— — haemorrhagica pu-
stulosa III 975.
— bei Variolois III 980.
— bei Weil'scher Krankheit
I 684, III 1048.
Fieberdelirien II 349.
Fieberdiät II 450.
Fieberharn I 811.
Fiebermittel I 81.
Fiebertyinis I 677.
Fievre courbaturale I 388.
— de foin I 388.
— fluviale de Japon III 6 9 2 .
— intermittente, biliosep-
tique I 704.
— — hepatique I 704.
— du Levant III 227.
— rheumatismale aigue III
697.
Filaria I 481.
— Bankrofti I 488.
— brouchialis I 489.
— hominis oris I 488.
— labialis I 488.
— lentis I 489.
— loa I 488.
— medinensis I 487.
— oculi humani I 489.
— papulosa I 484.
— piscium I 483.
— sanguinis I 187, 488,
II 11.
Filariadae I 487.
Filariakrankheiten III 681.
Filariden I 465.
Fingerpercussion III 183.
Finne I 475.
1078
SACHREGISTER.
Finneninfection II 20.
Fiscli-Yergiftung I 354.
Fixirende Methoden I 186.
Flecktyphus III 843.
Fleischcuren, I 297.
Fleischl's Spirometer II 330.
Fleischmilchsäure II 619.
Fleischsolution III 875. .
Fleischvergiftung III 662,
1048.
Flexibilitas cerea II 682.
Flexura coli hepatica 1235.
— iliaca I 235.
— lienalis I 235.
— sigmoidea I 235.
Flimmerscotom II 708.
Floating Iddney III 1037.
Florida II 425.
Fluctuation III 932.
Flüssigkeitsrheostat I 507.
Flüsterstimme, Auscultation
der III 240.
Flussfieber in Japan III 692.
Fötide Bronchitis I 204.
Folie circulaire I 264.
— ä double forme I 264.
— du doute I 362, III
1062.
— musculaire I 256.
— raisonnante I 686.
Foramen ovale, offenes 1328,
II 56.
— pancreatico-gastricum I
235.
— Winslowii I 234.
Formes frustes I 159, II
381, 393.
Forno rurale III 182.
Fossa duodeno-jejunalis I
236.
— ileo-coecalis I 236.
— inter sigmoidea I 236.
— subcoecalis I 236.
Fragezwang III 1062.
Fragmentation der Muskel-
fasern III 405.
Fraisen I 458.
Frambösia III 693.
Franklin'sches Bad I 520.
Franklin'sche Douche I 521.
— Funken I 521.
Franklin' scher Strom I 520.
Franzensbad I 67, 146, 148,
149.
Fredericq - Thompson'scher
Zahnfleischsaum III
764.
Fremdkörper I 310.
Fremissement, systolisches
II 32, 53.
Freundschafts-Inseln II 425.
Frey-Marey' scher Sphyg-
mograph II 325.
Friedreich'sche Ataxie II
407.
— Krankheit I 688.
— Tabes II 407.
513.
Froriep'sche Schwiele II
Fructosurie I 801.
Frühsommerkatarrh I 249.
Fütterungstuberkulose III
714.
Functionelle Dementia 1364.
— Lähmungen III 397.
Functionsanomalien des Ner-
vensystems II 168.
Fundus ventriculi I 232.
Fungus umbilicalis III 3.
Funiculi cerebelli III 393.
Funkenstrom I 505.
Furchtzustände III 1062.
Furunculosis der Säuglinge
III 509.
Fussbäder II 136.
Fussclonus III 507.
G.
Gähn-Cur I 300.
Gähn-Krämpfe III 1058.
Grährungsdyspepsien III
1010.
Gährungsmilchsäure II 619.
Gärtner' s elektrodiagnosti-
scher Apparat II 338.
— Hämatokrit II 335.
— Kreiselcentrifuge 11 336.
— Messapparat II 327.
Galactostase II 650.
Galacturie I 799.
Galle I 697.
Gallenblase, Anomalien der
I 698.
— Carcinom der I 710, II
206.
— Catarrh der I 699.
— Empyem derl 703, 708.
— Erweiterung der I 708.
— Hydrops der I 708.
Gallenblaseerkrankungen I
697.
Gallenconcremente I 630.
Gallenextravasate I 707.
Gallensteine I 690.
Gallensteinkolik I 690, 693,
III 873.
Gallenwege HI 50.
— Entzündungen derl 698.
— Erkrankungen derl 697.
— Parasiten in den I 469;
485, II 12, 20.
— Yerengerung der I 705.
— Verschluss der I 705.
Gallerten III 828.
Gallertkrebs III 44.
Galoppirende Paralyse 1381.
Galoppirende Schwindsucht
HI 739, 776.
Galvanische Batterien I 507,
H 338.
Galvanischer Strom I 498.
Galvanometer, absolutes I
507, 11 339.
Gangrän, diabetische I 402.
— hysterische III 376.
— der Lungen II 534, III
802.
— multiple n 534.
— des Nabels IH 2.
— symmetrische III 376.
Gangrän-Sputum II 535.
Gardone-Riviera II 429.
Garrod'sche Fadenprobe I
783, II 6.
Gase in der Bauchhöhle III
217, 220.
— in der Brusthöhle III
325.
Gastein I 148.
Gastochograph II 327.
Gastralgie I 247, IH 867.
^- nervöse III 873.
— bei Ulcus III 873.
Gastrectasie mit gutartiger
Stenose II 573.
Gastrische Krisen HI 597.
Gastritis acida I 715.
— acuta I 711.
— atrophicans I 715.
— chronica I 715, II 573.
— glandularis I 715.
— glandularis, chronica I
242.
— infectiosa I 711.
SACHREGISTER.
1079
Gastritis mucosa I 715.
— mycotica I 714.
— parasitaria I 711.
— phlegmonosa I 711.
— Simplex I 711.
— toxische I 711, II 618,
III 867.
Gastroadenitis I 716.
— phosphorica I 712.
Gastrodiaphanie I 722.
Gastrodiaphanoskopic I 720.
Gastroduodenostomiell 599.
Gastrodynie I 247.
Gastroenterostomie II 579,
599.
Gastrohelkoma III 861.
Gastro-intestinal-Anthrax II
716.
Gastro-intestinale Mykose II
711, 715.
Gastroptose 11 589,
Gastrorhexis III 409.
Gastroskop I 720, II 330.
Gastroskopie I 720.
Gastrospasmus I 247.
Gastrostomie III 98.
Gastroxyusis II 608.
Gasvergiftungen I 852.
Gavage II 455.
Gebirgsklima II 428.
Geburtslähmungen, cerebrale
II 382.
Gefängnispsychosen I 722.
Gehirn, Anämie des I 726,
729.
— Atrophie des I 748.
— Circulationsstörungen I
726.
— Cysticercus des I 746,
749, II 21.
— Echinococcus des I 749.
— Embolie I 101, 737.
— Entzündung des I 740.
— Geschwulstformen des I
744.
— Hyperämie des I 726,
729.
— Hypertrophie des I 747.
— Oedem des I 731.
— Parasiten des I 749.
— Physiologie des II 522.
— Sklerose des I 747.
— Solitärtuberkeldesl743.
— Syphilis des I 743.
— Thrombose I 737.
Gehirn Tuberkulose des I
742.
— Tumoren des I 744, II.
523, III 1030.
Gehirnabscess I 740.
Gehirnarterien, Embolie der
I 101, 737.
— Thrombose der I 101,
737.
Gehirnblutung I 101, 737.
Gehirnhäute, Krankheiten
der I 251, II 691.
Gehirnkrankheiten I 171,
726.
— Localsymptome der 11
521.
Gehirnrheumatismus I 764.
Gehirnrinde, Anatomie der
II 524.
— Sklerose der 11 393,
— Zonen der 11 524.
Gehirnsinus, Entzündung der
in 511.
— Thrombose der III 511.
Gehirnsymptome II 523.
Gehirntumoren I 744.
— Schwindel bei III 1030.
Gehörorgan, elektrodiagno-
stische Prüfung des I
506.
Geisteskrankheiten, Behand-
lung der II 353.
Geistesstörungen durch Al-
koholismus II 340.
— durch Autointoxication
II 348.
— durchCocainismusn346.
— epileptische I 599.
— bei Herzfehlern 11 64.
— Hysterischer I 184.
— durch Infecte II 349.
— bei Lyssa 11 347.
— durch Morphinismus 11
345.
— bei Morphiumabstinenz
II 741.
— bei Myxödem II 348,
811.
Gelbfieber I 750, IH 697.
Gelbsehen I 207.
Gelbsucht II 194.
Gelenksrheumatismus 1 148,
341, 755, 813.
Genickstarre II 701.
— epidemische I 251.
Genitalien, Hypoplasie der I
59.
— Tuberkulose der III 771.
Genius epidemicus II 88.
Georgia II 425.
Geräusch des gesprungenen
Topfes III 187, 752.
— des fallenden Tropfens
III 788.
Geräusche, accidentelle 151,
II 33.
— anorganische II 33.
— diastolische II 40, 51.
— pneumocardiale III 761.
— präsystolische II 51, 57.
— schnurrende IIE 907.
— schwappende III 933.
— systolische I 51, 11 41,
46, 48, 53, 57.
Gerhardt'scherSchallwechsel
III 752.
— Zeichen III 513.
Gerinnung I 48.
Geruchsempfindungsstörun-
gen I 767.
Geruchsnerven I 768.
Geruchsprüfung I 769.
Geschlechtsapparat bei Dia-
betes I 402.
Geschmacksinnstörungen I
775.
Geschmacksnerven I 768.
Geschmacksprüfung I 778.
Geschwür des Darmes I 9,
444.
— des Duodenums I 441.
— desMagensIII863,878.
— der Speiseröhre III 103.
— sublinguales II 372.
Gesellschaftsinseln II 425.
Gesichtsatrophie, halbseitige
n 25.
Gesichtshypertrophie, halb-
seitige n 27.
Gesichtskrampf III 660.
— mimischer III 660.
Gesichtslähmung I 624.
Gesichtsschmerz, Fothagill-
scher I 664.
Gesundheitspolizei III 663.
Gewebsathmuug HI 297.
Gicht I 63, 778, 812, II 1.
— chronische I 780.
— irreguläre I 779.
— reguläre I 779.
1080
SACHREGISTER.
Giclit, Pathogenese der 11 4.
Gichtisclie Aortitis I 110.
Gichtknoten I 780.
Giemen I 136.
Giesshübl I 145, 146, 147.
Gift I 140.
Giftstoffe, Anämien durch I
66.
Gin-drinkers liver II 491.
Giwing way of the legsl 272.
Glandula thymus III 649.
— thjreoidea III 667.
Glandulae lumbales I 237.
— mediastinales anteriores
I 230.
— — ■ posteriores I 231.
Glanzhand III 570.
Glanzhaut III 80.
Glasverband II 657.
Glaubersalzwässer I 146.
Gleichenberg I 145, 146.
Gliederstarre, allgemeine,
cerebrale II 375.
— angeborene spastische II
408.
Gliomateleangiectaticum in
561.
Gliosis ni 559.
Globulin I 35, 798.
Globus hystericus II 182.
Glomerulitis III 19.
Glomerulus I 794.
Glossitis variolosa III 972.
Glossoplegie II 164.
— articulatorische II 165.
— masticatorische II 165.
GlossyskinlllSO, 343,570.
Glottiskrämpfe III 1052.
Glottislähmung I 308.
Glottisödem II 103, III 759,
972.
— acutes III 1001.
Glotzaugenkrankheit I 153.
Glycogen II 520.
Glycosuriel 357, 402, 800,
ni 116.
Görbersdorf II 429.
Goll'scher Strang III 392.
Gonidien in 519.
Gower'sches Bündel III 392.
Graefe'sches Symptom 1 154.
Grand mal I 591.
Granularatrophie III 14.
Granulationen, perinucleare
n 520.
Granulirte Leber II 491.
Granulom des Nabels III 3.
Graphospasmus I 162.
Graue Commissur III 39.
Graves'sche Krankheit 1153.
Grenzen des Herzens III 1 9 7 "
— der Leber III 940.
— der Lungen I 227.
— des Magens III 941.
— der Milz III 941.
Grenzwerte, elektrodiagno-
stische I 499.
Gries II 429.
Griesinger'sches Zeichen III
513.
Grippe II 302.
Grössenwahn II 680.
GrübelsuchtI362,III 1062.
Grundwasser bei Typhuser-
krankungen I 8.
Guajacol III 821.
Guberquelle I 149.
Gubler'scheLähmungII527.
Guezenburg'sches Reagens II
615.
Gutta cadens III 787, 788.
Gypsverband II 657.
H.
Habitus apoplecticus I 732.
— cachecticus I 238.
— emphj'Sematöser III 889.
— phthisicus III 720, 748,
814, 889.
— scrophulosus III 464.
Iladernkrankheit I 350, II
104, 710.
Hadernstaub I 350.
Haematemesisl786,II 495,
568, III 867, 872.
Hämatoblasten I 70.
Hämatogene Albuminurie I
36.
Hämatogener Icterus II 194.
Hämatoidinkrystallelll 528.
Hämatokrit nach Gärtner II
335.
Hämatom der Dura mater
III 110.
Haematoma durae spinalis
III 115.
Haematomonas II 626.
Hämatomyelie, angeborene
III 564.
Haepiatophyllum II 626.
Hämatoporphyrinurie I 801.
Hämatozoon II 626.
Hämaturie I 465, 471, 801.
— der Tropen II 11.
Häminprobe von Teichmann
I 634.
Hämoglobin I 48.
— reducirtes I 183.
Hämoglobinometer I 183,
II 333.
Hämoglobinspectrum I 183.
Hämoglobinurie I 801, 802.
— idiopathische I 803.
— paroxysmale I 803.
— periodische I 803.
Hämoglobinurisches Fieber
III 695.
Hämokrit von Gärtner 1 185.
Hämometer I 183, II 334.
Hämopericard I 340.
Hämopneumothorax 1II326.
Hämoptoe = Haemoptysis I
788, 11 13, 60, 183,
III 725, 742, 799.
Hämorrhagia cerebri I 731.
Haemorrhagische Diathesen
I 812.
— Infarcte I 533.
Hämorrhoiden III 1004.
Hängebauch III 927.
Häutige Bräune I 275.
Halbbad II 133.
Halbschattenapparat von
Mitscherlich II 337.
Halbseitenläsion d. Rücken-
marks III 396.
Halbseitige Athetose II 388.
Hall I 148.
HallucinatorischeVerworren-
heit III 345.
Hals, Dimensionen des III
887.
— Formen des III 889.
— Hautfarbe des III 891.
— Inspection des III 887.
— Palpation III 901.
— Undulation am III 901.
— Venenvertheilung am III
891.
Halsmuskelkrampf I 792.
Halsumschläge II 137.
Halsvenen I 318, 332.
Hammond'sche Krankheit I
128.
Handbäder II 136.
SACHREGISTER.
1081
Handmuskellähmungenl 167
Haphalgcsie I 545.
Harn I 794.
Harnblase 5. Blase.
Hanicachexie III 3G1.
Ilarncylinder III 17.
Harnentleerung III 393.
Harnruhr I 3^9.
Harnsäurebestimmuug 11 5.
Harnsäurediatliese I 346,
II 1.
— Beziehung zu Migräne II
707.
Harnsäure dyskrasie II 1.
Ilarnsäureinfact der Neuge-
borenen 11 8.
Harnstoff im Mageninhalt II
621.
— im Harn I 795.
— im Schweiss II 280.
Harnstofi'ansscheidung 1668,
795, III 535.
Harnwasser I 794,
Hartleibigkeit III 1017.
Hastings II 425.
Hautafiectionen, scrophulöse
III 465.
Hautcholera 111 547.
Hautfarbe II 317.
Haut-Icterus II 207.
Hautjucken II 207.
Hautverbrennungen I 355.
Hayastlima I 249.
Hayfever 1 249.
Hebephrenie II 9.
Hebriden II 424.
Hectik 1 238.
Hectische Curve 111 774.
— Röthe 111 773.
Hectischer Schweiss II 781.
Hefezellen im Erbrochenen
I 570, 583, HI 869.
Hegar'scher Trichter I 580.
Heilgj'mnastik 11 665.
Heilimpfungen II 233, 239.
Heiserkeit I 117, 111 758.
Heisshunger II 600.
Helgoland 1 148, 11 425.
Helminthen 1 463.
Helmiuthiasis II 10.
Helouan les Bains II 428.
Hemialbumose I 799.
Hemianästhesie 11 172.
Hemianopsie 11 525.
— homogene II 526.
Hemiathetose 1 128.
— idiopathische 1 128.
Hemiatrophia congenita II
747.
— cruciata II 747.
— facialis 11 747.
— facialis progressiva II 25.
