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Full text of "Geschichte der bildenden Künste .."

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.  C.  Schruiase 


Geschichte 


bildenden  Künste  im  littelalter. 


Von 


Dr.  Carl  Schnaase. 

Zweite  vermehrte  und  verbesserte  Auflage. 

Dritter  Band. 
Entstehung  und  Ausbildung  des  gothischen  Styis. 


Bearbeitet  vom  Verfasser  unter  Mithülfe 
von  Dr.  Alfred  Wo  1 1  m  a  n  n. 


Düsseldorf. 

Verlagshandlung  von  Julius  Buddeus. 
1872. 


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Vorrede. 


Der  fünfte  Band  meines  Werkes,  dessen  neue  Bearbeitung  ich  hiermit 
■dem  kunsthistorischen  Publikum  vorlege,  hat  keiner  grossen  Aenderungen 
bedurft.  Der  Ideengang  und  die  Resultate  sind  im  Wesentlichen  dieselben 
geblieben  wie  früher;  die  seit  dem  ersten  Erscheinen  dieses  Bandes  (1856) 
gewaltig  angewachsene  Literatur  hat  nur  Bestätigung  und  Erläuterung  dieser 
Resultate  gebracht.  Die  Aufgabe,  welche  ich  mit  der  treuen  und  energischen 
Hülfe  meines  Freundes,  des  Herrn  Prof.  A.  Weltmann,  zu  erfüllen  gesucht 
habe,  bestand  daher  in  sorgsamer  Benutzung  und  Berücksichtigung  der  An- 
schauungen, welche  uns  diese  Literatur  und  eigene  Studien  darboten,  in 
vollständigerer  Aufzählung  und  Beschreibung  der  Monumente,  in  Berichtigung 
einzelner  Irrthümer  und  besserer  Gruppirung  der  Thatsachen.  Am  Stärksten 
war  diese  Vermehrung  des  Materials  in  Beziehung  auf  den  deutschen  Ueber- 
gangsstyl;  die  vielen  provinziellen  Eigenthümlichkeiten ,  welche  ich  in  der 
ersten  Auflage  zum  Theil  nur  andeuten  konnte,  waren  seitdem  Gegenstand 
umfassender  Forschungen  geworden  und  durch  zahlreiche  neue  Publicationen 
vollständig  festgestellt.  Der  meiner  Anordnung  zum  Grunde  liegende  Ge- 
danke, dass  die  Mannigfaltigkeit  dieses  Uebergangsstyles  die  Wirkung  zweier 
sich  gesondert  regender  Triebe,  eines  plastisch  decorativen  und  eines  archi- 
tektonisch constructiven  sei,  war  zwar  durch  diese  neuen  Forschungen  keines- 
weges  widerlegt,  sondern  nur  bestätigt.  Er  konnte  aber  nun  genauer  aus- 
geführt und  durch  etwas  veränderte  Gruppirung  der  Monumente  besser 
dargethan  werden.  Hier  ist  daher  auch  die  stärkste  Aenderung  des  früheren 
Textes  nöthig  gewesen. 

Ich  benutze  diese  Stelle,  um  einige  Irrthümer,  die  sich  in  den  Text 
eingeschlichen  haben  und  erst  nach  der  Vollendung  des  Druckes  bemerkt 
worden  sind,  zu  berichtigen. 

Dazu  gehört  zunächst  die  S.  369  Anm.  1  gemachte  und  S.  426  Anm.  1 
wiederholte  Angabe,  dass  die  Choranlage  von  St.  Bavo  in  Gent  der  der 
-Stiftskirche  in  Xanten  gleiche.     Der  Grundriss  bei  Wiebeking  Taf.  ^'oy  der 


VI  Vorrede. 

mich  zu  dieser  Angabe  verleitete,  ist  unrichtig.  Vgl.  Organ  für  christl.  Kunst 
1856  Nr.  19. 

Der  S.  550  Zeile  11  von  oben  beginnende;  die  Fenster  der  Sainte- 
Cha pelle  zu  Paris  betreffende  Satz  sagt  zu  viel.  Diese  Fenster  befanden  sich 
beim  Beginne  der  Restauration  des  Gebäudes  (1837)  in  sehr  verwahrlostem 
Zustande.  Die  unteren  Scheiben  waren  während  der  Revolution  behufs  der 
Befestigung  von  Actenschränken  herausgenommen  und  zum  Theil  verloren 
oder  in  den  Privatbesitz  übergegangen  (Labarte  Album  Taf.  XCV),  die  oberen 
bei  Reparaturen  so  gedankenlos  zusammengestellt,  dass  selbst  die  Gegen- 
stände und  ihre  Beziehungen  nicht  mehr  verständlich  waren.  Die  ganze 
Glasmalerei  der  Kapelle  erhielt  daher  eine  gründliche  Restauration  und  Er- 
gänzung nach  einem  neuen,  möglichst  im  Geiste  des  13.  Jahrhunderts  ent- 
worfenen Plane,  und  befindet  sich  also  nicht  mehr  im  ursprünglichen  Zu- 
stande. Aber  diese  Herstellung  ist  mit  Vorsicht  und  mit  sorgfältiger  Be- 
nutzung der  zahlreichen  alten  Ueberreste  ausgeführt,  welche  noch  jetzt 
sehr  wohl  erkennbar  sind  und  sich  durch  edeln  Styl  und  durch  wirksame,, 
wenn  auch  oft  kühne  und  leichte  Behandlung  auszeichnen.  Vgl.  Guilhermy 
Itineraire  archeologique  de  Paris  p.  319  und  Viollet-le-Duc.  Dict.  IX.  399. 
410.  428. 

Die  Seite  566  Zeile  1  von  unten  erwähnte  Kirche  Notre-Dame,  von 
deren  Fa^ade  zwei  Statuen  in  die  Gruft  von  Saint-Dlnis  gekommen,  ge- 
hörte nicht  zu  einer  Abtei,  sondern  war  eine  Pfarrkirche  in  einem  Städt- 
chen des  Departement  Seine  und  Oise,  dessen  Name  nicht  Corbeille,  son- 
dern Corbeil  lautet. 

S.  595  Zeile  3  von  oben.  Das  Grabmal  Heinrich's  IV.  in  der  Kreuz- 
kirche zu  Breslau  ist  nicht  in  gebranntem  Thone  gearbeitet,  sondern  aus 
Sandstein  mit  Anfügung  aller  plastisch  hervorragenden  Theile  in  einem 
feinen  weissen  Stuck.  Dies  ist  in  dem  gegenwärtig  erschienenen,  bereits  citirten 
Werke  von  H.  Luchs,  Schlesische  Fürstenbiider,  nachgewiesen,  wo  auch 
ein  andres,  in  gleicher  Weise  ausgeführtes  Monument,  das  des  1301  ge- 
storbenen Herzogs  Bolko  von  Schlesien- Schweidnitz  im  Kloster  Grüssau, 
publicirt  ist. 

Eine  Liste  von  Druckfehlern,  welche  wenigstens  beim  Lesen  Anstoss 
geben  könnten  und  deren  Berichtigung  daher  gewünscht  wird,  folgt  hierbei. 

Wiesbaden  im  November  1872. 

€.  Sehiiaase. 


Druckfehler- Yerzeichniss. 


Seite     56  Zeile     3  von  oben  statt  Nachnichteu  lie*  Nachrichten. 

jedersetis  Hes  jederseits. 
schliesen  lies  schliessen, 
stammmt  lies  stammt. 
Kreuzzeug-e    lies  Kreuzzuge, 
(ilassllüssen  lies  Glasflüssen. 
Fasimile  lies  Facsiraile. 
Jallhundert  lies  Jahrhundert, 
ursprüdlich  lies  ursprüng-lich. 
Stammet  lies  Stammes. 
Stammes  lies  Stamme, 
früheng-lich  lies  friihenglisch. 
t'ranzöische  lies  französische, 
haibreisförmigen  lies  halbkreisförmigen, 
tjedankeu  lies  Gedanke, 
französche  lies  französische. 
mannifachen  lies  mannigfachen. 
könne  lies  können, 
verbreite  lies  verbreitete. 
Benetictinerkirche  lies  Benedictinerkirche. 
Leben  lies  Lebens, 
and  lies  und, 
fanden  lies  handen. 
Rechädigungen  lies  Beschädigungen, 
hineigte  lies  hinneigte, 
das  lies  dass. 
Boppart  lies  Boppard. 
Heiligssprechung  lies  Heiligsprechung, 
iler  Kernes  lies  des  Kernes. 
1539  lies  1339. 

dreizehntenten  lies  dreizehnten. 
Controvorse  lies  Controverse. 
matheniathischen  lies  mathematischen. 
Abeiten  lies  Arbeiten, 
der  lies  der. 

von  einen  lies  von  einem, 
einma  lies  einmal. 

Queurhausarmes  lies  Querhausarmes. 
Pfeile  lies  Pfeiler, 
ihr  lies  ihre. 


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VIII  Druckfehler- Verzeicliniss. 

Seite  482   Zeile    4  von  oben  stall  Gebänden  lies  Gebäuden. 

Schattirang  lies  Schattirung. 


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mirautur  lies  mirantur. 

angestammmten  lies  angestammten, 

enhalten  lies  enthalten. 

lies  lies  Hess. 

gefärbte  lies  gefärbter. 

mumienartige  lies  mumienartigen. 

aus  der  Kirche  der  alten  A.btei  Notre-Dame-de-Cor- 

beille  lies:    von   der  Facade  der  alten   Kirche  Notre 

Dame  zu  Corbeil. 

Schoose  lies  Schoosse. 

entschieneres  lies  entschiedeneres, 

Masse  lies  Maasse. 

Äusserung  lies  Aeusserung, 


Inhalt  des  fünften  Bandes. 


Achtes  Buch.  Die  Zeit  der  Entstehung  und  Ausbildung  des 
gothisclien  Styls.  Ton  der  3Iitte  des  zwölften  bis  gegen 
das  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts. 

Erstes  Kapitel.     Historische  Einleitung.     S.  1. 

Gesteigerte  religiöse  Begeisterung.  S.  2.  Neue  Richtung  der  Frömmig- 
keit. 3.  Die  Hierarchie.  4.  'Die  Scholastik.  5.  Ritterliche  Sitte.  6. 
Einfluss  der  Araber.  8.  Fortschreitende  Reife  der  Charaktere.  10. 
Lebenslust  und  Ascetik.  13.  Wundergläubigkeit  und  Symbolik.  14. 
Lebensweise.  15.  Poesie.  16.  Architektur,  ihr  Verhältniss  zu  den 
geistigen  Elementen  der  Zeit.  20.     Darstellende  Kunst.  23. 

Zweites  Kapitel.  Ausbildung  des  gothischen  Styls  in  Frankreich,  S.  26. 
Bedeutung  des  französischen  Königsthums.  27.  Die  Stellung  der 
nordfranzösischen  Provinzen,  28.  Paris  schon  jetzt  eine  Weltstadt.  29. 
Mischung  der  Provinzialstyle.  30.  Preuilly,  St.  Pere  in  Chartres; 
St.  Martin  des  champs  in  Paris,  St.  Etienne  zu  Beauvais,  32.  Abt 
Suger  in  St,  Denis  bei  Paris,  33.  Eifer  für  kirchliche  Bauten.  37. 
Fagade  der  Kathedrale  von  Chartres.  38.  Gewölbrippen  und  Strebe- 
werk. 40.  Erste  vorbereitende  Stufe  des  gothischen  Styls.  Die 
Kathedrale  von  Noyon.  43.  (Kreuzconchen  in  Frankreich:  Cambray, 
Soissons  u.  a.  47.)  Abteikirche  St.  Germer.  46.  St.  Remy  zu 
Rheims  und  N.  D.  von  Chälons  s.  M.  47»  Klosterkirche  zu  Orbais 
und  St.  Germain  des  Pres  .53.  Die  ersten  frühgothischen  Kathedralen. 
Paris  und  Laon,  55.  Sens.  60.  Senlis.  62.  Ausbildung  des  Thurm- 
baues.  64.  Einfluss  dieser  Kathedralen,  St.  Martin  und  St.  Pierre  au 
Parvis  in  Soissons,  Montier-en-Der,  Longpont,  Ourscamp,  Mantes.  6S. 


X  liiliah   des  fi'mflen  Bandes. 

Weitere  Fortschritte,  Verschwinden  der  Emporkirche.  Kathedrale  zu 
Meaux.  71.  Erfindung  des  Maasswerks.  7.3.  Kathedrale  von  Sois- 
sons.  76.  St.  Yved  in  Braine.  77.  Zweite  Generation  gothischer 
Kathedralen,  Chartres,  Rheims,  Amiens,  Beauvais.  78.  Steigerung  der 
Maasse.  81.  Ausbildung  des  Grundplans.  82.  Kathedrale  von 
Bourges.  87.  Von  Mans.  88.  Weitere  Fortschritte.  Der  kantonirte 
Rundpfeiler.  90.  Kapitale.  91.  Mannigfache  Pfeilerformen,  Troyes, 
Auxerre,  St.  Omer,  Mans,  Bourges.  92.  Herstellung  von  St.  Denis,^ 
Bündelpfeiler.  94.  Die  h.  Kapelle  zu  Paris.  96.  Aehnliche  Bauten 
zu  St.  Germain  des  Pres,  St.  Germer,  St.  Martin  aux  bois.  99.  St. 
Germain- en-Laye.  100.  St.  Martin  des  Champs  zu  Paris.  101.  Aus- 
bildung der  Fa^ade.  Kathedrale  und  St.  Nicaise  zu  Rheims.  102. 
St.  Urbain  zu  Troyes.  108.  Kathedrale  von  Cambray,  Chalons  s.  M. 
Tours,  St.  Julien  zu  Tours.  112.  Kreuzgänge  und  Klostergebäude.  113. 
Schlösser  und  städtische  Gebäude.  114.  Schneller  Betrieb  der 
Bauten.  115.  Princip  der  Ornamentation.  117.  Stellung  der 
Künstler.  118.  Skizzenbuch  des  Villard  de  Honnecourt.  119.  Auf- 
zählung berühmter  Architekten  dieser  Epoche.    123. 

Drittes  Kapitel.     Der  gothische  Styl  in   den  übrigen  Provinzen  Frank- 
reichs und  in  Belgien.     S.  125. 

Normandie.  S.  125.  Romanische  Bauten  bis  um  1183,  Osmoy,  St.  Thomas- 
le-Martyr,  Vallasse.  St.  Julien  bei  Ronen.  125.  Uebergang,  Kapitel- 
saal von  St.  George  in  Bocherville.  126.  Abteikirche  zu  Fecamp  und  Eu. 
127.  Chor  von  St.  Etienne  in  Caen.  128.  Dom  zu  Rouen.  130. 
Mortain,  Louviers,  Lisieux,  S6ez,  Bayeux,  Coutances.  132.  —  Pro- 
vence. Cistercienserbauten  zu  Thorouet,  Sylvacane,  Senauque.  135. 
Anhänglichkeit  an  romanische  Form.  Grenoble,  Vignogoul,  Romans, 
St.  Maximin,  Kathedrale  von  Lyon.  136.  —  Languedoc.  Früheres 
Auftreten  des  gothischen  Styls.  Vallemagne  und  Narbonne.  137. 
Beziers  und  Carcassonne.  138.  —  Auvergne.  Kathedrale  zu  Clermont- 
Ferrand.  140.  —  Romanische  Schweiz.  Kathedralen  zu  Lausanne 
und  zu  Genf.  141.  Kirche  zu  Sitten  u.  a.  142.  —  Bretagne. 
Beauport,  Dol,  St.  Pol-de-Leon.  143.  —  Aquitanien.  Englisch- 
normannischer Einfluss  unter  Heinrich  IL,  Ste  Croix  in  Bordeaux.  145. 
Kathedrale  von  Poitiers.  146.  Angers.  150.  Dorat.  151.  Kathe- 
drale von  Bordeaux  und  von  Limoges.  152.  —  Burgund.  Vezelay, 
Montreal,  Pout-Aubert.  154.  K  D.  zu  Dijon.  155.  —  Lothringen. 
Templerkirche  und  St.  Martin  zu  Metz,  St.  Nicolas  in  Verdun ,  Kathe- 
drale und  St.  Gengoul  in  Toul,  St.  Vincent  in  Metz,  Veseliz,  Pont-ä- 
Mousson.  156.   —  Belgien.       Rhoiiiischer   Styl  an    St.   Servals   und 


Iiitiali  des  fnnfien  Bandes.  XI 

N.  D.  in  Maestricht^  StcCroix  inLütti';h  und  N.  D.  zu  Ruremonde,  158. 
Uebergangssfyl  in  der  Kathedrale  zu  Tournay.  160.  Kirchen  zu 
Tournay,  Gent;,  Brüssel,  Ypern,  Audenaerde.  1('.4.  Klosterkirche  zu 
Villers.  167.  St.  Leonhard  in  I.eau.  16«.  Seit  1240  goth.  Styl. 
Kathedrale  von  Brüssel,  Kirche  zu  Tongern,  Gent ,  Löwen,  Diest^ 
Ypern,  Brügge,  Dinant,  Furnes,  Maestri  cht,  Huy,  Chor  der  Kathedrale 
zu  Tournay.  169.  ff. 

Viertes  Kapitel.     Der  frühgothische  Styl  in  England.    S.  171. 

Decorativer  Reichthum  des  späteren  normannischen  Styls,  Kapitelhaus 
zu  Bristol.  173.  Schlankere  Formen,  Kathedrale  zu  Ely,  Norwich^ 
Oxford.  174.  Anwendung  des  Spitzbogens  in  den  Klosterkirchcö  von 
Kirkstall,  Buildwas,  Fountains,  Byland,  Malmsbury.  175.  Gleichzeitig 
mit  hochsäuligen  norman.  Bauten  (Gloucester,Hereford,  Oxford,  Tewkes- 
bury,  Romsey).  177.  Chorbau  der  Kathedrale  zu  Canterbury  durch 
Wilh.  von  Sens.  180  ff.  Uebergang  zu  gothischer  Formbildung,  Temp- 
lerkirche zu  London,  Vorhalle  zu  Durham,  Kathedrale  von  Chichester 
und  "Winchester,  Abteikirchen  St.  Albans  und  Fountains,  Kathedrale  zu 
LiHcoln  und  Worcester.  185  —  189.  Frtihenglischer  Styl.  Kathe- 
drale von  Salisbury.  190.  Münster  zu  Beverley.  193.  Kirche  zu 
Southwcll,  Kathedrale  von  Wells  und  Rochester,  York,  Lincoln,  Peter- 
borough,  FAy ,  Kirche  zu  Romsey  u.  a.  194  ff.  Abweichender  Styl  von 
Westminster.  196.  Eigenthümlichkeiten  des  frühenglischen  Styls. 
Grundriss.  198.  Fagadenbildung.  199.  Inneres.  203.  Pfeiler.  204. 
Kapitale.  20ö.  Ornamente.  206.  Fenstermaasswerk.  208  ff.  Gewölb- 
formen. Kapitelhäuser  zu  Worcester,  Lichtield,  Salisbury,  York,  Lincoln, 
Westminster  in  London.  211  ff.  Charakteristik  des  früh  englischen 
Styls.  217. 

Fünftes  Kapitel.     Der  deutsche  Uebergangsstyl ;  die  Schulen  decorativer 
Tendenz.     S.  220. 

Anhänglichkeit  an  den  romanischen  Styl  und  deren  Ursachen.  S.  221. 
Si)ätromanischer  Styl  in  Sachsen.  225.  Die  goldene  Pforte  zu  Frei- 
berg. 227.  Arabische  Motive.  Schlossbauten  zu  Gelnhausen,  Münzen- 
berg, Wartburg,  Wimpffen  am  Neckar,  Seligenstadt,  Nürnberg,  Eger, 
Landsberg,  Freiburg  a.  d.  Unstrut.  230.  Die  Michaeliskirche  zu  Hildes- 
heim. 233.  Gandersheim ,  Wunstorf,  Hamersleben,  Königslutter, 
Richenberg,  Aegidienkirche  zu  Nürnberg.  233. 

Gewölbebauten,  Dom  zu  Braunschweig  und  verwandte  Bauten.  234. 
Kirche  zu  Melverode.  236.  Heiningen,  Kloster  Neuwerk  in  Goslar 
u.  a.  238.     Conradsburg.  240.  , 


XH  Inhalt  des  fünften  nandes; 

Rheinischer Uebergangsstyl,  Entstehen  und  Charakteristik'.  2411?. 
Klosterkirche  zu  Knechtsteden ,  Chor  von  St.  Gereon  in  Köhi.  246. 
St.  Martin  und  St.  Apostel  zu  Köln.  247.  Dom  und  St.  Mathias  zu. 
Trier.  Kirchen  zu  Roth  und  Merzig.  251.  St.  Thomas  a.  d.  Kyll.  253. 
Kirche  zu  Heisterbach.  255.  St.  Quirin  zu  Neuss,  Kirche  zu  Sayn, 
St.  Castor  zu  Coblenz,  Lyskirchen,  St.  Maria  im  Kapitol,  St.  Pantaleon 
zu  Köln,  Brauweiler.  257  ff.  St,  Georg  zu  Köln,  Ramersdorf.  259. 
Kobern,  Schlosskapelle  zu  Vianden.  261.  Andernach.  262.  Boppard, 
Bacharach,  Sinzig,  Heimersheim,  Linz,  Erpel,  Münstermaifeld.  263  ff. 
Münster  zu  Bonn.  264.  Kirche  zuSayn,  Gerresheim,  St.  Andreas, 
St.  Apostel,  Sion,  St.  Martin  zu  Köln,  Abteikirche  Rommersdorf.  265  ff. 
St.  Cunibert  in  Köln.  267.  Provinz  Mainz;  Speier,  Dom  und  St.  Paul 
zu  Worms ,  Westchor  zu  Mainz.  268.  Klosterkirchen  zu  Enkenbach 
und  Otterberg.  270.  Kirche  zu  Gelnhausen.  270.  Seligenstadt, 
Pfaffen -Schwabenheim,  St.  Leonhard  zu  Frankfurt,  Kreuzgang  zu 
Aschaffenburg.  272. 

Frühe  Gewölbebauten  im  Elsass,  zu  Gebweiler,  Neuweiler,  Pfaffen- 
heim. 273  ff.  Münster  zu  Strassburg.  277.  Langsameres  Fortschreiten 
in  Schwaben;  Altbreisach,  Petersliausen ,  Basel.  278.  Phantastische 
Sculpturen  in  Schwaben  und  Bayern.  279.  Schottenkirche  zu  Regens- 
burg.   280  ff.     Altenstadt  bei  Schongau.  282. 

Oesterreichische  Provinzen.  283.  Rundbauten  als  Todtenkapellen 
oder  Pfarrkirchen.  284.  Phantastische  Decoration  in  Schöngrabern. 
285.  Prachtportale  in  Wien  u.  a.  a.  0.  286.  Portal  an  St.  Maria 
Magdalena  in  Breslau.  288.  Böhmen.  Kirche  zu  Mühlhausen  bei 
Tabor,  zu  Altbunzlau,  Tepl  u.  a.  289. 

Sechstes  Kapitel.    Der  deutsche  Uebergangsstyl ;  die  Schulen  mehr  con- 
structiver  Richtung.     S.  290. 

Westi)halen.  Gegensatz  gegen  die  Rheinlande.  2-91.  Ausbildung 
der  gewölbten  Basilika.  Boke,  Horste,  Dortmund,  Brakel,  Koes- 
feld  u,  a.  291  ff".  Rechtwinkeliger  Chorschluss ,  Dome  zu  Osnabrück, 
Minden,  Münster.  293.  Ausbildung  der  Hallenkirolie.  294.  Derne, 
St,  Servatius  zu  Münster  u.  a.  295.  St.  Maria  zur  Höhe  und  St.  Thomas 
in  Soest,  Ober-Marsberg,  Münster  zu  Herford  u.  a.  296.  Spitzt>ogigc 
Arcaden  bei  rundb.  Fenstern,  Elsey,  Barsinghausen  u.  a.  297.  De- 
tails. 298.  Dom  zu  Paderborn.  299.  Dom  zu  Bremen.  300.  Nörd- 
liches Deutschland,  Ziegelbauten.  Einfluss  des  Materials  auf 
die  Formbildung.  301.  Volkscharakter.  304.  Kirche  zu  Jerichow.  305 
Dom   und   St.    Nicolai    zu  Brandenburg.    306.     Kirche   zu  Dobrilugk, 


liiliah  de&  lüiifieii  Baoclcs.  XIII 

Treuenbrietzen  und  Arendsee.  307.  Marienkirche  bei  Brandenburg.  309. 
Dom  zu  Ratzeburg,  Gadebusch,  Vietlübbe  u.  a.  310.  Pommern. 
Bergen,  Eldena,  Colbatz,  Oliva.  311. 

Der  Cistercienserorden.  312.  Verfassung  und  Tendenz  des- 
selben. Einfachheit  der  Bauten.  316.  Einflüss  des  frühgothischen 
Styls  auf  ihren  Styl.  317.  Verbreitung  des  Ordens  in  Deutschland.  319. 
Verschiedene  "Weisen  des  Chorschhisses.  320.  Bronnbach  bei  Werth- 
heim.  322.  Choranlage  mit  parallelen  Kapellen  in  Frankreich,  Italien 
und  Deutschland;  Eberbach,  Loccuni,  Zinna.  326  ff.  Rechtwinkeliger 
Chor  mit  zahlreichen  Kapellen.  Riddagshausen.  328.  Ebrach.  330. 
Arnsburg.  331.  Marieufeld,  Marienthal,  St.  Burchard,  Amelunxborn, 
'.  Salem.  332.  Viereckige  Cliorräume,  Heilsbronn,  Roda,  Hayna, 
Pelplin,  Otterberg.  333.  Andere  Formen  des  Chorschlusses.  Lilien- 
feld, Ileisterbach  u,  a.  333  ff.  Einflüss  der  Cistercienser  auf  den 
deutschen  Baustyl.  336. 

Uebergangsbauten  strengerer  Richtung  mit  Gewölben  und  spitz- 
bogigen  Arcaden.  337.  Fritzlar.  339.  Dom  zu  Naumburg.  340 
Mildenfurth.  343.  Dom  zu  Bamberg.  345  ff.  St.  Sebald  zu  Nürn- 
berg. 348.  Münster  zu  Basel.  349.  Neufchatcl,  Zürich,  Chur.  351. 
Gewölbanlagen  in  Oesterreich,  Salzburg,  "Wiener  Neustadt  u.  a.  352. 
Verbreitung  rheinischer  Decoration.  Halberstadt,  Nordhausen,  Mühl- 
hausen, Arnstadt,  Vorhalle  zu  Maulbron^i,  Kapelle  zu  Heilsbronn.  354  ff. 

Siebentes  Kapitel.     Der  deutsche  frühgothische  Styl.     S.  358. 

Der  Dom  zu  Magdeburg.  359.  St.  Georg  zu  Limburg.  361.  verglichen 
mit  der  Kathedrale  von  Noyon.  363.  Kirche  zu  Werden.  364.  St. 
Gereon  zu  Köln.  Die  Liebfrauenkirche  zu  Trier.  365.  verglichen  mit 
St.  Yved  in  Braine.  368.  Kreuzgaug  zu  Trier.  370.  Offenbach  am 
Glan,  Garden,  Münstcrmaifeld,  Hirzenach,  Dominikanerkirche  zu  Coblenz, 
Carmeliterk.  zu  Kreuznach.  371  ff.  St.  Elisabeth  in  Marburg.  373. 
Die  hessischeSchule,  "Wetzlar,  Geisnidda.  377.  Westphalen,  St.Nico- 
laikapelle  zu  Ober-Marsberg,  Jacobikirche  zu  Lippstadt,  Dom  zu  Pader- 
born, Pfarrkirche  zu  Hamm.  377  ff.  Nienburg  a.  d.  Saale.  379. 
Rheinlandc,  lange  Beibehaltung  des  Uebergangsstyls ,  Remagen, 
Schloss  Reichenberg.  380.  Marienstatt.  382.  Allerheiligen.  383. 
Elsass.  Neuweiler,  Ruffach,  Schlettstatt.  384.  Münster  zu  Strass- 
burg  und  Freiburg.  385.  Mauresmünster,  Colmar,  AVeissenburg.  393. 
Der  Dom  zu  Köln,  seine  Geschichte.  394  ff.  Baumeister  des  Chors. 
411  ff.   Vergleichung  mit   den  Kathedralen  von  Araiens  und  von  Beau- 

•;    .    yais.  415.       Kirche  zu  Altenberg.  420,       Dominikaner  und   Minoriten 


XIV  [iilialt  des  fünften   Bandes. 

ZU  Köln.  421.  München-Gladbrch.  422.  Sf.  Victor  in  Xanten.  423. 
Ahrweiler.  424.  Stiftskirche  zu  Oppenheim.  425.  Kathedrale  zu 
Utrecht.  426.  St.  Barbarakapelle  zu  Mainz.  427.  Westphalen. 
Dom  zu  Minden.  428.  Minoritenkirche  zu  Soest.  432.  Sachsen- 
Klosterkirchen  zu  Pforta  und  Heiligenkreuz.  432.  Dom  zu  Magde- 
burg. 433.  Westchor  zu  Naumburg,  Dom  zu  Halberstadt.  434.  zu 
Meissen.  437.  Kreuzgang  des  Doms  zu  Erfurt.  439.  Die  Bettel- 
orden. 440.  Prediger-  und  Barfüsserkirche  zu  Erfurt.  441.  St. 
Aegidienkirclie  zu  Braunschweig.  442.  Schwaben.  St.  Dionysiu?, 
Dominikaner  und  Franciskaner  zu  Esslingen,  Schwäbisch-Hall,  Reut- 
lingen. 443.  Stiftskirche  zu  Wimpfen  im  Thale.  (Opus  francigenum). 
444.  Cistercienserkirclie  zu  Salem.  446.  Franken.  Chorbauten 
zu  Bamberg,  Heilsbronn,  Eichstädt.  448.  Lorenzkirche  zu  Nürn- 
berg. 449.  Bayern.  Regensburg:  alte  Pfarrkirche.  451.  Domini- 
kanerkirchc.  452.  Dom.  453.  Bölimen  und  Mähren.  Agnes- 
kloster in  Prag,  Tischnowisc,  Bartholomäuskirche  zu  Kolin,  Synagoge 
2U  Prag.  455.  Oesterreich.  Langes  Beibehalten  des  romanischen 
Styls  und  vereinzelte  Anwendung  des  gothischen.  Klosterneuburg.  457. 
Die  Länder  des  Ziegelbaues,  Gestaltung  des  gothischen  Styls  unter 
dem  Einflüsse  des  Materials.  458.  Holland.  461  ft'.  Zwischen  Weser 
und  Elbe  Hallenkirchen,  Dom  zu  Verden,  Kirche  zu  Lüneburg.  464. 
Marienkirche  zu  Lübeck.  465.  Mark  Brandenburg.  Frankfurt, 
Lehnin,  Chorin,  Klosterkirche  zu  Berlin.  467  ft".  Schlesien.  Doia- 
chor,  Kreuzkirche ,  St.  Martin  zu  Breslau ,  Schlosskapelle  zu  Ratibor. 
472  fi".  Pommern.  Colbatz,  Cammin,  Stralsund,  Greifswald.  475  tf, 
Rückblick.  476. 

Achtes  Kapitel.     Die  Malerei  in  ihren  verschiedenen  Zweigen.     S.  477. 

Enge  Verbindung  der  darstellenden  Kunst  mit  der  Architektur.  478. 
Verhältniss  zur  Natur;  die  Bet^tiarien.  480.  Vorherrscheud  stylistischo 
Auffassung.  481.  Das  Symbolische  in  neuer  Gestalt.  482.  Die 
Miniaturmalerei.  483.  In  Deutschland  1150—1200.  Hortus 
deliciarum  u.  a.  Evangelienbuch  für  Heinrich  den  Löwen  u.  a.  488. 
Initialen  mit  figürlichen  Darstellungen.  490.  —  1200 — 1250.  Psal- 
terium  aus  Trebnit/,  Mater  verborum  zu  Prag.  491  ff.  Psalterium  des 
Landgrafen  Hermann  u.  a.  493.  Werner  von  Tegernsee  und  Conrad 
von  Scheyern.  495.  Leichtere,  dramatische  Zeichnung  in  poetischen 
Werken.  Tristan  der  Münchener  Bibliothek;  Bilderbibel  des  Welleslaus  in 
Prag.  497.  —  1250 — 1300.  Stylgemässe,  aber  gleichgültigere  Behand- 
lung. 498.  Frankreich.  500.  Gewerblicher  Betrieb  der  Miniatur- 
malerei in  Paris.   501.      Ausbildung  eines  festeren  Styls.   503.      Der 


lulialt  lies  fiiiiftea  Bandes.  XV 

Psalter  des  li.  Ludwig.  503.  England.  505  ff.  Deutsche  Wand- 
Malerei.  507.  Schwarz-Rheindorf.  508.  Brauweiler,  Kapitelsaal. 
510  ft'.  und  Kirche.  512.  Rheinlande,  514  ff.  Soest,  Münster  und  Nico- 
laikapelle. 516.  Methler.  517.  Liebfrauenkirche  zu  Halberstadt.  519. 
Meraleben.  520.  Deckengemälde  zu  Hildesheim.  522.  Dom  zu 
Braunschweig.  523.  Holland,  Kirche  zu  Gorkum.  526.  Süddeutsch- 
land, Forchheim,  Kentheim,  Bamberg,  Regensburg.  527.  Oesterreich. 
Im  Dome  zu  Gurk.  528  ff.  Schweiz.  531.  —  Tafelmalerei  noch 
wenig  geübt.  531  ff".  Einzelne  üeberreste  aus  dieser  Epoche,  besonders 
in  der  Wiesenkirche  zu  Soest.  534.  Teppiche  und  gravirte  Platten. 
536.  Teppiche  zu  Quedlinburg,  Beispiele  antiker  Tradition.  537. 
Wandmalereien  in  England  unter  Heinrich  HL  539.  Französische 
Wandgemälde.  541. 

Glasmalerei.  543.  Wo  ist  sie  erfunden?  544.  Frühe  Ver- 
breitung in  Frankreich.  545.  Üeberreste  des  12.  Jahrhunderts  in 
St.  Denis.  546.  In  Angers  u.  a.  a.  0.  547.  Blüthe  dieses  Kunst- 
zweiges im  13.  Jahrhundert.  548.  Deutschland.  Augsburg.  550. 
St.  Cunibert  in  Köln  u.  a.  551..  England.  554.  Technik  der  da- 
maligen Glasmalerei.  555.  Durchgeführte  Polychromie.  557.  Ihre 
Bedeutung  erklärt  aus  einer  Aeusserung  des  Theophilus.  558.  Fuss- 
böden  mit  historischen  Darstellungen.  560.  Mosaik  in  glasirten 
Ziegeln.  561.  Frankreich  und  England.  563.  Deutschland.  564. 
Die  s.  g.  Labyrinthe.  565. 

Neuntes  Kapitel.     Die  Plastik.    S.  566. 

Frankreich.  Strenger  architektonischer  Styl  in  Chartres,  St, 
Denis  u.  a.  a.  0.  567  ff.  Aufkommen  des  freieren  Styls  am  Anfange 
des  13.  Jahrh.  569.  (Grabsteine,  Fontevrault,  Amiens,  St.  Denis.  570. 
Kirchliche  Sculpturen,  Laon,  N.  D.  von  Paris,  Amiens.  571  ff.  Die 
Zeit  Ludwigs  IX.  St.  Chapelle  zu  Paris,  Kreuzschiffe  zu  Chartres, 
Kathedrale  von  Rheims.  573  ff.  —  Deutschland,  auch  hier  ein 
strenger  Styl.  Georgenchor  zu  Bamberg.  577.  Schottenkirche  zu 
Regensburg  u.  a.  süddeutsche  Sculpturen  strengeren  Styls.  579.  Gal- 
luspforte  am  Münster  zu  Basel;  Freising,  Reichenhall,  Seligenthai,  580. 
Die  sächsische  Schule,  Gernrode,  Kanzel  zu  Wechselburg.  581. 
Goldene  Pforte  zu  Freiberg.  582  ff.  Altar  zu  Wechselburg.  584. 
Eindringen  der  gothischeu  Plastik,  Liebfrauenkirche  zu  Trier.  586. 
Wetzlar  und  Dom  zu  Bamberg.  587.  Standbilder  in  den  Domen  zu 
Naumburg  und  zu  Meissen.  589  ff.  Portale  zu  Münster  und  zu  Pader- 
born.  591.      Münster   zu  Freiburg   und   Strassburg.     Fagade   Erwin's 


XVI  liilialt    des  fiinftcii  Bandes. 

von  Steinbach;  die  Bildnerin  Sabina.  592  ff.  Der  bewegte  Styl  auf 
Grabsteinen.  594. —  England,  plötzlicher Uebergang  aus  stylistischer 
Rohheit  zu  feiner  Behandlung.  597  ff.  Grabsteine  569.  Ritterliche. 
600.  Gräber  der  Westminsterkirche.  601.  Ein  italienischer  Meister. 
6"02.  Grössere  kirchliche  Sculpturen,  Kathedrale  von  Wells.  603. 
Der  Engelchor  zu  Lincoln.  604.  Charakterköpfe  in  decorativer  An- 
wendung. 607. 

Elfenbeinplastik.  —  Erzguss  und  Goldschmiedekunst  vor- 
zugsweise in  Deutschland  und  Lothringen  geübt.  608.  Eherne  Thüren 
von  deutscher  Arbeit  zu  No\gorod  und  Gnesen.  609.  Kronleuchter 
des  Münsters  zu  Aachen  u.  a.  a.  0.  610  ff.  Weihrauchgefässe.  615. 
Taufbecken  zu  Osnabrück,  Hildesheim,  Würzburg.  616  ff.  Email. 
Der  Altaraufsatz  des  Nicolaus  von  Verdun  zu  Klosterneuburg.  619. 
Reliquienschreine,  vorzugsweise  in  Köln  und  am  Niederrhein.  622  ff. 
in  den  Niederlanden  und  in  Nordfrankreich.  624.  Metallarbeiten  und 
Emails  der  Schule  von  Limoges,  627.  Grabmäler  in  England.  629. 
Stylvolle  Schmiedearbeiten  und  Tliürbeschläge.  630. 


Verzeichniss  der  Abbildungen. 


Fig.  Seite 

1.  Inneres     der     Kathedrale      von 
Noyon        45 

2.  Grundriss  des  Chors  von  St.  Remy 

in  Rheims 48 

3.  Choransicht  von  Notre-Dame   zu 

Chälons  sur  Marne  ....  51 
4u.5.  Fenster  aus  derselben  Kirche  52,53. 
6u.7.   Inneres    und    Grundriss    der 

Kathedrale  von  Laon     .     .     .57,  58 

8.  Grundriss  der  Kath.  von  Paris  .  60 

9.  Desgl.  der  Kath.  von  Sens    .     .  61 

10.  Thurm  der  Kath.  von  Laon  .     .  66 

11.  Fenster  v.  St.  Leu  d'Esserent    .  74 

12.  Fenster  aus  der  Ste  Chapelle   zu 

Paris 75 

13.  Grundriss  von  St.  Yved  in  Braine  77 

14.  Grundriss  des  Chors  der  Kathe- 
drale in  Rheims 84 

15.  Grundriss  der  Kath.  von  Amiens  85 

16.  Grundriss    des   Chors   der  Kath. 

von  Chartres 86 

17.  Grundriss  der  Kath.  zu  le  Mans  88 

18.  Pfeiler  der  Kath.  zu  Rheims      .  90 

19.  Desgl.  der  Kath.  zu  Amiens      .  91 
20u.21.  Grundriss  und  Durchnitt  der 

Ste  Chapelle  zu  Paris        .     .     97-98 

22.  Facade  der  Kath.  von  Rheims     .  103 

23.  Portal  derselben  Kirche      .     .     .  105 

24.  Facade  von  St.  Nicaise  zu  Rheims  108 

25.  Grundriss  v.  St.  Etienne  in  Caen  128 


Fig.  Seite 

26.  Aussenansicht  des  Chors  derselben 
Kirche 129 

27.  Grundriss  von  St.  Nazaire  zu  Car- 
cassonne 139 

28    Desgl.  der  Kath.  von  Poitiers      .     147 

29.  Aus  dem  Seitenschiffe  ders.  Kirche     149 

30.  Ansicht  der  Liebfrauenkirche  zu 
Ruremonde 159 

31.  Seitenansicht  der  Kathedrale  von 
Tournay 161 

32.  Inneres  derselben 162 

33u.  34.    Fenster  aus  St.  Jacques  in 

Tournay      164-65 

35.  Facade  von  St.  Quentin  daselbst     165 

36.  Fenster  ausNotre-Dame  de  la Cha- 
pelle zu  Brüssel        166 

37.  Choransicht  von  Notre-Dame  zu 
Audenaerde 167 

38-41.  Durchschnitt  und  Details   der 

Klosterkirche  von  Villers       ,     168-69 

42.  Bogenstellung  von  der  Kath.  von 
Canterbury 173 

43.  Desgl.  von  der  Kath.  von  Oxford     175 

44.  Arcade  aus  der  Klosterkirche  zu 
Malmesbury 176 

45.  Desgl.  aus  der  Kirche  zu  Romsey     178 

46.  Grundriss  der   Kath.  von  Canter- 
bury        183 

47.  Desgleichen   der  Kathedrale  von 
Salisbury 191 


XVIII 


Verzeichniss  der  Abbildungen. 


Fig.  Seite 

48n.49.  Pfeiler  und  Triforium  ders. 

Kirche 192 

50.  Aeusseres  des  Münsters  von  Be- 

verley       193 

.51u.52.  Inneres  und  Triforium  ders. 

Kirche         194-195. 

53.  Triforium    der  Kathedrale    von 
Salisbury       203 

54.  Pfeiler  aus  der  Kathedrale  von 
Lincoln 204 

55.  Kapitälaus  der  Kirche  zu  Romsey     205 

56.  Pfeileraus  derKath.  v.  Salisbury     205 

57.  Sternornamont 206 

58.  Zahnornament 206 

59.  Arcade   aus   dem    Kapitelhause 

von  Salisbury 207 

60.  Fenster  vom  Dome  zu  Halberstadt     208 

61.  Desgl.  der  Kath.  zu  Oxford      .     209 

62.  Desgl.   aus   Merton -College   zu 
Oxfoi-d 210 

63.  Desgl. a.d.  Kapitelhause zuWells     210 

64.  Grundriss  des  Kapiielhauses   zu 
Lichfield 213 

65.  Desgl.   des    Kapitelhauses    von 
Salisbury 214 

66.  Arcade  a.  d.   Kapitelhatise   von 
Salisbury       ...'•..     215 

67.  Die  goldene  Pforte  am  Dome  zu 
Freiberg 229 

68.  Kapital  a.  d.  Kaiserhause  zu  Geln- 
hausen       230 

69u.70.  Grundriss  und  Durchschnitt 

der  Kirche  zu  Melverode      237  u.  238 

71.  Fächerfenster  in  der  Kirche  zu 
Neuss        243 

72.  Basis  a.  d.  Kapelle  zu  Kobern   .     244 

73.  Ringsäule    aus     der    Kirche  zu 
Ramersdorf        244 

74.  Grundriss  der  Apostelkirche  zu 
Köln 250 

75.  Choransicht  derselben       .     .     .     251 

76.  Grundriss  und  Durchschnitt  der 
Kirche  zu  Heisterbach      .     .     .     254 

77.  Grundriss  der  Kirche  zu  Bamers- 
dorf 260 

78.  Giebel  vom  Chore  der  Kirche  zu 
Gelnhausen 271 

79  u.  80.     Grundriss    und    Durch- 


Fig.  Seite 

schnitt  der  Peter  und  Panlskirche 
zu  Neuweiler     ....     275  u.  276 

81.  Aus  dem  Kreuzgange  des  gros- 
sen Münsters  zu  Zürich    .     ,     .     277 

82  u.  83.  Grundriss  u.  Durchschnitt 

von  St.  Servatius  in  Münster     .     295 

84  u.  85.  Würfelkapitäl  und  Bogen- 

fries  aus  Jerichow 302 

86.  Grundriss  der  Marienkirche  bei 
Brandenburg 309 

87.  Durchschnitt  der    Klosterkirche 

von  Bronnbach 323 

88.  Säulenbasis  aus  ders.  Kirche     .     324 

89.  Grundriss   der  Klosterkirche  zu 
Loccum 326 

90  u.  91.  Grundriss  U.Durchschnitt  der 

Klosterkirche  zu  Riddagshausen     328 

92.  Console  aus  derselben  Kirche    .     329 

93.  Grundriss  der  Kirche  zu  Lilien- 
feld       334 

94.  Desgl.  des  Doms  zu  Bamberg         345 

95.  Portal  zu  Heilsbronn   ....     356 

96.  Kapital    aus   dem  Domchore   zu 
Magdebm-g    ....  .     .     359 

97.  Grundriss     des     Chorschlusses 
derselben  Kirche     .     ,  .     .     360 

98.  Durchschnitt   von  St.  Georg  zu 
Limburg 362 

99.  Desgl.  der  Kathedrale  zu  Noyon     363 

100.  Grundriss   der  Liebfrauenkirche 

zu  Trier 366 

101.  Desgl.  von  St.  Yved  in  Braine  .     367 
102  u.  103.  Grundriss  u.  Durchschnitt 

der    Elisabethkirche     zu    Mar- 
burg       373-374 

104.  Chor  der  Kirche   zu  Marienstatt     381 

105.  Grundriss  des  Münsters  zu  Strass- 
burg 387 

106.  Desgl.  desMünsters  zuWeissen- 
burg 393 

107.  Desgl.  der  Kathedrale  v.  Amiens     406 

108.  Desgl.  des  Doms  zu  Köln      .     .     408 
109-111.  Pfeiler,    Kapital,    Fenster- 
giebel derselben  Kirche     .      417-418 

112.  Chorgrundriss   der   Stiftskirche 

zu  Xanten 423 

113.  Desgl.  der  Kirche  zu  Ahrweiler     424 

114.  Fenster  aus  dem  Dome  zu  Minden     430 


Verzeichniss  der  Abbildungen. 


XIX 


Fig.  Seite 

115  u.  116.   Grundriss  ii.  Diirclischnitt 

des  Doms  zu  Halberstadt    .     436-437 
117  u.  118.    Grundriss    der    Kloster- 
kirche zu  Salem 445 

119.  Desgl.derMarienkirche  zuLübeck     466 

120.  Facade  der  Kirche  zu  Chorin     .     470 

121.  Grundriss  der  Klosterk.  zu  Berlin     472 

122.  Miniatur  aus  dem  Hortus  delici- 
arum 487 

123.  Initiale  aus  dem  Psalter  des  Land- 
grafen Hermann 489 

124.  DesgL  aus  der  Mater  verborum     491 

125.  Miniatur    aus    dem  Tristan   der 
Münchner  Bibliothek   ....     496 

126.  Wandgemälde     ans     Schwarz- 
rheindorf 508 

127.  Gewölbmalerei  aus  dem  Kapitel- 

saal zu  Brauweiler      .     .     .     .     512 

128.  Wandgemälde   aus   der  Kirche 
daselbst 513 

129.  Desgl.  aus  St.  Gereon   zu  Köln      514 

130.  Deckenmalerei  aus  St.  Michaelis 

zu  Hildesheim 521 

131.  Wandmalerei  a.  d.  Dome  zu  Gurk     529 


Fig.  Seite 

132.  Tafelbild  aus  der  Wiesenkirche 

zu  Soest ^     535 

133  u.  134.  Statuen  von  der  Westseite 

der  Kathedrale  zu  Chartres  .     .     567 

135.  Statuen   vom  Kreuzschiffe  ders. 

Kathedrale 572 

136  u.  137.  Statuen  von  der  Kathe- 
drale zu  Rheims 576 

138.  Engeiskopf  vom  Georgenchor  zu 
Bamberg 578 

139.  Statue  der  Kaiserin  Kunigunde 

von  demselben  Dome  ....     587 

140.  Statuen  aus  dem  Dome  zu  Naum- 
burg      588 

141.  Statuen  vom  Münster  zu  Strass- 
burg 593 

142.  Grabgestalt  aus  der  Kathedrale 

zu  Gloucester 600 

143.  Gravirte  Platte  vom  Kronleuchter 

in  Aachen 613 

144.  Email  aus  Klosterneuburg  bei 
Wien 620 

145.  Schrein    der   heil,    drei    Könige 

im  Dome  zu  Köln 623 


Achtes  Buch. 

Die  Zeit  der  Entstellung  und  Ausbildung  des  gothischen 

Styls.   Von  der  Mitte  des  zwölften  bis  gegen  das  Ende 

des  dreizehnten  Jahrhimderts. 


Erstes  Kapitel. 

Historisclie  Einleitimg. 

Die  vorige  Epoche  giebt,  so  stürmisch  und  gCAvaltsam  es  im  Einzelnen 
hergehen  mochte,  ein  Bild  geistiger  Ruhe;  die  Anschauungen  und  Anforde- 
rungen, die  Institutionen  und  Verhältnisse  blieben  dieselben,  entwickelten 
sich  nur  allmälig  mit  grösserer  Klarheit.  Die,  welche  wir  jetzt  beginnen, 
zeigt  dagegen  bis  zu  ihrem  Schlüsse  eine  fortwährende  Bewegung;  vielleicht 
kann  kein  anderes  Zeitalter  im  ganzen  Umfange  der  Geschichte  ein  so  jugend- 
lich frisches  Treiben  und  Fortschreiten  aufweisen.  Das  Ritterthum  bildete 
sich  aus  und  gab  feste  gesellige  Verhältnisse ;  bürgerliche  Sitte  und  städtische 
Verfassungen  entstanden,  die  fürstliche  Gewalt  fasste  ihre  Aufgabe  richtiger 
ins  Auge,  das  ganze  complicirte  System  bedingter  Selbstständigkeit  und 
aristokratischer  Gliederung  im  Staate  und  in  der  Kirche  entwickelte  sich. 
Das  Nationalgefühl  erwachte,  die  Landessprachen  tönten  lustig  und  feierten 
ihre  Jugend  in  kühner  Poesie,  die  Scholastik  bemächtigte  sich  nicht  bloss 
der  Schule,  sondern  wirkte  auch  vielfach  auf  das  Leben  ein,  das  religiöse 
Gefühl  wurde  inniger,  hingebender  und  zugleich  klarer.  Eine  Fülle  von 
scheinbar  einander  widersprechenden  Kräften  regte  sich  gleichzeitig,  und 
das  Ganze  bildete  dennoch,  statt  von  ihnen  gesprengt  zu  werden,  einen 
wohlgeordneten  Organismus  mit  allseitiger  Wechselwirkung  seiner  einzelnen 
Theile. 

Fragen  wir  nach  den  Ursachen  und  der  Richtung  dieser  Bewegung,  so 
ist  zunächst  zu  bemerken,  dass  sie  ganz  auf  dem  Grunde  fusste,  der  in  der 
vorigen  Epoche  gelegt  war,  auf  dem  Begriffe  eines  christlichen  Weltregi- 
ments,   einer  sichtbaren,    mit   dem  Staate  in  Wechselwirkung    stehenden 

Schnaase's  Kimstgeseh.    2.  Aufl.    V.  l 


9  Historische  Einleitung. 

Kirche.  Dieser  Begriff  war  in  der  vorigen  Epoche  einseitig,  aber  auch  so 
kräftig  ausgeprägt,  dass  er  für  eine  Reihe  von  Jahrhuudeiteu  als  uner- 
schütterliche Voraussetzung  feststand.  Aus  ihm  ging  nun.  wie  aus  einem 
harten  aber  kräftigen  und  gesunden  Stamme  der  reiche  Schmuck  von  Aesteu 
und  Zweigen  mit  ihren  Blättern  und  lieblichen  Blüthen,  die  weitere  Ent- 
wickelnng  hervor,  imd  rasch,  wie  vom  Hauche  des  Frühlings  angeweht, 
stand  der  ganze  Baum  in  der  vollen  Pracht  seiner  Erscheinung  da.  "Wenn 
man  betrachtet,  in  wie  verhältuissmässig  kui-zer  Zeit  diese  Umgestaltung  des 
öt^entlichen  und  des  imlividuellen  Lebens  auf  allen  Gebieten  vollbracht 
wurde,  muss  man  über  die  Fülle  von  Begeisterung,  Kraft  und  Ausdauer  er- 
staunen, welche  dieser  Zeit  verliehen  war. 

Es  war  nicht  etwa  das  fortreissende  Beispiel  einzelner  gi-osser  Männer, 
auch  nicht  gerade  der  Eintluss  erschütternder  Ereignisse,  was  dieses  Wunder 
bewirkte,  es  war  das  Eeifen  der  inneren  Kraft,  das  plötzlich  auf  allen  Gebieten 
neue  Erscheinungen  her  vortrieb. 

Allerdings  hatten  die  Kreuzzüge  und  ihre  Folgen,  die  nähere  Bekannt- 
schaft der  abendländischen  Völker  mit  der  alten  Civilisatiou  der  Griechen  und 
mit  der  praktischen  Gewandtheit  und  Lebeusklugheit  der  Araber,  die  Eröff- 
nung neuer  Handelswege,  das  durch  die  Geldbedürfnisse  des  Adels  bedingte 
Emporkommen  der  Städte  und  der  fürstlichen  Macht,  wesentlichen  Einfluss  aut" 
die  Umgestaltung  der  bisherigen  Zustände.  Aber  alle  diese  Umstände  wurden 
nur  durch  die  veränderte  Stimmung  der  Völker  so  wichtig,  sie  bildeten  nur 
Beförderungsmittel,  nicht  die  eigentlichen  Ursachen  dieser  Entwickelung. 
Die  Kreuzzüge  selbst  gleichen  den  Aequinoctialstürmen,  welche  dem  Erblühen 
der  Erde  vorhergehen,  es  scheinbar  hervorrufen,  aber  dennoch  nur  die 
Folge  des  Sonnenlaufs  luid  der  dadurch  bewirkten  Erdwärrae  sind,  welche 
nach  diesen  Stürmen,  aber  nicht  vermöge  derselben  in  tausend  Blüthen 
hervorbricht. 

Der  innere  Grund  des  ganzen  Prozesses  war  die  religiöse  Begeistenmg, 
welche,  durch  die  Entwickelung  der  Kirche  genährt,  durch  die  starre  Auf- 
fassung des  Begriffs  der  Tradition  tmd  durch  die  ascetische  Behandlung  des 
Lebens  wie  diu'ch  einen  Winterfrost  bisher  zurückgehalten  aber  auch  er- 
starkt, nun,  durch  die  äusseren  Ereignisse  und  namentlich  auch  durch  die 
Kreuzzüge  von  diesem  Zwange  befreit,  ihre  Flügel  mächtig  regte.  Die  Völker 
machten  die  Erfahrimg,  dass  auch  im  weltlichen  Kleide  ein  christliches,  für 
die  Sache  des  Glaubens  und  der  Kirche  thätiges  Wirken  möglich  sei,  und 
diese  Erfahi'ung  gab  ihnen  den  Autrieb,  sich  auf  allen  Gebieten  des  Lebens 
freier  zu  bewegen.  Ein  Gefühl  erfüllte  sie,  ähnlich  dem  der  ersten  Liebe; 
die  Welt  erschien  ihnen,  obgleich  dieselbe  und  von  demselben  Standpunkte 
aus  betrachtet,  in  verändertem  Lichte,  sie  traten  ihr  mit  unbestimmtem, 
aber  hoffnimgsvoUem  Verlangen   entgegen,    sie  waren  sich  bewusst,  nach 


Bewegeude  Ursachen.     Kirchliche  Verhähoisse.  3 

«iuem  höhereu,  jedes  Opfers  würdigeu  Gute  zu  ringen,  und  erlaugten  da- 
durch den  Muth  und  die  Ausdauer,  auch  das  Schwerste  zu  wagen.  Diesem 
geistigen  Streben  kamen  denn  auch,  nach  dem  in  der  "Weltgeschichte  stets 
erkennbaren  "Walten  der  Vorsehung,  die  äusseren  Umstände  begünstigend 
entgegen  und  gabeu  Erfolge,  die  zu  neuen  Schritten  ermuthigten. 

Obgleich  der  Grund  dieser  umgestaltenden  Thätigkeit  ein  einiger  war, 
äusserte  sie  sich  doch  in  zwei  verschiedenen  Richtungen  und  Formen,  in  der 
des  abstracteu,  kalten  und  reflectirenden  Verstandes  und  in  der  des  über- 
schwänglichen  Gefühls.  Allerdings  sind  bei  allen  concreten  Erscheinungen 
beide  Kräfte  wirksam,  aber  gewöhnlich  so,  dass  die  eiue  oder  die  audere 
überwiegt  und  den  Lebensäusserungen  ihi'en  Charakter  giebt.  Hier  dagegen 
finden  wir  beide  gleich  thätig  und  in  einzelnen  Erscheinungen  das  Gefübl, 
in  anderen  den  abstractesteu  Verstand  vorwaltend,  oft  beide  zugleich  in 
äusserster  Schärfe  ausgeprägt.  Offenbar  ist  dies  die  "Wii-kung  des  grossen 
Gegensatzes  der  Tradition  gegen  die  Naturki-aft  der  Völker,  der  sich  nun  iu 
veränderter,  minder  schi-offer  Gestalt  zeigte.  Die  Tradition  trat  nicht  niehr 
als  unerörtertes  Gesetz  auf,  sondern  liess  sich  in  verständigen  Argumenten 
vernehmen,  das  Xaturelement  entwickelte  sich  zu  feineren  Gefühlen.  Die 
verständige  Thätigkeit  zeigte  sich  am  reinsten  iu  der  scholastischen  "Wissen- 
schaft, und  wirkte  hauptsächlich  auf  die  Umgestaltung  der  kirchlichen  und 
politischen  Verhältnisse  ein,  das  Gefühlsleben  bildete  das  Ritterthum  und 
gab  dem  Volksleben  in  allen  Beziehungen  eine  veränderte  Gestalt.  Die 
Keime  beider  liegen  allerdings  schon  iu  der  vorigen  Epoche,  ihre  Blüthe 
und  ihre  Einwirkung  auf  das  Gesammtleben  der  Zeit  gehört  aber  der  gegen- 
wärtigen an. 

Betrachten  wir  zunächst  die  kirchlichen  Verhältnisse,  so  war  schon 
die  Entstehung  der  scholastischen  "Wissenschaft  ein  folgenschweres  Ereiguiss_ 
Es  lag  in  ihr  eine  uubewusste  Protestation  gegen  die  unbedingte  Herrschaft 
der  Tradition;  mau  wollte  den  Glauben  erobern,  ihn  nicht  mehr  in  der  Form 
des  Buchstabens,  sondern  mit  innerem  Verständniss  besitzen.  Der  Eifer, 
mit  welchem  die  Schüler  den  Hörsälen  zuströmten,  beweist,  dass  man  die 
Wissenschaft  in  diesem  Sinne  auffasste,  dass  diesem  geistigen  Streben  ein 
Bedürfniss  des  Gefühls  zum  Grunde  lag.  In  der  That  war  die  Frömmigkeit 
zwar  nicht  eine  geringere,  aber  wohl  eine  andere  geworden,  als  iu  der  vori- 
gen Epoche.  Sie  begnügte  sich  nicht  mehr  mit  blinder  Unterwerfung  unter 
das  Gesetz  der  Kirche,  sie  war  inbrünstiger,  selbstthätiger,  trat  in  wäi'meren, 
persüülicheu  Aeusseruugeu  hervor,  strebte  sich  dem  Heihgeu  zu  nähern.  Sie 
blieb  wundergläubig  und  ^vundersüchtig,  aber  sie  verlangte  Wunder  anderer 
Art,  begreiflichere  und  aumuthigere.  Phantasie  uud  Poesie  drangen  mehr 
in  die  Gebiete  des  Glaubens  ein;  die  Vergangenheit  trat  zurück,  die  Sage 
5chloss  sich  an  die  Gegenwart  an.     Die  Kirche  musste  dieser  schwärmeri- 


4  Historische  Einleitung. 

sehen  Erregung  nachgeben;  ihre  Glieder  waren  selbst  davon  ergriffen;  sie 
musste  subjectivere  Aeussernngen  der  Frömmigkeit  gestatten,  sich  ihnen 
anbequemen,  neuen  Anforderungen  genügen,  anderen  Heiligen  den  Vorrang 
einräumen.  Der  Mariencultus,  freilich  schon  seit  Jahrhunderten  in  steigen- 
der Bedeutung,  wiu'de  immer  mehr  vorherrschend,  man  dachte  sich  die 
Mutter  Gottes  doch  fast  in  der  Weise  einer  edeln  ritterlichen  Frau,  milde 
und  nachsichtig,  fern  von  der  unerbittlichen  Strenge  der  älteren  Kirche,  auch 
weltlichen  Empfindungen,  die  nicht  ohne  Eitelkeit  und  Sünde  sein  konnten,, 
schonende  Berücksichtigung  gewährend^).  Die  ritterlichen  Heiligen  erhielten 
immer  zahlreichere  Altäre;  die  Feste  wurden  vermehrt  und  mit  grösserem 
Prunk  gefeiert,  die  Dogmatik  blieb  nicht  mehr  dieselbe,  das  Wunder  musste 
der  Gegenwart  näher  gebracht,  die  sühnende  Kraft  zugänglicher  werden. 
Die  Lehre  von  der  Transsubstantiation,  die  bei  ihrer  ersten  Aufstellung  im 
neunten  Jahrhundert  wenig  Anklang  gefunden  hatte,  ging  jetzt  in  das  Volks- 
bewusstsein  über;  die  Scholastik  gab  ihr  den  Namen,  ein  lateranensisches 
Concil  unter  Innocenz  HI.  die  kirchliche  Bestätigung.  Die  Lehre  vom  Ab- 
lass,  früher  von  den  Theologen  gemissbilligt  oder  beschränkt,  wurde  durch 
die  grossen  Scholastiker  Albertus  magnus  und  Thomas  von  Aquino  geregelt 
und  zum  System  erhoben. 

Besonders  aber  wurde  die  Stellung  der  Hierarchie  eine  andere.  Zu- 
nächst schien  sie  zu  gewinnen.  Indem  die  Nationen  sich  ausbildeten  und 
mächtige  Königreiche  entstanden,  war  sie  gegen  das  Uebergewicht  der 
Kaiser  mehr  als  bisher  gesichert.  Sie  konnte  als  Vermittlerin  und  Richterin 
zwischen  den  grossen  weltlichen  Mächten  auftreten,  sie  erlangte  dadurch 
das  Recht  und  gewissermaassen  die  Pflicht,  sich  auch  mit  den  Zeichen  welt- 
licher Macht  zu  umgeben.  Es  war  ihre  glänzendste  aber  freilich  nicht  mehr 
ihre  grossartigste  Zeit.  Sie  musste  sich  auf  die  Wirklichkeit,  auf  weltliche 
Händel  und  rechtliche  Deductionen  einlassen,  konnte  die  Reinheit  und  Con- 
sequenz  des  Hildebrandinischen  Systems  nicht  bewahren,  eine  unbedingte,, 
auch  die  weltlichen  Gebiete  umfassende  Herrschaft  nicht  mehr  in  Anspruch 
nehmen.     Sie  musste  theilen.  konnte  der  Lehre  von  zwei  auf  Erden  walten- 


1)  Wie  sehr  diese  Auffassung  nicht  bloss  iu  ritterlichen  Kreisen,  sondern  selbst 
im  Kloster  herrschte,  beweisen  die  überhaupt  höchst  lehrreichen  und  anziehenden  Dia- 
loge des  Caesarius  von  Heisterbach  (ed.  Strange  1851).  Der  strenge  Novizenlehrer 
nimmt  keinen  Anstand,  seinem  Schüler  zu  erzählen,  wie  die  heilige  Jungfrau  (Dist.  7, 
cap.  38,  Vol.  n,  p.  49)  für  einen  edeln  Ritter,  der,  um  die  Messe  zu  hören,  den  An- 
fang des  Turniers  versäumt,  in  den  Schranken  aufgetreten  sei,  und  in  seiner  Gestalt 
Siege  erkämpft  habe,  wie  sie  ferner  (daselbst  cap,  34)  die  Stelle  einer  entlaufenen 
Nonne  im  Kloster  vertreten,  bis  diese  bussfertig  zurückkehrt,  wie  sie  endlich  den 
von  sündhafter  Liebe  entzündeten  Ritter  durch  ihre  Schönheit  und  durch  ihren  Knss 
geheilt  habe  (daselbst  cap.  .82). 


Veränderte  Stellung  der  Hierarchie.  5 

den  Schwertern  nicht  anhaltend  widersprechen.  Auch  die  Fürsten  waren 
besser  berathen,  wussten  die  Consequenzen  ihrer  von  Gottes  Gnaden  stam- 
menden Gewalt  besser  zu  ziehen,  hatten  die  Völker  oft  auf  ihrer  Seite. 
Selbst  der  heilige  Ludwig  unterwarf  die  über  ihn  verhängte  Excommunica- 
tion  dem  Spruche  seiner  Richter,  und  einzelne  Städte  hielten  sich  berechtigt, 
päpstlichen  Aussprüchen  Anerkennung  und  Folgeleistung  zu  versagen  ^).  Der 
Kampf  weltlicher  und  geistlicher  Herrschaft  währte  daher  noch  fort,  ent- 
brannte heftiger  wie  je,  aber  er  bewegte  sich  in  festen  Bahnen,  vermochte 
nicht  mehr  die  Gemüther  zu  verwirren.  Es  handelte  sich  nicht  mehr  um  die 
Allgewalt  der  einen  oder  der  andern  Macht,  sondern  um  die  Grenzen  beider; 
man  stritt  nicht  mehr  über  allgemeine  Begriffe,  sondern  über  bestimmte 
Hechte;  man  stützte  sich  auf  Urkunden  und  Präcedentien.  Und  ebenso 
verhielt  es  sich  in  staatsrechtlicher  Beziehung.  Das  Einzelne  war  noch,  viel- 
fach dunkel  und  uugewiss,  aber  die  allgemeinen  Begriffe  des  Lehnsstaates, 
der  städtischen  Freiheiten,  der  königlichen  Gewalt  standen  fest,  man  hatte 
Analogien  und  urkundliche  Entscheiduugsquellen.  Alle  Verhältnisse  begannen 
sich  zu  ordnen.  Ueberall  war  man  aus  der  Sphäre  des  Unbedingten  und  Theo- 
retischen auf  den  festen  Boden  des  W^irklichen  und  Ausführbaren  gelangt. 

Bei  allem  diesem  war  denn  die  Scholastik  höchst  wichtig.  Die 
Uebung  im  Distinguiren,  im  Umgrenzen  und  Feststellen  von  Begriffen,  welche 
sie  an  schwierigen  Glaubenslehren  erlangt  hatte,  machte  sie  höchst  geeignet, 
das  Chaos  rechtlicher  Ansprüche  zu  ordnen.  Sie  führte  daher  wie  in  der 
Theologie  so  im  öffentlichen  Leben  das  Wort  und  blieb  auch  den  Spitzfindig- 
keiten ritterlicher  Courtoisie  nicht  fern,  so  dass  auf  der  Oberfläche  des 
Lebens,  in  Staat  und  Wissenschaft,  in  rechtlichen  und  staatlichen  Verhält- 
nissen, in  der  Schule  und  in  vornehmen  Kreisen  der  scharfe  Ton  scholasti- 
scher Dialektik  herrschte. 

Dies  abstracto  Element  erforderte  und  erhielt  dann  aber  sein  Gegen- 
gewicht durch  die  Natürlichkeit  der  Sitte  und  durch  die  Wärme  und  Frische 
des  Gefühls,  welche  sich  im  Volke  und  bei  den  höheren  Ständen,  in  reli- 
giöser Beziehung  wie  in  der  Freude  des  Genusses  geltend  machte.  Das 
Leben  war  noch  keinesweges  milde  und  geebnet.  Die  ritterliche  Sitte 
musste  manche  Härten  gestatten  und  war  jedenfalls  ausser  Stande,  die 
rohen  Gewohnheiten,  welche  seit  Jahrhunderten  bestanden,  zu  vertilgen 
und  die  Ausbrüche  der  Leidenschaft  und  Begierde  zu  bändigen.  Selbst 
in  der  höchsten  Sphäre,  an  den  Höfen  der  Könige,  unter  Staatsmän- 
nern und  Kirchenfürsten,  geht  es  noch  oft  her  wie  in  den  Kreisen 
roherer  Stände  oder  halbgebildeter  Jugend.     Aus  unbedachten  oder  über- 


1)  Zürich  (Joh.   V.  Müller,  Schw.  G.   Bd.  I,   Kap.  16,  S.  373),  Parma  (v.  Raumer's 
Hoheiistaufen  III,  341)  und  sonst  häufig. 


ß  Historische  Einleitung. 

müthigen  Worten,  aus  iiberschwänglichen  Aeusserungen  des  Gefühls  entstehe» 
Missverständnisse  und  Unschicklichkeiten,  die  sofort  von  der  andern  Seite 
in  gleicher  Weise  erwiedert  werden,  und  bei  dem  allseitigen  Mangel  an 
Selbstbeherrschung  und  Klarheit  schnell  zu  aufgeregten  Scenen,  zum  blutigen 
Streite  oder  auch  zu  Thränen  und  gewaltsamen  Ausbrüchen  wärmeren  Ge- 
fühls führen. 

Allein  diese  jugendlichen  Schwächen  wurden  durch  die  Vorzüge  der 
Jugend  aufgewogen.  Die  Welt  war  mehr  als  je  begeisterungsfähig  und  von 
grossen  Ideen  bewegt;  die  kleinlichen  Rücksichten  des  bürgerlichen  Lebens, 
die  conventioneile  Lüge  angelernter  Formen,  der  geregelte,  kalte  Egoismus, 
den  die  Civilisation  begünstigt,  kamen  noch  nicht  auf;  das  Wort  entsprang 
noch  aus  dem  Herzen,  wenn  nicht  aus  der  tiefsten  bleibenden  Wahrheit, 
doch  aus  der  Stimmung  des  Moments.  Liebe  und  Hass,  Beständigkeit  und 
Wankelmuth,  Kraft  und  Milde  traten,  wo  sie  vorhanden  waren,  unverkenn- 
bar ans  Licht.  Selbst  die  tragischen  Ereignisse,  zu  welchen  die  leiden- 
schaftlichen Verirrungen  führten,  dienten  dazu,  die  Tiefen  der  menschlichen 
Natur  zu  erschliessen  und  das  Mitgefühl  wach  zu  erhalten.  Es  herrschte 
eine  poetische  Stimmung,  welche  den  wirklichen  Ereignissen  für  die  Mit- 
lebenden, wie  für  uns  Entfernte,  den  Reiz  der  Dichtung  verlieh. 

In  anderen  Zeiten  stehen  die  poetischen  Elemente  in  einem  Gegensatze 
zu  den  Regeln  gesetzlicher  Ordnung,  oder  suchen  sich  doch  ihnen  zu  ent- 
ziehen. Hier  dienten  gerade  die  Institute  höherer  Gesittung  zur  Entwicke- 
lung  des  poetischen  Sinnes.  Das  Ritterthum,  ungeachtet  seiner  aristokrati- 
schen Absonderung  von  den  unter  ihm  stehenden  Ständen,  gab  doch  wieder 
Motive,  welche  die  Unterschiede  aufhoben  und  ausglichen.  Es  beruhete 
seinem  Gedanken  nach  auf  einer  Erhebung  über  äusserliche  Rücksichten. 
Macht,  Reichthum  und  alle  Gaben  des  Glückes  sollten  moralischen  Vorzügen 
nachstehen,  ein  gemeinsames  Band  des  Gelübdes  verschiedene  Stufen  des 
Ranges  umfassen.  Die  Fürsten,  die  über  Land  und  Leute  geboten,  die  Be- 
sitzer ausgedehnter  Güter  gehörten  mit  den  vermögenslosen  Söhnen  ritter- 
bürtiger  Häuser,  welche  Dienste  suchend  umherzogen,  zu  demselben  Stande, 
erkannten  sich  als  gleichberechtigt  mit  ihnen  an,  hatten  wenigstens  gleiche 
Pflichten.  In  Beziehung  auf  diese  war  sogar  der  Arme  im  Vortheil;  der 
Fürst,  den  politische  Verhältnisse  banden,  der  reiche  Erbe,  der  seine  Güter 
zu  bewahren  und  zu  vermehren  bedacht  sein  musste,  konnte  sich  den  An- 
forderungen der  Ehre  und  des  Ruhmes  nicht  so  unbedingt  hingeben,  wie  der 
einfache  Rittersmann,  dessen  ganze  Habe  in  seinem  Ross,  seinen  Waifen 
und  seinem  Namen  bestand.  Dieser  hatte  dadurch  Gelegenheit,  sich  jenem 
gleichzustellen,  ihn  an  Ruhm  zu  übertreffen  und  den  Werth  jener  sittlichen 
Anforderungen  durch  Wort  und  That  zu  steigern. 