Hemichorea I 256.
Hemicrania II 707.
— alternans II 708.
— angioparalj'tica 11 708.
— sympatliicotonicall708.
Hemihyperalgesie 1 544.
Hemihypertrophia facialis II
27.
Hemiplegia alternans inferior
11 527.
— — superior II 527.
— spastica bilateralis II
390.
— — infantilis II 374.
II 376.
Hepar migrans III 1033.
— mobile 111 1033.
Hepatalgie II 506.
Hepatisation, gelbe III 279.
— graue III 279.
— rothe III 279.
Hepatitis acuta flava I 804,
II 472.
— chronica interstitialis II
202, 490.
— suppurativa II 201, 465,
III 678.
— syphilitica II 201.
Hepatogener Icterus II 194,
196.
Herdsklerose III 440.
Hereditäre Ataxie 1 688,
11 407.
— Muskelatrophie I 452.
Heredität bei Epilepsie 1
590.
— gemischte 1 261.
— bei Hysterie II 169.
— bei Paralysis progressiva
1 369.
— bei Tuberculosis pulmo-
num III 718.
Heredo-ataxie cerebelleuse
1 688, 111 452.
Heringsdorf II 425.
Hernia diaphragmatica III
. 328.
— umbilicalis III 6.
I Hernien 1 579.
Herpos buccalis I 589.
— facialis 1 589,
— febrilis I 254, 111 253.
— intercostalis I 119.
— labialis 1 589.
— nasalis 1 589.
— scorbuticus III 456.
— Simplex III 959.
Herz I 227,
— angeborene Anomalien
des 1 327, II 56.
— Lageveränderungen des
II 456.
— Neubildungen des I 343,
III 37.
Herzabscess I 343,
Herzaffe ctionen, Blutentzie-
hung bei I 172.
Herzatrophie I 319.
Herzbeutel 1 228.
Herzbeutelentzündung 1330,
III 198.
Herzbeutelneubildungen III
37.
Herzbeutelverwachsung 1
323, 111 206.
Herzdämpfung 1 318, 111
194.
Herzdilatätion 1 144.
Herzfehler 1 332, 11 28.
Herzfehlerlunge 111 532.
Herzfehlerzellen 111 526.
Herzflattern 111 904.
Herzgeschwür, acutesll 786.
Herzhypertrophie bei Herz-
fehlern II 30.
— idiopathische II 214.
Herzhypoplasie 111 721.
Herzkammern I 227.
Herzklappenfehler I 327, II
28.
Herzklopfen II 61, 111 760,
903.
— nervöses II 72.
Herz-Lungengeräusche III
761.
Herzmu-skeldegeneration I
343, 636, II 214, HI
405.
Herzmuskelentzündung II
784, 789.
Herzmuskelruptur III 405.
Herzneuralgie 1 73.
1082
SACHREGISTER.
Herzneurasthenie I 345, III
68.
Herzneurosen I 145 11 72.
Herzpolj'pen III 649.
— falsche II 78, II 700.
— • wahre II 78.
Herzruptur, spontane III
405.
Herzschwäche, 1 342 , nervöse
II 75.
Herzspitzenstoss, exsph^ato-
rische Abschwächung
des II 676.
Herzstoss II 318.
— diastolischer III 207.
— Frequenz III 902.
— Stärke III 903.
— Verschiebungen III 904.
Herzsystolischer Venenpuls
II 48.
Herzthrombose I 338, II 77.
Herztumoren I 343.
Herzüberanstrengung II 2 1 9 ,
III 920.
Herzverfettung, 1636, II 214,
ni 850.
Herzvergrösserungen, idio-
pathische II 214.
Heterogenie I 466.
Heuasthma I 249.
Heufieber I 249.
Hexenmilch II 650.
Heyst II 425.
Hilus pulmonalis I 226.
Hinterhorn III 391.
Hinterstrang III 391.
Hippus III 67.
Hirn s. Gehirn,
Hirnhämorrhagie I 127. ,
Hirnhautvenen III 1004.
Hirnlähmung der Kinder II
374.
Hirnschlag, blutiger I 731.
Hirnsklerose, diffuse III 452.
Hirnsj^ihilis I 743.
Histozym I 675.
Hitzschlag II 80.
Hochstand des Zwerchfells I
358.
Hoden, Tuberkulose des III
771.
Hodgkin'sche Krankheit III
349.
Höhencurorte II 428, III
832.
Höhenfurcht III 1062.
Höhenlage in der Aetiologie
der Tuberkulose III 726.
HoheDuodenalstenosel441.
Homburg I 146, 149, II
428,
Homöopathie II 83.
Hospitalbrand I 611.
Hüftweh II 361.
Hülsenfrüchtenpräparate III
826.
Hundswuth 11 539.
Hungercuren I 294.
Hungerkoth I 629.
Hungertyphus III 844.
Huntigton'sche Choreal 260.
Husten .1 203, 222, II 182,
365, III 739, 757.
— hysterischer II 182.
Hustenreiz III 759, 924.
Hyaline Cylinder III 17.
Hydatidengeschwulst der
Leber II 502.
Hydatidenschwirren III 87,
931.
Hydatidenseuche I 480.
Hydrämie I 48.
Hydrämische Oedeme II 105.
Hydrarthros II 103.
Hydrocephaloid v. Marschall
Hall II 696, III 705.
Hydrocephalus II 88.
— acquisitus II 98.
— acutus III 793.
— congenitus II 91.
— externus II 89.
— — subduralis II 89.
— internus II 91, III 558.
— subduralis II 90.
Hydromyelie III 577.
Hydromyelus III 558.
Hydronephrose III 28, 89,
1039, 1046.
— intermittirende III 90.
Hydropericard I 340, II
103.
Hydrophobie II 539.
Hy dropneumothor ax III 3 2 6 ,
788.
Hydrops II 101.
— anasarka II 59.
— ascites II 103, 114.
— cystidis felleae I 694,
708, 709, II 486.
— essentieller II 112.
Hydrops processus vermi-
formis III 156.
— viarumbiliferaruniI707.
Hydrorrhachis II 103.
Hydrotherapie 1 148, II 128.
Hydrothionurie I 803.
Hydrothorax II 103.
Hyeres II 427.
Hyoscin bei Manie II 641.
— bei Paralysis agitans III
126.
Hypemanie hypochondrique
II 157.
Hyperämie des Gehirns I
726.
— des Rückenmarks III 3 9 7.
Hyperästhesie I 541.
— psychische III 65.
Hyperalgesie I 544.
Hyperchlorhydrie II 607,
618.
Hyperdiaemorrhosis I 727.
Hyperemesis gravidarum III
1031.
Hyperkinesis cordis II 72.
Hyperleukocytose II 301.
Hyperosmie I 767, 773.
Hyperplastische Dystrophie
I 456.
Hyperthyrea 11 658.
Hypertrophie des Gehirns I
747.
— des Herzens II 215.
— der Muskeln I 449.
— der Thymus III 651.
— der Thyroidea III 657.
Hypnose, therapeutischeVer-
wertung II 154.
Hypnotische Starre II 150.
Hypnotismus II 141.
— strafrechtliche Bedeu-
tung II 157.
Hypochondria cum materia
II 157.
— sine materia II 157.
Hypochondrie II 157, 159,
III 1060.
— stabile II 159.
— variable II 159.
Hypochondrische Melan-
cholie II 679.
Hypodermoklyse II 296.
Hypoglossuskrampf III 1 0 5 8 .
Hypoglossuslähmung II 164.
Hypoleukocytose II 515.
SACHREGISTER.
1083
Hypophysis cerebri III 658.
Hypostasis pulmonum II
537.
Hypostatisclie Oedeme II
109.
— Pneumonie II 537.
Hypotoxische Diphtherie I
428.
Hypotrophie I 238.
Hysteria major II 181,
Hysterie I 528, II 167, III
1060.
— der Kinder II 189.
Hysterische Anfälle II 180.
— Ataxie I 271.
— Blutungen II 183.
— Charaktere H 183.
— Dyspepsie II 182.
— Gelenkneuralgien II 177.
— Hustenanfälle II 182.
— Monoplegie II 179.
— Paraplegie II 179.
— Synkope II 181.
— Tremores II 180.
Hystero-Epilepsie II 181.
Hysterogene Zonen II 175.
Hystero-Neurasthenielll 69.
Ichthyol I 622.
Icterus n 194.
— catarrhalis I 700.
— gastro-duodenalis 1 700.
— hämatogener II 194.
— hepatogener II 194.
— ^ inogener II 195.
— melas II 499.
— neonatorum 11 211.
— symptomatischer II 2 1 2 .
Ictus larynge III 597.
Idio-musculäre Erhebung bei
Tub. pulm. III 772.
Idiopathisches Asthma 1 198.
Idiopathische Hemiathetose
I 128.
— Herzvergrösserungen II
215.
Idiotie II 228, TR 659.
— avec cachexie pachyder-
mique 11 813.
— cretinoide 11 813,
— myxomatöse II 813.
Ileocoecalgurren I 10.
Ileotyphus I 7, 342.
Heus in 222.
Ileus paralyticus I 575.
Imbecillität II 228.
Immunität gegen Blattern
in 994.
Impetigo in 987.
Impf cur 301.
Impfung n 233, III 933.
— Pasteur'sche II 548.
Impfungsmethoden II 234.
Impfstoff II 235.
Impotenz bei Diabetes 1 402.
— bei Neurasthenie III 68.
— bei Tabes III 598.
Inacidität, nervöse II 606.
Incarceration I 574.
Incisura cardiaca I 226.
Incisurae interlobulares I
226.
Incompensation II 34.
Incontinenz des Pylorus II
603.
Incoordination , pathologische
271.
— physiologische 271.
ludicanprobe nach Jaffe in
160.
Indicanurie l 804.
Indigo im Harn bei Leber-
krebs n 487.
Indische spruw III 674.
Inductionsapparate I 500.
Induration, schieferige bei
Tuberculosis pulmonum
in 733.
Infarcte I 533.
— hämorrhagische I 533,
n 60, 63.
Infect II 300.
Infectionsdelirium II 349.
Infectionskrankheiten, Anä-
mien bei I 61.
— Herzvergrösserung bei
II 223.
Infectionslähmung HI 663.
Infectionsmilz II 718.
Infiltrat .tuberkulöses in7 2 8 .
Infiltrirte Lungentuberkulose
I 323,
Influenza I 350, U 302,
Influenzabacillus II 315, III
530,
Influenzmaschine I 511.
Infusion II 296,
Inhalation I 210, 212, II
537, III 817, 834.
Inhalation von Chloroform
III 317.
— von Kohlenoxyd III 322.
— von Kohlensäure III 322.
— von Sauerstoff" III 319.
— von Schwefelwasserstoff
in 324.
— von Stickoxydul III 323.
— Stickstoff in 318,
Inhalationsapparate I 212,
111 312.
Inhalationscuren 300.
Inhalationspneumonien III
274.
Injectionscurcn 300.
Innere Aneurysmen 1 104,
Inoculation II 235,
Inogener Icterus II 195,
Inopexie n 79.
Inositurie I 801,
Inspection n 317.
— des Abdomens III 927.
— des Halses III 887.
— des Thorax III 887.
Inspirationsumfang 11 703.
Inspiratorischer Yenencol-
laps 1 332,
Instrumente zur Diagnostik
II 320,
Insufficienz der Aorta 111
— der Convergenz 1 155.
— der Lungen KI 749.
— des Magens II 553.
— der Mitralklappen II 31,
— der Pulmonalklappen n
51,
— relative U 29, 112.
— der Tricuspidalis n 47.
Insufflationsmethode 300.
Insult, apoplectischer 101.
Intentionszittern III 444.
Intercostalneuralgie 111 39.
Intermitteus 1 350, H 624.
Interstitielle Nephritis 111
359.
— Pneumonie 111275, 276.
Intestinalneuralgieu III
1043.
Intestinum jejuuo-ileum I
235.
Intoxicationen in 661.
Intoxicationspsychosen 11
340.
Intrathoracale Carcinome I
325.
1084
SACHREGISTER.
Intrathoracale Sarkome I
325.
lütubation I 290.
Intubatioüscuren I 300.
Intussusception IE 350.
Intussuscipiens IE 350.
Inuliümehl I 407.
Invagination I 574, II 350.
Involution, senile 11 642.
Iritis Simplex scroplmlosa III
470.
Irrenbehandlung 11 353.
— psychische II 359.
— somatische II 355.
Irresein, circuläres 264.
— degeneratives I 359.
— postepileptisches I 599.
— präepileptisches I 600.
— der Processkrämer III
363.
— pubisches II 9.
Irritatio spinalis III 399.
Ischia I 148, II 427.
Ischias I 523, II 361.
Island II 424.
Isle of Wight II 424.
Isthmusstenosen I 330.
J.
Jackson'sche Epilepsie 1 594,
II 524.
Jaffe'slndicanprobe III 160.
Jamaica 11 425.
Jawa II 425.
Jaw-jerk HI 506.
Jendrassik' scher Kunstgriff
ni 596.
Jod gegenAneurysmen 1121.
— • — Bronchialasthma I
200.
Gefässsklerose 11.796.
■ — • — Hirnsyphilis I 744.
Scrophulose III 480.
Tabes III 601.
Tuberkulose IH 819.
.Jodäthyl I 200.
Jodothyrin III 638.
Jodquellen III 816.
Johannisbad I 148.
K.
KachektischeOedemeII109.
Kälberlymphe II 236.
Kairin I 86.
Kak-ke III 82.
Kalbsknochenbrühe III
1012.
Kalk, kohlensaurer im Harn-
sediment I 800.
— oxalsaurer im Harnse-
diment I 800.
— phosphorsaurer im Harn-
sediment I 800.
— schwefelsaurer im Harn-
sediment I 800.
— im Sputum III 528.
Kalkmilch III 993.
Kalkstoffwechsel II 642, III
372.
Kaltwasserbehandlung I 88,
n 128.
Kamala II 17.
Kamillenklysterie III 1008.
Kammern, pneumatische III
302.
Kammerscheidevvand, De-
fecte der I 328, II 57.
Kappzaun III 626.
Kapsel, innere, Localsym-
ptome bei Krankheiten
der II 524.
Kardiograph II 328.
Karlsbad I 147, 149, 697,
719,785, 11500,608.
Karlsbader Cur I 406.
— Mühlbrunn III 1007.
— Salz I 566.
— Thermen I 146.
Kartoffelbauch III 464.
Katalepsie 11 150.
Katarrhalische Pneumonie
I 206, III 262.
Katatone Manie 11 365.
Katatonie II 363.
Katatonischer Wahnsinn II
363.
Katheterismus des I^arynx
290.
Kaumuskelkrampf III 1058.
Kautschuk als Riechstoff I
769.
Kefir III 825.
Kehlkopf diphtherie I 429.
Kehlkopfkatarrh III 759.
Kehlkopf krisen III 597.
Kehlkopfmuskellähmung III
128.
Kehlkopfschwindsucht III
759.
Kephalometrie II 703.
Keratitis, büschelförmige III
469.
— diffusa parenchymatosa
III 470.
— scrophulosa III 469.
— superficialis circumscrip-
ta III 469.
Kernhaltige Blutkörperchen
I 50.
Kernig'sches Phänomen I
253.
Keuchhusten II 365, III
899.
— der Neugeborenen II 368.
Kindercholera I 189.
Kinderlähmung cerebrale II
374.
— myely tische II 399.
— spinale I 148, U 399.
Kindermehle I 607, II 440,
ni 826.
Kindernahrung Biedert' sehe
I 605.
Kinderpflege II 410.
Kinderpneumonie I 313, III
282.
Kinnbackenkrampf III 626.
Kissingen I 146, 149.
Klangbilder I 93.
Klappenfehler I 144, 327.
— combinirte 11 54.
— des linken Herzens II 3 1 .
— des rechten Herzens II
47.
Klauenhand II 756, III 586.
Klavierspielerkrampf 1 164.
Kleberbrod I 406.
Kleidung III 1019.
Kleienbrod I 406.
Kleienflechte III 773.
Kleinheitswahn II 680.
Kleinhirn, Läsionen des II
526.
Kleinhirnschenkel, Läsionen
der II 527.
Kleinhirnseitenstrangbahn
III 392. 585.
Klima II 417.
— in der Aetiologie der
Tuberculosis III 726.
Klimatothei-apie I 148, II
417, III 830.
Klimawechsel II 424.
Klitoriskrisen III 598.
SACHREGISTER.
1085
Klystiere III 1023.
— nutritive II 455, 595,
III 875.
Knarren III 906.
Kneippcur I 302.
Knistern I 136.
Knisterrasselu III 256.
Knoclienerweicbung III 107.
Knochenschmerzen bei Leu-
kämie II 510.
— bei Osteomalacie III 107.
Kocbprobe I 35.
Kocbsalztrausfusionenl 196.
Kocbsalzvvässer 146.
Köuigswart I 149.
Köiijergewicht der Säug-
linge I 602.
Körperkreislauf I 229.
Koblenoxyclhämoglobin I
183.
Kohlensäure, Anhäufung der
III 922.
Kohlentbeilcben III 746.
Kolberg I 148.
Kolik 1563, 566, 576, 693.
Kommabacillen II 262.
Kopfangst 11 681.
Kopfgicbter III 626.
Kopftetanus m 623.
Kopfumschläge II 136.
Koprolalie 1362, III 1057.
Kothbrechen I 576.
Kothentleerung III 393.
Kothsteine, falsche, wahre
III 152.
Kousso n 17.
Krämpfe II 277, 431, HI
1058.
Kräutercuren 301.
Krallenhand III 566.
Krampf husten III 899.
Kraniometrie II 703.
Krankendiät I 432.
Krankeuheil-Tölz I 148.
Krankenzimmer III 993.
Krankheit II 443.
— Addison'sche I 27.
— Barlow'sche I 150.
— Basedow'sche I 153.
— Brigth'sche 18, 15.
;; — Duchenne 'sehe II 755.
— englische III 365.
— Friedreich'sche I 688,
11 407, III 590.
— Graves'sche I 153.
Krankheit, Hammond'sche
I 128.
— Hodgkin'sche III 349.
— Little'sche II 374.
— Menier'sche II 686.
— Parkinson'sche III 121.
— Raynaud'sche III 376.
— Thomsen'sche III 638.
— Weil'sche III 1048.
— Werlhoi'sche III 1049.
Kreatinin I 795.
Krebs s. Carcinom.
Krebskrankheiten, Anämien
bei I 64.
Kreiselcentrifuge II 336.
Kreosot bei Tuberkulose III
819.
Kreuzenach I 148.
Kriegstyphus III 844.
Krim II 426.
Krisen, gastrische III 597.
Kropf, endothoracalerl310.
— wandernder I 310.
Kropfwasser II 816.
Krückenlähmung III 79.
Kryptogenetische Peritonitis
III 315.
Krystalle, Charkot'sche III
528.
Kühlapparate II 137.
Künstliche Ernährung II
453, 594, III 875.
der Säuglinge I 604,
II 439.
Kufecke's Kindermehl 1607.
Kugelthromben II 78.
Kuhlymphe II 235, III 996.
Kuhmilch I 604, II 439.
Kuhne'sche Cur I 303.
Kuhpocken III 995.
Kuhpockenlymphe II 235,
III 996.
Kumys III 824.
Kumyscuren 298.
Kurbelrheostaten I 507.
Kussmaul-Landry'sche Läh-
mung III 126.
Kyphoskoliose I 358.
Kvrtometer II 328.
La Padiosa I 388.
Lachkrämpfe III 1058.
Lähmung, aufsteigende III
330.
Lähmung der Fussmuskeln
III 440.
— ischämische III 31.
— des Medianus II 667.
— des M. cucuUaris I 26.
— des M. sternocleido-
mastoideus I. 26.
— periphere I 524.
— postdiphtherische I 430.
— des Radialis III 374.
— der Rumpfmuskeln III
402.
— der Schenkelmuskeln III
439.
— toxikämische III 32,
— toxische III 31.
— traumatische III 30.
— des Ulnaris III 881.
— des Zwerchfells I 325.
Laennec'sche Cirrhose II
491.
Lageveränderungen des Her-
zens II 456.
Laktosurie I 801.
Landeck I 148.
Landry'sche Paralyse III
126.
Langenbrücken I 145.
Lanzennadel II 335.
Laryngismus III 368, 371.
— stridulus II 460.
Laryngitis I 201.
— catarrhalis I 217.
— morbillosa II 729.
— tuberculosa III 759.
Laryngospasmus I 313, II
460.
Laryngo-tracheitis fibrinosa
I 275.
Larynxkrisen III 597.
Larynxödem I 308.
— angioneurotisches I 309.
Lateralpunkt III 806.
Lateralsklerose, amyotro-
phische II 754,111585.
Lavement nourissant II 455.
Laverania II 626.
Laveran'sche Körperchen II
632.
Laxantien DI 1026.
Leber I 234.
— albuminoide Degenera-
tion der II 501.
— amj^loide Degeneration
der II 501.
1086
SACHREGISTER.
Leber, fettige Degeneration
der n 501.
— Resistenz III 935, 936.
— scrophulöse II 501.
— Stoff Wechselanomalien
der ni 534.
Leberabscess I. 44, 810,
II 465.
— der Tropen III 678.
Leberatropliie II 472.
— acute gelbe 1 810, II 472.
— chronisclie II 474.
— cyanotische II 475.
— partielle 11 475.
— rothe II 475.
Lebercarcinom II 201, 475.
Lebercirrhose I 809, II 490,
III 234.
— hypertrophische II 498.
Leberdämpfung III 193.
Leberdegeueration II 501.
Leberechinococcus II 502.
Leberegel I 468 II 12.
Leberentzündung II 472,
490.
Leberhusten II 468.
Leberkolik II 506, III 215.
Leberkrankheiten I 147.
Leberneuralgie II 506.
LeberpercussionIIl9 39,942.
Leberpuls, arterieller II 43.
Lebersarkom II 475.
Leberschmerzen III 950.
Leberthran III 825.
Lebervenenpuls II 50.
Lebervenenthrombose III
649.
Lebra o rosa delle Asturie
III 171.
Leichenhallen III 993.
Leichenverbrennung III
994.
Leiter'sches Gastroskop I
720.
Leitungsageusie I 777.
Leitungsaphasie I 95.
Leitungsbahnen des Rücken-
marks III 392.
Leitungsschnüre I 510.
Leitungswiderstand, Prüfung
des I 503.
Leo'sche Methode II 620.
Lepra italica III 171.
Leptodera appendiculata I
464.
Leptomeningitis s. Menin-
gitis
Leptothrix buccalis III 531.
— pulmonalis II 536, III
531.
Les Avants 11 429, 430.
Lesezwang III 1062.
Lesina 11 426.
Leube's Magenschlauch II
330.
Leube-Rosenthal'sche
Fleischsolution II 578.
Leucaemia acuta I 685.
— acutissima II 512.
Leucinurie I 804.
Leukämie I 52, 70, 243,
357,812,11508, 512.
— lienale II 508.
— lymphatische II 508.
— medulläre II 508.
— myelogene II 508.
Leukochloridium I 468.
Leukocj^'thämie II 508.
Leukocytose II 515.
— entzündliche 16 2, II 5 16.
— febrile I 670.
— medicamentöse II 516.
— bei Neugeborenen II
516.
— posthämorrhagische II
517.
Leukopenie II 515.
Levico I 149.
Levulosurie I 801.
Leyden-Charcot'sche Krj-
stalle III 528.
Leysin II 429, 430.
Liehen lividus III 465.
— scorbuticus III 456.
— scrophulosorum III 465.
Liebig'sche Suppe III 1016.
Lien mobile III 1035.
Ligamenta coli I 236.
Ligamentum coronarium he-
patis I 234.
— gastro-colicum I 235.
— gastro-lienale I 332.
— hepato-duodenale I 234.
— hepato-gastricum I 233,
234.
— hepato-renale I 234.
— pancreatico-gastricum I
233.
— phrenico-gastricum I
233.
Ligamentum phrenico-lienale
I 233.
— pulmonale I 226.
— Suspensorium hepatis I
233.
— teres hepatis I 233.
— trianguläre hepatis 1234.
Linea costo-clavicularis I
225.
— mamillaris I 225.
— papillaris I 225.
— Sternalis I 225.
Lineae axillares I 225.
Linguatuliden I 490.
Lipacidurie I 805.
Lipik I 148.
Lipogener Diabetes I 403.
Lipomatosis I 642.
— partialis I 642.
— universalis I 642.
Lippspringe I 145.
Lipurie I 805.
Lissa II 426.
Lissabon II 426.
Lithiasis uratica II 6.
Lithionquellen I 149, 785.
Lithiumsalze I 785, II 8.
Little'sche Aetiologie II 378.
— Krankheit II 374.
Lobi pulmonales I 226.
Lobuläre Pneumonie I 206,
ni 269.
Lobus hydruricus I 390.
Localsymptome der Gehirn-
erkrankungen 11 521.
Löffler'scher Bacillus I 420.
Löfflund's Kindernahrung III
1007.
Lösung, Stadium der III
252.
Lucksor II 428.
Luft in der Aetiologie der
Tuberculosis III 726.
Luf teuren I 300.
Luftkissengefühl III 786.
Luftströmungen in der
Aetiologie der Tuber-
culosis III 726.
Lugano II 429, 431.
Luhatschowitz I 145, 146.
LumbalanschwellungIII391.
Lumbalpunction II 697.
Lungen, Grenzen der I 227.
— Neoplasmen der III 36,
801.
SACHREGISTER.
1087
Lungen, Syphilis der I 320,
III 800.
Lungenabscess I 44, II 528,
III 532.
Lungenatfectionen I 172.
— bei Abdoininaltyphus 1
11.
Lungenarterie , Embolien
der I 324.
Lungenatelectase II 530.
Lungenatrophie I 318.
Lungenblähung, acute I 546.
— chronische I 546.
— vicariirende I 546.
Lungenbraud II 534.
Lungencavernen III 734.
Lungencirrhose II 531.
Lungenechinococcus II 20.
Lungenemphysem I 145,
207, 545.
Lungenentzündungen, sep-
tische III 277.
LungeuiistelgeräuschIII3 2 8 .
Lungengangrän I 208, III
532, 261.
— secundäre III 802.
Lungengeschwülste III 36.
Lungengymnastik III 814.
Lungenhypostase II 537.
Lungeninduration III 261.
Lungenkreislauf I 229.
Lungenmykosen III 290.
Lungenödem I 315, II 538.
— idiopathisches II 538.
Lungenschall III 191.
Lungenschrumpfung II 531,
III 261.
Lungenschwindsuchtlll 708.
— chronische III 796.
Lungensequester III 528.
Lungensoor III 291.
Lungenspitzen, Grenzen der
III 750.
Lungensteine III 528, 732,
734.
— falsche ni 764.
Lungensyphilis I 320, III
800.
Lungentuberkulose I 145,
322,111532,708,809.
— Aetiologie der III 712.
— Ausgang der III 797.
— chronische III 796.
— Complicationen der III
782.
Lungcntuberkulose,Diagnose
III 798.
— Diftbrentialdiagnosc III
800.
— disseminirte III 795.
— Eingangspforte der III
716.
— Fieberbeil 682,111775.
— Geschichte der III 708.
— Heilung der III 798.
— indurative III 800.
— intiltrirte I 323.
— pathologische Anatomie
der II 728.
— Prognose III 806.
— Prophylaxis III 810.
■ — ■ Schrumpfung bei III
803.
— Symptomatologie^der III
737.
— Therapie III 810.
Lymphadenia ossiumlll 708.
Lymphämie II 510.
Lymphdrüsen, Geschwülste
der III 55.
— mesenteriale III 763.
— Neubildungen der HI 40.
— retroperitoneale III763.
Lymphoider Tuberkel III
730.
Lymphom, malignes III 349.
Lymphosarcoma thymicum
II 668.
Lyssa I 315, II 539.
— humana II 347.
M.
Macies I 237.
Madeira 11 425.
Madenwurm I 483.
Magen I 232.
— Ausheberung des III877.
— Carcinom des II 205.
— Neubildungen des III 41.
— PercussionIII941, 944.
— peristaltische Unruhe des
II 604.
Magenatonie I 146, II 553.
Magenatrophie II 563.
— Differentialdiagnose II
573.
Magenaufblähung II 572.
Magenausspülung II 596.
— der Säuglinge I 195.
Magenblutung I 787, III
869, 872.
Magencarcinom II 565.
Magendarmkatarrhe der
Tropen III 673.
Magendilatation I 146, II
580.
Magenectasie III 1043.
Magenerosion II 571.
Magenfistel, innere III 871.
Magengährung III 1013.
Magengeschwülste II 572,
III 41.
Magengeschwür III 861.
Mageninhalt, Acidität des II
613.
— mikroskopische Unter-
suchung des II 622.
Mageninhaltuntersuchung I
786, II 609.
Mageninsufficienz, mechani-
sche II 553.
Magenkatarrh I 146.
— acuter I 711.
— chronischer I 715.
Magenkrampf I 247.
Magenkrankheiten I 145.
— schmerzhafte II 601.
Magenkrebs 11 565.
Magenkrisen III 597.
Magenneurosen II 600.
— motorische II 603.
— sensible II 600.
Magenpolypen III 41.
Magenruptur III 409.
Magensaftfiuss II 611, 618.
Magensaftuntersuchung 11
609.
Magenschlauch II 330.
— von Leube II 330.
— von Oser II 330.
Magenschmerz III 867, 948.
Magenschwindel II 556.
Magenton III 194.
Mageutumoren II 572.
Magenuntersuchung, Instru-
mente zur II 330.
Magenzerreissung III 409.
Magerer Diabetes I 403.
Magnesia im Harnsediment
I 800.
— c. Kheo III 1007.
Magnetische Curen I 302.
Main d'accoucheur III
614.
1088
SACHREGISTER.
Main de griffe II 756.
Main en predicateur III 114.
Main de singe II 756.
Maisöl III 175.
Makrocyten I 50.
Mal de nier III 483.
— deffa miseria III 171.
— del padrone III 171.
— perforant III 597.
— de las Rosa III 171.
— rosso III 171.
— del sole III 171.
— della spienza III 171.
— della vipera III 171.
Maladie bleue I 330, II 57.
— exophthalmique I 153.
— de Graves I 153.
— des tics I 261.
— des tics impulsifs III
1057.
Malaga II 427.
Malaria II 624.
— Fiebercnrve I 683,
— in den Tropen III 694.
Malariacachexie II 631.
Malarialähmung III 663.
Malariaparasiten I 188, II
629.
Mallatia dell' insolato di pri-
mavera III 171.
Mallein III 387.
Malleus humidus III 380.
Malta n 427.
Maltose II 621.
Malum Potii II 406, III 394.
Malzextracte III 827.
Mamillarlinien III 193.
Mandelbrot I 407.
Manegebewegung III 1057.
Mania gravis II 637.
— mitis II 636.
— sine delirio I 686.
— transitoria I 600.
Manie II 635.
— katatone II 365.
Maunazucker III 1007.
Marasmus senilis II 642.
Marcor I 238.
Marienbad I 145, 146, 147,
149.
Markzellen II 510.
Marstrand II 424.
Masern II 720.
— in der Aetiologie der
Tuberculosis III 723.
Masernpneumonie II 730.
Maskengesicht III 129.
Massage II 658.
— des Unterleibes III 1007.
Massagecuren 299.
Massive Pneumonie III 263.
Mastcuren I 294, II 454.
Mastdarmfisteln III 767.
— tuberkulöse III 767.
Mastdarmvenen III 1004.
Mastfe-ttherz I 636.
Masticatorische Glossoplegie
II 165.
Mastitis neonatorum II 650.
Mastodynie III 59.
Masturbation III 1060.
Mastzellen I 184.
Mattei-Cur I 303.
Maxillarreflex III 506.
Mechanotherapie I 553, II
650.
Medianuslähmung II 667.
Mediastinalabscess II 673.
Mediastinaltumoren II 667.
Mediastinitis I 73, II 673.
— chronische III 207.
— chronica fibrosa I 327.
M^diastino-Pericarditis II
673.
— schwielige II 674, III
201.
Mediastinum anticum I 225,
230.
— Neubildungen des III 40.
— posticum I 225, 230.
Medicatio cerebralis III 633.
— orchitica III 632.
— ovariaca III 634.
— pancreatica III 632.
— prostatica III 633.
— renalis III 633.
■ — ■ suprarenalis III 633.
Medulla oblongata III 392.
Medullarkrebs III 42.
Medusenhaupt III 233.
Megaloblasten I 50.
Megalogastrie II 589.
Mehadja I 148.
Melaena II 676.
— neonatorum II 6 7 6 , III 6 .
Melanämie II 628.
Melancholia attonita II
682.
— hypochondrica II 157.
— cum stupore II 682.
Melancholie I 264, 11 676,
III 1060.
— hypochondrische II 679,
III 140.
Melanin II 488.
Melanogen I 805.
Melanurie I 805.
Melasma suprarenale I 27.
Melbourne II 427.
Melkerkrampf I 164.
Melliturie I 800.
Mena House 11 428.
Meniere'sche Krankheit II
686, III 1030.
— Symptome II 687.
Meningeale Blutungen III
111.
Meningitis I 16, 684.
— chronische II 700.
— cerebralis II 691.