Vor  Allem  äusserte  sich  die  poetische  Richtung  des  Ritterthums  in  der 


Ritterliche  Sitte.     Idealität  der  Liebe.  7 

gesteigerten  Verehrung  der  Frauen  und  in  der  idealen  Auffassung  der  Liebe, 
die  mit  dem  Anfange  dieser  Epoche  begann  cder  doch  allgemeiner  wurde. 
An  die  Stelle  der  leidenschaftlichen  Begierde,  welche  in  der  vorigen  Epoche 
zum  Frauenraube  und  zu  anderen  stürmischen  Ereignissen  geführt  hatte, 
trat  jetzt  eine  Ansicht,  welche  die  Frauen  wie  höhere  Wesen,  die  Liebe  als 
unwiderstehliche  Macht,  als  höchste  Blüthe  und  Zierde  des  Lebens,  als  wür- 
digsten Gegenstand  des  Denkens  und  Dichtens  betrachteto.  Zwar  übte  diese 
Ansicht  keineswegs  einen  tiefen  und  bleibenden  Einfluss  auf  die  Gestaltung 
fester  sittlicher  Verhältnisse;  die  Ehen  wurden  nach  wie  vor  mehr  nach 
äusseren  Rücksichten,  als  nach  den  Bedürfnissen  der  Herzen  geschlossen, 
sie  wurden  nicht  unglücklicher,  aber  auch  nicht  inniger  und  reiner  als  zuvor. 
Aber  dies  schwächte  die  Bedeutung  der  Liebe  nicht,  diente  vielmehr  dazu, 
ihr  einen  Schein  höherer  Idealität  zu  verleihen.  Die  ganze  ritterliche  Welt 
verhielt  sich  wie  erregte  Jünglinge,  für  welche  die  Liebe  an  und  für  sich 
und  ohne  Hinblick  auf  die  Ehe  einen  Gegenstand  der  Begeisterung  bildet, 
deren  Leidenschaft  durch  den  Widerspruch,  welchen  die  Wirklichkeit  ihr 
entgegensetzt,  nur  zur  höchsen  Gluth  gesteigert  w-ird.  Und  diese  Steigerung 
war  für  jetzt  noch  wirkliche  Wahrheit,  kein  Scheingefühl,  nicht  blosse  Cour- 
toisie. Die  tragischen  Geschichten,  welche  seitdem  so  viele  Herzen  gerührt 
haben  und  bis  auf  unsere  Tage  im  Liede  nachklingen,  beruhen  meistens  auf 
wirklichen  Begebenheiten  dieser  Tage.  Jetzt  fasste  Jaufre  Rudel  für  die 
nie  gesehene  Gräfin  von  Tripolis  eine  glühende  Leidenschaft,  die  ihn  er- 
kranken machte  und  zu  Schiffe  trieb,  um  zu  ihren  Füssen  Sehnsucht  und 
Leben  auszubauchen;  jetzt  gab  die  Eifersucht  dem  Herrn  vonFayel  die  rohe 
Grausamkeit  ein,  welche  die  keusch  verborgene  Flamme  seiner  Gattin  zum 
tödtlichen  Ausbruche  brachte^).  Mag  auch  die  Sage  in  diesen  Fällen  den 
wirklichen  Hergang  ausgeschmückt  und  entstellt  haben,  so  ist  Abälard's 
Geschichte  streng  historische  Wahrheit,  und  Heloise,  die  gelehrteste  Frau 
nicht  bloss  ihres  Jahrhunderts,  spricht  in  den  strengen  Worten  klassischer 
Latinität  eine  Entschlossenheit  der  Leidenschaft  aus,  welche  selbst  die 
Grenzen  der  Weiblichkeit  überschreitet-). 

Wie  sehr  hatte  sich  die  Welt  im  Laufe  von  etwa  fünfzig  Jahren  ver- 
ändert. Was  vor  den  Kreuzzügen  noch  als  Frevel  aufgefasst,  ja  durch  die 
Strenge  des  entgegenstehenden  Gebots  wirklich  zur  Verzweiflung  und  zum 


1)  Jaufre  Rudel,  Prinz  von  Blaya ,  1140  — 1170.  Guillem  von  Cabestaing,  dessen 
Geschichte  die  Quelle  der  Sage  vom  Castellan  von  Coucy  zu  sein  scheint,  starb  zwi- 
schen 1180 — 1196.     Diez,  Leben  und  Werke  der  Troubadours,  S.  52  und  77. 

-)  In  einem  ihrer  Briefe  sagt  sie:  Deum  festem  invoco,  si  me  Augustus  nniverso 
praesidens  mundo  matrimonii  honore  dignaretur,  totumque  mihi  orbem  confirmaret  in 
perpetuum  praesidendum,  carins  mihi  et  dignins  videretur  tua  dici  meretrix  quam 
illius  imperatrix. 


g  Historische  Einleitung-. 

Frevel  gesteigert  worden  wäre,  hatte  jetzt  einen  Ansi^ruch  auf  Schönheit 
oder  doch  auf  Entschuldigung  und  Theilnahme.  Man  darf  diese  poetische 
Stimmung  nicht  aus  vereinzelten  Ursachen  erklären;  sie  entstand  durch  die 
ganze  Lage  der  Dinge,  als  ein  nothwendiges  Glied  des  Entwickelungsganges 
der  Völker,  sie  erhielt  von  allen  Seiten  Anregung  und  Nahrung. 

Es  ist  wahr,  dass  schon  die  äussere  Geschichte  seit  den  Kreuzztigen 
eine  hochpoetische  war;  mit  ihrer  kühneu  Begeisterung,  mit  allen  Episoden 
von  Glück  und  Unglück  der  Einzelnen,  mit  der  reichen  Scenerie  orien- 
talischer Länder  mussteu  sie  die  Phantasie  im  höchsten  Grade  reizen.  Allein 
diese  äusseren  Ereignisse  erzeugten  jene  poetische  Stimmung  nicht,  sie  gingen 
vielmehr  aus  derselben  hervor,  und  auch  die  Rückwirkung,  welche  sie  auf 
die  Gemüther  ausübten,  war  durch  die  Empfänglichkeit  derselben  bedingt. 
Eine  alternde  Welt,  welche  jene  kühnen,  aber  schlecht  vorbereiteten  Züge 
mit  Kopfschütteln,  den  Enthusiasmus  mit  Zweifeln  betrachtet  hätte,  wäre 
auch  durch  diese  Ereignisse  nicht  fortgerissen  worden. 

Man  hat  ferner  manche  Elemente  dieser  poetischen  Stimmung,  die 
Lust  an  Abenteuern  und  selbst  die  Auffassung  der  Liebe,  aus  der  Berüh- 
rung der  christlichen  Ritter  mit  den  Arabern  erklären  und  von  diesen  her- 
leiten wollen.  In  der  That  war  das  Beispiel  dieser  feurigen  Orientalen  nicht 
ohne  Einfluss  auf  das  Abendland,  dieser  Einfluss  war  selbst  bei  weitem  be- 
deutender als  der,  welchen  byzantinisches  Wesen  jemals  gewonnen  hatte. 
Die  Byzantiner  erschienen,  obgleich  Christen,  verächtlich  und  hassenswertb, 
die  Araber,  obgleich  Ungläubige,  nöthigten  Achtung  und  selbst  Neigung  ab. 
Ihr  Geist  war  dem  germanischen  verwandt,  freiheitsliebend,  aufopferungs- 
fähig, ritterlich;  ihre  poetische  Richtung  hatte  Vieles  mit  der,  die  sich  im 
Abendlande  auszubilden  begann,  gemein;  ihre  Religiosität  beruhete  auf  Ge- 
danken, die  dem  Christenthume  entlehnt,  und  auf  orientalischen  Anschau- 
ungen, die  den  hebräischen  Ueberlieferungen  verwandt  waren.  Dabei 
aber  hatten  sie  bei  geringerer  Tiefe  des  Gemüths  eiue  grössere  Eleganz 
der  Sitte  und  eine  schon  weiter  vorgeschrittene  Civilisation  als  die  Abend- 
länder. Diese  konnten  daher  ihren  ungläubigen  Gegnern  Anerkennung  nicht 
versagen  und  mussten  ihren  Vorzügen  nachstreben.  Sehr  tief  war  aber 
dennoch  dieser  Einfluss  nicht,  wir  können  ihm  weder  eine  wesentliche  För- 
derung, noch  eine  Hemmung  der  bereits  begonnenen  Entwickelung  zu- 
schreiben. Allerdings  nahmen  die  im  Orient  geborenen  Nachkommen  der 
Kreuzfahrer,  theils  durch  das  Beispiel  der  Araber,  theils  durch  das  ver- 
führerische Klima  bestimmt,  orientalische  Sitten  an,  aber  die  Erfahrung 
zeigte  alsbald  die  Unvereinbarkeit  derselben  mit  dem  abendländischen 
Charakter;  sie  wurden  weichlich,  charakterschwach  und  hinterlistig,  und 
waren  den  nachfolgenden  Kreuzfahrern  verhasst  und  verächtlich.  Nur  ein- 
zelne Aeusserlichkeiten  der  Tracht  und  der  häuslichen  Bequemlichkeit  oder 


Einfluss  der  Araber.  9 

auch  polizeiliche  Einrichtungen  ^)  gingen  bleibend  in  das  Abendland  über,  aber 
ohne  tiefereu  Einfluss  zu  üben.  Ebenso  gestaltete  es  sich  auf  wissenschaft- 
lichem Boden.  In  der  Medicin,  der  Mathematik  und  anderen  Fachwissen- 
schaften waren  die  Araber  eine  Zeitlang  die  Lehrer  der  Christen,  aber  die 
Scholastik,  obgleich  sie  die  arabischen  Schriften  nicht  unbeachtet  Hess  und 
durch  sie  mit  einigen  Werken  griechischer  Philosophen  bekannt  wurde,  ging 
doch  ihren  selbstständigen  Weg.  In  der  Poesie  können  wir  den  Umfang 
dieses  Einflusses  sehr  genau  ermessen.  Die  ritterlichen  Dichter  sind  keines- 
wegs intolerant,  sie  nehmen  nicht  Anstand  einzelne  Heiden  in  ehrenwerther 
Gestalt  auftreten  zu  lassen,  sie  mischen  statt  der  Gnomen  und  Elfen  der 
nordischen  Fabelwelt  Feen  und  Zauberer  ein,  sie  haben  endlich  den  schlich- 
ten, strengen  Ton  der  altern  abendländischen  Dichtungen  verlassen  und  eine 
Neigung  zum  Uebertriebenen,  W^eichlichen  und  Schwülstigen  angenommen, 
welche  einigermaassen  an  den  Orient  erinnert.  Allein  sie  haben  kein  orien- 
talisches Gedicht,  nicht  einmal  aus  denselben  entlehnte  Stofie  oder  Gestalten 
übernommen'-),  und  jene  Neigung  zum  Uebertriebenen  und  Sentimentalen 
findet  sich  in  der  abendländischen  Sitte  von  selbst  und  zwar  schon  sehr 
frühe  und  neben  den  Zügen  sehr  primitiver  Naivetät  und  selbst  Derbheit. 
Schon  am  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  wird  es  gerügt,  dass  die  Damen 
die  rothe  Farbe  der  Wangen  als  bäuerisch  betrachten,  dass  sie  fasten,  um 
bleich  zu  werden,  dass  sie  dies  als  die  Farbe  der  Liebenden  bezeichnen^). 
Und  diese  Sentimentalität  wurde  nicht  durch  arabische  Vorbilder,  sondern 
vielmehr  durch  recht  christliche  und  abendländische  erzeugt.  Die  klöster- 
lichen Vorstellungen  hatten  den  wesentlichsten  Einfluss  anf  die  Gestaltung 
der  ritterlichen  Sitte;  der  edelste  der  weltlichen  Stände  wetteiferte  mit  dem 
geistlichen,  die  Courtoisie  wurde  eine  Regel  wie  die  der  geistlichen  Orden^ 


^)  So  waren  z.  B.  die  Araber  die  Erfinder  des  Passwesens,  das  von  ihnen  auf  die 
abendländischen  Fürsten  überging.  Im  Vertrage  zwischen  Richard  Löwenherz  und 
Saladin  wurde  namentlich  bestimmt,  dass  nur  solche  Pilger  in  Jerusalem  zugelassen 
werden  sollten,  welche  Briefe  des  Königs  oder  seines  Stellvertreters  bei  sich  führten 
(qui  suas  literas  haberent  vel  comitis  Henrici). 

-)  Die  didaktischen  Eriählungen  und  Märchen  des  Orients,  die  allerdings  in  die 
abendländische  Literatur  übergingen,  kamen  mehr  in  den  Gebrauch  des  Volkes  als 
der  höheren  Stände  und  hatten  anf  die  ritterliche  Sitte  keinen  Einfluss.  Auch  ist  ihr 
Inhalt  überwiegend  ein  rein  menschlicher,  der  nur  den  Sinn  für  Erfahrung  und  Lebens- 
klugheit  anregte,  ohne  neue  Elemente  herbeizuführen. 

3)  Es  ist  der  Engländer  Alexander  Neckam  oder  Nequam  (7  1215),  bei  dem  wir 
diese  Rüge  finden: 

Altera  jejunal  mense,  minuitque  cruörem 

Et  prorsus  quare  palleat  ipsa  facit. 
Nam  quae  non  pallet  sibi  rusticaquaeque  videiur, 
Hie  decet,  hie  color  est  verus  amantis  ait. 


JQ  Historische  Einleitung. 

die  Liebe  eine  Verehrung,  welche  ihren  Maassstab  und  Ton  von  der  inbrün- 
stigen Frömmigkeit  entlehnte,  der  Spiritualismus  des  Klosterlebens  führte 
auch  im  gesellschaftlichen  Leben  dahin,  dass  man  die  einfache  Natürlichkeit 
verschmähte  und  sich  in  künstlicher  Steigerung  gefiel.  Der  so  oft  wieder- 
kehrende Irrthum,  das  Ungewöhnliche  und  Unnatürliche  für  vornehm  zu 
halten,  findet  sich  schon  jetzt. 

Allein  noch  waren  die  gesunden  Elemente  zu  kräftig,  um  dieser  falschen 
Richtung  tiefern  Einfluss  zu  gestatten.  Es  lag  denn  doch  in  dieser  Weich- 
lichkeit ein  zu  schroffer  Gegensatz  gegen  die  Festigkeit  und  Beharrlichkeit 
der  Heiligen  und  Kirchenfürsten,  gegen  die  ruhige,  männliche  Kraft  des 
germanischen  Charakters,  gegen  den  Ernst  des  Kampfes,  der  noch  fortge- 
setzt wurde,  gegen  die  logische  Gründlichkeit,  die  aus  den  Hörsälen  der 
Scholastiker  mehr  und  mehr  in  das  Leben  überging.  In  der  That  bildete 
jene  weiche  Sentimentalität  nur  eine  Seite  der  Entwickelung,  und  neben  ihr 
trat,  besonders  in  der  ersten  Hälfte  der  Epoche,  in  allen  ernsten  und  recht- 
lichen Beziehungen  noch  eine  grosse  Schroffheit  und  selbst  Härte  hervor. 
Die  Extreme  standen  auf  dem  sittlichen  Gebiete  nahe  neben  einander.  Aber 
eben  dadurch  entstand  eine  grosse  Mannigfaltigkeit  und  allmälig,  je  mehr  im 
Laufe  der  Zeit  diese  beiden  widerstrebenden  Elemente  verschmolzen,  eine  be- 
wundernswürdige Kraft  und  Schönheit  der  hervorragenden  Charaktere.  Diese 
Epoche  gewährt  uns  daher  auch  in  dieser  Beziehung  ein  Bild  des  Fort- 
schrittes; wir  können  es  an  den  hervorragenden  Gestalten  der  Geschichte 
beobachten,  wie  die  Charakterbildung  allmälig  zu  grösserer  Reife  gedeihet. 

Schon  am  Anfange  dieser  Epoche  finden  wir  bei  den  weltlichen  Leitern 
der  politischen  Verhältnisse  nicht  mehr  jenes  unsichere  Schwanken,  wie 
früher,  aber  sie  bleiben  sich  denn  doch  noch  selten  treu  und  verfahren 
selbst  bei  wohlbegründeten  Ansprüchen  mit  Härte  und  Gewaltsamkeit.  Dies 
zeigt  sich  besonders  bei  Briten  und  Franzosen;  ihre  Könige  Heinrich  IL 
und  Philipp  August  führen  die  Rechte  ihres  weltlichen  Berufs  mit  eiser- 
ner Consequenz  und  selbstbewusster  Kühnheit  durch,  verschmähen  aber  auch 
kein  Mittel,  und  verrathen  noch  die  frühere  Rohheit  der  Gesinnung.  Milder, 
gehaltener,  würdiger  ist  schon  die  Gestalt  des  grossen  Hohenstaufen, 
Friedrichs  L;  auch  er  scheut  zwar  die  äusserste,  selbst  grausamste  Strenge 
nicht,  aber  er  wendet  sie  nur  da  an,  wo  die  Härte  seiner  Gegner  ihm  einen 
politischen  Grund  giebt,  nicht  aus  blinder  Leidenschaft.  Es  geht  sogar  ein 
Zug  von  Gemüthlichkeit  und  Weichheit  durch  sein  Wesen.  Die  Kontraste 
treten  grell  hervor,  wenn  der  Zerstörer  Mailands  vor  seinem  mächtigen  Va- 
sallen, Heinrich  dem  Löwen,  fussfällig  bittet.  An  Richard  Löwenherz 
sehen  wir  die  höchste  Steigerung  ritterlicher  Bravour,  aber  er  sucht  seinen 
Ruhm  nur  in  der  Kraft  des  Armes,  nicht  in  edler  Sitte,  seine  Habsucht  und 
Gewaltthätigkeit  äussert  sich  in  unverschleierter  Rohheit. 


Fortschreitende  Reife  der  Charaktere.  IJ 

Mit  dem  Beginne  des  dreizehnten  Jahrhunderts  finden  wir  uns  in  einer 
milderen  Atmosphäre.  Der  üeberrest  des  Gewaltsamen  und  Starren,  der 
den  Helden  des  vorigen  Jahrhunderts  noch  anhaftete,  verschwindet  nun 
auch;  man  handelt  nicht  bloss  nach  verständiger  Ueberlegung,  sondern  mit 
Leichtigkeit  und  Sicherheit.  Die  Grenzen  des  Erlaubten  und  Verbotenen 
sind  bereits  besser  festgestellt,  die  Sitten  ausgebildet.  Man  begnügt  sich 
nicht  damit,  das  Nützliche  und  Richtige  zu  thun,  sondern  fordert  auch  eine 
würdige  und  anständige  Form.  Auch  jetzt  noch  fehlt  es  nicht  an  Härten 
und  Uebergriflfen,  aber  sie  tragen  nicht  mehr  den  Stempel  des  Unsichern,. 
Leidenschaftlichen,  man  berücksichtigt  die  Anforderungen  der  Mensehlich- 
ksit  und  der  Sitte  auch  da,  wo  man  sie  verletzt,  man  will  von  der  Welt 
verstanden  und  beurtheilt  werden.  Die  wissenschaftlichen  und  poetischen 
Elemente  sind  in  das  Leben  eingedrungen  und  geben,  verbunden  mit  der 
noch  immer  vorherrschenden  Jugendlichkeit,  den  Thaten  den  Ausdruck  ge- 
nialer Kühnheit.  Eine  hervorragende,  charakteristische  Gestalt  dieser  Zeit 
ist  Friedrich  H.,  ein  Fürst  von  durchdachten  Planen,  das  Staatsleben 
schon  in  allen  Beziehungen  überblickend,  einsichtiger  Gesetzgeber,  für  Wis- 
senschaft und  Kunst  empfänglich,  dabei  aber  ein  wahrer  Ritter,  die  Welt- 
händel wie  kühne  Abenteuer  durchkämpfend,  prachtliebend,  geistreich,  von 
Sängern  umgeben,  auf  den  Ruhm  edler  Sitte  Anspruch  machend  und  selbst 
den  eines  Meisters  in  der  nobeln  Passion  der  Falkenjagd  nicht  verschmähend. 
Sein  grosser  Gegner,  Innocenz  HL,  ist  ihm,  so  viel  es  die  Verschiedenheit 
ihrer  Stellung  gestattet,  ganz  ebenbürtig,  klug,  kühn  und  prachtliebend  wie 
Friedrich,  gelehrt,  ein  Meister  scholastischer  Kunst  und  symbolischer  Deu- 
tung, auf  theoretischem  Gebiete  ebenso  gross  wie  auf  politischem,  in  seinen 
Ansprüchen  über  das  Maass  des  Richtigen  und  Ausführbaren  hinausgehend, 
aber  dennoch  im  Ganzen  im  guten  Glauben  seines  Rechts,  nicht  unzugäng- 
lich für  Gegengründe.  Eine  schönere  Erscheinung  auf  geistlichem  Gebiete 
ist  freilich  der  Bürgerssohn  von  Assisi,  der  heilige  Franciscus,  aber  auch 
er  ist  ganz  diesem  Zeitalter  angehörig  und  charakteristisch  für  dasselbe. 
Seine  Frömmigkeit,  die  tiefste  und  innigste,  hat  sich  dennoch  von  der  Auto- 
rität losgei'issen,  seine  Opposition  gegen  den  Reichthum  der  Kirche  athmet 
den  demokratischen  Geist  des  aufkommenden  Bürgerthums  und  wird  mit 
ritterlicher  Kühnheit  durchgeführt,  und  seine  schwärmerische  Liebe,  ob- 
gleich der  Armuth  Christi  als  seiner  Braut  gewidmet,  hat  eine  innere  Ver- 
wandtschaft mit  der  weltlichen  Leidenschaft  des  Troubadours.  Weniger 
genial,  aber  nicht  weniger  liebenswürdig  als  dieser  Apostel  der  Armuth  ist 
sein  Genosse  in  den  Schaaren  der  Heiligen,  Ludwig  IX.  von  Frankreich. 
Der  sorgfältigste  Beobachter  aller  kirchlichen  Vorschriften,  ein  Vorbild  tiefer^ 
demüthiger  Frömmigkeit  und  christlicher  Tugend,  strenge  gegen  sich  selbst^ 
nachsichtig  gegen  Andere,  zärtlicher  Sohn  und  Gatte,  treuer  Freund,  ist  er 


J2  Historische  Einleitung. 

zugleich  ein  kräftiger  Fürst  und  mannhafter  Ritter,  gerechter,  aber  auch,  wenn 
es  sein  muss,  strenger  Richter  seiner  Unterthanen,  tapferer,  wenn  auch  un- 
glücklicher Streiter  gegen  die  Ungläubigen,  ein  gehorsamer  Sohn  der  Kirche 
und  dennoch  wieder  unerschütterlich  fest,  wenn  es  gilt,  die  Rechte  seiner 
Krone  und  seines  Landes  gegen  die  Ansprüche  der  Hierarchie  zu  vertreten. 

Wenn  in  diesen  grossen  und  edeln  Gestalten  die  jugendliche  Frische 
des  Zeitalters  allmälig  mehr  und  mehr  zu  männlicher  Kraft  erstarkt,  so  zeigt 
die  Geschichte  freilich  auch  die  Kehrseite  dieses  Bildes.  An  die  Stelle  der 
früheren  Rohheit  ist  jetzt  eine  fast  raffinirte  Bosheit  getreten,  auch  das 
Böse  hat  System  und  äussert  sich  mit  einer  frechen  Genialität.  Das  stärkste 
Beispiel  finden  wir  auf  italienischem  Boden,  in  dem  Tyrannen  von  Padua, 
dem  berüchtigten  Ezzelin  von  Romano,  dessen  Klugheit  und  Kühnheit  mit 
seiner  Ruchlosigkeit  gleiches  Maass  hielt.  Aber  alle  Länder,  besonders 
auch  Deutschland,  waren  voll  von  solchen  kleinen  Tyrannen,  welche  den 
ritterlichen  Muth  nur  in  Räubereien  und  Gewaltthaten  zeigten  und  sich  dafür 
durch  äussere  Kirchenbussen  mit  dem  Himmel  abfinden  zu  können  glaub- 
ten^). Allein  selbst  diese  gesteigerte  Anmaassung  und  Bosheit  giebt  einen 
Beweis  für  den  idealen  und  kräftigen  Charakter  dieser  Epoche.  Es  war 
eben  eine  Zeit,  welche  alles  auf  die  Spitze  trieb;  die  Verbindung  des  scho- 
lastischen Elements  abstracter  Consequenz  mit  der  Jugendkraft  der  Völker 
erzeugte  die  Neigung  und  den  Muth,  jede  Anlage  und  Richtung  einseitig  und 
schroff  auszubilden.  Es  entsteht  dadurch  eine  plastische  Anschaulichkeit  der 
Charaktere  und  eine  Mannigfaltigkeit  der  Gestaltungen,  welche  der  Geschichte 
den  höchsten  Reiz  verleiht. 

Nicht  bloss  unter  den  hervorragenden  Gestalten,  sondern  in  allen  Krei- 
sen des  Volks  standen  die  schärfsten  Gegensätze  im  Ganzen  wie  im  Einzelnen 
neben  einander.  Das  Leben  schmückte  sich  mit  der  sinnlichsten  Farben- 
pracht, alle  Stände  wetteiferten  in  rauschenden  Genüssen.  Kampfeslust  und 
Minnedienst  erhielten  die  ritterlichen  Kreise  in  beständiger  Bewegung,  Un- 
ternehmungsgeist, Kraftgefühl  und  Reichthum  trieben  die  Städter  an,  mit 
ihnen  zu  wetteifern  und  sie  im  üppigen  Genüsse  zu  überbieten.  Selbst  das 
Landvolk  feierte  seine  Feste  mit  rauschender  Musik  und  Reigentänzen,  beim 
Becher  und  in  derben  Gelagen,  und  die  Weltgeistlichkeit,  im  Besitze  reicher 
Pfründen,  in  steter  Berührung  mit  allen  Klassen  des  Volks,  konnte  oft  den 
Lockungen  der  Sinnlichkeit  nicht  widerstehen  und  gab  dem  strengeren  Be- 
obachter vielfaches  Aergerniss.  Daneben  stand  aber  auch  die  klösterliche 
Ascetik  in  vollster  Blüthe;  der  strenge  Orden  der  Cislercienser  verbreitete 


^)  Der  schon  erwähnte  Cäsar  von  Heisterijach  eifert  gegen  mehrere  derselben, 
gegen  Landgraf  Ludwig  den  Eiserneu  von  Hessen  (Dist.  I.  c.  27.  34.  XII.  2),  den 
■Grafen  Wilhehn  von  Jülich  (XH.  5)  und  Andere.     Er  nennt  sie  ausdrücklich  Tyrannen. 


Lebenslust  und  Ascetik.  13- 

sich  mit  imglaublicher  Schnelligkeit.  Zahllose  Jünger  strömten  zu  den  ein- 
samen Thälern,  in  denen  seine  Klöster  aufstiegen^  und  wetteiferten  in  Ent- 
sagung und  Kasteiung;  Bussprediger  durchzogen  die  Städte,  Einsiedler  flohen- 
aus  dem  geräuschvollen  Treiben  in  Berge  und  Einöden,  zarte  Frauen  büss- 
ten  ihre  Sünden  in  härtester  Abtödtung.  Und  dieselben  Ursachen,  welche 
den  Charakteren  jene  Entschiedenheit  gaben,  bewirkten  auch  plötzliche  Be- 
kehrungen und  Uebergänge;  ein  Augenblick,  ein  flüchtiges  Wort,  ein  Gleich- 
niss  gab  den  leicht  erregbaren  Gemüthern  eine  andere  Richtung,  welche  sie 
mit  derselben  Energie  verfolgten,  wie  ihr  bisheriges  Treiben.  Wie  reich 
war  das  Leben  an  anziehenden  Zügen  und  Ereignissen,  wie  viel  Stoff  bot  es 
dem  aufmerksamen  Beobachter!  Schon  aus  Geschichtschreibern  und  Dich- 
tern können  wir  auf  diese  bunte  Vielgestaltigkeit  des  Lebens  schliessen: 
aber  anschaulicher  und  zuverlässiger  wird  sie  uns  iu  manchen  bescheideneren 
Aufzeichnungen  vorgeführt,  von  denen  ich  vorzugsweise  die  schon  wiederholt 
von  mir  angeführten  Dialoge  des  Cisterciensers  Caesarius  von  Heisterbach 
nennen  will.  Der  Verfasser,  Novizenmeister  des  Klosters,  beabsichtigt  in 
diesem  um  1220  geschriebenen  Buche  nur  die  Belehrung  der  jüngeren 
Brüder  für  ihren  klösterlichen  Beruf.  Aber  er  belegt  jeden  Satz,  jede  Di- 
stinction  mit  Beispielen  und  zwar  nicht  mit  erfundenen  oder  aus  dem  Schatze 
der  Legenden  oder  alter  Geschichten  entnommenen,  sondern  mit  selbst  er- 
fahrenen oder  ihm  berichteten  aus  der  jüngsten  Vergangenheit,  meist  aus 
seiner  Nähe,  aus  den  Städten  und  Klöstern  des  Rheinlandes,  von  deutschen 
oder  höchstens  französischen  Fürsten  und  Grossen;  er  nennt  gewöhnlich  die 
handelnden  Personen,  er  oder  sein  Gewährsmann  hat  sie  selbst  gekannt;  er 
versichert  nur  Wahres  berichten  zu  wollen^).  Dass  er  dennoch  auch  bei 
dieser  Beschränkung  so  Aiel  Anziehendes,  so  viele  bald  romantische,  bald 
lehrreiche,  bald  auch  komische  Hergänge  zu  erzählen  hat,  ist  ein  Beweis 
theils  der  Lebensfiüle  und  Thatkraft  dieser  Zeit,  theils  aber  auch  der  ver- 
breiteten Neigung  zum  Erzählen,  durch  welche  solche  Beobachtungen  von 
Ort  zu  Ort  verbreitet  wurden  und  auch  in  die  Zelle  des  Mönchs  drangen. 

Allerdings  nehmen  unter  seinen  Geschichten  die  Wunder  eine  grosse 
Stelle  ein,  und  zwar  oft  Wunder,  bei  denen  nicht  bloss  unsere  Kritik,  son- 
dern auch  unsere  Moral  Bedenken  findet,  weil  sich  die  Himmelsmächte  all- 
zuweit zu  menschlichen  Ansichten  und  Schwächen  herabzulassen  scheinen. 
Allein  auch  diese  Wundergläubigkeit  ist  ein  charakteristischer,  mit  den  Vor- 
zügen der  Zeit  zusammenhängender  Zug.     Man  mag  in  ihr  ein  Zeichen  des 


^)  Ich  benutze  diese  Gelegenheit,  um  auf  die  kleine  aber  iuhaiireiche  Schrift  von 
Alexander  Kaufmann ,  Caesarius  von  Heisterbach,  ein  Beitrag  zur  Culturgeschichie  des 
12.  und  13.  Jahrh.  Köln,  1862,  aufmerksam  zu  machen,  welche  mit  Gelehrsamkeit  und- 
poetischer  Anschaidichkeit  die  interessantesten  Resultate  aus  dem  Buche  des  Caesarius- 
zusammenstellt  und  ein  Sittengemälde  seiner  Zeit  »iebt. 


^A  Historische  Einleilung. 

Leiclitsinnes  erblicken,  welcher  vermeintlich  höhere  Erscheinungen  ohne  den 
erforderlichen  Ernst  der  Prüfung  aufnimmt,  eine  Aeusserung  der  Sinnlich- 
keit, welche  äussere  Zeichen  fordert,  die  Folge  einer  unklaren  Religiosität, 
weiche  die  auch  zum  Verständniss  der  Offenbarung  unentbehrliche  Kennt- 
niss  der  wirklichen,  gottgeschaffenen  Natur  verschmäht  oder  vernachlässigt. 
Aber  sie  hängt  auch  mit  den  besten  Eigenthümlichkeiten  des  Zeitalters  zu- 
sammen, mit  der  überwiegend  frommen  Stimmung,  welche  nur  von  höheren 
Dingen  wissen  will  und  alles  Andere  dahingestellt  sein  lässt,  mit  der  gläu- 
bigen Gesinnung,  welche  nur  von  oben  Hülfe  erwartet,  mit  der  Wärme, 
welche  die  heiligen  Gegenstände  stets  in  der  Erinnerung  hat,  mit  der  Kraft 
der  Phantasie,  welche  das  Erhofl'te  oder  Gefürchtete  wirklich  zu  sehen 
glaubt.  Die  Wundergläubigkeit  nimmt  im  gemeinen  Bewusstsein  dieselbe 
Stelle  ein,  wie  die  symbolische  Weltauffassung,  welche  ich  früher  als  die 
Blüthe  mittelalterlichen  Gedankens  geschildert  habe,  in  der  Wissenschaft. 
Beide  beruhen  auf  dem  erwachenden  Gefühle  für  die  Natur  bei  noch  unge- 
schwächtem und  ausschliesslichem  Glauben  an  die  aus  der  Offenbarung  her- 
geleitete kirchliche  Tradition,  beide  wollen  den  Einklang  zwischen  den  That- 
sachen  der  Wirklichkeit  und  der  göttlichen  Weltregierung  herstellen.  Sie 
unterscheiden  sich  nur,  indem  diese  auf  das  Allgemeine  gerichtet,  den  blei- 
benden, tieferen  Zusammenhang,  die  Siiiegelung  des  göttlichen  Wesens  in 
der  Natur,  zu  schauen  strebt,  jene  am  Einzelnen  haftend  ein  i)lützliches, 
sinnliches  Eingreifen  der  höheren  Mächte  in  den  Weltlauf  voraussetzt.  Beide 
beruhen  auf  einer  tieferen  Wahrheit;  denn  gewiss  sind  Spuren  des  göttlichen 
Geistes  in  den  allgemeinen  Einrichtungen  der  Natur  und  göttliche  Fügungen 
in  den  menschlichen  Schicksalen  vorhanden.  Sie  gestalten  diese  Wahrheit 
allerdings  sinnlich  und  einseitig,  aber  um  so  lebendiger.  Sie  lassen  sich 
nicht  Zeit,  Erfahrungen  über  die  wirkliche  Beschaffenheit  der  Natur  und 
über  die  Wirksamkeit  des  göttlichen  Einflusses  zu  sammeln,  aber  sie  werden 
auch  durch  diese  Arbeit  nicht  gehemmt,  verlieren  sich  nicht  im  Einzelnen, 
sondern  fassen  die  wesentlichen  Züge  mit  frischem  Blicke,  wenn  auch  nicht 
ohne  subjective  Willkür  auf.  Sie  gerathen  dabei  in  Irrthümer,  aber  diese 
Irrthümer  sind  entschuldbar  und  unvermeidlich,  weil  der  Augenblick  drängt, 
weil  man  zum  täglichen  Handeln  eine  Vorstellung  von  dem  Verhältnisse 
göttlicher  und  menschlicher  Dinge  haben  muss,  weil  man  das  langsame 
Reifen  der  Erfahrung  nicht  abwarten  kann.  Die  Fehler,  die  wir  zugestehen 
müssen,  sind  wiederum  Fehler  der  Jugend,  und  werden  durch  die  Vorzüge 
der  Jugend  aufgewogen.  Denn  derselbe  feste  Glaube,  welcher  voreilig  Zeichen 
und  Wunder  annahm,  gab  auch  den  festen  Boden  für  die  Ausführung  kräf- 
tiger Thaten,  für  die  Entwickelung  freier  und  mannigfaltiger  Charaktere, 
für  genossenschaftliches  Wirken.  Man  grübelte  und  zweifelte  nicht,  hielt 
sich  nicht  bei  dem  Untergeordneten  und  Zufälligen  auf,  sondern  griff"  kühn 


Wunderglaubigkeit  und  Symbolik.  —  Einfache  Lebensweise.  15 

und  ohne  Aufenthalt  nach  dem* Höchsten.  Jene  Nichtbeachtung  der  Natur, 
die  bei  beschränkten  Personen  zu  thörichter  und  schädlicher  Leichtgläubig- 
keit ausarten  konnte,  gewährte  edeln  Gemüthern  eine  beneidenswerthe,  ge- 
wissermaassen  ktiustlerische  Unbefangenheit,  welche  der  gestaltenden  Kraft 
ethischer  Motive  günstig  war. 

Es  bleibt  mir  noch  eine  Seite  des  Lebens  zu  berühren,  die  materielle, 
und  da  ist  es  merkwürdig,  dass  diese  in  allen  geistigen  Beziehungen  so  rüstig 
fortschreitende  Epoche  in  Beziehung  auf  Tracht  und  Lebensweise  im  Wesent- 
lichen die  alte  Sitte  beibehielt.  Zwar  eifern  auch  jetzt  noch  die  strengeren 
Moralisten  und  selbst  polizeiliche  Vorschriften  gegen  den  Kleiderluxus,  aber 
wir  finden  nicht,  dass  bedeutende  Veränderungen  eintraten.  Die  Rüstung 
war  noch  so  schwer,  dass  man  sie  Verwundeten  nicht  so  bald  wieder  an- 
legen konnte,  dass  sie,  wie  Joinville  bei  einem  ihn  selbst  betreffenden  Vor- 
falle erzählt,  nicht  gestattete,  das  Schwert  rasch  zu  ziehen.  Es  scheint 
sogar,  dass  die  strenge,  religiöse  Sitte  des  Eitterthums  auf  eine  Verein- 
fachung der  Trachten  führte;  wenigstens  verschwinden  auf  den  Monumenten 
die  verzierten  Ränder  der  Kleider  und  wir  sehen  durchweg  schlichte,  in 
graden  Falten  herabfallende  Gewänder.  Erst  nach  der  Mitte  des  dreizehn- 
ten Jahrhunderts  kommen  wieder  reichere  Verzierungen  vor;  Joinville  be- 
merkt, indem  er  die  in  seinen  späteren  Tagen  aufkommende  grössere  Klei- 
derpracht rügt,  dass  er  auf  dem  ganzen  Kreuzzuge  Ludwigs  IX.  keine 
Stickerei  an  Kleidern  oder  Sätteln  gesehen  habe.  Erst  jetzt  erfand  man 
auch  technische  Mittel,  die  Kettenharnische  leichter  und  bequemer  zu  machen, 
und  es  wurde  nun  allgemeine  Sitte,  ein  leichtes  Oberkleid,  an  dem  man  auch 
wohl  schon  das  Wappenzeichen  anbrachte,  über  der  Rüstung  zu  tragen. 
Auch  die  Frauentracht  war  noch  sehr  einfach  und  natürlich,  das  Obergewand 
noch  ohne  Taille,  entweder  frei  herunterfallend  oder  durch  einen  Gürtel  zu- 
sammengehalten, der  Hals  frei,  der  Kopf  von  einem  Schleiertuche  umhüllt, 
welches  das  Haar  an  Stirn  und  Gesicht  unbedeckt  Hess  und  frei  auf  die 
Schultern  herabfiel.  Die  Pracht  des  Kirchendienstes  und  der  öffentlichen 
Feste  wurde  zwar  gesteigert,  die  Fürsten  waren  bei  ihren  Aufzügen  von 
grösserem  Trosse  von  Reisigen  und  Rossen  begleitet,  sie  umgaben  sich  zu- 
weilen mit  einer  schon  gleich  gekleideten  und  bewaffneten  Mannschaft;  man 
liebte  geräuschvolle  Freuden,  reich  besetzte,  stark  gewürzte  Mahlzeiten, 
bunte  Pracht.  Aber  diese  Lust  befriedigte  sich  bei  Gelegenheit  öffentlicher 
Feier;  im  Innern  des  Hauses  herrschte  noch  sehr  einfache,  strenge  Sitte. 
Die  Kirchen  und  Klöster  wurden  grösser  und  mit  vermehrtem  architektoni- 
schen Schmucke  errichtet,  die  Wohnungen  blieben  enge  und  niedrig,  die 
häuslichen  Bequemlichkeiten  beschränkten  sich  auf  das  Nothwendige,  die 
Bedürfnisse  waren  sehr  bescheiden.  Alle  Stände  waren  noch  unverwöhnt 
und  von  uugeschwächter  Kraft.     Die  Ritter,  in  ihrem  Kriegs-  und  Wander- 


16 


Historische  EinleHnn£ 


leben  auf  Entbehrungen  angewiesen,  waren  überdies  von  den  Pflichten  ihres 
Berufes  noch  zu  sehr  erfüllt,  um  sich  auf  ihren  Burgen  einer  weichlichen 
Lebensweise  hinzugeben;  auch  fehlten  ihnen  die  Mittel,  um  sich  Genüsse, 
welche  das  eigene  Land  nicht  bot,  zu  verschaffen.  Der  Bürgerstand  war 
erst  im  Entstehen  und  fühlte  die  Aufgabe,  seinen  Reichthum  durch  Spar- 
samkeit zu  begründen.  Die  reichen  Kaufherren  versuchten  es  wohl  schon, 
sich  den  Rittern  gleich  zu  stellen,  aber  ihr  Luxus  erstreckte  sich  dann  auch 
nur  auf  Waffen  und  Pferde,  nicht  auf  üppige  Lebensgenüsse  oder  auf  häusliche 
Bequemlichkeiten.  Ich  werde  später  Gelegenheit  haben  zu  zeigen,  wie  gering 
in  dieser  Beziehung  selbst  in  Italien,  dem  civilisirtesten  Lande,  die  Ansprüche 
waren.  Auch  konnte  es  nicht  fehlen,  dass  der  durch  den  neu  gegründeten 
Orden  der  Cistercienser  eifrig  angeregte  Geist  ascetischer  Enthaltsamkeit 
auf  die  Laien  einwirkte.  Diese  Einfachheit  der  Sitte  kam  aber  wiederum 
den  idealen  Bestrebungen  zu  Statten,  indem  sie  die  Gemüther  von  einer 
Menge  kleinlicher  Sorgen  befreite. 

Ueberblicken  wir  die  ganze  Gestaltung  des  Lebens,  so  linden  wir  überall 
eine  Fülle  künstlerischer  Motive.  Die  Idealität  der  Ansichten  und  Vorsätze, 
die  edle  und  kühne  Sorglosigkeit  um  materielles  Detail,  die  Festlust  neben 
der  Einfachheit  des  häuslichen  Lebens,  das  Wohlgefallen  an  der  Form  und 
die  Neigung  zum  Phantastischen,  alles  weist  auf  einen  künstlerischen  Beruf 
hin.  Selbst  wo  der  trockenste  Verstand  herrscht,  in  der  Scholastik,  zeigt 
sich  dies  künstlerische  Element  in  dem  Begnügen  an  formeller  Wahrheit,  in 
der  Betonung  der  symmetrischen  Gestalt  der  Schlüsse.  Wir  Neueren  neigen 
dahin,  die  Kunst  nur  als  das  unvollkommene  Abbild  des  Lebens  zu  betrach- 
ten, von  dieser  Epoche  kann  man  umgekehrt  sagen,  dass  das  Leben  nur  ein 
unvollkommenes,  in  ungünstigem  Stoffe  ausgeführtes  Kunstwerk  war. 

Alles  drängte  daher  zur  Kunst  hin,  sie  musste  nothwendig  als  die 
höchste  Spitze  nnd  Blüthe  des  Lebens  unmittelbar  aus  demselben  hervor- 
gehen, den  Versuch  machen,  seine  idealen  Tendenzen  in  reinerem  Stoffe  zu 
vollkommenerer  Ausführung  zu  bringen. 

Vor  Allem  gilt  dies  von  der  Poesie,  die  ja  in  allen  Zeitaltern  dem 
Leben  näher  steht,  als  die  anderen  Künste,  und  daher  bei  naturgemässer 
Entwickelung  den  Reigen  der  Künste  zu  eröffnen  pflegt.  Die  sich  stets  und 
auch  hier  wiederholende  Erscheinung,  dass  die  Literatur  der  Völker  nicht 
mit  der  Prosa,  sondern  in  dichterischer  Form  beginnt,  beruht  theils  darauf, 
dass  in  dieser  Jugendzeit  die  Völker  mehr  Empfindungen  als  Gedanken, 
mehr  Begeisterung  als  Kritik  haben,  theils  aber  auch  darauf,  dass  die  Be- 
deutung und  innere  Schönheit  der  Sprache,  dies  grosse,  in  späteren  Tagen 
übersehene  Wunder,  ihnen  plötzlich  aufgeht,  dass  sie  sich  mit  Erstaunen 
im  Besitze  des  mächtigsten  Mittels  zum  Gedankenaustausch  und  zur  Erre- 
gung des  Gefühls  sehen,  und  es  mit  Anstrengung  aller  Kräfte  und  mit  Auf- 


Wirklichkeit  und  Kunst.  27 

merksamkeit  auf  die  Verschiedenheit  des  Klanges  gebrauchen.  Beide  Ur- 
sachen wirkten  jetzt  gemeinschaftlich  zu  Gunsten  der  Nationalspraclien. 
In  demselben  Augenblicke,  wo  die  Laienwelt  von  neuen  Gedanken  und 
Gefühlen  mächtig  erregt  war,  machte  sie  auch  die  Entdeckung,  dass  ihre 
Sprache,  die  bisher  verachtete  und  von  der  lateinischen  zurückgedrängte, 
nicht  bloss  bildungsfähig,  sondern  für  den  Ausdruck  eben  dieser  Gedanken 
und  Gefühle  an  sich  und  durch-  die  Musik  ihres  Tonfalls  und  des  Reimes 
fähiger  sei,  als  jene.  Daher  bemächtigen  sich  denn  alle  Stände  dieses 
neuen  Besitzthums  mit  Begeisterung.  Von  den  Liedern,  die  in  den  unteren 
Schichten  des  Volkes  um  diese  Zeit  entstanden,  ist^  wenigstens  in  ursprüng- 
licher Fonn,  nichts  auf  uns  gekommen;  ohne  Zweifel  waren  es  mehr 
Naturlaute,  als  künstlerisch  durchbildete  Dichtungen.  Die  Gelehrten  hielten 
sich  im  Ganzen  dieser  Bewegung  fern,  obgleich  auch  sie,  wo  es  darauf 
ankam,  den  innigsten  Empfindungen  Worte  zu  leihen,  die  Landessprache 
nicht  verschmäheten,  wie  wir  denn  wissen,  dass  Abälards  Lieder  an  Heloise, 
die  Liebeslieder  des  Meisters  der  abstractesten  Philosophie  an  die  gelehr- 
teste Frau,  Gemeingut  wurden  und  auf  allen  Strassen  von  Paris  erschallten  ^). 
Indessen  war  dies  nur  eine  Ausnahme;  im  Ganzen  blieb  die  kunstmässige 
Ausbildung  der  Poesie  auf  die  ritterlichen  Kreise  beschränkt,  hier  aber 
erreichte  sie  auch  gerade  innerhalb  dieser  Epoche  ihre  höchste  Blüthe. 
Die  Provenzalen,  die  einzigen,  bei  denen  der  Minnegesang  schon  früher 
erwacht  war,  hatten  jetzt  ihre  drei  grössten  Dichter,  die  drei  Illustren, 
wie  Dante  sie  nennt,  Bertrand  de  Born,  Arnault  Daniel  und  Girault  de 
Borneil,  die  Sänger  der  Waffen,  der  Liebe  und  der  Tugend,  wie  er  sie 
bezeichnet  2).  Bei  den  Nordfranzosen  bildete  sich  die  erzählende  Dichtung 
aus;  Chretien  de  Troyes  und  unzählige  Andere  wussten  ihre  Zuhörer  durch 
den  Vortrag  mannigfaltiger,  phantastischer  Sagen  zu  begeistern.     Etwas 


')  Heloise  selbst  berichtet  es:  Frequenli  carmine  tuam  in  ore  omnium  Heloi'sam 
ponebas;  me  plateae  omnes,  me  domus  singuiae  resonabant.  Sie  bemerkt  dabei,  dass 
unter  allen  Eigenschaften  Abälards,  durch  welche  er  die  Herzen  der  Frauen  gewann, 
keine  mächtiger  wirkte,  als  seine  Sängergabe  (dietandi  et  cantandi  gratia).  Sie  nennt 
seine  Lieder  amatorio  metro  vel  rhytmo  verfasst.  (Petri  Abaelardi  Opp.  Epist.  II, 
p.  46.)  Die  von  Greith  publicirten  religiösen  Hymnen  (welche  dieser  als  Allegorien 
für  seine  Liebe  betrachtet)  könnten  hienach  wohl  schwerlich  gemeint  sein.  Auch  war 
das  Verständniss  des  Lateinischen  schwerlich  so  verbreitet,  dass  jene  Liebesgedichte, 
wenn  sie  (wie  Leroux  de  Lincy,  Recueil  de  chants  historiques,  1841,  S.  VI  annimmt) 
lateinisch  gewesen  wären,  Abälard  die  Gunst  der  Frauen,  von  denen  Heloise  im  All- 
gemeinen spricht,  verschafft  haben  könnten. 

2)     Dante,  Vulg.    eloqu.   lib.    II,    cap.   2.     Circa   quae   sola   [arniorum   probitatem, 

amoris  ascensionem  et  directionem  voliintatis]  si  bene  recolimus,    illustres  invenimus 

vulgariter   poetasse,    seil.    Beltramum    de    ßornio    arma,   Arnoldum    Danielem    amorem, 

Gerardum  de  Bornello  rectitudinem.  —  Diez,  Leben  und  Werke  der  Troubadours,  S.  180- 

Schuaase's  Knnstgesch.     2.  AtiA.     V.  2 


23  Historische  Einleitung. 

später,  nicht  oLne  Anschluss  an  diese  Vorgänger,  aber  mit  unendlich 
grösserer  Gedankentiefe,  Zartheit  und  Kraft,  erhob  sich  auch  die  deutsche 
Dichtung;  der  kurze  Zeitraum  von  1180  bis  etwa  1220  umfasst,  ausser 
einer  grossen  Zahl  anderer  bekannter  und  unbekannter  Sänger,  die  grossen 
Namen  des  Wolfram  von  Eschenbach,  Walther  von  der  Vogelweide  und 
Gottfried  von  Strasburg,  denen  kein  gleichzeitiger  Dichter  einer  anderen 
Nation,  kein  deutscher  bis  auf  die  neuere  Blüthezeit  unserer  Poesie  an 
die  Seite  zu  stellen  ist. 

Allein  so  bedeutend  die  Werke  dieser  Dichter  sind,  hatten  sie  dennoch 
für  die  weitere  Entwickelung  der  geistigen  Bildung  nur  einen  bedingten 
Werth.  Ein  wahrhaftes  Volksgedicht,  das  wie  ein  grosser  Strom  von  der 
Gesammtkraft  des  Volkes  angeschwellt  ruhig  dahin  fliesst,  die  ursprüng- 
lichen Anschauungen  von  göttlichen  und  menschlichen  Dingen  zusammenfasst 
und  gestaltet,  und  so  die  Quelle  künftiger  Entwickelung  wird,  eine  Ilias 
und  Odyssee,  konnten  die  neueren  Nationen  nicht  hervorbringen.  Die 
romanischen  Völker  nicht,  weil  sie  den  Naturzustand,  aus  welchem  allein 
solche  Urdichtung  hervorgehen  kann,  gar  nicht  gehabt  hatten,  weil  sie  sich 
erst  jetzt  durch  die  Mischung  verschiedener  Volksstämme  zusammenschlös- 
sen, wo  die  Einzelnen  nicht  mehr  vollständig  und  naturkräftig  mit  dem 
Ganzen  verwachsen  waren.  Die  Deutschen  waren  zwar  aus  natürlicher 
Wurzel  entsprossen  und  einigen  Stammes;  aber  dieser  Stamm  war  durch 
das  Christenthum  veredelt  und  ein  neuer  geworden,  seine  geistige  Wieder- 
geburt war  von  seiner  natürlichen  Entstehung  durch  eine  weite  Kluft  ge- 
sondert. Zwar  war  es  ein  unschätzbarer  Vorzug,  dass  die  deutsche 
Heldensage,  nachdem  sie  drei  Jahrhunderte  hindurch  zurückgedrängt  und 
übersehen,  aber  nicht  gänzlich  untergegangen  war,  jetzt  wieder  belebt  wer- 
den und  angestammte  Gefühle  und  Anschauungen  wieder  erwecken  konnte. 
Aber  volles  Leben  konnte  sie  doch  nicht  wieder  gewinnen,  das  religiöse 
Element,  das  Lebensblut  der  Sage  war  aus  ihr  gewichen,  nur  ihr  Körpen 
so  ehrwürdig  seine  Züge  sein  mochten,  konnte  auferstehen.  Das  Geschlecht, 
unter  das  sie  zurückkehrte,  war  nicht  an  ihr  herangewachsen,  hatte  Gefühle 
und  Bedürfnisse,  die  in  ihr  keine  Befriedigung  fanden.  In  der  That 
waren  die  Ursachen,  welche  das  Entstehen  einer  wahren  Nationalpoesie 
hinderten,  bei  allen  Völkern  in  gleichem  Maasse  vorhanden.  Durch  den 
Gegensatz  des  Göttlichen  und  Irdischen,  der  Kirche  und  des  natürlichen 
Lebens,  in  Folge  der  von  oben  herunter  sich  senkenden,  nicht  von  unten 
herauf  wachsenden  Bildung,  war  eine  Scheidung  der  Stände  eingetreten, 
welche,  so  nothwendig  und  heilsam  sie  sein  mochte,  doch  die  Einheit  der 
Nationen  brach.  Es  gab  keinen  Stand,  welcher  das  ganze  Volksthum 
poetisch  vertreten  konnte.  Nicht  bloss  das  Volkslied  musste  sich,  seiner 
Natur  nach,  in  bescheidenen  Grenzen  halten;  auch  die  Ritter  waren  Laien, 


Die  Dichtkunst.  19 

■welche  die  Geheimnisse   der  Kirche    über  sich  sahen,  denen    die    höhere 
wissenschaftliche   Bildung   verschlossen   war.     Jenes   prophetische  Element, 
welches  der  Nationalpoesie  ihre  Weihe  giebt,  war  ihnen  versagt.    Sie  hatten 
nicht  das  Gefühl  des  ganzen  Volkes,  sondern  nur  das  eines,  sich  von  dem- 
selben aussondernden  Standes  zu  schildern,  und  dieser  Stand,  obgleich  der 
Nation  auf  der  Bahn  neuer  Gesittung  voranschreitend,  war  vermöge  seiner 
bevorzugten   Stellung    auf  eine    künstliche,    conventiouelle   Sitte,   auf  eine 
Steigerung  gewisser  Gefühle  über  das  natürliche  Maass  hinaus  angewiesen. 
Seine  Dichter  waren  daher  auf  diese  Rücksichten  beschränkt,  sie  konnten 
nicht   aus  der  Fülle  der  menschlichen  Natur  schöpfen,  nicht  die  Töne  er- 
schütternder Tragik  anschlagen,  sie  fühlten  sich  nicht  als  die  Yerkündiger 
ewiger  allgemeiner,  sondern  bedingter,  nur  für  die  augenblickliche  Stellung 
ihres  Standes  gültiger  Wahrheiten.     Sie   hatten   es  mit   idealen  Zuständen 
zu  thun,  die  niemals  volle  Wirklichkeit  erlangen  konnten,  deren  Schilderung 
nur  einen  Anreiz  zu  einem  einseitigen  Fortschritte  geben  sollte.    Die  Kraft 
und    Gediegenheit    der   grossen    historischen,    im  Kampfe    mit    den    tiefen 
Gegensätzen  des  Lebens  gereiften  Charaktere,  die  Demuth  der  klösterlichen 
Heiligen,  der  Ernst  der  Wissenschaft,  die  Inbrunst  einfacher  Frömmigkeit, 
selbst  die  Innigkeit  der  natürlichen  Gefühle  des  Volkes  fand  in  der  ritter- 
lichen Dichtung  keine  Stelle.     Sie  giebt  nicht  die  Urgeschichte  des  Volkes, 
nicht    die  geheiligte   Ueberlieferuug ;    sie   hat    keine  Heimath,   schweift  in 
allen  Ländern  und  Zeitaltern  umher.     Ihre  Sänger  treten  als  Einzelne  auf, 
als   Berichterstatter,   nicht   von   göttlichen  Dingen   oder    von   der    grossen 
Vergangenheit,  sondern  von  vereinzelten  Abenteuern  und  persönlichen  Ge- 
fühlen, oder  höchstens  von  phantastisch  entstellten  Sagen,  welche  sie  selbst 
nicht    verbürgen,    die    sie    nur    scheinbar    auf   fremde    Zeugnisse    stützen. 
Diese  anspruchslose  Haltung  ist  ein  wesentliches  Element  der  romantischen 
Poesie,  alle  ihre  Vorzüge  hängen  damit  zusammen;  sie  gestattet  dem  Dichter, 
sich  kühner  zu  bewegen.  Unerhörtes  zu  wagen,  sich  mit  anrauthiger  Leichtig- 
keit  zu  unterbrechen,  der  eigenen  Phantasie  freiesten  Aufschwung  zu  ge- 
währen,  die  der  Zuhörer   zu  reizen   und  zu   steigern.     Aber  sie  ist   auch 
aicht   bloss    ein   künstlerisches  Mittel,   sondern   eine   innerlich   begründete, 
nothwendige  Folge  der  ganzen  Stellung  der  Poesie;  sie  schloss  jene  höhere 
künstlerische  Objectivität  aus,   durch   welche    die   klassische  Durchbildung 
der  Poesie  bedingt  ist,  gab  den  Dichtern  eine  dilettantische  Richtung,  ver- 
leitete und  nöthigte  fast  zu  Ungleichheiten,  zur  Geschwätzigkeit,  zu  Künste- 
leien des  Verses  und  des  Gedankens,   so  dass  auch  diese  Fehler,  welche 
nach  Maassgabe    der   grösseren  oder    geringeren  Fähigkeit  der  einzelnen 
Dichter  mehr   oder  minder  hervortreten,   nicht  vereinzelte   oder  zufällige 
^Erscheinungen,  sondern  in  der  Natur  der  Verhältnisse  begründet  sind. 
Bei  alledem  haben  diese  Gedichte  doch  grosse  Vorzüge,  die  edelsten 


20  Historische   Einleitung. 

Motive  aufopfernder  Begeisterung  und  einer  grossartigen  Weltanschauung 
liegen  vielen  zum  Grunde,  Jugendvvärme  und  Waldfrische  wehen  uns  aus 
ihnen  entgegen.  Und  noch  wichtiger  waren  sie  für  ihre  Zeit.  Die  Poesie 
befreite  den  Geist  von  seinen  Banden^  wagte  sich,  je  laienhafter  und  dilet- 
tantischer desto  kühner,  auf  die  Gebiete  religiöser  und  philosophischer 
Gedanken;  sie  löste  der  Phantasie  die  Flügel,  gab  den  Gefühlen  Worte 
und  dadurch  ein  berechtigtes  Dasein,  kräftigte  und  läuterte  sie.  Aber 
freilich  die  höchste  Aeusserung  ihrer  Zeit  konnte  sie  dennoch  nicht  werden. 
In  ganz  anderer,  fast  entgegengesetzter  Stellung  befand  sich  die 
Architektur.  Die  Poesie  war  neu  und  ignorirte  die  Vorbildung,  welche 
die  in  ihr  ausgesprochenen  Gefühle  und  Gedanken  unter  der  Herrschaft 
des  traditionellen  lateinischen  Elements  erhalten  hatten.  Die  Baukunst 
hatte  schon  eine  Vergangenheit;  der  Styl  der  vorigen  Epoche,  wenn  auch 
auf  traditionellen  Grundlagen  beruhend,  war  doch  ein  Erzeugniss  des 
Volksgeistes,  der  hier  ein  Mittel  der  Aeusserung  gefunden  hatte,  während 
die  Sprache  ihm  noch  versagt  war.  Auch  die  Architektur  erfuhr  zwar 
durch  das  neue,  selbstbewusste  Erwachen  der  Nationalität  einen  mächtigen 
Impuls,  der  aber  doch  nur  eine  Umgestaltung  der  bisher  gebrauchten 
Formen,  nicht  wie  bei  der  Nationaldichtung  ein  völlig  neues,  von  den  bis- 
herigen Leistungen  unabhängiges  Erzeugniss  hervorbrachte.  Der  ganze 
Schatz  von  Erfahrungen,  welche  bisher  gemacht  waren,  die  ganze  noch 
jetzt  bestehende  Kraft  des  lateinischen  Elementes  blieb  ihr  unverkürzt. 
Während  die  Poesie  nur  einem  Stande  angehörte,  während  das  religiöse 
Leben  sie  kaum  berührte,  jedenfalls  nicht  mit  seiner  vollen  Strömung 
durchfloss,  stand  die  Architektur  im  Dienste  der  Kirche,  wurde  aber  durch 
die  Frische  und  Kraft  der  Nationalität,  durch  die  Mitwirkung  und  Theil- 
nahme  aller  Stände  gefördert.  In  der  vorigen  Epoche  war  auch  sie  von 
einem  einzigen  Stande  ausgegangen,  aber  doch  von  der  Geistlichkeit,  von 
dem  Stande,  welchem  alle  Quellen  des  geistigen  Lebens  zuflössen,  der  sich 
aus  allen  Klassen  des  Volkes  ergänzte,  der  nicht,  wie  die  Ritterschaft,  die 
anderen  ausschloss.  Diese  Beschränkung  hörte  jetzt  auf.  Seitdem  das 
Selbstgefühl  eigener  Bildung  unter  den  Laien  erwacht  war,  begannen  auch 
die  weltlichen  Bauherren  und  Wohlthäter  der  Kirchen,  Fürsten,  Grosse, 
städtische  Obrigkeiten,  selbst  mitzusprechen,  fanden  auch  die  geistlichen 
Bauherren  die  tüchtigsten  Meister  uud  Werkleute  nicht  mehr  unter  ihren 
Standesgenossen,  sondern  unter  den  freien,  städtischen  Handwerkern.  Die 
Baukunst  ging  daher,  ohne  dem  kirchlichen  Einflüsse  entzogen  zu  sein, 
mehr  und  mehr  in  die  Hände  der  Laien  über,  und  wurde  von  der  ganzen 
Kraft  und  Wärme  des  unter  ihnen  neu  erwachten  Lebens  durchdrungen. 
Sie  musste  überdies  dem  ganzen  Volke  verständlich  sein,  hatte  in  gewissem 
Sinne  die  Aufgabe,  ihm  die  religiösen  Geheimnisse  anschaulich  zu  machen. 


Architektur.  21 

blieb  daher  stets  mit  allen  Klassen  im  Wechselverkehr.  Sie  stand  in  der 
Mitte  des  Lebens,  wo  alle  Richtungen  und  Thätigkeiten  zusammenflössen 
und  verschmolzen.  Die  ritterliche  Poesie  und  die  Scholastik  bilden  gewis- 
sermaassen  die  Pole  des  ganzen  reich  und  breit  entwickelten  Daseins;  jene 
überwiegend  Gefühl  und  Phantasie,  diese  eben  so  entschieden  abstracter 
Verstand.  Die  Architektur  stand  beiden  gleich  nahe.  Sie  ging  zwar  von 
religiösen  Empfindungen,  nicht  von  dem  persönlichen  Selbstgefühl  aus,  das 
in  der  ritterlichen  Dichtung  herrschte.  Aber  auch  die  religiösen  Empfin- 
dungen hatten  vom  Beginne  dieser  Epoche  an  eine  Färbung  angenommen, 
welche  den  ritterlichen  Anschauungen  sehr  nahe  stand;  in  beiden  dieselbe 
Innigkeit,  derselbe  Schwung  der  Phantasie,  derselbe  Drang  nach  persön- 
licher Thätigkeit  und  Mitwirkung.  Selbst  die  Geistlichen  waren  von  solchen 
Gefühlen  ergriffen,  und  noch  mehr  die  Laien,  welche  in  ihrem  Dienste  die 
Bauten  leiteten.  War  daher  auch  ein  unmittelbarer  Einfluss  der  Poesie 
auf  die  Architektur  nicht  denkbar,  so  waren  doch  beide  einander  verwandt. 
Während  nun  die  Baukunst  mit  dem  harten  Stoffe  und  mit  eingewurzelten 
technischen  Gewohnheiten  zu  kämpfen  hatte,  und  nur  mit  langsamen  Schrit- 
ten weiter  ging,  schwang  sich  die  Poesie  auf  den  Flügeln  des  Wortes 
und  im  Bewusstsein  gefahrloser  Unternehmung  kühn  und  leicht  empor, 
und  gab  schon  ihr  Bestes  und  Höchstes,  als  jene  sich  erst  anschickte,  die 
letzten  Stufen  zu  erklimmen.  Da  konnte  es  dann  nicht  fehlen,  dass  sie, 
die,  wenn  auch  auf  die  ritterlichen  Kreise  berechnet,  doch  kein  Geheim- 
niss  war  und  eben  so  wenig  der  Geistlichkeit  als  den  leicht  erregbaren 
Künstlern  fremd  blieb,  diese  begeisterte  und  steigerte,  sie  antrieb.  Grös- 
seres zu  unternehmen  und  mit  jenen  Ritterdichtungen  zu  wetteifern.  In 
der  That  sind  die  Spuren  dieser  Eniwirkung  ungeachtet  der  grossen  Ver- 
schiedenheit des  Stoffes  und  der  Aufgaben  kaum  zu  verkennen,  sie  treten 
besonders  in  der  zweiten  Hälfte  der  Epoche  hervor,  wo  der  Widerstand, 
den  das  spröde  Material  entgegensetzte,  mehr  überwunden  war.  Es  ist 
überall  dieselbe  Gefühlsrichtung;  in  dem  Aufschwünge  der  schlanken  Glie- 
der und  der  weitgespannten  Gewölbe  dieselbe  Kühnheit,  wie  in  den  ritter- 
lichen Wagnissen,  in  den  weichen  Profilen  dieselbe  Empfindung,  wie  in 
den  Liebesklagen,  in  den  Fialen  und  Strebebögen  der  hochstrebende,  in 
allen  Theilen  der  kriegerische  Sinn,  welcher  die  Ritterwelt  durchdrang. 
Und  endlich  findet  sich  selbst  im  Technischen  eine  gleiche  Aehnlichkeit. 
Der  rastlose  Unternehmungsgeist,  welcher  die  Baumeister  antrieb,  stets 
Neues  und  Ueberraschendes  zu  geben,  eine  gewisse  Eilfertigkeit^),  welche 
sich  auch  in  den  prachtvollsten  Werken  an  der  leichten  Behandlung  und 


^)     Die   lange   Dauer   mancher   Bauten   war   nur   eine  Folge  von  Unlerbrechungea, 
welche  durch  den  sparsamen  Zufluss  der  Mittel  oder  aus  anderen  Ursachen  entstanden. 


22  Historische  Einleitung. 

selbst  an  der  Vernachlässigung  der  Details  zeigt,  entspricht  nur  allzusehr 
der  kühnen  dilettantischen  Weise  der  Ritterpoesie. 

In  einem  ähnlichen  Verhältnisse  steht  die  Architektur  zur  Scholastik. 
Es  versteht  sich,  dass  ein  unmittelbarer  Verkehr  zwischen  der  Bauhütte 
und  den  Lehrsälen  der  Philosophen  nicht  bestand,  dass  Meister  und  Ge- 
sellen nicht  Schurzfell  und  Meissel  ablegten,  um  den  Disputationen  zu 
lauschen.  Aber  das  Bestreben  der  Forschung  und  der  Geist  scholastischer 
Distinction  und  Bestimmtheit  theilte  sich  allen  Klassen  so  weit  mit,  als 
ihr  Beruf  dafür  empfänglich  war,  und  von  keinem  galt  dies  in  höherem 
Grade,  als  von  dem  der  Architekten.  Daher  denn  bei  ihnen  das  Betonen 
des  geometrischen  Elements,  die  erwachende  Neigung  zu  einem  principiel- 
len  und  theoretischen  Verfahren,  zu  Unterscheidungen  und  Gegensätzen 
der  Formen. 

Beide  Richtungen,  die  phantastisch-ritterliche  und  die  pedantisch-scho- 
lastische, traten  indessen  in  dieser  Epoche  noch  nicht  einseitig  und  störend 
hervor*,  sie  standen  noch  völlig  unter  der  Herrschaft  sowohl  des  religiösen 
Geistes  als  der  Naturkraft  des  Volkes,  und  der  durch  beide  bedingten 
Einheit  des  Gefühls.  Die  Architekten  waren  eben  schlichte,  aus  dem 
Handwerk  hervorgegangene  Meister,  die  sich  im  Dienste  der  Kirche  fühlten 
und  zunächst  mit  ihrer  technischen  Aufgabe  vollauf  zu  thun  hatten.  Sie 
verfuhren  zwar  freier  als  die  früheren  geistlichen  Baumeister,  sie  kamen 
nicht  aus  der  Klosterschule,  waren  nicht  von  den  Traditionen  der  Antike 
beherrscht,  liebten  es,  sich  in  neuen  Erfindungen  zu  versuchen.  Aber  sie 
waren  Empiriker,  die  nicht  luftigen  Theorien  folgten,  sondern  von  der  er- 
lernten Form  ausgingen,  diese  nur  zu  verbessern  suchten  und  sich  daher 
mit  langsamen  Schritten  von  ihr  entfernten.  Sie  führten  überdies  selbst 
den  Meissel,  ihre  Hand  hatte  sich  mit  dem  Steine  vertraut  gemacht,  ihm 
die  Formen  abgelernt,  welche  ihm  am  natürlichsten  waren;  sie  dachten 
gleichsam  im  Geiste  des  Materials.     Daher  der  unschätzbare  Vorzug  ihrer 


Die  Arbeit  selbst  wurde  rasch  vollführt.  Sn^-er's  bedeutende  Bauten  in  St.  Denis 
waren  in  wenig  Jahren  vollendet.  In  dem  1175  begonnenen  Chore  der  Kathedrale 
von  Canterbury  konnte  der  Dienst  schon  im  Jahre  1180  anfangen;  der  Bericht  des- 
Gervasius,  dessen  luiten  ausführlich  erwähnt  wird,  ergiebt  Jahr  für  Jahr  das  Fort- 
schreiten des  Baues.  Bei  dem  Neubau  des  Klosters  Bec  in  der  Normandie  verzögerte 
der  Baumeister  Ingelramnus,  der  zugleich  am  Dome  zu  Rouen  beschäftigt  war,  nach 
anderthalbjähriger  rascher  Arbeit  den  unternommenen  Neubau;  der  Abt  entliess  ihn 
daher  mid  nahm  einen  andern  Meister  an,  welcher  das  ganze  Werk  innerhalb  dreier 
Jahre  vollendete  (Chronicon  Beccense,  p.  214,  im  Glossary,  Vol.  III  ad  annum  1214). 
Der  Bau  der  Sainte-Chapelle  zu  Paris,  im  Jahre  1243  beschlossen,  war,  ungeachtet  des- 
reichsten  plastischen  Schmuckes,  schon  nach  acht  Jahren  beendet.  Einfachere,  nament- 
lich klösterliche  Bauten  wurden  gewiss  noch  schneller  ausgefüiirt. 


Architektur.  2  3 

Arbeiten,  dass  sie  nichts  verhüllten,  dass  alle  ihre  Formen  eine  unmittel- 
bare, natürliche  Wahrheit  hatten.  Ueberdies  gingen  sie  aus  dem  Volke 
hervor,  und  zwar  aus  einem  Volke  von  noch  sehr  einfachen  Sitten,  das 
der  Natur  nahe  stand  und  mit  ihrer  Weise  der  Production  bekannt  war; 
sie  bildeten  daher  ein  so  feines  Gefühl  für  organische  Entwickelung  der 
Form  aus,  wie  es  mit  Ausnahme  der  Griechen  kein  anderes  Volk  gehabt 
hatte.  Ihre  Werke  machen  den  Eindruck  innerer  Nothwendigkeit,  sie 
scheinen  aus  dem  Boden  zu  wachsen,  wie  die  Erzeugnisse  der  Natur  selbst. 
Die  Willkür,  welche  in  den  Ritterdichtungen  herrscht  und  ihnen  selbst  einen 
Reiz  verleihet,  fand  hier  keine  Stelle. 