— epidemische II 700.
-^ epidemica acutissima I
253.
— epidemica siderans I
253.
— Fiebercurve der I 684.
— idiopathische II 700.
— refrigeratorische II 700.
— serosa II 699.
— Simplex purulenta II 691.
— spinalis I 119, II 700.
— tuberculosa III 700,
792, 793.
Prognose III 809.
Meningo-encephalitis chro-
nica I 384.
— tuberculosa I 742.
Menstruatio vicarialll 742.
Mensuration II 702.
Menthol gegen Erbrechen
III 1033.
Mentone II 427.
Merau II 429.
Merycismus III 401.
Mesocolon flexurae sigmoi-
deae I 236.
Mesonephron III 1042.
Mesorectum I 236.
Metallisches Blasenspringen
III 788.
Metallklang I 134, III
751.
Metallotherapie 302.
Metallstaublunge III 724.
Methämoglobin I 183.
SACHREGISTER.
1089
Methode der Magen-Säure-
bestimmung von Cahn-
Mehring II 61 6.
— von Hayem und AVinter
II 616.
— von Klemperer II 624.
— von Lüttke II 617.
— von Mintz II 615.
— von Seemann-Braun II
616.
— von Söjquist-Jaksch II
616.
Methoden, fixirende I 186,
Mexico II 429.
Migräne II 707.
— ophthalmique I 595.
Mikrocyten I 50.
Mikrogyrie II 228, 389.
Mikrosporon fui'fur III 773.
Mikrotaeniae I 478.
Milch, Infection durch I 8.
— perlsüchtiger Kühe III
715.
Milchcur I 297, III 823.
Milchdiät I 25, II 453, in
874.
Milchsäure II 619.
Milchsäurebacillen II 571.
Milchuntersuchung, Appa-
rate zur II 336.
Milchzucker im Harn I 801.
Miliaria III 774, 959.
Miliartuberkulose 115, 322,
III 706.
— Fiebercurve I 682.
Milz I 233.
— Abscess der II 719.
— Entzündung der 11 718.
— Geschwülste der 11 720,
III 51.
— Percussion der III 941,
946.
— Tuberkulose der 11 720,
III 768.
Milzabscess II 719.
Milzarterienembolie 11 719.
Milzbrand I 350, II 710.
Müzbrandbacillus II 711.
— Färbungsverfahren 188.
Milzbrandige Mykose II 710.
Milzechinococcus II 720.
Milzinfarct n 719.
Milzkrankheiten II 718.
Milzschmerzen III 950.
Milztumor , infectiöser II 7 1 8.
Milztumoren II 719.
Mineralwässer III 876.
Minimalzuckung I 498.
Misdroy I 148, 11 425.
Miserere I 576.
Mitchell-Playfair'sche Mast-
ern- III 74.
Mitralklappen, Insufficienz
der II 31.
Mitralstenose 1131,1335.
Mitscherlich's Halbschatten-
apparat II 337.
Mittelsalze III 997.
Mogigraphie I 162.
Molkencuren I 298, III 824.
Monomanie III 132.
Monophobie III 66, 1062.
Monoplegia brachialis II 5 2 3 .
— brachiocruralis II 524.
— brachiofacialis II 524.
— cruralis II 523.
— facialis II 523.
Monoplegie III 30.
— hysterische II 179.
Monospasmus brachialis II
524.
— cruralis II 524.
— facialis II 524.
Monostomum lentis I 471.
Montreux 11 429, 431.
Moorbäder I 148.
Moral msanity I 363.
Morbilli I 349, II 720, III
987.
— apyretici II 728.
— buUosi pemphigoides II
727.
— confluentes II 726.
— Fiebercurve I 681.
— haemorrhagici II 726.
— laeves II 726.
— miliares II 726.
— papulares n 726.
— sine exanthemate II 7 2 7 .
Morbus Addisonii I 244.
— Basedowii I 145 244,
II 227.
— Bengalensis III 674.
— Brightii I 355, HI.
— maculosus Werlhofii HI
353, 354, 1049.
— marinus III 483.
— miliaris III 545.
— nigerHippokratisII676.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Bd. III.
Morbus Weilii II 210.
Morphinismus 11 345.
— chronischer II 736.
Morphiomanie II 736.
Morphium gegen Husten-
reiz III 834.
Morphiumsucht II 736.
Morphiumvergiftung II 736.
Morvan'sche Krankheit III
578.
Motorische Aphasie I 93, II
525.
— Punkte I 497.
Mount Lavinia II 426.
Mucin I 35, 634.
Mucous disease I 566.
Münzenklirren III 187.
Multiloculärer Echinococcus
I 480.
Mumps II 743.
Mundhöhle, Tuberkulose der
III 766.
Mundklemme III 626.
Musculorum atrophia neu-
ralis progressiva 11 7 64.
— — spinalis progressiva
II 755.
Musculus broncho-oesopha-
geus I 231.
— infraspinatus III 403.
— pectoralis major III 403.
minor III 403.
— pleuro-oesopbageus I
231.
— serratus anticus III 404.
— subscapularis III 403.
— teres major HI 403.
Muskatnussleber III 768.
— atrophische II 495.
Muskelatrophie II 746.
— arthropat bische II 748.
— hereditäre I 452.
— neurale II 748, 754.
— progressive II 753.
— progressive neurale II
764.
— spinale progressive II
755.
Muskeldystrophie myopa-
thische, progr. II 763.
Muskeleutzündung s. Mi/o-
sitis.
69
1090
SACHREGISTER.
Muskelhypertropliie I 451,
n 763.
Muskelrheumatismus II 805,
ni 380.
Muskelschmerzeu bei Tub.
pulm. III 772.
Muskeltrichine I 487, III
668.
Muskelverknöcherung 11
805.
Mutterkornlähmung III 663.
Myasthenia gastrica II 553.
— Simplex II 589,
Mycelien III 519.
Myelintröpfchen im Sputum
III 747.
My61ite cavitaire III 563.
Myelitis I 148, II 767.
— acuta II 770.
— cervicalis II 777.
— chronica II 780.
— gonorrhoische II 771.
— hyperplastica II 774.
— incompleta II 777.
— lumbalis II 776.
— transversalis II 705.
Myelomeningitis, spasmodi-
sche in 602.
Mykose, gastro-intestinale
n 710.
— milzbrandige 11 710.
Myocard, Degenerationen des
I 341.
Myocarditis acuta II 784.
— chronica II 224, 789.
— Herzvergrösserung bei
n 224.
— interstitialis II 786.
— parenchymatosa II 785.
— primitiva II 784.
— purulenta II 786.
— secundaria II 785.
— syphilitica II 792,
— variolosa III 983.
Myoclonie III 130.
Myoclonus multiplex III
130.
Myodesma bei Tub. pulm.
III 772.
Myomalacie III 405.
Myopathie, progressive, pri-
mitive I 449.
Myositis II 796.
— acuta purulenta II 804,
— ossificans 11 805.
Myositis ossificans progres-
. siva II 806.
• — rheumatica II 798.
— traumatica II 801.
Myotonia acquisita III 639.
— congenita III 638.
— — intermittens III 638,
648.
— ineunte moto III 638.
— transiens III 638.
Myxödeml 158,n 348, 809.
— operatoire III 657.
Myxom u. 'Myxosarcom s.
Neubildungen innerer
Organe HI 34.
N.
Nabel, Adenom des III 3.
— Gangrän des III 2.
— Granulom des III 3.
Nabelblutung III 5.
Nabelbruch III 6.
— erworbener III 7.
Nabelfisteln III 3.
Nabelgefässe, Entzündung
der III 3,
Nabelkrankheiten III 1,
Näbelringbruch III 7.
Nabelschnurbruch III 6.
Nabelschwamm III 3.
Nadeldrainage II 127.
Nächtliches Aufschrecken III
170.
Nähmaschinenarbeiterinnen-
krampf I 165.
Nährklystire II 455, 595.
Nahrung für Neugeborene,
künstliche II 439.
— in der Aetiologie der
Tuberkulose III 714.
Nahrungsverweigerung II
683.
— Behandlung der II 361.
Narbentetanus III 620.
Nasendiphtherie I 439.
Nasse Einwicklungen I 84.
Naturheilcuren I 303.
Naturheilmethoden I 303.
Nauheim I 144, 146.
Naupathie III 483.
Neapel II 427.
Nebenhoden, Tuberkulose
des III 771.
Nebennieren, Geschwülste
der III 53.
Nebennierenkrankheiten III
550.
Nemathelminthes I 465.
Nematoden I 464, 480.
Nenndorf I 145.
Neoplasmen des Pancreas
III 121.
Nephrectomie III 29.
Nephritis III 8.
— acute I 807, III 8.
— chronische III 8.
— — parenchymatöse I
807, III 769.
— — senile II 647.
— circumscripta III 83.
— eitrige I 867.
— infantum III 15.
— interstitielle III 359.
— parasitaria III 359.
— parenchymatöse III 8.
— scarlatinosa III 431.
— suppurativa III 83, 359.
— tuberkulöse III 841.
— varicellosa III 959.
— Vera III 83.
Nephrolithiasis III 27.
Nephrotomie III 29.
Neptungürtel II 137.
Nervendehnung, unblutigeil
665.
Nerveneinheit II 749.
Nervenkerne in'der Medulla
oblongata III 392.
Nervenkrankheiten I 147.
Nervenlähmung III 29.
Nervenschmerz III 56.
Nervenschwäche III 63.
Nervensystem, Verhaltendes
bei Abdominaltyphus
12.
— bei Tub. pulm. III 772.
Nervi ileo-hypogastri eil 232.
— ileo-inguinales I 232.
— phrenici I 230.
— thoracici anteriores III
403.
— Vagi I 230.
Nervöse Darmkolik III 78.
— Diarrhoe III 78.
— Dyspepsie I 242, III 68,
75.
— — des Darmes III 77.
— Erschöpfung III 63.
Nervöses Herzklopfen II 72.
Nervöser Herzschmerz I 73.
SACHREGISTER.
1091
Nervöse Herzschwäche II
75.
• — Obstipation III 78.
Nervosität III 57.
Nervus accessoriiis "Willisii
I 25.
— axillaris III 403.
- — peroneus profundus, Läh-
mung des III 440.
— phrenicus I 226.
— recurrens, Compression
des II 671.
— spermaticus externus I
232.
— suprascapuläris III 403.
— thoracicus posterior III
403.
— vagus, Compression des
II 671.
Netz, Tuberkulose des III
790.
Neu-Schmecks n 429.
Neu-Seeland n 426.
Neu-Tatra-Füred II 429.
Neubildungen der Bauch-
höhle III 41.
— der Bronchien III 35.
— der Brusthöhle III 34.
— des Darmes III 47.
— des Herzbeutels III 37.
^ des Herzens III 37.
— innerer Organe III 34.
— der Lungen III 36.
— der Lymphdrüsen III
40.
— des Magens III 41.
• — des Mediastinums III 40.
— des Oesophagus III 38.
— der Pleura III 34.
— der Thymus III 40.
Neuenahr I 146, 149.
Neurale Muskelatrophie II
754.
— — progressive II 763.
Neuralgia cervico- occipitalis
III 59.
— coeliaca III 116.
— iuframaxillaris III 665.
— infraorbitalis III 665.
— ophthalmica III 664,
— plexus cardiaci I 73.
— supraorbitalis III 665.
Neuralgien III 56.
— accidentelle III 56.
— constitutionelle III 56.
Neuralgien, hysterische III
57.
— bei Tub. pulm. III 772.
Neurasthenia cordis II 75,
III 68.
— gastrica III 75.
— intestinalis III 77.
— vasomotoria III 69.
Neurasthenie I 527, III 63,
1060.
— cerebrale III 69.
Neuritis II 762. III 78.
— chronische, lepröse III
582.
— chronische, multiple II
767.
— multiple I 147, III 31.
— interstitielle III 79.
— optica 253.
— parenchymatöse III 31,
79.
— Simplex III 78.
Neuromyositis III 81.
Neurone II 748.
Neurosis cordis vasomotoria
II 75.
— thyreo-exophthalmica I
153.
Neutrophile Granulationen I
186.
Nevrite periaxile TU 449.
Nickkrämpfe 179 3, III 10 59.
Niere, grosse bunte III 11.
— - — weisse III 11.
Nieren I 236.
— Geschwülste der III 52.
— Palpation III 938.
— Schmerzen III 950.
— Tuberkulose der III 840.
Nierenabscess III 83.
Nierenadenom III 52.
Nierenamyloidose III 85.
Nierenbeckeuentzündung III
358.
Nierencarcinom III 53.
Nierencirrhose III 14.
Nierenechiuococcus III 86,
Nierenectopie III 1037.
Nierenentzündungen im Kin-
desalter III 15.
Xierenerkrankuugen I 172.
— Herzvergrösserung bei
II 217.
Nierenkolik III 88.
Nierenkrankheiten I 147.
Nierenneoplasmenlll 52,90.
Nierensarkora 111 52.
Nierensteine III 27.
Nierensteinkolik III 28.
Nierentuberkulose I 808.
Nieskrämpfe III 1058.
Night terrors III 170.
Nil nocere III 1024.
Nitroglycerin gegen Angina
pectoris I 76.
Nizza II 427.
Non Restraint II 356.
Nonnengeräusche I 51.
Nordeney I 148, 425.
Nordrach II 430.
Normalautitoxinlösungl 440.
Nosotoxikosen III 662.
Nucleoalbumin I 35.
Nussbaum's Bracelet I 164.
Nutrose III 828.
Nuwara Elija II 429.
Nystagmus III 445.
0.
Oberarmdreieck Simon 's III
968.
Obere Hohlvene I 230.
Oberhof n 428, 429.
Obermais II 429.
Obesitas I 642.
Obliteration des Herzbeutels
I 73.
Oblougata-theorie I 157.
Obstcuren I 298.
Obstipation III 92, 1016.
— habituelle III 1007.
— nervöse III 78.
Obstructionsicterus II 195.
Obturationsstenosen III 97.
Occipital-Neuralgie III 59.
Oedema cerebri I 731.
— pulmonumIl538,III18.
Oedeme, angioneui'otische 11
111.
— der Augenlider I 152.
— cardiale II 109.
— collaterale II 110.
— compensatorische Hill.
— hydrämische II 107.
— hypostatische II 109.
— irritative II 104,
— kachektische II 109.
— maligne II 104.
— terminale II 109.
Oeleinreibungen III 999.
69*
092
SACHREGISTER.
Oertelcur I 296, 649.
Oesophagismus III 99.
Oesophagitis III 101.
— catarrhalis III 101.
— corrosiva III 105.
— crouposa HE 102.
— diphtheritica III 102.
— follicularis m 102.
— phlegmonosa HE 102.
— ulcerosa HI 103.
— variolosa III 104.
Oesophagomalacie III 105.
Oesophagomj'kosis III 106.
Oesophagus, Dilatation des
m 97.
— Entzündung des m 101.
— Neubildungen des m 38.
— Stenosen des III 38, 95.
Oesophaguscarcinom III 93.
Oesophaguskrankheiten III
98.
Oesophagusstenosen III 95.
Oesophagusvenen HI 1004.
Oeynhausen I 148.
Ohi'affectionen, Schwindel bei
in 1030.
Ohrspeicheldrüse, Entzün-
dung der n 943.
Oidium albicans III 520; 764.
Oleum terebinthinae II 17.
Olfactorius, Krankheiten des
I 775.
Oligocythämie 47.
Oliguria hysterica 11 183.
Olivenstränge IH 393.
Omentum I 236.
— majus I 233.
Omphalitis III 2.
Onanie III 1061.
Onomatomanie I 362.
Onychia maligna III 467.
— scorbutica in 456.
OotyiJ l 466.
Ophthalmia neuroparalytica
in 513.
Ophthalmoplegia externa I
155.
Opisthotonus II 701, III
622.
Opiumbehandlung Melan-
cholischer n 685.
Orchitis nach Parotitis epi-
demica II 745.
Organerkrankungen, Anä-
mien bei I 64.
Organextracttherapie III
631.
Organische Dementia I 364.
Organtherapie III 631.
Orgelspielerkrampf I 164.
Orientirungsvermögen, Yer-
lust des II 525.
Originäre Paranoia I 360.
Orkney U 424.
Ortssinn I 537.
Oser's -Magenschlauch 11
330.
Ostende I 148, II 425.
Osteomalacie I 149, 813.
— der Carcinomkranken
in 109.
— infantile III 107, 373.
— männliche III 107.
— senile III 107, 648.
Ostium arteriosum dextrum
I 230.
— — sinistrum I 230.
Othämatom I 380.
Otitis media purulenta III
283.
Ovarie H 176.
Ovarien I 235.
— Tuberkulose der in 771.
Ovinola IH 995.
Oxalsäure I 795.