Um  so  merkwürdiger  ist  es,  dass  diese  schlichten  Meister  das  kühne 
und  künstliche  Constructionssystem  des  gothischen  Styles  erfanden,  welches 
dem  Steine  statt  der  horizontalen  Lagerung  auf  der  Fläche  des  Erd- 
bodens den  Ausdruck  aufstrebender  Kraft  verleihet,  und  so  von  den  un- 
mittelbaren Andeutungen  der  Natur  weit  abweicht.  Allerdings  lag  diesem 
luftigen  Systeme  eine  weise  Benutzung  statischer  Gesetze  zum  Grunde, 
und  es  entstand  nicht  aus  theoretischem  Uebermuth  oder  aus  symbolischen 
Rücksichten;  aber  es  konnte  nur  in  einer  Zeit  entstehen,  welche  an 
künstliche  Systeme  gewöhnt  war,  welche  auch  in  der  Wirklichkeit  über 
die  gemeine  Natur  hinwegsah,  und  sich  eine  Welt  von  Ansichten  und 
Sitten  erschuf,  die  auf  kühnen  Voraussetzungen  beruhete  und  durch  künst- 
liche Mittel  zusammengehalten  wurde.  Es  giebt  einen  höchst  merkwür- 
digen Beweis  der  schweigenden,  aber  mächtigen  Einwirkung,  welche  die 
geistige  Richtung  der  Zeit  selbst  auf  die  statischen  Grundlagen  der  Archi- 
tektur ausübt. 

Auf  der  Verbindung  jener  naturgemässen  Entwickelung  und  dieser 
geistigen  Richtung  beruhet  die  Schönheit  dieser  Architektur;  sie-  löste 
eben  durch  ihr  Constructionssystem  die  Aufgabe,  das  ideale  Element  als 
wirkliche  Realität,  als  schlichte  Wahrheit  darzustellen.  Sie  wurde  da- 
durch geeignet,  auch  den  feinsten  Regungen  des  Zeitgeistes  einen  Ausdruck 
zu  verleihen,  an  seiner  weiteren  Entfaltung  Theil  zu  nehmen,  und  auf  sie 
zurückzuwirken.  Sie  giebt  daher  das  reichste  und  sprechendste  Bild  dieser 
edeln  und  inhaltreichen  Zeit,  und  hat  zugleich  durch  ihre  innere  Conse- 
quenz  und  Vollendung  eine  hohe  ästhetische  Bedeutung  für  alle  Zeiten. 

Die  darstellenden  Künste  dieser  Epoche  stehen  nicht  auf  gleicher 
Höhe;  sie  sind  zu  sehr  auf  das  Detail  der  Erscheinung  angewiesen,  welches 
in  jener  idealen  Auffassung  nicht  vollständig  verstanden  und  ausgebildet 
werden  konnte.  Aber  sie  haben  doch  ungefähr  den  Werth  der  Poesie, 
mit  der  sie  ja  auch  der  Natur  der  Sache  nach  in  viel  näherer  Beziehung 
stehen,  als  die  Architektur.  Freilich  war  der  unmittelbare  Einfluss  der 
Dichtung   nur   ein   sehr  geringer.     Wenn  Phidias  seinen  olympischen  Zeus 


24  Historisclie  Einleitung-. 

nach  den  Versen  Homers  bildete^  so  konnten  die  ritterlichen  Dichter  sich 
höchstens  schmeichehi^  den  Zeichner,  welcher  ihre  Handschriften  zu  illustri- 
ren  hatte,  durch  die  Wärme  der  poetischen  Schilderung  zu  lebendigeren 
und  ausdrucksvolleren  Bewegungen  zu  begeistern.  Dagegen  war  der  mittel- 
bare Einfluss  der  Poesie  auf  diese  Künste  nicht  unbedeutend.  Wenn  die 
Minnesänger  die  Anmuth  ihrer  Damen  und  die  Lieblichkeit  des  Frühlings 
feiern,  sprechen  sie  freilich  nur  leichte,  subjective  Empfindungen  aus;  aber 
ihre  Lieder  führten  doch  dahin,  das  Auge  für  die  Natur  zu  öffnen,  den 
traditionellen  Begriff  der  Schönheit  mit  dem  Wohlgefallen  an  der  natür- 
lichen Erscheinung  in  Verbindung  zu  bringen.  Die  Spuren  eines  zuneh- 
menden Gefühls  für  psychologische  Wahrheit,  für  Lebendigkeit  und  Aus- 
druck der  Bewegungen  finden  sich  daher  in  den  plastischen  Werken  bald 
nachdem  die  neue  Dichtung  mehr  und  mehr  Gemeingut  geworden  war. 
Vom  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts  an  zeigen  auch  die  Pflanzen- 
ornamente statt  der  bisherigen  conventionellen  Form  mehr  und  mehr  eine 
Aehnlichkeit  mit  einheimischen  Gewächsen.  Aber  erst  noch  später,  als 
die  Dichtkunst  schon  auf  ihrer  Höhe  stand  und  tiefer  eingewirkt  haben 
konnte,  äussert  sich  ein  stärkeres  und  richtigeres  Gefühl  für  die  Schön- 
heit der  menschlichen  Gestalt;  die  Formen  werden  voller  und  gerundeter, 
die  Mienen  und  Bewegungen  sprechender  und  anmuthiger.  Und  dies  ge- 
schieht in  einer  den  ritterlichen  Dichtungen  sehr  verwandten  Weise,  mit 
derselben  Leichtigkeit  der  Production,  mit  denselben  Schwächen.  Die 
Körperverhältnisse  und  Ausdrucksmittel  sind  unbestimmt,  wie  dort  die 
psychologischen  Motive,  das  Charakteristische  ist  noch  wenig  ausgebildet. 
Tiefere  Studien  sind  überall  nicht  gemacht,  und  das  Verständuiss  der 
Natur  äussert  sich  mehr  an  weiblichen,  als  au  männlichen  Gestalten,  be- 
friedigender im  Holdseligen  und  Freundlichen,  als  im  Ausdrucke  des 
Schmerzes  oder  ruhiger  Würde.  Können  wir  daher  auch  nicht  annehmen, 
dass  diese  verwandten  Aeusserungen  direct  durch  die  ritterliche  Dichtung 
hervorgerufen  sind,  so  beruhen  sie  doch  auf  der  herrschenden  Auffassung 
der  Natur  und  der  Lebensverhältnisse,  welche  durch  die  Poesie  bestärkt 
und  mehr  zum  Bewusstsein  gebracht  war. 

Das  naturalistische  Element  ist  indessen  in  den  darstellenden  Künsten 
nicht  so  überwiegend,  wie  in  der  Poesie,  weil  es  durch  den  Einfluss  der 
Architektur  und  der  architektonischen  Stylgesetze  beschränkt  wurde.  Die 
Plastik  kam  grösstentheils  nur  im  Zusammenhange  mit  kirchlichen  Ge- 
bäuden vor,  sie  ging,  wie  die  Architektur,  von  der  Ueberlieferung  des 
strengeren  Styles  der  vorigen  Epoche  aus,  sie  wurde  von  denselben  Stein- 
metzen ausgeführt,  welchen  die  architektonische  Arbeit  oblag.  Auch  kann 
sich  ein  plastischer  Styl  stets  nur  nach  dem  Vorgange  der  Architektur 
bilden;    erst  wenn    das  Auge  in   ihr  Formen   und  Verhältnisse   würdigen 


Die  darstellenden  Künste.  25 

gelernt  hat,  findet  es  dieselben  auch  in  der  organischen  Natur.  Diese 
Einwirkung  des  architektonischen  Elements  war  aber  jetzt  um  so  stärker, 
weil  das  subjective  Naturgefühl  noch  unbestimmt  und  forjnlos  war  und 
der  Regelung  durch  geometrische  Linien  und  architektonische  Gesetze  be- 
durfte. Und  gerade  dadurch  stand  auch  diese  Kunst  in  Uebereinstimmung 
mit  dem  gesammteu  Leben  der  Zeit.  Denn  auch  in  diesem  forderte  das 
subjective  Gefühl  auf  allen  Gebieten  noch  immer  die  höhere  Regel  der 
Autorität,  und  entfernte  sich  von  ihr  nur  zögernd  und  mit  dem  Bewusst- 
seiu  seiner  Gebundenheit.  Jene  ritterliche  Poesie  konnte  mit  so  leichter, 
phantastischer  Kühnheit  umherschweifen,  weil  sie  sich  nur  als  den  harm- 
losen Gegensatz  eines  ernsten,  wohlgeregelten  Lebens  wusste,  und  ebenso 
verrathen  alle  naturalistischen  Aeusserungen  im  Leben  das  Gefühl,  dass 
sie  nicht  der  tiefe  Ernst,  sondern  vielmehr  harmloses  Spiel  sind.  Die 
bildende  Kunst  aber,  welche  den  Schein  der  Wirklichkeit  giebt  und  im 
Dienste  der  Kirche  auftrat,  musste  diese  höhere  Regel,  welche  jene  nur 
voraussetzten,  an  sich  selbst  durch  ihre  architektonische  Strenge  aus- 
sprechen. Diese  findet  sich  daher  auch  an  den  Werken,  welche  nicht 
mit  der  Architektur  selbst  zusammenhängen,  namentlich  an  den  Miniaturen 
der  Manuscripte,  und  zeigt  auch  hier  das  Element  des  abstracten  Ver- 
standes, das  in  der  Scholastik  seinen  bestimmtesten  Ausdruck  hat,  aber 
im  tiefsten  Wesen  der  Zeit  begründet  war.  Gerade  auf  dieser  Verbindung 
eines  strengen  stylistischen  Princips  mit  dem  erwachenden  Naturgefühl 
beruht  die  Eigenthümlichkeit  und  der  Werth  der  Darstellungen  dieser 
Epoche.  Sie  erhalten  dadurch  den  Ausdruck  einer  jugendlichen  und  an- 
spruchslosen Naivetät.  Die  Natur  macht  sich  noch  nicht  mit  eigenwilliger 
Gewalt  geltend,  sie  erkennt  die  höhere  Regel  an  und  unterwirft  sich  ihr, 
sie  äussert  sich  wie  der  zarte  Hauch,  mit  dem  die  ersten  Frühlingskeime 
den  Wald  überziehen,  wie  das  leichte  Erröthen  auf  jungfräulichen  Zügen 
Alle  diese  Eigenschaften  der  Architektur  und  der  darstellenden  Künste 
sind  indessen  nicht  gleich  anfangs  im  vollen  Maasse  vorhanden,  sondern 
werden  allmälig  ausgebildet  und  haben  erst  am  Schlüsse  dieser  Epoche 
eine  gewisse  Reife  erlangt.  Diese  Entwickelung  zu  beobachten,  ist  die 
Aufgabe  der  folgenden  Kapitel. 


26  Frankreich. 

Zweites  Kapitel. 

Ausbildung  des  gotliischen  Styls  in  Frankreicli. 

Durch  die  neue  Richtung  des  Zeitgeistes  erlitt  auch  die  Stellung  der 
Nationen  eine  Aenderung.  In  der  ersten  Epoche,  wo  alle  Gegensätze 
einfach  und  schroff  aufgefasst  wurden,  wo  römische  Traditionen  und  ger- 
manische Kraft  sich  völlig  gesondert  gegenüberstanden,  hatte  die  reine, 
ungemischte  Nationalität  der  Deutschen  den  Vorzug  nicht  nur  der  poli- 
tischen Macht,  sondern  auch  der  gediegensten  Bildung;  jetzt  wo  sich  eine 
neue,  aus  römischen  und  germanischen  Elementen  verschmolzene  Civili- 
sation  bildete,  nahm  das  Volk,  in  welchem  beide  Elemente  schon  factisch 
in  genügendem  und  gleichem  Maasse  vorhanden  waren,  die  erste  Stelle 
ein.  Es  war  dies  kein  anderes  als  das  französische,  dessen  Nationalität 
erst  unter  dem  Einflüsse  der  neuen  Richtung  entstand.  In  der  vorigen 
Epoche  sahen  wir  das  alte  Gallien  durch  den  Gegensatz  der  Abstammung 
seiner  Bewohner  zerrissen;  es  gab  keine  herrschende  Region,  der  Süden 
war  dem  Norden  fremd,  jede  Provinz  stand  für  sich.  Als  aber  mit  dem 
Ritterthume  und  der  Scholastik  germanische  Freiheitsbegriffe  eine  grössere 
und  allgemeinere  Geltung  erhielten,  ging  die  Herrschaft  mehr  und  mehr 
auf  die  nördlichen  Provinzen  über,  hauptsächlich  auf  die,  welche  die  un- 
mittelbare Domäne  des  französischen  Königthums  ausmachten.  Auch  hier 
hatte  die  Römerzeit  tiefe  Eindrücke  hinterlassen,  Paris,  Rheims  und  an- 
dere Städte  trugen  ihre  bleibenden  Spuren;  aber  die  dichtere  Ansiedlung 
der  Franken,  und  die  Verbindung  mit  den  reingermanischen,  flandrischen 
Provinzen  und  mit  den  Normannen  kräftigte  das  germanische  Element  und 
hielt  es  mit  dem  romanischen  im  Gleichgewichte.  Diese  Gegenden  waren 
daher  berufen,  in  socialer  und  politischer  Beziehung  eine  Centralstelle  zu 
werden.  Machtlos,  so  lange  die  Auffassung  der  Gegensätze  in  ihrer  Rein- 
heit vorwaltete,  stiegen  sie  rasch  und  von  selbst,  als  die  Zeit  der  neuen, 
durch  Mischung  gebildeten  Nationalität  gekommen  war.  Es  ist  merk- 
würdig, wie  deutlich  sich  dies  in  der  politischen  Geschichte  zeigt.  Das 
Haus  Hugo  Capets  erlangte  seine  Grösse  nicht  durch  die  Kraft  eines  ein- 
zelnen aus  ihm  entsprossenen  grossen  Fürsten,  nicht  durch  eine  mächtige 
That,  welche  die  Völker  betäubt  und  unterjocht  hätte,  nicht  vermöge 
eines  allgemeinen  aus  der  Erbschaft  der  Cäsaren  oder  durch  die  Weihe 
der  Kirche  überkommenen  Rechtes;  es  hatte  keinen  anderen  Titel,  als  dass 
es  das  Haus  der  Grafen  von  Paris,  der  Herzöge  von  Francien,  der  Herren 
der  Centralgegend  war,  in  welcher  sich  die  Neigungen  der  äusseren  Pro- 
vinzen begegneten.     Nur  dadurch  bekam  jene  zweifelhafte  Wahl  der  Pairs 


Das  französische  Königthum.  27 

und  der  verächtlich  gewordene  Königsname  einen  Werth.  Die  Könige 
stützten  sich  zunächst  auf  ihre  Hausmacht,  sie  erweiterten  dieselbe  all- 
mälig,  durch  privatrechtliche  Verträge  und  Benutzung  günstiger  Umstände, 
ganz  in  derselben  Weise  wie  die  Lehnrechte  ihrer  Vasallen  entstanden 
waren.  Sie  wurden  begünstigt  durch  den  Geist  ihres  Volkes,  der,  dem 
Süden  wie  dem  Norden  verwandt,  auf  die  Interessen  beider  eingehen,  die 
Rolle  des  Vermittlers  spielen  konnte,  und  durch  das  Entgegenkommen 
der  anderen  Volksstämme,  welche  hier  verwandte  Empfindungen  vorfanden 
und  das  Bedürfniss  der  Einigung  hatten. 

Das  Leben  der  Provenzalen  und  Normannen  war  glänzender  und 
poetischer,  als  das  der  Bewohner  von  Francien;  aber  die  Poesie  beider 
war  eine  verschiedene.  Bei  den  kühnen  Eroberern  von  England  war  die 
Kraft  und  die  That,  der  Waffendienst,  das  Abenteuer  des  Kampfes,  in 
dem  Kreise  der  Troubadours  die  feine  Sitte,  die  Sprache  der  Gefühle, 
das  persönliche  Wohlleben  vorwaltend.  Jene  gaben  mehr  den  Stoff, 
diese  mehr  die  Form  der  ritterlichen  Anschauung.  Bei  beiden  waren  ver- 
schiedene politische  Gedanken  gefördert;  bei  den  Normannen  der  Lehns- 
staat mit  seiner  Einheit  und  regelrechten  Ordnung,  aber  auch  mit  seiner 
Härte,  bei  den  Provenzalen  das  Städteleben,  die  Mischung  und  freie  Be- 
wegung verschiedener  Stände.  Im  mittleren  Frankreich  trafen  diese  Gegen- 
sätze zusammen.  Auch  hier  waren  alte  Communen,  wie  im  Süden,  wenn 
auch  weniger  mächtig,  dafür  aber  jung,  strebsam,  durch  die  Könige  und 
durch  die  Macht  der  Umstände  begünstigt.  Diese  Könige  waren  aber 
auch  die  Führer  einer  Ritterschaft,  welche,  der  des  Südens  wie  der  des 
Nordens  gleich  nahestehend,  mit  den  Eigenschaften  beider  wetteiferte  und 
daraus  einen  Kanon  gestaltete,  welchen  beide  anzuerkennen  genöthigt 
waren.  Es  entstand  hiedurch  in  der  Hauspolitik  der  Könige  und  in  ihrem 
Volke  ein  verständiger,  massiger  Sinn,  der  geeignet  war,  das  Gute  der 
Nachbarn  anzunehmen  und  zu  verarbeiten.  Ein  wichtiger  Vorzug  war 
endlich  die  Sprache.  Der  romanische  Dialekt  dieser  mittleren  Gegend, 
auf  die  Normannen  übergegangen  und  durch  sie  auch  in  England  herr- 
schend geworden,  gewann  durch  die  Kreuzzüge  eine  weitere  Verbreitung; 
französische  und  normannische  Ritter  bildeten  den  Kern  des  Kreuzheeres^ 
ihre  Sprache,  den  Provenzalen  und  Italienern  verständlich,  aber  doch  mehr 
mit  germanischen  Elementen  versetzt  und  daher  auch  den  Deutschen  zu- 
gänglicher, wurde  das  vorherrschende  Mittel  der  Verständigung,  erlangte 
bald  in  dem  neugestifteten  Königreich  Jerusalem  eine  officielle  Geltung, 
erhob  sich  so  zum  gemeinsamen  Organ  der  Völker  des  Mittelmeers,  und 
gewann  durch  diese  Verbreitung  und  durch  die  damit  verbundene  An- 
Avendung  auf  mannigfaltige  Verhältnisse  eine  schnelle  Ausbildung.  Nirgends 
folgte    so    rasch   wie   hier   die  Prosa   der   Poesie;    schon   am  Anfange   des 


28  Frankreich. 

dreizehnten  Jahrhunderts  konnten  französische  Ritter  die  Geschichte  ihrer 
Zeit  und  ihre  eigenen  Schicksale  in  der  Muttersprache  lesbar  nieder- 
schreiben. Sie  war  also  die  erste  unter  den  Nationalsprachen  und  fand 
so  bei  dem  regen  Verkehr  der  Völker  und  bei  dem  Einflüsse  der  fran- 
zösischen Ritterschaft  auf  die  der  anderen  Länder  überall  Eingang,  so 
dass  sie  in  weltlichen  Beziehungen  fast  eine  ähnliche  Allgemeingültigkeit 
erlangte,  wie  die  lateinische  in  der  Kirche.  Auch  für  die  ritterliche 
Poesie  wurden  die  Franzosen,  obgleich  an  sich  mehr  verständig  und  pro- 
saisch als  dichterisch  begabt,  die  Vermittler;  sie  verarbeiteten  die  Stoffe 
und  Gedanken  der  Provenzalen  und  führten  sie  den  Deutschen  zu.  Endlich 
nahmen  sie  auch  in  wissenschaftlicher  Beziehung  die  erste  Stelle  ein.  Die 
erste  Anregung  der  Scholastik  ging  vom  Norden  aus.  Aus  den  irischen 
und  angelsächsischen  Klöstern  war  strengere  Wissenschaftlichkeit  schon 
unter  den  Karolingern  durch  Alcuin,  Johannes  Scotus  und  Andere  zu  den 
Nordfranzosen  gelangt.  Auch  die  Normannen  wussten  die  Vortheile  der 
Wissenschaft  zu  schätzen,  beriefen  berühmte  Gelehrte  aus  dem  Auslande 
in  ihre  Abteien  und  Bischofssitze  und  begünstigten  die  von  ihnen  gestif- 
teten Schulen.  Unter  ihnen  hatte  Anselm,  der  Begründer  der  scho- 
lastischen Wissenschaft  gelebt,  welche  auch  ferner  ihre  Jünger  hauptsächlich 
aus  diesen  nördlichen  Gegenden  erhielt.  Im  Süden  dagegen  war  bei  ge- 
ringerer Gelehrsamkeit  und  Tiefe  mehr  allgemeine  Bildung,  Anwendung 
des  Gedankens,  Redefertigkeit.  Das  mittlere  Frankreich  verarbeitete  auch 
hier  wieder  diese  Elemente,  gab  der  Philosophie  Methode,  machte  sie 
populär  und  leicht  zugänglich^),  und  ergriff  sie  mit  jenem  leidenschaft- 
lichen Eifer,  welcher,  nach  dem  Ausdrucke  eines  Zeitgenossen,  auf  allen 
Kreuzwegen  den  Streit  der  Disputationen  ertönen  Hess.  Unter  den  her- 
vorragenden Meistern  sind  mehrere  Italiener,  Engländer  und-  Deutsche, 
aber  die  grosse  Menge  stammt  aus  Frankreich.  Jedenfalls  fand  die  Scho- 
lastik nirgends  so  anhaltende  Pflege  als  hier.  Durch  ihren  Eiufluss  aber 
nahmen  auch  alle  anderen  Wissenschaften  einen  populären  Anstrich,  eine 
encyklopädische  Gestalt  an.  Paris  wurde  bald  der  ausschliessliche  Sitz 
der  Gelehrsamkeit,  die  Wissbegierigen  aller  Länder  strömten  dahin  als 
zu  der  Quelle,  es  wurde  schon  jetzt  zur  Weltstadt-).  Alle  Nationen  er- 
kannten in   dieser  Beziehung  die   Superiorität  der  Franzosen  an=^);    Paris 


1)  Joliannes  von  Salisbury  spottet  über  diese  schnell  zu  erwerbende  Gelehrsamkeit. 
Fiebant  repente  summi  philosophi;  nam  qui  illiteratus  accesserat  nou  morabatur  ulterius 
in  scholis,  quam  eo  cuniculo  temporis,  quo  avium  pulli  plumescunt. 

2)  Vgl.  besonders  die  lehrreiche  kleine  Schrift  von  A.  Springer,  Paris  im  XIII. 
Jahrhundert,  Leipzig  1856. 

3)  Otto  von  Freising  (praef.  in  lib.  5.  Chron.)  bemerkt,  dass  um  diese  Zeit  die 
Wissenschaften    nach    Gallien    übergegangen    seien.     Caesar    von   Heisterbach  (Dialogi 


Paris  eine  Weltstadt.  29 

erlangte  eine  sagenhafte  und  sprüchwörtliche  Bedeutung;  man  sprach  von 
den  Meistern  von  Paris  fast  wie  in  Griechenland  von  den  sieben  Weisen  i). 
Es  konnte  nicht  ausbleiben,  dass  die  von  hier  heimkehrenden  Schüler  die 
Vorliebe  für  französische  Sprache  und  Sitte  steigerten.  Die  Franzosen 
waren  daher  wirklich  die  Tonangeber  in  jeder  Beziehung,  im  Ritterthume- 
wie  in  der  Wissenschaft,  in  der  Ausbildung  des  Lehnrechts  und  in  einer 
klugen,  volksthümlichen  Politik,  endlich  selbst  in  der  Poesie.  Man  machte 
nirgends  ein  Geheimniss  daraus.  Unsere  deutschen  Dichter,  ihren  eigenen 
höheren  Werth  nicht  kennend,  berufen  sich  nicht  bloss  auf  französische 
Quellen,  sondern  gefallen  sich  in  geschmacklos  angebrachten  französischen 
Phrasen.  Italienische  Gelehrte  schrieben  sogar  ganze  Werke  in  franzö- 
sischer Sprache,  weil  sie  die  erfreulichste  sei  und  durch  die  ganze  Welt 
gehe.  Kein  Wunder,  dass  den  Franzosen  selbst  dieser  Vorzug  ihrer  Nation 
nicht  entging,  dass  ihr  Selbstgefühl  und  ihr  Muth  dadurch  wuchsen.  Auch 
hob  sich  das  Land  nicht  bloss  in  geistigen  Dingen;  die  Beute  der  Kreuz- 
züge, der  Ertrag  der  Länder  und  Güter,  welche  französische  Piitter  im 
gelobten  Lande  und  später  auf  dem  Boden  des  eroberten  byzantinischen 
Reiches  erwarben,  flössen  nach  Frankreich  zurück,  die  Fremden  aller  Art,- 
welche  hier  Bildung  lernten,  belebten  den  Verkehr,  und  die  städtischen 
Gewerbe,  von  einer  mehr  geordneten  und  durchgreifenden  Regierung  ge- 
schützt, gaben  einen  solideren  Reichthum. 

Es  konnte  nicht  fehlen,  dass  alle  diese  günstigen  Umstände  auf  die 
Kunst  und  namentlich  auf  die  Architektur  zurückwirkten.  Allein  auch  an 
sich  wurde  sie,  wie  alle  anderen  Thätigkeiten,  durch  jene  mittlere  Stellung 


lib.  5.  c.  22):  In  Parisiense  civitate,  in  qua  est  fons  totius  scientiae  et  puteus  divinoruni« 
scriptorum.  Kein  Wunder  dass  die  Franzosen  selbst  sich  noch  emphatischer  ausdrücken. 
Jacobus  de  Vitriaco  (t  1244)  Hist.  occid.  c.  7.:  Civitas  Parisieiisis  —  fons  hortorum 
et  puteus  aquarum  vivaruin,  irrigabat  universae  terrae  superficiem,  panem  delicatura 
et  delicias  praebens  regibus  et  universae  Ecclesiae  super  mel  et  favum  ubera  dulciora 
propinans.  —  Guil.  Armoricus  de  gestis  Phil.  Augusti  in  Scr.  Rer.  Gall.  XVII.  82.: 
In  dlebus  illis  Studium  litterarum  florebat  Parisiis,  nee  legimus  tantum  aliquando  fuisse 
scholarium  frequentiam  Athenis  vel  Aegypti,  vel  in  qualibet  parte  mundi  quanta  locuni 
praedictum  studendi  gratia  incolebat. 

1)  Wackernagel  in  Haupts  Zeitschrift  für  deutsche  Alterthümer  lY.  S.  496  theilt 
eine  Schrift  mit,  in  welcher  „die  zwölf  Meister  von  Paris"  über  die  höchsten  An- 
forderungen christlicher  Tugend  Sätze  aufstellen.  Interessante  Nachrichten  über  die 
frühe  Blüthe  von  Paris  im  13.  Jahrb.  giebt  Guerard  im  Resume  zu  der  Steuerrolle 
von  1292  in  der  Collectiou  des  documents  inedits  sur  l'hist.  de  France,  p.  468.  Im. 
J.  1292  hatte  es  schon  über  200,000  Einw.,  und  noch  früher  bei  dem  Einznge  Lud- 
wigs IX.  und  seiner  Mutter  war  die  Strasse  von  Paris  bis  Montlehery,  7  bis  8  Lieues^ 
nach  Joinville's  Erzählnng  durch  die  herausströmenden  ßfwohner  von  Paris  ge- 
drängt voll. 


30  Frankreich. 

des  Landes  befördert.  Die  nördlichen  und  südlichen  Provinzen  hatten 
auch  in  baulicher  Beziehung  verschiedene  Richtungen  eingeschlagen,  ver- 
schiedene Systeme  ausgebildet,  jedes  mit  eigenthümlichen  Vorzügen.  Diese 
mittleren  Gegenden  waren  schwankend  geblieben;  sie  waren  daher  in  der 
Lage  von  beiden  anzunehmen,  und  mussten,  da  ihre  entlegensten  Theile 
mit  dem  einen  oder  dem  anderen  jener  Systeme  in  Berührung  standen, 
in  ihrer  Mitte  beide  unwillkürlich  verschmelzen.  Zudem  entsprachen  die 
architektonischen  Eigenthümlichkeiten  beider  Regionen  den  geistigen  Ver- 
schiedenheiten derselben,  die  Centralgegend,  welche  diese  in  sich  aus- 
geglichen hatte,  konnte  mithin  auch  nur  in  der  Verschmelzung  beider 
einen  Ausdruck  ihres  Wesens  finden.  Sie  brachte  aber  auch  ihre  eigenen 
Gaben  mit;  jenen  vermittelnden  Sinn,  der  sich  in  der  Politik  bewährt 
hatte  und  für  die  Architektur  nicht  minder  wichtig  war,  die  gleichmässige 
Empfänglichkeit  für  die  grossartige  Einheit  des  Ganzen  und  die  freie 
Ausarbeitung  des  Einzelnen.  Die  vorherrschende  Stimmung  war,  obgleich 
mehr  verständig  als  poetisch,  dennoch  eine  enthusiastische  und  unter- 
nehmende, und  jener  Zusatz  des  Verständigen  grade  für  die  Baukunst 
und  grade  in  diesem  phantastischen  Zeitalter  nur  vortheilhaft.  Ueberdies 
gaben  Wohlhabenheit,  königliche  Macht  und  das  auf  die  Anerkennung 
uller  Nationen  gegründete  Selbstgefühl  Antrieb  und  Muth  zu  den  kühnsten 
Unternehmungen,  für  welche  dann  auch  der  grosse  Reichthum  an  Bau- 
materialien der  verschiedensten  Art,  der  in  diesen  Ländern  gefunden  wird, 
die  vortheilhaftesten  Mittel  gewährte. 

Das  Resultat  aller  dieser  Elemente  ist  der  gothische  Styl  in  seiner 
primitiven,  in  Frankreich  ausgebildeten  Gestalt.  Wir  können  an  ihm  die 
einzelnen,  aus  den  bisherigen  Systemen  der  Normannen  und  der  Provenzalen 
entlehnten  Bestandtheile  aufzeigen.  Aus  südlicher  Quelle  und  zum  Theil 
aus  antiker  Reminiscenz  stammt  die  volle  Anordnung  des  Chors  mit  seinem 
Umgange,  die  Ausbildung  der  Säule  und  des  Kelchkapitäls,  überhaupt  im 
Gegensatze  gegen  den  normannischen  Stj'l  die  Neigung  für  plastische  Run- 
dung, für  feineres  und  freies  Ornament,  für  dr.s  Vegetabilische,  endlicli 
auch  der  Spitzbogen.  Der  nordischen  Architektur  dagegen  verdankt  er 
das  Kreuzgewölbe,  die  regelmässige  Anordnung  des  Ganzen,  namentlich 
der  Fagade  mit  ihren  Thürmen,  die  gleichmässige  senkrechte  Gliederung 
der  Mauerflächen,  die  rüstige,  aufstrebende  Lebendigkeit.  Dennoch  ist 
dieser  Styl  keinesweges  eine  blosse  Compilation;  jene  entlehnten  Einzel- 
heiten dienten  nur  als  vorbereitende  Studien,  welche  durch  die  künst- 
lerische Kraft  dieser  centralen  Gegenden  zu  einem  organischen  Ganzen 
verschmolzen  wurden  und  in  dem  neuen  Systeme  eine  ganz  andere  Be- 
deutung erhielten  als  sie  bisher  gehabt  hatten.  Er  war  vielmehr  eine 
neue  Erfindung,    die  aber  nicht  plötzlich  als  gerüstete  Minerva  aus  dem 


Miscluing  der  Proviiizialstyle.  31 

Hanpte  eines  einzelnen  Meisters  hervorsprang,  sondern  als  das  Erzeugniss 
vereinter  Kräfte  langsam  und  allmälig  reifte^). 

Den  Ausgangspunkt  für  diese  spätere  künstlerische  Thätigkeit  bildete 
allerdings  die  Vermischung  südlicher  und  nördlicher  Styleigeuthümlichkeiten, 
welche  seit  dem  Beginne  des  zwölften  Jahrhunderts  in  diesen  Gegenden 
ganz  von  selbst,  durch  ihre  geographische  Lage  eintrat.  Die  Klöster 
nahmen  vermöge  ihrer  Verbindung  mit  den  grossen  Ordenshäusern  Bur- 
gunds,  namentlich  mit  Cluny,  bei  ihren  Kirchenbauten  die  grossartigere 
Anlage,  die  dort  aufgekommen  war,  zum  Vorbilde.  In  den  südlichen 
Theilen  unseres  Gebiets  schlössen  sie  sich  denselben  unbedingt  an.  So 
ist  die  Klosterkirche  von  Preuilly  (Prulliacum)  an  der  Südspitze  des 
Gebiets  von  Tours  völlig  den  burgundischen  Kirchen  gleich,  im  Mittel- 
schiffe ein  Tonnengewölbe  mit  regelmässigen  Quergurten,  in  den  Seiten- 
schiffen halbe  Tonnengewölbe;  viereckige  Pfeiler  mit  angelegten  Halbsäulen, 
der  ChoruHigang  mit  drei  radianten  Kapellen,  ausserdem  senkrecht  gestellte 
Kapellen  an  der  Ostwand  des  Kreuzschiffes-).  In  den  nördlicheren  Gegen- 
den verband  man  indessen  diese  Anlage  mit  den  decorativen  Formen  der 
Normandie  und  mit  dem  Kreuzgewölbe.     So  hat  der  Chor  der  Abteikirche 


^)  Ueber  die  Literatur  der  französischen  Archäologie  vgl.  oben  Band  IV.  S.  486. 
Eine  genaue  Darstellung  des  Entwickelungsganges  dieser  nordfranzösischen  Bauschule 
ist  von  den  französischen  Schriftstellern  überall  noch  nicht  gegeben,  obgleich  sie  im  All- 
gemeinen über  ihre  Bedeutung  und  den  Hergang  einverstanden  sind  und  im  Einzelnen 
auch  wohl  die  allmälige  Veränderung  gewisser  Formen  nachweisen.  Die  ersten  Andeu- 
tungen des  richtigen  Verhältnisses  hatte  schon  der  frühverstorbene  Engländer  Whit- 
tington  (An  historical  survey  of  the  ecclesiastical  antiquities  of  France,  London  1809, 
4*^  und  1811  8'^)  gegeben,  während  Didron,  der  (Annales  archeol.  XVI.  307.)  für  sich 
das  Verdienst  in  Anspruch  nimmt,  den  französischen  Ursprung  des  gothischen  Styles 
zuerst  in  Frankreich  ausgesprochen  zu  haben,  nur  vereinzelte,  in  den  Jahren  1830  — 
1841  gedruckte  Zeitungsartikel  citirt,  welche  keine  genauere  Ausführung  enthalten 
konnten.  Vollständigeres  lieferte  Mertens  in  seinen  in  Düsseldorf  im  J.  1841  gehal- 
tenen Vorlesungen,  deren  Inhalt  in  dem  bereits  angeführten  Aufsatze:  Paris  bau- 
geschichtlich im  Mittelalter,  in  der  Wiener  Bauzeitung  1843,  p.  159,  und  1847,  p.  62 
weiter  ausgeführt  ist.  Seine  Annahmen  sind  im  Allgemeinen  richtig,  obgleich  in  über- 
treibender Sprache  vorgetragen,  im  Einzelnen  weiche  ich,  wie  eine  Vergleichung  er- 
giebt,  vielfach  von  ihm  ab.  Eine  reiche  Quelle  der  Belehrung  ist  der  Dictionnaire 
raisonne  de  l'architecture  francaise  du  XI.  au  XVI.  siecle  von  Viollet-le-Duc,  Paris 
1854 — 1868,  welcher  die  Geschichte  jedes  einzelnen  Baugliedes  und  in  den  Haupt- 
artikeln höchst  bedeutende  Bruchstücke  einer  Geschichte  der  französisch -gothischen 
Architektur  giebt,  und  endlich  seine  Annahmen  mit  vortrefflichen  und  anschaulichen 
Zeichnungen  belegt. 

2)  Vgl.  Corblet,  Mnnuel  elementaire  d'archeologie  nationale.  Lyon  1831,  und 
die  in  Audige,  Histoire  de  Preuilly  enthaltene  Notice  archeologique  von  Bourasse. 
Dieser  hält  das  gegenwärtige  Gebäude  für  das  in  den  Jahren  1001  bis  1009  erbaute, 
die  ganze  Anlage  lässt  indessen  darauf  schliessen,  dass  sie  nach  dem  Neubau  von 
Cluny,  also  etwa  im  ersten  \'iertel  des  zwölften  Jahrhunderts,  entstanden  sei. 


32  Frankreich. 

St.  Pere  in  Chartres,  dessen  untere  Theile  aus  einem  nach  einem  Brande 
vom  Jahre  1134  begonnenen  Bau  herstammen,  die  Anlage  mit  radianten 
Kapellen,  neben  normannischer  Ornamentation  der  Kapitale^).  Am  auf- 
fallendsten zeigt  sich  diese  Mischung  an  dem  aus  der  Anfangszeit  des 
zwölften  Jahrhunderts  stammenden  Chore  der  vormaligen  Prioratskirche 
St.  Martin  des  champs  zu  Paris.  Die  Anlage  mit  radianten  Kapellen, 
die  Bildung  der  korinthisirenden  Kapitale  und  endlich  die  Verbindung  der 
Halbsäulen  am  Aeusseren  des  Chors  mit  dem  Gesimse  ohne  Vermittelung 
durch  Bögen,  mithin  entschieden  südliche  Elemente,  kommen  zugleich  mit 
dem  Zickzack  und  ähnlichen  normannischen  Ornamenten  vor-). 

Die  Stephanskirche  zuBeauvais  giebt  endlich  sogar  ein  Beispiel 
der  Aufnahme  nicht  bloss  normannischer  sondern  auch  deutscher  Formen. 
Sie  hat  den  ausgebildeten  Pfeiler  der  normannischen  Bauten,  ein  Triforium 
mit  überwölbten  Doppelarcaden,  erhöhte  Scheidbögen,  Kelchkapitäle  ohne 
Reminiscenz  an  das  korinthische,  dabei  aber  im  Aeusseren  in  der  Behand- 
lung des  Rundbogenfrieses  und  der  als  kleine  Säulen  gestalteten  Lisenen 
überraschende  Aehnlichkeit  mit  manchen  deutschen  Bauten  ^).     "Wir  sehen. 


^)  Mertens  a.  a.  0.  giebt  dieser  Kirche  das  Datum  von  940.  Das  Kloster  war 
aber,  wie  Ordericus  Vitalis  erzählt,  durch  eine  Feuersbruiist  vom  J.  1134  cum  reliquis 
officinis  so  sehr  zerstört,  dass  die  Mönche  sich  zerstreuten,  und  die  Gallia  christiana 
(Vol.  VIII,  col.  1226)  schreibt  daher  wohl  mit  Recht  erst  dem  Abte  Fulcherius  (1150 
bis  1171)  die  Errichtung  dieses  Chors  zu,  welcher  Rundsäulen  mit  schweren  und  schmuck- 
losen Kelchkapitälen,  stumpfe  Spitzbügen,  und  in  den  Seitenschiffen  Kreuzgewölbe  mit 
spitzen  Diagonalgräten  und  runden  Transversalbögen  hat,  und  daher  der  zweiten  Hälfte 
des  12.  Jahrh.  wohl  entspricht. 

")  Die  erste  an  dieser  Stelle  erriclitete  Stiftskirche  war  im  Jahre  1060  gegründet 
und  schon  1067  geweiht.  Allein  durch  eine  Urkunde  vom  Jahre  1097  schenkte  König 
Philipp  die  ganze  Stiftung  (locum  quem  pater  mens  fundavit  qni  dicitur  Sancti  Martini 
ad  campos)  dem  Abte  Hugo  von  Cluny  und  seinen  Nachfolgern,  so  dass  sie  nun  zu 
einem  von  Cluny  aus  besetzten  Priorat  wurde.  Vgl.  Mich.  Felibien,  Hist.  de  la  ville 
de  Paris  (fol.  1725).  Vol.  I.  p.  130  und  Vol.  III.  p.  49  ff.  In  den  Jahren  1097  und 
1137  sicherten  andere  Urkunden  des  Erzbischofs  von  Paris  und  des  Königs  dem  Kloster 
seine  reichen  Besitzthümer  und  Rechte.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  jene  erste 
schon  in  sieben  Jahren  vollendete  Kirche  den  klösterlichen  Bedürfnissen  nicht  entsprach 
und  dass  daher  die  älteren  Theile  des  Chors  (das  Schiff  ist  im  Jahre  1240  erneuert 
und  auch  der  Chor  hat  um  diese  Zeit  einige  leicht  erkennbare  Aenderungen  erhalten) 
aus  einem  Neubau  stammen,  welcher  unmittelbar  von  den  aus  Cluny  gekommenen 
Mönchen  geleitet  wurde,  wodurch  sich  auch  die  südlichen  Formen  erklären.  Die  An- 
lage des  Kapellenkranzes  ist  indessen  ziemlich  complicirt  und  abweichend  von  der 
älteren  Weise. 

•'')  Das  Gebäude  enthält  Theile  sehr  verschiedener  Zeiten,  deren  völlige  Sichtung 
den  Gegenstand  einer  anziehenden  Monographie  bilden  könnte.  Audi  die  sehr  eigen- 
thümüche  Symbolik  ihres  Bildwerks  würde  dabei  in  Betracht  kommen.  Vgl.  einige 
Abbildungen  bei  Gaiihal)and  und  in  der  Voyage  dans  l'ancienne  France. 


Abt  Suger  von  St.  Denis.  33 

wie  begierig  diese  mittlere  Gegend  nach  brauchbaren  Formen  war,  wie  sie 
dieselben  von  allen  Seiten  herbeizog. 

Diese  Mischung  heterogener  Elemente  und  diese  schwankenden  Ver- 
suche erzeugten  dann  aber  sehr  bald  in  consequenteren  Geistern  das  be- 
wusste  Bestreben  nach  Bildung  eines  in  sich  harmonischen,  technisch 
befriedigenden  Styls.  Zuerst  und  in  sehr  merkwürdiger  Weise  tritt  uns 
dies  in  den  Bauunternehmungen  des  berühmten  Abts  Suger  an  der  Abtei 
St.  Denis  bei  Paris,  der  reichen  Stiftung  und  Grabstätte  der  franzö- 
sischen Könige,  entgegen.  Suger ^),  1121  zum  Abte  gewählt,  fand  die 
bestehende,  auf  den  Grundmauern  eines  noch  älteren  Baues  von  Pipin  be- 
gonnene und  unter  Karls  des  Grossen  Regierung  vollendete  Kirche  für 
den  Andrang  der  Gläubigen  zu  klein  und  begann  sofort  einen  Erneuerungs- 
bau, den  er  mit  höchster  Sorgfalt  betrieb  und  über  dessen  Hergang  er 
einen  ausführlichen  Bericht,  eines  der  interessantesten  Documente  mittel- 
alterlicher Kunstgeschichte  2),  hinterlassen  hat.  Sehr  merkwürdig  ist  schon 
der  Eifer  des  Abts;  er  nimmt  sich  des  Baues  und  der  Ausschmückung 
der  Kirche  in  allen  Theilen  an,  geht  mit  in  den  Wald,  wo  die  Bäume 
gefällt  werden,  versucht  selbst  seine  künstlerischen  Schulstudien  anzuwen- 
den. Er  zieht  aber  auch  auswärtige  Künstler  soviel  er  kann,  aus  Lo- 
thringen und  aus  anderen  Ländern  herbei,  und  wetteifert  mit  allen  grossen 
Werken,  die  er  kennt  oder  von  denen  er  gehört  hat.  So  wünscht  er 
Säulen  zu  haben,  wie  er  sie  im  Palast  des  Diocletian  in  Rom  gesehen  hat, 
überschlägt  schon  die  Kosten,  wenn  er  sie  (wie  er  ausdrücklich  erwähnt) 
vielleicht  mit  Hülfe  von  Saracenen  aus  Italien  kommen  Hesse,  ist  aber 
dann  so  glücklich,  in  einem  benachbarten  Thale  taugliche  Steine  zu  finden-^). 
Er  zeigt  die  bereits  beschafften  Kunstwerke  gern  denen,  die  aus  dem  ge- 
lobten Lande  zurückgekehrt  sind  und  die  Schätze  der  Sophienkirche  kennen, 
und  fühlt  sich  geschmeichelt,  wenn  sie  seinen  Besitz  für  vorzüglicher  er- 
klären. Er  beginnt  seinen  Bau  mit  der  Fagade,  der  er  drei  Portale  giebt, 
nebst  der  Vorhalle  und  einigen  daran  stossenden  Kapellen,  lässt  neue  Thürme 


^)  Auch  liier  ist  Whittiiigton  der  Erste,  welclier  auf  die  kunslliistorische  Wichtig- 
keit der  Bauten  Sugers  aufmerksam  gemacht  hat,  denen  Mertens  a.  a.  0.  insofern  eine 
zu  grosse  Bedeutung  beilegt,  als  er  Suger  als  den  Schöpfer  des  gothischen  Systemes 
darstellt.  —  Vgl.  auch  F.  de  Verneilh,  le  premier  des  monuments  gothiques,  mit  Ab- 
bildungen, Annales  archeologiques,  ß.  XXIII,  1863. 

2)  Suger,  de  rebus  in  administratione  sua  gestis,  bei  Duchesne  Scr.  IV.  p.  343, 
imd  bei  Feiibieu,  Histoire  de  l'abbaye  royale  de  Saint-Denis,  Paris  1706,  im  Anhange 
p.  172. 

^)    Zappert,    über   Antiquitätenfunde    im    Mittelalter   (Sitzungsberichte    der   Wiener 
Akademie,  Bd.  V.,  S.  761)  nimmt  an,  dass  er  ein  antikes  Gebäude  entdeckt,  welches 
er    geplündert.     Es    scheint  dies   aber   ein   Missverständniss    des   Textes  (bei  Felibien, 
p.  CCXXXIX).     Er  sagt  nur,  dass  in  diesem  Thale  vor  Alters  Mühlen  waren. 
Schnaase's  Kunstgescli.    2.  Aufl.    V.  3 


34  Das  nördliche  Frankreich. 

errichten,  zwei  eherne  Thüren  ausser  der  alten,  die  er  beibehält,  giessen. 
Im  Jahre  1140  konnte  er  seine  Inschrift  auf  der  vollendeten  Vorderseite 
anbringen,  und  die  feierliche  Einweihung  dieses  westlichen  Theiles  bewirken. 
Dann  schreitet  er  zur  Erneuerung  des  Chors  und  ist  so  glücklich,  in  der 
kurzen  Zeit  von  drei  Jahren  und  drei  Monaten  die  Krypta  und  den  oberen 
Bau,  ein  prachtvolles  Werk,  an  welchem  er  selbst  die  Höhe  der  Gewölbe, 
die  Mannigfaltigkeit  der  Bögen  und  Säulen  (voltarum  sublimitatem,  tot  ar- 
cuum  et  celumnarum  distinctionem)  rühmt,  zu  vollenden  (1144).  Durch 
diesen  Erfolg  und  durch  das  Zureden  Anderer  ermuthigt  beschliesst  er  dem- 
nächst, auch  den  mittleren  Theil,  das  Schiff,  neu  herzustellen,  und  den 
beiden  anderen,  erneuerten  Theilen  ähnlich  zu  machen.  Hier  indessen,  wie 
er  angiebt  aus  Ehrfurcht  vor  der  früheren  Weihe,  vielleicht  auch  mit  dem 
Wunsche  schnellerer  Beendigung,  behielt  er  einen  Theil  der  älteren  Mauern 
bei^),  und  dieser  Umstand  erklärt  es,  dass  gerade  dieser  mittlere  Theil 
schon  nach  kaum  neunzig  Jahren  unter  Ludwig  IX.  erneuert  werden  musste, 
während  die  Fagade,  die  Krypta  und  der  untere  Theil  des  Chors,  so  wie 
das  Portal  des  nördlichen  Kreuzschiffes  ungeachtet  der  schmachvollen  Ver- 
wüstung dieses  Heiligthums  des  französischen  Königshauses  in  der  Revolution 
und  der  späteren  nicht  überall  discreten  Restauration  im  Wesentlichen  noch 
aus  Sugers  Zeil  erhalten  sind. 

Die  Westseite,  ein  Mittelbau  zwischen  zwei  kräftigen,  wenig  verjüngten 
Thürmen  mit  drei  Portalen  und  Fenstergruppen,  erinnert  in  den  Grund- 
zügen ihrer  Eintheilung  an  die  von  St.  Etienne  in  Caen.  Aber  die  Ver- 
hältnisse sind  schon  leichter,  die  Portale  weiter,  stärker  vertieft  und  reicher 
mit  plastischem  Schmucke  ausgestattet,  die  Massen  besser  gegliedert.  Wäh- 
rend dort  nur  die  verticale  Theilung  hervortritt,  und  dieThürme  vom  Boden 
■bis  zum  Beginne  des  Helmes  schwer  und  unvermindert  aufwachsen-),  werden 
hier  ihre  unteren  Stockwerke  mit  dem  Mittelbau  durch  gemeinsamen  hori- 
zontalen Abschluss  zu  einem  Ganzen  eingerahmt,  auf  welchem  die  oberen 
Stockwerke  der  Thürme  in  etwas  vermindertem  Umfange  aufsteigen.  Der 
Spitzbogen  wechselt  an  dieser  Facade  mit  dem  Rundbogen.  Am  Mittel- 
portale sind  die  reichgegliederten  Archivolten  halbkreisförmig,  während  die 
Bögen  der  Seitenportale  eine  leichte,  aber  bestimmt  ausgesprochene  Zu- 
spitzung haben.  Dasselbe  wiederholt  sich  merkwürdiger  Weise  an  den  drei 
Fenstern  über  dem  Mittelportale,  indem  auch  hier  das  mittlere  rund,  die 
beiden  äusseren  dagegen,  wie  die  meisten  über  den  Seitenportalen,  spitz- 


1)  Da  Suger  (a.  a.  0.  cap.  29)  diese  Beibehaltung;  nur  bei  diesem  Theile  und  zwar 
ausführlich  erwähnt,  wird  man  annehmen  dürfen,  dass  sie  nur  liier  stattfand. 

-)  Vergl.  die  Abbildung  der  Facade  von  St.  Etienne  in  laibke's  Atlas,  Taf.  42, 
Nro,  9. 


Suger's  Bauten  in  St.  Denis.  35 

togig  sind  ^).  Die  mächtigen  Pfeiler  der  Vorhalle  unter  den  Thürmen, 
rechtwinkeliger  Anlage,  mit  einer  grossen  Zahl  von  Halbsäulen  nach  der 
Richtung  der  ihnen  entsprechenden  Gewölbgurten  umstellt,  zeigen  schon 
das  Bestreben  einer  organischen  Verbindung  der  Pfeiler  mit  den  Gewölben. 
Sie  tragen  jetzt  durchweg  Spitzbögen,  welche  indessen  zum  Theil  durch 
spätere  Aenderung  an  die  Stelle  früherer  Rundbögen  getreten  zu  sein 
scheinen. 

Während  die  Fagade  in  ihrer  Anordnung  und  sogar  in  manchen  Details, 
namentlich  in  den  Wandmustern  zwischen  den  Fenstern,  an  die  Norman  die 
■erinnert,  schliesst  sich  die  Choranlage  dem  grossartigeren  südlichen  Systeme, 
^ber  ebenfalls  mit  bedeutenden  Verbesserungen,  an.  Sie  hat  nämlich  nicht 
bloss,  wie  selbst  der  kolossale  Bau  von  Cluny,  fünf,  sondern  sieben  radiante 
Kapellen,  und  nicht  wie  dort  vereinzelt,  sondern  eng  aneinandergerückt  und 
nur  durch  Strebemauern  getrennt,  so  dass  sie  einen  wirklichen,  geschlos- 
senen Kranz  bilden.  Acht  Rundsäulen  umstehen,  und  zwar  nach  der  Mitte 
zu  mit  wachsender  Annäherung,  den  inneren  Chorraum,  um  den  sich,  da 
zwischen  ihnen  und  den  Kapellenmauern  eine  zweite  Säulenstelluug  ange- 
bracht ist,  ein  doppelter  Umgang  herumzieht-).  In  der  Krypta  finden  wir 
im  Wesentlichen  rein  romanische  Formen,  rundbogige  Fenster  und  Arcaden, 
schwere  Kapitale  mit  roher  Nachahmung  der  korinthischen  Form  und  mit 
historischen  Darstellungen.  Im  oberen  Chore  ist  diese  antike  Reminiscenz 
noch  deutlicher  und  vielleicht  durch  nähere  Berücksichtigung  alter  Vor- 
bilder aufgefrischt,  aber  die  Kapitale  sind  leichter  und,  ungeachtet  wech- 
selnder Verzierung,  meist  mit  knospenartigem  Blattwerk  ausgestattet.  Zu 
dieser  Verbesserung  der  decorativen  Plastik  kommen  dann  die  sehr  viel 
Avichtigeren  constructiven  Neuerungen.  Alle  Felder  des  Chores  sind  mit 
Kreuzgewölben  bedeckt,  welche,  im  Spitzbogen  construirt,  aus  kräftigen 
Steinrippen  mit  leichtgehaltenen  Kappen  bestehen,  und  durch  starke  in  die 
Ecken  der  Kapellen  gelegte  Strebepfeiler  gesichert  sind,  von  welchen  dann 
oben  Strebebögen  zur  Stütze  der  mittleren  und  höheren  Theile  des  Chores 
ausgehen.  Jenes  bequeme,  leicht  ausführbare  und  fügsame  System  der 
Ueberwölbung,  nach  welchem  man  so  lange  gesucht  hatte,  dem  der  Meister 
jener  Kreuzgewölbe  im  Langhause  der  Kirche  zu  Vezelay  schon  nahe  ge- 
kommen war,  ohne  es  zu  erreichen,  (vgl.  oben  Band  IV,  S,  513)  war  daher 
gefunden.    Dazu  kam  dann,  dass  hier,  wahrscheinlich  zum  ersten  Male  in 

^)  Die  drei  Fenster  über  dem  nürdliclien  Seitenportal  sind  alle  spitz,  von  denen 
über  dem  südlichen  dagegen,  ohne  erklärbares  Motiv,  nur  eines, 

-)  Der  äussere  Umgang  ist  jedoch  zu  den  Kapellen  gezogen  und  dient  also  eigent- 
lich uur  als  innere  Verbindung  derselben.  Die  Anordnung  ist  ähnlich,  aber  docli  nicht 
:ganz  gleich,  wie  auf  dem  weiter  unten  mitzutheilenden  Grundrisse  von  St.  Remy  in 
Jliieims. 

3* 


3()  Das  nördliche  Frankreich. 

Frankreich,  der  Spitzbogen  nicht  bloss  an  den  tragenden  Bögen,  sondent 
auch  an  den  Fenstern  ganz  durchgeführt  ist.  Die  Meinung,  dass  Suger 
diesen  Bogen  als  eine  Verschönerung  oder  Verbesserung  aus  dem  Orient 
oder  aus  Sicilien,  welche  Gegenden  er  nach  seinen  ziemlich  ausführlichen 
Lebensnachrichten  nie  betreten  zu  haben  scheint,  entlehnt  habe,  verdient 
kaum  mehr  eine  Widerlegung.  "Wir  haben  gesehen,  dass  er  in  Frankreich 
schon  oft  angewendet  war;  schon  früher  an  den  Tonnengewölben  der  süd- 
lichen und  westlichen  Provinzen,  in  Cluny  und  neuerlich  in  der  Kathedrale- 
von  Autun  an  den  Scheidbögen,  an  vielen  Orten  endlich  neben  Rundbögen 
an  einzelnen  Stellen,  wo  man  den  Bogen  auf  engerem  Räume  zu  gleicher 
Höhe  hinaufführen  wollte.  In  diesem  Sinne  erscheint  der  Spitzbogen  auch 
an  Suger's  Fagade  bei  den  Seitenportalen;  er  ist  auch  hier  gleichsam  durch 
Zusammendrängen  entstanden,  um  die  Höhe  des  breiteren  Mittelportals  zu 
erreichen.  Aber  schon  an  den  Fenstern  der  Fagade  hat  er  eine  andere- 
Bedeutung;  er  kommt  zwar  wechselnd  vor,  aber  nicht  in  Folge  der  Raura- 
beschränkung,  sondern  aus  rein  ästhetischem  Grunde,  um  den  Wechsel  der 
Bogenformen  der  Portale  auch  an  den  oberen  Theilen  zu  wiederholen.  Eine- 
ähnliche Rücksicht  scheint  auch  für  die  vollständigere  Durchführung  des 
Spitzbogens  im  Chor  maassgebend  gewesen  zu  sein.  Bei  den  Gewölben  war 
er  aus  technischen  Gründen,  bei  den  mittleren  Säulenpaaren  am  Rundpunkte- 
durch  ihre  enge  Stellung  gefordert;  die  Zusammenstellung  verschiedenartiger 
Bögen,  welche  sich  hier  nicht,  wie  an  der  Fagade,  auf  einen  bedeutsamen 
Rhythmus  zurückführen  liess,  sagte  aber  Suger's  ordnendem  Sinne  nicht  zu.. 
Er  zog  daher  vor,  ihn  allen  Arcaden  und  demnächst  zu  weiterer  Gleich- 
förmigkeit auch  den  Fenstern  zu  geben.  Wir  können  annehmen,  dass  der 
unternehmende  Geist,  der  Sinn  für  Ordnung,  welchen  Suger  als  Staatsmann 
und  Rathgeber  des  Königs  ausgebildet  hatte,  auch  auf  seine  künstlerische 
Wirksamkeit  Einfluss  hatte,  und  ihn  zu  einer  Consequenz  ermuthigte,  zu 
der  sich  seine  Zeitgenossen  noch  nicht  entschliessen  konnten.  Sie  behielten 
vielmehr,  obgleich  sie  nun  fast  allgemein  den  Spitzbogen  an  den  Arcaden 
anwendeten,  für  die  Fenster  und  Portale  noch  längere  Zeit  den  Rund- 
bogen bei. 

Nicht  allen  Baumeistern  standen  die  reichen  Mittel  zu  Gebote,  welche 
der  Abt  von  St.  Denis  durch  die  Beihülfe  seines  königlichen  Herrn  erlangte.. 
Dagegen  war  der  ausserordentliche  Eifer  für  kirchliche  Bauten,  für  Neue- 
rungen und  Verbesserungen,  der  ihn  beseelte,  auf  anderen  Punkten  Frank- 
reichs nicht  minder  gross.  Wir  können  ihn  schon  seit  dem  Anfange  des 
zwölften  Jahrhunderts  wahrnehmen.  Die  gewaltigen  Opfer  von  Kräften  und 
Geldmitteln,  welche  die  Kreuzzüge  in  Anspruch  nahmen,  lähmten  ihn  nicht, 
dienten  ihm  vielmehr  nur  zur  Steigerung.  Die  Zurückbleibenden,  welche 
sich  den  Kreuzzügen  nicht  anschliessen  konnten,   fanden   eine  Beruhigung^ 


Eifer  für  kirchliche  Bauten.  37 

-ein  stellvertretendes  Opfer,  darin,  wenn  sie  wenigstens  durch  Beisteuern 
■oder  noch  besser  durch  thätige  Beihülfe  bei  kirchlichen  Bauten  für  die 
:Sache  des  Christenthums  mitwirken  konnten,  und  die  Begeisterung  liess  sie 
dabei  keine  Anstrengung  und  Entsagung  scheuen.  Auch  wurde  diese  Be- 
geisterung auf  alle  Weise  genährt  und  angespornt.  Robert  d'Aubrissel 
(t  1117),  ein  feuriger  Mönch,  der  als  Kreuzzugsprediger  durch  das  Land 
wanderte,  stellte  es  sich  zugleich  zur  Aufgabe,  die  Anlage  von  Klöstern, 
namentlich  für  Frauen,  zu  befördern,  und  sein  Bestreben  war  so  wenig 
fruchtlos,  dass  eine  Menge  solcher  Institute  durch  ihn  ins  Leben  traten. 
In  der  kleinen  Provinz  Picardie  wurden  von  1107  bis  1124  acht,  von  1128 
bis  1145  noch  elf  neue  Klöster  gegründet  i).  Aber  nur  Wenige  hatten  die 
Mittel  zu  so  kostspieliger  Frömmigkeit,  und  auch  diese  begnügten  sich  nicht 
mit  blossen  Opfern  zeitlicher  Güter,  ein  jeder  wollte,  wie  die  Kämpfer  des 
Kreuzheeres,  persönlich,  körperlich  für  die  Sache  Gottes  und  der  Kirche 
mitwirken.  Ich  habe  schon  früher-)  von  der  eigenthümlichen  Erscheinung 
gesprochen,  dass  alle  Stände  herbeiströmten,  um  Bauhülfe,  selbst  die  nie- 
<irigsten  Dienste  zu  leisten.  Sie  gehört  dieser  Zeit  und  dieser  nordfranzö- 
sischen Gegend  an.  Schon  Suger  kam  sie  zu  statten;  als  er  nach  der  Auf- 
.findung  jener  Säulenstämme,  deren  ich  erwähnte,  wegen  der  Herbeischaifung 
ihrer  gewaltigen  Last  besorgt  war,  eilten  Vornehme  und  Geringe  herbei, 
um  mit  ihren  Armen,  den  Lastthieren  gleich,  sie  heranzuziehen-^).  Dies 
wiederholte  sich  demnächst  einige  Jahre  später,  1145,  bei  dem  Bau  der 
Kathedrale  von  Chartres  in  grossartigerer  Weise;  hier  wurde  diese  Hülfe 
völlig  organisirt,  man  behielt  die  herbeiströmende  Menge  längere  Zeit  bei- 
sammen, liess  sie  beichten,  unbedingten  Gehorsam  geloben,  begeisterte  sie 
durch  geistliche  Gesänge  und  vermochte  dadurch  das  Werk  mehr  zu  be- 
schleunigen, als  es  selbst  durch  die  reichsten,  königlichen  Geldspenden 
möglich  gewesen  wäre,  und  Hindernisse  zu  überwinden,  vor  welchen  blosse 
Lohnarbeiter  zurückgeschreckt  wären.  Dies  erbauliche  Schauspiel  erweckte 
Nachahmung,  alle  Stände  und  Geschlechter  wollten  Theil  nehmen,  ein  from- 
mer Wetteifer  verbreitete  sich  durch  das  ganze  Land,  und  die  Aebte  und 
Bischöfe  konnten  sich  rühmen,  dass  edle  Männer  und  Frauen  den  stolz  und 
weich  gewöhnten  Nacken  unter  Riemen  und  Tauwerk  gefügt  hätten,  um 
«chwer  beladene  Karren  zu  ziehen,  dass  Berge  und  Sümpfe,  und  selbst  die 
drohende  Meeresfluth  die  Glaubenseifrigen  nicht  zurückhalte,  dass  sie  mit 
ehrerbietigem  Schweigen  und  ohne  Murren  alle  Lasten  ertrügen^). 


^)  Woillez  in  den  Mem.  des  Antiquaires  de  la  Picardie,  Vol.  VI,  p.  190  ff. 
2)  Band  IV,  S.  213. 

')    Er  beschreibt  es  selbst,   wie  sie,   „brachiis  et  lacertls  immensas  illas  columuas 
tfunibus  adstricti' vice  trahentium  animalium  ex  Ulis  antris  extrahebant". 

*)    Eine  Reihe   von  Zeugnissen   bestätigen  diesen  Hergang  und  den  Anfang  dieses 


.*?  17692 


33  Das  nördliche  Frankreicli. 

Es  ist  begreiflich,  dass  dieser  Eifer  auch  die,  welche  den  Bau  leiteten 
und  die  Formen  zu  bestimmen  hatten,  begeistern  und  ermuthigen  musste. 
Auch  sie  wollten  und  konnten  nicht  im  alten  Geleise  bleiben,  fühlten  sich 
angespornt.  Neues  und  Kühneres  zu  leisten,  um  der  werkthätigen  Menge 
zu  zeigen,  dass  ihre  fromme  Beihülfe  nicht  verloren  gehe.  Gewiss  wurde 
daher  an  vielen  Orten  mit  demselben  Eifer  geforscht  und  gearbeitet,  wie  in 
St.  Denis. 

Dies  beweist  auch  der  andere,  eben  erwähnte  und  gleichzeitige  Bau, 
welcher  mit  so  grossartiger  Laienhülfe  unternommen  wurde,  dieKathedrale 
von  Chartres^),  die  mau,  um  1145  und  zwar  nicht,  wie  es  später  üblich 
wurde,  mit  dem  Chore,  sondern  wie  in  St.  Denis  mit  der  Fagade  begann. 
Bald  aber  muss  das  Unternehmen  in  Stocken  gerathen  sein.  Das  Schiff 
der  Kirche  gehört  ganz  dem  dreizehnten,  die  bewundernswerthe  Aus- 
schmückung der  Seitenportale  dem  vierzehnten  Jahrhunderte  an,  der  nörd- 
liche Thurm  an  der  Westfronte  hat  erst  im  sechszehnten  Jahrhundert  seinen 
Aufsatz  erhalten.  Was  aus  der  Zeit  um  1145  stammt,  ist  der  grösste  Theil 
der  Fagade,  mit  Einschluss  des  Unterbaues  beider  Thürme  und  des  oberen 
Tieils  vom  südlichen  Thurm-).  Nur  das  Radfenster  scheint  erst  im  drei- 
zehnten Jahrhundert  hinzugefügt  zu  sein"^).  Diese  Fagade  zeugt  von  über-^ 
laschender  Kühnheit  und  Klarheit  des  Gedankens.  Sie  setzt  eine  Mittel- 
schiffbreite voraus,  über  welche  auch  die  späteren  Baumeister  nicht  leicht 
hinauszugehen  wagten,  sie  enthält  in  der  consequenten  Anwendung  des 
Spitzbogens,  in  der  Begründung  der  Thürme  durch  Strebepfeiler,  in  der 
Anordnung  der  Portale  viele  Grundzüge  der  späteren  gothischen  Fagaden. 
Aber  darin  weicht  sie  von  diesen  und  selbst  von  der  Kirche  von  St.  Denis^ 


Eifers  bei  dem  Dombaii  vou  Chartres.  So  der  Brief  des  Erzbischofs  Hugo  von  Ronen- 
an  Theodorich  Biscliof  von  Amiens  bei  Mabiilon,  Annal.  ord.  S.  Bened.  VI,  p.  392,. 
das  Chron.  Normanniae  bei  Duchesne  Hist.  Norm.  Script,  p.  982,  und  besonders  der 
ausfülirHche  Brief  des  Abts  von  S.  Pierre  sur  Dive  bei  Mabiilon  a.  a.  0.  1.  78,  c.  67. 

1)  Abbildungen  in  Chapuy  Cathedrales  franc.  und  sonst  häufig-.  Besonders  aber 
in  J.  B.  A.  Lassus  et  A.  Didron,  Monographie  de  la  Cathedrale  de  Chartres.  Paris- 
1842  etc. 

2)  Der  Abt  von  S.  Pierre  sur  Dive  a.  a.  0.  bemerkt  ausdrücklich,  dass  man  da- 
mals (1145)  an  den  Thürmen  gebaut  habe. 

'')  Viollet-le-Duc  (II.  p.  313,  HI.  p.  359)  nimmt  an,  das  Langhaus  habe  ursprüng- 
lich früher  geendigt,  die  Thürme  seien  vor  demselben  angelegt  und  durch  eine  Vorhalle 
verbunden  gewesen.  Bei  der  Verlängerung  des  Mittelschiffs  im  dreizehnten  Jahrhundert 
sei  die  Vorhalle  verschwunden,  aber  die  drei  Portale,  welche  anfangs  aus  dieser  in 
das  Innere  führten,  habe  man  ihres  reichen  Schmuckes  wegen  nicht  aufgeben  wollen 
und  nebst  den  drei  Fenstern  über  ihnen  in  die  neue  Facade  versetzt.  Trotz  aller  Be- 
stimmtheit, mit  welcher  Viollet-le-Duc  dies  aufstellt,  giebt  er  keine  Beweise  an;  eine 
solche  Anlage  wäre  höchst  ungewöhnlich  gewesen. 


Facade  der  Kathedrale  von  Chartres.  39 

ab,  dass  ihre  drei  Portale  nicht  in  je  eines  der  drei  Schiffe  führen,  sondern 
eng  aneinander  gerückt  die  Breite  des  Mittelschiffs  einnehmen.  Augen- 
scheinlich entstand  dies  hier  dadurch,  dass  man  die  beabsichtigten  mächtigen 
Thürnie  durchweg  auf  solide  Mauern  stützen  und  diese  nicht  durch  einen 
Portalbau  schwächen  wollte,  wodurch  man  dann  als  Zugang  des  Schiffes  nur 
den  der  Mittelschiffbreite  entsprechenden  Raum  zwischen  den  Thürmen 
behielt,  dem  man  nun,  wegen  seiner  bedeutenden  Breite  und  grösserer  Pracht 
halber,  drei  Portale  gab.  Diese  Anordnung,  wenn  man  auch  später  von  ihr 
abging,  gab  doch  eine  Anschauung  der  durch  die  Annäherung  und  Verbin- 
dung der  Portale  entstehenden  günstigen  Wirkung  und  veranlasste  daher 
die  späteren  Meister,  eine  solche  auch  da  zu  erstreben,  wo  die  Seitenportale 
unter  den  Thürmen  angebracht  und  von  dem  Mittelportale  durch  die  mäch- 
tigen Strebepfeiler  des  Thurmbaues  getrennt  wurden. 