Oxalurie I 805.
Oxyhämoglobin I 183.
Oxyuris vermicularis I 483,
II 23.
Oxyurisinfection n 23.
Ozaena scrophulosaIIl468.
Ozon U 421.
Pachydermie cretinoide U
813.
Pachymeningitis cerebralis
m 109.
— cervicalis hypertrophica
m 581.
interna U 762.
— externa purulenta II
697,
— haemorrhagica interna I
383.
— spinalis m 112, 347.
— — hämorrhagica interna
ni 113.
— ■ — hvpertrophica interna
III 113.
Paidatrophie in 1009.
Palermo II 426.
Pallanza II 429, 431.
Palma n 427.
Palpation des Abdomens Hl
931.
— des Halses III 901.
— der Harnblase 111 939.
— der Leber III 935, 936.
— der Nieren III 938.
— des Thorax III 901.
Palpitatio II 72.
Panaris analgesique in 571.
Panelektroskop II 331.
Pankreas I 234.
— Amyloidentartung des
ni 119.
— Atrophie des III 116.
— Carcinom des II 206.
— Cysten des III 51, 120.
— Entzündungen des III
118.
— Fettdegeneration desni
119.
— Fettinfiltration des III
119.
— Geschwülste des III 51.
— Hämorrhagien des III
117.
— Nekrosen des III 119.
— Neoplasmen des HI 51,
121.
— Stoffwechselanomalien
des III 537.
Pankreascirrhose in 120.
Pankreas-Diabetes I 396,
m 116.
Pankreas-Exstirpation in
117.
Pankreaskrankheiten I 810,
III 116.
Pankreasmilchpulver III
1009.
Pankreassteinkolik III 120.
Pankreatitis III 118.
Pannus scrophulosus in 469.
Panphobie II 681, III 1062.
Pantograph II 328.
Pantomime-fever I 388.
Pantophobie III 1062.
Papillarlinien III 193.
Paraappendicitis III 150.
Paracentese II 122.
— des Pericard's III 212.
Paracoecitis III 150.
SACHREGISTER.
1093
Paradoxe Temperatur-Em-
pfindung I 545.
Parästhesien I 540.
Parageusie I 778.
Paralyse, aufsteigende 1 378.
— — acute III 333.
— gallopirende I 381.
— lu'ogressive der Irren
III 452.
Paralysen III 29.
Paralysie ascendante gene-
rale III 330.
Paralj'sis agitans III 121.
sine tremore III 122.
— ascendens acuta III 126.
— labio-glosso-pharyngealll
127.
— nervi facialis I 624.
— spastica infantum II 374.
— spinalis spastica II 374.
— liypertropbica III
638, 643.
Paralytischer Blödsinn 1 370.
Paralytische Geistesstörung
I 370.
Paralytisches Stadium der
Tabes III 599.
Paramyoclonus multiplex III
130.
Paramyotonia congenita III
646.
Paramyotonie, atactische III
648.
Paranephritis III 142.
Paranephritischer Abscess
m 84.
Paranoia III 132, 1060.
— acuta III 133.
— chronica III 134.
— erotica III 136.
— expansiva III 136.
— hypochondrica III 136.
— originäre I 360.
— persecutoria III 136.
— philanthropica III 138.
— religiosa III 136.
— Unterscheidung von Me-
lancholie II 685.
Paraphasie I 93, II 525.
Paraplegia cerebralis spa-
stica II 374, 375.
Paraplegie, chronische, spa-
stische II 396.
- — hysterische 11 179.
Paraplegie, hysterische mit
Contracturen II 397.
Paraplcktisches Stadium der
Tabes III 599.
Parasiten I 65, 463, 11 10.
— im Blute I 187.
— des Gehirnes I 749.
Parasternallinieu III 193.
Paratyphlitis III 150, 153.
Parenchymatöse Albuminu-
rie I 36.
Parese, choreatische II 388.
— professionelle, atrophi-
sche II 762.
Paresen III 29.
Paresie analgesique ä pa-
naris des extr^mites
superieures III 578.
Parietallappen, Localsym-
ptome bei Krankheiten
der II 525.
Parkinson 'sehe Krankheit
III 121.
Parosmie I 768, 774.
Parotitis contagiosa II 743.
— epidemica II 743.
Paroxysmale Tachycardie I
346.
Passio cholerica I 491.
Pasteur'sche Hundswuth-
Impfung II 548.
Patellarreflex III 393, 506,
595.
Pathologische Incoordination
271.
Pau n 428.
Pavor nocturnus III 170.
Peau lisse III 570.
Pectoralfremitus bei Tub.
750.
Pectoriloquie I 139, III
756.
Pectus carinatum 11 318.
— gallinaceum II 318.
Pedunculi cerebelli III 393.
Pegli n 426.
Peitschenwurm I 485, II
24.
Poliosis rheumatica I 764,
n 308, III 353.
Pellagra III 171.
Pellagratyphus III 179.
Pellagravergiftung II 749.
Pellagrosein in 175.
Pemphigus IH 959.
— haemorrhagicus III 354.
— scorbuticus II l 456.
Pentastomum denticulatum
I 490.
— taenioides I 490.
Pepsin II 621.
Pepsinbestimmung II 622.
Pepton I 35.
Peptonpräparate III 828.
Peptonurie I 806.
Percussion III 182, 750.
— des Abdomens III 939,
942.
— der Blase IH 942, 946.
— desMagensIII941, 944.
— der Milz III 941, 946.
Percussionsfingerhut Gärt-
ner's II 324.
Percussionshammer II 322,
ni 183.
Perforations-Pericarditis III
791.
— Peritonitis in 788.
Periaortitis I 346.
Periappendicitis HI 150.
Periarteriitis 11 791.
Peribronchitis IH 732.
— caseosa HI 732.
— fibrosa ni 732.
— purulenta in 732.
— tuberculosa IH 732.
Pericard I 224.
Pericardialfistehi III 201.
Pericardialverwachsungen I
323.
Pericarditis I 339, HI
198.
— adhaesiva III 201.
— diffusa m 199.
— externa HE 199.
— fibrinosa HI 199.
— sero-fibrinosa IH 200,
791.
— suppurative, tuberkulöse
ni 200.
— tuberkulöse, acute HI
790.
— — chronische HI 791.
Prognose der m 809.
— uraemica III 199.
Pericarditische Pseudoleber-
cirrhose IH 214.
Pericoecitis III 150.
Pericolitis stercoralis 267.
1094
SACHREGISTER.
Periencephalitis I 384.
Perihepatitis III 213.
— adliaesiva circumscripta
ad portam hepatis II
201.
— chronica III 213.
— luetica n 206,
— tuberculosa II 206.
Perinephritis III 142.
Perineuritis III 31, 79,
Periphere Lähmungen I 524.
Periphlebitis III 1003.
Perisplenitis 11 719.
Peristaltik U 320.
Peritoneum, Geschwülste des
in 54.
Peritonitis I 809, III 215.
— chronische III 225.
— idiopathische III 225.
— kryptogenetischem 2 15.
— perforative, Therapie der
in 878.
— primäre III 215.
— septische in 510.
— spontane III 215.
— traumatische III 215.
— tuberkulöse III 771.
— — acute m 788.
— — chronische III 789.
Prognose der III 809.
Peritonitische Adhäsionen
m 223.
Perityphlitis III 154, 156,
162.
Perlsucht HI 715.
Peroneallähmung III 342.
Peroneus-Zuckung III 614.
Peronospora lutea I 750.
Persistenz des Ductus art.
Botalli I 329.
Perturbatio critica I 614.
Pertussis I 311, II 365,
III 899.
Perverse Sexualität I 363.
— Temperaturempfindung I
545.
Pest III 227.
Petechialtyphus 13.
Petechien III 968.
Pfäffers I 148.
Pfeifen I 136.
Pferdepocken III 995.
Pfortaderkrankheiten III
230.
Pfortaderverschluss in 230.
Pfriemenschwanz I 483.
Pfropfe, Dittrich'sche in
802.
— mycotische in 802.
Phänomen, Bacelli'sches (=
Ausc. der Flüster-
stimme) I 139.
— Duroziez'sches II 43,
— Facialis- in 610, 614.
— an den Gefässen n 41.
— Eobei'tson'sches III 596.
— Romberg'sches in 593.
— Traube'sches II 43.
— Trousseau'sches II 609,
614.
Phänomene, acustische II 42.
Phagocytismus n 301.
Phagocytose II 717.
Pharyngitis necroticans I
434.
Pharynxkrisen ni 598.
Phenol I 795.
Phlebectasie III 1003.
Phlebitis sinuum m 511.
— umbilicalis III 3.
Phlebolithen TU 649.
Phlebosklerose ni 1003.
Phtegmasia alba dolens TU
1005.
Phobien ni 1062.
Phonometrie II 323,
Phosphatsteine III 27.
Phosphorlähmung in 663.
Phosphorvergiftung I 243.
— acute n 474,
Phrenoglottismus II 460.
Phthisis I 238, in 261.
— calculosa in 741.
— confirmata III 738, IH
806.
— consummata ni 738,
806.
— dysp optische ni 738,
in 764.
— fibrosa I 323, 326.
— florida III 739, 776,
794, 795.
— incipiens in 737, 806.
— latente chloro-anämische
ni 738.
— mucosaeventriculil 249.
— pulmonum III 708.
— traumatische in 724.
Phthisischer Thorax III 749.
Physikalische Curen I 298.
Physiologische Incoordina-
tion 271,
Pied tabetique ni 597,
Pigment im Sputum ni 746.
Pigmentinduration ni 733.
— bei Tuberculosis pul-
monum III 733.
Pigmentkrebs n 483.
Pillen, antihydro tische ni
839.
— zur Arsenverordnung III
822.
— Blaud'sche I 67.
— zur Kreosotverordnung
ni 820.
Pilocarpin II 117.
Pilze im Sputum III 747.
Pisa II 428.
Pistyan I 147, 148.
Pituitöser Katarrh 203.
Pityriasis tabesceutium in
773.
— tuberculosorum III 773.
— versicolor III 773.
Plätschergeräusch II 557,
— metallisches III 788.
Plasma des Blutes I 48.
Plasmodium II 626.
Plathelminthes I 465.
Plattwürmer I 465.
Playrfair'sche Mastcur n
454.
Pleiochromie II 195.
Plessimeter II 322, III 183.
— von Stürck 11 323.
Plessimeterstäbchen- Percus-
sion III 752.
Plethora abdominalis I 125.
Pleura, Neubildungen der III
34.
Pleuraexsudation I 324.
Pleuritis ni 236,
— abgesackte l 325.
— acutissima in 243.
— adhaesiva I 326,
— exsudativa I 809, III
237.
sicca III 784.
— Fiebercurve der I 682.
— haemorrhagica III 237.
— purulenta 237.
— sero-fibrinosa in 237.
— serosa III 237.
— sicca III 237.
— tuberkulöselll758,809.
SACHREGISTER.
1095
Pleuritis bei Tuberkulose
III 783.
— in der Aetiologie der
Tuberculosis 111 724.
Pleurodynie II 799, 111 59,
•806.
Plexus cardiacus I 230.
— bepaticus I 234.
— iscliiadicus III 440.
Plexusläbmungen lU 247.
Pneumatische Curen I 299.
— Kammern III 302, 814.
Pneumatose ni 248.
Pneumatotherapie I 552, m
292.
Pneumocardinra, Prognose
III 809.
Pneumococcen III 530.
Pneumomykosis m 290.
Pneumonia catarrbalis HI
269.
— crouposa III 248.
partialis IH 286.
vesicalis III 286.
— lobularis HI 269.
— migrans III 281.
Pneumonie der Alkoholiker
III 260.
■ — asthenische III 259.
— biliöse HI 259.
— centrale IH 256.
— croupöse IH 532. |
— diffuse, käsige HI 733.
— Fiebercurve der I 682.
— - Hydrotherapie der II
140.
— hypostatische II 537,
— katarrhalische I 206.
— im Kindesalter III 273.
— lobuläre I 206.
— massive III 263.
— parenchymatöse II 531.
— toxikämische III 259.
— tuberkulöse I 322.
— bei Tuberkulose in 782.
— typhöse III 259.
— verkäsende III 732.
Pneumonoconiosis III 724,
801.
— als Gelegenheitsursache
d. Tuberculosis III 724.
Pnenmonomykosis III 290.
— mucorina III 291.
Pnenmonomykosis sarcinica
in 291.
Pneumopericard I 340, III
804.
Pneumoperitonitis III 217,
220.
Pneumorrhagie I 324, 788,
III 742.
— bei Tuberculosis pul-
monum III 742.
Pneumo - Spirotherapie III
292.
Pneumotherapie 11 302, 111
292.
Pneumothorax I 139, 327,
III 325, 757.
— circumscripter, III 325,
787, 804.
— diffuser III 325.
— geschlossener III 326,
785, 787.
— offener III 787.
Pocken III 961.
— schwarze III 976.
Pockenimpfung II 233.
Pockennabel III 970, 985.
Podagra I 779.
Podophyllin III 1007.
Poikiloblasten I 50.
Poikilocyten I 48.
Points apophysaires III 665.
Points douleureux III 59,
665.
Polarisationsapparate II 3 37.
Polarisationsmethode von
Hoff mann II 616.
Poliencephalitis I 128, II
374, II 376, 391.
Polioatrophia anterior chro-
nica II 755.
Poliomyelitis II 391, 399.
— anterior circumscripta
III 338.
— chronica II 762.
Poliomyositis rheumatica II
799.
Pollutionen III 62.
Polyästhesie I 545.
Polyarthritis rheumatica l
755.
Polymyositis II 804, IH
330.
Polyneuritis lU 80, 333.
— atactische III 347.
— degenerative III 686.
— dyskrasische III 340.
Polyneuritis, infectiöse III
340.
— tabische III 340.
— toxische III 339.
PolypapillDiua tropicum III
' 694.
Polypen des Herzens II 78.
— des Magens III 41.
Polyphagie I 399, II 600.
Polyposis ventriculi III 41.
Polyuria neuropathica 1389.
Polyurie I 399, III 1044.
— paradoxe II 120.
— traumatische I 392.
Porencephalie 11 98, 388,
390.
Port Xatal 11 427.
Position relevee I 134.
Positiver Yenenpuls I 333,
334, II 48.
Postdiphtheritische Lähmun-
gen I 430.
Postepileptisches Delirium I
600.
— Irresein I 599.
Postepileptischer Stupor I
600.
Potain'scher Apparatin24 5 .
Poussees II 199.
Präatactisches Stadium der
Tabes ni 598.
Präcordialangst II 681.
Präepileptisches In-esein I
600.
Präsystolischer Rhythmus 1
131.
Preblau 1 146, 147.
Predigerhand IH 114, 566,
Priapismus bei Leukämie
n 510.
Prickly heat HE 545.
Primäre Diphtherie I 428,
Primärer Schwachsinn I
361.
Primordialdeliiien III 1060.
Prior-Finkler'sche Bacillen
I 492.
Probemahl, Leube'sches 11
557.
Probemahlzeit 11 557, 610.
Processkrämer, Irresein der
III 363.
Processus pyramidalis 111
657,
— vermicularis 1 235.
1096
SACHREGISTER.
Productionsautointoxicosen
n 302.
Proglottis I 471.
Progrediente DipMlierie I
428, 429.
Progressive constitutionelle
Hypotrophien I 237.
— Muskelatrophien II 753.
— perniciöse Anämie I 52,
57.
— spinale Muskelatrophie
II 755.
Prolapsus viscerum I 568.
Propepton I 35.
Propulsion m 123.
Prosopalgie III 664.
Prosopospasmus HI 660.
Prostata, Tuberkulose der
in 771.
Pseudoangina I 73.
Pseudobulbäre Symptome 11
528.
Pseudobulbärparalysen 166,
m 128.
Pseudocroup I 215, 308.
Pseudoerysipelas III 146.
Pseudobj^pertrophia muscu-
lorum infantilis I 450.
Pseudokrise ni 858.
Pseudoleukämie I 52, III
349.
Pseudomeningitis 11 606.
Pseudoparalyse, syphilitiscbe
n 395.
Pseudoparaplegia tetanoides
n 374.
Pseudorecidiv bei Scharlach
ni 417.
Pseudosklerose, multiple III
454.
Pseudotabes III 347.
— alcoholica HI 599.
— neurasthenica IH 599.
Pseudotetanie III 604.
Pseudo-Tetanos HI 602.
Pseudotrichinose III 332.
Psoitis II 805, ni 165.
Psychische Aequivalente I
600.
— Hyperästhesie m 65.
Psychosis senilis I 386.
Ptomaine I 795.
Ptosis viscerum I 566.
Pulmonalarterie, Ursprung
der I 228.
Pulmonalarterie, Verenge-
rung, angeborene der
I 329.