Die  Anordnung  und  Eintheilung  der  Fagade  war  es  indessen  nicht,  was 
die  Baumeister  im  Anfange  unserer  Epoche  am  meisten  beschäftigte;  die 
christliche  Architektur  ging  immer  vorzüglich  vom  Innern  aus,  und  gerade 
in  dieser  Beziehung  brachten  die  veränderten  Verhältnisse  neue  Anforde- 
rungen hervor.  In  der  voi'igen  Epoche  waren  die  Klöster  die  hervor- 
ragenden Sitze  der  Bildung;  ihre  Bedürfnisse  und  ihr  Geist  hatten  daher 
auch  überwiegenden  Einfluss  auf  die  Ausbildung  der  Architektur  gehabt. 
Jetzt  handelte  es  sich  mehr  um  Kirchen  für  die  angewachsene  Bevölkerung 
der  Städte,  namentlich  um  Kathedralen,  welche  die  Würde  des  Bischofs, 
als  des  Vertreters  der  in  der  Hauptstadt  einer  Gegend  concentrirten  geist- 
lichen Gewalt,  erkennen  lassen,  zugleich  aber  auch  als  städtische  Monumente 
durch  ihre  grossartige  und  glänzende  Erscheinung  die  Macht  und  den  Reich- 
thum  der  Bürgerschaft  versinnlichen  sollten.  Gerade  damals  erlangten  die 
Comraunen  in  Folge  der  Kreuzzüge  grössere  Bedeutung  und  in  Aner- 
kennung derselben  umfassende  Privilegien,  und  dies  neugewonnene  politische 
Selbstgefühl  verband  sich  mit  dem  religiösen  Sinne  und  verursachte,  dass  die 
Pracht  der  Hauptkirche  ein  Gegenstand  des  Wetteifers  und  des  Stolzes  der 
Bürger  wurde.  Man  bedurfte  geräumiger  und  heller  beleuchteter  Kirchen, 
besonders  auch  mit  einer  für  den  zahlreichen  Klerus  der  Dorastifter  hin- 
reichenden Choranlage;  man  wollte  sie  aber  auch  vollständig  überwölben, 
um  sie  gegen  schnellen  Verfall  und  gegen  die  bei  der  dichten  Umgrenzung 
städtischer  Wohnhäuser  zu  befürchtende  Feuersgefahr  zu  sichern.  Es  war 
also  eine  zugleich  technische  und  ästhetische  Aufgabe,  bei  der  jedoch  das 
Technische,  Constructive,  der  Natur  der  Sache  und  dem  verständigen  Sinne 
städtischer  Handwerker  entsprechend,  überwog.  Es  kam  vor  Allem  darauf 
an,  hohe  Gewölbe  in  solider  und  leicht  ausführbarer  Construction  herzu- 
stellen. Nun  hatte  man  zwar  in  den  südlichen  Kirchen  zahlreiche  Beispiele 
vollständiger  Ueberwölbung,  aber  man  musste,   um  den  Erfordernissen  des 


40  Dfs  nördliche  Frankreidi. 

nordischen  Klimas  zu  genügen,  vielfach  von  dem  Systeme  derselben  ab- 
weichen. Die  Bedeckung  mit  Tonnengewölben  war  nicht  anwendbar,  weil 
der  dunklere  Winter  Oberlichter  nöthig  machte,  die  damit  nicht  wohl  zu 
verbinden  waren,  das  Kuppelgewölbe  von  Perigueux  nicht,  weil  man  Seiten- 
schiffe haben  wollte,  welche  dieses  ausschloss.  Die  transversalen  Tonnen- 
gewölbe, welche  man,  wie  wir  gesehen  haben,  an  verschiedenen  Orten  ver- 
sucht hatte,  gaben  ein  unbefriedigendes  Resultat  und  hatten  daher  nirgends 
weiteren  Anklang  gefunden.  Die  einzige  geeignete  Wölbungsart  war  das 
Kreuzgewölbe,  aber  die  Ausführung  desselben  in  grossen  Dimensionen  war 
den  Bauleuten  dieser  Gegend  noch  keinesweges  geläufig  und  bedurfte  noch 
mancher  Ueberlegungen.  Zwar  die  Erfindungen,  welche  wir  an  dem  Chor- 
bau von  St.  Denis  schon  in  Ausführung  fanden,  blieben  keinesweges  un- 
bemerkt und  verbreiteten  sich  ziemlich  rasch  über  das  ganze  nördliche 
Frankreich.  Der  Spitzbogen,  zunächst  als  Mittel  zur  Verminderung  des 
Seitenschubs  und  zur  Ausgleichung  der  Bogenhöhe  verschiedener  Grund- 
linien, die  Rippenconstruction  und  das  Strebewerk  wurden  von  nun  an  überall 
in  Anwendung  gebracht.  Aber  während  man  schon  in  Vezelay  den  Versuch 
gemacht  hatte,  rechteckige  Gewölbfelder  zu  überwölben,  hielt  man  in  diesen 
nördlichen  Gegenjien  noch  längere  Zeit  an  dem  Systeme  der  quadraten  Wöl- 
bung fest,  nach  welchem  auf  jedes  Gewölbe  des  Mittelschiffes  je  zwei  des 
Seitenschiffes  kamen  und  die  Pfeilerabstände  also  die  Hälfte  der  Mittelschiff- 
breite betrugen.  Es  kann  sein,  dass  die  Gewöhnung  an  dieses  rhythmische 
Verhältniss,  das  hier  bereits  bei  der  Anwendung  der  Balkendecke  das  vor- 
herrschende gewesen  war,  dazu  mitwirkte;  ohne  Zweifel  aber  sprach  auch 
die  Rücksicht  auf  Solidität  und  auf  die  Uebung  der  Bauleute  mit.  Man 
wagte  es  nicht,  die  Last  des  Gewölbes  auf  weiter  entfernte  Stützen  zu  legen 
und  man  hielt  die  Ausführung  des  quadraten  Gewölbes  für  leichter.  Man 
verwandte  daher  die  neue  Erfindung  der  Rippenc  nstruction  nur  dazu,  jenen 
weiten  Gewölben  grössere  Haltbarkeit  zu  verleihen,  indem  man  den  diago- 
nalen Graten  starke  Rippen  unterlegte  und  überdies  die  beiden  von  den 
Seiten  wänden  ausgehenden  grossen  Gewölbdreiecke  durch  eine  weitere,  den 
Zwischenpfeilern  entsprechende  Rippe  theilte  und  verstärkte.  Die  sechs- 
theiligen Gewölbe,  welche  schon  oben  beschrieben  sind,  kamen  daher  in 
allgemeine  Aufnahme,  obgleich  sie  dem  Wunsche  nach  stärkerer  Beleuchtung 
nicht  entsprachen,  da  sie  vielmehr  den  Raum  für  die  Fenster  beschränkten 
und  selbst  das  Eindringen  des  Lichtes  hemmten.  Diese  Rippen  bedurften 
dann  ferner  einer  selbstständigen,  mit  den  Pfeilern  in  Verbindung  stehenden 
Unterstützung,  und  es  kam  somit  die  Form  der  Pfeiler  in  Frage.  Hier  findet 
sich  nun  die  auffallende  Erscheinung,  dass  der  frühgothisch -französische  Styl 
den  bisher  üblichen,  aus  viereckigem  Kerne  gebildeten  Pfeiler,  obgleich  er 
die  Bildung  der  Gewölbdienste  erleichterte,   aufgab,  und  eine  entschiedene 


Erfiiiduiii^   des   Strebesystems.  41 

Vorliebe  für  die  Rundsäule  zeigte,  welche  bisher  zwar  namentlich  in  den 
burgundischen  Kirchen  häufig,  aber  nur  an  der  Chorrundung,  und  selten  im 
Langhause  angewendet  war.  Man  zog  sie  ohne  Zweifel  vor,  weil  sie  die 
nöthige  Tragkraft  mit  grösserer  Rauraersparniss  verbindet  und  breitere 
Durchgänge  und  stärkeres  Eindringen  des  Lichtes  aus  den  Seitenschiffen 
gewährte.  In  einigen  Fällen  brauchte  man  sie  nur  zu  den  mittleren,  minder 
belasteten  Stützen,  so  dass  sie  mit  den  stärkeren,  gewölbtragenden  Pfeilern 
wechselte,  häufiger  aber,  sei  es  der  Gleichförmigkeit  wegen  oder  aus  an- 
deren Gründen,  wandte  man  sie  durchgängig  an.  Man  musste  nun  aber 
diese  Säulen,  um  ihnen  hinlängliche  Tragkraft  zu  geben,  sehr  stark  bilden 
und  konnte  die  Gewölbdienste  nur  von  ihren  Kapitalen  ziemlich  unmotivirt 
aufsteigen  lassen.  Diese  Dienste,  deren  schlanke  Höhe  die  gedrungenen 
Verhältnisse  der  darunter  stehenden  Säule  um  so  auffallender  machte, 
sicherten  aber  noch  nicht  gegen  den  Druck  der  mächtigen  Gewölbe  auf  die 
Seitenmauern.  Daher  behielt  man  denn  zunächst  die  Gallerien  über  den 
Seitenschiffen  bei,  welche  als  natürliche  Streben  schon  weiter  hinaufreichten 
und  zugleich  den  Vortheil  gewährten,  die  Mauer  über  den  unteren  Arcaden 
zu  erleichtern.  In  den  südlichen  Bauten,  wo  man  auf  Oberlichter  verzich- 
tete, und  die  Bedachung  bloss  durch  flache,  unmittelbar  auf  dem  Gewölbe 
aufliegende  Steinplatten  bewirkte,  stiessen  die  halben  Tonnengewölbe  gerade 
an  den  Ausgangspunkt  des  Mittelgewölbes  und  gewährten  demselben  mithin 
wirklich  eine  ausreichende  Stütze.  Im  Norden  konnte  man  diese  flache 
Bedachung  nicht  brauchen,  da  das  dabei  schwer  zu  verhütende  Eindringen 
der  Feuchtigkeit  die  Gewölbe  gefährdete;  man  musste  vielmehr  durch  An- 
legung eines  Dachstuhls  einen  freien  und  trockenen  Raum  über  denselben 
gewinnen.  Hiedurch  ergab  sich  dann  aber  weiter,  dass  die  Oberlichter  erst 
oberhalb  der  Stelle  angebracht  werden  konnten,  wo  sich  das  Pultdach  der 
Gallerien  anlegte,  und  dass  also  die  Wölbung  der  Gallerte  nicht  die  Punkte 
erreichte,  welche  gegen  den  Seitenschub  der  Kreuzgewölbe  gesichert  werden 
mussten.  Man  bedurfte  vielmehr  zu  diesem  Zwecke  einer  anderen  Hülfe, 
welche  man  endlich  durch  die  Anlage  von  Strebepfeilern  und  Strebebögen 
erlangte^).  So  künstlich  dies  System  erscheinen  mag,  ergab  es  sich  doch 
aus  der  bisherigen  Praxis  und  den  vorgenommenen  Aenderungen  fast  von 
selbst.  Strebepfeiler  waren  aus  römischen  Bauten  bekannt  und  als  ein  natür- 
liches Mittel  gefährdeter  Mauern  schon  sonst  angewendet;  die  romanischen 
Lisenen,  welche,  namentlich  in  der  Normandie,  schon  eine  ziemliche  Stärke 
erhalten  hatten,  gaben  das  Vorbild  für  ihre  regelmässige  Anlage.  Auf  die 
Erfindung  der  Strebebögen  wurde  man  aber  durch  die  halben  Tonnengewölbe 


1)    Vgl.  bei  Viollet-le-Duc  die  Artikel  Contrefort  und  Arc-Boutant,  B.  III,  S.  284 
und   B.  I.  S.  fiO. 


49  Das  iiördliclie  Frankreich. 

des  Südlichen  Systems  sehr  leicht  geführt,  da  sie  in  der  That  schon  wirk- 
liche, nur  auf  der  ganzen  Länge  des  Gebäudes  durchgeführte  Strebebögen 
waren,  welche  man  jetzt,  da  das  Kreuzgewölbe  nur  an  seinen  Ausgangs- 
punkten einer  Widerlage  bedurfte  und  da  man  ohnehin  über  dem  Dache 
derGallerien  nicht  eine  vollständige  Ueberwölbung  anbringen  konnte,  gleich- 
sam brach  und  die  entbehrlichen  Theile  fortliess.  So  naheliegend  die& 
scheint,  bedurfte  die  Erfindung  aber  doch  immer  eines  glücklichen  Ge- 
dankens, der  sieh  bekanntlich  nicht  so  leicht  einstellt,  und  überdies  lagen 
zwischen  dem  Gedanken  und  der  vollkommenen  Ausführung  noch  viele  zu 
überwindende  Schwierigkeiten.  Es  kam  darauf  an,  die  nöthige  Stärke  der 
Strebepfeiler  und  Strebebögen  und  die  richtige  Stelle  zu  finden,  an  welcher 
sie  die  Wand  des  Oberschiffes  berühren  mussten,  um  dem  Seitendruck  in 
wirksamer  Weise  zu  begegnen.  Wenn  das  von  Suger  construirte  Langhaus- 
von  St.  Denis  schon  Strebebögen  hatte,  was  nicht  unwahrscheinlich  ist,  so 
entstand  der  schnelle  Verfall,  welcher  nach  achtzig  Jahren  einen  Neubau 
veranlasste,  ohne  Zweifel  durch  die  unzureichende  Anlage  derselben.  Die- 
einfachen  Strebepfeiler  gaben  ferner  nur  den  in  einer  Richtung  davon  aus- 
gehenden Strebebögen  eine  Stütze;  man  musste  daher  anfangs  das  Kreuz- 
schiff, obgleich  es  die  Höhe  des  Mittelschiffes  erhielt,  ohne  Strebebögen 
errichten,  da  der  Raum  für  die  Anbringung  eigener  Strebepfeiler  fehlte, 
bis  man  das  Mittel  erfand,  den  Strebepfeilern  in  diesen  und  ähnlichen 
Winkeln  eine  kreuzförmige  Anlage  und  somit  eine  zwiefache  Widerstands- 
kraft zu  geben.  Demnächst  führte  die  Erfahrung,  dass  die  Dächer  des 
Seitenschiffes  und  die  offenliegenden  Strebebögen  durch  das  von  dem  hohen 
Dache  des  Mittelschiffes  herabströmende  Regenwasser  litten,  auf  die  Er- 
findung, diese  Bögen  selbst  zu  Kanälen  für  den  regelmässigen  und  von  den 
Mauern  entfernten  Abfall  des  Wassers  zu  benutzen.  Endlich  musste  man 
auf  Mittel  denken,  die  Aufsicht  und  Instandhaltung  der  oberen  Theile  des 
hohen  Gebäudes  zu  erleichtern,  und  zu  diesem  Zwecke  Gänge  in  den  Mauern 
im  Inneren  und  neben  denselben  am  Aeusseren  zu  erhalten,  deren  Anbringung 
und  Einrichtung  wieder  mannigfachen  Bedingungen  unterlag.  Dazu  kam  dann 
noch,  dass  die  grosse  Zahl  der  zu  berücksichtigenden  Abtheilungen  Schwierig- 
keiten und  Bedenken  erweckte.  Ueber  den  unteren  Seitenschiffen  und  den 
Gallerien  lag  der  Raum,  an  welchen  das  Pultdach  der  letzten  anstiess,  dann 
erst  der  für  die  Oberlichter  und  endlich  der  bei  der  grossen  Spannung 
quadrater  Gewölbe  sehr  hohe  Schildbogen.  Das  Gebäude  erhielt  daher  durch 
die  Zahl  dieser  Abtheilungen  eine  sehr  bedeutende  Höhe,  welche  die  Schwie- 
rigkeiten des  Strebesystems  vermehrte  und  Bedenken  erregte.  Man  hielt 
deshalb  jede  dieser  Abtheilungen  möglichst  niedrig,  wodurch  aber,  abgesehen 
von  dem  Nachtheile  der  Häufung  gedrückter  Formen,  die  Beleuchtung  des 
Inneren  sehr  erschwert  wurde,   so  dass  man  auf  Mittel  denken  musste,   sie 


Aubbilduiig  des  frühg-othischen  Styls.  45 

ZU  verstärken.  Neben  allen  diesen  eigentlich  technischen  Aufgaben  hatten 
dann  aber  die  Baumeister  auch  die  gesteigerten  Anforderungen  des  Cultus 
und  mithin  die  Verhältnisse  des  Grundplans,  der  Kreuzarme  und  des  Chors 
zum  LanghausC;  der  Seitenschiffe  zum  Mittelschiffe,  besonders  die  Ausbildung 
des  Chors  und  Kapellenkranzes  zu  überlegen  und  in  Harmonie  zu  setzen^, 
und  auch  in  allen  diesen  Beziehungen  kamen  sie  erst  nach  vielfachen  Ver- 
suchen zum  Abschluss.  Vielweniger  finden  wir  sie  mit  der  Ausbildung  des 
Ornaments  beschäftigt.  Allerdings  lag  der  ganzen  architektonischen  Be- 
wegung neben  dem  Streben  nach  Solidität  und  Raumerweiterung  auch  der 
Wunsch  nach  grösserer  Schönheit  und  Pracht  zum  Grunde;  aber  zum  Theil 
wurde  derselbe  schon  durch  die  imposanteren  Verhältnisse  und  durch  die 
Menge  und  kräftige  Ausbildung  der  statisch  nöthigen  Glieder,  der  Gewölb- 
dienste und  Säulen  an  Gallerien,  Triforien  und  Fenstern  und  der  Rippen  an 
den  Gewölben  befriedigt,  welche  das  Ganze  sehr  vollständig,  wenn  auch  in 
sehr  ernster  Weise,  beleben  und  erfüllen.  Jedenfalls  aber  hielt  ihr  eigener 
richtiger  Takt  oder  der  nüchterne  und  praktische  Sinn  des  Landes  die 
Meister  von  einem  äusserlich  decorativen  Verfahren  zurück.  Sie  warteten 
gleichsam  die  Reife  des  Styls  ab,  um  die  geeigneten  Stellen  zu  finden,  wo 
das  Ornament  sich  mit  Nothwendigkeit  entwickele,  und  begnügten  sich  mit 
dem  hergebrachten  Schmucke  der  Kapitale.  Der  Ausdruck  ihrer  Werke  ist 
dadurch  ein  sehr  strenger  und  ernster. 

Das  Gebiet,  auf  welchem  sich  dieser  Styl  bildete,  umfasst  die  Erz- 
diöcesen  von  Paris,  Sens  und  Rheims,  jene  beiden  ausser  Isle- de -France 
noch  die  Bisthümer  Chartres,  Orleans  und  Auxerre,  die  letzte  die  Provinzen 
Picardie  und  Champagne  enthaltend.  Gerade  in  diesen  beiden  östlichen 
Provinzen  von  Nordfrankreich,  wo  sich  burgundische  und  normannische  Ein- 
flüsse mit  belgisch-germanischen  kreuzen,  finden  wir  eine  Zahl  von  Kirchen, 
welche  nach  den  historischen  Nachrichten  älter  zu  sein  scheinen,  als  die 
freilich  bedeutenderen  Bauten  der  inneren  Gegenden,  deren  Formen  die 
Annahme  gestatten,  dass  hier  die  ersten  Schritte  auf  der  neuen  Bahn  ge- 
macht wurden,  und  die  wir  daher  als  Beispiele  für  die  erste  vorbereitende 
Entwickelung  des  gothischen  Styles  betrachten  können.  Es  sind  dies  die- 
Kathedrale  von  Noyon  und  die  Abteikirche  St.  Germer,  beide  in  der  Picardie, 
und  die  Kirchen  St.  Remy  in  Rheims  und  Notre  Dame  in  Chälons-sur-Marne,, 
beide  in  der  Champagne.  Diese  Kirchen  haben  sämmtlich  den  Chorumgang 
und  einen  Kranz  von  halbkreisförmigen  Kapellen,  durchweg  spitze  Scheid- 
bögen, aber  noch  mehr  oder  weniger  rundbogige  Fenster,  im  Inneren  meistens 
den  Wechsel  von  Pfeilern  und  Säulen,  endlich  die  gemeinsame  Eigenthüm- 
lichkeit,  dass  über  der  Gallerie  und  unter  den  Oberlichtern  noch  ein  Triforiura 
hinläuft,  also  das  Motiv  der  Gallerie  gewissermaassen  verdoppelt  ist. 

Die  älteste  dieser  Kirchen,  die  Kathedrale  von  Noyon,  ist  zunächst 


A^A  Erste  Regiing-en  des  g-othisclieii  Styls. 

dadurch  merkwürdig,  dass  ihre  Kreuzarme  in  halbkreisförmiger  Gestalt  an- 
gelegt sind;  eine  Form,  die  wir  am  Rheine  am  frühesten  und  häufigsten 
finden,  und  die  in  der  That  von  dort,  wenn  auch  nicht  unmittelbar,  hieher 
gelangt  ist.  Die  Kreuzconchen  von  Noyon  zeigen  nämlich  die  genaueste 
Uebereinstimmung  mit  denen  an  der  Kathedrale  von  Tournay,  jedoch  in 
mehr  entwickelten,  weniger  primitiven  Formen,  s-o  dass  wir  eine  Herleitung 
von  dort  vermuthen  können.  Diese  Vermuthung  wird  aber  durch  die  histo- 
rischen Verhältnisse  zur  Gewissheit.  Das  Kapitel  des  Bisthums  Tournay 
war  nämlich  nach  der  Zerstörung  der  Stadt  durch  die  Normannen  mit  dem 
von  Noyon  vereinigt  worden,  und  diese  Vereinigung  wurde  erst  im  Jahre  1146 
.gelöst,  wo  wahrscheinlich  der  Neubau  der  zerstörten  Kathedrale  von  Tour- 
nay, gewiss  aber  auch  der,  nach  einem  Brande  vom  Jahre  1131  begonnene 
Neubau  von  Noyon  schon  weiter  vorgeschritten  war,  da  der  Bischof  hier 
im  Jahre  1153  einigen  Altären  die  Consecration  ertheilte').  Ausserdem  ist 
der  Einfluss  des  Chorbaues  von  St.  Denis  w^ahrzunehmen,  was  um  so  näher 
liegt,  als  Bischof  Balduin  II.,  der  Gründer  des  Neubaues  von  Noyon,  mit 
Suger  befreundet  war.  Aus  der  eben  genannten  Bauzeit  stammt  vielleicht 
der  Chor,  offenbar  der  älteste  Theil  des  Gebäudes;  er  hat  den  Umgang  und 
Kapellenkranz,  aber  noch  fast  ganz  romanische  Formen.  Schwere  Rund- 
säulen tragen  auf  ihren,  zum  Theil  mit  Figuren  oder  phantastischen  Thieren 
ausgestatteten  Kapitalen  die  freistehend  gebildeten  Dienste  des  Gewölbes, 
welche  durch  Ringe  mit  der  Mauer  verbunden  sind.  Die  Scheidbögen  und 
■die  schmaleren  Fenster  an  der  Rundung  sind  spitz,  alle  übrigen  Bögen  rund; 
der  Spitzbogen  ist  also  noch  ausschliesslich  aus  Gründen  der  Zweckmässig- 
keit angewendet.  Am  Aeusseren  der  Kapellen  vertreten,  wie  wir  es  an 
mehreren  der  anderen  sogleich  zu  erwähnenden  Kirchen  finden,  Säulen  die 
Stellen  der  Strebepfeiler.  Etwas  jünger  scheinen  die  Kreuzconchen,  welche, 
wie  die  von  Tournay,  vier  Stockwerke  haben,  den  auf  Säulen  ruhenden  Um- 


1)  Vgl.  die  auf  Kosten  der  französischen  Regierung-  herausgegebene  Monographie 
de  TEglise  Notre  Dame  de  Noyon.  Plans,  coupes,  elevations,  et  details  par  D.  Ramee. 
Texte  par  L.  Vitet.  Fol.  et  4**.  Paris  1845.  Bearbeitet  für  die  AUgem.  Bauzeitung, 
1849  u.  1852,  Textbände,  1852,  Atlas.  —  Der  Verfasser  des  Textes  setzt  die  Voll- 
endung erst  nach  1221,  weil  die  Bischöfe  von  1167  bis  1221  in  der  Abtei  Ourscamp 
und  erst  der  im  Jahr  1228  verstorbene  Bischof  in  der  Kathedrale  begraben  wurde. 
Der  Grund  scheint  indessen  nicht  ausreichend;  es  ist  wohl  denkbar,  dass  die  nach  dem 
Brande  von  1131  herkömmlich  gewordene  Bestattung  der  Bischöfe  in  der  Abtei  auch 
noch  eine  Zeitlang  nach  der  Vollendung  des  Domes  beibehalten  wurde.  Viollet-le-Duc 
•(Artikel  Cathedrale,  II,  S.  298  f.)  setzt  Chor  und  Querhaus  in  die  Zeit  Balduins  II. 
und  nimmt  an,  dass  das  Langhaus  vor  Abschluss  des  zwölften  .Jahrhunderts  vollendet 
worden.  Das  Gebäude  litt  übrigens  1293  wiederum  durch  einen  Brand,  der  eine  Her- 
stellung herbeiführte. 


Kathedrale  von  Noyon. 


45- 


Fig.  1. 


gang;  die  Gallerie,  das  Triforium  und  die  Oberlichter.  Die  schlanke  Bildung- 
der  unteren  Säulen  und  der  an  der  Gallerie  stehenden ^  der  fühlbare  Rhyth- 
mus in  den  abnehmenden  Höhenverhältnissen  der  Etagen,  verrathen  schon 
eine  aufstrebende,  dem  gothischen  Style  verwandte  Tendenz.  Die  Strebe- 
pfeiler, welche  das  oberste  Stockwerk  stützen,  werden,  da  sie  durchbrocheß. 
sind  und  einen  äusseren  Umgang  bil- 
den, schon  fast  zu  Strebebögen;  der 
Wechsel  runder,  spitzer  und  kleeblatt- 
förmiger Bögen  in  den  verschiedenen 
Arcadenreihen  zeigt  ein  noch  willkür- 
liches Spiel,  aber  doch  ein  Bewusstsein 
von  der  ästhetischen  "Wirkung  dieser 
Bogenarten,  welche  von  unten  nach  oben 
mit  abnehmender  Höhe  oder  doch,  da 
das  Fensterstockwerk  natürlich  höher 
ist  als  das  Ttiforium,  mit  zunehmender 
Leichtigkeit  aufsteigen.  Im  Langhause 
werden  die  Formen  nach  Westen  zu 
immer  leichter  und  regelmässiger,  so 
dass  der  Bau  offenbar  nach  dieser  Seite 
hin  fortschritt;  doch  deutet  noch  die 
Fagade,  der  muthmaasslich  letzte  Theil, 
auf  die  Entstehung  im  Anfange  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  hin.  Das 
Mittelschiff  ist  von  wechselnden  Pfeilern 
und  Säulen  begrenzt,  jene  mit  hohen 
vom  Boden  aufsteigenden  Halbsäulen, 
diese  mit  Gewölbdieusten  auf  den  kelch- 
förmigen,  mit  dickem  knospenartigem 
Blattwerk  besetzten  Kapitalen.  Die 
unteren  Arcaden  und  die  Bögen  der 
Gallerie  sind  spitz,  diese  schon  mit 
einem  Versuch  birnförmiger  Profilirung, 
die  Triforienbögen  und  die  Oberlichter 
halbkreisförmig.  Auch  hier  sind  also 
vier    Stockwerke,    welche    mit    ihren 

wechselnden  Formen  und  gedrängten  Theilen  die  Wand  höchst  vollständig 
beleben.  Die  Gewölbe,  obgleich  jetzt  in  schmalen  Feldern,  waren  wie  man 
aus  mehreren  Spuren  erkennt,  ursprünglich  quadrat  und  in  sechs  Kappen 
getheilt.  Manches  deutet  auf  einen  Einfluss  der  Normandie,  namentlich  die 
grimassirenden  Köpfe,  auf  denen  das  Gesimse  im  Aeusseren  ruhet.     Der 


Kathedrale  von  Noyon,  Langhaus. 


•46  '  Erste  Reg-ungen  des  g-othisclieii   Styls. 

Kreuzgang  und  das  daranstossende  Kapitelhaus  sind  in  den  anrauthigen  Formen 
der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  errichtet. 

Die  Anlage  der  Kreuzconchen  fand  in  Frankreicli  geringen  Anklang. 
Vollständig  bestanden  sie  nur  an  der  im  Anfange  unseres  Jahrhunderts  ab- 
gebrochenen Kathedrale  von  Cambray,  wo  sie  längere  Zeit  vor  dem  im 
-Jahre  1230  begonnenen  Chore,  etwa  gleichzeitig  mit  dem  Bau  von  Noyon 
entstanden  sein  müssen  ^).  An  der  Kathedrale  von  Soissons,  die  wir  weiter 
unten  näher  betrachten  werden,  ist  der  eine,  südliche,  im  Jahre  1175  be- 
gonnene Kreuzarm  als  Concha  und  ganz  übereinstimmend  mit  denen  von 
Noyon  errichtet,  während  der  andere,  nördliche,  wiewohl  nur  dreissig  oder 
vierzig  Jahre  später  gebaute,  in  gewöhnlicher  eckiger  Gestalt  angelegt  ist, 
so  dass  wir  sehen,  wie  der  französische  Geist  jene  von  Deutschland  herüber- 
gekommene Form  später,  selbst  mit  Verletzung  der  Symmetrie,  zurück- 
stiess  -). 

Theilweise  gleichzeitig  mit  der  Kathedrale  von  Noyon  und  ihr  in  vielen 
Beziehungen,  wenn  auch  nicht  in  der  Gestalt  der  Kreuzarme,  ähnlich  ist 
die  Abteikirche  zu  St.  Germer,  in  der  Diöcese  Beauvais,  an  der  Grenze 
der  Normandie  gelegen,  deren  Einfluss  sich  auch,  in  der  Anwendung  des 
Zickzacks  und  der  sich  durchkreuzenden  Bögen,  an  einigen  Stellen  zeigt. 
"Wir  kennen  nur  das  Stiftungsjahr  1036,  aus  welchem  nur  einzelne  Frag- 
mente des  gegenwärtigen  Gebäudes  herstammen  können.  Die  Mauern  des 
Langhauses  mit  ihrem  Rundbogenfriese  und  der  viereckige  Kern  der  Pfeiler 
scheinen  die  ältesten  Theile;  indessen  sind  die  letzten  bei  der  gewiss  erst 
im  dreizehnten    Jahrhundert   erfolgten  Anlage   der  schmalen  Kreuzgewölbe 


^)  In  der  Modellkamnier  zu  Berlin  findet  sicli  auf  einem  Refiefplane  der  Festung^ 
Camliray  vom  Jahre  1695  ein  ziemlich  genaues  Modell  dieses  Domes,  nach  welchem 
Grundriss  und  Aufrisse  in  der  von  J.  B.  A.  Lassus  veranstalteten  Publication  des 
„Album  de  Villard  de  Honnecourt"  mitgetheilt  sind.  (PI.  LXVII— LXIX). 

")  Ausserdem  finden  sich  rund  gebildete  Kreuzarme  an  einigen  kleinen  Kirchen 
in  entfernteren  Gegenden  Frankreichs,  so  in  St.  Germain  de  Querqueville  (Manche), 
St.  Saturnin  de  St.  Waudrille  (Seine  inf.).  S.  von  beiden  den  Grundriss  bei  A.  Lenoir, 
Architecture  monastique,  II,  p.  8,  die  Aussenansiclit  p.  10  u.  p.  63.  Im  Süden  in 
St.  Sauveur  de  St.  Macaire  (Gironde),  einer  grösseren  aber  einschiffigen  Kirche,  wo 
die  drei  Conchen  sämmtlich  die  Breite  des  Langliauses  haben  und  gicichgebildet  sind, 
in  St.  Liphard  in  Meung-sur-Loire  (Loiret),  in  St.  Jean-Baptiste  de  Riotord  in  der 
Auvergne.  Die  kleine  Kirche  von  Germigny-les-Pres  (Loiret;  vgl.  III,  536),  ein  Quadrat 
mit  vier  kleinen  Nischen,  und  die  Rotunden  von  St.  Croix  de  Quimperle  in  der  Bretagne 
und  St.  Croix  zu  Montmajour  (Bouches  du  Rhone),  welche  ^'itet  in  der  angeführten 
Monogr.  de  la  Cath.  de  Noyon  noch  citirt,  gehören  nicht  hieher,  da  sie  kein  Langhaus 
und  nicht  die  Kreuzform  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  haben.  Ausser  der  oben 
angeführten  Kirche  von  Saint- Macaire  finden  sich  im  Perigord  noch  mehrere  Kuppel- 
kirchen mit  runden  Kreuzconchen.  F.  de  Verneilh,  des  intluences  byzantines;  Ann.  arch. 
Vol.  XIV.  p.  185. 


Saiiil-Remy  zu  Rlieims  und  N.  D.  zu  Cliäloiis.  '  47 

nicht  ohne  Veränderung  geblieben.  Dagegen  ist  der  Chor  jünger  und  dem 
■von  Noyon  etwa  gleichzeitig,  mit  welchem  er  die  steilen  lancetförmigen 
'Scheidbögen  bei  rundbogigen  P'enstern  und  Gallerieöffnungen  gemein  hat. 
Fünf  halbkreisförmige  Kapellen  lehnten  sich  an  den  Umgang,  deren  mittlere 
in  der  Folge  durch  die  zierliche  Marienkai^elle  verdrängt  wurde.  Uebcr 
der  Gallerie  findet  sich  zwar  kein  Triforium,  wohl  aber  eine  Reihe  von 
schmalen,  horizontal  geschlossenen  fensterartigen  Oeffnungen,  welche  unter 
das  Dach  führen,  darüber  endlich  unter  den  Fenstern  noch  ein  starkes  Ge- 
simse, welches  wiederum  einen  Gang  bildet.  Man  sieht,  wie  sehr  man  hier 
darauf  bedacht  gewesen  ist,  die  Mauer  zu  erleichtern  und  vielfache  Umgänge 
in  derselben  zu  erhalten,  wie  wenig  man  aber  eine  feste  Regel  dafür  besass. 
Die  Verhältnisse  sind  hier  minder  edel  als  in  der  Concha  von  Noyon  ^). 

Eine  weitere  Entwickelung  des  Styls  finden  wir  in  zwei  interessanten, 
nicht  weit  von  einander  belegenen  Bauten  der  Champagne,  in  der  Abtei- 
kirche St.  Reray  zu  Rheims  und  der  Stiftskirche  Notre  Dame  zu  Chu- 
lons  an  der  Marne.  In  St.  Remy  hatte  der  Architekt  die  Aufgabe,  die  ältere, 
aus  dem  vorhergehenden  Jahrhundert  stammende  Kirche,  eines  der  grossesten 
und  bedeutendsten  Gebäude  jener  Zeit,  mit  neuer  Fagade  und  neuem  Chore 
zu  versehen;  diese  Arbeit  wurde  in  den  Jahren  1164 — 1168  angefangen  und 
war  um  1181  vollendet-).  In  Chälons  dagegen  gab  der  Einsturz  der.  alten 
Kirche  im  Jahre  1157  Gelegenheit  zu  einem  völligen  Neubau,  welcher  im 
Jahre  1183  eine  Weihe  erhielt-'*).  Beide  Bauten  sind  daher  gleichzeitig,  sie 
sind  aber  überdies  in  ihren  Details  so  ähnlich,  dass  sie  wahrscheinlich  von 
einem  und  demselben  Baumeister  herstammen.    In  St.  Remy*)  ist  der  grössere 


^)  Eine  Ansicht  des  Chors  hei  Caumont  Bull.  mon.  XIII.  393.  Andere  Abbildungen 
in  der  Voyage  dans  l'ancienne  France,  Picardie,  Lief.  47.  53.  54.  60.  63.  67.  69.  —  Vor- 
zügliche Publication  in  den  Archives  de  la  comm.  des  monuments  historiques. 

-)  Gall.  Christ.  Vol.  IX.  col.  23  und  286.  Zwar  scheint  die  Grabschrift  des  spä- 
teren, im  Jahr  1198  verstorbenen  Abtes  diesen  als  Erbauer  zu  nennen:  Erexit,  rexit, 
<iispersit,  respuit,  emit  Ecclesiam,  monachos,  danda,  cavenda,  Deum.  Allein  das 
Wortspiel:  Erexit  und  rexit  berechtigt  nicht  zu  einem  positiven  Schlüsse;  der  Verfasser 
konnte  dabei  auch  an  blosse  Ausstattung  des  Gebäudes  denken.  Jedenfalls  ist  die 
Thätigkeit  dieses  Abtes  nicht  auf  Facade  und  Chor,  sondern  vielleicht  nur  auf  die  Um- 
gestaltung des  älteren  Langhauses  zu  beziehen,  welche  allerdings  später  zu  sein  scheint, 
^Is  diese  neuen  Theiie. 

^)  Gall.  Christ.  IX.  col.  882.  Zufolge  der  Voyage  dans  l'ancienne  France  p.  229 
findet  sich  in  einem  alten  Manuscript  der  Abtei  St.  Pierre  zu  Chälons  die  Notiz:  Anno 
MCLXXXI.  Guido  episcopus  benedixit  ecclesiam  B.  Mariae  in  Vallibus.  Im  Jahre 
1234  stürzte  ein  Theil  der  Mauer  in  Folge  des  Frostes  ein  und  1322  wird  eine  neue 
Weihe  berichtet. 

*)  Verschiedene  Abbildungen  von  St.  Remy  in  der  Voyage  dans  Tancienne  France, 
Champagne  (der  Grundriss  Lief.  1).     Einige  Details  bei  Viollet-le-Duc  a.  a.  0.  I,  S.  62 


48 


Anfänge  des  gothischen  Styls. 


Theil  des  Langhauses  und  der  Kreuzschiffe  mit  seinen  rundbogigen 
Arcaden,  Gallerieöffnungen  und  Oberlichtern  noch  aus  dem  Bau  des  elften 
Jahrhunderts  erhalten,  die  jetzt  bestehenden  schmalen  Gewölbe  scheinen  das 
Werk  einer  Aenderung  vom  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts;  dagegen 
dürfte  die  Ueberarbeitung  der  unteren  Theile  zum  Behufe  der  Anlage  von 
Gewölben  von  unserem  Meister  gleich  nach  der  Vollendung  des  Chors  vor- 
genommen sein.  Es  ist  interessant,  sein  Verfahren  zu  beobachten.  In  die 
Steinmasse  der  schweren  älteren,  auf  eine  Balkendecke  berechneten  Pfeiler 
hat  er  hineingemeisselt  und  sie  zu  einem  ringsum  von  Halbsäulen  begrenzten 
Bündelpfeiler  gestaltet,  an  welchem  die  vordere  monolithe  Säule  auf  ihrem 
Kapital  die  Gewölbdienste  trägt;  über  den  Rundbögen  der  Gallerie  ist  als 
zweite  Archivolte  ein  Spitzbogen,   über  den  Oberlichtern   noch   ein  kreis- 


Fig.  ->. 


St.  Kemy ,  Rheims. 


förmiges  Fenster  angebracht.  Man  sieht  überall  die  Absicht,  die  Mauern  z« 
erleichtern,  zu  schmücken,  zu  beleben.  Wichtiger  ist  der  Chor,  bei  dem  wir 
den  Meister,  unbeschränkt  durch  eine  ältere  Anlage,  in  voller  erfinderischer 


und  S.  178,  II,  127  und  468,  IV,  284,  VII,  154,  155,  IX,  240.  Der  Grundriss  bei 
Wiebeking,  Taf.  86,  ist  in  sofern  fehlerhaft,  als  er  die  Durchgänge,  welche  die  Ka- 
pellen des  Chorumgangs  verbinden,  nicht  angiebt.  —  System  des  Langhauses  in 
J.  Gailbabaud,  L'architecture  du  V^e  au  XVIIme  siecle  et  les  arts  qui  en  dependeut. 
I.  Paris  1858. 


St.  Remy  in  Rheims.  49 

Thätigkeit  sehen.  Es  ist  eine  Anlage  mit  Umgang  und  Kapellenkranz^ 
aber  in  neuer,  sehr  merkwürdiger  Weise.  Die  innere  Rundung  ruht  auf 
sechs  starken  Rundsäulen,  mit  attischer  Basis  und  ausgebildetem  Eck- 
blatte, mit  grossen  Kapitalen,  deren  flaches  aber  reichverziertes  Blattwerk 
in  der  Anordnung  die  Reminiscenz  des  korinthischen  Kapitals  zeigt.  Ueber 
den  Seitenschiffen  liegt  eine  Gallerie,  die  höher  und  leichter  ist  als  im  Lang- 
hause, darüber  ein  blindes  Triforium,  endlich  das  Oberlicht,  das  in  jeder  Ab- 
theilung aus  drei  verbundenen  lancetförmigen  Fenstern  besteht.  Die  Anlage 
des  Kapellenkranzes  zeigt,  dass  der  Meister  bereits  die  Vortheile  des  Strebe- 
systems sehr  genau  erkannte  und  zu  benutzen  verstand.  Den  sechs  Säulen, 
welche  den  inneren  Halbkreis  der  Chorrundung  umschliessen,  entsprechen 
nämlich  jenseits  des  einfachen,  herumlaufenden  Seitenschiffes  die  Spitzen  von. 
eben  so  vielen,  nach  aussen  keilförmig  zunehmenden  Strebepfeilern,  zwischen 
denen  dann  fünf  von  diesen  Strebepfeilern  begrenzte,  und  am  äusseren  Ende 
derselben  halbkreisförmig  hervortretende  durchweg  gleiche  radiante  Kapellen 
angebracht  sind.  Der  Kapellenkranz  ist  mithin  völlig  abgerundet  und  die 
mächtigen  dadurch  gewonnenen  Strebepfeiler  dienen  zur  völlig  ausreichenden 
Stütze  für  die  Strebebögen,  welche  sich  zwar  noch  einfach,  aber  schon  ganz 
ausgebildet  an  die  obere,  ebenfalls  halbkreisförmige  Chorhaube  anlegen,  und 
neben  der  Mauer,  mit  richtiger  Berechnung  der  erforderlichen  Tragekraft, 
von  einer  freistehenden  Säule  getragen  werden,  Die  Anlage  entsprach  dem 
Zwecke  so  sehr,  dass  sie  bedeutend  später  dem  Architekten  der  Kathedrale 
von  Rheims  zum  Vorbilde  diente,  und  an  den  Kathedralen  von  Amiens, 
Beauvais  und  Köln  nur  weiter  ausgebildet  wurde.  Indessen  unterscheidet  sie 
sich  von  diesen  späteren  Bauten  in  mehrfacher  Weise.  Zunächst  dadurch, 
dass  der  Schluss  der  Kapellen  nicht  wie  dort  polygon,  sondern  halbkreis- 
förmig ist,  dann  aber  besonders  dadurch,  dass  ihr  Eingang  nicht  frei,  son- 
dern mit  zwei  sehr  schlanken,  freistehenden  Säulen  besetzt  ist,  welche  den 
Eingangsbogen  tragen  und  mit  anderen  vor  die  innere  Spitze  der  Strebe- 
pfeiler gestellten  Säulen  ^)  eine  zweite  Säulenstellung  um  die  innere  des  Chor- 
raumes, und  dadurch  gewissermaassen  einen  zweiten  Umgang  bilden.  Man 
bezweckte  hierdurch  die  Ueberwölbung  der  Kapellen,  da  bei  ihrer  grösseren 
Tiefe  eine  Halbkuppel  nicht  ausreichte,  zu  sichern  Diese  Anordnung,  welche 
mit  der  des  Chors  von  St.  Denis  grosse  Aehnlichkeit  hat  und  sich  an  N.  D. 
von  Chälons  in  genauer  Wiederholung  und  in  der  Klosterkirche  zu  Vezelay^ 
an  dem  Chore  von  St.  Etienne  in  Caen,  an  der  Chorkapelle  der  Kathedrale 
von  Auxerre  so  wie  in  der  etwas  späteren  Kirche  von  St.  Quentin  mit  einigen 
Veränderungen  wiederfindet,  wurde   indessen,  wie  wir  sehen  werden,   sehr 


')    Es  sind,  was  unser  Holzschniit  nicht  erkeuneü  lässt,   Bündel  von  drei  Siinleu. 
Vgl.   den  Grundriss  der  Kapellen  bei  Viol!et-le-Duc,  Dict.  II,  p.  468. 

Suhnaase's  Kunstgesch.    2.  Aufl.     V.  "^ 


5Q  Anfänge  des  golliisclien  Styls. 

bald  aufgegeben,  weil  sie  künstlichere  Wölbungsarten  nöthig  machte  und 
vermöge  der  vor  die  Oeffnung  der  Kapellen  gestellten  Säulen  den  Durchblick 
hemmte,  was  besonders  bei  der  mittleren,  vom  Langhause  aus  am  meisten 
sichtbaren  Kapelle  störend  war. 

Der  Spitzbogen  ist  hier  schon  durchgängig  angewendet.  Dagegen  sind 
die  Details  noch  unverändert  dem  älteren  Style  entnommen,  die  Diagonal- 
rippen als  kräftige  Rundstäbe,  die  Quergurten  als  breite,  von  kleineren  Rund- 
stäben eingefasste  Bänder  gebildet,  die  Kapitale  korinthisirend  und  mit 
wechselnder  Verzierung,  die  Gesimse  auf  Kragsteinen  ruhend.  Auffallend  ist 
die  häufige  Anwendung  kannelirter  Säulenstämme;  sie  kommen  aniAeusseren 
des  Chors  als  Stützen  der  Strebebögen,  an  der  Fa(;ade  sogar,  im  grossesten 
Maassstabe  und  eben  nicht  mit  glücklicher  Wirkung,  als  Strebepfeiler  vor 
Diese  Vorliebe  gründete  sich  offenbar  auf  die  Anschauung  eines  antiken 
Thors  in  Rheims,  dem  der  Meister  so  genau  folgte,  dass  er  bei  den  Strebe- 
pfeilern der  Fagade  die  Kapitale,  welche  an  den  Halbsäulen  jenes  Thors 
zerstört  sind,  ebenfalls  fortlassen  zu  können  glaubte. 

Bei  N.  D.  von  Chälons  konnte  der  Meister  freier  verfahren  und  war 
namentlich  an  den  Theilen,  die  in  St.  Remy  aus  dem  alten  Bau  übernommen 
wurden,  ungehindert.  Es  ist  ein  Kreuzbau  von  ziemlich  grossartiger  und 
übereinstimmender  Anlage,  im  Langhause  mit  einer  Gallerie,  im  Kreuzschiffe 
ohne  solche  und  ohne  Seitenschiffe;  vier  Thürme,  zwei  an  der  Fagade,  zwei 
auf  der  Ostseite  des  Kreuzschiffes  würden,  wenn  sie  vollendet  wären,  dem 
Ganzen  ein  höchst  imposantes  Ansehen  gegeben  haben.  Die  östlichen  Thürme 
ruhen  auf  älteren  Grundmauern,  deren  dem  Meister  gebotene  Beibehaltung 
ihn  bei  dem  Bau  des  Chors  beschränkte  und  ihm  nur  die  Anlage  der  drei 
mittleren  von  den  fünf  den  ganzen  Halbkreis  umschliessenden  Kapellen  ge- 
stattete, die  er  dann  aber  ganz  nach  dem  Vorbilde  von  St.  Remy  ein- 
richtete ^).  Das  Aeussere  (Fig.  3)  zeigt  ein  völlig  durchgeführtes  Strebesystem; 
zwei  Reihen  von  Strebebögen  stützen  die  Gallerie  und  das  Oberschiff,  und  in 
den  Winkeln  des  Kreuzschiffes  findet  sich  schon  die  kreuzförmige  Anlage 
der  Strebepfeiler,  welche  die  Entsendung  von  Strebebögen  nach  beiden  Seiten 
möglich  machte.  Bei  der  Einrichtung  des  Inneren  sehen  wir  den  Meister 
bemüht,  eine  organische  Verbindung  der  Pfeiler  mit  dem  Gewölbe  und  eine 
bessere  verticale  Gliederung  zu  erlangen.  Er  hat  zwar  auch  hier,  wie  in 
St.  Remy,  ein  Triforium  zwischen  der  Gallerie  und  dem  Oberschiffe  ange- 
bracht, dasselbe  jedoch  nicht  als  eine  fortlaufende  Bogenreihe  gebildet, 
sondern  nur  durch  vereinzelte,  je  aus  zwei  Bögen  bestehende  Oeftnungeu 
unter  den  Fenstern  angedeutet.  Die  Pfeiler  sind  eckigen  Kerns  und  mit  acht 
Halbsäulen  besetzt,  von  denen  vier  den  Transversalgurten  der  Gewölbe  und 


1)   Vgl.  VioUet-le-Duc,  IV,  S.  57G,  Abbildung  des  Chorumgangs  S.  77. 


Notre  Dame  in  Chalons  s.  M. 


51 


den  Untergurten  der  Scheidbögeu,  vier  andere  den  Archivolten  derselben 
entsprechen.    Sieben  dieser  Halbsäulen  haben  ihre  Kapitale  in  gleicher  Höhe 


Fig.  3 


N.  D.  in  Chälons  s.  M. 


unter  den  Sc'ioidbögen,  nur  die  mittlere  der  Frontseite   steigt  höher  hinauf, 
aber  auch  nicht  bis  zum  Gewölbe;  sondern  nur  bis  über  das  Gesimse  der 

4* 


52 


Anfänge  des  gotliischeu  Styls. 


unteren  Arcaden,  mit  welchem  die  Deckj^latte  ihres  Kapitals  eine  Linie  bildet. 
Auf  diesem  Kapitale  beginnen  dann  die  eigentlichen  Gewölbdienste  ohne 
Basis.  Man  sieht,  es  ist  ein  neuer  Versuch;  der  Meister  hat  noch  keine  pas- 
sende Form  gefunden,  um  die  drei  Dienste,  deren  er  für  Quer-  und  Diago- 
nalrippen bedurfte,  schon  in  die  Pfeilerbildung  aufzunehmen,  er  erreicht  aber 
doch  den  Vortheil,  dass  die  Pfeiler  die  Wand  den  Gewölbfeldern  gemäss 
vertical  theilen,  und  dass  naturgemäss  Kleineres  und  Leichteres  auf  Schwe- 
rerem und  Grösserem  ruhet.  Zwischen  diesen  Pfeilern  ist  dann  die  Wand 
durch  zwei  kräftige  Gesimse  in  drei  Stockwerke  getheilt,  das  der  unteren 
Arcaden,  das  bedeutend  niedrigere  der  Gallerie  mit  Doppelöffnungen  unter 
einem  blinden  Bogen,  endlich  das  der  Oberlichter,   welche  paarweise  unter 

jedem  Schildbogen  gruppirt  je  zwei  Triforien- 
bögen  in  eckiger  Einrahmung  unter  sich  haben. 
Die  Wand  ist  daher  sehr  vollständig  belebt, 
und  die  Einheit  jedes  Wandfeldes  durch  das 
rhythmische  Verhältniss  der  Stockwerke,  durch 
die  vermittelst  der  Pfeiler  und  Schildbögen 
bewirkte  Einrahmung,  und  durch  die  Stellung 
der  P'enster  in  der  Spitze  des  Bogens  sehr 
genügend  und  mit  verticaler  Bedeutung  aus- 
gesprochen. Die  beibehaltenen  Horizontal- 
linien tragen  nur  dazu  bei,  die  Gliederung 
reicher  und  kräftiger  zu  machen.  Auch  in 
den  Details  ist  das  Streben  nach  kräftigen 
und  reichen  Formen  überall  consequent  durch- 
geführt. Die  Basis  hat  kräftige  attische  Form 
mit  derben  Eckblättern,  die  Archivolten  und 
Gewölbrippen  sind  in  Rundstäben  profilirt, 
die  Kapitale  endlich  zwar  alle  in  korinthi- 
scher Kelchform  und  in  der  Anordnung 
gleich,  aber  in  ihren  Verzierungen  höchst  mannigfaltig,  indem  sie  das 
Thema  der  sich  verschlingenden,  zu  einem  Mittelpunkte  vereinigenden,  auf- 
wärts strebenden  und  abwärts  fallenden  Bänder,  Rankengewinde  und  Blätter, 
den  Waldgedanken  durchblickender  Thiergestalten  stets  verändert  und 
mit  lebendigster  Phantasie  und  gewandtem  Meissel  ausgeführt  zeigen.  Von 
Maasswerk  ist  noch  keine  Spur.  Am  Chore  haben  die  drei  in  jeder  Abthei- 
lung jeden  Stockwerks  an  einander  gereihten  Lancetfenster  keine  gemein- 
same EinSchliessung '),  am  Oberschiffe  des  Langhauses  sind  die  Fensterpaare 


N.  D.  in  Clialons. 


1)    Abb)!»!,  vom  Innern    der  Cliorfenster   uebtt    dem  Tril'oriom    bei  A'iollet-)e-L>iie 

V,  p.  378. 


Notre  Dame  in  Chälous  s.  M. 


53 


Fig.  5. 


im  Aeussereu  und  an  der  Gallerie  die  Doppelöffnungen  gegen  das  Mittel- 
schiff von  einem  Spitzbogen  umschlossen,  aber  das  etwas  schwere  Bogenfeld 
ist  in  keiner  Weise  durchbrochen  oder  verziert.  Ebenso  ist  noch  kein  An- 
fang zur  Fialenbildung  gemacht;  die  Absätze  der  Strebepfeiler  schliessen  mit 
«inem  einfachen  Wasserschlage ,  die  Spitzen  mit  einem  kleinen  Dache.  Die 
kannelirte  Säule  ist  auch  hier  mit  Vorliebe  augewendet,  an  den  Chorkapel- 
len als  äussere  Wand  Verstärkung,  an  den  Strebepfeilern  der  Kreuzfarade 
als  Verzierung  der  oberen  Absätze,  sogar  an  minder  zugänglichen  Stellen, 
namentlich  an  den  Treppen  der  Thürme,  nicht  aber  im  Inneren  der  Kirche. 
Die  Gesimse  ruhen  durchweg  auf  Kragsteinen,  welche  zum  Theil  die  Gestalt 
von  Köpfen  haben.  Der  Spitzbogen  ist  vorherrschend,  doch  kommen  an  den 
Thiirmen  und  an  der  Kreuzfayade  noch 
rundbogige  Fenster  vor,  in  beiden  Fällen 
augenscheinlich  nur  deshalb,  weil  man  die 
concentrische,  kräftig  vertiefte  Gliedernng 
des  Rundbogens  für  reicher  und  deshalb 
an  diesen  Stellen  passender  hielt;  an  den 
Kreuzfagaden  auch  noch  aus  dem  Grunde, 
weil  man,  um  die  Fenster  mit  denen  des 
Langhauses  auszugleichen,  an  Stelle  der 
hier  fehlenden  Gallerie  reich  verzierte  Ro- 
setten anbrachte,  welche  nicht  füglich  über 
der  scharfen  Spitze  eines  Lancetbogens 
stehen  konnten.  Die  Anordnung  der  Fa- 
^ade  gleicht  der  des  Doms  zu  Chartres, 
sogar  darin,  dass  sie  über  dem  Mittel- 
portale (dessen  Ausführung  einer  späteren 
Zeit  angehört)  drei  Lancetfenster  und  dar- 
über eine  Rosette  hat.  Das  Ganze  des 
Gebäudes  ist  sehr  eigenthümlich,  es  hat 

fast  ebensoviel  mit  dem  romanischen  Style  als  mit  dem  gothischen  gemein, 
es  verbindet  das  Volle,  Kräftige,  Reiche  des  ersten,  mit  dem  Aufstrebenden 
des  Gothischen.  Es  giebt  aber  auch  nicht  die  unbehaglichen,  unharmoni- 
schen und  gespreizten  Formen  welche  dieser  Uebergang  häufig  hervorbringt, 
sondern  gewährt  den  Eindruck  eines  zwar  gesetzten  und  massigen,  aber 
rüstigen,  thatkräftigen  und  angeregten  Wesens. 


N.  D.  in  ChUous. 


Neben  diesen  beiden  Bauten  ist  auch  die  Klosterkirche  zu  Orbais  in 
der  Champagne  (1197  — 1211)  zu  erwähnen,  deren  halbkreisförmiger  Chor, 
von  starken  Rundsäulen  mit  darauf  stehenden  Gewölbträgern  umstellt  und 


54  Anfänge  des  gotliischen  Styls. 

von  fünf  radianten  Kapellen  umschlossen,  in  seinen  Details  sehr  an  St.  Remy 
von  Rheims  erinnern  solP). 

Dass  diese  Neuerungen  nicht  auf  die  Picardie  und  Champagne  be- 
schränkt waren,  ergiebt  zunächst  der  Chor  von  St.  Ger  main- des -Pres  in 
Paris,  welcher  dem  älteren  Schilfe  nach  der  Mitte  des  zwölften  Jahr- 
hunderts hinzugefügt  ward,  und  im  Jahre  1163,  also  etwa  gleichzeitig  mit  dem 
Beginne  der  Arbeiten  an  St.  Remy  in  Rheims,  bereits  beendet  war  und  ge- 
weiht wurde-).  Auch  hier  die  Anlage  mit  einfachem  Umgange  und  fünf  ra- 
dianten Kapellen,  Strebepfeilern  und  Strebebögen,  steilen  Scheidbögen  und 
lancetförmigen  Fenstern.  Die  Kapellen  sind  noch,  wie  in  St.  Denis,  halbkreis- 
förmig geschlossen  und  durch  einen  Strebepfeiler  auf  dem  Scheitel  der  Peri- 
pherie gestützt,  aber  ihre  Seitenwände  bilden  eine  undurchbrochene  Masse^ 
so  dass  der  zweite  Umgang,  der  in  St.  Denis  und  St.  Remy  bestand,  fortfällt. 
Der  ganze  innere  Raum  ist  von  zehn  freistehenden  Rundsäulen  begrenzt, 
deren  kräftige  attische  Basen  starke  Eckblätter  in  verschiedenen  Formen 
haben,  und  von  deren  Kapitalen  drei  Gewölbdienste  aufsteigen.  Diese  Kapi- 
tale sind  nicht  minder  reich  und  phantastisch  verziert  wie  in  N.  D.  von  Chä- 
lons,  meistens  mit  symmetrischen  Gruppen  von  Thieren,  Vögeln,  die  man 
bald  für  Tauben  bald  für  Schwäne  halten  könnte,  Löwen,  Greifen  und  anderem; 
sie  schliessen  sich  aber  noch  näher  an  korinthische  Form  an,  indem  sie  Eck- 
voluten und  sogar  zum  Theil  dem  Akanthus  nachgebildete  Blätter  haben. 
Noch  deutlicher  als  dort  sieht  man  hier,  dass  die  sehr  geschickten  Bildhauer 
eine  bewusste  Freude  an  der  Variation  desselben  Grundthemas  gehabt  und 
nach  sinnreichen  und  anregenden  Gegensätzen  und  Verbindungen  gestrebt 
haben.  Neben  den  Reminiscenzen  des  korinthischen  Kapitals  finden  wir  ein 
anderes  Zeichen  der  Rücksichtnahme  auf  antike  oder  südliche  Vorbilder 
darin,  dass  hier  am  Triforium,  wie  in  St.  Martin-des-champs  an  der  Aussen- 
seite,  die  Säulen  ohne  Vermittelung  von  Bögen  ein  gerades  Gesims  tragen. 
Die  lancetförmigen  Fenster  sind  im  Aeusseren  mit  Säulchen  und  Rundstäben 
verziert,  an  den  geraden  Wänden  des  Chors,  wie  in  Chälons,  paarweise  zu- 
sammengestellt, und  durch  eine  diamantirte  Archivolte,  welche  zwischen 
beiden  Fenstern  einen  Zwickel  bildet,  zu  einer  Gruppe  verbunden.  Auch 
die  Bögen  des  Inneren  sind  alle  von  Rundstäben  eingefasst,  und  die  Diago- 


^)    Bulletin  monumental  XVJ.  p    123. 

2)  Die  bei  Felibien,  Hist.  de  la  ville  de  Paris,  Pieces  justißeatives  pag.  64  ab- 
gedruckte Urkunde  v.  J.  1167,  in  welcher  der  Abt  Hugo  den  Hergang  der  durch  den 
Papst  Alexander  HI.  ausgeführten  Weihe  beschreibt,  nennt  die  Kirche  „novo  schemate 
reparata,  necdum  consecrata",  was  beiläufig  gesagt,  auch  darauf  hindeutet,  dass  das 
Langhaus,  welches  der  Abt  Morard  1014  gebaut  hatte,  nicht  uuverändert  geblieben 
war.  Dom  Bouillart,  Histoire  de  l'abbaye  royale  de  St.  Germain  des  Prez,  Paris  1724,. 
giebt  einen  Grundriss   der  Kirche    und  einige  (freilich  sehr  unbefriedigende)  Ansichten. 


Die  Kathedralen  von  Paris  und  Laon.  55 

nalrippen  des  Gewölbes  bestehen  schon  aus  zwei  Rundstäben,  zwischen  denen 
eine  Ecke  vortritt.  Wir  finden  daher  hier  viele  Motive,  welche  denen  des 
Meisters  von  St.  Remy  und  der  Stiftskirche  von  Chälons  entsprechen,  zu- 
gleich aber  doch  manches  Abweichende  und  namentlich  eine  grössere  An- 
eignung antiker  Details. 

Um  diese  Zeit,  bald  nach  der  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts,  entstand 
in  dieser  Gegend  eine  wetteifernde  Erneuerung  der  Kathedralkirchen,  welche 
wesentlich  zur  Förderung  des  neuen  Styles  beitrug.  In  erster  Reihe  sind 
hier  die  Kathedralen  von  Paris,  Laon,  Sens  und  Senlis  zu  nennen,  welche, 
ungefähr  gleichzeitig  begonnen,  so  viele  verwandte  Züge  zeigen,  dass  wir 
ungeachtet  der  nicht  unbedeutenden  Entfernung  ihrer  Lage  schon  gegen- 
seitige Mittheilungen  annehmen  müssen.  Sie  haben  alle  quadrate,  sechs- 
theilige Kreuzgewölbe  '),  diezwei  ersten  aber  dessen  ungeachtet  nicht  wechselnde 
Pfeiler  und  Säulen,  sondern  durchgehend  gleich  starke  freistehende  Rund- 
säulen mit  hohen,  nicht  mehr  verschieden  verzierten,  sondern  gleichmässig 
mit  knospenförmigem  Blattwerk  ausgestatteten  Kapitalen,  endlich  die  attische, 
durch  das  Eckblatt  verzierte  Basis.  Die  Gallerie  über  den  Seitenschiffen 
fehlt  nur  in  Sens.  Bei  einer  grossen  Strenge  und  zum  Theil  selbst  Schwer- 
fälligkeit der  Details  zeigen  sie  sehr  deutlich  das  Bemühen  nach  organischer 
Durchführung  des  Strebesystems  und  nach  grösserer  Regelmässigkeit  und 
Uebereinstimmung  des  Ornamentes  mit  den  constructiven  Theilen. 

Sehr  nahe  verwandt  sind  besonders  die  Kathedralen  von  Paris  und 
Laon,  jene  in  ihren  Dimensionen  und  ihrem  Einflüsse  die  bedeutendere,  diese 
wahrscheinlich,  wenn  auch  nur  um  wenige  Jahre,  die  ältere.  Die  Geschichte 
von  N.  D.  von  Paris  ist  ziemlich  genau  bekannt.  Im  Jahre  1163,  in  dem- 
selben Jahre  wo  der  oben  erwähnte  Chor  von  St.  Germain-des-Pres  geweiht 
wurde,  legte  der  Erzbischof  Moritz  von  Sully  den  Grundstein,  1177  war  der 
Chor  bis  auf  die  Wölbung  ausgeführt,  1182  wurde  der  Hochaltar  geweihet, 
bei  dem  Tode  des  Erzbischofs  Odo  von  Sully  im  Jahr  1208  scheint  das 
Langhaus  schon  in  seinen  wesentlichen  Theilen  vollendet  gewesen  zu  sein,  so 
dass  man  zum  Bau  der  Fai^ade  und  der  Thürme  überging,  der  nun  im  ersten 
Viertel  des  dreizehnten  Jahrhunderts  —  mit  Ausnahme  der  obersten  Theile  — 
ziemlich  rasch  zu  Stande  kam.  Die  Kreuzschiffe  nahm  man,  wie  wir  es  an 
fast  allen  französischen  Bauten  dieser  Zeit  finden,  zuletzt  in  Angriff;  1257 
wurde  die  Fac^ade  des  südlichen  Kreuzes  durch  den  Baumeister  Johann  von 


')  Die  vier  g-enannten  Kirclien  der  Picardie  (Nojon  und  St.  Germer)  und  der 
Champagne  (St.  Remy  und  N.  D,  von  Chälons)  haben  zwar  jetzt  sämmtlich  schmale 
Gewölbe,  die  indessen  wahrscheinlich  alle  (wie  es  in  Noyon  und  St.  Remy  unver- 
kennbar ist)  jünger  sind  als  der  sonstige  Bau,  Es  ist  anzunehmen,  dass  man  bis  jelzl 
nur  quadrate  Gewölbe  kannte. 


56  Erste  Stufe  des  franz.  gothischen  Styls. 

Chelles  angefangen,  die  Kapellen  am  Chor  wurden  erst  seit  1260,  die  an 
der  Rundung  des  Chors  sogar  cijt  seit  1296  im  Laufe  des  vierzehnten  Jahr- 
hunderts errichtet  1).  Viel  unbestimmter  sind  unsere  Nachnichten  über  die 
Kathedrale  von  Laon.  Eine  Weihe  vom  Jahre  1114  nach  einem  Repa- 
raturhau,  der  nur  zwei  Jahre  gedauert  hatte,  können  wir  nicht  auf  den  gegen- 
wärtigen Bau  beziehen,  und  nur  die  vereinzelte  Nachricht,  dass  der  Bischof 
Walther  im  Jahre  1173  zwei  Kapellen  gründete,  deutet  auf  einen  damals 
und  mithin  vor  der  Vollendung  des  Pariser  Chores  im  Jahre  1177  schon 
weiter  vorgerückten  Bau  2).  Zwar  erscheint  N.  D.  von  Paris  vermöge  der 
nicht  ganz  glücklich  gewählten,  schwerfälligen  Verhältnisse  auf  den  ersten 
Blick  alterthümlicher,  aber  dennoch  lassen  die  Details  keinen  Zweifel,  dass 
die  Kirche  von  Laon  früher  entstanden  ist.  In  dieser  finden  sich  noch  Rund- 
bögen eingemischt,  während  dort  der  Spitzbogen  ausschliesslich  und  con- 
sequent  angewendet  ist;  hier  besteht  die  Gallerieöffnung  nur  aus  einem 
Doppelbogen,  dort  ist  sie  schon  dreifach,  durch  zwei  sehr  schlanke  Säulen 
getheilt,  das  Bogenfeld  durch  einen  Kreis  gebrochen.  Auch  sind  die  Gewölb- 
stüzen,  welche  in  beiden  von  den  mächtigen  Säulenkapitälen  mit  besonderer 
Basis  aufsteigen,  in  Laon  zugleich  alterthümlicher  und  kühner;  sie  sind  näm- 
lich unter  den  Quergurten  fünffach,  also  dem  Quergurt  selbst,  den  Diagonal- 
rippen und  den  Schildbögen  entsprechend,  unter  den  Zwischengurten  dreifach 
und  bestehen  aus  einzelnen  monolithen  cylindrischen  Stämmen,  welche  frei 
auf  einander  gestellt  und  nur  auf  fünf  Punkten  durch  Steinringe  mit  der 
Mauer  verbunden,  während  sie  in  Paris  durchweg  nur  dreifach  und  ganz  mit 
der  Mauer  zusammenhängend  sind.  Maasswerk  trat  ebenso  wenig  an  den 
ursprünglichen  Theilen  von  N.  D.  zu  Paris  auf,  wie  es  an  N.  D.  zu  Laon,  mit 
Ausnahme  der  grossen  Radfenster,  vorkommt. 

Bei  beiden  Kirchen  war  es  auf  grosseDimensionen,  besonders  auf  eine  grös- 
sere Ausdehnung  des  Chores  abgesehen,  aber  die  Grundrissentwickelung  ist  in 
ihnen  verschieden  (Vgl.  Fig.  7  u.  8).   Die  Kathedrale  von  Laon  ist  dreischiffig,  be- 


^)  Die  Geschichte  dieser  Katliedrale  ist  vielfacli  l)earbeitet,  unter  Anderen  von 
(jilbert,  Description  historique  de  Tegl.  metrop.  de  Paris  1821.  Belegstellen  bei 
Inkersley  a.  a.  0.  Ausführliche  architektonische  Zeichnungen  in  dem  Werke:  N.  D. 
de  Paris,  recueil  contenant  les  plans,  coupes  et  elevations  generales  de  cet  (Ulifice, 
par  Emile  Leconte,  Fol.  Paris  1841 — 1843.  Die  nördl.  Querhausfavade  in  J.  (lailhabaud 
l'architecture  du  5™^  au  17  siede.  I.  Paris  1858.  —  Die  Kathedrale  von  Laon  ist 
publicirt  in  den  archives  de  la  comm.  des  monuni.  bist. 

-)  Gallia  christiana  Vol.  IX.  col.  530.  Auch  heisst  es  in  der  Grabschrift  di^'sps 
Bischofs:  Rexit,  correxit,  erexit  oves  et  ovile,  was  wiederum  auf  einen  durch  ihn 
vorgenommenen  Bau  der  Kirche  schliessen  lässt.  Die  Nütice  historique  et  archeo- 
logique  sur  les  egüses  de  l^aon  par  M.  Melleville  mit  13  Holzschnitten  ist  mir  nicht 
zugänglich  geworden.  —  Essai  historique  et  archeologique  sur  Pcgiise  cathedrale  de 
N.  D.  de  Laon,  par  J.  Marion;  1843. 


Die  Kathedralen  von    Paris  und  I.aon, 


57 


•sitzt  ein  stark  ausladendes  Quer- 
haus von  ebenfalls  drei  Schiffen, 
aus  welchem  östlich  jedersetis 
•eine  polygoneKapelle  heraustritt, 
und  einen  geradlinigen  Abschluss 
des  Chors,  der  ihr,  in  Verbin- 
dung mit  den  Formen  der  reich 
gruppirten  Thürme,  von  welchen 
später  die  Rede  sein  soll,  ein 
mehr  weltlich-bürgerliches  Ge- 
präge verleiht.  Bei  N.  D.  zu 
Paris  ist  das  Vortreten  des  Quer- 
hauses ein  sehr  massiges,  aber 
die  ganze  Anlage  ist  fünfschiffig 
und  die  verdoppelten  Seiten- 
schitfe  ziehen  sich  auch  als  Um- 
gang um  den  Chor  ^).  Hier  hatte 
der  Meister  überdies  die  schwie- 
rige und  völlig  neue  Aufgabe, 
eine  fünfschiffige  Anlage  mit 
dem  Strebesj-steme  zu  verbin- 
den. Er  beschloss  sie  in  der 
Art  zu  lösen,  dass  er  die  äus- 
seren Seitenschiffe  möglichst 
schmal  machte,  über  sie  fort 
doppelte  Strebebögen  nach  der 
Gallerie  der  inneren  Seiten- 
schiffe aufführte,  auf  den  die 
beiden  Seitenschiffe  trennenden 
Säulen  Strebepfeiler  über  die 
Gallerie  hinaus  aufsteigen  Hess, 
und  von  diesen  einen  steilen 
Strebebogen  nach  der  Wand  des 
Oberschiffes  führte,  der  wieder- 
um durch  einen  von  den  ge- 
waltigen äusserenStrebep  feilern 
ausgehenden  Bogen  gestützt 
wurde.  Ungeachtet  dieser  Vor- 
sichtsmaassregeln  fürchtete  der 


Fig.  6. 


Kathedrale  von  Laon. 


*)   Den  ursprünglichen  Grandriss  giebt  ViolIet-le-Duc,  B.  II,  S.  287.  —  Später  hat 
die  einfache  Klarheit  desselben  dadui-ch  Beeinträchtigungen  erfahren,   dass  die  Räume 


58 


Erste  Stufe  des  franz.  golhischen  Styls 


Fig.  7. 


Meister  dennoch  die  zu  grosse  Höhe,  er  beschränkte  daher  die  verschiedenen 
Theile,  welche  er  zu  berücksichtigen  hatte^  die  Seitenschiffe,  die  Gallerie^ 

auf  das  geringste  Höhen- 
maass,  machte  sogar  die 
Dächer  der  Seitenschiffe 
möglichst  flach;  konnte  es 
aber  doch  nicht  verhindern,, 
dass  die  Höhe  seiner  Ge- 
wölbe (lOG'j  fast  das  Drei- 
fache der  höchst  bedeuten- 
den Mittelschiffbreite  (36') 
erreichte.  Bei  der  Höhen- 
bestimniung  hatte  er  frei- 
lich auch  auf  die  Beleuch- 
tung zu  rücksichtigen.  Da 
er  die  Säulen  wegen  der 
grossen  auf  ihnen  ruhenden 
Last  sehr  stark  bildete,  so 
konnte  durch  ihre  Doppel- 
reihen aus  den  ohnehin  ent- 
fernten Fenstern  des  äus- 
seren Seitenschiffs  nicht  viel 
Licht  in  das  Mittelschiff 
dringen;  um  somehrmusste 
er  auf  das  von  oben  ein- 
fallende und  nähere  Licht 
der  Gallerie  rechnen.  Er 
gab  ihr  daher  dieselbe  Höhe 
wie  den  Seitenschiffen,  und 
liess  überdies  ihre  Gewölbe 
von  innen  nach  aussen  zu 
aufsteigen,  um  möglichst 
grosse  und  hochgelegene  Fenster  zu  erhalten,  durch  welche  das  Licht  von 
oben  einfiel  und  so  freilich  nur  vermittelst  der  dreitheiligen  Oeffnungen  der 

zwischen  den  Strebepfeilern  in  das  Innere  gezogen  und  in  Kapellen  verwandelt  winden 
bind.  Fast  alle  französische  Kathedralen  haben  dadurch  gelitten,  mit  Ausnahme  von 
Rheims,  wo  die  Kapellen  an  dem  nördlichen  SeitenscliifF  wenigstens  nur  bis  zur  Fenster- 
brüstuiig  reichen ,  nur  durch  Thiiren  mit  dem  Innern  in  Zusammenhang  stehen  und 
also  den  Organismus  des  Plans  nicht  berühren.  Von  dem  Ende  des  Xlll.  Jahrhunderts 
an  entsprach  es  der  Stimmung  der  Zeit,  dass  die  ehemals  selbstlose  Opferwilligkeit 
des  Volkes  für  den  Kirchenbau  nur  noch  um  den  Preis  besocderer  Heiligiliümer  von 
Brüderschaften,  Genossenschaften,  Familien  zu  Gewinnen  war. 


*. m #. * 

Kathedrale  von  Laon. 


Die  Kathedralen  von  Paris  und  Laon.  5^ 

Empore  das  Mittelschiff  beleuchtete.  Ueber  diesen  Gallerieöffnungen  waren 
dann  kreisrunde  Fenster  mit  origineller  Fünftheilung  angebracht^  welche  in 
den  Dachraum  über  der  Gallerie  führten,  und  endlich  spitzbogige  Oberlichter, 
jedoch  von  geringer  Höhe  und  unverziert.  Diese  Anordnung  besteht  indes- 
sen schon  lange  nicht  mehr.  Um  1240,  vielleicht  nach  einem  Brande,  dessen 
Spuren  man  entdeckt  zu  haben  glaubt,  war  eine  Herstellung  nöthig,  bei  der 
man  dann  jene  kreisrunden  Oeffuungen  und  das  steile  Dach  hinter  denselben 
beseitigte,  und  dafür  die  Oberlichter  tiefer  gegen  die  Gallerieöffnungen 
herunterführte  und  ihnen  so  eine  bedeutend  grössere,  durch  zweitheiliges 
Maasswerk  verzierte  Gestalt  gab  ^).  Ob  der  Bau  dadurch  grosse  Vortheile 
erlangt  hat,  ist  sehr  zweifelhaft.  Die  Beleuchtung  ist  vielleicht  stärker,, 
aber  doch  noch  immer  unzureichend  und  die  Verhältnisse  haben  durch  die 
Verminderung  der  Abtheilungen  schwerlich  gewonnen.  Die  geringe  Höhe 
der  dichtgestellten  Säulen  wird  durch  die  schlanke  Gestalt  der  darauf  ruhen- 
den Gewölbdienste,  das  gedrückte  Verhältniss  der  Seitenschiffe  durch  das 
einfachere  Aufsteigen  des  hohen  Oberschiffes  noch  auffallender,  und  der 
Eindruck,  den  das  Innere  giebt,  ist  vielleicht  der  des  Ehrwürdigen,  aber 
auch  des  Finstern  und  Schwerfälligen. 

Bei  weitem  leichter  erscheint  das  Innere  der  Kathedrale  von  Laon,  ob- 
gleich die  ebenfalls  schweren  Säulen  nicht  minder  dicht  gestellt,  die  Gewölb- 
stützen noch  kräftiger  sind,  das  Verhältniss  der  Höhe  zur  Breite  des  Mittel- 
schiffes sogar  viel  geringer  ist.  Allein  die  Gallerie  ist  niedriger,  der  Raum 
zwischen  ihr  und  den  Fenstern  durch  ein  kleines  Triforium  belebt,  die  Stock- 
werke erheben  sich  daher  in  abnehmendem  Verhältnisse  übereinander,  und 
endlich  erscheinen  die  freistehenden  Gewölbstützen,  weil  sie  durch  fünf  Ringe 
getheilt  und  mit  den  Säulen  der  Gallerie  in  Uebereinstimmung  gebracht  sind, 
leichter  und  weniger  gegen  die  Säulenstärame  contrastirend.  Es  ist  gewisser- 
maassen  eine  Verschmelzung  der  Gedanken,  welche  in  Paris,  mit  denen, 
welche  in  der  hier  benachbarten  Kathedrale  von  Xoyon  angewendet  waren. 
Statt  der  wechselnden  Pfeiler  und  Säulen  von  Noyon  ist  hier  wie  in  Paris 
die  regelmässige  Folge  gleicher,  kräftiger  Säulenstämme  gewählt,  die  con- 
structive  Strenge  also  ebenso  betont,  zugleich  aber  diese  Strenge  durch  die- 
selben Mittel  der  Belebung  und  der  Brechung  der  Massen  gemildert, 
welche  schon  inNoyon  mit  günstigem  Erfolge  angewendet  waren.  Sehr  viel 
günstiger  erscheint  an  der  Kathedrale  von  Paris  das  Aeussere;  die  ernsten 
und  unverzierten  aber  mächtigen  Strebepfeiler  und  Bögen,  die  flach  gedeck- 
ten, über  einander  aufsteigenden  Stockwerke  der  Seitenschiffe  und  Gallerien, 
die  durchgeführte  strenge  Regelmässigkeit,  die  einfachen  und  übersichtlichen 

1)  Die  Spuren  jener  früheren  Einrichtung  hat  Viollet-le-Duc  entdeckt.  Vgl.  dessen 
interessante,  durch  Holzsclinitte  erläuterte   Darstellung  im  Dict.  II.  p.  288  fl". 


60 


Erste  Stufe  des  franz.  gotliischeu  Styls. 


Eintheilungen   machen,   auch   noch   abgesehen   von   den  bedeutenden  Linien 
der  Fagade,  von  der  ich  weiter  unten  sprechen  werde,  einen  der  Würde  einer 

christlichen  Kathedrale  sehr  wohl  ent- 
sprechenden Eindruck.  Auch  der  Chor  ist 
höchst  regelmässig  und  einfach  gehalten, 
indem  er  nach  der  ursprünglichen  Anlage 
(wie  auch  jetzt  bei  der  durchgängigen 
Hinzufügung  von  Kapellen)  nur  den  halb- 
kreisförmigen Schluss  des  Gebäudes,  ohne 
vortretenden  Kapellenkranz,  aber,  da  auch 
das  Langhaus  fünf  schilfig  war,  mit  dop- 
peltem Umgänge  und  dreifach  über  ein- 
ander aufsteigenden,  treppenförmig  zu- 
rückweichenden Massen  bildete. 

Der  Bau  der  Kathedrale  von  Sens 
war  nach  einem  Brande  vom  Jahre  1152 
begonnen  und  im  Jahre  1164  schon  so 
weit  gefördert,  dass  der  zufällig  anwesende 
Papst  Alexander  IIL  einen  Altar  weihen 
konnte  ^).  Im  Jahre  1184  wurde  der 
Thurmbau  begonnen-),  und  dass  in  der 
Zwischenzeit  der  Bau  weiter  vorgeschritten 
und  berühmt  geworden  war,  ergiebt  sich 
daraus,  dass  im  Jahre  1175  der  Meister 
Wilhelm  von  hier  nach  Canterbury  zur 
Herstellung  des  dortigen  Domes  berufen 
wurde,  und  dass  dies  sein  englisches  Werk 
unverkennbare  Reminiscenzen  der  Kirche 
zu  Sens  enthält,  welche  also  damals  im 
Wesentlichen  bestehen  musste.  Wir  können 
daher  auch  von  dem  Dome  zu  Canterbury 
N.  D.  von  Paris.  g^^f  ^jgj^  Ursprünglichen  Plan  der  Kathe- 

drale  von   Sens    zurückschliessen    und    namentlich    annehmen^),    dass   sich 
am  Chorumgang  nur  eine  in  der  Längenaxe  der  Kirche  gelegene  Kapelle 


^)  Gallia  clirist.  Vol.  XI[,  col.  48,  49.  1164  —  Alexander  HI.  ad  preces  Hugonis 
(episcopi)  cousecravit  —  altare  iti  ecclesia  uova.  Diese  Ausdrücke  deuten  darauf  hin, 
■dass  der  Bau  noch  nicht  sehr  weit  vorgeschritten  war  und  wahrscheinlich  noch  ein 
Rest  der  allen  Kirche,  der  zum  Gottesdienste  gebraucht  wurde,  bestand. 

2)    Jolimont  in  Chapuy's  Cathedr.  franc.    Vol.  II,  pag.  5. 

^)  Viollet-Ie-Duc,  II,  348,  stellt  diese  Vermuthung  auf,  wonach  dann  der  ur- 
sprüngliche Grundriss,  so  wie  er  Fig.  9  reproducirt  ist,  gerechtfertigt  erscheint. 


Kathedrale  von  Sens. 


6t 


Fig.  9. 


befand.  Jetzt  liegt  zu  jeder  Seite  derselben  noch  eine  Rundkapelle;  die 
späteren  Ursprungs  ist.  Auffallend  sind  die  Kapellen  mit  östlicher  Apsis 
in, den  beiden  Querhausarmen  —  vielleicht  Reste  eines  noch  älteren  Baues. 
Sonst  gehören  die  Kreuzschiffe  erst  dem  fünfzehnten  Jahrhundert  an,  während 
das  Langhaus  noch  aus  derselben  Zeit,  wie  der  Chor,  stainmt.  Auch  hier 
finden  wir,  wie  bei  jenen  bei- 
den anderen  Bauten,  sechs- 
theilige Gewölbe,  sonst  aber 
weicht  vieles  wesentlich  von 
ihnen  ab.  Namentlich  ist  hier 
nicht  eine  fortlaufende  Reihe 
gleicher  Säulen,  sondern  es 
wechseln  nach  dem  Vorbilde 
der  älteren  Kirchen  Pfeiler 
von  rechteckigem  Kern  mit 
Säulen,  die  aber  hier  nicht 
einfach,  sondern  gekuppelt 
sind,  eine  Neuerung,  welche 
dem  Meister  das  Mittel  ver- 
schaffte, bei  schlankerer  Bil- 
dung der  Stämme  eine  aus- 
reichende Tragkraft  zu  er- 
langen. Das  Vertrauen  auf 
die  Wirksamkeit  des  Strebe- 
systems scheint  hier  schon 
gewachsen;  zum  ersten  Male 
ist  die  Gallerie  fortgelassen 
und  durch  einTriforium  er- 
setzt, das  zwar  immer  noch 
einfach  ist,  aber  doch  nicht 
mehr  wie  bisher  aus  einer 
Bogenreihe ,  sondern  aus 
spitzen  Doppelbögen  mit  un- 
durchbrochenem Bogenfelde 
besteht^);  die  Fenster  end- 
lich geben  eines  der  frühesten  Beispiele  einfachen  Maaswerks.  Die  Proti- 
lirung  der  Bögen,  die  Ausstattung  der  Kapitale  mit  knospcnformigem  Blatt- 
werk, das  Eckblatt  der  Basis  ist  ganz  wie  in  Paris  und  Laon  behandelt. 
Die  Stützen  des  Mitfelgurtes  der  Gewölbe,   die  auch  hier  auf  dem  Kapital 


Grundriss  von  Sens. 


>)    Abbildung:  bei  Viollet-le-Duc,  IX,  ]..  288. 


^2  Erste  Stufe  des  franz.  gotliischen  Styls. 

der  Zvvischensäule  stehen,  haben  Ringe,  die  Vorlage  der  Pfeiler,  aus  drei 
l^räftigen  Halbsäulen  gebildet,  steigt  dagegen  ununterbrochen  bis  zum  Ge- 
wölbe auf.  Die  schlankeren  Säulen  und  die  leichtere  Bildung  des  Triforiums 
geben  dem  Inneren  einen  feineren,  minder  schwerfälligen  Ausdruck;  aber 
die  Länge  und  besonders  die  Höhe  sind  der  bedeutenden  Breite  des  Mittel- 
schiffes nicht  entsprechend. 

Die  Geschichte  der  Kathedrale  von  Senlis  ist  noch  weniger  bekannt. 
In  den  Jahren  1151  bis  1155  wurde  die  alte  baufällige  Kirche  von  Grund 
aus  erneuert;  ein  Rundschreiben  König  Ludwig's  VII.  fordert  zur  Mild- 
thätigkeit  für  die  sehr  mittellose  Kirchen fabrik  auf^);  aus  dieser  Bauzeit 
dürfte  der  halbkreisförmige  Chorumgang  mit  den  ebenfalls  halbkreisförmigen 
aber  sehr  flachen  Kapellen  herstammen-).  Das  Schiff  mit  quadraten  Ge- 
wölben, Gallerien  über  den  Seitenschiffen,  abwechselnden  Pfeilern  und  ein- 
fachen, ziemlich  schlanken  Säulen,  wird  seiner  Anlage  nach  gegen  das  Ende 
des  Jahrhunderts  entstanden  sein,  auch  die  Fagade  deutet  auf  diese  Zeit 
hin.  Bedeutende  Beschädigungen,  welche  die  Kirche  im  Jahre  1304  durch 
•einen  Blitz  erlitt,  erklären  die  augenscheinlichen  Veränderungen  der  Ober- 
theile  des  Schiffes. 

Bei  allen  Verschiedenheiten  dieser  Gebäude  stehen  sie  doch  auf  un- 
gefähr gleicher  Stufe  des  Styles.  Der  Spitzbogen,  die  Rippenvvölbung,  das 
Strebesystem  sind  consequenter  durchgeführt,  als  in  den  früher  betrachteten 
Bauten,  die  Verhältnisse  sind  höher  und  bedeutender  geworden,  man  strebt 
nach  Reichthum  und  organischer  Durchbildung  aller  Theile.  Aber  noch  ist 
viel  des  Alten  beibehalten,  die  Dicke  der  Mauern  und  Pfeiler,  die  Höhe  der 
Kapitale,  die  breite,  mit  dem  Eckblatt  versehene  Basis,  die  schweren  Gurten 
und  Bogenprofile.  Und  auch  die  Neuerungen,  die  starken  Säulen,  die  darauf 
ruhenden  derben  Bündel  von  Gevvölbdiensten,  die  gewaltigen  Gewölbrippen, 
selbst  die  Richtung  auf  grössere  Consequenz  und  auf  reichere  Ausstattung 
und  Belebung  aller  Theile  führen  keinesweges  dahin,  dem  Ganzen  einen 
leichteren  und  zierlichen  Charakter  zu  geben,    steigern  vielmehr  den  Aus- 


1)  Ecclesia  Sanctae  Mariae  Silvaiiectensis  media  corruens  vetustate  iiiuovatur  a 
f iindamentis  et  usque  adeo  insigne  inceperunt  opus,  quod  sine  caritate  fidelium 
nunquam  potest  consummari;  Gallia  christ.  Vol.  X,  col.  1402.  In  der  Grabschrift  des 
Bischofs  Theobald  (1151  — 1155)  wird  ang-eführt,  qui  haue  innovavit  ecclesiam.  In  der 
Grabschrift  seines  Naclifolgers  (f  1183)  wird  nur  gerühmt,  dass  er  die  Kirche  variis 
ornamentis  decoravit,  crucifixum  novum  fecit  etc.  Er  liess  also  wahrscheinlicli  den 
Bau,  dessen  Chor  vollendet  war,  wegen  Unzulänglichkeit  der  Mittel  liegen.  Im  Jahre  1191 
fand  indessen  eine  Weihe  statt.     Eod.   col.   1378. 

2)  Bei  Viollet-le-Duc,  Dictionn.  II,  p.  461  ff.  Grundriss,  äussere  und  innere  Ansicht 
dieser  Kapellen,  die,  wie  er  S.  457  sagt  „sich  kaum  zu  entwickeln  wagen".  Das 
Fenster  jedesmal  nicht  in  der  Mitte  des  Halbkreises,  sondern  nach  Osten  gerichtet, 
unter  ihm  der  Altar. 


Die  Faoade.  63 

druck  des  Vollen  und  Kräftigen.  Bei  alledem  aber  sind  diese  Bauten  mächtig 
und  imponirend;  namentlich  die  Kathedrale  von  Laon  macht  mit  ihren  gran- 
diosen Verhältnissen,  ihrer  völlig  durchgeführten  Regelmässigkeit,  der  eigen- 
thümlichen  Verbindung  von  vollen ,  fast  überkräftigen  Formen  mit  der 
Kühnheit  ihrer  schlanken  Gevvölbträger  einen  bedeutenden  Eindruck.  Es 
ist  darin  eine  Strenge  und  Kraft,  welche  an  den  dorischen  Styl  erinnert. 
Wir  haben  in  Deutschland,  wo  dem  ausgebildeten  gothischen  Bau  der  bunte 
und  in  seiner  Weise  zierliche  Uebergangsstyl  vorherging,  kein  Gebäude,  das 
wir  diesen  an  die  Seite  stellen  könnten. 

Die  Fagade  ist  hier  überall  später  als  das  Schiff,  aber  doch  wieder  an 
allen  diesen  Kirchen  ungefähr  gleichzeitig  ausgeführt,  und  auch  an  ihr  kön- 
nen wir  einen  Fortschritt  bemerken.  Die  von  Senlis  erinnert  durch  die 
strenge  Abtheilung  der  Schiffe  vermöge  der  Strebepfeiler  noch  sehr  an  die 
von  Chartres  und  von  Noyon,  nur  dass,  da  das  Mittelschiff  nicht  die  grosse 
Breite  hat  wie  dort,  die  Seitenportale  nicht  mehr  in  das  Hauptschiff,  sondern 
unter  den  Thürmen  in  die  Nebenschiffe  führen  und  dafür  das  Hauptportal 
grösser  und  höher  gebildet  ist.  Aehnlicb,  obgleich  in  breiteren  Verhältnissen, 
ist  die  von  Sens;  indessen  zeigt  sie  schon  den  Versuch,  das  Ganze  der  Breite 
noch  mehr  zu  verschmelzen,  indem  die  Strebepfeiler  an  den  Ecken  abgefaset 
und  mit  den  oberen  Gallerien  verbunden  sind.  Vor  allem  zeigt  sich  aber 
ein  grosser  und  höchst  bemerkenswerther  Fortschritt  an  der  unter  der  Re- 
gierung König  Philipp  August's  im  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
ausgeführten  Faoade  von  N.  D.  von  Paris,  die  dann  auch  für  das  System  des 
französischen  Fa^'adenbaues  maassgebend  wurde ').  Hier  ist  Alles  klar  und 
harmonisch  geordnet;  die  drei  Portale,  welche  vermöge  der  fünfschiffigen 
Anlage  des  Planes  sämmtlich  eine  ansehnliche  Breite  erhalten  haben,  treten 
schon  zwischen  den  Strebepfeilern  hervor  und  füllen  somit  die  Vertiefung 
aus.  Sie  bilden  so  einen  Vorbau,  der  oberhalb  der  Archivolten  durch  eine 
Arcadenreihe  und  Gallerie  horizontal  bekrönt  ist.  Ebenso  ist  das  zweite, 
dem  (Jberschifte  entsprechende  Stockwerk  durch  eine  horizontale  Linie  be- 
grenzt, über  welche  drinn  als  drittes  wiederum  eine  Reihe  gleichhoher  Ar- 
caden  auf  der  ganzen  Breite  der  Facaden  fortläuft.  Besonders  wichtig  ist 
aber  die  Anordnung  dieses  zweiten  Stockwerkes,  welches  an  den  Seiten- 
schiffen eine  Doppelarcade  von  Spitzbögen,  im  Mittelschiffe  aber  ein  mäch- 
tiges, vertieftes  Rosenfenster  erhalten  hat.  Die  ganze  Haltung  dieser  Fagade 
ist  eine  höchst  strenge,  alle  horizontalen  und  verticalen  Abtheilungen  treten 
mächtig  hervor,  die  stark  geformten  Pfeiler  und  anderen  Glieder  werfen 
ernste  Schatten  über  die  Fläche;   aber    sie    spricht  mit  unvergleichlicher 


1)    Eine   geistvolle  Wiirdig-ung   dieser   Facade   bei   Violiet-le-Duc,    EiUretieiis    sur 
rarchilecture,  T.  I,  Paris  1863,  p.  299  ff. 


Q^  Der  früligothisclie  fraiizösisclie  Styl. 

Würde  den  kirchlichen  Charakter  aus,  und  enthält  alle  Momente^  aus^ 
welchen  der  spätere  reiche  Fa(;adenbau  sich  entwickelte.  —  Die  Fagade  der 
Kathedrale  von  Laon  ist  verwandten  Charakters.  Ihre  drei  Portale  sind  noch 
tiefer  weil  die  Strebepfeiler  unten  mächtiger  heraustreten.  Drei  kühne 
Spitzgiebel  ragen  über  den  Eingängen  empor.  Dann"  folgt  keine  durch- 
laufende Arcadenreihe,  sondern  eine  Flucht  kleinerer  Fenster,  die  aber  durch 
die  schweren  Fialen  auf  dem  untersten  Absatz  der  Strebepfeiler  unter- 
brochen wird.  Im  folgenden  Absatz  schliesen  sich  diese  über  den  Fenstern 
zu  grossen,  umrahmenden  Nischen  zusammen,  an  den  Seiten  spitzbogig,  in 
der  Mitte  rundbogig.  So  über  der  Rose,  die  auch  hier  das  Hauptmotiv  der 
Front  bildet,  aber  ziemlich  schwerfällig  in  der  Gliederung  ist.  Die  krönende 
Arcadenreihe  läuft  dann  nicht  in  gleicher  Flucht,  sondern  liegt  vor  dem 
Mittelschift'  etwas  höher  als  unter  den  Thürmen. 

Im  Zusammenhang  mit  der  Ausbildung  der  Facade  erhielt  auch  der 
Thurmbau  in  der  französischen  Gothik  seinen  ausgesprochenen  Charakter. 
An  keiner  anderen  Stelle  des  Gebäudes  tritt  die  ideale  Seite  der  Architektur 
so  in  den  Vordergrund,  die  Rücksicht  auf  Bedürfniss  und  Nothwendigkeit 
so  sehr  zurück  wie  bei  den  Thürmen.  Käme  es  blos  darauf  an,  ein  Gerüst 
für  weithin  schallende  Glocken  zu  schati'eu,  so  würde  ein  Aufsatz  auf  dem 
Giebel,  wie  man  ihn  an  Klosterkirchen  gewisser  Orden  und  im  Orient  oft 
findet,  oder  wenn  dies  nicht  genügte  und  man  den  Zweck  der  Umschau  oder 
der  Vertheidigung  damit  verbinden  wollte,  ein  einfacher,  gerade  geschlos- 
sener Thurm  wie  die  italienischen  ausgereicht  haben.  Allein  dabei  blieb 
man  nicht  stehen.  Der  Thurm  wurde  vorzugsweise  in  seiner  symbolischen 
Bedeutsamkeit  aufgefasst,  er  sollte  recht  eigentlich  über  das  Nützliche 
hinausgehen,  zeigen,  dass  Gottes  Ehre  in  dieser  Gemeinde  mehr  gälte,  als 
blosser  Nutzen.  Dieses  schon  im  romanischen  Style  vorhandene  Gefühl  erhielt 
in  der  Gothik  eine  bedeutend  stärkere  Betonung.  Denn  da  hier  derselbe 
symbolische  Gedanke  das  ganze  Gebäude  durchdrang,  alle  Höhenmaasse 
steigerte,  auf  allen  Punkten  gipfelte,  musste  der  Thurm  noch  viel  mächtiger 
hinaufstreben.  So  gelang  es  der  Gothik,  dem  Thurme  in  weit  h-herem 
Maasse  den  Charakter  einer  Entwickelung  noch  oben  zu  verleihen.  Dabei 
verstand  sie  es  zugleich,  die  Anlage  der  Thürme  noch  vollständiger  mit  dem 
räumlichen  Organismus  der  Kirche  zu  verschmelzen,  als  es  in  der  roma- 
nischen Architektur  geschehen  war ,  in  welcher  die  Thürme  sich  freilich  an 
bedeutsamen  Stellen,  aber  immerhin  noch  wie  eine  äusserliche  Zuthat  er- 
hoben. Anfänglich  ging  die  französische  Gothik  noch  von  jener  reichen 
Gruppirung  einer  grossen  Anzahl  von  Thürmen,  wie  sie  dem  romanischen 
Styl  eigen  ist,  aus,  allmälig  aber  beschränkte  sie  sich  nach  dieser  Seite  hin, 
legte  jedoch  um  so  grösseren  Werth  auf  die  Gestaltung  des  Thurmes,  damit 
er,  als  die  ausgezeichneteste  Erscheinung  des  ganzen  Gebäudes,  jenes  Lebens- 


Ausbildung  des  Thurmbaues.  g^ 

princip  desselben  recht  kräftig  ausspreche.  Dies  lag  so  sehr  im  System  der 
Gothik,  dass  der  Thurmgedanke  eigentlich  mit  demselben  heranwuchs  und 
daher  in  Frankreich,  dem  Entstehungslande  dieses  Systems,  schon  frühe  in 
seinen  wesentlichen  Erfordernissen  verstanden  wurde.  Es  ist  der  Gedanke 
einer  allmäligen  Verjüngung,  welche,  anfangs  kaum  bemerkbar,  weiter  hinauf 
mit  wachsender  Beschleunigung  zunimmt  und  am  Fusse  des  Helms  soweit« 
gesteigert  ist,  dass  sie  zur  directen  Zuspitzung  werden  kann.  Eine  weitere 
Folgerung  daraus  ist  dann,  dass  der  Gegensatz  zwischen  dem  senkrechten 
viereckigen  Unterbau  und  dem  pyramidalen  achteckigen  Helm  durch  ein 
senkrechtes  achteckiges  Stockwerk  vermittelt  und  jeder  dieser  Theile  nicht 
nackt  dem  anderen  aufgesetzt  wird,  sondern  aus  ihm  herauswächst,  so  dass 
der  Anfang  des  achteckigen  Stockwerkes  von  den  Fialen  der  vier  Ecken  des 
Unterbaues  und  der  Anfang  des  Helms  von  den  Giebeln  oder  sonstigen  Ab- 
schlüssen des  senkrechten  Achtecks  begleitet  ist. 

So  weit  war  man  in  Frankreich  schon  um  die  Mitte  des  zwölften  Jahr- 
hunderts i).  Ein  Beispiel  dafür  ist  der  alte  südliche  Thurm  an  der  Fagade 
des  Doms  von  Chartres,  dessen  Anlage  noch  aus  jener  Zeit  stammt-).  Die 
Entwickelung  ist  consequent,  aber  in  schweren,  gedrungenen  Verhältnissen. 
Ueber  dem  starken  quadratischen  Unterbau  erhebt  sich  ein  sehr  kurzes 
Achteck,  zu  dessen  Seiten,  über  den  Eckstrcbep feilern,  vier  Spitzbogenöff- 
nungen schräg  gegen  die  Ecken  des  Unterbaues  heraustreten.  Zwischen  ihren 
kleinen  Pyramiden  und  den  Spitzgiebeln  über  den  Fenstern  der  vier  andern 
Achteckseiten,  steigt  ein  auffallend  hoher,  mächtiger  Steinhelm  undurch- 
brochen in  die  Höhe.  Eine  etwas  spätere,  elegantere  Durchbildung  dieses 
Gedankens  zeigt  der  Südthurm  der  Kathedrale  von  Senlis.  Das  Achteck  ist 
ungleich  schlanker,  an  den  Ecken  entwickeln  sich  aus  den  Strebepfeilern 
offene  Tabernakel  auf  schlanken  Säulen,  aber  nur  in  der  halben  Höhe  dieses 
Stockwerks;  ihre  Helme  steigen,  als  Widerlager  gegen  letzteres,  etwas  ge- 
neigt an,  und  sind  durchbrochen  gebildet,  während  die  Hauptpyramide  an 
jeder  ihrer  acht  Seitenflächen  durch  eine  Luke  mit  hohem  Giebel  belebt  ist. 

Die  Thürme  von  Chartres  sind  unten  geschlossen,  die  von  Senlis 
aber  schon  mit  dem  Grundriss  des  Ganzen  verschmolzen,  sie  bilden  das  Vesti- 
bül des  Seitenschiffes,  und  diese  Anlage  wird  nun  die  herrschende;  in  dem 
Unterbau  der  Thürme  öffnen  sich  die  Seitenportale,  und  an  den  Kathedralen 
von  Paris  und  Laon  sehen  wir  daraus  eine  weitere  Folgerung  gezogen. 
Das  frühere  Bestreben,  den  Thurm  als  etwas  relativ  Selbständiges  zu  halten, 
ist  verschwunden,  bis  zum  Höhenabschluss  der  Fagade  ist  er  als  ein  Theil 


^)    Vgl.  Viollet-le-Duc,  III,  p,  286  —  408,  s.  v.  clocher,  die  grüadliche  und  über- 
zeugende Ausführung  dieser  frühen  Entwickelung  des  Thurmbaues  in  Frankreich. 
2)   Vgl.  oben  S.  38. 
Schnaase's  Kunstgesch.    2.  Anfl.    V.  5 


66 


Der  frühgolhische  französische  Styl. 
Fig.  10. 


fsä^M 


Von  dur  Kathedrnlu  zu  Lo-on. 


Thiirme  zu  Paris  und   Laon.  (37 

von  dieser;  von  ihrer  gesammten  Anordnung  und  Gliederung  aufgefasst. 
Bei  N.  D.  zu  Paris  ist,  nach  Art  des  normannischen  Styls,  das  Glocken- 
haus nicht  im  Achteck,  sondern  wie  die  unteren  Geschosse  im  Quadrat  ge- 
bildet. Dann  sollte  der  Haupthelm  zwischen  vier  Eckpyramiden  folgen  i). 
In  Laon  dagegen  tritt  das  Achteck  in  reichster  Ausbildung  auf,  wegen  seiner 
Schlankheit  entwickeln  sich  neben  ihm,  aus  den  Strebepfeilern,  sogar  zwei 
Stockwerke  von  leichten  Tabernakeln,  und  die  oberen  werden  mit  dem  Kern 
des  Thurmes  in  gleicher  Höhe  durch  ein  Gesims  geschlossen;  die  fünf  Helme 
darüber  sind  theils  nicht  ausgeführt,  theils  wieder  zu  Grunde  gegangen-). 
Hier  prägt  sich  die  echt  französische  Tendenz  im  Thurmbau  am  consequentesten 
aus,  bei  aller  Kühnheit  der  Entwickelung  nach  oben  ist  immer  noch  die 
bedeutsame  Horizontalgliederung  gewahrt.  So  kam  es,  dass  schon  ein 
französischer  Architekt  des  13.  Jahrhunderts,  wie  wir  später  hören  werden, 
hier  das  Ideal  des  Thurmbaues  erreicht  sah. 

Nicht  bloss  in  der  allgemeinen  Anlage  und  in  dem  Constructiven,  son- 
dern auch  und  besonders  in  den  feineren  Details  und  in  ihrer  plastischen 
Ausführung  sehen  wir  die  schnelle  Entwickelung  des  Geschmacks.  Schon  im 
Chore  von  St.  Germain-des-Pres  in  Paris  von  1163  und  in  N.  D,  von  Chä- 
lons  ist  die  Ausführung  der  Kapitale  sehr  vortrefflich  und  geistreich,  aber 
doch  noch  ganz  im  Sinne  des  romanischen  Styls  mit  steter  Beibehaltung  der 
korinthischen  Grundform,  mit  bizarrer  Vorliebe  für  Thiergestalten  und  mit 
grösserer  Freude  an  anregendem  Wechsel  als  an  harmonischer  Ueberein- 
stimraung.  In  N.  D.  von  Paris  dagegen  ist  die  Ornamention  fast  durchweg 
aus  dem  Pflanzenreiche  genommen,  das  Blattwerk  freier  und  natürlicher,  oft 
von  überaus  zierlicher  Arbeit,  und  mit  deutlicher  Nachahmung  einheimischer 
Pflanzen  stylistisch  ausgebildet. 

Es  konnte  nicht  fehlen,  dass  die  Zeitgenossen  diese  Fortschritte  be- 
merkten. Der  Mönch  Gervasius  von  Canterbury  in  seinem  um  diese  Zeit 
geschriebenen  Berichte  über  den  Neubau  seines  Domes  rühmt  ausdrücklich 
die  „sculptura  subtilis",  die  man  jetzt  an  den  Kapitalen  sehe.  Einen  so  aus- 
führlichen Bericht  besitzen  wir  nun  zwar  aus  Frankreich  nicht,  aber  es  fehlt 
doch  nicht  ganz  an  enthusiastischen  Aeussei'ungen :  ein  Chronist  ruft  im 
Jahre  1177  bei  der  Erwähnung  des  damals  im  Bau  begriffenen  Chores  der 
Pariser  Kathedrale  aus:  Wenn  das  Werk  vollendet  sei,  werde  man  diesseits 
der  Berge  nichts  Gleiches  sehen  können  '^l.  Er  hat  also  eine  sagenhafte  Yor- 

^)    Restauration  auf  Tafel  XIV  von  Viollet-le-Duc,  Entretiens  sur  l'arclniecture. 

-)  Noch  zu  sehen  auf  der  Zeichnung  in  dem  Album  des  Villard  de  Honnecourt, 
herausgegeben  von  Lassus,  Tafel  XVIII.  —  Ein  Helm,  am  Siidthurme,  existirte  noch 
im  Anfang  dieses  Jahrhunderts. 

*)  Robertus  de  Monte,  der  Fortsetzer  der  Chronik  des  Sigebertus  (bei  Inkersley 
S.  72):    An.  Dni.  1177.     Mauricius   eps.  Parisiensis  jam   diu   est  quod.  muitum  laborat 

5' 


gg  Der  früligothische  französische  Styl. 

Stellung  davon,  dass  Italien  das  Land  der  Schönheit  sei,  die  wohl  mehr  auf 
der  traditionellen  Verehrung  antiker  Kunst  und  auf  der  Kunde  von  der  impo- 
nirenden  Grösse  der  ebenfalls  fünfschiffigen  römischen  Basiliken  als  auf  ge- 
nauerer Kenntniss  von  dem  Zustande  der  damaligen  italienischen  Leistungen 
beruhet;  aber  er  würdigt  den  neuen  Bau  richtig  in  seinen  Vorzügen  vor  den 
vorhandenen  einheimischen  Werken.  Ein  anderer  Chronist  giebt,  indem  er 
den  Verfall  der  klösterlichen  Disciplin  rügt,  ein  Zeugniss,  dass  die  neuen 
Bauten  stolzer  und  namentlich  luftiger  und  heller  seien,  als  die  alten  i). 

Jede  dieser  Kathedralen  wirkte  auf  die  Kirchen  ihrer  Umgebung.  Die 
rüstigen  und  strengen  Formen  des  Domes  zu  Laon  sind  an  den  Kirchen 
St,  Martin  daselbst-),  namentlich  an  den  mit  der Ueberwölbung  zusammen- 
hängenden Theilen  und  an  den  Thürmen,  an  der  Kapelle  St.  Pierre-au-Parvis 
zu  Soissons,  und  selbst  noch  an  dem  Chore  der  grossen  Abteikirche  za 
Montier-en-Der^),  in  der  Champagne  zu  erkennen.  Die  Kathedrale  von 
Noyon  hat  auf  die  Abteikirche  von  Longpont  und  in  noch  höherem  Grade 
auf  die  von  Ourscamp*)  —  beide  jetzt  in  Ruinen  —  gewirkt.  Sehr  merk- 
würdig sind  zahlreiche  Kirchen  von  Flecken  und  Dörfern  in  den  Departe- 
ments Oise,  Seine  et  Oise,   Seine  et  Marne,  die  sämmtlich  von  N.  D.. 


et  perficit  in  aedificatione  ecclesiae  praedicte  civitatis;  cujus  Caput  jam  perfectum 
est,  excepto  majori  tectorio;  quod  opus  si  perfectum  fuerit,  non  erit  opus  citra  montes 
cui  apte  debet  comparari.     (Job.  Pistorii,  Scr.  rer.  germ.  Tom.  I). 

1)  Der  Verfasser  der  Annales  Novesienses  vom  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts 
(bei  Marlene  und  Durand,  Ampliss.  coli.  IV,  col.  356):  Veteres  monachi  cellas  quidem 
ecciesias  et  alias  mansiones  humiles  habebant  et  tenebricosas;  sed  eorum  corda  erant 
lucida  valde  in  amore  Dei;  novi  autem  ecciesias,  cellas  dom.osque  —  lucidas  fabricant, 
sed  corda  eorum,  vitiis  et  desidia  plena,  tenebrica  sunt. 

~)  Es  ist  ein  nicht  unbedeutender  Bau,  mit  gerade  geschlossenem  Chor  und  mit 
rechteckigen  Kapellen  auf  der  Ostseite  der  Kreuzarme.  Die  Fenster  sind  noch  rund- 
bogig,  die  Scheidbögen  und  die  Ueberwölbung  spitz.  Vgl.  Näheres  bei  Lübke,  Arch. 
Gesch.    4.  Aufl.    S.  495. 

'^^  Archives  des  Monuments  historiques.  An  das  romanische  Langhaus  stösst  der 
frühgothische  Chor  mit  Umgang  und  Kapellenkranz,  dessen  Grundriss  einigermaassen 
an  den  von  St.  Remy  in  Rheims  erinnert,  während  die  Gewölbdienste  und  die  Säulen 
an  den  Oberlichtern  mit  zahlreichen  Ringen  besetzt  auf  die  Kathedrale  von  Laon  hin- 
weisen. Eine  kleine  Abbildung  bei  Caumont,  Bull,  monum.  XVII,  325;  grössere  in 
der  Voyage  dans  l'ancienne  France,  Champagne.  Auch  hier  findet  sich  die  Verbindung 
von  Gallerie  und  Triforium  (wie  in  den  Kreuzconchen  von  Tournay  und  Soissons,  in 
den  Kathedralen  von  Noyon  und  Laon,  in  St.  Remy  von  Rheims  und  N.  D.  von  Chalons), 
welche  ausserhalb  der  Picardie  und  Champagne,  soviel  ich  weiss,  in  Frankreich  nicht, 
und  in  Deutschland,  wie  weiter  zu  erwähnen  sein  wird,  nur  in  St.  Georg  in  Limburg 
vorkommt. 

^)  Nach  der  Gallia  christiana  IX,  col.  530  ist  sie  1154  gegründet,  1201  geweiht. 
Ohne  Zweifel  war  die  Kirche  bei  dieser  Weihe  noch  nicht  vollendet.  Abbildungen  i» 
der  Voyage  dans  l'ancienne  France,  Picardie. 


Einfluss  der  ersten  frühg^othischen  Kathedralen.  ß9 

ZU  Paris  abhängen,  aber  die  herrschenden  Formen  mit  Geschick  und  Eigen- 
thümlichkeit  auf  kleinere  Verhältnisse  und  veränderte  Anlagen  angewendet 
zeigen.  Starke  Säulen  als  Träger  der  Arcaden  und  sechstheilige  quadratische 
Kreuzgewölbe  sind  den  meisten  dieser  Kirchen  aus  dem  Ende  des  XII.  und 
dem  Anfang  des  XIII.  Jahrhunderts  gemeinsam.  Die  Emporen  fehlen  ihnen, 
der  Chor  ist  ganz  einfach  und  zwar  bald  gerade,  bald  vieleckig  geschlossen. 
In  der  Kirche  zuNesle^)  entspricht  jedem  Gewölbequadrat  nur  eine  Arcaden- 
stellung,  die  Dienste  auf  welchen  die  Zwischengurte  ruhen,  steigen  erst  am 
Triforium  auf-).  In  der  Kirche  zu  Angicourt  wechseln  eckige  Pfeiler  mit 
vier  Diensten  und  starke  Rundsäulen  ab,  während  die  Wand  zwischen  Arcaden 
und  Oberlichtern  ungegliedert  ist.  In  der  Kirche  zu  Champeau  stehen  zwei 
schlanke  Säulen,  eine  hinter  der  andern,  zwischen  den  stärkeren,  und  die 
Stelle  der  Triforien  vertreten  achttheilige  Rosen,  unverhältnissmässig  gross, 
•offenbar  in  Nachahmung  der  ursprünglichen  Wandgliederung  in  N.  D.  zu 
Paris^).  Gewöhnlich  aber  sind  Triforien  von  grosser  Schlankheit  vorhanden 
und  die  Oberlichter  haben  radförmige  Gestalt,  theils  klein  und  einfach,  theils 
reicher  gegliedert,  eine  sehr  zweckmässige  Form,  sobald  auf  grössere  Höhe 
des  Mittelschiffes  verzichtet  wird.  Beispiele  gewähren  die  Kirchen  von  Fer- 
rieres,  Jouy-le-Moustier,  Champagne^),  nur  in  der  letzten  sind  die 
Strebebögen  sichtbar,  meist  bergen  sie  sich  in  der  Bedachung  der  Seiten-, 
schiffe. 

Eine  unmittelbare  und  sehr  interessante  Leistung  der  Bauhütte  von 
Notre  Dame  von  Paris  ist  endlich  die  KoUegiatkirche  zu  Mantes,  an 
der  Grenze  der  Normandie,  bei  der  ich  etwas  länger  verweilen  muss. 
Diese  Kirche  ist  zwar  erst  unter  Ludwig  dem  Heiligen  um  die  Mitte 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  vollendet,  aber,  wie  an  manchen  Eigeu- 
thümlichkeiten  zu  erkennen,  schon  im  Anfange  dieses  Jahrhunderts  begonnen 
und  durch  die  Jugendfrische  und  Kühnheit,  die  sich  in  allen  ihren  Formen 
offenbart,  äusserst  anziehend^).  Das  Stift  war  überaus  reich  und  mächtig, 
seine  Aebte  und  Prälaten  hatten  die  Ehrenrechte   der  Prinzen  von  könig- 


1)  A.  de  Baudot,  t^lises  de  bourgs  et  villages,  2  Bde.,  Paris  1867. 

2)  Vgl.  Viollet-le-Duc,  Dict.  IX,  p.  250  f.,  mit  Abbildung. 

3)  Vgl.  oben  S.  59.  —  Viollet-le-Duc  B.  IX,  S.  306. 

*)    Abbildungen  auch  bei  Dan.  Ramee,   Hist.  generale  de  l'Arch.  II,  p.  929,  930. 

^)  Miliin,  Antiquites  nationales.  Vol.  II,  uro.  XIX,  hat  dieser  Kirche  einen  langen 
Artikel  gewidmet,  aus  dem  aber,  wie  aus  allen  Arbeiten  dieses  Schriftstellers,  nicht 
■viel  Nutzen  für  das  eigenthch  Kunstgeschichtliche  zu  ziehen  ist.  Eine  Abbildung  der 
Facade  bei  ihm  und  bei  Chapuy,  moyen-äge  monum.  uro.  51.  Eine  vollständige  Pu- 
blication  dieser  Kirche,  die  ich  bei  den  französischen  Archäologen  selten  erwähnt 
ünde,  gehört  zu  den  wissenschaftlichen  Desideraten.  Einzelnes  in  Viollet-le-Duc, 
Dictionnaire. 


70  Der  friihgothische  französische  Styl. 

lichem  Blute.  Dem  entspricht  denn  auch  die  Anlage  der  Kirche,  die  zwar 
kein  Kreuzschiif,  aber  in  Westen  einen  mächtigen  Portalbau  mit  zwei  Thür- 
raen,  in  Osten  den  Kapellenkranz,  im  Ganzen  bedeutende  Ausdehnung  hat. 
Das  Langhaus  enthält  ausser  der  Vorhalle  drei  weitgespannte  sechstheilige 
Gewölbe,  deren  Diagonalgurten  auf  reichgebildeten  Pfeilern  viereckigen 
Kernes  ruhen,  während  schwere  Rundsäulen  die  dazwischen  liegenden  Ar- 
caden  tragen.  Diese  Rundsäulen  mit  der  flachen  attischen  Basis,  dem  Eck- 
blatte und  grossen  Blattkapitälen,  dann  besonders  die  hohe,  über  den  Seiten- 
schiffen rings  herum  sich  erstreckende  Gallerie,  endlich  die  Profile  der  Bö- 
gen und  Gewölbgurten  gleichen  völlig  dem  grossen  Werke  des  Moritz  von 
Sully.  Allein  dennoch  hat  das  ganze  Gebäude  im  Gegensatze  gegen  N.  D. 
von  Paris  einen  überaus  leichten  und  luftigen  Charakter.  Schon  in  N.  D. 
von  Laon  hatten  wir  uns  über  den  kühnen  Gebrauch  freistehender  hoher 
Monolithenstämrae  zu  verwundern,  aber  diese  Kühnheit  ist  hier  weit  über- 
boten. Dies  zeigt  sich  besonders  in  der  Vorhalle  unter  dem  Thurmbau. 
Die  Gallerie  nämlich  ist  bis  an  die  Mauer  der  Fagade  auf  beiden  Seiten 
fortgefühlt  und  durch  einen  schmalen,  an  derselben  entlanglaufenden  Gang 
verbunden.  Sie  hätte  an  dieser  Stelle ,  wo  kein  Oberschiff  zu  stützen  war 
und  ihre  Ueberwölbung  erst  in  der  Höhe  des  Mittelschiffes  erfolgen  konnte,, 
ganz  ohne  Arcatur  bleiben  können,  welche,  da  die  Thürrae  auf  den  west- 
lichen Strebepfeilern  und  auf  sehr  starken  Pfeilern  ruheten,  zur  Sicherheit 
nichts  beitrug;  allein  der  Meister  hat  es  vorgezogen,  sie  auch  hier  anzu- 
bringen, so  dass  nun  die  schon  im  Langhause  ziemlich  schlanken  Gallerie- 
säulen  in  gleicher  Stärke  luftig  zu  der  bedeutenden  Höhe  aufsteigen,  welche 
ihnen  das  obere  Gewölbe  anwies.  Es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  diese 
übermässig  schlanken  Säulenstämme  den  Eindruck  des  Gedehnten  und  man 
möchte  sagen  Wagehalsigen  machen,  und  dennoch  liegt  in  der  Kühnheit 
dieses  schlanken  Aufschwunges,  welcher  den  ohnehin  schon  luftigen  Formen 
des  Ganzen  eine  unerwartete  Steigerung  giebt,  eine  Anmuth,  die  der  Kritik 
Schweigen  auflegt^).  Ist  dies  eine  jugendliche  Uebertreibung,  so  erkennen 
wir  in  einer  anderen  Anordnung  noch  eine  gewisse  Schüchternheit  und 
Neuheit  des  Styles.  Die  westlichen  Abtheilungen  der  Gallerie  sind  nämlich 
mit  Kreuzgewölben  bedeckt,  deren  Diagonalgurten,  um  es  beiläufig  zu  er- 


1)  Die  Höhe  des  Gewölbes  ist  96  Fuss.  Miliin,  a.  a.  0.  S.  19,  erzählt,  dass  der 
Baumeister  Endes  von  Montrenil  (dessen  unten  näher  zu  gedenken)  über  die  Kühnheit 
seines  Werkes  selbst  so  erstaunt  gewesen  sei,  dass  er  bei  der  Fortnahme  der  Hülfs- 
bogen  des  Gewölbes  nicht  gegenwärtig  zu  sein  gewagt,  daher  nur  seinen  Neffen  ge- 
sendet habe.  Ob  Miliin  diese  Nachricht  aus  einem  von  ihm  an  einer  anderen  Stelle 
seines  Aufsatzes  citirten  Manuscript  oder  woher  sonst  genommen  und  welches  Alter 
dieses  Manuscript  habe,  ist  nicht  gesagt,  indessen  ist  die  Anekdote  auch  als  Erfindung 
immerhin  charakteristisch  für  die  Kühnheit  des  Baues. 


Verschwinden  der  Gallerie.  71 

wähnen,  auf  Consolen  mit  ungemein  frei  und  geistreich  gearbeiteten  Thier- 
und  Menschengestalten  ruhen.  Diese  Art  der  Ueberwölbung  scheint  indessen 
erst  im  Laufe  des  Baues  beliebt,  während  in  den  sieben  Abtheilungen  über 
dem  Chorumgange  und  in  den  zwei  daran  anstossenden  der  nördlichen  Gal- 
lerie eine  ganz  andere  Wölbungsart  versucht  ist.  Sie  haben  nämlich  spitze 
Tonnengewölbe,  nach  dem  Mittelschiffe  zu  geöffnet,  zu  deren  Unterstützung 
an  der  Grenze  jeder  Abtheilung  förmliche  Stcinbalken  angebracht  sind,  die 
von  zwei  in  die  Mitte  der  Gallerie  gestellten  Säulen  getragen  werden^). 
Offenbar  ein  Versuch,  um  durch  dieses  Band  von  Tonnengewölben  den 
Pfeilern  des  Mittelschiffes,  welche  die  Last  der  hohen  Gewölbe  tragen  muss- 
ten,  ihren  Dienst  zu  erleichtern. 

Während  die  erwähnten  Kathedralen  langsam  ihrer  Vollendung  näher 
rückten,  musste  man  wohl  auf  manche  Mängel  des  dabei  beobachteten  Sy- 
stems aufmerksam  werden,  ohne  ihnen  jedoch  sogleich  abhelfen  zu  können.  Eine 
Quelle  solcher  Mängel  war  die  bisher  noch  immer  beibehaltene  Gallerie,  da 
sie  das  Langhaus  verdunkelte  und  die  niedrige  Anlage  der  Seitenschiffe  und 
die  schwerfällige  Form  der  Säulen  herbeiführte.  Ein  kirchliches  Bedürf- 
niss  zu  ihrer  Beibehaltung  war  kaum  vorhanden,  höchstens  boten  sie  an  den 
Tagen  besonderer  Feierlichkeiten  für  eine  grössere  Menge  von  Zuschauem 
Raum,  allein  man  betrachtete  sie  als  eine  Kräftigung  des  Mittelschiffes  und 
überdies  als  eine  Verankerung  der  Pfeiler,  und  glaubte  sie  daher,  obgleich 
die  Kathedrale  von  Sens  sich  schon  darüber  fortgesetzt  hatte,  bei  grösseren 
Anlagen  nicht  entbehren  zu  können.  Endlich  befreite  man  sich  zwar  von 
diesem  Vorurtheile,  indessen  geschah  auch  dies  nur  sehr  allmälig,  und  wir 
finden  wenigstens  an  einigen  Bauten  einen  eigenthümlichen  Versuch,  die 
Vortheile  der  Gallerie  ohne  ihre  Uebelstände  zu  erlangen.  Man  behielt 
nämlich  die  Gallerieöffnungen  als  eine  Verankerung  der  Pfeiler  bei,  ohne 
wirkliche  Gallerien  anzulegen.  Dies  geschah  in  der  Normandie,  wo  schon 
das  Langhaus  von  St.  Etienne  in  Caen  bei  romanischer  Ueberwölbung  das 
Beispiel  einer  solchen  Anordnung  gegeben  hatte,  an  der  Kathedrale  von 
Ronen  (1200 — 1225)  und  an  der  Abteikirche  zuEu,  welche  beide  im  folgen- 
den Kapitel  ausführlicher  zu  besprechen  sind.  Aber  auch  in  der  Nähe  von 
Paris  geschah  es  an  der  Kathedrale  zu  Meaux,  welche  im  Anfange  dieses 
Jahrhunderts  ganz  in  der  Weise  der  Kathedrale  von  Laon  mit  Gallerien  und 
Triforien  errichtet  war,  aber  wegen  eines  Fehlers  bei  der  Fundamentirung 
gleich  darauf  wieder  umgebaut  werden  musste,  wobei  man  dann  das  Zwischen- 


^)  Bemerkenswerth  ist  auch,  dass  diese  Gewölbe,  ganz  ähnlich  wie  die  der  Gallerie 
Ton  N.  D.  zu  Paris  nach  aussen  zu  aufsteigen  und  so  eine  grössere  Fenslerwand  er- 
halten, in  welcher  hier  ungewöhnlicher  Weise  je  ein  kreisförmiges  Fenster  angebracht 
ist.     Siehe  die  Zeichnungen  bei  VioUet-le-Duc  a.  a.  0.  I,  S.  196,  IX,  S.  285. 


72  Der  frühgothisclie  französische  Styl. 

gewölbe  fortliess,  die  Gallerieöffnung  aber  beibehielt  ^).  In  der  Picardie  ging 
man  sogleich  einen  Schritt  weiter  und  Hess  den  Pfeiler  bis  zum  Beginn  des 
Scheidbogens  freistehend  aufsteigen,  was  dann  nun  auch  in  allen  diesen  Pro- 
vinzen sogleich  herkömmlich  wurde,  so  dass  keine  im  zweiten  Decennium 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  begonnene  Kirche  noch  die  Gallerien  hat. 

Das  Verschwinden  der  Gallerien  stand  im  inneren  Zusammenhange  mit 
einer  anderen,  auch  an  sich  wichtigen  Yeränderung,  die  wir  gleichzeitig 
wahrnehmen,  nämlich  mit  der  Anlage  schmaler  Gewölbfelder.  So  lange  man 
nur  die  qnadraten  Gewölbe  kannte,  deren  weitgespannte  Gurten  eine  ge- 
waltige Scheitelhöhe  hatten  und  daher  auch  sehr  hohe  Zwischenwände  er- 
forderten, glaubte  man  jedes  Mittel  benutzen  zu  müssen,  um  der  bedeutenden 
Last  dieser  oberen  Theile  entgegen  zu  wirken.  Als  man  aber  durch  die 
weitere  Ausbildung  des  Spitzbogens  und  der  Gewölbrippen  schmale  Gewölbe 
von  massiger  Höhe  anzulegen  gelernt  hatte,  konnte  man  jedenfalls  die  Gal= 
lerie  entbehren.  Dadurch  wurde  dann  ferner  die  Behandlung  der  Pfeiler 
verändert.  Während  der  Säulenstamm  bisher  nur  dem  unteren  Stockwerke 
der  Seitenschiffe  entsprochen  hatte,  musste  er  jetzt  bis  zu  dem  oberen  Ge- 
wölbe derselben  aufsteigen.  Statt  der  früheren  gedrückten  Verhältnisse  hatte 
man  nun  die  Gelegenheit,  ihn  schlanker  zu  bilden,  welche  nicht  unbenutzt 
bleiben  sollte.  Damit  fiel  aber  auch  der  grosse  Umfang  des  Kapitals ,  auf 
w'elchem  bisher  die  Gewölbdienste  Raum  gehabt  hatten,  fort,  und  man  musste 
darauf  denken,  diese  anderweitig  zu  stützen,  ohne  den  Umfang  der  Säule  im 
Ganzen  auszudehnen  und  den  Durchgang  und  Durchblick  zu  sehr  zu  be- 
schränken. Dies  führte  auf  den  Gedanken,  den  Säulenstamm  nur  da  zu 
verstärken,  wo  die  Gewölbdienste  ruhen  sollten,  was  man  dadurch  erreichte, 
dass  man  schlanke  Dreiviertelsäulen  mit  dem  schwereren  Säulenstamme 
verband").  Anfangs  geschah  dies  bloss  da,  wo  es  am  nöthigsten  war,  näm- 
lich an  der  Frontseite,  wo  die  hohen  Gewölbdienste  aufsteigen  mussten.    So 

1)  Diesen  Hergang  bezeugt  wenigstens  Vioilet-le-Duc  a.  a.  0.  S.  198,  dessen 
saclikundigem  Auge  man  glauben  kann,  dass  er  ihn  am  Gebäude  selbst  erkannt  hat. 
"Wahrscheinlich  wird  auch  in  den  andern,  im  Texte  erwähnten  Fällen  ein  ähnlicher 
Hergang  stattgefunden  haben,  so  dass  jene  in  das  Seitenschifl'  führenden  Gallerie- 
öffnungen  immer  damit  zusammenhängen,  dass  man  die  Anlage  einer  Gallerie  l)eab- 
sichtigt,  aber  aufgegeben  hat. 

")  Ein  Beispiel  für  Umstellung  des  runden  Schaftes  mit  schlankeren  Säulen  auch 
'bei  den  bisherigen  gedrungenen  Verhältnissen  gewähren  vier  Pfeiler  der  Kathedrale 
von  Laon.  Sie  sind,  abweichend  von  den  übrigen  mit  fünf  freistehenden  Säulen  um- 
geben, welche  vom  Sockel  des  starken  Rundpfeilers  bis  zur  Deckplatte  seines  Kapitals 
aufwachsen  und  diese  stützen  helfen.  Die  drei  vorderen  Säulen  entsprechen  den  fünf 
Diensten,  die  vom  Kapital  zur  Mittelschitl'wölbung  aufsteigen,  die  zwei  andern  den 
Diagonalrippen  der  Seitenschifl'- Gewölbe.  —  Vgl.  Viollet-le-Duc,  Dict.  VH,  p.  163  ff., 
Abbildung  p.  lOG. 


Erfiiiduug  des  Maasswerks.  73 

an  den  westlichen  Pfeilern  der  Kathedrale  von  Paris  und  in  der  Kathedrale 
von  Soissons,  beide  etwa  1212.  Hierbei  musste  dann  aber  der  Hauptstamm 
noch  ziemlich  stark  gebildet  werden;  man  fand  daher  bald  heraus,  dass  eine 
gleichmässige  Umstellung  eines  schlankeren  Säulenstammes  mit  mehreren, 
etwa  mit  vier,  der  Längen-  und  Querachse  und  mithin  den  Gurt-  und  Scheid- 
bögen entsprechenden  Halbsäulen  die  schönere  und  zweckmässigere  Form 
sei,  bei  der  man  es  dann  auch  lange  beliess. 

Eine  weitere  und  noch  wichtigere  Folge  der  Anlage  schmaler  Gewölbe 
war  die  Yergrösserung  der  Fenster  und  die  Erfindung  desMaasswerks. 
Da  man  stärkere  Beleuchtung  erstrebte,  so  behielt  man  die  zwei  Fenster, 
welche  früher  unter  dem  sechstheiligen  Gewölbe  angebracht  gewesen  waren, 
-auch  in  dem  jetzt  schmaler  gewordenen  Bogenfelde  des  Spitzbogens  bei, 
rückte  sie  nun  aber  in  die  Mitte  der  Fensterwand  eng  aneinander  und  ver- 
band sie  zu  einer  Gruppe,  bei  der  dann  aber  die  leere  Stelle  zwischen  den 
beiden  divergirenden  inneren  Schenkeln  der  Spitzbögen  unangenehm  auffiel. 
Eine  ähnliche  Lücke  ergab  sich  bei  den  Gallerien,  deren  Arcadenbögeu  mit 
dem  Schildbogen  ihrer  Gewölbe  ein  Bogenfeld  bildeten,  das  leer  und  lastend 
erschien  und  dessen  Durchbrechung  den  Yortheil  stärkerer  Beleuchtung  des 
Mittelschiffes  aus  den  Fenstern  der  Gallerie  gewährte.  Hier  kam  man,  wie 
■es  scheint,  zuerst  darauf,  diese  Durchbrechung  durch  eine  kreisförmige  Oeff- 
nuug  zu  bewirken.  Dies  findet  sich  schon  inNotre-Dame  von  Paris,  aber  in 
4er  Art,  dass  über  den  drei  Arcaden  jeder  Abtheilung  nur  ein  Kreis,  also 
über  der  Spitze  des  mittleren  Bogens  und  ohne  alle  organische  Verbindung, 
angebracht  ist.  \V'irksamer  wurde  eine  solche  Kreisöffnung,  wenn  sie  bei 
der  Zusammenstellung  von  nur  zwei  Spitzbögen  in  der  Lücke  zwischen  den- 
selben stand;  sie  gab  dann  eine  annähernd  vollständige  Ausfüllung  des  Bo- 
genfeldes  unter  dem  Schildbogen.  Auch  hier  liess  man  sie  anfangs  ohne  alle 
organische  Verbindung  mit  den  Spitzbögen  *),  kam  aber  bald  darauf,  sie 
denselben  näher  zu  rücken  und  die  ganze  Gruppe  durch  einen  uraschlies- 
«enden  Bogen  zu  begrenzen.  Dies  war  der  erste  Anfang  zur  Bildung  des 
Maasswerkes,  von  dem  unter  anderen  die  1227  geweihte  Klosterkirche  zu 
Longpont-)  und  die  wahrscheinlich  gleichzeitige  von  St.  Leu  d'Esserent, 
beide  in  derPicardie,  Beispiele  geben.  Gleichzeitig  begann  man  aber  schon 
an  andern  Orten,  statt  zweier  kleinerer  ein  grösseres  Fenster  anzulegen, 
und  dasselbe  ähnlich  jenen  zusammengerückten  Durchbrechungen  durch  frei- 
stehende Steinarbeit  zu  theilen  und  auszufüllen.      Damit  war  die  Erfindung 


^)  Beispiele  dieser  Anordnung-  sind  nicht  sehr  häufig.  Sie  finden  sich  im  Krenz- 
schifi'e  des  Älünsters  zu  Strassburg  und  in  den  unten  ZfU  erwäluienden  Kirchen  zu 
Fecamp  und  Louviers  in  der  Normandie.« 

-)  Gallia  christiana  IX,  473.  Abbildungen  in  der  Voyage  dans  I'ancienne  France, 
Picardie.  —  Vgl.  Kugler,  Geschichte  der  Baukunst,  Bd.  III,  Stuttgart  1859,  S.  50. 


74 


Die  zweite  Generation  gotliischer  Kathedralen. 


Fig.  n. 


des  Maasswerkes  vollbracht^).  Anstatt  der  aufgemauerten  Fenstereinfas- 
sungen wie  bisher  (claires-voies  btities)  und  anstatt  der  durchbrochenen  grossen 
Steinplatten,  welche  in  den  zuletzt  erwähnten  Beispielen  die  obersten  Licht- 
öffnungen bildeten,  füllt  man  jetzt  die  gesammte  Fensteröffnung,  deren  ab- 
schliessender Bogen  mit  dem  inneren  Bogen  der  Wölbung  zusammenfällt, 
durch  ein  Gitterwerk  aus  Stein,  welches  nur  die  Bestimmung  hat,  sich  selbst 
zu  tragen  und  die  Glasscheiben  aufzunehmen  (claires-voies  chässis).  In  der 
Kathedrale  zu  Rheims,  die  uns  die  ersten  Beispiele  dieses  Systems  zeigt, 
geht  die  Zweitheilung  durch,  bei  der  man  anfangs  stehen  bleibt,  und  die  sich 
u.  a.  auch  in  den,  um  1240  entstandenen,  Oberlichtern  der  Kathedrale  zu 

Paris  findet.  In  diesem  Falle 
haben  die  Oeffnungen  zwischen 
den  Pfosten  noch  eine  so  grosse 
Breite,  dass  Eisenstangen  nö- 
thig  sind,  um  die  Scheiben  zu 
halten.  Um  dies  überflüssig  zu 
machen,  theilte  man  später  bei 
grösseren  Verhältnissen  die  Oeff- 
nungen noch  einmal  und  gewann 
ein  viertheiliges  Fenster,  indem 
man  zwei  Nebenpfosten  zu 
den  Seiten  des  Hauptpfostens 
anbrachte.  Von  jedem  Neben- 
])fosten  steigen  wieder  zwei 
Spitzbögen,  die  eine  Rose  tra- 
gen, auf  und  ordnen  sich  dem 
bereits  durch  die  Zweitheilung 
gegebenen  Systeme  von  Spitz- 
bögen und  Rose  unter.  Durch 
nochmalige  Zweitheilung  lassen 
sich  dann  achttheilige  Fenster  gewinnen,  und  so  waltet  auch  bei  Ver- 
mehrung der  Abtheilungen  ein  rhythmisches  und  organisches  Princip.  An- 
fangs, namentlich  noch  in  Notre  Dame  von  Paris  und  im  Chore  der  Kathe- 
drale von  Rheims,  wo  die  Fenster  noch  eine  nach  Maassgabe  ihrer  Breite 
sehr  grosse  Höhe  hatten,  wagte  man  es  nicht,  den  mittleren  Pfosten  bis  zu 
dem  Punkte  hinauf  zu  führen,  wo  der  Bogen  an  der  Einrahmung  des  Fensters 
begann.  Der  innere  Bogen  wurde  daher  etwas  tiefer,  an  dem  senkrechten 
Theile  der  Fensterwände,  angebracht  und  der  Raum  darüber  durch  einen 
sehr  grossen  Kreis  gefüllt,  welcher  im  Vergleich  mit  den  darunter  liegenden 


St.  Leu  d'Esserent. 


1)    VioUet-le-Duc  (Fenetre),  V,  S.  383  ff.  und  VI,  S.  320  (.Meneau).  — 


Ausbildung  des  Maasswerks. 


75 


Bögen  leer  und  doch  lastend  erschien.  Bald  darauf  fand  man  das  richtige 
Verhältniss  der  äusseren  Bögen  und  der  Kreise  zu  den  kleineren  inneren 
Bögen,  was  annähernd  schon  die  zweitheiligen  Oberlichter  des  Langhauses 
in  N.  D.  zu  Rheims,  vollkommen  die  viertheiligen  Fenster  in  der  Sainte- 
Chapelle  zu  Paris  zeigen.  Man  Hess  nämlich  die  Pfosten  im  Inneren  der 
Fenster  eben  so  hoch  hinaufsteigen,  wie  die  senkrechten  Theile  der  äusseren 
Einrahmung,  so  dass  alle  Bogenanfänge  Fig.  12. 

in  derselben  geraden  Linie  lagen,  nahm 
dann  die  Breite  des  Raumes,  welchen 
jeder  Spitzbogen  zu  überdecken  hatte, 
zum  Radius  der  beiden  Schenkel  des- 
selben, erhielt  daher  durchweg  aus 
dem  gleichseitigen  Dreiecke  construirte, 
gleichartige  Spitzbögen,  und  gab  endlich 
dem  Kreise  den  Radius,  aus  welchem 
die  unteren  Spitzbögen  construirt  waren, 
zum  Durchmesser.  Hiedurch  hatte  der- 
selbe ein  durchaus  anschauliches  Ver- 
hältniss zu  den  verschiedenen  Bögen, 
berührte  die  beiden  unteren  Bögen  an 
den  Stellen  ihrer  grössten  Tragkraft,  und 
lag  auf  ihnen  mit  augenscheinlicher 
Sicherheit,  da  seine  Weite  gerade  der 
mittleren  Hälfte  der  gesammten  Grund- 
linie zweier  Spitzbögen  entsprach.  Das 
Ganze  aber  bildete  auch  bei  Vermeh- 
rung der  Abtheilungen  ein  sehr  rhyth- 
misches und  organisches  System,  indem 
bei  völlig  gerader  Zahl  derselben,  also 
bei  vier-  oder  achttheiligen  Fenstern,  die 
Anordnung  des  Kreises  sich  stets  wieder- 
holte, bei  einer  Dreitheilung  aber  wieder- 
um drei  solche  Kreise  den  oberen  Raum 
ausfüllten. 

Das  früheste  Gebäude,  an  welchem  wir  einige  dieser  Aenderungen  mit 
Entschiedenheit  ausgeführt  sehen,  und  welches  schon  sehr  bestimmt  den 
freieren  und  luftigeren  Charakter  dieser  zweiten  Generation  gothischer 
Kirchen  zeigt,  ist  die  Kathedrale  von  Soissons.  Nachrichtlich  wissen  wir,, 
dass  ein  Neuhau  im  Jahre  1175  begonnen  wurde,  und  eine  Inschrift  im  Chore 
meldet,  dass  dieser  im  Jahre  1212  so  weit  vollendet  war,  dass  der  Dienst 


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Fenster  aus  der  Sainte  Chapelle  zu  Paris. 


"^Q  Die  zweite  Generation  gothischer  Katliedralen. 

darin  beginnen  konnte^),  der  Augenschein  ergiebt  aber,  dass  der  älteste 
Theil  der  Kirche;  der  südliche  Kreuzarm,  eine  Nachahmung  der  Kreuzconchen 
der  Kathedrale  von  Noyon,  von  dieser  jedoch  durch  einen  schmalen  Umgang 
in  zwei  Stockwerken  unterschieden  ist.  Mithin  fällt  dessen  Ausführung  bald 
nach  1175,  während  die  ganze  übrige  Kirche  mit  dem  eben  erwähnten  Chore 
sehr  genau  übereinstimmt  und  daher  bald  nach  1212  erbaut  sein  muss.  Die 
Gallerie,  welche  in  jener  Kreuzconcha  noch  pleonastisch  mit  einem  darüber 
hinlaufenden  kleinen  Triforium  beibehalten  war,  ist  in  den  späteren  Theilen 
überall  fortgeblieben,  dagegen  sind  die  Seitenschiffe  höher  und  das  Triforium 
schlanker  gehalten,  so  dass  das  Gewölbe  dieselbe  Höhe  erreicht,  wie  dort. 
Die  Ueberwölbung  des  Mittelschiffes  ist  in  schmalen  Feldern  ausgeführt,  die 
Säulen  haben  zwar  noch  das  hohe  Knospenkapitäl  und  die  Basis  mit  dem 
Eckblatte  wie  in  der  Kathedrale  von  Laon,  aber  sie  sind  schlanker  gehalten 
und  durch  eine  im  Mittelschiffe  vorgelegte  Halbsäule  verstärkt,  von  welcher 
fünf  Gewölbdienste  aufsteigen.  Das  Triforium  besteht  noch  aus  fortlaufenden 
Arcaden  gleicher  Höhe,  deren  Gesims  mit  den  Gewölbdiensten  durch  Ver- 
kröpfungen  verbunden  ist;  die  Fenster  sind  weit  und  hoch,  das  Oberschiff 
hat  schon  die  volle  Leichtigkeit  des  gothischen  Baues.  Anfänge  des  Maass- 
werks finden  sich  in  soweit,  als  in  dem  geraden  Theile  des  Chors  die  Fenster, 
wie  in  Saint -Leu  d'Esserent,  paarweise  zusammengestellt  und  durch  einen 
höheren  Spitzbogen  überspannt  sind,  den  eine  Rosette  füllt  2).  Die  Profi- 
lirung  ist  zwar  noch  durch  Rundstäbe,  aber  doch  schon  mit  starken  Höh- 
lungen zwischen  denselben  bewirkt.  Bei  der  Anlage  des  Chores  finden  wir 
endlich  eine  wichtige  Neuerung;  er  ist  nämlich  nicht  wie  bisher  halbkreis- 
förmig, sondern  polygon,  nämlich  sowohl  am  Oberschiffe  als  in  den  Kapellen 
aus  fünf  Seiten  des  Zehnecks  gebildet.  Dabei  ist  die  Ueberwölbung  der 
fünf  radianten  Kapellen,  wie  in  St.  Remy  in  Rheims,  durch  ein  achttheiliges 
Rippengewölbe  bewirkt,  aber  in  sehr  verbesserter  und  sinnreicher  Anord- 
nung. Der  Schlussstein  liegt  nämlich  im  Scheitelpunkte  des  Halbkreisbogens, 
welcher  den  Eingang  zur  Kapelle  bildet,  so  dass  das  Gewölbe  nicht  bloss 
die  Kapelle,  sondern  auch  die  darangrenzende  Abtheilung  des  Umganges 
bedeckt,  und  von  den  Säulchen  zwischen  den  Fenstern  der  Kapelle  und  den 


^)  Anno  milleno  biscenteno  duodeno  liunc  inirare  choriim  cepit  grex  Canonicorum. 
Die  Gallia  Christiana,  Vol.  IX,  col.  365,  bemerkt  sogar,  dass  aus  Urkunden  von  1210 
bis  1212  hervorgehe,  dass  in  diesen  Jaliren  die  ganze  Kirche  vollendet  und  durch 
Bischof  Haimardus  ausgeschmückt  sei.  Wahrscheinlich  enthalten  diese  Urkunden  die 
Stiftung  von  Altären  und  würden  sich  daher  auch  aus  der  Vollendung  des  Chores 
erklären  lassen.  —  Vgl.  Viollet-le-Duc,  Dict.,  Bd.  II,  p.  309  f.,  nebst  Grundriss. 

-)  Viollet-le-Duc,  Dict.  V,  p.  376  f.,  nebst  Abbildung.  Es  ist  dieselbe,  welche 
oben  Band  IV,  S.  157  —  jedoch  mit  der  irrigen  Unterschrift:  \  on  St.  Yved  in  Braisne 
gegeben  ist. 


Kathedrale  von  Soissons  und  St.  Yoed  in  Braisne. 


7T 


Säulen  des  Rundpunktes  getragen  wird.  Die  Nothwendigkeit  eines  zweiten 
Umganges,  dessen  Säulen  den  Eingang  und  Durchblick  in  die  Kapellen 
hemmen,  ist  dadurch  beseitigt,  und  die  Strebepfeiler  erstrecken  sich  so  weit 
in  das  Innere,  dass  sie  die  Kapellen  vollständig  begrenzen. 