Pulmonalarterien - Embolie
in 1005.
Pulmonalklappen, Insuffi-
cienz der II 51.
Pulmonalostium, Lage des I
230.
Pulmonalstenose II 52.
Pulmonalton I 132.
Puls bei Aorteninsufficienz
II 42.
— — Aortenstenose II 46.
— arhythmischer II 61, III
903.
— aussetzender III 903.
— Frequenz III 902.
— an den Halsvenen I 133,
II 48, 51.
Lebervenen 1 133,
II 50.
— bei Mitralinsufficienz II
33.
Mitralstenose II 37.
— — Pulmonalinsufficienz;
n 51.
— ^^— Pulmonalstenose 11
53.
Tricuspidalinsufficienz
II 50.
— — Tricuspidalstenose II
51.
Pulsatio epigastrica 549.
Pulsfrequenz bei Abdominal-
typhus I 10.
Pulsphaenomene II 3S.
Pulsus bigeminus III 902.
— celer n 42.
— intermittens III 903.
— paradoxus 11 675, III
792.
Punction II 122.
— der Bauchhöhle I 232.
— der Därme III 224.
Punkte, motorische I 497.
Pupillenstarre III 596.
Purgirende Trinkquellen
144.
Purpura III 353.
— fulminans III 356.
— haemorrhagica III 353,
1049.
— rheumatica III 353.
Purpura scorbuticalll 353,
455.
— senilis III 355.
— Simplex III 353, 354.
— variolosalll 969, 97 6,
986.
Pustelsyphilid III 987.
Pustula maligna II 710.
Putride Bronchitis 204.
Pyämie, Fiebercurve bei I
682.
Pyelitis III 358.
— calculosa I 808.
— toxische III 359.
Pyelonephritis I 807, III
29, 83, '359.
Pyelophlebitis adhaesiva IH
323.
— suppurativa III 234,
1005.
Pylethrombosis III 230.
Pylorus, Incontinenz des II
603.
Pylorus-Carcinom, primäres
II 205.
Pylorusresection II 579.
Pylorusstenose II 569, 573,
581.
Pyonephrose III 89.
Pyopneumothorax III 785,
788.
— subphrenicus III 328,
788.
Pyramidenseitenstrangbahn
ni 392, 585.
Pyramidenvorderstrangbahn
III 585.
Pyrmont I 146, 148, 149.
Pyrogenetisches Stadium I
678.
Pyrosis hy drochlorica III40 2 .
Q.
Quartanparasit II 626.
Querulantenwahnsinn III
363.
Quotidianparasit II 627.
R. •
Rabies II 539.
Rachendiphtherie I 428.
Rachenhöhle, Tuberkulose
der III 766.
SACHREGISTER.
1097
Racliitis = Rhachitis
Radialislähmung III 374.
Radialis-Ziickung III 614.
Radix filicis raaris II IG.
Räuchercuren I 300.
Rahmgemenge Biedert's 1
605.
RamicommunicantesIII 553.
Rapallo II 426.
Raphania maisitica III 171.
Raptus melancholicus II 682.
Rasselgeräusche I 137, III
756.
— klingende III 757.
Rasseln I 136.
Rausch III 1030.
Raynaud'sche Krankheit III
376.
Reaction des Blutes I 48.
— des Harnes I 795.
Reconvalescenz I 678.
Rectaleruährung , II 455,
578, 594.
Rectum I 235.
Rectumcarcinom III 377.
Recurrensform des Scharlach
m 421.
Recurrenslähmung III 759,
Recurrensspirillen III 856.
— Färbungsverfahren 1 189.
Recurrenstyphus III 854.
Redien I 467.
Reducirtes Hämoglobin I
183.
Reflectorische Eclampsien I
459.
Reflex epilepsie I 591.
Reflexlähmungen III 397.
Reflexneuralgie III 58.
Regio epigastrica I 231.
— hypogastrica I 231.
— mesogastrica I 231.
— vertebralis I 231.
Regiones iliacae I 231.
— lumbales 231.
Regnier's Federdynamo-
meter II 340.
Regurgitation 11 603, III402.
Rehme I 144, 148.
Reibegeräusche I 138.
— extrapericardialelll210.
— pericarditische III 204,
792.
— pleuropericardiale III
210.
Reil)en, palpatorisches III
905.
Reiboldsgrün II 428, 429,
430.
Reifengefühl III 595.
Rein flottant III 1037.
Reinerz I 149.
Reiswasserstühle I 629, II
273.
Reitbahnbewegung in 1057.
Relative Aorteuinsuflicienz
I 112.
— Tricuspidalinsufficieuz I
334, n 47.
Ren migrans III 1037.
— mobile III 1037.
Reprise II 370.
Resection des Pylorus 11
579.
Residual air HI 295.
Resorcin I 622, IT 615.
Resorptionsfähigkeit des Ma-
gens, Prüfung der II
623.
Resorptionsicterus II 194.
Respiration, asymmetrische
III 900.
— Cheyne - Stocke'sche 11
318, in 900.
— Frequenz III 895, 911.
— Rhythmus III 900.
— Stärke III 895.
Respirationsgeräusche 1 134.
Respirationskrämpfe III
1058.
Respirationsorgane I 145.
Respiratorischer Schall-
wechsel III 752.
Retentionsautointoxicosen II
302.
Retentionstoxicosen III 662.
Retinitis albuminurica III
12.
Retraction musculaire spas-
modique III 602.
Retrecissement de la poi-
trine II 532.
— thoracique JI 318, III
238, 243.
Retropharyngealabscesse I
310.
Retropulsion III 123.
Retroversio hypogastrica I
236.
Retroversio mesogastrica I
236.
Revaccination III 966.
Rhabdonema nigrovenosum I
464.
— strongyloidesl 464,1 480.
Rhachitis II 149, 813, III
365.
— acute I 150.
— foetalis III 372, 659.
— tarda III 373.
— Wesen der lU 372.
Rhachitischer Thorax II 370,
ni 367.
Rheostat I 507.
Rheumatismus articulorum
I 755.
— Fiebercurve I 683.
— febrilis exanthematicus I
388.
— musculorum II 798.
— nodosus I 764.
infantum III 379.
Rhinitis morbillosa II 729.
Richardson's Zerstäuber III
314.
Riesenzellen III 728, 730.
Rigiditas spastica generalis
II 374.
— — neonatorum II 374.
Rindencentren 11 524.
Rindeuepilepsie I 749.
Risipola lombarda III 171.
Risus Sardonicus III 622.
Riva n 429.
Riviera di Levante 11 426,
480.
Ponente H 426, 430.
Robertson'sches Symptom
in 596.
Röntgen-Untersuchung III
884.
Röthe, hektische III 773.
Röthein III 388.
Rohitsch-Sauerbrunn I 145,
146.
Rollbewegung III 1057.
Rom n 428.
Romberg'sches Symptom III
593.
Roncegno I 149.
Rose I 611.
Roseola, nicht contagiösC;
idiopathische II 734.
— bei Typhus I 13.
1098
SACHREGISTER.
Rotblauf I 611.
Rothlaufseuche II 313.
Rotz III 380.
— acuter III 385.
— chronischer III 386.
Rotzbacillen III 380.
— Färbungsverfahren I
188.
Rotzknötchen III 1002.
Rubeolae III 388.
— Fiebercurve bei I 681.
Ructus III 930.
RückenniarksabscessIII394.
Rückenmarksagenesie m
394.
Rückenmarksanämie III394.
Rückenmarksatrophie III
394.
Rückenmarkscompression III
394.
Ruckenmarksdegeneration
III 396.
Rückenmarksentzündung II
767, III 396.
Rückenmarkshämorrhagie
III 396.
Rückenmarks - Halbseiten-
läsion III 396.
Rückenmarkshinterstrang-
erkrankung III 397.
Rückenmarkshöhlenbildung
III 397.
Rückenmarkshypoplasie III
394.
Rückenmarkskrankheitenlll
390.
Rückenmarkslähmung III
397.
Rückenmarksmissbildungen
III 398.
Rückenmarksreizunglll 399.
Rückenmarks - Secundärde-
generation III 398.
Rückenmarkssklerose III
396.
Rückenmarkssyphilis III
398.
Rückenm ark ssystemerkran-
kungen III 399.
Rückenmarkstuberkeln III
400.
Rückenmarkstumoren III
399.
Rückenmarksvordersäulen-
erkrankung III 400.
Rückfallsfieber III 854.
Rückfallstyphus III 854.
Rügen I 148, II 425.
Ruhr I 443.
Ruminatio II 603.
Rumpfmuskellähmungen III
403.
Rundwürmer I 465.
Rupia scorbutica III 457.
Ruptur der Aorta III 408.
— des Herzens III 405.
— innerer Organe III 405.
— des Magens III 409.
— des Oesophagus III 410.
s.
S. Leonards on Sea II 425.
S. Margherita II 426.
S. Moritz II 429.
S. Remo II 427.
S. Sebastian 11 426.
Saccharin I 407.
Saccharomyces albicans III
520.
Saccus coecus I 232.
Säuferleber II 491.
Säuglinge, Brechdurchfall
der I 189.
— Ernährung der I 601.
Säureautointoxication III
410, 411.
Säurefuchsinmethylenblau-
färbimg I 185.
Säurevergiftung III 411.
Sagomilz H 719.
Salaamkrämpfe I 793 in
1059.
Salerno II 427.
Salolmethode von Ewald und
Siewers II 624.
Salolprobe II 558.
Salpetersäureprobe I 35.
Salzbrunn I 145, 146, 149.
Salzsäure II 613.
— freie II 615.
— quantitative Bestimmung
II 616.
Salzsäuregehalt bei Ulcus
III 872.
Sandwich-Inseln II 425,
Santander II 426.
Santonin II 23.
Sapo viridis III 993.
Sarcina pulmonis III 747.
Sarcina ventriculi 11 623. .
Sarcoma hepatis 11 482.
Sarcom innerer Organe s,
Neubildungen innerer
Organe.
Sargdeckelkrystalle I 633.
Sauerstoffhämoglobin I 183.
Saugwürmer I 465.
Saxons-les-Bains I 148.
Scandiren I 377, III 444.
Scapula, abnorme Lage III
889.
Scapulae alatae III 749.
Scarification I 171.
Scarlatina III 414, 988.
— haemorrhagica III 423.
— laevigata III 422.
— miliaris III 422.
— sine exanthematelll 434.
— variegata III 422.
Schachtelton 549.
Schafhusten n 191.
Schafpocken III 956.
Schallwechsel Biermer'scher
ni 788.
— Friedreich'scherIIl752.
— Gerhardt'scher III 752.
— Wintrich'scher III 752.
Scharbock III 455.
Scharlach I 399, III 414.
— Abortivformen des III
433.
— chirurgischer III 417.
Scharlachdiphthei'ie I 434,
III 423, 424.
Scharlachexanthem III 421.
Scharlachfriesel III 422.
Scharlachmikroorganismen
III 414.
Scharlachnephritis III 20.
Scharlachrecidiv III 417.
Scharlachrheumatismus III
428.
Scharlachschnupfen III 425.
Scharlachtyphus III 434.
Scharlachzunge 424.
Schenkeldreieck Simon's III
968.
Schenkelmuskellähmungen
III 439.
Scheweningen 1 148, II 425.
Schieferige Induration III
733.
Schilddrüse, Krankheiten der
III 657.
SACHREGISTER.
1099
Schistocyten I 49.
Schlafläiimung III 30, 374.
Schlaflosigkeit I 31.
— Melancholischer II 686.
Schlaganfall I 101.
Schlagfluss der Liingen-
Pneumorrhagie I 788.
SchleimhaiUerkrankungen,
scrophulüse III 467.
Schleimhautexanthem bei
Masern II 725.
— bei Scharlach III 419.
Schleimkörner I 565.
Schlemmerherz II 117.
Schlingbeschwerden bei Tab.
pulm. III 759.
Schluchzen III 1058.
Schluckpneumonie I 577,111
Schluudbougies II 330.
Schlundsonden II 330 454.
Schmerzdruckpunkte III 59.
274.
Schmerzempfindung I 539.
Schmerzen, dyspeptische III
867.
Schmiedekrampf I 164.
Schneiderkrampf I 164.
Schnürleber III 1046.
Schreibekrampf I 192.
Schreibelähmung I 163.
Schreikrämpfe III 1058.
Schriftsetzerkrampf I 164.
Schröpfkopf I 171.
Schrothcur I 296.
Schrumpfleber 11 490.
— secundäre II 491.
Schrumpfniere 1 807, III 14.
— arteriosklerotische II
647.
— secundäre III 11.
— senile II 647.
Schüttellähmung III 121.
Schulbänke II 415.
Schulhygiene III 814.
Schul-Myopie II 414.
Schulterarmlähmung I 168.
Schulterarmtypus III 342.
Schusterkrampf I 164, III
602.
Schutzimpfungen II 233,
Schutzpockenimpfung III
962, 966, 989, 994.
Schutzpockenlymphe II 236.
Schwachsinn, idiotischer II
231.
Schwachsinn, primärer 1 361.
— secundilrcr II 684.
Schwämmchen III 518.
Schwalbach I 148, 149.
Schwangerschaft, Ilerzver-
grösserung bei II 222.
Schwangerschaftsleukocy-
tose II 516.
.Schwangerschaftsnarben III
930.
Schwarzer Tod III 229.
Scbwarzwasserfieber III 694.
Schwefelbäder I 148.
Schwefelhydrogeueinblasun-
gen III 818.
Schwefelkohlenstofflähmung
III 663.
Schwefelwasserstoff im Harn
I 803.
Schw^eiss, englischer III 545,
— hectischer III 781.
Therapie III 839.
Schweissfieber III 545.
Schweissfriesel III 545, 774.
— bei Tub. pulm. III 774.
Schweningercur I 303.
Schwimmer'sche Paste III
999.
Schwindel III 1029.
Schwindsucht, chronische III
794.
Schwirren, diastolisches 113 5 .
— palpatorisches III 906.
— systolisches II 32, 45.
Schwitzcuren I 284, 301.
Scilla II 117.
Scirrhus III 42.
Scolex I 476.
Scorbut 1150, III 353, 455,
Scorbutus alpinus III 171.
Scrofule III 461.
Scrophuloderma III 465.
Scrophulöse Augenerkran-
kungen III 469.
— Drüsenerkrankungen III
471.
— Gelenkerkrankungen III
472,
— Knochenerkrankuugen
III 472.
— Ohrerkrankungen III
470.
Scrophulöse III 461, 722,
815.
' Scrophulöse erethische, III
464,
|— torpide III 464.
Sea-sickness III 483.
Secretiousneurosen II 606.
I Secundäre Anämien I 60.
|— Diphtherie I 428.
'< Sedimentumlateritiuml671.
! Seebäder I 148.
\ Seehospize III 478.
Seeklima II 424, III 832.
Seekrankheit III 483.
Segmentation der Muskel-
fasern III 405.
Sehnenreflexe III 499.
Seifenwasserklystiere III
1007.
Seitenlinien II 480.
Seitenstrang III 391.
Seitenstrangrest III 392,
Selbstmordgedanken II 680.
Selters I 145, 146, 147,
Semmelcur 296.
Sensibilität, elektrocutane I
539.
Sensibilitätsprüfer von Erb
I 503.
Seusorische Anästhesie 1542.
— Aphasie I 93, II 525,
— Ataxie 273,
Sepsis III 509,
Septicämische Diphtherie I
432.
Septicopyämie III 509.
— kryptogenetischem 509.
Septische Infecte IH 508.
— Krankheiten III 508.
— Lungenentzündungen III
277.
Seröse Bronchitis 203,
Seropneumothorax III 785,
Serositis hepatica simplex
III 213.
Serratuslähmung III 404,
Serumalbumin I 35.
Serumalbuminurie I 798.
Serurabehaudlung bei Diph-
therie I 440a,
Serumtherapie I 177.11244,
Sexualität, perverse I 363.
Shaking palsy III 121,
Shetlandinseln II 424,
Siderosis der Lungen III
724, 801.
1100
SACHREGISTER.
Siechthum I 237.
Sieveking's Aesthesiometer
II 340.
Silbenstolpern I 376.
Singultus m 898, 1058.
Siuus cavernosus, Thrombose
des III 513.
— mediastino-costalisI227.
— mediastino-plirenicus I
227.
— phrenico-costalis I 227.
— pleurae I 227.
— transversus, Thrombose
des III 513.
Sinusphlebitis III 511.
Sinusthrombose III 511.
Situs viscerum inversus II
457, III 516.
mutatus II 457, III
516.
— — perversus III 516.
Skatoxylschwefelsäure 17 9 5.
Sklerose, disseminirte III
440.
— des Gehirnes I 747.
— periependymäreIII559.