Einigermaassen  verwandt  mit  dieser  Choranlage,  aber  noch  sehr  viel 
eigenthümlicher,  ist  die  der  nur  w.enige  Stunden  von  Soissons  belegenen 
und  fast  gleichzeitigen  Abteikirche  St.  Yved  in  Braisne  (1180—  1216). 
Die  Kirche  hat  nämlich  ein  Langhaus 
mit  schmalen  Kreuzgewölben,  Kreuz- 
arme von  gewöhnlichem  Verhältnisse 
und  fünf  aneinandergereihete  radiante 
Kapellen,  aber  ohne  Sonderung  eines 
inneren  Chorraumes  und  Umganges, 
vielmehr  in  der  Art,  dass  die  mittlere 
der  fünf  Kapellen  die  volle  Breite 
des  Mittelschiffes  einnimmt,  ihre  gerad- 
linigen Seitenwände  eine  Verlängerung 
der  Pfeilerreihe  des  Mittelschiffes  bil- 
den und  das  Auge  also  vom  westlichen 
Ende  des  Langhauses  ungehindert  bis 
zu  dem  durch  fünf  Seiten  des  Zehn- 
ecks bewirkten  Schlüsse  jener  Mittel- 
kapelle hiublickt.  Es  ist  hier  also  statt 
des  in  Frankreich  bei  allen  grösseren 
Kirchen  üblichen  Umganges  die  in 
Deutschland  gewöhnliche  Anordnung 
wonach  der  Chor  unmittelbar  von  den 
Aussenmauern  umgeben  ist,  angenom- 
men, und  nur  dadurch  modificirt  und 
der  französischen  Sitte  genähert, 
dass  die  zwischen  dem  Langschiffe 
und  den  Kreuzarmen  entstehenden  Win- 
kel in  die  Kirche  hineingezogen  und 
nach  aussen  hin  durch  je  zwei  radiant  gestellte  Kapellen  begrenzt  sind,  wo- 
durch dann  eine  Anordnung  entstand,  welche  fast  die  Bequemlichkeit  und 
den  luftigen  Anblick  des  gewöhnlichen  Kapellenkranzes  gewährte.  Wahr- 
scheinlich führte  das  Bestreben  nach  zweckmässiger  Ueberwölbung  der  Ka- 
pellen und  der  benachbarten  Theile  des  Umganges  auf  die  Erfindung  die- 
ser Anlage.  Das  Rippengewölbe  der  Kapellen  bedurfte  einer  Widerlage  aus 
dem  Inneren  der  Kirche,  welche  ihm  nur  in  sehr  künstlicher  Weise  gewährt 
werden  konnte,  wenn  die  angrenzende  Abtheilung  des  Seitenschiffes  viereckig 


liik. 


Sit    \\^^\  in  1  rai^ne 


78  Die  zweite  Generation   gotliischer  Kathedralen. 

war,  sich  dagegen  sehr  leicht  herstellte,  wenn  sie  die  Hälfte  eines  Quadrates, 
also  ein  rechtwinkeliges  Dreieck  bildete,  welches  den  Diameter  und  Ein- 
gangsbogen der  Kapelle  zur  Hypothenuse  und  Grundlinie  hatte.  Die  Rundung 
der  Kapelle  war  dann  nur  ein  um  ein  gleiches  Dreieck  geschlagener  Halb- 
kreis, beide  Abtheilungen  zusammen  bildeten  ein  nur  durch  diese  herumge- 
zeichnete Bogenlinie  erweitertes  Quadrat  von  derselben  Grösse,  wie  die 
anderen  Quadrate  der  Seitenschiffe.  Der  Eingangsbogen  war  eine  gewöhn- 
liche Diagonalrippe,  in  deren  Schlussstein  die  andere,  von  der  inneren  Säule 
ausgehende  Diagonale  mit  den  von  der  Kapellenwand  aufsteigenden  Rippen 
zusammenstiess.  Offenbar  hat  diese  Ueberwölbung  die  grosseste  Aehnlich- 
keit  mit  der  in  Soissons  angewendeten,  und  man  kann,  besonders  da  auch 
die  Details  dieser  Kirche,  ungeachtet  ihrer  etwas  roheren  Ausführung,  denen 
der  Kathedrale  von  Soissons  gleichen,  wohl  annehmen,  dass  derselbe  Meister 
an  beiden  Kirchen  gearbeitet  hat. 

Es  ist  sehr  merkwürdig,  dass  diese  sinnreiche,  solide  und  einfache  An- 
ordnung in  Frankreich  fast  nirgend  Nachahmung  gefunden  hat^);  wie  es 
scheint,  hielt  die  französische  Geistlichkeit  einen  Umgang  um  den  Chor  für 
€in  so  dringendes  Erforderniss  des  kirchlichen  Anstandes,  dass  sie  nicht 
davon  abgehen  wollte.  Dagegen  wurde  die  Anordnung  von  Soissons  bald 
vorherrschend  und  bleibend  das  Vorbild  der  späteren  Choranlagen,  Jetzt 
nämlich,  im  zweiten  Decennium  des  Jahrhunderts,  hatten  die  Erfahrungen, 
welche  die  bisherigen  Bauten  gewährten,  zu  einem  klaren  Verständniss  der 
Anforderungen  des  neuen  Systems  geführt.  Wenige  Verbesserungen  ge- 
nügten, um  es  völlig  festzustellen,  und  dies  geschah  dann  auch  unmittelbar 
darauf  in  einer  zweiten  Gruppe  von  Kathedralen,  von  denen  die  meisten, 
die  von  Rheims,  Amiens  und  Beauvais,  wiederum  der  Champagne  und  Pi- 
cardie  angehören,  während  die  vierte,  die  Kathedrale  von  Chartres,  etwas 
entfernter  und  mehr  westlich  gelegen  ist. 

Von  der  Baugeschichte  des  Domes  von  Chartres  seit  den  eifrigen  Ar- 
beiten an  der  Westseite  wissen  wir  nur,  dass  im  Jahre  1195  ein  bedeutender 
Brand  stattfand.  Geistlichkeit  und  Volk,  von  dem  päpstlichen  Legaten  zu- 
sammengerufen, widmeten  sich,  auf  dessen  Mahnung,  dem  Neubau  mit  Be- 
geisterung, und  so  wurde  die  Kirche,  wie  ein  Chronist  sagt,  von  den  Gläu- 
bigen als  ein  bewundernswürdiges  steinernes  Gebäude  unvergleichlich  aus- 


^)  Nur  in  der  früher  erwähnten  kleinen  Kirche  zuFerrieres  schliessen  die  Seiten- 
schiffe mit  einer  schräg  gestellten  vierseitigen  Kapelle.  Ueber  das  Verhältniss  der 
Liebfrauenkirche  in  Trier  zu  St.  Yved  und  über  ähnliclie  Choranlagen  in  Deutschland 
wird  weiter  unten  gesprochen  werden.  Die  westlichen  Abtheilungen  des  Langhauses 
von  St.  Yved  sind  jetzt  abgebrochen,  so  dass  von  jenem  nur  noch  ein  Joch  auf- 
recht steht. 


Charlres,  Rlieims,  Amiens  uikI  Rpativais.  79 

geführt^).  Im  Jahre  1220  waren  bereits  feste  Gewölbe  da,  von  denen  ein 
anderer  Chronist^  Guillaume  le  Breton,  sagt,  dass  sie  einer  Schildkröten- 
schale zu  vergleichen  und  fest  genug  seien,  um  «einer  neuen  Feuersbrunst  zu 
widerstehen.  Dies  bewährte  sich  in  der  That  bei  dem  Brande  von  1836, 
der  den  Dachstuhl  und  den  alten  Thurm  verzehrte"  dem  aber  die  Kirche 
selbst,  die  solideste  aller  Kathedralen  in  Frankreich,  widerstand.  Die  Weihe 
fand  erst  1260  statt,  nachdem  alles  Wesentliche  des  Baues  wohl  schon  längst 
vollendet  war.  Da  augenscheinlich  die  Fa^ade^)  sehr  viel  älter  ist  als  das 
Langhaus  und  ,dieses  wieder  älter  als  das  im  vierzehnten  Jahrhundert  vol- 
lendete Kreuzschiff,  so  darf  man  annehmen,  dass  jene  durch  den  Brand  nicht 
gelitten  hat  und  dass  das  Langhaus  nebst  dem  Chore  die  von  1195  bis  1260  er- 
bauten Theile  sind.  Die  neue  Kathedrale  von  Rheims  wurde  nach  einem 
Brande  (1211)  im  Jahre  1212  begonnen;  1241  nahm  das  Kapitel  Besitz  vom 
Chor,  etwa  um  dieselbe  Zeit  begann  erst  der  Bau  der  vorderen  Langhaus- 
Partien  und  der  Fagade,  1295  war  der  Bau  noch  nicht  ganz  vollendet. 
Einzelnes  wurde  noch  im  vierzehnten  und  fünfzehnten  Jahrhundert  hinzu- 
gefügt, dennoch  hat  der  Bau,  der  die  französische  Gothik  auf  ihrer  vollen 
Höhe  zeigt,  das  Gepräge  grossartiger  Einheit^).  In  Betreff  der  Kathedrale 
von  Amiens  ergeben  Inschriften,  namentlich  die  auf  den  Grabmonumenten 
der  Bischöfe,  dass  der  Bau,  nach  einem  Brande  der  älteren  Kirche  (1218), 
von  1220  bis  1288  dauerte.  Wahrscheinlich  begann  man  mit  dem  Chore 
in  seinem  unteren  Stockwerke,  schritt  dann  zum  Schiffe  fort,  dessen  Wölbung 
schon  1237  begann  und  1247  fast  vollendet  war,  und  erbaute  zuletzt  die 
Kreuzfagaden.  Im  Jahre  1269  wurden  die  Fenster  des  Chores  mit  Glas- 
gemälden geschmückt,  wie  deren  Inschriften  beweisen,  1288  war  die  Fagade 
bis  zu  den  Thürmen  aufgestiegen,  an  denen  nun  später  gebaut  wurde*). 


^)  Gallia  christ.  Vol.  VIII,  col.  1164.  "Willi.  Aremoricus,  de  gest.  Phil.  Aug.  bei 
Duchesne  p.  77,  ad  annum  1194.  In  fine  sequentis  anni  eccl.  b.  Mariae  Carnotensis 
casuali  incendio  cousumpta  est,  sed  postea  a  fldelibus  incoinparabiliter  miro  et  mira- 
culoso  tabulatu  lapideo  reparata  est.  Vergl.  du  Somerard  a.  a.  0.  IV,  p.  385.  — 
M.  F.  Bulteau,  Description  de  la  Cathedrale  de  Chartres,  suivie  d'une  courte  notlce 
sur  les  eglises  de  Saint-Pierre,  de  Saint- Andre,  et  de  Saint- Aignan  de  la  meme  ville. 
Chartres  1850.  —  Lassus,  Duval  et  Didron,  Monographie  de  la  Catliedrale  de  Charlres, 
Paris  1842. 

2)    Vgl.  S.  38. 

^  Tarbe,  Rheims,  essai  historique,  Rheims  1844,  und  Gallia  ehrist.  IX,  cd.  104 
— 107,  138.  Noch  in  einer  Bulle  von  1451  bewilligt  Nicolaus  V.  Induigenzen,  weil 
der  Dom  noch  nicht  vollendet  sei,  was  sich  nur  auf  Statuen  des  Aeusseren  u.  dgl. 
bezogen  haben  kann,  die  man  noch  hinzufügen  wollte.  —  Tourneur,  la  Cathedrale  de 
Reims,  in  de  Caumont,  Bulletin  monumental,  vol.  XXIX,  1863.  Publicationen  von 
N.  D.  in  Reims  bei  Jules  Gailhabaud,  I'architecture  du  V^e  au  XVIIme  siecle  et  les 
arts  qui  en  dependent.    I.    Paris  1858. 

*)    Jolimont  im  Text  zu  Chapuy's  Cath.  frainj,  p.  s.  —  Jourdain  und  Duval  Portail 


30  Die  zweite  Generation  gothischer  Kathedralen. 

Einzelne  Kapellen  des  Chorumganges  waren  aber  noch  unvollendet  geblieben;: 
von  zweien  derselben  wissen  wir,  dass  sie  erst  im  Jahre  1402  fertig  wurden  ^), 
Gewisse  Theile,  namentlich  die  Rosen  der  Kreuzfa^aden,  wie  man  sie  jetzt 
sieht,  sind  wahrscheinlich  erst  nach  einem  Brande  vom  Jahre  1527  ent- 
standen. Die  Kathedrale  zu  Beauvais  endlich  wurde  nach  einem  Brande 
von  1225  begonnen;  in  den  Jahren  1247 — 1269  war  der  Chorbau  fast  voll- 
endet, 1272  konnten  die  Chorherren  den  Dienst  beginnen,  aber  wegen  zu 
grosser  Schlankheit  und  zu  weiter  Stellung  der  Pfeiler  im  Langchor  stürzte 
schon  1284  das  Gewölbe  ein,  dessen  Herstellung  vierzig  Jahre  währte-).  Jetzt 
mussten  überall  Zwischenpfeiler  die  Arcaden  haltbarer  machen.  Die  weitere 
Ausführung  der  in  allzu  grossartigen  Verhältnissen  angelegten  Kirche  ist 
unterblieben,  selbst  der  Fortbau  im  16.  Jahrhundert  umfasste  nur  das 
Querhaus. 

Alle  diese  Bauten  sind  genau  mit  einander  verwandt;  ihre  Abweichungen 
von  einander  sind  nur  Modificationen  derselben  Grundzüge.  Sie  unterscheiden 
sich  von  den  bisher  erwähnten  Kirchen  nicht  durch  ausserordentliche  und 
überraschende  Neuerungen,  vielmehr  findet  sich  an  ihnen  kaum  irgend  eine 
Form,  die  nicht  schon  in  einer  oder  der  andern  derselben  vorgekommen 
wäre.  Aber  der  bisher  nur  geahnete  Grundgedanke  ist  nun  mit  vollem  Be- 
wusstsein  harmonisch  und  consequent  durchgeführt.  Man  sieht,  dass  diese 
Meister  die  Arbeiten  ihrer  Vorgänger  vor  Augen  hatten,  dass  sie  daraus  das 
Richtige,  dem  neuen  Geiste  und  Systeme  Zusagende  auswählten,  das  Spröde 
und  Harte  milderten,  das  Ganze  möglichst  zu  vollenden  suchten.  Die  allzu- 
weiten quadraten  Gewölbfelder  des  Mittelschiffes,  die  breiten  Gallerien  haben 
sie  bleibend  aufgegeben,  schmale,  mit  jeder  Arcade  abschliessende  Gewölbe 
und  leichte  Triforien  sind  an  ihre  Stelle  getreten.  Durch  diese,  schon  in 
der  Kathedrale  von  Soissons  ausgeführte  Neuerung  wurde  die  völlige  Durch- 
führung des  Strebesystems,  die  Herstellung  gleicher  und  schlanker  Pfeiler 
und  Traveen,  die  Verminderung  der  Zwischenwände  und  die  Ausdehnung  der 
Fenster  bis  an  den  Schildbogen  der  Gewölbe,  und  endlich  der  Sinn  für 
organische  Vollendung  des  Ganzen  angeregt.  Die  Meister  unserer  Kathe- 
dralen gingen  in  allen  diesen  Beziehungen  auf  dem  gemeinsamen  Wege 
weiter,  ohne  sich  allzu  rasch  von  den  Traditionen  ihrer  Vorgänger  zu  ent- 
fernen. Die  einfache  Rundsäule,  die  man  in  Laon  und  N.  D.  von  Paris  an- 
genommen hatte,  genügte  ihnen  nicht  mehr,  aber  der  Grundgedanke  derselben 


St.  Honore  in  den  Memoires  de  la  Societe  des  Antiquaires  de  Picardie,  1844.  Gallia 
christiana  Vol.  X,  col.  1185. 

1)  Vgl.  Inkersley  a.  a.  0.  S.  92.  Wahrschemlich  überliess  man  die  Sorge  der 
feineren  Vollendung  solcher  gesonderten  Kapellen  der  Frömmigkeit  einzelner  Gönner. 

-)  Die  Gescliichte  dieses  Domes  ist  ausser  Zweifel,  die  Nachrichten  sind  oft  zu- 
sammengestellt.    Gall.  Christ.  IX,  col.  745.    Inkersley  a.  a.  0.  S.  86  und  91. 


Chartres,  Rheims,   Amiens  und  Beauvais.  Q\ 

wurde  festgehalten,  und  hieraus  eines  der  wichtigsten  Glieder  dieses  früheren 
französischen  Styls,  der  kantonirte,  d.  h.  mit  vier  angelegten,  den  Schiffen 
und  den  Scheidbögen  entsprechenden  Halbsäulen  besetzte  Rundiifeiler  ge- 
bildet. In  Beziehung  auf  die  statischen  Mittel  strebten  sie  danach,  dem 
Wesentlichen  und  Constructiven  den  feineren  Ausdruck  zu  geben,  in  welchem 
sich  seine  tiefere  Bedeutung  entwickelt.  Daher  gehört  Manches,  das  in  den 
früheren  Bauten  schon  angedeutet  war,  seinen  feineren  Beziehungen  nach 
erst  diesen  Meistern  an.  Erst  sie  bilden  das  Maasswerk,  die  feinere  Profi- 
lirung  und  den  Fialenschmuck  der  Strebepfeiler,  also  die  Formen  aus,  in 
denen  der  Charakter  des  Stj-ls  sich  am  Entschiedensten  ausspricht. 

Ich  darf  nicht  unterlassen,  das  Verhältniss  dieser  neueren  Generation 
zu  der  vorhergegangenen  an  den  einzelnen  Theilen  näher  aufzuzeigen. 

Zunächst  bemerken  wir  eine  Steigerung  der  Maasse.  Die  älteren  Kirchen 
Frankreichs  hatten  in  der  Regel  keine  bedeutende  Höhe.  Zwar  gab  es  Aus- 
nahmen; in  derKii'che  vonCluny  erhob  sich  das  Gewölbe  auf  fast  110  Fuss, 
aber  selbst  in  so  bedeutenden  Kirchen  wie  Ste.  Trinite  und  St.  Etienne  in 
Caen  hatte  es  nur  die  Höhe  von  50  und  60  Fuss.  In  N.  D.  in  Chälons  steigt 
es  auf  etwa  70,  in  St.  Remy  in  Rheims,  freilich  nach  Anleitung  der  mäch- 
tigen alten  Basilika,  welche  zum  Grunde  lag,  auf  fast  100,  aber  im  Dome 
von  Laon  bleibt  es  bei  83,  und  in  dem  von  Sens  bei  etwa  90  Fuss.  Die 
Pariser  Kathedrale  giebt  zuerst  das  Beispiel  des  bisher  ungewöhnlichen 
Höhenmaasses  von  10*1  Fuss,  aber  sie  erscheint  fast  wider  den  Willen  ihrer 
Meister  so  hoch  gesteigert,  nur  durch  die  Menge  der  einzelneu  Abtheilungen 
und  ungeachtet  jede  von  ihnen  möglichst  niedrig  gehalten  war.  Erst  jetzt, 
wo  man  die  Gallerie  zu  entbehren  und  das  Strebesystem  besser  wtirdigen 
gelernt  hatte,  überliess  mau  sich  ungehindert  dem  Bestreben  nach  freien 
luftigen  Verhältnissen,  das  in  der  Zeitrichtung  lag^).      Die  Gewölbhöhe  der 


^)  Viollet-le-Duc  a.  a.  0,,  I,  p.  187,  bestreitet  sein-  eifrig-,  dass  die  Architekten 
des  frühgothischen  Styls  eine  grosse  Höhe  erstrebt  hätten,  und  sucht  dagegen,  nament- 
lich an  der  Kathedrale  von  Paris,  nachzuweisen,  dass  diese  Höhe  nur  die  unvermeid- 
liche Folge  des  ganzen  Constructionssystems  gewesen,  und  dass  man  sich  vielmehr 
bemüht  habe,  sie  durch  möglichst  niedrige  Anlage  der  einzelnen  Theile  zu  vermin- 
dern. Allein  er  selbst  muss  zugestehen,  dass  man  am  Ende  des  dreizehnten  und  im 
vierzehnten  Jahrhundert  diese  Erhöhung  absichtlich  gesteigert  habe,  und  schon  dies 
würde  darauf  schliessen  lassen,  dass  die  Erlangung  imposanter  Höhenverhältnisse  in 
der  ursprünglichen  Tendenz  der  Schule  lag,  wenn  man  auch  eine  allzugrosse  und  ge- 
fährliche Höhe  noch  vermeiden  zu  müssen  glaubte.  Die  im  Texte  enthaltenen  Maass- 
angaben  zeigen  aber  auch,  dass  jenes  bewusste  und  absichtliche  Streben  nach  grösserer 
Höhe  nicht  erst  am  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  sondern  schon  von  1212  aa 
eintrat.  Allerdings  hat  Viollet-le-Duc  darin  Recht,  dass  er  denen  gegenüber,  welche 
dieses  Streben  nach  kühnen  und  luftigen  Verhältnissen  rein  ideal  aus  einer  bestimmten 
religiös  symbolischen  Tendenz  erklären  wollen ,  auch  die  technischen  Gründe  der 
Sache  betont. 

Schnaase's  Kunstgescb.    2.  Aufl.    V.  6 


32  Die  zweite  Generation  französischer  Kathedralen. 

Kathedrale  von  Chartres  beträgt  schon  108,  die  in  Rheims  115  bis  120,  in 
Amiens  132,  in  Beauvais  146  Fuss.  Dies  war  dann  freilich  auch  das  Aeus- 
serste;  nachdem  das  Gewölbe  hier,  wie  erwähnt,  eingestürzt  war,  „propter 
artificii  insolentiam",  wie  ein  Chronist  bei  dem  Einsturz  des  viel  niedrigeren 
Gewölbes  am  Dome  zu  Lincoln  sagt,  hat  man  in  Frankreich  keinen  Versuch 
gemacht,  noch  höher  hinauf  zu  steigen. 

Die  Wirkung  der  Höhe  hängt  aber  nicht  bloss  von  ihrem  Maasse,  son- 
dern auch  von  ihrem  Verhältnisse  zur  Breite  des  Mittelschiffes  ab;  wollte 
man  also  den  Eindruck  des  Schlanken  geben,  so  durfte  die  Breite  nicht  in 
gleichem  Maasse  wachsen.  Dennoch  strebte  man  auch  hier  anfangs  allzu  sehr 
ins  Grosse.  In  St.  Etienne  in  Caen  ist  das  Mittelschiff  nur  32'  6",  in  Ste. 
Trinite  gar  n  ur  23'  breit,  wie  erwähnt  bei  einer  Höhe  dort  von  60,  hier  von 
50  Fuss;  die  Höhe  enthielt  daher  ungefähr  die  doppelte  Breite.  Die  Kathe- 
drale von  Laon  hatte  bei  einer  Breite  von  3ß  die  Höhe  von  83  Fuss,  also 
ein  Verhältniss  von  2^/3.  In  Chartres  überbot  man  zwar  diese  Höhe,  steigerte 
aber  dennoch,  da  auch  die  Breite  und  zwar  bis  auf  45  Fuss  anwuchs,  das 
Verhältniss  nicht  bedeutend.  In  N.  D.  von  Paris  hatte  dagegen  die  Höhe 
(106)  schon  fast  das  dreifache  Maass  der  Breite  (36),  und  diesem  Vorbilde 
folgend  und  es  übertreffend,  gaben  auch  die  Meister  von  Rheims  und  Amiens 
ihren  Kirchen  bei  einer  etwas  grösseren  Breite  (in  beiden  etwa  38')  auch 
eine  grössere,  mehr  als  das  Dreifache  betragende  Höhe.  Dies  war  das  Ver- 
hältniss, welches  von  nun  an  als  das  normale  galt  und  nicht  leicht  verlassen 
wurde.  Der  Meister  von  Beauvais  steigerte  nur  die  Maasse,  indem  er  bei 
einer  Breite  von  45  eine  Höhe  von  146  annahm;  allein  sein  Beispiel  war 
eher  abschreckend,  da  der  bald  darauf  eintretende  Einsturz  des  Gewölbes 
zeigte,  dass  solche  Dimensionen  wenigstens  ausserordentliche  Vorsicht  er- 
forderten. 

Auch  die  VerhäUnisse  des  Grundplans  wurden  näher  festgestellt.  Neben 
der  grossartigen  Anlage  des  Chors  erschien  ein  einfaches  Kreuzschiff  klein- 
lich; man  hatte  es  daher  schon  in  den  früheren  südfranzösischen  Bauten,  wo 
eine  ähnliche  Choranlage  bestand,  dreischiffig  gebildet,  so  in  St.  Sernin  in 
Toulouse  und  in  der  Abteikirche  von  Conques.  Da  aber  in  diesen  Bauten 
die  Seitenschiffe  durch  die  Gallerien  eine  dem  Mittelschiffe  sehr  nahe  kom- 
mende Höhe  hatten,  so  bildete  durch  ihre  Hinzufügung  wenigstens  das 
Aeussere  des  Querschifts  eine  allzu  grosse  Masse,  hinter  welcher  die  niedrige 
Concha,  wenn  auch  mit  Umgang  und  Kapellen  versehen,  unbedeutend  und 
kleinlich  erschien.  Die  edle  Form  des  Kreuzes  Irat  selbst  in  der  einfacheren 
Anlage  der  normannischen  Kirchen  deutlicher  hervor.  Man  verband  daher 
jetzt  die  Vorzüge  beider  Systeme,  indem  man  auch  dem  mittleren  Theile 
des  Chors  bis  zum  äussersten  Punkte  der  Rundung  die  Höhe  des  Mittel- 
schift'es  gab  und  die  Kreuzschiffe  mit  niedrigen  Seitenschiffen  ausstattete^  so 


Chartres,  Rheims,  Amiens  uud   Beauvais.  83 

<iass  nun  das  Kreuz  in  dem  hervorragenden,  durchweg  von  niedrigeren  und 
gleichen  SeitenschiÖeu  eingerahmten  Oberschiffe  aller  vier  Arme  deutlich  zu 
Tage  trat.  Diese  Anordnung  war  so  einfach  und  consequent,  zugleich  auch 
für  das  Strebesystem  des  Ganzen  so  nützlich,  dass  sie  von  nun  an  für  grös- 
sere Kirchen  maassgebend  wurde. 

Dass  die  Vorderseiten  der  Kreuzarme  Eingänge  und  also  Fagaden  bilden 
sollten,  stand  schon  früher  fest.  Es  fragte  sich  nur,  wie  sie  auszustatten 
seien.  Die  Meister  unserer  Dome  fassten  auch  hier  den  grossartigsten  Plan, 
sie  wollten  jeder  dieser  Fagaden  zwei  mächtige  viereckige  Thürme  bei- 
geben, welche  wie  an  der  vorderen  Fagade  das  Strebesystem  abschlössen 
und  die  Giebel  einrahmten.  Sechs  Thürme  würden  dann  also  über  dem  Bau 
sich  erhoben  uud  die  drei  unteren  Arme  des  Kreuzes  nebst  ihrer  Breite 
kräftig  bezeichnet  haben.  Ein  starker  Thurm  über  der  Vierung  kam  dann 
wohl  als  siebenter  hinzu.  Diese  Anlage,  wenn  auch  unvollendet,  tritt  bereits 
an  der  Kathedrale  von  Laon  in  grösster  Stattlichkeit  auf.  Ebenso  war  N.  D. 
zu  Rheims  ursprünglich  auf  sieben  Thürme  angelegt  ^),  von  denen  wir  nicht 
wüssen,  wie  weit  dieselben  geführt  waren,  als  der  verhängnissvolle  Brand  des 
Jahres  1481  das  Dach  und  die  obei'en  Partien  zerstörte.  Meist  sind  die 
Thürme  an  den  Querhaus-Fronten  höchstens  bis  zur  Höhe  des  Mittelschiffes 
hinaufgeführt.  Spätere  Baumeister,  wie  derjenige,  welcher  die  Kreuzarme 
"Von-K  D.  zu  Paris  nach  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  vollendete-),  und 
wie  der  Meister  von  Amiens,  haben  diese,  schon  in  Beziehung  auf  die  Kosten 
zu  anspruchsvolle  Anlage  aufgegeben.  Man  darf  aber  auch  wohl  zweifeln, 
ob  diese  fast  schwerfällige  Pracht  dem  Geiste  des  gothischen  Styls  ent- 
sprochen haben  w'ürde. 

Schwankend  und  mehr  von  individuellen  Anforderungen  abhängig  blieb 
das  Längenverhältniss  des  Chors  zum  Langhause.  Krypten  wurden,  wie  be- 
reits früher  erwähnt  ist,  schon  vom  Beginne  dieser  Epoche  an  überall  nicht 
mehr  angelegt;  der  Chor  erhob  sich  höchstens  um  wenige  Stufen  über  den 
Boden  des  Langhauses.  Aber  die  Bestimmung  der  Kathedralen  erforderte 
doch,  dass  er  einen  abgeschlossenen  Raum  bildete,  in  welchem  sich  die 
Domherren  ohne  Vermischung  mit  der  Gemeinde  sammeln  konnten.  Dieser 
Raum  musste  seine  Begrenzung  haben,  aber  doch  gestatten,  dass  ausserhalb 
desselben  eine  zahlreiche  Gemeinde  die  in  seinem  Innern  vorgenommene 
gottesdienstliche  Feier  sehen  und  hören  konnte.  Früher  hatte  ausschliesslich 
das  Schiff  zu  ihrem  Aufenthalte  gedient,  bei  der  jetzigen  breiteren  Anlage 
des  Kreuzschiffes  konnte  auch  dieses  dazu  benutzt  werden,  und  das  Lang- 
haus bedurfte  daher  nun  nicht  mehr  so  grosser  Ausdehnung.      Der  Meister 


>)    Ansicht  bei  Viollet-le-Duc.  II,  p.  324. 
-)    Vgl.  oben  S.  55  f. 


84 


Die  zweite  Generation  französischer  Kathedralen. 


Fig.  14. 


von  Rheims  zog  indessen  das  Kreuzschiff  zum  Gebrauche  des  Chores  heraiT 
und  gab  daher  dem  Langhause  noch  zehn  Arcaden,  Wcährend  der  Chor  bis 
zum  Beginn  der  Rundung  nur  drei  erhielt.  Die  Meister  von  Chartres  und 
Amiens  hielten  es  mit  Recht  für  angemessener,  den  Chor  östlich  von  der 
Vierung  des  Kreuzes  beginnen  zu  lassen,  verschafften  sich  nun  aber  den  grös- 
seren Raum,  dessen  derselbe  nach  den  Anforderungen  des  Cultus  bedurfte, 
auf  Kosten  des  Langhauses,  welches  sie  ungefähr  dem  Chore  gleich  aus  nur 

sechs  Arcaden  bestehen  Hessen. 
Diese  Anordnung  hatte  indessen 
den  Nachtheil,  dass  sie  der  Breite 
ein  zu  grosses  Verhältniss  gegen 
die  Länge  gab,  weshalb  denn  die 
späteren  Meister/  in  der  Regel 
dem  Langhause  wieder  eine  grös= 
sere  Arcadenreihe  gaben. 

In  Beziehung  auf  die  Anord- 
nung des  Chors  selbst  finden  sich 
mehrere  Verschiedenheiten.  In 
K  D.  von  Paris  hatte  die  ganze 
Kirche  und  also  auch  der  Chor 
doppelte  Seitenschiffe.  Die  spä- 
teren Meister  fanden  mit  Recht 
diese  breite  Anlage  des  Lang- 
hauses überflüssig  und  nach- 
theilig und  begnügten  sich  daher 
hier  mit  einfachen  Seitenschiffen. 
Dagegen  behielt  man  an  dem  ge- 
raden Theile  des  Chors  die  dop- 
pelten Seitenschiffe  bei,  ohne 
Zweifel  zunächst  um  grösseren 
Raum  zu  Umzügen  zu  erhalten. 
In  Rheims  fand  man  es  sogar 
bequem ;  diesem  Theile  des 
Chors  dieselbe  Breite  zu  geben 
wie  dem  Kreuzschiffe,  so  dass  die  Mauer  hier  wie  in  K  D.  von  Paris 
bis  zur  Rundung  fast  in  einer  Flucht  fortlief  und  das  Kreuzschiff  nur  durch 
seine  grössere  Höhe  sich  kenntlich  machte.  Die  Architekten  der  drei  an- 
deren Dome,  und  nach  ihrem  Beispiele  die  meisten  der  späteren,  hielten  es 
dagegen  für  angemessen,  dem  Kreuzschiffe  eine  Ausladung,  wenn  auch  nur 
von  einer  Travee  zu  geben.  Jedenfalls  fragte  sich  dann  aber,  ob  das  äus- 
sere Seitenschiff'  auch  als  zweiter  Umgang  um  die  Rundung  herumzuführen. 


Kathedrale  von  Kheiins- 


Charlies,  Rhoims,  Amiens  und  Beauvais. 


85 


Fig.  15. 


sei,  was  allerdiugs  consequent  erschien,  aber  auch  manche  Schwierigkeiten 
hervorbrachte;  der  Meister  von  Rheims  und  nach  seinem  Beispiele  die  von 
Amiens  uud  Beauvais  entschlossen  sich  daher,  das  zweite  Seitenschiff  am 
Anfange  der  Rundung  zu  schliessen.  Sie  bildeten  also  die  Chorrundung  im 
Wesentlichen  ebenso  wie  es  in  Soissons  bei  bloss  dreischiffiger  Anlage  des 
geraden  Chortheiles  geschehen  war,  und  einlangten  nebenher  durch  jenes 
äussere  Seitenschiff  eine  statische  Stütze  für  die  daran  anstossenden  Kapellen 
und  die  Veranlassung  diese  tiefer  zu  bilden,  was  dann  auch  die  Bedeckung 
derselben  durch  ein  kuppeiförmiges 
Rippengewölbe  erleichterte.  Es  war 
•dies  ein  durchaus  einfaches,  sicheres 
und  schönes  System,  welches  daher 
auch  später  allgemein  befolgt  wurde. 
Der  Meister  von  Rheims  schloss  sich 
dabei  auch  in  der  Zahl  der  Kapellen 
des  Kranzes  an  das  Vorbild  von  St. 
Remy  und  Soissons  an,  während  man 
in  Amiens  und  Beauvais  dieselbe  von 
fünf  auf  sieben  steigerte.  Dem  Meister 
von  Chartres  schwebte  dagegen  die 
Anlage  der  Kathedrale  von  Paris  vor, 
er  gab  dem  oberen  Theile  der  Run- 
dung die  halbkreisförmige  ungebro- 
chene'Gestalt  und  führte  einen  doppel- 
ten Umgang  heruni'  Fig.  16).  Dies  hatte 
die  für  die  Ueberwölbung  wichtige 
Folge,  dass  die  Abstände  der  äusse- 
ren Säulenkreise  bedeutend  grösser 
wurden,  als  die  der  inneren.  Der 
Meister  von  Paris  hatte  die  hierdurch 
entstehende  Schwierigkeit  noch  da- 
durch gesteigert,  dass  er  in  dem 
bei     ihm     vorwaltenden     Bestreben  Kathedrale  von  Amiens. 

nach  Regelmässigkeit  den  lutercolumnien  der  Rundung  die  volle  Grösse  der 
übrigen  lutercolumnien  gab;  er  hatte  sie  aber  auch  durch  eine  sehr  sinn- 
reiche Anordnung  gelöst,  indem  er  die  Zahl  der  Stützen  im  zweiten  und 
dritten  Kreise  zunehmend  vermehrte  und  so  hinlänglich  gesicherte  Rippen 
anlegen  konnte.  Diese  Anordnung  war  aber  nicht  wohl  ausführbar,  wo  man 
radiante  Kapellen  anlegen  wollte,  weil  die  eingeschobenen  Säulen  den  Ein- 
gang der  Kapellen  maskirt  und  die  Kapellen  die  Beleuchtung  der  inneren 
Theile  zu  sehr  geschwächt  haben  würden.     Sie  fand  daher  auch  nirgends 


86 


Die  zweite  Generation  französischer  Kat\\edraleu. 


Fig.  16. 


Nachahmung;  man  zog  es  vielmehr  überall  vor,  die  unvermeidliche  Er- 
weiterung der  Abstände  des  äusseren  Kreises  dadurch  minder  schädlich  zu 
machen,  dass  man  dem  inneren  Kreise  eine  engere  Stellung  gab  als  den 
Stützen  des  Schiffes.  Dies  war  in  der  That,  sofern  man  nur,  wie  es  meistens 
geschah,  diese  Stützen  des  Rundpunktes  leichter  bildete  als  die  der  geraden 

Theile,  nicht  bloss 
keine  anstössige 
Unregelmässigkeit, 
sondern  der  rich- 
tige und  bezeich- 
nende Ausdruck  für 
den  schnelleren 
Umschwung  der 
Säulenreihe  bei 
ihrer  Umkehr  zur 
anderen  Seite,  und 
zugleich  praktisch 
zweckmässig ,  da 
diese  Säulen  oder 
Pfeiler  den  inneren 
Chorraum  abgren- 
zen sollten  und  auch 
meistens  durch  eine 
Einschliessungs- 
mauer  verbunden 
wurden.  Bei  einem 
einfachen  Umgang 
genügte  eine  solche 
engere  Pfeilerstel- 
lung, um  dieSchwie- 
rigkeiten  zu  besei- 
tigen, indem  die 
Kapellenöffnungen 
nun  zwar  bedeutend  grösser  waren,  als  die  Abstände  des  inneren  Säulenkreises,, 
aber  doch  nur  so  weit,  wie  es  ihre  Begrenzung  durch  die  starken  Massen  der 
Strebepfeiler  gestattete  und  der  Zweck  des  bequemen  Zutritts  wünschens- 
werth  machte.  Bei  dem  doppelten  Umgange  erregte  aber  ein  angeschlos- 
sener Kapellenkranz  Bedenken  sowohl  für  die  Sicherheit  des  Baues  als  für 
die  Beleuchtung.  Der  Meister  von  Chart  res  half  sich  in  ziemlich  com- 
plicirter  Weise,  indem  er  den  äusseren  Umkreis  zwar  der  inneren  Säulcn- 
stellung  gemäss  in  sieben,  jedoch  nicht  ganz  gleiche  Theile  theiltc,  aber  nur 


Kathrale  von  Chartres. 


I 


Die  Kathedrale  von  Bourges.  87 

drei  grössere  Kai3ellen  anbrachte,  zwischen  denen  sich  kleinere,  in  flachem 
Bogen  heraustretende  Nischen  mit  Fenstern  befinden,  die  kaum  als  selb- 
ständige Kapellen  gelten  können.  Es  ist  dies  ein  Wechsel  der  noch  au  ro- 
manische Anlagen  erinnert.  Ohne  Zweifel  ist  die  Choranlage  von  Rheims 
und  Ami e US  in  jeder  Beziehung  dieser  Anordnung  vorzuziehen,  indessen 
scheint  es,  dass  jene  bessere,  augenscheinlich  in  der  Champagne  und  Picardie 
entwickelte  Form  in  den  westlicheren  Gegenden  entweder  nicht  so  rasch  be- 
kannt wm'de,  oder  dass  mau  von  dem  Beispiele  eines  doppelten  Umganges 
um  die  Pamdung,  welches  die  Kathedrale  von  Paris  gegeben  hatte,  nicht 
abgehen  wollte,  und  küustlichere  Mittel  einschlagen  musste,  um  sie  mit  dem 
jetzt  erforderlich  gehaltenen  Kapellenkranze  zu  verbinden. 

Dies  beweist  vor  Allem  die  Kathedrale  von  Bourges^),  eines  der  gross- 
artigsten Werke  des  XIII.  Jahrhunderts.  Der  Gedanke,  an  Stelle  der  vor- 
handenen Kirche  von  massigem  Umfang  einen  stolzen  Neubau  zu  setzen,  wurde 
bereits  1172  gehegt,  doch  die  Errichtung  desselben  nahm  wohl  kaum  vor  Beginn 
des  XIII.  Jahrhunderts  ihren  Anfang.  Dass  man  genöthigt  war,  bis  in  den  Graben 
der  Stadtmauer  vorzurücken,  hinderte  die  weiträumige  Ausbildung  des  Chors 
nicht,  der  aus  diesem  Grunde  einen  Unterbau  uöthig  hatte.  Für  die  Anlage 
des  Plans  wurde  N.  D.  zu  Paris  als  Vorbild  gewählt,  nur  das  Querhaus  blieb 
fort,  trotz  der  bedeutenden  Länge,  und  obgleich  auf  der  Mitte  jeder  Lang- 
seite Nebenportale  angebracht  wurden,  die  etwas  später  offene  Vorhallen 
erhielten.  Der  Eindruck  nähert  sich  eher  dem  eines  grossen  Saales.  Die 
fünf  schiffige  Anlage  ist  auch  im  Chor  durchgeführt,  der,  wie  bei  N.  D.  zu 
Paris,  von  halbkreisförmiger  Gestalt  ist.  Aber  aus  dem  zweiten  Umgange 
treten  noch  fünf  Apsiden  heraus,  deren  Breite  nur  ein  Drittel  der  Aussen- 
wand  jedes  einzelnen  Joches  einnimmt,  so  dass  noch  für  Fenster  neben  ihnen 
Raum  bleibt.  Verglichen  mit  einem  ausgebildeten  Kapellenkranz,  scheint 
diese  Anlage  nicht  aus  dem  ganzen  räumlichen  Organismus  zu  entspringen, 
sondern  nur  aus  äusserlicheu  Zuthaten  zu  bestehen-). 

Von  X.  D.  in  Paris  unterscheidet  die  Kathedrale  von  Bourges  sich  da- 
durch, dass  die  Gallerien  fortgeblieben  sind.  Das  innere  Seitenschiif  besteht 
nicht  aus  zwei  niedrigen  Stockwerken,  sondern  bildet  einen  einzigen  luftigen,  auf 
schlanken  Pfeilern  ruhenden  Raum.     Es  ist  daher  auch,  wie  das  Mittelschiff, 


1)  Viollet-le-Duc  I  p.  234,  II  p.  294,  nebst  Grundrissen.—  A.  de  Girardet  et 
Hipp.  Durand,  La  cathedrale  de  Bourges,  Moulins  1849.  —  Ch.  Cahier  et  A.  Martin. 
Monographie  de  la  cathedrale  de  Bourges,  2  vol.  Atlas  Fol.,  Paris  1841.  Hiernach  ein 
Durchschnitt  in  Guhl's  [Lübke's]  Atlas,  Taf.  50,  Nr.  2.  —  Ansicht  des  Inneren  und  der 
Facade  bei  Chapuy,  inoyen-äge  monument.  I,  206  u.  291. 

-)  Vielleicht  hat  auch  hierfür  die  ursprüngliche  Gestalt  des  Chors  von  N.  D.  zu 
Paris  das  Vorbild  gewährt.  Viollet-le-Duc,  II,  p.  286,  stellt  als  wahrscheinlich  hin, 
dass  sich  auch  dort  drei  herausgebaute  niedrige  Apsiden  am  Chor  befanden. 


Französische  Gothik. 


mit  einem,  dem  Pultdaclie  des  zweiten  niedrigeren  Seitenschiffes  entsprechen- 
den Triforium  und  mit  darüber  gelegenen  Fenstern  ausgestattet.  Als  Mängel 
des  vortrefflichen  Gebäudes  darf  man  es  bezeichnen,  dass  die  Triforien 
durchgängig  im  Verhältniss  zu  den  Fenstern  zu  hoch  sind,  ja  dass  überhaupt 
die  Mittelschiffhöhe  gegen  die  grosse  Schlankheit  des  inneren  Seitenschiffes 
nicht  genügend  gesteigert  ist.  Wohl  möglich,  dass  ursprünglich  eine  bedeu- 
tendere Höhe  im  Plane  lag,  die  beschränkt  ward,  als  in  der  Folge  die  Mittel 

zum  Bau  minder  reichlich 
flössen.  Zur  Einweihung 
kam  es  erst  1324. 

Der  Chor  der^  Kathedrale 
von  L  e  M  a  n  s  ^),  deren  Neu- 
bau 1217  —  also  gleich- 
zeitig mit  Chartres  —  auf 
Befehl  König  Philipp  Au- 
gust's  begonnen  ward,  zeigt 
mit  dem  von  Bourges  eine 
nahe  Verwandtschaft.  Auch 
um  ihn  wird  ein  doppelter 
Umgang  durch  ein  höheres 
und  ein  niedrigeres  Seiten- 
schiff, jenes  gleichfalls  mit 
Triforien  unter  den  Fen- 
stern, gebildet.  Auch  hier 
sind  die  Kapellen  nicht  dicht 
an  einander  gestellt,  son- 
dern durch  Zwischenwände 
mit  Fenstern  verbunden, 
aber  sie  bestehen  nicht,  wie 
in  Bourges,  aus  bedeutungs- 
losen Nischen,  sie  sind  viel- 
mehr tiefe  Anbauten  mit 
parallelen  Seitenwändeu 
und  dreiseitigem  Polygonschlusse.  Die  Mittelkapelle  ist  fast  doppelt  so 
tief  wie  die  übrigen.  Die  Ueberwölbung  des  äussern  Seitenschiffes  ist 
sehr  zweckmässig  durch  wechselnde,  vor  den  Kapellen  fast  quadrate  und 
dazwischen  dreieckige  Felder  bewirkt.  Ton  aussen  her  giebt  dieser  durch 
divergirende  Kapellen  gebildete  Schluss  ein  unruhiges  und  unerfreuliches  Bild. 


Kathedrale  zu  le  Maus. 


1)    Viollet-le-Duc,  I  S.  326,  II  355  f.,  mit  Grundrissen,  —  Das  System  des  Lang- 
hauses IX,' p.  252. 


Weitere  Ausbildung  der  Details.  89 

Das  Innere  aber  zeigt  den  leichten,  kühnen  und  doch  ernsten  und  grossartigen 
Styl  dieser  Zeit  in  so  schöner  Entwickelung,  dass  es  neben  dem  finstern 
romanischen  Schiffe  wie  der  Tempel  einer  andern  Religion  erscheinen  kann  ^). 

In  allen  Beziehungen  sehen  wir  um  diese  Zeit  rasche  Fortschritte.  An 
der  Kathedrale  von  Paris  sind  die  Strebepfeiler  mit  einfachem  Wasserschlage 
gedeckt,  an  der  zu  Chartres  durch  eine  für  eine  Statue  geeignete  Nische 
und  ein  Giebeldach  bekrönt;  an  der  zu  Rheims  haben  sie  schon  einfache 
Fialen  über  einem  auf  zwei  Säulen  ruhenden  Heiligenhäuschen;  in  Amiens 
entbehren  sie  zwar  diesen  etwas  schwerfälligen  Schmuck,  heben  sich  da- 
gegen schlanker  und  leichter  in  verschiedenen  Absätzen  und  schliessen  mit 
der  zwischen  vier  Giebeln  aufsteigenden  Fiale.  In  Chartres  sind  die  Strebe- 
bögen verdoppelt  und  durch  eine  sehr  kräftige  Arcatur  von  kleinen  Säulen 
verbunden,  in  Rheims  einfach,  aber  mit  gerader,  zum  Wasserablauf  dienender 
Bedeckung;  in  Amiens  trägt  der  Bogen  die  Wasserrinue  vermittelst  einer 
schon  ziemlich  leichten  Arcatur.  In  Chartres  hat  der  Chor  noch  einzelne, 
aber  ziemlich  breite  Laucetfeuster,  am  Oberschiffe  ist  über  jedem  Paare 
solcher  Fenster  eine  gewaltige  Rose  mit  einzelnen  durchbrochenen  Kreisen 
und  Vierblättern  angebracht;  in  Rheims  haben  die  zweitheiligen  Fenster 
schon  einfach  ausgebildetes  Maasswerk;  in  beiden  Kathedralen  besteht  das 
Triforium  noch,  wie  in  den  Kirchen  der  vorhergehenden  Generation,  aus 
einer  fortlaufenden  Reihe  gleicher  und  einfacher  Spitzbögen.  In  Amiens  da- 
gegen sind  die  Oberlichter  viertheilig  und  reicher  geschmückt,  ist  das  Tri- 
forium über  jedem  Scheidbogen  aus  zwei  dreitheiligen  Arcaden  mit  einem 
Dreipas  s  im  Bogenfelde  gebildet.  So  ist  hier  das  Ideal  des  gothischen  Auf- 
baues erreicht,  indem  die  Mauer  als  solche  vollkommen  aufgehoben  ist. 
Selbst  hinter  den  Triforien  bildet  sie  nur  eine  leichte  Füllung.  Im  Chor  ist 
sie  aber  sogar  an  dem  Triforium  ganz  verschwunden,  das  hier  zu  einer 
Fensterstelluug  umgewandelt  ist-). 

In  gleicher  Weise  ist  bei  allen  anderen  Details  der  Fortschritt  bemerk- 
bar. In  der  Profilirung  kommt  die  Aushöhlung  und  die  birnförmige  Zu- 
spitzung schon  vor,  aber  doch  noch  so,  dass  das  Runde  und  Kräftige  vor- 
herrscht. Die  Ornamentation  ist  schon  frei  und  eigenthümlich,  die  plastische 
Ausführung  mit  grossem  Geschick  behandelt,  das  Laubwerk  zeigt  Naturnach- 
ahmung, aber  die  Reminisceuz  des  korinthischen  Kapitals  und  der  Gebrauch 
rautenförmiger  und  diamantartiger  Verzierungen  und  manches  Andere  deutet 
noch  auf  den  nahen  Ursprung  aus  dem  romanischen  Style,  oder  sogar  auf 
erneuerte  Studien  der  Antike  hin.    Der  Fuss  der  Säulen  und  Halbsäulen  hat 


1)  Meriniee,  Notes  d'un  vovage  dans  l'Ouest,  p.  52. 

2)  Vgl.  unteu  S.  95.  —   Abbildung  von  Fenster   und  Triforium  bei  Viollet-le-Duc 
Dict,  Bd.  y,  p.  390. 


90 


Französische  Golhik. 


Fig.  18. 


noch  immer  das  Vorbild  der  attischen  Basis  nicht  ganz  verlassen^  sie  wird 
häufig,  namentlich  in  Amiens,  in  einer  der  weiteren  Consequenz  des  gothischen 
Styles  nicht  zusagenden  Weise  mit  Perlenreiheu  in  der  Hohlkehle  verziert; 
das  Eckblatt  wird  noch  gewöhnlich  angewendet. 

In  Betreff  der  Pfeilerbildung  sind  diese  Meister  einig,  weder  die 
einfache  Säule,  welche  sich  zu  sehr  von  der  Wölbung  trennt,  noch  den  früher 
üblichen  gegliederten  Pfeiler  viereckigen  Kerns  anzuwenden,  sondern  die 
Säule  beizubehalten,  aber,  wie  es  schon  in  Soissons  versucht  war,  zu  ver- 
stärken. Sie  fanden  es  angemessen,  diese  Verstärkung  nicht  wie  dort  auf 
eine  einzelne  angelegte  Säule  zu  beschränken,  sondern  durch  vier,  nach  den 

Hauptrichtungen  angefügte  Stützen  auszu- 
führen. Dem  Meister  von  Chartres  behagte 
jedoch  die  Zusammensetzung  des  runden 
Säulenstammes  mit  eben  solchen  halben 
oder  Dreiviertel-Säulen  nicht  ganz;  er  fand, 
dass  beide  weder  ein  organisches  Ganze 
ausmachten,  noch  sich  gehörig  sonderten. 
Deshalb  kam  er  auf  den  Gedanken,  ihnen 
eine  grössere  Verschiedenheit  zu  gebeu^ 
indem  er  nicht  Rundes  mit  Rundem,  son- 
dern mit  Achteckigem  zusammenfügte, 
also  runde  Ecksäulen  an  achteckigen,  oder 
achteckige  an  runden  Kernpfeilern  an- 
brachte. Beide  Formen  sagten  ihm  zu, 
auch  wollte  er  vielleicht  den  Wechsel  ver- 
schiedener Pfeiler  nach  der  Gewohnheit 
des  romanischen  Styls  beibehalten,  genug 
er  wechselte  mit  dieser  verschiedenartigen 
Verbindung  des  Runden  und  Achteckigen 
ab.  Die  Meister  von  Rheims  und  Amiens 
und  mit  ihnen  alle  späteren  verwarfen 
jedoch  diesen  Wechsel  und  bildeten  den  Kern  des  Pfeilers  durchgängig  als  runden 
Säulenschaft.  An  dieser  kantonirten  Säule  kam  aber  die  Anordnung  der  Kapi- 
tale in  Frage;  da  man  sie  nicht  als  ein  Ganzes  ansah  und  die  Kapitale  der  anlie- 
genden und  also  dünneren  Säulen  ebenso  wie  das  des  Kernes  nach  Verhältniss 
der  Dicke  des  Säulenstammes  bestimmen  wollte,  so  standen  kleinere  Kapitale 
neben  grösseren.  Schon  der  Meister  von  Soissons  hatte,  indem  er  der  Rund- 
säule eine  schlankere  Säule  anfügte,  dies  als  einen  Uebelstand  betrachtet 
und  beiderlei  Kapitale  dadurch  in  organischen  Zusammenhang  zu  bringen 
versucht,  dass  er  das  grössere  durch  einen  in  der  Mitte  desselben  ange- 
brachten Ring  gleichsam  in  zwei  Kapitale    theilte    und  dadurch  das   der 


Kathedrale  zu  Khciras. 


Weitere  Ausbilduno-  der  Details. 


91 


Fig.   19. 


schlankeren  Säule  an  dem  der  stärkeren  reproducirte.  Der  Meister  von 
Chartres  ging  noch  weiter,  indem  er  an  der  Frontseite  im  Mittelschiffe,  von 
welcher  die  Gewölbdienste  aufsteigen,  das  Kapital  ganz  fortliess  und  statt 
dessen  nur  die  Deckplatte  um  den  Säulenstamm  herumführte,  auf  welcher 
dann  aber  die  Gewölbträger  noch  mit  besonderer  Basis  ruhen.  Er  that 
somit  einen,  wenn  auch  noch  schüchternen  Schritt,  die  Idee  des  Yerticalen 
durch  einen  vom  Boden  zum  Gewölbe  aufsteigenden  Dienst  auszudrücken. 
Der  Meister  von  Rheims  gab  dagegen  allen  Stämmen  gleich  hohe,  nach  der 
Dicke  der  Kernsäule  berechnete  Kapitale,  wobei  er  jedoch  das  der  anliegen- 
den Säulen  durch  einen  Astragalus  brach.  Dies  war  allerdings  eine  mildere 
und  mehr  harmonische  Form.  Allein  durch 
dieselbe  wurde  der  Pfeiler  zu  sehr  zu  einem 
abgeschlossenen  Ganzen  von  gleicher  Höhe, 
an  welchem  dem  Yerticalgedanken  jeder  Aus- 
druck versagt  war.  Daher  kehrten  die  Meister 
von  Amiens  und  Beauvais  dann  wieder  zu  dem 
Gedanken  des  Meisters  von  Chartres  zurück, 
indem  sie  die  Ungleichheit  der  angrenzenden 
Kapitale  bestehen  Hessen,  aber  den  mittleren 
Gewölbdienst  vom  Boden  auf  als  eine  Halbsäule 
bildeten,  deren  langer  Schaft  durch  den  Aba- 
cus  des  Pfeilerkapitäls  und  durch  die  Gesimse 
durchschnitten  und  nur  oben  unter  den  Ge- 
wölben durch  ein  Kapital  abgeschlossen  wird. 
Der  kantonirte  Rundpfeiler  ist  höchst 
charakteristisch  für  diese  Stufe  der  französi- 
schen Schule.  Man  kann  nicht  behaupten, 
dass  er  der  Consequenz  des  gothischen  Styles 
völlig  genügt;  er  steht  sogar  in  dieser  Be- 
ziehung dem  älteren  Pfeiler  nach,  der  in  sei- 
nen rechtwinkeligen  Ecken  und  in  der  durch 
die  Spitzen  derselben  bezeichneten  Rautenform  die  wesentlichsten  Linien 
des  Grundrisses  und  in  der  Stellung  seiner  Säulen  die  Rippen  des  Kreuz- 
gewölbes und  ihre  diagonale  Bewegung  andeutete,  gewissermaassen  den 
Keim  des  ganzen  Gebäudes  in  sich  enthielt.  Aber  er  ist  jedenfalls  der  von 
den  älteren  ]\reistern  dieser  Epoche  adoptirten  reinen  Säule  vorzuziehen  5^  er 
bricht  ihre  allzu  selbständige  und  abgeschlossene  Gestalt,  deutet  durch  die 
vier  kreuzweise  gestellten  Halbsäulen  schon  den  Zusammenhang  des  Pfeilers 
mit  dem  Gewölbe  an,  giebt  dem  organischen  Lebensprincip,  dem  Aufwachsen 
des  ganzen  Bausystems  aus  dem  Boden  schon  einen,  wenn  auch  unvollkom- 
menen Ausdruck.      Seine  ganze  Erscheinung  hat  etwas  Rüstiges  und  Ritter- 


Katliedrale     vou  Amiens. 


Q2  Französische  üotliik. 

liches,  was  Jiiit  der  Kühnheit  und  Derbheit  der  ganzen  Anlage  wohl  harmo- 
nirt.  Wenn  er  der  systematischen  Consequenz  nicht  völlig  entsi)richt,  so  ist 
diese  Unvollkommcnheit  ein  Fehler  der  Jugend,  der  Fehler  einer  Zeit,  wo 
das  PrinciiD  noch  mehr  geahuet,  als  gewusst,  wo  es  noch  mehr  eine  Sache 
des  Gefühls,  als  des  berechnenden  Verstandes  war. 

Jener  rechtwinkelig  gegliederte  Pfeiler,  dessen  Härte  und  Massenhaftig- 
keit  der  Mehrzahl  dieser  Meister  austössig  gewesen  war  und  sie  bestimmt 
hatte,  zur  Säule  überzugehen,  w^ar  indessen  noch  nicht  völlig  ausser  Ge- 
brauch. An  den  Stellen,  wo  der  Rundpfeiler  für  die  darauf  ruhende  Last 
nicht  genügend  erschien,  oder  wo  es  einer  stärkeren  Betonung  der  beiden 
Axeu  des  Gebäudes  bedurfte,  unter  den  Thürmen  und  an  der  Vierung  des 
Kreuzes,  wandte  man  ihn  noch  an,  oft  mit  zahlreichen  und  unter  den  Dia- 
gonalrii^pen  diagonal  gestellten  Säuleu.  Auch  als  durchgehende  Form  für 
die  Stützen  des  Langhauses  wurde  er  noch  einige  Male,  aber  wohl  nur  da 
beibehalten,  wo  er  bei  einer  schon  am  Anfange  des  Jahrhunderts  gemachten 
Anlage  begründet  war.  So  an  dem  seit  1202  begonnenen  Neubau  der  Kathe- 
drale von  Rouen,  von  der  ich  im  folgenden  Kapitel  ausführlicher  sprechen 
werde,  und  an  der  Kathedrale  von  Troyes.  Diese  ist  ein  Bau  von  fünf 
Schiffen  und  mit  radianten  Chorkapellen  nach  dem  Muster  von  Rheims,  aber 
bei  grossartigen  Raumverhältnissen  doch  mit  weniger  reichlichen  Mitteln 
und  desshalb  auch  mit  geringerer  Solidität  gebaut.  Sie  wurde  im  Jahre 
1208  begonnen;  1223  war  der  Chor  schon  soweit  vollendet,  dass  der  Be- 
gründer, Bischof  Hervaeus,  darin  begraben  werden  konnte.  Bald  darauf, 
1227,  wurde  er  zwar  durch  einen  Sturm  so  beschädigt,  dass  eine  bedeutende 
Herstellung  vorgenommen  werden  musste,  welche  jedoch,  wie  die  Formen 
vermuthen  lassen,  sich  an  die  ältere  Anlage  anschloss  und  die  Pfeiler  der- 
selben beibehielt  1).  Der  Bau  des  Kreuzschiffes  währte  bis  1314  und  das  Lang- 
haus erhielt  erst  im  Jahre  1429  die  Einweihung,  während  die  Fagade  sogar 
erst  dem  16.  Jahrhundert  angehört.  Das  Schiff"  trägt  wirklich  in  seinen 
oberen  Theilen,  namentlich  im  Maasswerk  der  Triforieu  und  Fenster,  den 
Charal^ter  einer  späteren  Zeit,  während  die  Pfeiler  auch  hier  viereckigen 
Kernes  mit  acht  Halbsäulen  besetzt  und  überhaupt  strenger  und  von  jenen 
oberen  Theilen  abweichend  behandelt  sind.     Eben  solche  Pfeiler  stehen  im 


^)  Arnaud,  "S'oyage  arclieologique  et  pitt.  daus  le  depart.  de  l'Aube,  Troyes  1843, 
und  lukersley  a.  a.  0.  S.  78.  Das  Breve  Gregor's  IX.  vom  Jahr  1229  bezeichnet  das 
durch  den  Unfall  von  1227  beschädigte  Gebäude  als  nobile  opus  ac  sumtuosum  und 
beschreibt  die  Zerstörung-  als  eine  totale:  ecclesia  —  tenebroso  turbine  convoluta,  con- 
cussis  qiiatnor  angulis  ab  imis  corruit  fundamentis.  Indessen  war  dies  ohne  Zweifel 
«ine  in  solchen  Indulgenzschreiben  gewöhnliche,  auf  Erregung  der  Theilnahnie  berech- 
nete Uebcrtreibung,  welche  der  Erhaltung  einzelner  Tiieile  nicht  entgegensteht.  —  Grund- 
riss  bei  "S'iollet-le-Duc,   II,  p.  342. 


Die  Kathedralen  zu  Troyes,  Auxerre,  St.  Omer,  93 

geraden  Theile  des  Chores,  während  die  Mauern  der  Rundung  durch  Rund- 
pfeiler mit  zwei  (nicht  vier)  frei  angelegten  kleineren  Säulen,  die  Gewölbe 
des  Seitenschiffes  wie  in  Chartres  durch  achteckige  Stämme  mit  vier  runden 
Halbsäulen  getragen  werden.  Es  scheint  hiernach,  dass  der  Bau  mit  der 
Fundamentirung  und  Anlage  aller  Hauptpfeiler  begonnen,  und  dann  erst  die 
Vollendung  des  Chores  erfolgt  ist,  bei  der  man  nun  die  erwähnten  unge- 
wöhnlichen Formen  anwandte. 

Auch  sonst  wurde  der  kantonirte  Rundpfeiler  nicht  überall  angewendet, 
man  versuchte  sich  auch  in  anderen  Formen.  Der  Chor  der  Kathedrale 
von  Auxerre,  im  Jahre  1215  begonnen  und  1234  so  weit  vollendet,  dass 
der  Bischof  darin  begraben  werden  konnte,  hat  durchaus  verschiedene 
Stützen;  Rundsäulen  nicht  bloss  an  der  Rundung  selbst,  sondern  auch  im 
geraden  Theile,  daneben  aber  kantonirte  Säulen  und  neben  dem  grossen 
Pfeiler  an  der  Vierung  des  Kreuzes  einen  wirklichen  Bündelpfeiler  von 
schlanker  Gestalt.  Ein  rhythmischer  Wechsel  wird  dadurch  nicht  erreicht, 
es  scheint  fast,  dass  die  Meister  über  die  zu  wählende  Form  unschlüssig 
waren, 

Aehuliche  Spuren  des  Suchens  bemerkt  man  an  der  Kathedrale  von 
St.  Omer,  an  der  wenigstens  der  Chor  aus  den  ersten  Deceimien  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  stammt.  Er  hat  neben  dem  Umgänge  drei  radiante 
Kapellen  von  bedeutender  Weite.  Die  rundbogige  Arcatur,  welche  am  Fusse 
der  Wände  hinläuft,  die  derbe  Profilirung  der  Bögen  und  Gurten,  die  Ober- 
lichter, welche  aus  drei  neben  einander  gestellten  Lancetfenstern  bestehen^ 
das  hohe,  aber  einfache  Triforium,  die  flache,  weit  ausladende,  zum  Theil 
mit  dem  Eckblatt  versehene  Basis,  die  eigenthümlich  gebildeten  Knospen- 
kapitale,  alles  dies  trägt  den  primitiven  und  rüstigen  Charakter  der  frühesten 
gothischen  Zeit.  Besonders  endlich  deuten  die  Pfeiler  auf  eine  solche  Früh- 
zeit, indem  sie  im  Chore  und  in  den  dreischiffigen  Kreuzarmen  aus  einem 
schmalen  viereckigen  Mauerstücke  und  zwei  auf  den  Schiffseiten  angelegten, 
ni^r  leise  damit  verbundenen  Säulen  bestehen.  Es  ist  fast  derselbe  Gedanke, 
welchen  der  Meister  der  Kathedrale  von  Sens  an  den  Zwischensäulen  an- 
wandte, nur  dass  die  Säulen,  weil  sie  hier  nicht  mit  stärkeren  Pfeilern 
wechseln  und  selbständig  das  Gewölbe  tragen,  durch  jenes  verbindende 
Mauerstück  verstärkt  sind.  Im  Langhause,  welches  jünger  erscheint,  aber 
doch  wohl  noch  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  errichtet  sein  mag,  sind 
an  Stelle  dieser  ungewöhnlichen  Form  stattliche  kantonirte  Rundsäulen  ge- 
treten. 

Ohne  Zweifel  entstand  dieses  Suchen  und  Schwanken  dadurch,  dass 
mau  die  ^Mängel  der  kautonirten  Säule  schon  damals  fühlte.  An  einigen 
Orfen  half  man  ihnen  dadurch  ab,  dass  mau  die  Säule  beibehielt,  aber  die 
Zahl  der  angelegten  Halbsäulen  auf  acht  oder  mehr  vermehrte.    Man  schritt 


94  Französische  Gothik. 

also  auf  dem  Wege  fort,  welchen  die  Meister  von  Rheims  und  Ciiartres  an- 
gedeutet hatten,  indem  sie  die  blosse  Säule  durch  die  Anfügung  von  vier 
Halbsäulen  verbesserten.  Man  erlangte  dadurch  eine  noch  grössere  Brechung 
der  cylindrischen  Gestalt  und  eine  vollständigere  Verbindung  des  Pfeilers 
mit  dem  Kreuzgewölbe.  Der  erste  Bau,  bei  welchem  diese  Form  angewendet 
wurde,  war  vielleicht  der  schon  früher  geschilderte  Chorbau  der  Kathedrale 
von  le  Mans  (1212).  Hier  sind  die  Rundpfeiler  in  dem  geraden  Theile  des 
Chores  nicht  mit  acht,  sondern  mit  zwölf  Halbsäulen  umstellt,  so  dass  nicht 
bloss  die  Diagonalrippen,  sondern  auch  noch  die  Archivolten  der  Scheid- 
bögen eine  selbständige  Unterstützung  haben.  Bei  den  enger  gestellten 
Stützen  der  Rundung  war  indessen  diese  reichere  Bildung  zu  schwerfällig, 
sie  haben  daher  nur  an  der  inneren  Seite  drei  eng  aneinandergerückte  Halb- 
säulen, und  erscheinen  nach  dem  Seitenschiffe  zu  als  blosse  Säulen.  Ebenso 
sind  bei  der  auch  in  der  Anlage  verwandten  Kathedrale  von  Bourges  die 
Pfeiler  durch  acht  anliegende  Halbsäulen  verstärkt^). 

Noch  einen  Schritt  vs^eiter  ging  man  bei  der  Erneuerung  des  noch  kein 
volles  Jahrhundert  vorher  von  Suger  erbauten  Schiffes  der  Abteikirche  von 
St.  Denis,  welche  im  Jahre  1231  unter  Ludwig  dem  Heiligen  begonnen  und 
bis  1281  fortgesetzt  wurde.  Hier  ist  nämlich  der  Kern  des  Pfeilers,  obgleich 
mit  Halbsäulen  ziemlich  dicht  umstellt,  zwar  noch  sichtbar,  aber  er  hat  kein 
Kapital,  dessen  Ausgleichung  mit  denen  der  Dienste  Schwierigkeiten  ver- 
ursacht hätte,  und  die  drei  im  Mittelschiffe  ununterbrochen  zum  Gewölbe 
aufsteigenden  Dienste  deuten  in  ihrer  Basis  schon  die  Rautenform  des  Pfeilers 
an  und  sind  nicht  mehr  durch  die  convexe  Linie  des  Kernes,  sondern  durch 
Höhlungen  verbunden.  Der  Gedanke  des  Bündelpfeilers  war  damit  schon 
gegeben,  man  brauchte  nur  die  anderen  Seiten  des  Pfeilers  ebenso  zu  be- 
handeln, wie  die  vordere,  um  eine  Gestaltung  desselben  zu  erlangen,  welche 
die  Mängel  der  kantonirten  Säule  vermied,  schlanker  als  diese  erschien  und 
zugleich  eine  vollkommen  organische  Entwickelung  des  Gewölbes  aus  der 
Gliederung  des  Pfeilers  gestattete.  Auch  die  Entwickelung  des  Maasswerks 
finden  wir  hier  gesteigert ;  das  Triforium  besteht  über  jeder  Arcade  aus  vier 
zweitheiligen  Bögen  mit  einem  Dreiblatt  im  Bogenfelde -),  die  grossen  Ober- 
lichter füllen  mit  ihrem  normalen  viertheiligen  Maasswerk  den  ganzen  Raum 
bis  unter  den  Schildbögen.  Dies  Maasswerk  hat  die  schönste  und  reichste 
Bildung;  die  Pfosten  sind  noch  mit  Ka])itälen  versehen,  die  Bögen  durchweg 
Rundstäbe,  ihre  Innenseite  hat  zwar  noch  nicht  den  angelegten  Kleeblatt- 
bogen, aber  die  geometrische  Gliederung  ist  sehr  bestimmt  ausgesprochen, 
und  die  grossen  Kreise,    welche  in  den  Raum  über  jedem  Bogenpaare  ge- 


1)  System  des  Langhauses  abgebildet  bei  Moiiet-le-Duc,  Bd.  IX,  p.  252. 

-)  Abgebildet  bei  Yiollet-le-Duc.  Dict.  IX,  p.  294,  Triforium  und  Fenster  V.  p.  394. 


Entstehung  des  Maasswerks.  95 

spannt  sind,  haben  nicht  mehr  den  Anschein  von  Leere,  wie  in  N.  D.  von 
Paris,  sondern  sind  durch  ein  inneres  Sechsblatt  genügend  belebt.  Da  die 
Oberlichter  der  Kathedrale  von  Amiens  damals  wahrscheinlich  noch  nicht 
bestanden,  so  können  wir  annehmen,  dass  der  Architekt  von  St.  Denis  das 
Verdienst  dieser  ersten  und  schönsten  Ausbildung  des  Maasswerkes  hat*). 
Daran  reihet  sich  eine  andere  Neuerung,  welche  nicht  so  unbedingt  lobens- 
werth  ist,  aber  doch  zeigt,  \yie  vollständig  man  jetzt  schon  alle  Consequenzen 
des  gothischen  Systems  kannte  und  verfolgte.  Die  Mauer  hinter  dem  Tri- 
forium  ist  nicht  mehr  wie  sonst  unbeleuchtet,  sondern  von  Fenstern  mit  Glas- 
gemälden durchbrochen;  es  erscheint  daher  durchsichtig,  und  da  es  in  seiner 
Eintheilung  mit  der  der  Fenster  übereinstimmt,  als  eine  Fortsetzung  der- 
selben. Diese  Einrichtung  stand  allerdings  mit  der  ursprünglichen  Bestim- 
mung des  Triforiums  nicht  im  Einklänge;  dasTriforium  sollte  die  Mauer  des 
Oberschiffes  zwischen  den  Scheidbögen  und  den  Fenstern,  an  welche  das 
Pultdach  des  Seitenschiffes  anstiess,  beleben  und  zugleich  Zugäuge  in  dies 
Dach  und  zu  dem  oberen  Theile  der  Kirche  gewähren.  Mit  diesem  Zwecke 
war  die  Anbringung  der  Fenster  an  dieser  Stelle  unvereinbar;  sie  setzte  viel- 
mehr voraus,  dass  man  jenes  Pultdach  beseitigte  und  mithin  entweder  ein 
ganz  flaches  oder,  wo  dies  nicht  thunlich  war,  ein  selbständiges,  nach  zwei 
Seiten  abfallendes  Dach  über  den  Seitengewölben  anbrachte,  damit  jene 
Fenster  von  oben  Licht  hatten.  Dies  erforderte  aber  wieder,  da  nun  ein 
Theil  des  auf  das  Seitendach  fallenden  Regenwassers  nicht  nach  aussen, 
sondern  nach  der  Mauer  des  Oberschiffes  ablief,  mancherlei  Vorkehrungen, 
namentlich  die  Anordnung  ziemlich  künstlicher  Kanäle  -).  Aber  der  Wunsch, 
die  Zwischenwände  immer  leichter  und  luftiger  zu  bilden,  das  Licht  im  In- 
neren und  die  Gelegenheit  zur  Anbringung  gemalten  Glases  zu.  vermehren, 
war  so  gross,  dass  die  unternehmenden  Architekten  diese  Schwierigkeiten 
nicht  scheuten.  Ob  der  Meister  von  St.  Denis  der  Erfinder  dieser  Anord- 
nung war,  ist  nicht  ganz  sicher;  sie  findet  sich  auch  schon  im  Chore  der 
Kathedrale  von  Troyes  (wahrscheinlich  freilich  nicht  aus  der  Zeit  ihrer 
ersten  Anlage  im  Jahre  1208,  aber  doch  aus  dem  Herstellungsbau,  der  nach 
der  Zerstörung  im  Jahre  1229  begonnen  war),  und  wir  können  nicht  angeben, 
wo  man  zuerst  darauf  kam.  Jedenfalls  aber  fand  sie  sehr  bald  Nachahmung. 
Selbst  die  Meister  der  Kathedrale  von  Amiens,  welche  im  Langhause  noch 
ein  unbeleuchtetes  Triforium  hatten,  schlössen  sich,  wie  wir  oben  gesehen, 
im  Chore  (1255  — 1265  dieser  neuen  Sitte   au.     Man  kann  diese  Neuerung 


^)  Eine  perspectivisclie  Ansicht  bei  Chapuy  a.  a.  0.  nro.  236.  Anderes  aus  dieser 
Kirche  daselbst  nro.  235,  274,  400,  413. 

2)  ViolIet-ie-Duc,  p.  204,  macht  dies  an  einem  Durchschnitt  von  St.  Denis  an- 
schaulich. 


96  Französische  Gothik. 

schwerlich  eine  glückliche  nennen;  sie  entfernt  sich  von  dem  richtigen  Prin- 
cipe den  Schmuck  aus  dem  Nothwendigen  und  Nützlichen  zu  entwickeln,  sie 
hehält  eine  ehemals  einem  bestimmten  Zwecke  entsprechende  Anordnung 
grossentheils  als  blosse  Zierde  bei,  stattet  sie  wenigstens  in  solcher  Weise 
aus;  sie  steigert  endlich  den  Ausdruck  des  Leichten  und  Luftigen  schon  all- 
zu sehr.  Allein  sie  ist  jedenfalls  merkwürdig,  weil  sie  zeigt,  wie  sehr  die 
Architekten  das  neue  System  mit  Kühnheit  und  Meisterschaft  handhabten, 
wie  fruchtbar  sie  an  Mitteln  waren,  wie  schnell  sie  von  dem  .schweren  und 
fast  trüben  Ernst,  der  im  Anfange  des  Jahrhunderts  herrschte,  zu  den  leich- 
testen und  luftigsten  Formen  gelangten. 

Mit  diesem  Bau  stehen  wir  schon  in  der  Regierung  Ludwig's  des 
Heiligen,  dessen  Name,  wie  ein  französischer  Archäologe  von  seinem  Stand- 
punkte nicht  mit  Unrecht  gesagt  hat,  in  der  Geschichte  der  Kunst  des  Mit- 
telalters fast  eben  so  viel  bedeutet  wie  der  des  Perikles  in  der  griechischen- 
Zuntächst  war  es  die  Frömmigkeit  des  Königs,  welche  ihn  zur  Gründung  oder 
Unterstützung  einer  grossen  Zahl  von  klösterlichen  und  kirchlichen  Bauten 
antrieb.  Bei  Einweihungen,  nicht  bloss  in  der  Nähe  von  Paris,  sondern  auch 
an  entfernteren  Stellen,  finden  wir  ihn  und  seine  Mutter  Bianca  gegenwärtig- 
Er  erschien  auch  wohl  auf  den  Baustätten,  um  die  Arbeiter  zu  ermuthigen 
und  anzutreiben;  sein  Geschichtsschreiber  Joinville  erzählt  den  liebens- 
würdigen Zug,  dass  er  bei  dem  Bau  des  Klosters  Roj'aumönt  unfern  Paris, 
wo  die  Mönche  nach  Cistercienserregel  Dienste  leisteten,  selbst  mit  eigener 
königlicher  Hand  Steine  und  Mörtel  getragen  und  seine  Brüder  genöthigt 
habe,  ein  Gleiches  zu  thun^).  Wie  aber  dieser  ausgezeichnete  Fürst  überall 
mit  der  reinsten  Frömmigkeit  weltliche  Klugheit  verband,  wusste  er  auch  die 
Baukunst  von  ihrer  weltlichen  und  Icünstlerischen  Seite  zu  würdigen.  Zum 
ersten  Male  finden  wir  namhafte  Künstler  im  Gefolge  eines  Fürsten.  Jous- 
selin  von  Courvault,  ein  geschickter  Ingenieur,  und  Endes  von  Montreuil,  ein 
gewandter  Baumeister,  begleiteten  ihn  auf  seinem  Kreuzzeuge  und  leiteten 
die  Befestigung  von  Jaffa,  und  der  noch  bedeutendere  Peter  von  Montereau 
wurde  nachher  der  Meister  der  heimischen  Bauten  des  Königs.  Von  ihm 
stammmt  denn  auch  das  zierlichste  und  anmuthigste  Gebäude  dieser  Epoche, 
die  vorzugsweise  sogenannte  Heilige  Kapelle  von  Paris,  die  neuerlich 
durch  die  umsichtigste  Restauration  wieder  ganz  in  ihrem  ursprünglichen 
Glänze  erstanden  ist.  Es  war  die  Kapelle  des  alten,  auf  der  Seine-Insel, 
dem  dichtbevölkerten  ältesten  Theile  der  Hauptstadt,  gelegenen  königlichen 
Schlosses.  Sie  sollte  daher  in  beschränktem  Räume  dieser  Bestimmung  und 
zugleich  der  wichtigen  Reliquien  wegen,  deren  Besitz  der  König  erlangt  hatte, 


^)  Joinville,    Hist.    de    St.   Louis,    p.  357,  bei  Milllu  Antiquites  nationales  Vol.  II, 
nro.  XI,  p.  2. 


Die  Sainte-Chapeile  zu  Paris. 


97 


Fig.  20. 


würdig  ausgestattet  werden.  Hierauf  ist  die  geistreiche  und  eigenthümliche 
Anlage  berechnet.  Eine  Unterkirche  zu  ebener  Erde,  für  den  täglichen  und 
öffentlichen  Gottesdienst  bestimmt,  wurde  das  Mittel,  der  für  den  Gebrauch 
des  Hofes  dienenden,  aus  dem  oberen  Theile  des  Schlosses  zugänglichen 
Kapelle  eine  würdige,  hellere  Lage  und  ein  festeres  Fundament  zu  geben. 
Diese  Unterkirche  (Fig.  21)  ebenso  wie  die  obere  Kapelle  91  Fusslang,  32  Fuss 
breit  und  mit  einem  polygonförmigeu  Chorraume  endigend,  ist  gewisser- 
maassen  dreischiffig,  wenn  man  nämlich 
den  schmalen  Seitengängen  von  nur  drei 
und  einem  halben  Fuss  Breite,  welche 
zwischen  niedrigen  monolithen  Säulen 
und  den  äusseren,  durch  eine  Halbsäule 
verstärkten  Mauern  entstehen,  den  Namen 
von  Seitenschiffen  geben  will.  Jedes  die- 
ser drei  Schifte  hat  indessen  sein  eige- 
nes Kreuzgewölbe,  dessen  Schlussstein 
nur  2 1  Fuss  über  dem  Boden  liegt.  Man 
begreift  leicht,  dass  diese  schmalen 
Seitenschiffe  mit  ihrer  Wölbung  von  so 
geringer  Spannung  wesentlich  zur 
Stützung  des  oberen  Baues  beitragen. 
Sie  dienen  aber  auch  dazu,  den  mitt- 
leren Raum  dieser  unteren  Kapelle  in 
einer  ihrer  geringen  Höhe  entsprechen- 
den Weise  zu  beschränken,  und  gewähren 
vermöge  der  zwar  niedrigen,  aber  zwölf 
Fuss  breiten  Fenster,  die  sich  zwischen 
den  Strebepfeilern  öffnen  und  deren  Licht 
durch  die  monolithen  Säulen  nur  wenig 
gehemmt  ist,  eine  sehr  eigenthümliche 
und  malerische  Beleuchtung.  Während 
hier  ein  ernster  und  schlichter  Charakter 
vorherrscht,  entwickelt  die  Oberkirche 
die  leichteste  und  reichste  Anmuth.  Sie 
ist  einschiffig  und  unter  dem  Schlussstein  60  Fuss  hoch,  also  etwa 
doppelt  so  hoch  als  breit.  Die  Wände  sind  leichter  gehalten,  als  in 
irgend  einem  früheren  Gebäude,  sie  bestehen  ausschliesslich  aus  den  Bündel- 
pfeilern von  nur  vier  Fuss  Breite,  die,  aus  schlanken  Säulchen  zusammen- 
gesetzt, 42  Fuss  hoch  aufsteigen,  und  zwischen  denen  über  einer  blinden 
Arcatur  von  etwa  10  Fuss  Höhe  die  gewaltigen,  mit  dem  reichsten  Maass- 
werk  geschmückten  Fenster  (13  Fuss  Breite  bei  fast  45  Fuss  Höhe)  den 

Schnaa.<€'s  Kunstgesch.     2.  Aufl.     V.  7 


Sainte  Chapelle  zu  Pari-;. 


98 


Französische  Gothik. 


ganzen  Raum  einnehmen.  Hier  ist  also  der  Gedanke,  das  Gebäude  nur  aus 
dem  Gerüst  schlanker,  senkrechter  Stützen  zu  bilden,  im  vollsten  Maasse  und 
in  edelster  und  einfachster  Weise  ausgeführt.  Vielleicht  würde  man  das 
Ganze  schon  zu  luftig,  das  Verhältniss  der  schlanken  Wandpfeiler  zu  den 
breiten  Glaswänden  der  Fenster  schon  übertrieben  finden,  wenn  dieser  Mangel 
nicht  durch  die  geschickte  und  zweckmässige  Anwendung  der  Farbe  gehoben 
würde.  Das  Licht  der  Fenster  ist  durch  den  dunkeln  Glanz  ihrer  Glas- 
gemälde gemildert,  der  Stein  durch  eine 
vollständige  und  geregelte  Bemalung  der 
einzelnen  Säulchen,  Kehlen  und  Gewölb- 
kappen, und  durch  Vergoldung  der  Ka- 
pitale und  der  Rippen  erhellt  un(^  belebt, 
das  Element  der  Farbe  verbindet  also  die 
durchsichtigen  und  die  undurchsichtigen 
Theilezu  einem  harmonischen  Ganzen,  und 
giebt  doch  wieder  jedem Theile  sein  eigen- 
thümliches  Recht,  indem  sie  die  architek- 
tonische Gliederung  nicht  durch  gleich- 
massige  Färbung  verhüllt,  sondern  durch 
die  Verschiedenheit  der  Töne  und  Muster 
zu  höherer  Geltung  bringt,  und  die  Fenster 
durch  die  Bedeutsamkeit  der  darauf  dar- 
gestellten heiligen  Geschichten  und  durch 
den  helleren  Glanz  ihrer  Farben  als  die 
architektonisch  bedeutungslosen,  aber  be- 
leuchtenden Theile  darstellt.  Auch  die 
Plastik  ist  nicht  ausser  Anwendung  ge- 
blieben. Apostelgestalten,  bemalt  und 
mit  Glassflüssen  wie  mit  Edelsteinen  ver- 
ziert, stehen  aufConsolen  an  den  Pfeilern, 
und  die  Arcatur,  welche  den  Fuss  der 
Wand  unter  den  Fenstern  bekleidet,  viel- 
leicht die  schönste  und  reichste,  die  jemals 
ausgeführt  wurde,  ist  in  ihren  Zwickeln 
und  im  Gesimse  mit  vollen,  vortrefflich  gearbeiteten  Blumenkränzen  ge- 
schmückt, aus  denen  Engelsgestalten  hervorsehen.  So  ist  keine  Stelle 
des  Inneren  ohne  Belebung  und  anmuthigen  Schmuck  geblieben,  das 
Ganze  ist  wie  ein  Juwel,  an  dem  jeder  Punkt  in  eigenthümlichem  Glänze 
leuchtet.  Ebenso  ist  das  Aeussere  möglichst  reich  ausgestattet,  die  Strebe- 
pfeiler strecken  ihre  Spitzsäulen,  die  Fenster,  vielleicht  zum  ersten  Male, 
Spitzgiebel  in    die  Luft,  und  eine  Treppe,    welche    vom    Boden    auf    zu 


Sainte-Chapelle  zu  Paris. 


Werke  des  Peter  von  Moutereau.  QQ 

einer  Vorhalle  und  in  das  Innere  der  Oberkirche  führt,  dient  dem  Ganzen 
znr  Zierde^). 

Der  Bau  der  Kapelle  wurde  im  Jahre  1243  beschlossen  und  war  im 
Jahre  1248  schon  im  Wesentlichen,  im  Jahre  1251  völlig  vollendet.  Man 
hatte  also  nur  einen  Zeitraum  von  fünf  bis  acht  Jahren  dazu  gebraucht, 
was  bei  der  sorgfältigen  Ausführung  aller  Theile  einen  Beweis  für  die  hohe 
Ausbildung  dieser  Schule  gewährt.  Wie  es  scheint,  war  Peter  von  Monte- 
reau  gerade  in  solchen  schlanken  und  zierlichen  Gebäuden  besonders  aus- 
gezeichnet, wenigstens  hatten  zwei  Bauwerke,  welche  er  theils  vor,  theils 
nach  jener  Schlosskapelle  ausführte,  einen  ähnlichen  Charakter.  Beide  zu  der 
Abtei  St.  Germain-des-Pres  (damals  bei,  jetzt  in  Paris)  gehörig,  sind 
leider  im  Jahre  1794,  in  Folge  der  Einziehung  dieses  reichen  Stiftes,  abge- 
brochen. Das  eine  war  das  Eefectorium,  das  er  in  den  Jahren  1239  bis 
1244  gebaut  hatte,  ein  einschiffiger  Saal,  115  Fuss  lang,  30  Fuss  breit, 
48  Fuss  unter  den  Schlusssteinen  hoch,  mit  reich  gegliederten  Wandsäulen, 
zwischen  denen  wiederum  gewaltige  Fenster  von  der  ganzen  Breite  des 
Raumes  sich  öffneten.  Die  Aufgabe,  die  ganze  Tragekraft  in  die  Strebe- 
pfeiler zu  legen  und  im  Inneren  nur  leichte  Anmuth  zu  zeigen,  war  in  so 
kühner  und  geschmackvoller  Weise  gelöst,  dass  selbst  die  späteren  Schrift- 
steller nur  mit  Bewunderung  davon  sprechen.  Kann  man  dies  Gebäude  als 
■eine  Vorarbeit  zu  jener  Schlosskapelle  betrachten,  so  wird  das  andere  als 
€ine  wirkliche  Nachahmung  derselben,  jedoch  ohne  Krypta  und  in  etwas 
veränderten,  minder  kostspieligen  Formen  geschildert.  Es  war  ebenfalls  eine 
der  heiligen  Jungfrau  gewidmete  Kapelle,  nur  in  den  Verhältnissen  von  der 
des  Schlosses  abweichend,  indem  sie  100  Fuss  lang,  aber  nur  29  Fuss  breit 
und  47  Fuss  hoch  war-).    Auch  in  weiterer  Entfernung  von  Paris  können 


^)  Publ.  iu  J.  Gailhabaiul  l'architecture  du  o^e.  au  17me.  siecle.  etc.  I.  Paris  1858; 
u.  IV.  —  Dann  in  dem  selbständig-en  Werk:  La  Sainte-Ciiapelle  de  Paris  apres  les 
restaurations  commencees  par  M.  Duban,  architecte,  terminees  par  M.  Lassus,  architecte. 
Ouvrage  execute  sous  la  direction  de  M,  V.  Callit,  arcliitecte.  Texte  liistorique  par  M. 
•de  Guiihermy.  Paris.  1857.  Cliromolithographie  in  dem  Werke  von  P.  Lacroix,  Les 
arts  au  Moyen-Ag-e  et  ä  l'epoque  de  la  Renaissance.  Paris  18G9.  —  Vgl.  den  Artikel 
€liapelle  bei  ViolIet-le-Duc,  II,  p.  423  S.,  mit  Grundrissen  und  Durchschnitt,  die  Ar- 
catur  Bd.  I,  p.  94.  Ein  Dachreiter  ward  erst  unter  Carl  VII.  aufgesetzt  und  scheint 
nicht  ursprünglich  zu  sein.  Er  wurde  bei  der  letzten  Restauration  erneuert.  Das 
Archiv  (tresor  des  chartes),  eine  ähnliche  kleinere  Anlage,  die  sich  nördlich  neben  dem 
€hor  befand  und  mit  der  Kapelle  in  Verbindung  gesetzt  war,  existirt  nicht  mehr. 

"-)  Vgl.  Dom  Bouillart,  Hist.  de  l'abbaye  de  St.  Germain,  pag.  123  und  126,  wo 
auch  Ansichten  beider  Gebäude,  allerdings  in  ungenügender  Weise,  gegeben  sind.  Die 
Kapelle  wurde  1244  begonnen,  1255  geweihet.  Näheres  über  ihre  Eigenthümlichkeiten 
nach  Zeichnungen,  die  Alex.  Lenoir  vor  dem  Abbruche  genommen,  bei  Viollet-le-Duc 
Dict.  II.  435. 


"IQQ  Französische  Golliik. 

wir  den  Einfluss  erkennen,  den  der  glänzende  Bau  des  Peter  von  Monte- 
reau  ausübte.  Als  eine  wirkliche  Nachahmung  der  Sainte  Chapelle  von  Paris 
ist  die  überaus  schöne  der  Abteikirche  von  St.  Germer  in  der  Picardie 
angebaute  Frauenkapelle  ^)  zu  betrachten,  ein  reicher  Bau  aus  dem  Ende  des 
13.  Jahrhunderts,  mit  edel  gegliedertem  Maasswerk,  prachtvollem  Radfenster 
und  schöner  Glasmalerei,  und  mit  der  Apsis  der  Kirche,  hinter  der  sie  liegt, 
durch  eine  anmuthige  Gallerie  in  Verbindung  gesetzt.  Auch  der  Chor  der 
herrlichen  Abteikirche  von  St.  Martin -au  x-bois  unfern  Noyon,  ohne  Um- 
gang in  einfacher  Polygongestalt,  wird  im  Maasswerk  seiner  Fenster  und  in 
seinen  schlanken  Verhältnissen  als  der  Sainte -Chapelle  von  Paris  sehr  ähn- 
lich geschildert-). 

Aehnliche  Anlagen  entstanden  aber  auch  unabhängig  von  dem  Werke 
des  Peter  von  Montereau.  So  die  Kapelle  des  erzbischöflichen  Palastes  zu 
Rheims,  welche  wie  die  Sainte-Chapelle  einschiffig  mit  fünfseitigem  Clior- 
schlusse  ist  und  aus  zwei  Stockwerken  besteht.  Der  untere  Raum,  krypten- 
artig, mit  dicken  Mauern,  Rundbogenfeustern,  aber  spitzbogiger  Wölbung, 
soll  schon  1196  vollendet  sein,  während  die  obere  Halle  in  schlanken  Ver- 
hältnissen und  im  entwickelten  Style  des  13.  Jahrhunderts  erbaut  ist-^).  Sie 
ist  durch  hohe  Spitzbogenfenster  beleuchtet  und  unterscheidet  sich  von  jener 
Pariser  Kapelle  besonders  dadurch,  dass  nach  einer  in  der  Champagne  öfter 
vorkommenden  Constructionsweise  die  Strebepfeiler  stets  in  das  Innere  vor- 
springen und  dort  die  Wandpfeiler  und  einen  durch  eine  Arcatur  verzierten 
Umgang  unter  den  Fenstern  bilden.  Obgleich  viel  einfacher  als  jener  könig- 
liche Bau,  dabei  durch  spätere  Beschädigungen  entstellt,  ist  diese  Kapelle 
durch  ihre  reine  Form  und  ihre  edlen  Verhältnisse  ein  vorzügliches  Beispiel 
des  reifen,  aber  noch  frühen  gothischen  Styls  und  verdient  selbst  in  unmittel- 
barer Nähe  der  mächtigen  Kathedrale  von  Rheims  Beachtung. 

Selbst  die  Kapelle  des  königlichen  Schlosses  zu  Saint- Ger main-en - 
Laye,  unfern  Paris,  weicht  von  dem  Bau  des  Peter  von  Montereau  bedeutend 
ab,  obgleich  sie  ungefähr  derselben  Zeit  angehört.      Auch  sie  ist  einschiffig 


*)  Abbildungen  in  der  Voyage  dans  l'ancienne  France,  Picardie.  —  Piiblicirt  in  den 
Arcliives  de  la  comm.  des  monuments  Iiistoriques. 

2)  Vgl.  Bull,  monum.  IX,  p.  43.  Das  .'^Iter  ist  unbekannt  und  wird  gegen  das 
Ende  unserer  Epoche  fallen. 

3)  Abbildungen  in  den  Annale  archeologiques.  Vol.  XIIF,  p.  314,  233,  289;  XIV, 
p.  25  u.  124,  XV.  p.  232.  Nach  Didron's  daselbst  ausgesprochener,  auf  urkundliche 
Nachrichten  gestützter  Annahme  soll  die  Kry;.ta  in  dem  eben  mitgelheilten  Jahre,  die 
Kapelle  1260  vollendet  worden  sein.  Den  Fornsen  entspricht  die  Bauzeit  um  1280 
besser,  welche  VioUet-le-Duc  annimmt  (II  p.  439  f.,  vvo  auch  Grundrisse  und  Durch- 
schnitt). —  Publicationen  bei  J.  Gailhabaud  l'architecture  du  5"i«-  au  17™^-  siecle. 
I.     Paris.      1858. 


Die  Zeit  Ludwig's  des  Heiligen.  1(31 

mit  fünfseitigem  Schlüsse,  jedoch  ohne  Unterbau,  und  zeichnet  sich  durch 
eine  sehr  eigenthümliche  Bildung  der  Fenster  aus.  Auch  hier  nämlich  hatte  man 
nach  jener  vorzugsweise  in  der  Champagne  beliebten  Bauweise  die  Strebe- 
pfeiler weit  in  das  Innere  hineingebaut  und  dadurch  die  Möglichkeit  erlangt, 
die  Fenster  unabhängig  vom  Gewölbe  und  von  den  Schildbögen  desselben  zu 
gestalten.  Während  nämlich  die  Gewölbdienste  ganz  vorn  an  den  einsprin- 
genden Strebepfeilern  angebracht,  die  Fenster  aber  erst  weiter  nach  aussen 
eingefügt  sind,  war  es  möglich,  den  ganzen  zwischen  den  Strebepfeilern  und 
dem  Dachgesimse  bestehenden  viereckigen  Raum  durch  ein  reichgegliedertes 
Fenster  zu  füllen,  dessen  Maasswerk  freilich  nach  gewohnter  Weise  in  spitz- 
bogigen  Arcaden  aufsteigt,  aber  vermittelst  einiger  in  die  oberen  Ecken  ge- 
legter Pässe  sich  vollkommen  der  viereckigen  Oeffnung  anfügt '). 

Endlich  ist  hier  noch  das  Kefectorium  des  ehemaligen  Priorats  von 
St.  Martin-des-Champs  zu  Paris,  jetzt  dem  Conservatoire  des  arts  et 
metiers  als  Bibliothek  dienend,  zu  erwähnen.  Die  gewöhnliche  Annahme, 
welche  den  Bau  dem  Peter  von  Montereau  zuschreibt,  ist  nicht  erweislich*, 
die  Formen  deuten  eher  auf  eine  etwas  frühere  Zeit-).  Wohl  aber  ist  das 
Ganze  von  einer  kühnen  Leichtigkeit  und  Eleganz,  welche  seines  Namens 
würdig  wäre.  Es  ist  ein  Saal  von  ziemlich  bedeutender  Länge  und  Höhe  bei 
massiger  Breite,  der  durch  sieben  überaus  schlanke,  in  verhältnissmässig 
weiter  Entfernung  stehende  Säulen  in  zwei  Schiffe  getheilt  ist,  welche  mit 
den  ihnen  entsprechenden  auf  Kragsteinen  ruhenden  Halbsäulen  der  Aussen- 
wände  die  Rippen  der  Gewölbe  tragen.  Zwei  Spitzbogenfenster  auf  jedem 
Joche  mit  einem  darüber  angebrachten  Radfenster  geben  eine  sehr  genügende 
Beleuchtung.  Der  Zweck  möglichster  Raumersparniss  entschuldigt  die  fast 
übermässige  Schlankheit  jener  Säulen,  und  die  vortreffliche  Ausführung  des 
Blattwerks  an  den  Kapitalen  und  aller  sonstigen  Details  macht  den  Eindruck 
seltener  Zierlichkeit  und  Behaglichkeit. 

Peter  von  Montereau  starb  1266,  seine  Bestattung  im  Chore  eben  jener 
Marienkapelle  in  der  Abtei  St.  Germain,  die  er  kurz  vorher  vollendet  hatte 
und  die  Grabschrift,  welche  man  ihm  gab,  zeigen  das  Ansehen,  in  welchem 
er  stand  %  Noch  zahlreicher  waren  die  Bauten  seines  berühmten  Zeitgenos- 
sen Eudes  de  Montreuil;  man  kannte  im  siebenzehnten  Jahrhundert  in 
Paris  und  der  Umgegend  noch  acht  oder  neun  Kirchen,  die  von  ihm  her- 


^)  Vgl.  die  Stliilderuiig  nebst  einigen  Abbildungen  bei  Viollet-le-Duc  a.  a.  0. 
11.  430  ff. 

-)  Viollet-le-l)iic,  VIII.  p.  10.  Abbildungen  bei  Alb.  Lenoir,  Arcli.  monastique, 
II    \K  334  ff.  und  Gnilliermy,   Itineraire  Archeologique  de  Paris,  p.  243. 

")  Fios  plenus  moriim  vivens  doctor  latomorum,  Musterolo  natus,  jacet  hie  Petrus 
tumulatus.     Bouillart  a,  a.   0.  p.  133. 


2Q2  Französische  Gotliik. 

Stammten^),  und  dieselbe  Leichtigkeit  des  Styles  zeigten,  die  man  an  der 
heiligen  Kapelle  bewunderte,  welche  aber  sämmtlich  untergegangen  sind; 
unter  ihnen  auch  die  schon  im  sechzehnten  Jahrhundert  abgebrannte  Francis- 
canerkirche  zu  Paris,  in  welcher  sich  der  Grabstein  des  im  Jahre  1289' 
verstorbenen  Künstlers  befand. 

Auch  ausser  den  Werken  dieser  genannten  Baumeister  war  Paris  und 
seine  Umgegend  durch  die  Freigebigkeit  Ludwigs  des  Heiligen  und  durch,, 
den  Wohlstand,  der  sich  in  der  schon  damals  so  reichen  und  mächtigen  Stadt 
sammelte,  der  Schauplatz  der  regsten  Bauthätigkeit;  die  Geschichte  der 
meisten  damals  bestehenden  Klöster  und  Kirchen  der  Hauptstadt  ergiebt  neue 
Bauaulagen  aus  dieser  Zeit-).  Die  Bauhütte  von  Notre-Dame  war  ohne 
Zweifel  schon  jetzt  der  Sammelplatz  strebender  Kunstgenossen;  die  jüngeren 
Meister,  die  in  ihr  herangebildet  waren,  werden  nicht  unterlassen  haben,, 
die  anderen  grossen  Bauten  des  Landes  zu  besuchen  und  ihre  Fortschritte 
sich  anzueignen,  und  wandernde  Gesellen  aus  entfernten  Gegenden  besuchten 
ohne  Zweifel  diese  Stelle,  wo  so  viel  zu  lernen  und  zu  gewinnen  war. 

Allein  noch  war  Frankreich  weit  entfernt  von  jener  späteren  Centra- 
lisation,  welche  die  Provinzen  zu  Gunsten  der  Hauptstadt  entnervte.  Noch 
waren  auch  die  Bauhütten  von  Laon  und  Noyon,  von  Chartres,  von  Kheims 
und  Amiens  und  so  vielen  kleineren  Kirchen  thätig.  Und  auch  von  ihnen 
gingen  Neuerungen  aus,  welche  der  weiteren  Entwickelung  des  Styles  zu 
Statten  kamen.  An  den  grossen  Domen  war  man  gegen  das  Ende  der  Epoche 
überall  mit  dem  Inneren  und  dem  Gerüste  des  Gebäudes  fsrtig  und  beschäf- 
tigte sich  mit  der  Ausschmückung  des  Aeussereu,  der  Strebepfeiler,  Bögen, 
Fialen,  mit  der  Anbringung  des  Bildwerks  und  endlich  mit  der  Vollendung 
der  Fagade.  Auch  hier  können  wir  beobachten,  wie  die  Meister,  auf  den 
Schultern  ihrer  Vorgänger  stehend,  nicht  nach  völlig  neuen,  abweichenden 
Ideen,  sondern  nach  feinerer  und  edlerer  Ausbildung  des  bereits  Gegebenen 
trachteten.  Die  Gedanken,  welche  die  Fagade  von  N.  D.  von  Paris  schon 
im  ersten  Viertel  des  Jahrhunderts  angedeutet  hatte,  lagen  auch  den  Zeich- 
nungen der  späteren  Meister  zum  Grunde;  drei  mächtig  vertiefte,  reich  aus- 
gestattete und  möglichst  nahe  an  einander  gerückte  Portale,  die  Verdeckung- 
der  Strebepfeiler  an  den  unteren  Theilen,  ihr  Hervortreten  und  Abnehmen 
an  den  oberen,  die  Ausschmückung  der  höheren  Mauerfläche  durch  Arcaden- 
reihen  und  endlich  das  Rosenfenster,  dies  ist  das  Thema,  dessen  Ausführung 
allen  diesen  Meistern  vorlag.    Aber  während  in  Paris  das  Ganze  noch  schwer 


^)  Felibien,  Recueil  historique  de  la  vie  et  des  ouvrages  des  plus  celebres  archi- 
tectes,  Paris  1687,  pag.  210. 

-)  Viele  Beispiele  bei  Miliin  a.  a.  0.,  namentlich  Ausführlicheres  über  die  schöne 
Kirche  der  Abtei  Royaumont  daselbst  II,,  Nro.  XI, 


Facade  von  Rlieims. 


103 


Fiff.  22. 


Kathedrale  von  Klieims. 


JQ4  Französisclie  Gothik. 

und  massenhaft,  in  viereckigen,  kaum  verminderten  Abtheilungen  aufsteigt, 
werden  in  Amiens  und  in  Rheims  die  Details  leichter  und  freier,  die  Durch- 
brechungen der  Mauermasse  grösser  und  häufiger,  die  pyramidalen  Ab- 
stufungen besser  geregelt,  und  zahllose  Details  deuten  in  ihrer  schnelleren 
Zuspitzung  den  allgemeinen  Aufschwung  des  Thurmbaues,  der  hinter  ihnen 
langsam  und  mächtig  aufsteigt,  im  Voraus  an.  In  N.  D,  von  Paris  treten 
die  Portale  zwar  schon  bis  an  die  äusserste  Linie  der  Strebepfeiler  vor,  aber 
sie  bilden  hier  eine  zusammenhängende  Mauertläche,  welche  durch  eine  Gal- 
lerie  horizontal  geschlossen  ist.  Schon  in  Laon,  dann  in  Amiens  sind  die 
drei  Portale  als  selbstständige  Vorhallen  behandelt,  welche  mit  freien  Spitz- 
giebeln in  die  Luft  ragen  und  zwischen  denen  sofort  in  ihren  Winkeln  die 
Strebepfeiler  aufsteigen,  um  bald  auf  durchbrochenen  Tabernakeln  die  erste 
reiche  Fiale  zu  bilden.  Die  Gallerie  ist  höher  hinaufgerückt,  in  den  zurück- 
weichenden Theil  der  Thurmmauer  verlegt,  oft  verdoppelt;  die  Rose,  die  dort 
allzu  nahe  über  dem  Portale  steht  und  fast  darauf  lastet,  schwebt  hier  in 
luftiger  Höhe.  Aber  erst  der  Meister  von  Rheims^)  erreichte  die  schönsten 
Verhältnisse,  deren  der  französische  Fayadenbau  fähig  war.  Die  Spitzgiebel 
der  Portale  sind  in  Amiens  noch  schwer  und  einfach,  hier  steigen  sie  mit 
Bildwerk  reich  geschmückt  empor.  Dort  stehen  unmittelbar  über  den  Spitzen 
jener  Giebel  zwei  Arcadenreihen,  welche  zwischen  dem  Geschoss  der  Portale 
und  dem  der  Rose,  also  zwischen  zwei  grösseren  mitten  inne  liegend,  gedrückt 
erscheinen.  Hier  erhebt  sich  unmittelbar  über  und  hinter  den  Spitzgiebeln 
eine  hohe,  vielfach  durchbrochene  Abtheilung,  in  den  Seitenschiften  durch 
je  zwei  schlanke  Spitzbogenfenster,  im  Mittelschiffe  durch  ein  Rosenfenster 
belebt,  so  dass  nur  die  Strebepfeiler  als  feste  Massen  stehen  bleiben,  und 
auch  das  Thurmgeschoss,  wie  das  Oberschiff  der  Kirche,  völlig  durchbrochen 
ist.  Darüber  endlich  eine  Arcadenreihe  mit  Statuen,  nun  aber  auch  in  weit 
schlankeren  Verhältnissen  und  nicht  horizontal,  sondern  wieder  durch  eine 
Reihe  von  Spitzgiebeln  bekrönt,  über  welcher  endlich  die  beiden  freilich  un- 
vollendeten Thürme  aufsteigen.  Während  dort  vier  zum  Theil  kleinere  Ge- 
schosse, bilden  hier  nur  drei  von  abnehmender  Höhe  und  schlanken  Verhält- 
nissen nach  einem  leicht  erkennbaren  Gesetze  die  ganze  Fagade.  Allerdings 
fehlt  es  auch  hier  nicht  an  Missgriffen.  Das  Streben  nach  Leichtigkeit  und 
vielleicht  nach  stärkerer  Beleuchtung  des  Schiffes  hat  den  Meister  verleitet, 
das  hohe,  gewöhnlich  mit  Reliefs  geschmückte  Bogenfeld  der  drei  west- 
lichen Portale  in  ein  mit  rosenartigem  Maasswerk  gefülltes  Fenster  zu  ver- 
wandeln, eine  Anordnung,  welche  in  der  Champagne  öfter  Wiederholung 
gefunden  hat,  aber  doch  ganz  verwerflich  ist,  da  sie  die  Einheit  des  Portals 


1)  Vgl.  Gailliabaud,  rAiTliilectnre  etc.  Bd.  1.     In   Amiens  scheint  man  die  Facade 
eiier  als  den  Clior,  in  Rheims  nnigelielirt  diesen  früher  vollendet  zu  liaben. 


Ausbildung  der  Facade. 


105 


Fig.  23. 


Kathe.irale   zu  Bheims. 


{QQ  Französische  Güthik. 

bricht,  den  umrahmenden  Bögen  mit  den  darin  angebrachten  Statuetten  ihre 
Bestimmung  und  ihre  Rechtfertigung  entzieht,  und  endlich  das  unangenehme 
Gefühl  einer  ganz  zweckwidrigen,  weil  an  dunkelster  Stelle  angebrachten 
Fensteranlage  giebt  ^).  Auch  kann  man  mit  Recht  das  Ueberwuchern  der 
allerdings  unvergleichlich  ausgeführten  Sculpturen  im  Vergleich  mit  den 
schwächer  betonten  umrahmenden  Theilen  rügen  2).  Aber  dennoch  ist  die 
Schönheit  der  Verhältnisse  überwiegend;  Frankreich  besitzt  manchen  reichen 
Fa(;adenbau,  aber  keinen,  der  diesem  an  die  Seite  zu  setzen  wäre,  England 
bleibt  durchweg  weit  dahinter  zurück,  Deutschland  kann  nur  in  dem  Werke 
Erwins  von  Steinbach  mit  den  Meistern  von  Rheims  wetteifern,  und  auch 
da  bleibt  es,  wenn  man  von  dem  sj^äteren  Thurme  absieht,  dahingestellt, 
ob  die  vielleicht  allzu  zarte  Ausführung  des  Strassburger  Münsters  vor  der 
kräftigen  des  französischen  Domes  den  Vorzug  verdient  oder  ihr  nachsteht. 
Die  Fa^ade  des  Kölner  Doms  können  wir,  schon  weil  sie  nicht  ausgeführt 
ist,  nicht  in  Rechnung  bringen;  allein  es  ist  auch  zweifelhaft,  ob  sie  mit  ihrer 
zwar  überaus  mächtigen  und  consequenten,  aber  doch  abstracten  Durch- 
führung des  Spitzbogens  der  frischen  Kraft  der  Fagade  von  Rheims  vorzu- 
ziehen sein  würde. 

In  Beziehung  auf  den  Thurmbau  der  Fac^ade  folgt  die  Kathedrale  von 
Rheims  noch  dem  Systeme,  das  namentlich  an  der  von  Laon  in  Anwendung 
gekommen  war;  aus  der  mit  einer  Gallerie  abschliessenden  Fagadenmauer 
wachsen  die  beiden  Thürme  mit  einem  achteckigen  Mauerkörper  hervor, 
neben  welchem  luftige  Tabernakel  noch  das  Ausklingen  der  rechtwinkeligen 
Ecken  des  Unterbaues  aussprechen.  Nur  dass  die  Strenge  des  früheren 
Styls  nun  durch  flüssigere  und  leichtere  Formen  ersetzt  ist.  Uebrigens 
kennen  wir  den  Plan  des  Meisters  nur  unvollkommen,  da  seit  einem  Brande 
im  15.  Jahrhundert  nur  der  unterste  Theil  beider  Thürme  besteht  und  durch 
bedeutungslose  Dächer  geschlossen  ist. 

Rheims  besass  übrigens  früher  eines  der  schönsten  Beispiele  eines 
durchgeführten  Fa(;aden-  und  Thurmbaues.  Es  war  dies  die  Klosterkirche 
Saint  Nicaise,  ein  Bau  von  kleineren  Dimensionen,  der  aber  wegen  der 
Schönheit  und  leichten  Anmuth  der  Verhältnisse  selbst  in  den  Zeiten,  wo 
man  die  gothische  Baukunst  wenig  verstand,  gepriesen  wurde.  Sie  ist  in 
der  Revolution  abgebrochen,  aber  es  sind  genügende  Abbildungen  erhalten''). 


1)  »Auch  YioUet-le-Duc.  IX.  337,  erklärt  sich  dagegen. 

-)  YiolIet-le-Duc  (H,  S.  322),  obwolil  er  die  Facade  von  Rheims  bewundert,  kriti- 
sirt  sie  dennoch  wegen  der  Art,  in  welcher  der  Unterbau  der  Strebepfeiler  verdeckt 
ist  und  weil  neben  dem  Reichthum  an  Bildwerk  und  Schmuck  die  ruhigen,  blos  um- 
rahmenden Theile  fehlen. 

■■')  Die  unsrige,  aus  Viollet-le-Duc  entnommen,  ist  nach  einem  Kupferstich  von 
1625  hergestellt,    der    im   Gegensatz    zu    der  Gewoiinheit  der  Zeit,    das  Gebäude    mit 


St.  Nicaise  in  Rlieims.  107 

Der  Baumeister,  Hugo  li  Bergier,  erscheint  als  eines  der  bedeutendsten 
Künstlertalente  dieser  Zeit.    Der  Xeubau  dieser  Kirche  begann  unter  seiner 
Leitung  im  Jahr  1229,  und  zwar  mit  vorläufiger  Beibehaltung  des  alten 
Chors,  um  den  Gottesdienst  nicht  zu  unterbrechen.    Mit  den  westlichen  Par- 
tien wurde  der  Anfang  gemacht.      Bei  dem  Tode  des  Meisters  im  Jahre 
1263  ^)  war  der  grösste  Theil  des  Schiffs  nebst  der  Facade  vollendet.    Sein 
Nachfolger  wurde  Robert  von  Coucy,  der  damalige  Meister  desDombaues^ 
welcher  1297  den  Chor  vollendete,  bei  seinem  im  Jahre   1311 -)  erfolgten 
Tode  aber  noch  die  Kreuzschiffe  unvollendet  hinterliess.     In  der  Gestaltung 
des  Schiffes  und  seiner  Pfeiler  schloss   sich  Meister  Hugo   dem  Style   des 
Doms  an,  gab  aber  seinem  Bau  durch  die  Anbringung  grosser  viertheiliger 
Fenster  schon  die  möglichst  geringe  Mauermasse.    Besonders  ist  die  Fagade 
überaus  reizend,  ohne  grossen  bildnerischen  Schmuck  aber  von  unübertrof- 
fener Klarheit   der  Gliederung   und    schönster    Verbindung    von   kräftigen 
Massen  und  Durchbrechungen.     Die  Art,  wie  die  Vorhalle  vor  dem  Haupt- 
portal —  leicht  und  zierlich  wie  eine  Festdecoration  —  gestaltet  und  durch 
fortlaufende  Bogenstelhmgen  mit  den  Nebenportalen  verbunden  ist,  zeichnet 
sich  durch  Geist  und  Originalität  aus  (Fig.  24).    Es  folgt  darauf  eine  reiche  Rose 
und  über  derselben   ein  edelverzierter  Giebel  nebst  einer  durchbrochenen 
Gallerie,  die  aber  nicht  vor,  sondern  hinter  jenem  sich  hinzieht  und  so  mit 
dem  unteren  Geschosse  au  beiden  Thürmen,  welche  sie  verbindet,  verschmilzt. 
£s  sind  im  Wesentlichen  dieselben  Motive,  wie  an   der  Kathedrale,  zwar 
schlichter,  aber  vollständiger  durchgeführt.      Auch  stehen  die  Thürme  von 
Saint  Nicaise  in  noch  glücklicherem  Verhältnisse  zu  den  übrigen  Theilen  der 
Fagade;  obwohl  sie  mit  derselben  zu  einem  Ganzen  verbunden  sind,  erkennt 
man  doch  schon  von  unten  auf  die  Kraftentwickelung,  die  sich   oben   zum 
Thurme  zuspitzen  muss.     Der  Gedanke  des  gothischen  Thurmbaues  ist  also- 
hier  mit  seltener  Klarheit  und  Anmuth  ausgesprochen. 

Wie  weit  der  kühne  und  strebende  Geist,  der  damals  die  Architekten 
ergriffen  hatte,  in  kurzer  Zeit  führen  konnte,  beweist  eine  andere   kleine 


Verstäiidniss  und  höchster  Sorgfalt  wiedergiebt-,  sie  zeigt  die  Hälfte  der  voUkommea 
symmetrischen  Facade.  Ferner  Abbildmigen  in  Lenoir,  l'arch.  monast,  in  du  Somerard 
l'Art  au  moyen-äge  und  in  dem  Werke  Voyage  dans  Tanc.  France.  Cliampagne.  Livr.  13> 

1)  Seine  Grabschrift,  welche  den  Anfangstag  des  Kirchenbaues  und  das  Todesjahr 
angiebt,  schon  französiscii  lautend,  ward  bei  Abbruch  der  Kirche  in  den  Dom  versetzt 
(Jolimont  in  Chapuy's  Cath.  franc,  Rheims  p.  19).  —  Vgl.  Didron  in  den  Annales 
archeol.  I.  p.  62  u.  117,  wo  auch  eine  Abbildung  des  Denkmals  gegeben  ist.  Der 
Name  (HUES.  LIBERGIER)  heisst  wolil  nicht  Libergier,  sondern  li  Bergier,  der  Schäfer,, 
als  aus  väterlicher  Beschäftigung  entnommener  Beiname. 

'-)  Wie  dies  sein  früher  im  Kloster  St.  Denis  in  Rheims  bewahrter  Grabstein 
ergiebt,  der  ihn  als  Meister  von  N.  D.  und  Saint-Nicaise  bezeichnet,  —  Whittingtoa 
a.  a.  0.  p.  129. 


108 


Französische    Gotliik. 


Fig.  24. 


Saint-Nicaise  in  Rheim.s. 


aber  liöchst  merkwürdige 
Kirche,  ebenfalls  wie  St.  Ni- 
caisc  der  Champagne  angehörig, 
nämlich  St.Urbain  in  Troy  es. 
Urban  IV.,  von  hier  gebürtig, 
der  Sohn  eines  armen  Schusters, 
beschloss,  nachdem  er  im  Jahre 
1261  den  päpstlichen  Stuhl 
bestiegen  hatte,  an  der  Stelle 
desväterlichenHauseseineStifts- 
kirche  zu  gründen,  deren  Bau 
er  sogleich  begann  und  mit 
Geldmitteln  und  Privilegien 
reichlich  versah.  Er  starb 
zwar  schon  1 264  und  alle  jene 
Privilegien  erweckten  der  neuen 
Stiftung  zahlreiche  Feinde, 
welche  sogar  das  rasch  geför- 
derte Gebäude  mit  Waffenge- 
walt angriffen  und  plünderten. 
Aber  der  Nepote  Urban's,  der 
Cardinal  Ancherus,  nahm  sich 
der  Sache  eifrig  an  uud  wusste 
bei  Clemens  IV.,  dem  Nachfolger 
Urban's,  Hülfe  und  stets  neue 
Indulgentien  zu  erwirken,  welche 
einen  im  Ganzen  ununterbro- 
chenen und  raschen  Fortgang 
des  Baues  ermöglichten.  Bis 
zum  Jahre  1269  war,  wie  es 
scheint,  der  Chor  im  Wesent- 
lichen vollendet,  aber  nach 
dem  Tode  des  Cardinais  (1286) 
erlahmte  der  Betrieb  und  wurde 
bald  darauf  ganz  aufgegeben. 
Das  Langhaus  ist  nur  bis  zur 
Höhe  der  Seitenschiffe  hinauf- 
geführt und  durch  ein  hölzernes 
Gewölbe  geschlossen,dieFaQade 
ist  unvollendet,der  beabsichtigte 
Thurm  auf  der  Vierung  unter- 


Saint  Urbaiii  in  Troyes.  ]09 

blieben.  In  diesem  Zustande  erhielt  die  Kirche  im  Jahre  1389  die  "Weihe  i). 
Die  Aufgabe  war  in  doppelter  Beziehung  eine  schwierige;  einmal  weil  es 
galt  im  ziemhch  beschränkten  Räume  (die  Gesammtlänge  ist  165  Fuss)  etwas 
Grossartiges,  ein  des  Oberhauptes  der  Christenheit  würdiges  Denkmal  zu 
schalten,  dann  aber  durch  das  Material,  weil  die  nähere  Umgebung  von  Troyes 
nur  schlechten  Bruchstein  bot,  und  der  einzige,  bei  damaligen  Transport- 
mitteln erreichbare  gute  Kalkstein  in  langen  und  breiten,  aber  dünnen  Platten 
bricht,  die  sich  wohl  zu  zierlichen  Durchbrechungen,  aber  nicht  zu  vollen 
Formen  eigneten.  Der  Architekt,  wie  die  Urkunden  ergeben  ein  sonst  unbe- 
kannter Bürger  von  Troyes,  Johannes  Anglicus-),  war  aber  ein  Mann,  der 
auf  der  Höhe  seiner  Kunst  stand,  und  diesen  Schwierigkeiten  zu  begegnen 
wusste.  Der  Grundriss  ist  höchst  einfach*,  ein  dreischiffiges  Langhaus  in 
den  damals  gewöhnlichen  Verhältnissen  des  Pfeilerabstandes  und  der  Seiten- 
schiffe zur  Mittelschiffbreite,  aber  von  nur  drei  Jochen,  das  Kreuzschiff 
nicht  über  die  Flucht  der  Seitenschiffe  hinaustretend,  der  Chor  ohne  Umgang, 
in  fünf  Seiten  des  Achtecks  geschlossen  und  von  zwei  ähnlichen  Nischen 
der  Seitenschiffe  tiankirt.  Indem  der  Meister  hierdurch  den  Vortheil  erlangte, 
dass  die  hergebrachten  Abtheilungen  freilich  in  massiger  Zahl,  aber  in  an- 
sehnlichen Verhältnissen  erschienen;  kam  es  dann  weiter  darauf  an,  ihnen 
durch  ihre  Ausstattung  den  Charakter  des  Reichen  und  Bedeutenden  zu  geben. 
Er  erreichte  dies  hauptsächlich  dadurch,  dass  er  die  Beleuchtung  möglichst 
steigerte  und  durch  eine  ungewöhnliche  Fülle  von  Maasswerk  belebte.  Die 
Wände  des  Chors  sind  in  dieser  Weise  mit  Ausschluss  des  soliden,  etwa 
10  Fuss  hohen  Mauersockels  ganz  durchsichtig  gebildet.  Zwischen  diesem 
Sockel  und  den  grossen,  dreitheiligen  Oberlichtern  ist  nämlich  ein  der  Mauer- 
dicke entsprechender  überwölbter  Laufgang  angebracht,  der  sich  nach  innen 


1)  Eine  genaue  Geschichte  der  interessanten  Kirche  exislirt  niciit,  obgleicii  in  den 
„Archives  iiistoriques  du  Dep.  de  l'Aube"  noch  zaldreiche  Urkunden  vorhanden  sind. 
Auszüge  aus  denseiljen  bei  Inlversley  in  dem  oben  Bd.  IV.  S.  487  citirten  Weriie,  zu 
welciien  Adler  in  der  deutsclien  Bauzeitung,  Jahrg.  IV.  (1870),  S.  417,  wie  es  sclieint 
nach  eignen  ardiivaiischen  Studien,  einige  Zusätze  giebt.  Zaidreiciie,  aber  freilicii  ver- 
einzelte Abbildungen  und  technische  Bemerkungen  verdanken  wir  Viollet-le-Duc.  Vgl. 
Dict.  IV.  182—  192  (Grundriss  und  Details),  V.  396  (Fensterbildung  der  Seitenschiti'e), 
VI.  330  (Überlichter  des  Chors),  VII.  p.  171  (Pfeilerbildung),  VII.  427,  453  (Bildung 
der  westlichen  Portale),  VII.  301,  IX.  237  tt'.,  I.  p.  80  (Anlage  der  Vorhallen  an  den 
Kreuzschiffen).     II.  83.     Balustrade. 

-)  Nach  den  bei  Inkersley  a.  a.  0.  abgedruckten  Urkunden  war  er  im  Jahre  1267 
abgesetzt  (Johannes  Anglicus  civis  Trecensis  —  quondam  magister  Fabrice  ipsius 
ecclesiae  sancti  Urbani)  und  sollte  zur  Rechnungslegung  über  die  erhobenen  Gehler 
angehalten  werden.  Wie  Adler  (,a.  a.  0.  S.  417,  Note  155)  ohne  Zweifel  auf  Grund 
der  eingesehenen  Urkunden  versichert,  war  dies  indessen  nur  die  vorübergehende  Ein- 
wirkung einer  Intrigue  und  er  trat  später  wieder  in  sein  Amt  ein. 


J  \Q  Französische  Gotliik. 

ZU  mit  einer  triforienartigen  Arcatur  öffnet,  nach  aussen  aber  durch  ein 
grosses  rechtwinkeliges,  aus  drei  mit  Spitzgiebeln  bekrönten  Bögen  bestehen- 
des Fenster  bildet.  Da  hier  das  äussere  und  innere  Maasswerk  verschiedene 
Zeichnung  haben,  da  dann  ferner  das  Oberlicht  nicht  wie  diese  Triforienw^and  . 
am  äussern,  sondern  am  inneren  Rande  der  Mauer  steht,  und  äusserlich  durch 
«inen  zwischen  den  Strebepfeilern  aufsteigenden  spitzbogigen  Rahmen  be- 
kleidet ist,  der  dann  als  Spitzgiebel  in  die  Balustrade  des  Daches  hinein- 
wächst, so  giebt  das  Ganze  sowohl  äusserlich  wie  innerlich  ein  durch  den 
Wechsel  beleuchteter  und  beschatteter  Stellen  sehr  reiches  und  pikantes 
Bild.  In  ähnlicher  Weise  ist  auch  in  den  Seitenschiffen  des  wie  erwähnt 
unvollendeten  Langhauses  den  Fenstern  die  möglichst  grösste  Ausdehnung 
und  eine  reiche  Maasswerkbildung  verschafft,  und  überall  sehen  wir  den 
Meister  mit  grossem  Geschick  aber  auch  mit  einer  rücksichtslosen  Consequenz 
die  Vortheile  erschöpfen,  welche  ihm  die  genauere  Kenntniss  der  construc- 
tiven  Gesetze  des  Styls  verschaffte.  Auf  allen  Punkten  sehen  wir  ihn  da  über 
seine  Zeitgenossen  hinausgehen.  Der  Meister,  welcher  unter  Ludwig  IX.  die 
Abteikirche  von  St.  Denis  herstellte,  hatte  dem  Pfeiler  eine  Gestalt  gegeben, 
welche  ohne  den  Gedanken  einer  selbstständigen  Stütze  auszuschliessen,  seine 
■Gliederung  mit  der  des  darauf  ruhenden  Gewölbes  in  Uebereinstimmung 
brachte.  Unser  Meister  fasste  diese  letzte  Rücksicht  ausschliesslich  ins 
Auge,  und  suchte  dem  Pfeiler  genau  die  Gestalt  und  Ausdehnung  zu  geben, 
welche  den  von  ihm  aufzunehmenden  Gewölbtheilen  entsprach.  Die  Dienste 
treten  daher  vereinzelt  hervor,  und  die  Seiten  der  zu  Grunde  liegenden 
rautenförmigen  Gestalt  bilden  eine  weiche  concave  Linie.  Von  einem  das 
Ganze  umfassenden  Kapitale  ist  schon  bei  den  Pfeilern  des  Chors,  die  jeden- 
falls der  ersten  Bauzeit  angehören,  abgesehen;  sie  haben  nur  an  den  drei 
Diensten  der  Seitenschiffe  kleine  Blattkapitäle.  Bei  den  Pfeilern  des  Lang- 
hauses, die  freilich  schon  im  14.  Jahrhundert  entstanden  sein  werden,  sind 
auch  diese  fortgeblieben.  Noch  auffallender  zeigt  sich  die  Richtung  dieses 
talentvollen  Meisters  an  anderer  Stelle.  Ausser  den  drei  Portalen  der  West- 
seite, von  denen  das  mittlere  plastisch  geschmückt  ist,  befinden  sich  auf  den 
beiden  Fa^aden  der  Kreuzschiffe  Eingänge,  jeder  aus  zwei,  durch  einen 
breiten  Mauerpfeiler  getrennten,  und  von  einem  spitzbogigen  Maasswerk- 
fenster bedeckten  Thüren  bestehend.  Offenbar  um  ihnen  grössere  Würde 
zu  geben,  ist  nun  vor  jedem  dieser  Portale  eine  kleine,  baldachinartige  Vor- 
halle angebracht,  welche  (den  beiden  Thüren  entsprechend)  aus  zwei  an- 
einanderstossenden,  auf  drei  Pfeilern  ruhenden  Kreuzgewölben  besteht. 
Statt  nun  aber  diesen  Stützen  die  dazu  nöthige  (an  sich  keineswegs  bedeu- 
tende, aber  in  dem  vorhandenen  Materiale  vielleicht  schwer  zu  erlangende) 
Stärke  zu  geben,  sind  sie  unglaublich  schlanke  steinerne  Stangen  ohne  Kapital, 
die  an  sich  nicht  haltbar  sein  oder  doch  Besorgnisse  erregen  würden.   Dafür 


Saint  Urbain  iu  Tioyes.  Hl 

ist  dann  aber  in  der  Entfernung  einiger  Schritte  von  jeder  dieser  Stützen 
«in  freistehender,  ziemlich  starker  Strebepfeiler  gewöhnlicher  Form  errichtet, 
welcher  bloss  den  Zweck  hat  durch  einen  von  ihm  ausgehenden  Strebebogen 
jenem  zeltartigen  Bau  Haltung  zu  geben.  Hier  ist  es  dann  sehr  augenschein- 
lich, dass  unser  Meister  die  Grenzen  der  Schönheit  tiberschritten  und  sich 
dem  gefährlichen  Spiel  mit  technischen  Kunststücken  und  überraschenden 
Effecten  zu  sehr  hingegeben  hat.  Aber  auch  jene  anderen  oben  erwähnten 
Keuerungen,  die  einseitige  Consequenz  bei  der  Pfeilerbildung,  die  Vermehrung 
der  Maasswerkformen  und  Anderes  sind  bedenkliche  Erscheinungen  und 
zeigen  wie  leicht  der  gothische  Styl  vermöge  seines  festen  nnd  durchgreifen- 
den constructiven  Princips  die  eigentlichen  Ziele  der  Kunst  aus  dem  Auge 
verlieren  und  zu  handwerklicher,  äusserlicher  Berechnung  und  bloss  sinn- 
licher Eleganz  herabsinken  konnte.  Die  Provinz,  welcher  unsere  Kirche 
und  ihr  Baumeister  angehörte,  die  Champagne,  zeichnet  sich  überhaupt  durch 
frühe  und  kühne  Entwickelung  der  gothischen  Formen  aus,  und  unser  Meister 
war  gewiss  ein  Manu  von  Genie,  der  die  Consequenzen  aus  den  erlangten 
statischen  Erfahrungen  mit  ungewöhnlicher  SchneUigkeit  und  Schärfe  zu 
ziehen  und  bis  au  ihre  äusserste  Grenze  zu  verfolgen  wusste.  Aber  schon 
bei  ihm  litt  dadurch  das  eigentlich  künstlerische  Gefühl,  der  feine  Takt, 
welcher  durch  die  Verhältnisse  im  Grossen  und  durch  die  kräftige  Charak- 
terisirung  der  einzelnen  Glieder  in  ihrer  selbstständigen  Bedeutung  die  eigent- 
lich künstlerischen  V^'irkungen  erreicht.  Man  hat  von  ihm  gerühmt,  dass  er 
seinen  Zeitgenossen,  namentlich  den  IMeistern  von  Paris,  um  fünfundzwanzig 
Jahre  voraus  gewesen,  und  das  ist  in  der  That  richtig,  ja  vielleicht  noch 
nicht  genug  gesagt.  Allein  das  heisst  nur,  dass  die  Vorzeichen  des  Verfalls, 
der  etwa  fünfzig  Jahre  nach  ihm  in  Frankreich  fast  überall  eintrat,  sich  bei 
ihm  zuerst  zeigten^). 


^)  Die  Architekten  sind  leicht  von  dem  Scharfsinn  und  der  technischen  Sicherheit, 
welche  dieser  Bau  erkennen  lässt,  so  liingenommen,  dass  sie  für  seinen  Urheber  nur 
Bewunderung  und  Lobsprüche  haben.  Namentlich  ist  dies  der  Fall  bei  Adler  und  in 
gewissem  Grade  bei  VioIlet-le-Duc,  dessen  rühmende  Aussprüche  jener  a.  a.  0.  zu- 
sammenstellt. Allein  wenn  dieser  auch  den  Meister  von  St.  Trbain  als  einen  genialen 
!\Ienschen  (IV.  183),  seine  Kirche  als  ein  Meisterstück  der  Steinconstruction  (IV.  192), 
bezeichnet  und  ihm  einen  25j;ihrigen  Vorsprung  vor  seinen  Collegen  zuschreibt  (MI. 
195),  so  unterlässt  er  nicht  dies  Lob  näher  zu  bestimmen  und  zu  beschränken.  Ein 
Meisterstück  nennt  er  die  Kirche  „comme  compositiou  architectonique"  also  nicht  unbe- 
dingt; bei  einer  einzelnen  Anordnung,  die  er  in  technischer  Beziehung  rühmt,  fügt  er 
ausdrücklich  hinzu,  dass  sie  „vom  künstlerischen  Staudpunkte  aus  unerfreulich"  sei 
(fächeuse  au  point  de  rue  de  l'art.  II.  83).  Die  vereinzelten  Strebepfeiler  an  den  Vor- 
hallen der  Kreuzarme  tadelt  er  (VII.  300)  als  ganz  ungehörig,  und  bei  Beschreibung 
des  westlichen  Hauptportais  ereifert  er  sich  darüber,  dass  man  nach  solchen  ganz 
liübschen,    aber    des    Styls    und    der    Grossartigkeit    entbehrenden    Compositioneu    die 


122  Französisclie  Gothik. 

Nicht  alle  Meister  waren  indessen  so  kühn  und  so  neuerungssüchtig 
wie  dieser,  und  neben  diesen  Bauten,  welche  ich  zusammengestellt  habe  um 
ein  Bild  der  fortschreitenden  Ent Wickelung  zu  geben,  wurden  unzählige 
andere  unternommen.  Der  Bischof  von  Auxerre  wurde  nach  der  Bemerkung 
eines  Chronisten  im  Jahre  1215  zum  Neubau  des  Chors  seiner  Kathedrale 
dadurch  bestimmt,  dass  er  von  Erneuerung  der  Kathedralen  an  allen  Orten 
hörte,  und  dies  Gerücht  war,  wenigstens  wenn  man  es  auf  den  ganzen  Um- 
fang unserer  Epoche  bezieht,  volle  Wahrheit.  Fast  keine  Kathedrale  blieb 
unverändert,  an  den  meisten  wurden  umfassende  Neubauten  vorgenommen. 
Einige  Daten,  sämmtlich  aus  den  Provinzen,  die  ich  in  diesem  Kapitel  im 
Auge  habe,  mögen  hier  noch  zusätzlich  eine  Stelle  finden.  An  der  romani- 
schen Kathedrale  zu  Cambray^)  wurde  von  1230  bis  1251  der  neue 
Chor  nach  dem  Plane  des  Villard  de  Honnecourt,  von  dem  ich  weiter  unten 
zu  sprechen  habe,  im  engen  Anschluss  an  N.  D.  zu  Rheims,  gebaut.  Die 
Kathedrale  zuChälons  an  der  Marne  brannte  im  Jahre  1230  ab  und  wurde 
in  gewaltigen  Dimensionen  neu  begonnen,  jedoch  erst  1399  vollendet.  Theile 
des  Chors,  der  ursprünglich  einfach  polygon  schloss  und  erst  später  Umgang 
und  Kapellenkranz  erhielt,  sowie  die  westlichen  Pfeiler  stammen  noch  aus 
dieser  Epoche,  der  grössere  Theil  des  glänzend  ausgeführten  Gebäudes  ge- 
hört der  folgenden  an-).  Die  Kathedrale  St,  Gatien  zu  Tours  wurde  schon 
im  Jahre  1168  uurch  Brand  beschädigt;  von  1170  bis  1266  wurden  Chor  und 
Kreuzschiif  vollendet.  Es  ist  eine  sehr  schöne  Anlage,  mit  reicher  Chorent- 
wickelung und  durchsichtigem  Triforium,  bei  massigen  Dimensionen  von 
grösster  Sorgfalt  und  Vollendung  =');  die  Formen  zeigen  genau  dieselbe  Be- 
handlung wie  die  in  Folge  der  Beschädigung  durch  einen  Stürm  im  Jahre 
1224  neu  erbaute  Abteikirche  St.  Julien  derselben  Stadt,  kantonirte  Säu- 
len mit  stumpfen  Spitzbögen  und  schweren  Profilen,  so  dass  beide  Bauten 
wohl  erst  um  1230 — 1240,  freilich  aber  in  einem  noch  etwas  alterthüm- 
lichen  Styl  entstanden  sein  werden*). 


gotliisclie  Architektur  beurtheile  (VII.  429).  Wenn  auch  Inkersley  sicl>  überaus  günstig 
über  diese  Kirche  äussert,  so  erklärt  sich  dies  theils  aus  dem  eiiglischeu  Geschmack 
überhaupt  (wie  ihn  die  englische  Gothik  zeigt)  theils  daraus,  dass  er  den  Styl  derselben 
von  vornherein  als  ,,decorated"  bezeichnet  und  nun  überall  nur  fragt,  in  wie  weit  sie 
seinen  ßegrirt'en  von  diesem  englischen  Style  entspreche. 

1)  1796  abgebrochen.  Nach  dem  Berliner  Modell,  wie  erwähnt,  mit  dem  Album 
des  Villard  de  Honnecourt  von  Lassus  publicirt. 

-)  Der  ursprüngliche  Gruiidriss    bei  VioUet-le-Duc,  II.  p.  353. 

^)  Grundriss  bei  Viollet-le-Duc,  II.  p.  344. 

*)  St.  Julien  zeigt  in  allen  Theilen  gleichen  frühgothischen  Styl  und  dieser  Umstand 
unterstützt  mehr  als  die  im  Bull,  monum.  Vol.  III.  p.  279  beigebracliten  sehr  dunklen 
Inschriften  die  Aimaiime,  dass  die  ganze  Kirche  nach  jen^m  Umfalle   neu   erbaut  sei 


Ausgedehnte  Bauthätigkeit.  113 

Zu  diesen  Kathedralbauten  kam  dann  eine  noch  grössere  Zahl  von 
Kloster-  und  Pfarrkirchen,  welche  nach  urkundlichen  Nachrichten  oder  nach 
dem  Zeugnisse  der  Formen  in  dieser  Epoche  entstanden  sind,  dann  die  un- 
zähligen kleineren  Denkmäler,  welche  der  Frömmigkeit  oder  dem  Reichthume 
der  Stifter  ihre  Entstehung  verdankten,  Grabmonumente,  Betsäulen  am  Wege 
und  Aehnliches,  besonders  aber  die  Stiftungen  von  Altären  und  anderen 
Gegenständen  des  Cultus  in  den  Kirchen  selbst,  und  endlich  die  kirchlichen 
Nebengebäude,  Kreuzgänge,  Kapitelhäuser,  Refectorien  und  andere  Säle,  von 
denen  wir,  ungeachtet  grade  hier  die  Revolution  und  die  veränderten  kirch- 
lichen Verhältnisse  den  Abbruch  sehr  viel  häufiger  herbeigeführt  haben  als 
bei  den  Kirchen  selbst,  noch  sehr  schöne  Beispiele  aus  dieser  Epoche  be- 
sitzen. Der  Kreuzgang  an  der  Kathedrale  von  Laon  gehört  dem  Anfang 
des  XIII.  Jahrhunderts  an  und  entspricht  in  seinen  strengen  Formen  der 
Kathedrale,  an  deren  Südseite  er  sich  lehnt  ^).  Entwickelter  sind  die  Kreuz- 
gänge der  Kathedrale  von  Noyon-)  und  von  St.  Nicaise  in  Rheims.  Der- 
jenige von  Saint-Jean-des-Vignes  zu  Soissons •^),  mit  seinen  grossen  vier- 
theiligen Oeti'nungen,  dem  prächtigen  Maasswerk,  den  zahlreichen  Säulen,  die 
auch  den  unteren  Theil  der  Strebepfeiler  schmücken,  vertritt  die  höchste 
Blüthe  des  Styls.  In  Laon  ist  der  wesentlich  im  13.  Jahrhundert  errichtete 
erzbischöfliche  Palast  als  Palais  de  Justice  erhalten-^).  InSens  ist  kürzlich 
der  Synodalsaal  des  Erzbisthums  hergestellt  worden,  der,  gegen  Mitte  des 
Xlir.  Jahrhunderts  unter  Ludwig  dem  Heiligen  errichtet,  schon  1263,  durch 
Einsturz  des  Südthurms  der  Kathedrale,  schwere  Beschädigungen  erlitt.  Der 
Saal,  welcher  das  ganze  obere»Stockwerk  füllt,  gross  genug  um  die  800  Welt- 
priester der  Diöcese  zu  fassen,  ward  in  Kreuzgewölben,  die  sich  ohne  mittlere 
Säulen  von  Wand  zu  Wand  spannen,  überwölbt.  Ander  westlichen  Hauptfront 
öffnen  sich  sechs  viertheilige  Fenster  mit  Maasswerk,  an  der  schmalen  Süd- 
front sind  zwei  solche  Fenster  zu  einer  Gruppe  verbunden,  die  ein  breiter 
Rundbogen  überspannt.  Die  Strebepfeiler  sind  mit  Bildwerken  und  Fialen 
geschmückt.    Ein  Zinnenkranz  und  vier  Eckthürmchen  bilden  die  Krönung^). 


Wahrsclieialicli  hatte  auch  die  bis  dahiu    uuvoUeudet    gebliebene   Kathedrale    ebenfalls 
durch  jenen  Sturm  gelitten. 

1)  Viollet-le-Duc,  Bd.  III,  Artikel  cloitre,  S.  428  f.,  mit  Abbildung.  —  Archives 
de  la  comm.  des  mon.  hist. 

■-)  Abbildungen  a.  a.  0.,  S.  442  f. 

3)  Abbildungen  a.  a.  0.,  S.  444  f. 

■*)  Yerdier  et  Cattois,  archit.  civile  et  domestique,  ßd.  II.  Vgl.  aucli  M.  G.  Boult, 
Excursion  ä  ]Soyon,  äLaon  et  a  Soissons,  mit  Holzschnitten,  im  Bulletin  monumental, 
vol.  34,  1868. 

3)  Publicirt,  mit  Text,  in  den  Archives  de  la  comm.  des  monuments  historiques. — 
Vgl.  auch  Viollet-le-Duc,  Bd.  VIII,  S.  74  tt".,  mit  Abbildungen. 

Schnaasse's  Kunstgesch.  2.  Aufl.     V.  S 


J24  Franzusische  Gothik. 

Von  Hospitälern  nennen  wir  den  grossen  dreischiffigen  Saal,  der  zur  Abtei 
von  Ourscamp  gehört,  und  in  dem  die  gothischen  Formen  noch  mit  Motiven 
der  romanischen  Zeit  gemischt  sind^);  dann  das  kleinere  Hospital  in  Brie- 
sur-Yeres,  ein  eleganter  Bau  aus  dem  Ende  des  XHL  Jahrhunderts  -). 

Aber  auch  an  weltlichen  Bauten  begnügte  man  sich  nicht  mehr  mit  den 
hergebrachten,  einfachen  und  schwerfälligen  Constructionen.  Die  Schlösser 
der  Grossen,  so  bescheiden  auch  noch  die  Ansprüche  an  Bequemlichkeit  und 
Luxus  waren  und  so  sehr  der  Zweck  kriegerischer  Befestigung  vorherrschte, 
nahmen  elegantere  und  imposante  Formen  an.  Als  hervorragende  Beispiele  aus 
der  Zeit  erwähnen  wir  die  im  17.  Jahrhundert  verwüstete  Burg  vonCoucy-^) 
und  von  städtischen  Palästen  das  Grafenschloss  in  Poitiers,  von  welchem 
noch  der  grosse  Saal  und  in  dessen  Nähe  der  Donjon  bestehen,  bei  dem  be- 
reits der  festungsartige  Charakter  gegen  die  fein  ausgebildete  Fensterarchi- 
tektur und  die  Bildwerk-Decoration  zurücktritt^).  Von  dem  mittelalterlichen 
Königspalast  in  der  Cite  von  Paris,  auf  der  Stelle  des  jetzigen  Palais  de 
Justice,  sind  ausser  der  Sainte-Chapelle  aus  der  Zeit  Ludwigs  IX.  nur  wenige 
Beste  erhalten.  Der  grösste  Theil  der  Gebäude,  aus  denen  er  ehemals  be- 
stand, gehörte  erst  dem  14.  Jahrhundert  an'^).  Aber  auch  die  schlichten 
Bürger  der  Städte  verwandten  ihre  Ersparnisse,  um  das  Aeussere  ihrer 
Häuser  mit  Säulen  und  Bögen  zierlich  schmücken  zu  lassen,  wovon  sich  in 
Frankreich  noch  manche  Beispiele,  vielleicht  schon  aus  dem  zwölften  Jahr- 
hundert, erhalten  haben  *^}.  Die  Sitte  der  Anlegung  offener  Gänge  in  den 
unteren  Stockwerken  der  Häuser,  der  Lauben  wie  man  sie  in  gewissen  Ge- 
genden Deutschlands  nennt,  in  denen  die  Vorübergehenden  Schutz  gegen 
üble  Witterung  fanden  und  die  dem  Verkehr  dienten,  wurden  ein  Mittel  zu 
regelmässigerer  Construction  der  Häuser.  Bis  zu  welchem  Reichthum  der 
Decoration  sich  mitunter  der  Privatbau  im  XHL  Jahrhundert  erhebt,  be- 
weist das  Haus  der  Musikanten  in  Rheims,  so  genannt  wegen  der  Sta- 
tuen von  Spielleuten  in  den  Nischen  des  oberen  Stockwerks  "•).  Auch  blosse 
Nützlichkeitsbauten,  wie  Pachthöfe  und  Scheunen,  wurden  wenigstens  mit 
solcher  Solidität  erbaut,  dass   sich  mehrere   derselben  bis  auf  unsere  Tage 


1)  Archives  de  la  comm.  des  mouunieiit   historiques.  —  "\'erdier  et  Cattois,    B.  II. 

")  Verdier  et  Cattois.     B.  II. 

•')  VioUet-le-Duc,  Artikel  Chäleau,  Bd.  III.  p.  107  ff.,  mit  Abbildungen. 