— en plagues III 440.
— scorbutische III 456.
Sklerosis cerebrospinalis III
440.
— disseminata III 440.
— insularisl 747, III 440.
— multiplex III 440.
Sklerostomum armatum I
483.
— equinum I 483.
— tetracanthum I 483.
Sklerotische Endocarditis I
112.
Sleeping sickness III 681.
Sodbrennen III 607.
Soden II 428.
Solveol III 821.
Somatose III 828, 875.
Somatosemilch III 875.
Sommerkatarrh I 249.
Sondeneuren I 300.
Sonnenstich II 80.
Soolbäder I 148.
Soor III 518, 530, 764.
Soorpilz III 519.
Sorrento II 427.
Spaa I 149.
Spaltbildungen bei Dysto-
kien III 564.
Spannungsirresein II 303.
Spasme musculaire au döbut
des mouvements volon-
taires III 638.
Spasmen, circumscripte, myo-
tonische III 648.
Spasmes chroniques du pha-
vynx II 604.
— musculaires idiopathi-
ques II 602.
Spasmus glottidis II 460.
— idiopathicus II 374.
— maxillae inferioris III
626.
— musculorum idiopathicus
II 374.
Spastische Stricturen III 97.
Speckhautgerinnsel III 649.
Speckleber II 501, III 768.
Speckmilz n 719, HI 768.
Speckniere J 807, III 769.
Speckschrumpfniere III 85.
Spectroskopische Unter-
suchung des Blutes I
183.
Speiseröhre I 230.
Speiseröhrendivertikel III
96.
Speiseröhrenentzündung III
101.
Speiseröhrenerweichung III
105.
Speiseröhrengeschwüre III
103.
Speiseröhrenkatarrh III 101,
Speiseröhrenkrampf III 99.
Speiseröhrenzerreissung III
410.
Spermincur I 301.
Spezia II 426.
Sphacelus pulmonis II 534,
Sphygmograph II 324.
— Frey-Marey'scherII325.
— Jaquet-Dudgeon'scher II
326.
Spicula I 481.
Spinale Amyotrophie 11 754.
— Kinderlähmung II 399,
— progressive Muskelatro-
phie II 763.
Spinalirritation III 67, 390.
Spinalparalyse, amyotrophi-
sche n 409.
— spastische II 375.
der Kinder 11 376.
Spinalparalyse, syphilitische
III 399.
Spiralfaden im Sputum III
526.
Spirillen III 856.
Spirometer II 329.
— von Clar II 329.
— von Fleischl II 330.
— von Hutchinson II 329.
Spiroptera murina I 487.
Spirotherapie III 311.
Spitzenpleuritis III 758.
Splanchnoptose I 572.
Splenämie 11 510.
Splenisationd.Lungenn537.
Splenitis n 718,
Sporisorium maidis Hl 175,
Sporo Cysten I 467.
Sprachcentrum I 93, 11 525.
Spulwurm I 484, n 22.
Sputa ni 741.
— petentia fundum HI 741.
Sputum m 523.
— coctum m 531.
— crudum III 531.
— gangränöses 11 535.
— globosum ni 524.
— himbeergeleeartiges HI
802.
— nummuläre m 524, 741.
— rotundum HE 741.
Sputumunter suchungin5 2 3 .
— bei Tuberculosis 111743.
Stabile Hypochondrien 159.
Stahlbäder I 149.
Stammeln I 442.
Stammumschläge 11 137,
Staphylo CO ccämie III 511.
Staphylococcus pyogenes
aureus HI 199, 250,
508.
— — citreus I 100.
flavus I 100.
Starre allgemeine II 394.
— hypnotische 11 150.
— katatonische II 364.
— paraplegische 11 394.
Starrkrampf II 150.
— der Neugeborenen HI
626.
Starrsucht 11 364.
Status epilepticus I 379.
— febrilis I 588.
— gastricus I 588.
Staubinhalation III 812.
SACHREGISTER.
1101
Staubzellen III 526.
StauuDgsicterus 11 195.
Stauuugsleber 111 768.
Stauungsmilz 11 718, HI
768.
Stauungsniere 1807, III 770.
Stauungsödeme 11 105.
Stauungspapille I 745.
Steatorrhoe I 628.
Steinhaueiiunge II 724.
Steinkranklieit 11 6.
Stellwag'sches Symptom I
154.
Stenocardie I 73, 119, II
225.
Stenose des linken arteriellen
Ostiums 11 45,
— venösen Ostiums
n 34.
— der Luftwege in 920.
— des rechten arteriellen
Ostiums n 52.
— — — venösen Ostiums
n 50.
— der Trachea I 310.
Stenosis laryngis III 759.
— spastica m 99.
Steppage III 343.
Stercorale Abscesse III 149.
Sterilisirte Kuhmilch I 194.
Sternallinien III 193.
Sternalpunkt III 806.
Stethograph 11 328.
Stethophonometer II 322.
Stethoskop n 321.
— von Camman II 322.
— von Stern 11 322.
Stickfluss n 538.
Stickstoffgleichgewichtl238.
Stimme, auscultatorische I
139.
Stimmfremitus ni 750, 907.
Stimmritzenkrampf II 460.
Stoflfwechselanomalien HI
532.
Stoffwechselerkrankungen
ni 532.
— Anämien bei I 63.
Stomatitis aphthosa I 98.
— fibrinosa I 98.
— follicularis I 98.
Stottercuren I 300.
Stottern I 442.
Strabismus I 154.
Strahlenpilz III 290, 530.
Strangurie 111 967.
Streptococcämie 111 511.
Streptococcen bei Diphtherie
I 424.
— bei Erysipel 1 618.
— I'ärbungsverfahren I
188.
— bei Peritonitis III 216.
Streptococcenpneumonienlll
783.
— bei Tuberc. III 783.
Streptococcus erysipelatis I
618.
— pyogenes III 199, 216,
508.
Stricturen des Oesophagus
m 96.
Strobila I 476.
Strom, faradischer, galva-
nischer I 498.
Stromdichte I 517.
Stromwage von Kohlrausch
I 507.
Stromwender I 507.
Strongyliden I 464.
Strongylus HI 88.
— lougevaginatus 1 483.
Strontium lacticum II 18.
Strophanthus II 69.
Struma HI 657.
— calcificans IH 657.
— cystica III 657.
— exophthalmica I 1 53, HI
657.
— fibrosa HI 657.
— ossificans HI 657.
— parenchymatosaIIl657.
— vasculosa III 657.
Struiuae suprarenales lipo-
matodes aberratae IH
52.
Stuhl s. Faeces.
Stuhlträgheit IH 1017.
Stuhlzäpfchen III 1007.
Stuhlzwang I 409.
Stupor, postepileptischer I
600.
Stutenmilch III 824.
Subacidität II 618.
Subclaviageräusch IH 762.
Subcorticale Agraphie I 97.
— Alexie I 97.
— motorische Aphasie I 94.
— sensorische Aphasie 194.
Subicterische Färbung H 58.
Subphrenischer Abscess 111
540.
Substitutionstherapiel 11631.
Succussio llii)pocratis 11557,
m 327, 757, 788.
Succussionsgeräusch 11 557,
m 327, 757, 788.
Suchmanie 111 1063.
Sudamina IH 774.
Sudor anglicus 1 350, IH
545.
— britannicus HI 545.
— picardicus 111 545.
Süd-Carolina 11 425.
Suette miliaere 111 545,
— Sans eruption IH 548.
Suggestibilität II 149.
Suggestion II 156, 189.
Suggestionstherapie I 302.
Sugillationen III 968.
Sulcus aorticus 226.
— subclavius I 225.
Sulfonal I 34, 260, 11 641.
Sumes complaint IH 1005.
Sumpf fieber II 624.
Superacidität H 618.
— nervöse II 607.
Superficies cardiaca I 225.
— costalis I 225.
— diaphragmatica I 225.
Supersecretiou II 618.
Suppurative Nephritis IH
359.
Supraren aldrüsenf unction IH
550.
Suprarenaldiüsenkrankhei-
ten HI 550.
Suractivite de la fonction
hepatique HI 677.
Surface mamelonnee HI 41.
Sydenham'sche Choreal 260.
Sydney II 427.
Sylt H 425,
Sympathicus, Compression
des H 671.
Sympathicuskrankheiten HI
552.
SympathicuslähmungIH5 54,
556.
Sympathische Albuminurie
I 38.
Symptom s. Phänomen.
Symptomes extrinseques HI
577.
— intrinseques IH 577.
1102
SACHREGISTER.
Symptomes lenkomyeliques
lateraux III 577.
— — posterieurs III 577.
— poliomyeliques ante-
rieurs m 577,
— — lateraux III 577,
Synanche contagiosa I 418.
Synkope, hysterische II 181.
Synovitis scarlatinosa III
428.
Syphilidophohie II 159.
Syphilis, Fiebercurve I 683.
• — Herzvergrösserung bei
n 225.
— der Lungen III 800.
Syphilitische Pseudoparalyse
II 395.
Syrakus II 427.
Syringomyelie 11 762, III
557.
SysteinerkrankungenIII584.
■ — combinirte III 589,
Tabakamblyopie III 668.
Tabakmissbrauch II 227.
■ — Herzvergrösserung bei
n 227.
Tabakvergiftung, chronische
I 345.
Tabes I 148, 238, IH 588,
591.
— Friedreich'sche II 407.
— illusoria III 600.
— infantile 11 765.
— meseraica III 469, 699.
— spasmodique 11 374.
' — spastica infantum cere-
bralis 11 374.
^- superior III 591.
Tabische Ataxie I 275.
Täches cerebrales I 253,
n 694, 703.
Tachograph II 327.
Tachycardia strumosa 1153.
Tachycardie 11 61, III 902.
— paroxysmale I 346.
Taenia aconthrias II 19.
— cucumerina I 478, II
19.
— echinococcus I 480, II
19.
»— flavopunctata I 478, II
19.
Taenia madagascariensis II
19.
— margin ata I 478.
— mediocanellata I 479.
— murina I 476.
— nanal 464, H 478, 19.
— pellucida I 478.
— saginata I 479, II 14.
— solium I 463, 478, H
14.
Taeniaden I 471.
Taenieninfection II 14.
Tänzerinnenkrampf I 165.
Tamarindenpastillen III
1007.
Tannigen III 1016.
Tarasp I 146, 149.
Tastempfindung I 537, II
340.
Tasterzirkel I 537, n 340.
Taubheit nach Parotitis epi-
demica n 746.
Taucher III 300.
Teichmann' sehe Häminprobe
I 634,
Telegraphistenkrampf 1164.
Temperaturempfindung,
paradoxe, I 545.
— perverse I 545.
Temperatursinn I 538.
Tenesmus I 409.
Teplitz I 148.
Terminale Oedeme 11 109.
Terpinum hydratumlll 821.
Terraincur I 297, II 67.
Tertianparasit, benigner II
626.
— maligner II 627.
Tetanie II 395, 591, III
602.
— acute, recidivirende III
604,
— im Kindesalter II 463,
ni 613.
Tetanille III 602.
Tetanotoxin III 619.
Tetanus IH 617.
— hydrophobicus III 623.
— idiopathischer III 619.
— infantilis permanens II
374.
— kryptogenetischer III
619.
— mitis III 627.
Tetanus neonatorum II 395,
III 620, 626.
— puerperalis III 620.
— rheumaticus III 619.
— toxicus in 625.
— traumaticus III 619.
Tetanus-Antitoxin III 626.
Tetanusbacillus HI 617,
Tetanusheilserum I 179.
Thalamus opticus, Local-
symptome bei Krank-
heiten des II 526.
Thallin I 17, 86.
Thermen, indilferente 1 148.
Thermometer n 331.
Thierorgantherapie lU 631.
Thierpocken in 995,
Thiervisionen II 342.
Thomson'sche Krankheit II
395, in 638.
Thoracocentese II 124, HI
245.
Thorax, Asymmetrie III 8 9 0.
— Dimensionen, abnormale
III 889.
• normale III 887,
— Fassform III 889,
— Hautfarbe m 891,
— Inspection III 887.
— Palpation III 901.
— paralyticus HI 749.
— rhachitischer II 370.
— Yenenvertheilung am Hl
891.
Thoraxfistel III 329.
Thoraxumschläge H 137.
Thromben, geschichtete IH
649.
Thrombose IH 648.
— bei Chlorose III 1005.
— fortgesetzte III 1004.
— des Herzens I 338, H
77.
— der Leberveuen III
1004.
— der Lungenarterie 1317.
— der Lungenvenen III
1004.
— marantische HI 1005.
— der Pfortader III 230.
— secundäre HI 1005.
— des Sinus cavernosus III
513.
— des Sinus longitudinalis
superior HI 513.
SACHREGISTER.
1103
Thrombose, traumatische III
1004.
Thrombus, fortgesetzter 111
649.
— klappenständiger 111
694.
— obturirencler III 694.
— wandständiger III 649.
Thymitis III 651.
Thymol UI 997.
Thymus, Abscedirung 111
651.
- Hypertrophie III 651.
— Neubildungen III 652.
— Tuberkulose IH 652.
Thymusfunction III 649.
Thymus-Krankheiten III
649.
Thyreoantixoin 111 658.
Thyreoideafunction 111 657.
Thyreoideakrankheiten 111
657.
Thyreoideatheorie 1 158.
Thyreoidin II 816.
Thyreoidtonus III 636.
Thyreojodin III 638, 658.
Thyroproteid in 658.
Tibialislähmung 111 439.
Tic convulsif 1 270, in 660.
— douloureux III 664,
— general III 1057.
— rotatoire 1 793.
Timpe's Milchpulver 111
1009.
Tinct. Aconiti III 62.
— Darelli III 1007.
— Jodi III 998.
Tintement metallique ELI
757.
Tod, schwarzer III 227.
Todtenkrampf III 626.
Tölpelkrankheit II 744.
Tophi I 780.
Topographie der Bauchhöhle
1 231.
■ — der Brust- und Bauch-
eingeweide I 224.
Topophobie III 66.
Tormina ventriculi nervosa
n 604.
Torpor I 238.
Torquay n 425.
Torsion der Ureteren III
1044.
Torticollis spasticus 1 793.
Tortura oris III 026.
Toxämische Tneumonie III
259.
Toxalbumine II 236.
Toxicosen III 660.
Toxine II 236.
Trachealstenose I 310, II
668.
Trachealton William 's 111
752.
Tracheitis 1 201.
Tracheobronchitis 202.
Tracheotomie 284.
Tractus anterolateralis III
585.
Tragbare pneumatische Ap-
parate 111 306.
Transcorticale Agraphie 1
97.
— Alexie I 97.
— motorische Aphasie 194.
- — sensorische Aphasie 194.
Transfusio sanguinis 111 997.
Transfusion von Lammblut
in 819.
Transfusionscuren I 302.
Transportable Batterie 1507.
Transposition der grossen
Arterienstämme I 330.
Traube's Phänomen 11 43.
Traube'scher Raum III 241.
Traubencur 298, 111 827.
Traubenzucker im Harn I
399, 800.
Traumatische Anämie I 773.
— Polyurie 1 392.
Trematoden I 465.
Tremor bei Basedow 1 156.
— bei Marasmus senilis II
649.
— bei Paralysis agitans 111
121.
— bei Sklerosis multiplex
in 444.
Trencsin-TeplitzI147, 148.
Treppenbauch I 551.
Trichina I 481.
— spiralis I 485, III 668.
Trichinose I 351, 485, III
667.
Trichocephalus disparl 485,
II 24.
Trichocephalusinfection n
24.
Trichotracheliden 1 485.
Trichterdrainagc II 127.
Tricuspidalinsufticienz I 335.
— angeborene 1 330.
— relative 1 334, II 47.
Tricusi)idaIstenose I 333.
— angeborene I 330.
Trigeminusneuralgie 1 523,
in 664.
Trinkcuren I 300, III 836.
Trinkwasser, Infection durch
7.
Trional I 34.
Tripperfäden I 808.
Trismus III 622, 111 1058.
— neonatorum III 626.
Tristan d'Acunha 11 425.
Trockencuren 11 120.
TrockeneEinpackungII138.
Trommelschlägelfingerl 206,
III 774.
Trommelsucht 111 248.
Tropäolin II 615.
Tropenkrankheiten 111 672.
Trousseau'sche Glocke HI
703.
Trousseau'sches Zeichen Hl
609.
Trouville I 148.
Truncus brachio-cephalicus 1
230.
Tuberkel III 709.
— lymphoides III 730.
Tuberkelbacillen I 188, 111
529, 808.
— in Fäces III 767.
— Nachweis der 111 744.
Tuberkelknötchen HI 728.
— Entwicklungsgeschichte
der m 728.
Tuberkeln im Augenhinter-
grunde 111 705.
Tuberkulin II 241, HI 799,
111 819.
— als Diagnosticum III
799.
Tuberkulöse Lungenentzün-
dungen I 322, ni 275.
— Meningitis III 793.
Tuberkulose I 208.
— der Blase, Prognose III
809.
— der Bronchialdrüsen 1
324.
— des Darmes HI 698,
736, 766.
1104
SACHREGISTER.
Tuberkulose des Gehirnes I
742.
— Mmatogene III 730.
— des Herzens in 737.
— des Hodens III 737.
— intestini m 698.
— intrauterine m 719.
— des Larynx III 736.
— der Lungen s. Lungen-
tuberkulose.
— meningum II 700.
— der Mesenterialdrüsen
m 165.
— miliaris III 706.
— der Milz HI 768.
— der Mundhöhle in 766.
— des Netzes III 790.
— der Nieren III 840.
— der Pleura m 789.
— der Rachenhöhle III
766.
— des Sexualapparates III
771.
— der Trachea in 736.
Tumor cerehri I 744.
Tumoren innerer Organe III
34.
Tumores cavernosi XU 50.
Tunnel- Anämie 11 24.
Turbellaria I 464.
Tussis convulsiva 11 365.
Tussol n 373.
Tympanitis I 410.
Tympanitismus III 186.
Type facio-humero-scapulare
I 451.
Typhlitis HI 150, 151.
■ — • stercoralis in 1 5 1 , 155,
159.
Typhlocoecitis ni 150.
Typhloperitonitis HI 150.
Typhöse Pneumonie ni 259.
Typhotoxin n 237.
Typhus abdominalis, s. Ah-
dominaltyphus.
— abortivus I 14.
— exanthematicus m 843,
— — Fiebercurve I 680.
— hepatique HI 1048.
— irischer in 843.
— d' Orient ni 227.
— recurrens in 854.
— — • Fiebercurve I 680.
Spirillen in 856.
Typhusbacillus I 7.
Typhusexanthem I 23.
Typus inversus in 776.
Tyrosinurie I 804.
üebergangsformen der Leu-
kocyten 1 187; II 510,
518.
üebergiessungen I 19.
Uffelmann'sches Reagens n
619.
Uhrmacherkrampf I 164.
Ulcera, aphthöse m 765.
— cruris ni 1003.
— scorbutica ni 456.
Ulcus chronicum ni 861.
— corrosivum Hl 861.
— duodeni ni 878.
— duodeni ad Divert. Va-
teri n 205.
— oesophagi in 861.
— pepticum IH 861.
— perforans in 861, 870.
— rotundum HI 861, 878.
— Simplex in 861.
— ventriculi I 242, 249,
n 573, in 861.
Blutungen bei in 869.
Gastralgie beim 873.
Ulcusnarben II 581.
Ulnarislähmung ni 881.
Ulnaris-Zuckung ni 614.
Unguentum Listeri ni 999.
Unruhe, peristaltische des
Magens n 604.
Unterleibstyphus I 1.
Untermais II 429.
Untersuchung ni 882.
— der Amme I 39.
— des Blutes 1184,11682,
III 763.
— elektrische 1497, 539.
— der Extremitäten UI
885.
— des Geruches I 769.
— der Faeces I 627.
— des Geschmackes I 778.
— des Halses in 887.
— des Harnes I 794.
— mit Instrumenten II 339.
— der Kinder III 952.
— des Kopfes in 885.
Untersuchung der Lesefä-
higkeit l 95.
— des Muskelsinnes I 539.
— des Ort-(Raum-)sinnes l
537.
— der Psyche in 886.
— des Rumpfes ni 886.
— der Schmerzempfindung
I 539.
— des Schreibvermögens I
96.
— der Sehnenreflexe in
499.
— der Sensibilität I 535.
— des Sprachvermögens I
93.
— des Sputums ni 5 2 9 , 74 3 .
— des Stoffwechsels in
532.
— des Temperatursinnes l
538.
— des Thorax III 887.
— des Unterleibes LH 926.
Untersuchungsmethode, pho-
tographische III 884.
— mit Röntgen III 884.
Urämie I 356, ni 18.
— acute ni 9.
— chronische LH 12.
— bei Flecktyphus II 852.
Urämische Amaurose III 9.
Urate I 796.
Uratsteine ni 27.
Urethralkrisen bei Tabes LH
598.
Urethritis gonorrhoica 1 808.
Urhidrosis n 280, HI 12.
Urin s. Harn.
Urina spastica I 248.
Urobilinurie I 318, 799.
Urodialysis I 46.
Uroleucinsäure I 799.
Urometer II 337.
Uroplania I 46.
Urticaria porcellanea n 1 1 2.
— rubra LH 355.
Uterus, Lage des I 235,
— Tuberkulose des in 771.
Uteruscontraction III 393.
V.
Vaccination III 962, 966,
989, 994.
Vaccinola ni 995.
SACHREGISTER.
1105
Vagina I 235.
Vaginismus 11 175.
Valleix'sclie Druckpunkte
ni 59.
Valvulae mitrales I 230.
Vanillin-Phloroglucin II Gl 5.
Varasdin-Töplitz 1 148.
Varicellae III 956.
— Fiebercurve I 681.
— gangränöse III 958.
Varicellennephritis III 22.
— strophulus III 959.
Variola III 959, 961.
— adynamica III 976.
— Aetiologie III 962.
— afebrilis III 979.
— Anatomie III 984.
— Complicationen III 980.
— confiuens III 975.
— Diagnosis III 987.
— Disposition III 964.
— dysenterica III 982.
— emphysematosalll 958,
980.
— Fieber III 973.
— Fiebercurve I 681.
— hämorrhagica III 975,
976, 986.
— mitigata III 977.
— Mortalität III 990.
— Prognosis III 989.
— Prophylaxis III 992.
— sine exanthemate III
969.
— spuria III 956.
— Symptome HI 966.
— typhosa III 976.
— ventosa III 958.
Variolatiou III 962, 994.
Variolois III 961, 977.
— abortiva III 979.
— localis III 979.
— miliaris III 980.
— pemphigosa III 980.
— siliquosa III 980.
— verrucosa III 980.
Varix III 1003.
Vasculäre Albuminurie I
36.
Vegetarianercur I 297.
Veitstanz I 255.
Vena azygos I 230.
— Cava inferior I 237.
— Cava superior, Compres-
sion der 11 669.
— gastro-lienalis I 235.
Vena mesenterica communis
I 235.
— portae I 234.
- — Krankheiten der III
230.
— saphena III 1003.
Venae brachiocephalicac I
230.
Venaesection I 171.
Venedig I 148, II 426.
Venencollaps, diastolischer I
334.
■ — inspiratorischer I 332.
Venenentzündungen III
1002.
Venenklappeninsufficienzge-
räusch II 49.
Veuenkrankheiten III 1002.
Venennetze bei Tub. pulm.
III 760.
Venenpuls II 51, HI 901.
— centrip etaler 11 42.
— herzsy stolischer II 48.
— positiver I 333, 334, II
48.
— praesystolischerlll 901.
Venenthrombose III 1002.
— Folgen der III 1005.
Venentuberkulose 1002.
Venenundulation II 320.
Venenwandton II 49, HI
326, 787.
VentilpneumothoraxIII 326.
Verbalsuggestion II 147.
Verblutungstod I 53.
Verdauuugsleukocytose II
515.
Verdauungsstörungen im
Säuglingsalter III 1005
Verderame III 175,
Verengerung der Gallenwege
I 705.
— der Pulmonalarterie I
329.
Verfolgungswahn II 680, III
136.
Vergiftungen I 173, 351,
IL 340, III 661.
Verkäsende Bronchopneu-
monie III 732.
Verrücktheit III 132.
— originäre III 135.
— secundäre II 684.
Verschlingung I 574.
Verschluss der Gallenwege
I 705.
Verschollung I 632.
Verschuldungswahn UI 140.
Verstopfung III 1010.
Vertebralpunkt III 806.
Vertigo III 1929.
— estomacholaesolir. 1030.
Verwachsungen pericardiale
III 206.
— peritoneale III 224.
— pleurale lU 243.
Verworrenheit, hallucinato-
rische III 345.
Vesiculäres Athmungsge-
räusch I 135.
Vibices III 354.
Vicariirende liUngenblähung
I 546.
Vichy I 146, 147, 149.
Vigo II 426.
Violinspielerkrampf I 164.
Virchow'scheReactionll 502.
Virus fix n 548.
Vitiligo I 155.
Vollbad II 132.
Voltmer'scheMilchlll 1009.
Volumen pulmonum auctum
I 546.
Volvulus I 574, II 350.
Vomica III 734.
Vomitus III 930, 1030.
— gravidarum 1031.
— nervosus III 1031.
— der Nierenkranken III
1030.
Vorderarmlähmung I 168.
Vorderarmtypus III 342.
Vorderhorn III 391.
Vorderstrang III 391.
Vorderstranggrundbündel
III 392.
Vorkammerscheidewand,De-
fecte der II 56.
Voussure II 318.
W.
Wachscylinder III 769.
Wachsleber II 501.
Wachsmuth'sche Methode
284.
Wachsniere III 85.
Wälzbewegung III 1057.
Wärmeregulirung UI 81.
Wahnideen H 679, III 1060.
Wahnsinn III 132.
— acuter hallucinatorischer
II 347.
Bibl, med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkranklieiten. Bd. III.
70
1106
SACHREGISTER.
Wahnsinn hallucinatorischer
II 363.
— hysterischer II 365.
— katatonischer II 363.
Waldenburg's Apparat III
306.
Wanderleber in 1033.
Wandermilz III 1035. III
AVanderniere III 1037,
165.
Wanderorgane III 1033.
Wanderpneumonie III 259
Wanderrose I 615.
Wangerooge II 425.
Waschmanie lU 1063.
Waschungen, kalte II 134.
Wasser, physiologisch-thera-
peutische Wirkungen
des II 128.
Wasserhauten, Erkrankun-
gen hei III 300.
Wasserbehandlung s.Hi/dro-
thercqne.
Wassercuren I 298.
Wasserkopf II 88.
Wasserpfeifengeräusch III
328, in 788.
Wasserpocken III 956.
Wasserscheu II 539.
Wasserstoff III 325.
Wassersucht II 101.
Wassertrinken II 132.
Weakened heart II 227.
Wechselfieber n 626.
Weihe'sche Methode II 87.
Weilbach I 145.
Weil'sche Krankheit III
1048.
— — Fiebercurve der I
684.
Weinkrämpfe III 1058.
Weir-Mitchell'sche Mastkur
II 454.
Weissblütigkeit II 508.
Weisse Commissur in 391.
Weisse Pneumonie III 275.
Werlhof'sche Krankheit III
1049.
Westphal'sches Zeichen III
506.
Wharton'sche Sülze III 1.
Wiederkäuen ni 401.
Wiesbaden I 145, 149; 149,
11 428.
Wiklungen l 147.
William's Trachealton III
752.
Windpocken III 956.
Winkel'sche Krankheit III 6 .
Wintrich'scher Schallwech-
sel in 752.
Wortblindheit II 525.
Worthallucinationen II 342.
Worttaubheit I 94.
Würmer I 463, II 10.
Wurm III 386.
Wurmfortsatzentzündung
161.
Wurmhaemoptoe I 471.
Wuth, paralytische, rasende,
stille II 543.
Wuthgift ll 240.
Wuthknötchen II 542.
Wuthkrankheit II 539.
X.
Xanthinbaseu I 795.
Xanthinbasendyskrasie II 3.
Xanthinsteine III 27.
Xanthopsie II 207.
Xylol III 997, 999.
Y.
Yellovfever I 750.
z.
Zählapparat von Thoma-
Zeiss I 184, III 333.
Zählung der Blutkörperchen
I 183.
Zahlengedächtnis I 371.
Zahlenzwang . III 1062.
Zahndiarrhoe III 1053.
Zahndur chbruch III 1051.
Zahnen II 412, III 1051.
Zahnfieber III 1052, 1055.
Zahnfleisch bei Scorbut III
456.
Zahnfleischblutungen II 208.
Zahnfleischsaum, Fredericq.
Thompson'scher III
764.
Zahnhusten III 1054.
Zahnknick II 412.
Zahnkrämpfe III 1052.
Zahnpocken III 1054.
Zante II 426.
Zeigerbewegung III 1057.
Zellen, epitheloide im Tu-
berkel III 729.
Zenker'sche Degeneration II
752.
Zerreissung innerer Organe
III 405.
Zerstäuber von Sales-Girons
III 314.
Ziegelarbeiter, Anämie der
II 24.
Ziegenpeter II 744.
Zirbeldrüse, Hyperplasie
der I 745.
Zitterlähmung III 121.
Zittern, hysterisches II 180.
— bei Marasmus senilis III
649.
— bei Morb, Basedowii I
156.
— bei Paralysis agitans III
122.
— bei Sclerosis insularis
multiplex III 444.
Zonen, hysterogene II 175.
Zuchthausscrophulose III
464.
Zuckerausscheidung I 370,
800.
Zu-ckerbestimmung, Appa-
rate zur II 336.
Zuckergussleber III 213,
224.
Zuckerkrankheit I 396.
Zuckungen, fibrilläre II 750.
Zunge bei Gastritis acuta I
712.
— bei Icterus II 207.
Zungenkrampf III 1058.
Zungenlähmung III 1029.
ZwangsbewegungeuIII 1056.
Zwangsempfindungen
1061.
Zwangshandlungen III 1 0 6 3 ,
Zwangsjacke II 641.
Zwangstrieb II 152.
Zwangsvorstellungen III
1060.
Zwerchfell, Lähmung des I
325.
Zwerchfellskrampf I 349,111
1058.
Zwerchfellphänomen II 318,
III 898.
Zwergwuchs III 659.
Zwiewuchs III 365.
Druckfehler- Verzeichnis.
Es ist zu setzen :
Bd. I pag
21, 3. Zeile von oben statt uz richtig zu.
24, 12. ,. .. unten ., salycilicum richtig sallcylicum.
93, 22. „ ,, oben , „ Sr^^ai richtig «Pr^ui.
95, 13. „ „ unten „ j), x, y richtig p, i;, y.
96, 18. „ ,, ., „ Abzeichen richtig Abzeichnen.
607, 19. „ y. oben nach Fetttröpfchen ein Beistrich.
Bd. II pag. 75, 14. Zeile von unten statt 0-1 pro dosi richtig 0,01 pro dosi.
„ ;, 373, 21. .. .. oben ., gtas viginti richtig giittas viginti.
„ „ 622, 4. „ „ unten „ gradeso richtig gerade so.
„ „ 713, 10. „ „ oben „ sowohl richtig so icold.
Bd. III pag
5, 5.
n n
5, 13.
•• r>
6, 3.
11 n
7,* 11.
r. n
7, 19.
T) y>
7, 9.
n T)
674, 11.
j> -n
675, 24.
678, 2.
*
678. 6.
678, 1.
678, 6.
678, 9.
..
680, 15.
680, 17.
681, 6.
..
689, 10.
..
690, 9.
..
690, 11.
..
704, Fig
Zeile von unten statt Allgemeinleide richtig Allgemeinleiden.
,, „ „ n ^"^ Nabel richtig am Nabel.
„ „ „ „ ,,Arterutis" richtig „Arteriitis" .
., „ oben ,, stimmt richtig stimmt hiefür.
„ „ „ „ des Strichpunktes nach ,;ist" ein Beistrich.
„ „ unten „ Küchelchen richtig Kügelchen.
„ „ , j! Aphtae tropicae richtig Aphthae tropicae.
oben .. ,, Leiden von" richtig „Leiden vom".
übermässigen richtig übermässigem.
.. „bei anderen Krankheiten" richtig „ifiirch
andere Krankheit en" .
.. unten „Kranhheit" richtig „Kranl-heit" .
,,pigmentirte'' richtig „Pigmentirte".
.. j,iii^" richtig „eine".
,,emphienlt" richtig „empfiehlt".
,,auf" richtig „auch".
oben ,,sui genesis" richtig „sui generis".
unten „des" richtig „der".
oben „ „Eitererreger" richtig „Eitererregei-n".
.. „so dass" richtig „indem".
1 u. 2 statt „Richard Hubert" richtig „Patil Hilbert".
t^m
^
f^m
k<
^
^f^^S COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES
This book is due on the date indicated below, or at the
^ _. expiration of a definite period after the date of borrowing, -^^
i^^'^^^S t as provided by the rules of the Library or by special ar- lda\w^
^^ rangement with the Librarian in Charge. ^""^ "^^
DATE BORROWED
^K
w^,
v^w
)m
H
^:
CZSd I40)M100
DATE BORROWED
I
..3,«
KX^
»■%5^>
/!/
BihÜithek der «eaainm-hen
B47
bd. 3
^U^c^'^m