*)  VioUet-le-Duc,  Artikel  Palais,  VII.  p.  10  fE.,  mit  Abbildungen.  —  Verdier  et 
Cattois,  Bd.  II.  —  Obwohl  in  einer  schon  südlicheren  Provinz  gelegen,  hat  das  Schloss 
von  Poitiers  doch  entschieden  den  Charakter  der  nordfranzösischen  Architektur. 

•'■>)  Viollet-le-Duc,  a.  a.  0.,  p.  4.  ff'. 

«)  Vgl.  Viollet-le-Duc,  Artikel  maison,  Bd.  VI,  S.  214—300. 

')  Verdier  et  Cattois,  Bd.  I.-,  Viollet-le-Duc,  Bd.  VI,  S.  236  f. 


Ausgedehnte  Bautliätigkeil.  115 

erhalten  haben,  und  uns  noch  den  Adel  der  Form  zeigen,  der  dieser  Epoche 
zur  anderen  Natur  geworden  war^). 

Der  Geist  dieser  Schule  war  vor  allem  ein  eifriger  Geist,  der  rasch 
zum  Ziele  strebte  und  sich  bei  Kleinigkeiten  nicht  lange  aufhielt.  Man  baute 
schnell;  die  Sainte-Chapelle  von  Paris,  obgleich  von  nicht  unbedeutendem 
Umfange  und  mit  dem  reichsten  plastischen  Schmucke  ausgestattet,  ist  in 
acht  Jahren  vollendet;  andere  einfachere  Bauten,  Klöster,  Schlösser  und  der- 
gleichen, sind,  wie  ein  Sachverständiger  an  ihrer  Ausführung  sehen  kann,  mit 
wahrer  Uebereilung  errichtet-).  Grössere  Unternehmungen  stockten  zu- 
weilen wegen  des  Ausbleibens  der  Mittel,  aber  so  lange  man  arbeitete  schritt 
das  Werk  auch  rasch  vorwärts.  Daher  ist  denn  auch  die  Ausführung  mit 
Ausnahme  einiger  sorgfältiger  behandelten  Gebäude,  namentlich  der  Kathe- 
drale zu  Rheims  so  wie  der  Sainte-Chapelle  und  einiger  Theile  der  Kathe- 
drale zu  Paris,  meistens  eine  ziemlich  nachlässige.  Mau  denkt  sich  die 
Künstler  des  Mittelalters  gewöhnlich  als  bescheidene,  fleissige  Handwerker, 
welche  ihr  Werk  geduldig  und  mühsam  zu  Ende  führen;  die  Architekten 
dieser  französischen  Schule  waren  ganz  anderer  Art.  Ihr  Bestreben  war  auf 
Förderung  des  neuen  Constructionssystems  und  auf  Erfindung  harmonischer, 
wirkungsvoller  Details  gerichtet;  sie  waren  in  einen  Wetteifer  des  Erfindens 
gerathen,  der  ihnen  keine  Ruhe  Hess.  Jeder  Meister,  der  neu  an  ein  be- 
gonnenes Werk  herantrat,  glaubte  sich  berufen,  das  Neueste  und  Beste  zu 
geben,  selbst  wo  sein  Vorgänger  ganz  andere  Wege  eingeschlagen  hatte, 
selbst  auf  Kosten  der  Symmetrie,  wie  dies  die  ganz  abweichende  Gestalt  der 
beiden  Kreuzarme  der  Kathedrale  von  Soissons  als  auffallendes  Beispiel 
beweist. 

Aber  dieser  Eifer  hat  das  Gute,  dass  er  allen  Arbeiten  dieser  Meister 
das  Gepräge  individueller  Frische  und  eines  regen  geistigen  Lebens  giebt, 
dass  jedes  Gebäude  ein  neues  Interesse  hat,  dass  keines  leer  und  langweilig 
wird.  Ihr  Blick  war  zunächst  auf  das  Constructive  gerichtet,  aber  auch  den 
Schmuck  vernachlässigten  sie  in  keiner  Weise,  und  ihre  immer  rege  Phantasie, 
verbunden  mit  der  Uebung  im  Erfinden  und  mit  der  Gewandtheit  der  Aus- 
führung, verstattete  ihnen  hier  einen  Reichthum,  dessen  kein  anderer  Styl 
sich  rühmen  kann.  Zunächst  gingen  sie  dabei  von  dem  sehr  richtigen  Grund- 
satze aus,  das  Ornament  aus  den  constructiven  Gliedern  zu  entwickeln;  sie 
verdankten  diese  Regel  der  strengen  Schule  vom  Anfange  dieses  Jahrhun- 
derts, welche  in  dem  ersten  Eifer  der  Erfindung  nur  an  die  Herstellung  des 
Constructionssystems  gedacht  und  dadurch  einen  gewissen  ernsten  Schmuck, 


1)  So  aii  dem  der  damaligen  Abtei  Marmoutier    gehörigem  Pachihofe   von  Meslay. 
in  der  Nähe  von  Tours,     Verdier  und  Cattois  a.  a.  0. 

2)  Wie  dies  als  glaubhaftester  Zeuge  ViolIet-le-Duc,  I.  S.  152  bekundet. 


Jlß  Französische   Golhik. 

ohne  ihn  zu  suchen,  erlangt  hatte.  Sie  fuhren  aber  auf  diesem  "Wege  fort 
indem  sie  nichts  was  nöthig  oder  nützlich  war,  verbargen,  es  aber  überall 
so  gestalteten,  dass  es  die  Function  des  bestimmten  Gliedes  oder  Theiles 
lebendig  und  mit  einem  Anklänge  an  organisches  Leben  aussprach.  In  dieser 
Weise  entstanden  alle  die  Formen,  welche  dem  gothischen  Bau  einen  so  un- 
vergleichlichen Reichthum  geben;  das  Maasswerk  der  Fenster  und  Bogen- 
reihen,  die  Fialen  der  Strebepfeiler,  die  Triforien,  sie  alle  sind  nicht  blosse 
Zierde,  sondern  zugleich  nützlich.  Selbst  die  phantastischen  Thiergestalten^ 
welche  von  den  Dächern  der  Kirchen  in  die  Luft  hinausragen,  sind  nichts 
als  ein  zweckmässiges  Mittel,  um  das  Regenwasser  in  genügendem  Abstände 
von  den  Mauern  herabfallen  zu  lassen,  und  so  wurde  denn  auch  sonst  alles 
Nützliche,  bis  auf  den  Eisenbeschlag  der  Thüren  herunter,  in  einer  Weise 
ausgeführt,  dass  es  zur  Zierde  gereichte.  Die  Menge  statischer  und  kirch- 
licher Bedürfnisse  bildete  unmittelbar  den  Reichthum  des  Schmuckes.  Aber 
neben  dieser  Aveisen  Berücksichtigung  des  J^ützlichen  machte  sich  auch  das 
höhere  Princip  der  Ornamentik,  welches  schon  aus  dem  Wesen  architek- 
tonischer Schönheit  folgt  und  daher  in  allen  Systemen  mehr  oder  weniger 
anerkannt  ist,  hier  vorzugsweise  und  mehr  als  in  anderen  Stylen  geltend. 
Keine  Stelle  sollte  leer,  keine  bloss  lebloses  Mittel  zum  Zwecke  sein,  jede, 
wenn  sie  auch  an  sich  selbst  keine  individuelle  Leistung  hatte,  doch  durch 
ihre  Gestalt  andeuten,  dass  sie  ein  Theil  eines  lebensvollen  Organismus  sei. 
Deshalb  wurden  denn  auch  die  Mauerflächen,  obgleich  sie  in  dem  Systeme 
des  gothischen  Styls  nur  eine  passive  Bedeutung  hatten,  decorativ  belebt. 
In  der  romanischen  Architektur,  namentlich  in  Frankreich,  hatte  man  am 
Fuss  der  Wände  im  Inneren  häufig  eine  Arcatur  angebracht,  welche  stark 
vertieft  zur  Verringerung  der  Mauermasse  oder  zur  Unterstützung  der  Fenster- 
brüstung wirkliche  Dienste  leistete.  Im  gothischen  Style  behielt  man  sie  mit 
flacherer  Ausarbeitung  aber  mit  reicherem  Schmuck  bei,  obgleich  sie  bei 
der  geringen  Stärke  der  Mauer  entbehrlich  war.  Sie  hatte  daher  hier  nur 
den  ästhetischen  Zweck,  das  Princip  des  Aufsteigens  und  Wölbens  schon 
von  Boden  auf  und  gleichsam  im  Keime  darzustellen.  Aus  diesem  Principe 
entwickelte  sich  dann  auch  einerseits  der  grösste  Theil  des  Fagadenschmucks,. 
andererseits  aber  als  feinste  Aeusserung  des  Gefühls  die  Profilirung,  in 
welcher  anfangs  der  Rundstab,  die  Aeusserung  kräftiger  Bogenschwingung,. 
später  die  weiche,  birnförmige  Linie,  als  der  Ausdruck  organischen  Lebens, 
in  verschiedenartiger  Weise  vorherrschte. 

Bei  der  allgemeinen  Theilnahme,  welche  der  neue  Styl  erweckte,  war 
die  Stellung  der  Künstler  in  dieser  Gegend  natürlich  eine  andere  geworden 
wie  bisher.  Sie  gehörten  jetzt,  wie  wir  wissen,  meistens  dem  Laienstande 
an.  Zwar  kam  es  noch  immer  vor,  dass  Klosterbauten  ganz  von  Geistlichen 
und  Mönchen  geleitet  und  ausgeführt  wurden.    In  der  Abtei  N.  D.-des-Dunes 


Stellung  der  Küustler.  117 

in  Flandern  vermochten  sechs  aufeinanderfolgende  Aebte  von  1221  bis  1263 
den  Bau  selbst  zu  führen  und  ihn,  obgleich  sie  zuweilen  400  Personen 
brauchten,  bloss  mit  Hülfe  ihrer  Mönche,  Laieubrüder  und  Dieustleute  zu 
vollenden  1),  und  an  der  Abtei  von  Roj'aumont,  deren  Plan  wahrscheinlich 
von  einem  der  Meister  im  Dienste  des  Königs  entworfen  sein  mochte,  ver- 
richteten die  Mönche  wenigstens  die  körperliche  Arbeit,  wie  dies  die  oben 
erzählte  Anekdote  über  die  Theilnahme  Ludwigs  IX.  an  diesem  Bau  be- 
weist. Ueberhaupt  kann  man  es  fast  als  gewiss  ansehen,  dass  der  Cister- 
€ienserorden,  welchem  beide  Klöster  angehörten,  in  seinem  Schoosse  noch 
immer  eine  Schule  von  Bauverständigen '-)  erzog,  über  welche  ich  später  aus- 
führlicher sprechen  werde.  Es  lag  also  nicht  an  dem  Willen  oder  der  Träg- 
heit der  Geistlichen,  wenn  sie  die  Baukunst  weniger  übten,  sondern  in  den 
höheren  Ansprüchen,  welche  die  Kunst  machte.  Die  schlichten  Hand- 
werker, welche  an  weltlichen  Bauten  gearbeitet  hatten  und  auch  wohl  von 
den  Geistlichen  zur  Aushülfe  herangezogen  waren,  hatten  sie  überflügelt; 
hatten  sich  zu  wahren  Künstlern  ausgebildet,  erfanden,  wo  sie  bisher  nur 
dienend  ausgeführt  hatten,  brachten  Bauten  von  solcher  Schönheit,  Conse- 
■queuz  und  Solidität  hervor,  wie  man  sie  bisher  nicht  gekannt  hatte,  und 
gabtn  allmälig  die  Ueberzeugung,  dass  die  Baukunst  nicht  aus  Büchern 
und  nebenher  zu  erlernen  sei,  sondern  Männer  erfordere,  welche  sie  zu  ihrem 
Lebensberufe  gemacht  hatten.  Neuere  Schriftsteller^)  haben  diesen  Ueber- 
gang  der  Baukunst  aus  den  Händen  der  Geistlichkeit  in  die  der  Laien  und 
den  gothischen  Styl  selbst  als  eine  Säcularisation  der  Kunst,  als  einen  Sieg 
der  Freiheit  über  die  Hierarchie  betrachtet.  Allein  die  Auffassung  in  jener 
Zeit  selbst  Avar  eine  ganz  andere;  die  Würdenträger  der  Kirche,  die  Bischöfe 
und  Aebte  und  der  fromme  König  Ludwig  gingen  in  der  Begünstigung  des 
neuen  Styls  voran,  und  selbst  die  Cistercienser,  obgleich  sie  die  Pracht 
desselben  verschmähten,  beförderten  seine  Verbreitung,  indem  ihre  einfachen 
Bauten  nicht  bloss  den  Spitzbogen,  sondern  überhaupt  die  constructiven 
Tendenzen  des  neuen  Styls  frühzeitig  in  Gegenden  brachten,  wo  er  noch 
unbekannt  war.  Aber  wohl  bewirkte  er  eine  Emancipation  der  Kunst  als 
solcher,  verlieh  ihr  Selbstbewusstsein  und  eine  bisher  unbekannte  Freiheit 
des  Handelns.  Der  romanische  Styl  war  gewissermaassen  ein  Naturproduct, 
\ou  localen  Vorbildern,    klimatischen  Bedingungen    und  individuellen  Zu- 


^)  Ant.  Sanderüs  Flaudria  illustr.  1.  4.  c.  1,  bei  Felibien,  Recuei!  historique  de  la 
vie  des  plus  celebres  architectes.     Paris  168,7,   P-  213. 

2)  Obgleich,  wie  das  unteu  zu  erwähnende  Manuscript  des  Villard  de  Honuecourt 
zu  ergeben  scheint,  auch  bei  ihnen  Architekten  aus  dem  Laienstande  concurriren 
durften. 

^)  Daniel  Ramee,  Hist.  de  l'arch.  II.  p.  134. 


]28  Französische  Golhik. 

fälligkeiten  abhängig  gewesen.  Jetzt  dagegen  entstand  ein  Styl,  der  auf  der 
herrschenden  Sinnesweise  des  Zeitalters,  zugleich  aber  auch  auf  statischen 
und  ästhetischen  Principien  beruhete  und  die  Ueberzeugung  seiner  allge- 
meinen Anwendbarkeit  gewährte.  Die  Kunst  war  als  solche  erstanden,  sie 
war  nicht  mehr  an  die  Scholle  gebunden,  sie  wurde  die  Aufgabe  eines  eigenen 
Standes,  dessen  Jünger  nach  allen  Seiten  hin  forschten  und  strebten,  ihr- 
Gefühl  übten  und  kräftigten,  nach  den  geeigneten  Mitteln  suchten.  Zu  diesen 
Mitteln  gehörte  vorzugsweise  die  besser  ausgebildete  Zeichnung.  Ohne  Zweifel 
wird  man  auch  in  der  romanischen  Epoche  mehr  oder  weniger  Plane  und 
Details  gezeichnet  haben;  der  Plan  von  St.  Gallen  aus  dem  neunten  Jahr- 
hundert giebt  den  frühesten  Beweis.  Aber  sehr  weit  war  man  darin  noch 
nicht  gekommen,  jedenfalls  diente  die  Zeichnung  nur  den  gelehrten  Leitern 
des  Baues,  nicht  den  Werkleuten.  Jetzt  ging  sie  von  diesen  aus,  wurde  das 
Mittel  ihrer  Belehrung  und  der  Ausführung  selbst,  verband  Meister  und 
Gesellen  zur  gemeinsamen  Arbeit.  Grosse  Planzeichnungen  aus  dieser  Zeit 
sind  zwar  äusserst  selten^),  die  in  den  Bauhütten  von  Strassburg  und  an 
anderen  Orten  bewahrten,  stammen  aus  dem  vierzehnten  und  fünfzehnten 
Jahrhundert-).  Aber  man  darf  nicht  zweifeln,  dass  auch  die  Arbeiter  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  sich  schon  nach  Zeichnungen  richteten.  An  der 
Kathedrale  von  Limoges  hat  man  auf  den  Fliesen,  welche  die  Gewölbe  der 
Seitenschiflte  decken,  Zeichnungen  von  Pfeilern  und  allerlei  Einzelheiten  ge- 
funden, nach  welchen  die  Werkleute  bei  dem  Aufbau  des  Oberschiffes  ver- 
fahren sollten-^}.  Man  bediente  sich  ihrer  also  statt  des  Papiers,  wo  dasselbe 
seiner  Grösse  nach  nicht  ausreichte.  Sehr  viel  anschaulicher  aber  lernen 
wir  die  Studien  dieser  Meister  aus  einem  in  seiner  Art  einzigen  Documente 
kennen,  das,  aus  der  Abtei  von  Saint-Germain-des-Pres  herrührend,  in  der 
Bibliothek  von  Paris  entdeckt  ist,  aus  dem  Manuscript  des  Villard  de 
Honnecourt,  eines  strebenden  Architekten  aus  der  ersten  Hälfte  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts^).     Es  ist  kein  systematisches  Werk,    sondern    ein 


1)  Die  einzige  Ausnahme  bildet  die  Zeichnung-,  welche  in  der  Bibliothek  von 
Rhfinis  und  zwar  als  Palimpsest  gefunden  ist,  indem  man  sie  zu  einem  etwa  1270  ge- 
schriebenen Necrologium  benutzt  hatte,  wodurch  denn  auch  ihr  Alter  feststeht.  Die 
Zeichnung  stellt  eine  reiche  Facade  dar,  ist  jedoch  in  den  Details  nicht  ausgeführt. 
Diese  Benutzung  des  Pergaments  der  entbehrlich  gewordenen  Zeichnungen  erklärt  voll- 
kommen ihre  Seltenheit.  Vgl.  den  Bericht  über  diesen  Fund  und  ein  verkleinertes 
Facsimile  der  Zeichnung  in  Didron  Annales  archeologiques.     Vol.  5.  p.  87. 

-)  Viollet-le-Duc,  (Dict.  I.  p.  113)  will  unter  den  Plänen  zu  Strassburg  auch  einige 
aus  dem  Xlil,  Jahrhundert  bemerkt  haben,  indessen  bedarf  dies  näherer  Untersuchung. 

'')  Annales  archeol.  VI.  139.  Sie  sind  vom  Ende  des  13.  oder  Anfang  des  14. 
Jahrhunderts.  —  Viollet-le-Duc,  II.  S.  -478. 

^)  Eine  ziemlich  ausführliche  Nachricht  über  das  „Album"  des  Villard  giebt  Jules 
Quicherat  in  der  Revue  archeologique.   Vol.  VI.  (1849)  p.  G5,   164,  209  und  nach  ihm 


Villard  de  Honnecourt.  119 

Skizzenbuch,  wie  unsere  Künstler  es  noch  jetzt  führen,  in  das  der  Besitzer 
eigene  Erfindungen,  Studien  nach  Kunstwerken  und  nach  der  Natur,  auch 
wohl  gelegentlich  andere  Notizen  eintrug.  So  findet  sich  hier  zwischen  Zeich- 
nungen aller  Art  ein  Recept  zur  Heilung  von  Verwundungen,  eine  Anleitung 
zum  Trocknen  von  Blumen,  eine  fabelhafte  Erzählung  über  die  Zähmung  des 
Löwen  und  Aehnliches.  Dennoch  hat  er  es  später  im  Bewusstsein  der  Nütz- 
lichkeit seiner  Aufzeichnungen  für  den  Gebrauch  Anderer  bestimmt.  In 
einer  Art  von  Vorrede  auf  dem  zweiten  Blatte  begrüsst  er  diejenigen,  welche 
das  Buch  gebrauchen  wollen,  bittet  sie  für  seine  Seele  zu  beten  und  seiner 
zu  gedenken,  und  bemerkt,  dass  sie  darin  wichtigen  Rath  über  die  Dauer- 
haftigkeit des  Mauerwerks  und  für  die  Anlegung  von  Gerüsten,  sowie  An- 
leitung zum  Zeichnen  nach  den  Regeln  der  Geometrie  finden  würden  i).  Er 
begleitet  die  Zeichnungen  mit  Beischriften  in  französischer  Sprache,  denen 
manchmal  eine  lateinische  Uebersetzung  beigefügt  ist.  Aus  ihnen  entnehmen 
wir  zunächst  Einiges  über  seine  Person.  Wilars  de  Honecort  nennt  er 
sich  selbst,  seine  Heimath  ist  also  das  Dorf  Honnecourt  an  der  Scheide,  in 
der  Picardie,  nahe  bei  Cambray.  Es  geht  aus  dem  Buch  hervor,  dass  er  an 
dem  Chor  der  Kathedrale  von  Cambray,  der,  wie  wir  wissen,  1230  begon- 
nen, 1251  vollendet  wurde,  gearbeitet  hat;  er  giebt  den  Grundriss  für  den- 
selben 2),  und  bemerkt  dabei,  später  im  Buche  werde  man  auch  den  Aufbau 
des  Innern  und  des  Auesseren  finden,  ebenso  die  Anlage  der  Kapellen,  der 
Mauern,  der  Strebebögen.  Solche  auf  Cambray  bezügliche  Aufrisse  finden 
sich  nun  freilich  nicht,  wohl  aber  kommt  bei  den  Studien  nach  der  Kathe- 
drale von  Rheims  eine  Aeusserung  vor,  welche  annehmen  lässt,  dass  er  bei 
dem  Chorbau  von  Cambray  beschäftigt  war.  Es  heisst  nämlich  bei  Gelegen- 
heit einer  Zeichnung  der  zu  Rheims  befindlichen  Kapellen:    „So   sollen  die 


die  Wiener  ßauzeitiing  1849,  S.  309  tt'.  Ich  folge  indessen  auch  eigener  Anschauung. 
Seitdem  ist  ein  Fasimile  des  ganzen  Buches ,  mit  werthvollen  Beigaben  und  ausführ- 
lichem Text  erschienen,  welches  der  Architekt  Lassus  kurz  vor  seinem  Tode  vorbereitet 
hatte:  Album  de  Villard  de  Honnecourt,  architecte  du  Xlllme  siede,  manuscript  public 
en  fac-simile  annote  etc.  etc.  par  J.  B.  Lassus  etc. ,  ouvrage  mis  au  jour  apres  la 
mort  de  M.  Lassus  et  conformement  ä  ses  manuscripts   par  Alfred  Darcel.     Paris  1858. 

^)  Car  en  cest  Hure  puet  on  trouer  graut  consel  de  la  grant  force  de  niaconerie 
et  des  engiens  de  carpenterie  et  si  troueres  la  force  de  le  porfraiture  les  trais  ensi 
come  li.ars  de  jometrie  les  comaude  et  ensaigne. 

'-)  Vesci  lesligement  del  chauet  medame  Sainte  marie  de  canbrai;  ensi  com  il  est 
de  tierre.  avant  ea  cest  liure  en  trouueres  les  montees  dedens  et  de  hors.  et  tote  le 
maniere  des  capeles  et  des  plains  pans  autresi.  et  li  maniere  des  ars  boteres.  —  Der 
Grundriss  des  ausgeführten  Bauwerks,  wie  solcher  der  Publication  von  Lassus  beige- 
geben ist  (s.  ob.  46)  stimmt  mit  Villard's  Entwurf  bis  auf  eine  kleine  Abweichung, 
welche  die  Anlage  eines  Treppenthiirmchens  nöthig  machte. 


120  Französische  Gothik, 

von  Cambray  werden ;  wenn  man  sie  vollendet  i).  Das  beweist,  dass  er  diese 
Studien  gemacht  hat,  um  sie  bei  dem  eigenen  Werke  zu  verwerthen.  Er  ist 
in  vielen  Ländern  gewesen,  en  mult  de  tieres^  Avie  er  an  einer  anderen 
Stelle  sagt.  Er  giebt  zwar  nur  Zeichnungen  aus  den  Kirchen  von  Laon, 
Rheims,  Chartres,  Meaux  und  Lausanne;  er  war  aber  viel  weiter.  Bei  einer 
Studie  nach  dem  Triforium  von  Rheims  führt  er  an,  dass,  als  er  sie  ge- 
macht habe,  er  nach  Ungarn  berufen  worden-),  an  einer  anderen  Stelle 
erwähnt  er  des  Aufenthalts  in  Ungarn,  der  lange  Zeit  (maint  jor)  gedauert 
habe.  Was  er  dort  gemacht,  ist  zwar  unbekannt  %  immerhin  aber  die  Nach- 
richt sehr  merkwürdig,  weil  sie  beweist,  dass  man  französische  Architekten 
in  so  weite  Ferne  berief,  und  dass  Yillard  bedeutend  genug  war,  um  solchen 
Ruf  zu  erhalten.  Deutschland  scheint  er  nur  flüchtig  berührt  zu  haben, 
wenigstens  finden  sich  keine  dort  gemachten  Zeichnungen. 

Der  ganze  Inhalt  des  Manuscripts  ist  dadurch  so  anziehend^  dass  er 
uns  gestattet,  die  Künstler  dieser  Zeit  gleichsam  bei  ihren  Studien  zu  be- 
lauschen, das  Maass  ihrer  Kenntnisse  an  sich  und  nicht  bloss  an  ihren  Werken 
zu  beobachten.  Man  ersieht  daraus,  dass  diese  Studien  noch  ziemlich  jung 
waren.  Die  Kunst  des  Zeichnens  und  der  Geometrie,  auf  die  unser  Villard 
so  viel  Gewicht  legt,  ist  noch  nicht  sehr  entwickelt.  Seine  Grundrisse  sind 
ganz  verständlich,  in  den  Aufrissen  mischt  er  aber  perspectivisch  gezeichnete 
Theile  in  die  geometrische  Aufnahme.  Man  sieht,  er  hilft  sich  wie  er  kann. 
Die  architektonischen  Theile  des  Buchs  geben  manche  interessante  Einzel- 
heiten. Unter  den  Grundrissen  befindet  sich  der  des  Chors  der  Kirche  zu 
Yaucelles,  eines  unfern  seines  Geburtsortes  Honnecourt  gelegenen  Cistercien- 
serklosters,  mit  dem  Umgange  und  mehreren  Kapellen,  von  denen  jedoch 
die  mittlere,  wie  auch  sonst  an  Cistercienserkirchen,  einen  rechtwinkeligen 
Schluss  hat.  Auch  auf  dem  Grundriss  eines  anderen  Chors  mit  doppeltem 
Umgang  wechseln  achteckige  und  halbkreisförmige  Kapellen,  eine  schriftliche 
Bemerkung  sagt,  derselbe  sei  aus  dem  Wetteifer  zwischen  Villard  de  Hon- 


^)  Et  en  cele  autre  pagene  poes  uus  ueir  las  montees  des  capeles  de  le  glize  de 
rains  par  de  hors.  tres  le  comencement  desci  en  le  fin  ensi  com  eles  sunt,  dautretel 
maniere  doiuent  estre  celes  de  canbrai  son  lor  fait  droit  (si  on  leur  fait  droit  —  wenn 
man  sie  richtig  ausführt). 

-)  Jestoie  mandes  en  le  tierre  de  hongrie  qunt  io  le  portrais  per  co  lamai  io 
miex. 

")  Ouicherat  a.  a.  0.,  p.  71,  bringt  diese  Sendung  nach  Ungarn  in  Verbindung 
mit  der  heiligen  Elisabeth,  welche  bekanntlich  Schwester  des  Königs  ßela  von  Ungarn 
war  und  andererseits  mit  dem  Dome  von  Cambrai  in  der  Beziehung  stand,  dass  sie 
bei  der  Herstellung  der  KreuzschifFe  im  J.  1227  bedeutend  beisteuerte,  weshalb  ihr 
nacii  ihrem  Tode  (1231)  auch  im  J.  1239  in  derselben  Kathedrale  eine  Kapelle  gewid- 
met wurde. 


Villard  de  Honnecourt.  121 

nccourt  und  Pierre  de  Corbie  entstanden  i).  Ausserdem  giebt  er  noch  ein 
Mal  einen  Grundriss  mit  geradem  Cborscbluss  und  bemerkt  dabei  ausdrück- 
lich, dass  er  für  jenen  Orden  entworfen  worden-),  was  insofern  bemerkens- 
werth  ist,  als  es  zeigt,  dass  man  schon  damals  auf  die  Eigenthümlichkeit 
der  Cistercienserkirchen  achtete,  und  dass,  wenn  auch  der  Orden  seine 
eigene  Bauschule  hatte,  auch  andere  Architekten  für  ihn  zu  arbeiten  unter- 
nahmen. Mehrmals  begegnen  uns  Entwürfe,  anscheinend  ohne  feste  Bestim- 
mung, aus  denen  hervorgeht,  dass  die  Meister  dieser  Zeit  sich  gern  mit 
schwierigen  Problemen  beschäftigten.  So  giebt  er  ein  Mal  einen  Thurm,  an 
welchem  das  Achteck  aus  dem  Viereck  entwickelt  wird,  ein  anderes  Mal 
den  Grundriss  eines  viereckigen  Kapitelhauses,  dessen  Gewölbe  einen  acht- 
eckigen Stern  bildet  und  auf  einer  Säule  ruhet;  er  bemerkt  dabei  ausdrück- 
lich, dass  dies  nicht  zu  schwer  laste  und  eine  gute  Construction  sei.  Es 
scheint  daher,  dass  dies  Gewölbe  eine  neue  Erfindung  war,  die  indessen  nicht 
sofort  weitere  Verbreitung  fand,  wenigstens  kennen  wir  kein  Beisi^iel  so 
früher  Sterngewölbe  in  Frankreich.  Auch  Entwürfe  zu  gezimmerten  Dach- 
stühlen, zu  einem  Lesepulte,  zu  Chorstühlen  kommen  vor.  Besonders  be- 
stätigen aber  diese  Zeichnungen,  dass  die  Architekten  zu  wandern  und  zu 
vergleichen  liebten,  und  dass  sie  die  Kachahmung  der  als  gut  anerkannten 
Formen  keinesweges  scheuten.  Bei  der  Zeichnung  eines  Thurmes  von  Laon 
bemerkt  er,  dass  er  der  schönste  sei,  den  er  gesehen  habe,  obgleich  er  in 
vielen  Ländern  gewesen^). 

Viele  Blätter  sind  der  Plastik  gewidmet,  indem  sie  Blattornamente, 
phantastische  Figuren,  Thierverschlingungen,  aber  auch  grössere  Gestalten, 
Christus  am  Kreuz,  die  zwölf  Apostel,  eine  der  „Damoizeles",  über  welche 
Salomons  Urtheil  erging,  und  auf  dem  folgendem  Blatt  auch  den  richtenden 
König,  den  Stolz  (Orgieuil),  in  Gestalt  eines  sehr  lebendig  gezeichneten 
stürzenden  Piciters,  selbst  grössere  historische  Compositioneu  aus  der  Bibel  % 
enthalten.  Auch  das  Vorbild  der  Antike  ist  nicht  verschmäht;  wir  finden 
ein  Mal  ein  römisches  Denkmal,  welches  er  leider  ohne  Ortsangabe  als  ein 
von  ihm  gesehenes  Grab  eines  Sarazenen  bezeichnet,  so  dass  er  sich  des 
heidnischen  Ursprungs  bewusst  war"').    Auch  eine  andere  Figur  scheint  nach 


^)  Istud  bresbiterium  iuueiieruat  ulardus  de  Huuecort  et  petrus  de  corbeia  iiiter  se 
disputando.  —  Deseure  est  une  glize  a  double  charole.  ke  vilars  de  Houecort  trova 
et  pieres  de  corbie. 

-)  Veszi  une  glize  desquarie  ki  fii  esgardee  a  faire  en  lordeue  de  Cistiaux. 

•■')  „Jai  este  en  mult  de  tieres  si  com  uos  pores  trouer  eu  cest  Hure,  en  aucun  liu 
onques  tel  tor  ne  vi  com  est  cele  de  loon". 

*)  PI.    XXIV  wahrscheinlich  Nathan  vor  David. 

s)  Sarazene  bedeutet  nach  dem  Sprachgebrauch  der  Zeit  alle  Heiden. 


122  Französische  Gotliik. 

einer  antiken  Statue  gemacht  zu  sein  ^).  Die  meisten  Zeichnungen  sind  ohne 
Zweifel  vorhandenen  Bildwerken  wie  Glasmalereien  entlehnt,  sie  haben  alle 
den  strengen  Styl,  den  wir  an  den  Portalen  von  Paris  und  Rheims  wahr- 
nehmen. Er  studirte  aber  auch  schon  die  Natur;  mehrere  nackte  mä,nnliche 
Gestalten  sind  förmliche  Aktzeichnungen,  und  bei  einem  Löwen,  den  er 
mehrere  Male  von  verschiedenen  Seiten  darstellt,  bemerkt  er  ausdrücklich 
und  mit  starker  Betonung,  dass  er  nach  dem  Leben  gemacht  sei  (et  sachiez 
bien,  quil  fut  contrefaist  al  vif).  Diese  Betonung  beweist,  dass  das  Natur- 
studium damals  noch  etwas  Ungewöhnliches  war,  wo  es  dann  bei  einem  Thiere, 
welches  die  Meisten  nur  aus  Abbildungen  kennen  mochten,  wohl  der  Erwäh- 
nung wertli  war,  dass  man  hier  ein  treues  der  Natur  entlehntes  Bild  habe. 
üebrigens  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  dem  Zeichner  immer  noch  Drachen 
und  andere  phantastische  Ungeheuer  besser  als  wirkliche  Thiere  gelingen. 
Die  Anwendung  der  Geometrie  auf  die  Zeichenkunst  besteht  nur  in  sehr  ein- 
fachen Hülfsmitteln,  indem  er  die  Darstellung  der  natürlichen  Form  durch 
die  Einfügung  einfacher  geometrischer  Figuren,  des  Kreuzes  in  das  mensch- 
liche Gesicht,  des  Dreieks  in  einen  Pferdekopf,  zu  erleichtern,  oder  die 
Bildung  verschiedener  runder  und  spitzer  Bögen  mit  derselben  Zirkelöffnung 
herzustellen  lehrt.  Sehr  viel  beschäftigt  er  sich  mit  Maschinen  zur  Hebung 
von  Lasten  und  zu  ähnlichen  Zwecken,  die  indessen  noch  sehr  einfach  und 
ziemlich  unbeholfen  scheinen.  Er  entwirft  physikalische  Spielereien,  zum 
Beispiel  einen  Siphon,  und  versucht  sogar  ein  Perpetuum  mobile  zu  erfinden. 
Aber  bei  alledem  sehen  wir  doch  ein  rüstiges,  wahrhaft  künstlerisches  Stre- 
ben, welches  zur  raschen  Förderung  der  Kunst  führen  musste-). 

Es  kann  sein,  dass  Villard  sich  vor  Anderen  durch  eine  theoretische 
Richtung  und  bessere  Vorbildung  auszeichnete;  vielleicht  erklärt  sich  da- 
durch, wenn  er  nicht  frühe  gestorben  sein  sollte,  dass  wir  ausser  dem  Dom- 
bau zu  Cambray  von  anderen  bedeutenden  Unternehmungen,  bei  denen  er 
mitwirkte,  nichts  wissen.  Allein  seine  Zeichnungen  und  Studien  sind  doch 
so  sehr  mit  den  ausgeführten  Werken  anderer  Meister  verwandt,  dass  wir 
bei  ihnen  Aehnliches  voraussetzen  müssen.  Sie  waren  schon  strebende  Künstler 
geworden,  die  sich  alle  erforderlichen  Hülfsmittel  zu  verschaffen  wussten, 
sich  aus   der  Wissenschaft  aneigneten   was   ihnen   nöthig  war,   offenen  Sinn 


^)  Das  Motiv  zu  PI.  57  ist  waiirsclieiulicli  ein  antiker  llerciir. 

-)  Icli  moss  mir  versagen,  liier  weiter  auf  die  Einzelheiten  dieser  für  die  Bau- 
geschichte dieser  Zeit  merkwürdigsten  Urkunde  einzugehen;  der  Aufsatz  von  Quidierat 
TUid  die  Publicatiou  von  Lassus,  der  ein  Glossarium  der  technischen  Ausdrücke  beige- 
geben ist,  enthalten  manches  Nähere.  In  Beziehung  auf  die  Terminologie  will  ich  nur 
anführen,  dass  er  mit  dem  Worte:  ogive  die  Diagonalrippen,  mitfilloles  die  Strebe- 
pfeiler bezeichnet.  Vielleicht  stammt  dieser  Ausdruck  aus  dem  deutschen  Worte 
Pfeiler  und  ist  in  der  fremdartigen  Gestalt  von  Fiale  zu  uns  zurückgekehrt. 


Künstlernamea.  123 

für  die  Schönheit  der  Natur  hatten,  aber  dabei  doch  stets  mit  handwerks- 
mässiger  Treue  und  Sicherheit  von  dem  Gegebenen  ausgingen.  Daher  tritt 
uns  dann  nun  auch  mit  einem  Male  eine  Reihe  namhafter  und  anerkannter 
Architekten  entgegen.  Im  Anfange  dieser  Epoche  sind  die  Namen  noch 
selten,  den  ausgezeichneten  Meister  von  St.  Remy  in  Rheims  und  N.  D.  von 
Chalons,  seine  Kunstgenossen  von  St.  Germer  und  Noyon,  selbst  die  früheren 
Architekten  von  N.  D.  von  Paris  kennen  wir  nicht.  Den  ersten  Namen  tinden 
wir  am  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  aber  ausserhalb  dieser  Central- 
provinzen,  in  der  Normandie,  den  Meister  Ingelramnus,  der  an  der  Abtei  zu 
Bec  und  am  Dome  zu  Ronen  (1212)  arbeitete.  Später  sind  wir  nicht  mehr 
auf  die  Angaben  der  Chronisten  beschränkt,  vielmehr  wird  fast  überall  der 
Meister  durch  einen  Grabstein  oder  eine  andere  Inschrift  in  seinem  Werke 
geehrt,  und  in  dieser  Weise  uns  überliefert.  So  wurden  Hugo  li  Bergier  in 
St.  Nicaise  in  Rheims  (7  1263)  M,  Peter  von  Montereau  (7  1266)  in  der  von 
ihm  gebauten  Kapelle  von  St.  Germain- des -Pres,  Eudes  von  Montreuil 
(t  1289)  in  der  Franziskanerkirche  zu  Paris  beerdigt,  Robert  von  Coucy 
(7  1311)  auf  seinem  Grabsteine  im  Kreuzgange  von  St.  Denis  in  Rheims  aus- 
drücklich als  Baumeister  des  Doms  und  von  St.  Nicaise  bezeichnet-).  Bei 
Peter  von  Montereau  ergiesst  sich  der  Verfasser  der  Grabschrift,  ohne 
Zweifel  ein  Mönch  von  St.  Germain,  sogar  in  Lob,  er  nennt  ihn  eine  volle 
Blüthe  guter  Sitten  und  giebt  ihm  statt  des  Meistertitels  den  eines  Doctors 
der  Werkleute  ■^)    An   der  Fagade   des   südlichen  Kreuzes  von  Notre  Dame 


')  Cigist  Maistre  Hues  li  Bergier  qui  a  commeuce  cetle  eglise  eu  M.  CC.  et 
XXIX  .  .  et  mourut  l'an  M.  CC.  LX.  III  ...  .  Pour  Dieu  priez  pour  luy. 

^)  Cy  gist  Robert  de  Coucy  Maistre  de  Notre  Dame  et  de  Saint  Nicaise  qui  tre- 
passa  l'an  1311. 

3)  Vgl.  die  Grabschrift  oben  S.  101,  Note  3).  —  Zwei  neuere  Schriftsteller  (J.  See- 
berg in  Naumann's  Archiv  für  die  zeichneuden  Künste  Band  XV.  S.  160  ff.  und  F. 
Adler  in  der  deutschen  Bauzeitung  1870.  S.  368)  glauben  dem  Titel  Magister,  mit 
welchem  die  Baumeister  bezeichnet  werden ,  die  Bedeutung  eines  akademischen  Grades 
beilegen  und  aus  demselben  schliessen  zu  dürfen,  dass  der  Inhaber  dieses  Titels  nicht 
Handwerkmeister,  etwa  nur  Steinmetz,  sondern  ein  studirter  und  graduirter  Ar- 
chitekt gewesen.  Adler  bringt  keinen  Beweis  für  diese  Behauptung  bei,  Seeberg 
nur  Wahrscheinlichkeitsgrüade,  deren  Widerlegung  hier  zu  weit  führen  würde  und 
erspart  werden  kann,  da  sie  in  derThat  entweder  theils  auf  Voraussetzungen  beruhen, 
die  des  Beweises  bedürfen,  theils  ganz  andere  Erklärungen  gestatten.  Jener  nimmt 
an,  dass  die  Verleihung  dieser  Würde  durch  die  Bauhütten  der  grossen  Kathedralen 
erfolgt  sei;  er  denkt  also  doch  (mit  Recht)  an  eine  Anerkennung  durch  die  Genossen 
seiner  Kunst,  wobei  dann  nur  dunkel  bleibt,  worin  der  Unterschied  dieser  Würde 
von  der  eines  Handwerkmeisters  bestehen  soll.  Seeberg  bringt  die  Bezeichnung  als 
Magister  in  unmittelbare  Verbindung  mit  dem  durch  die  Universitäten  verliehenen  Titel 
eines  Magister  artium  liberallum,  und  begegnet  dem  Einwurfe,  dass  dieser  Titel  der 
Baumeister  schon  vor  der  Entstehung  der  Universitäten  vorkomme,  durch  die  Vermuthung, 


^24  Französische  Gothik. 

von  Paris  findet  sich  zuerst  an  dem  ^Yerke  selbst  in  einer  prachtvollen 
grossen  Inschrift  die  Angabe  des  Baumeisters  Johann  von  Chelles  und  des 
Jahres  1257,  in  welchem  dieser  Theil  begonnen  wurde  ^).  In  der  Kathe- 
drale zu  Amiens  giebt  eine  lange  Inschrift  vom  Jahre  1312 -)  die  Geschichte 
des  Baues  und  die  Namen  der  drei  aufeinander  folgenden  Meister,  Robert 
von  Lusarches,  Thomas  von  Cormont,  und  dessen  Sohn  Meister  Renaud.  Für 
die  Kathedrale  von  Rheims  kennen  wir  zwar  nicht  den  Meister  des  Plans, 
wohl  aber  den  des  glänzendsten  Theiles  der  Ausführung,  jenen  schon  ge- 
nannten 1311  verstorbenen  Robert  von  Coucy.  Endlich  werde  ich  weiter 
unten  des  Johannes  de  Campis  zu  erwähnen  haben,  der  ohne  Zweifel  aus 
nordfranzösischer  Schule  stammend,  im  Jahr  1248  den  Bau  der  Kathedrale 
von  Clermont  in  Auvergne  begann.  Freilich  stehen  diese  Namen  noch  ver- 
einzelt da,  bei  der  Mehrzahl  der  Werke  sind  die  Meister  unbekannt;  sie 
gehörten  noch  dem  Handwerke  an,  folgten  der  schweigsamen  Gewohnheit 
der  verflossenen  Jahrhunderte  und  suchten  und  fanden  nicht  den  Annalisten, 
dessen  Mittheilungen  über  ihr  Verfahren  uns  so  interessant  sein  würde. 
Aber  auch  so  sehen  wir  an  diesem  erwachenden  Selbstgefühle  der  Künstler 
und  an  der  ihnen  zu  Theil  werdenden  Anerkennung,  dass  die  Kunst  in  ein 
anderes  Stadium  eingetreten  war. 


dass  die  Verleihung-  von  den  Benedictinern,  die  im  Besitze  der  Baukuude  geliliebeu 
waren,  aiisgeg-angen  sei.  Ich  kenne  keine  Stelle,  welche  diese  Yermiithung  recht- 
fertigte oder  es  wahrscheinlich  machte,  dass  mit  dem  Worte  Magister  eine  auf  theo- 
retischen Studien  beruhende  Würde  bezeichnet  sei,  Gei-ade  das  war  der  Vorzug  der 
mittelalterlichen  Architektur,  dass  sich  die  Theorie  nicht  von  der  Praxis  sonderte,  und 
dass  die  leitenden  Meister  nicht  schulmässig  erzogene  Gelehrte,  sondern  talentvolle 
Handwerker  waren,  welche  die  Energie  gehabt  hatten,  sich  während  der  Praxis  auch 
die  nöthigen  allgemeinen  Kenntnisse  zu  erwerben.  Dies  ist  auch  die  Ansicht,  welche 
Friedrich  Schmidt,  der  bedeutendste  unter  den  heutigen  Meistern  gothischen  Stjis,  bei 
seinem  praktischen  Studium  der  alten  Gebäude  gewonnen  hat.  ^Er  weiss  die  „alle 
Erwartung  überschreitende  Kraft  der  Darstellung  und  Klarheit  der  Begriffe"  bei  den 
alten  Meistern  nur  aus  ihrer  durchaus  praktischen  Bildung,  und  die  vortreffliche  lebens- 
volle Ausführung  ihrer  Werke  nur  dadurch  zu  erklären,  dass  Meister  und  Gesellen 
den  gleichen  Bildungsgrad  durchgemacht  hatten  und  daher  in  gesellschaftlicher  Gleich- 
heit und  in  innigster  Verbindnng  mit  einander  standen.  Er  findet  gerade  darin  einen 
Gegensatz  gegen  die  heutigen  „prosaischen"  Verhältnisse,  den  man  „vielleicht  mit 
Wehmuth"  betrachten  dürfe.  Vgl.  seinen  im  Wiener  Alterthumsvereine  gehaltenen 
Vortrag  in  den  Mittheilungen  der  k.  k.  Centr.  Com.     Bd.  XII.   (1867).     S.  6  If. 

^)  Anno  Dom.  M.  CG.  LVII.  mense  Februario  idus  secundo  hoc  fuit  inceptum 
Christi  Genetricis  honore  Kallensi  lathomo  vivente  Johanne  Magistro. 

-)  In  Chapuy's  Cath.  franc.  Vol.  I.,  p.  5,  und  sonst  vielfach  abgedruckt.  —  Vgl. 
den  Artikel  Architecte  bei  ViolIet-le-Duc,  I.     S.  107  ff'. 


Normaridie.  125 

Drittes  Kapitel. 

Der  gotliisclie  8tyl  in  den  übrigen  Pro>inzen  Frank- 
reiclis  und  in  Belgien. 

Keine  Gegend  von  Frankreich  hat  so  bestimmten  Anspruch  auf  die  Er- 
linduug  des  gothischen  Styls  gemacht  als  die  Norman  die;  einige  ihrer 
einheimischen  Forscher  haben  sogar  geglaubt,  ihn  schon  im  elften  Jahrhun- 
dert nachweisen  zu  können.  Diese  Meinung  ist  nun  durch  Gally  Knight  und 
Andere  gründlich  widerlegt;  jene  Annahme  entsprang  aus  der  Anwendung 
der  Stiftungsdaten  auf  spätere  Neubauten,  über  deren  Entstehung  wir  zwar 
hier,  wie  so  häufig,  keine  Nachrichten  haben,  welche  aber  nach  der  Ver- 
gleichung  mit  anderen  sicher  datirten  und  benachbarten  Gebäuden  unmöglich 
aus  so  früher  Zeit  stammen  können.  Allerdings  hat  aber  die  Normandie  den 
gothischen  Styl  aus  den  benachbarten  Provinzen  Picardie  und  Isle  de  France 
sehr  frühzeitig  und  schon  auf  seinen  ersten  Entwickelungsstufen  angenommen 
und  ihn  sich  im  hohen  Grade  angeeignet. 

Allein  dennoch  ist  er  hier  nicht  entstanden.  Wie  allen  Gegenden,  welche 
in  der  vorigen  Epoche  schon  ein  befriedigendes  Bausystem  erlangt  hatten, 
fehlte  auch  dieser  der  Antrieb  zu  neuen  Versuchen.  Der  Styl,  welcher  unmit- 
telbar nach  dieser  Zeit  des  Eroberers  ausgebildet,  von  hier  nach  England 
übertragen  und  von  dort  wieder  bereichert  und  gemildert  zurückgebracht 
war,  befriedigte  auch  noch  im  letzten  Viertel  des  zwölften  Jahrhunderts '^ 
wir  können  keine  Zeichen  eines-  allmäligen  Abgehens  von  demselben  wahr- 
nehmen, er  wurde  nur  durch  reichere  Ornamentation  oder  bequemere  Anord- 
nungen verbessert.  Ich  habe  schon  früher^)  der  Herstellung  der  Kathedrale 
von  Bayeux  gedacht,  welche  erst  um  1183  erfolgte  und  durch  welche  die 
rundbogigeu  Theile,  wenn  auch  nicht  ihre  erste  Anlage,  doch  ihren  noch 
ganz  normannischen  Schmuck  erhielten.  Aber  auch  eine  ganze  Reihe  be- 
stimmt datirter,  erst  in  dieser  späteren  Zeit  des  zwölften  Jahrhunderts  ent- 
standener Kirchen  zeigt  noch  keine  Spur  eines  Ueberganges.  So  sind  die 
Kirchen  von  Osm  oy  (Seine  infer.),  St.  Thomas-le-Martyre  in  Mont- 
aux-Malades,  die  der  Abtei  Vallasse,  welche  nach  Inschriften  oder  un- 
zweifelhaften Nachrichten  in  den  Jahren  von  1170  bis  1183  geweiht  wurden^ 
sogar  die  erst  1183  gegründete  Kirche  von  St.  Julien  bei  Rouen-),  und 
zwar  die  drei  letzten  nicht   etwa  arme  Dorfkirchen,    sondern  königliche 


1)  Bd.  IV.  S.  562  f. 

-)  Inkersley  p.  58  und  162.     Naclirichlen  und  Beschreibung. 


J26  Kormandie. 

Stiftungen;  noch  ganz  rundbogig  und  in  jeder  Beziehung  romanisch  ^j.  Noch 
wälirend  der  Herrschaft  des  frühgothischen  Styles  baute  man  Kirchen  mit 
romanischer  Ornamentation  und  mit  gerader  Decke-),  jedoch  so,  dass  man, 
wie  in  Jumieges  und  einigen  anderen  Bauten  der  vorigen  Epoche,  an  den 
Pfeilern  hohe  Halbsäulen  anbrachte.  Der  grösste  Kenner  der  Monumente 
dieser  seiner  vaterländischen  Gegend  versichert,  wohl  hundert  im  ganzen 
Laufe  des  dreizehnten  Jahrhunderts  gebaute  Landkirchen  zu  kennen,  an 
welchen  der  Rundbogen  vorherrsche;  er  bemerkt  ferner,  dass  der  früh- 
gothische  Styl  sich  von  seiner  ersten  Aufnahme  an  bis  zu  1266  wenig  ver- 
ändert habe -^j.  Alles  dies  beweist,  dass  der  Styl  hier  nicht  völlig  einheimisch 
ist.  Allerdings  hatte  aber  der  gothische  Styl  selbst  einen  Theil  seiner  Ele- 
mente aus  dem  normannischen  genommen,  war  daher  demselben  einiger- 
maassen  verwandt,  und  konnte  leicht  neben  ihm  Eingang  finden.  Das  Kreuz- 
gewölbe, der  eigentliche  Ausgangspunkt  des  gothischen  Styles,  war  hier  be- 
reits einheimisch,  der  Fa^adenbau  enthielt  die  Grundgedanken  der  gothischen 
Fa^ade,  die  Lisenen  hatten  schon  fast  die  Bedeutung  von  Strebepfeilern 
erlangt.  Ueberdies  herrschte  hier  eine  verwandte  Gesinnung  wie  im  nörd- 
lichen Frankreich,  derselbe  romantisch  ritterliche  Geist,  dieselbe  Thatkraft, 
dieselbe  Freude  am  Entschiedenen  und  Rüstigen. 

Etwa  um  1170  beginnt  hier  die  häufigere  Anwendung  des  Spitzbogens 
und  eine  Art  Uebergangsstyl,  jedoch  von  mehr  decorativer  als  constructiver 
Tendenz  und  mit  manchen  fremdartigen  Anklängen,  theils  aus  England  theils 
aus  den  anderen  damals  unter  englischer  Herrschaft  stehenden  französischen 
Provinzen.  Dies  zeigt  unter  Anderem  das  Kapitelhaus  von  St.  George 
in  Bocherville,  dessen  Begründer  im  Jahr  1157  die  Würde  des  Abtes 
erlangte  und  1211  in  diesem  Hause  begraben  wurde*).  Es  ist  eine  recht- 
winkelige Halle  ohne  Zwischenpfeiler,  mit  hochansteigender  Spitzbogen- 
Wölbung,  die  unteren  Fenster  sind  rundbogig  und  über  ihnen  theilt  ein 
Rundbogenfries  ab,  die  oberen  Fenster  sind  spitzbogig  und  zeigen  eine  früh- 
gothische  Einfassung  mit  Säulen.  Die  Details,  besonders  der  Statuenschmuck 
der  drei  Eingangsthüren,  sind  aber  so  abweichend  von  dem  Style  der  Nor- 
mandie,  so  sehr  dem  von  Anjou  und  Poitou  entsprechend,  dass  man  noth- 


1)  Bull,  monum.  XlII,  S.  380. 

-)  Bull,  monum.  XVI ^  p.  520,  werdon  die  Kirchen  von  Veulettes,  Graville  und 
Aufay  als  Beispiele  angeführt, 

3)  Caumont  im  Bull,  monum,  XVI,  441,  und  XIII,  S.  386,  in  der  Note.  Er  ver- 
gleicht dabei  die  Abteikirchen  des  zwölften  Jahrhunderts  in  Bures  und  Fecamp  mit 
den  Kirchen  von  Neufcliatel,  Gisors,  St.  Marie  des  Charaps  und  St.  Ursule  de  Beuabec, 
die  von  1248  bis  12G6  entstanden  sind. 

*)  Gallia  christ,  XI,  col,  271.  —  Abbildung  bei  Lenoir,  Architecture  mouastiqne, 
Paris  1856,  B.  II.  S,  323. 


Erste  gothische  Bauten.  127 

wendig  auf  die  Theilnahme  von  Künstleru   aus   dieser  Gegend  scliliessen 
muss  ^). 

Das  früheste  Beispiel  einer  Annäherung  an  den  französisch -gothischen 
Styl  giebt  die  Abteikirche  zuFecamp-,  welche  nach  einem  Brande  von 
1170  neu  erbaut,  schon  im  Jahr  1181  eine  Weihe,  ohne  Zweifel  aber  erst 
des  Chores,  erhielt,  und  unter  dem  Abt  Radolphus  wahrscheinlich  um  1200 
vollendet  sein  soll.  Man  kann  wahrnehmen,  dass  die  Hinneigung  zu  den 
neuen  Formen  erst  während  des  Baues  entstanden  ist.  Der  Chor  enthält 
noch  einige  rein  romanische  Theile,  das  Kreuzschiff  und  die  ersten  Pfeiler 
des  Langhauses  zeigen  Uebergangsformen,  Rundpfeiler,  spitze  Bögen,  aber 
noch  eckige  Profile;  die  neun  westlichen  Arcaden  des  Langhauses  endlich 
sind  durchweg  im  edeln  frühgothischen  Style;  kantonirte  Säulen  mit  drei- 
fachen, vom  Boden  aufsteigenden  Gewölbträgern,  Profile  der  Arcaden  mit 
tieferer  Höhlung  zwischen  den  Rundstäben,  die  Gallerieöftuung  zweitheilig 
und  mit  einem  Yierblatt  im  Bogenfelde,  die  Oberlichter  aus  zwei  einzelnen, 
in  stumpfen  Sintzbögen  geschlossenen  Fenstern  gebildet,  zwischen  denen, 
aber  nicht  zu  einem  Ganzen  verbunden,  eine  Ereisöffnung  steht.  DasAeussere 
ist  ziemlich  einfach,  aber  doch  schon  mit  Strebebögen  und  gothischem  pro- 
filirtem  Gesimse  versehen.  Die  Seitenschiffe  und  die  darüber  befindliche 
Gallerie  haben  je  zwei  Fenster,  welche  unter  einem  fünftheiligen  Gewölbe 
stehen  und  durch  dessen  Stütze  von  einander  getrennt  sind;  eine  eigen- 
thümliche,  an  die  sechstheiligen  Gewölbe  des  früheren  einheimisch  Styles 
erinnernde  Anordnung.  Die  Beibehaltung  der  Gallerie  und  die  Verbindung 
von  Rundpfeilern  und  steilen  Spitzbögen  lassen  darauf  schliessen,  dass  die 
östlichen  Theile  bis  zum  Jahre  1200  und  nach  dem  Vorgänge  der  älteren 
französisch-gothischen  Bauten  entstanden  sind,  während  die  westlichen  Traveen 
mit  kantonirten  Säuleu  und  primitivem  Maasswerk  erst  dem  Dome  von  Rheims 
gleichzeitig  sein  können. 

Der  Neubau  der  Abteikirche  zu.  Eu-^j  soll  bald  nach  1186,  wo  die  Re- 
liquien eines  kurz  vorher  im  Kloster  verstorbenen  heiligen  Bischofs  zahl- 
reiches Zuströmen  des  Volkes  verursachten,  begonnen  und  um  1226,  wo  diese 
Reliquien  im  Chore  beigesetzt    wurden,  vollendet  sein.     Ein  Brand  vom 


1)  Inkersley,  a.  a.  0.  S.  17,  giebt  nähere  Beschreibung. 

-)  Nachrichten  und  ausführHche  Beschreibung  bei  Inkersley  a.  a.  0.  p.  78,  151, 
232.  Mertens  (Baukunst  d.  M.  A.  1850  S.  52)  legt  Gewicht  darauf,  dass  zur  Zeit  des 
Brandes  Heinrich  von  Suliy,  ein  Bruder  des  Erzbischofs  Moritz  von  Paris,  der  dort 
gleichzeitig  die  Kathedrale  neu  erbaute,  Abt  von  Fecamp  war.  Es  kann  dahingestellt 
bleiben,  ob  dieser  zufällige  Umstand  die  Annahme  der  Formen  des  neuen  Styles  be- 
fördert hat..   — 

^)  Viollet-le-Duc,  II.  S.361.  —  Pablicirt  in  den  Archives  de  la  comm.  des  monuments 
historiques.  —  Abbildungen  ferner  in  der  Voyage  dans  l'ancienne  France,  Normandie. 


128 


Normandie. 


Jahre  1426  hat  nicht  die  Erneuerung  des  ganzen  Gebäudes^),  sondern  nur 
des  oberen  Theils  des  Chors  und  der  Fagade  herbeigeführt.  Die  Kreuzarme, 
ohne  Eingangsthür  und  mit  der  Theihing  in  zwei  Stockwerke,  welche  in 
älteren  normannischen  Kirchen  öfter  vorkommt,  sind  noch  romanischen  Ur- 
sprungs.    Das  Langhaus  hat  zwar  durchweg  spitze  Bögen  und  Fenster,  auch 

schon  im  Bogenfelde  der 
Gallerieöffnungen  ein  Vier- 
blatt, aber  mehr  roma- 
nische als  gothische  De- 
tails. Eigenthümlich  sind 
am  Aeussern  die  Rund- 
bogenblenden, welche  die 
Paare  schmaler  spitzbogiger 
Oberlichter  überspannen. 
Die  Pfeiler  sind  viereckigen 
Kerns  und  durch  eine  em- 
porenartige Architektur 
verbunden,  d.  h.  durch  Gal- 
lerieöffnungen, die  nur  unter 
das  Gewölbe  des  Seiten- 
schiffs und  nicht  in  eine 
wirkliche  Gallerie  führen, 
wie  in  St.  Etienne  in  Caen. 
Man  hatte  eben  Wcähreud 
des  Baues  den  Plan  ge- 
ändert, führte  die  Zwischen- 
wölbung nicht  aus  und  bil- 
dete die  Seitenschiffe  in 
einem  höheren  Geschoss, 
statt  sie  in  zwei  niedrigere 
Stockwerke  zu  theilen.  Da- 
gegen ist  der  Chor  mit 
starken  Rundsäulen,  steilen 
Lancetbögen  und  einfachem 
Triforium  in  der  Weise  der 
französischen  Bauten  aus  dem  ersten  Viertel  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
erbaut,  und  zwar  in  leichterem  Style  als  in  Fecamp. 


St.  Etienne,  Caen. 


')  Wie  dies  die  Gallia  christ.  XI,  col.  293  annimmt.  lulcersley,  a.  a.  0.  p.  225, 
bemerkt  mit  Reciit,  dass  diese  Nachricht  in  der  Uebertreibiiug  eines  auf  Erlangung 
reichliclier  Beisteuern  berechneten  Ablassschreibens  ihre  Quelle  liaben  werde. 


Chor  von  St.  Etienne  in  Caen. 


129 


Fig.    26. 


Um  diese  Zeit  wird  wahrscheinlich  auch  der  schöne  frühgothische  Chor 
an  der  altereu  Abteikirche  St.  Etienne  in  Caen  begonnen;  wenn  auch 
erst  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  vollendet  sein.  Er  hat  einen  Kranz 
von  sieben  halbkreisförmigen  Kapellen,  deren  Anlage  und  Ueberwölbung 
sehr  an  die  von  St.  Remy  zu  Rheims  erinnert,  an  der  Rundung  Säuleu  mit 
Gewölbstützen  auf  den  Kapitalen,  knospenförmiges  Blattwerk,  die  Basis  mit 
dem  Eckblatte,  eine  Gallerie, 
lancetförmige  Arcadeu  und  Fen- 
ster, dabei  aber  manche  Eigen- 
thümlichkeiteu  der  englischen 
Gothik,  welche  entweder  aus  der 
gemeinsamen  Quelle  des  älteren 
normannischen  Styles  auch  hier 
entstanden,  oder  von  England 
hierher  eingeführt  sein  müssen. 
Schon  die  Gallerieöffnung  hat 
eine  englische,  dem  französischen 
Style  fremde  Form,  indem  sie 
aus  einem  grossen  Rundbogen 
besteht,  au  den  sich  die  Schenkel 
der  zwei  von  ihm  umschlossenen 
Spitzbögen  anlehnen ;  indessen 
mag  dies  durch  die  unverkenn- 
bar beabsichtigte  Accomodation  1) 
an  die  im  geraden  Theile  des 
Chores  beibehaltenen  grossen 
rundbogigen  Gallerieöffnuugeu 
des  alten  Gebäudes  entstanden 
sein.  Unzweifelhaft  aber  zeigt 
sich  englischer  Einfluss  darin, 
dass  die  Kapitale  im  Oberschiffe 

und  in  den  Seiteukapellen  unter  einer  und   zwar  kreisförmigen  Deckplatte 
zusammeugefasst  sind,  auf  welcher  die  sämmtiicheu  Gewölbrippen  ruhen,  da 

1)  Gally  Kuight,  der  diesen  Chorbau  (nach  dem  Abbe  de  la  Rue)  erst  von  1316 
bis  1354  ausgefülirt  glaubt ,  will  die  frühgothische  Form  desselben  überhaupt  aus  der 
Rücksicht  auf  die  älteren  Theile  der  Kirche  erklären.  So  weit  ist  indessen  die  Acco- 
modation niemals  gegangen,  und  die  Keuuzeichen  der  Frühzeit  des  dreizehaten  .Jahr- 
hunderts sind  hier  zu  unzweifelhaft,  als  dass  die  im  Jahre  1316  bis  1354  (d.  h.  wäh- 
rend der  Lebenszeit  eines  bestimmten  Abtes)  vermerkteu  Arbeiten  am  Chore  mehr  als 
geringfügige  Reparaturen  gewesen  sein  könnten.  Mit  dieser  Ansicht  stimmen  auch 
Caumont  im  Bull,  monum.  VIII,  p.  157,  Jolimont  in  der  Descripiion  des  monumens  de. 
Caen,  und  Osten  in  der  Wiener  Bauzeitung  v.  1845,  überein. 

Sohnaase's  Kunstgesch.    2.  Aufl.    Y.  9 


St.  Ktieiine ,    Caen. 


230  Normandie. 

diese  unorganische  Form  in  England  überaus  häufig  und  auf  dem  Continente, 
mit  Ausnahme  der  Normandie,  fast  niemals  vorkommt  i)  Altnormannisches 
Herkommen  spricht  sich  dagegen  in  den  Ketten-,  Strick  und  Zickzackorna- 
menten der  Bögen  und  Gesimse  des  Inneren  und  in  den  glänzenden  Schuppen 
an  der  äusseren  Balustrade  aus.  Hier  kommen  auch,  und  zwar  an  der  Gal- 
lerie,  sich  durchschneidende  Bögen  vor,  aber  nicht  als  kleiner  Fries,  sondern 
in  ungewöhnlich  grossen  Verhältnissen,  als  eine  Einrahmung  der  lancetför- 
migen  Fenster  und  als  eine  Vermittelung  ihrer  scharfen  Form  mit  dem 
übrigens  noch  vorherrschenden  Halbkreise -).  Die  ganze  Anlage  ist  sinnreich 
und  die  Ausführung  von  grosser  Frische  der  Empfindung,  aber  allerdings  mit 
einer  mehr  decorativen  Eichtung,  und  es  ist  bemerkenswerth,  dass  sie,  ob- 
gleich sie  offenbar  nicht  ohne  Kenntniss  der  französischen  Bauten  von  St. 
Remy  in  Rheims,  Chalons  oder  Koyon  entstanden  ist,  dennoch  nur  Strebe- 
pfeiler, aber  keine  Strebebögen  hat. 

Der  Dom  zu  Rouen,  das  mächtigste  Gebäude  der  Normandie,  ist  das 
Werk  vieler  Jahrhunderte.  Er  war  im  Jahre  1200  abgebrannt,  erst  1207 
wurde  der  Beschluss  der  Herstellung  dem  uneinigen  und  widerstrebenden 
Kapitel  durch  päpstliche  Sendschreiben  abgenöthigt.  Das  neue  Gebäude  war 
unter  der  Leitung  des  Baumeisters  Ingelramnus,  welcher  1214  auch  an  der 
Abteikirche  zu  Bec  arbeitete,  um  1235  schon  so  weit  vorgeschritten,  dass 
der  Erzbischof  darin  begraben  werden  konnte.  Die  Einweihung  erfolgte 
indessen  erst  1280,  und  einzelne  Theile  wurden  noch  später,  die  Fagaden 
und  Thürme  sogar  erst  im  fünfzehnten  Jahrhundert  vollendet^).  Diese  Spät- 
zeit ist  im  Aeusseren,  mit  Ausnahme  des  südlichen  Fagadenthurmes  (St. 
Romain),  welcher  aus  dem  zwölften  Jahrhundert  beibehalten  ist,  vorwaltend. 


1)  Caumont  Bull,  monum.  XV,  509,  XVI,  422. 

-)  Die  ganze  Choranlage  zeigt  die  Vorliebe  für  den  Halbkreis.  Die  halbrundeu 
Kapellen  und  die  Strebepfeiler  zwischen  ihnen  sind  so  angeordnet,  dass  die  Scheitel- 
punkte der  ersten  und  die  äussersten  Enden  der  letzten  innerhalb  einer  durch  sie  an- 
gedeuteten Halbkreislinie  liegen-,  diese  Linie  ist  dann  weiter  oben  in  der  Bedachung 
des  Kapellenkranzes  wirklich  dargestellt,  indem  von  den  Aussenseiten  der  Strebepfeiler 
bis  zu  einer  Console  in  der  Mitte  der  Kapellennischen  Bögen  gezogen  sind,  welche  ein 
halbkreisförmiges  Gesims  und  Dach  tragen ,  das  sich  über  die  eingehenden  Winkel 
zwischen  den  Nischen  und  Strebepfeilern  fortzieht.  Diese  Arcatur  erscheint  dann  A-er- 
doppelt  und  bereichert  an  den  sich  durchschneidenden  Bögen  der  Gallerie,  und  die 
ganze  Choranlage  giebt  also  in  allen  drei  Stockwerken  (und  zwar,  da  keine  Strebe- 
bögen bestehen,  unverdeckt)  die  Kreisform. 

3)  Den  Brand  bekunden  Sigeb.  Chron.  p.  162,  und  das  Chron.  Rotomag.  bei  Lab- 
beus.  Das  Uebrige  erzählt  die  Gallia  Christ.  Vol.  XI,  col.  58  —  62.  Weitere  Nach- 
richten bei  Gilbert,  Description  historique  de  la  cath.  de  Ronen,  1837.  Chapuy  moyen- 
äge  monumental  Nro.  37  die  Facade,  Nro.  56   das  Innere. 


Kathedrale  von  Ronen.  131 

das  Innere  trägt  dagegen  den  Charakter  des  frühgothischen  Styles.  Einiges 
weiset  auch  hier  nach  England  hin,  so  der  ge^Yaltige  Thurm  auf  der  Vierung 
des  Kreuzes  und  der  weite  Abstand  der  beiden  Westthürme  von  einander, 
welche  wie  ein  vorderes  Kreuzschiff  über  die  Seitenwände  des  Langhauses 
vorspringen;  das  Uebrige  ist  französischen  Styls,  jedoch  mit  manchen  Eigen- 
thüralichkeiten.  Das  Laughaus  ist  der  ältere  Theil.  Bemerkenswerth  ist 
darin  zunächst ,  dass  die  kräftigen  Pfeiler,  viereckigen  Kerns  und  auf  der 
Frontseite  mit  drei  hoch  hinaufsteigenden  Diensten,  wie  in  der  Abteikirche 
zu  Eu,  durch  eine  emporenartige  Architektur,  durch  Gallerieöffnungen  ohne 
wirkliche  Gallerie,  verbunden  sind.  An  Stelle  der  Emporen  läuft  ein  schmaler 
Umgang  auf  den  unteren  Arcadeu  hin,  der  sich  auch  um  die  Pfeiler  herum- 
zieht, wo  er  von  ausgekragten  schlanken  Säulchen  getragen  wird^).  Damit 
steht  denn  auch  die  sonderbare  Ausstattung  dieser  Pfeiler  in  den  Seiten- 
schiffen im  Zusammenhange;  die  Halbsäulen  haben  hier  nämlich  durchweg 
nur  die  Höhe  jener  anderen,  welche  die  scheinbare  Gallerieöffnung  tragen, 
während  auf  ihnen  noch  eine  Zahl  von  freistehenden  Säulen  als  Stütze  des 
oberhalb  der  gedachten  Gallerieöffnungen  liegenden  Gewölbes  steht,  lieber 
jener  scheinbaren  Gallerie  liegt  dann  unter  den  niedrigen  Oberlichtern  ein 
auch  ungewöhnlich  geordnetes  Triforium.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich, 
dass  sowohl  die  Gestalt  des  Pfeilers  als  alle  diese  Eigenthümlichkeiten  mit 
der  Benutzung  älterer  Ueberreste  bei  dem  Bau  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
zusammenhängen.  Etwas  jünger  und  mehr  den  französischen  Bauten  aus  dem 
zweiten  Viertel  des  dreizehnten  Jahrhunderts  verwandt  ist  der  Chor.  Er 
ist  im  Innern  durch  fünf  Seiten  des  Zehnecks  geschlossen,  und  hat  Umgang 
und  Kapellenkranz,  diesen  aber  nur  von  drei  halbkreisförmigen  Kapellen-) 
mit  dazwischen  gelegenen  Fensterwänden.  Rundsäulen  mit  Knospenkapitälen 
und  Eckblättern  der  Basis  tragen  die  steilen,  kräftig  profilirten  Scheidbögen, 
über  denen  nach  einem  hohen,  aber  aus  gleichen  einzelneu  Bögen  bestehen- 
den Triforium  die  hohen,  dreitheiligen  Oberlichter  mit  reichem  Maasswerk 
den  Raum  bis  zum  Schildbogen  der  Gewölbe  füllen.  Diese  Fenster  und  die 
Oberlichter  und  Gewölbe  des  Langhauses  gehören  jedoch  wahrscheinlich  erst 
dem  vierzehnten  Jahrhundert  au.      Ungeachtet  der  Ungleichheit  der  Theile 


^)  Abbildung  dieser  originellen  Anlage  bei  Viollet-le-Duc,  VI.  S.  18,  welcher  an- 
nimmt, dass  dieselbe  den  Zweck  haben  konnte ,  das  Aufhängen  von  Teppichen  an 
den  Festtagen  zu  erleichtern.  Es  ist  kaum  glaublich,  dass  man  für  diesen  Zweck  eine 
so  kostspielige  Anlage  gemacht;  sie  wird  hauptsächlich  ihren  Grund  in  der  Geschichte 
und  in  den  wechselnden  Intentionen  der  Leiter  des  Baues  gehabt  haben,  wie  Viollet- 
le-Duc  selbst  II.  S.  3G4  dies  bei  der  ganz  ähnlichen  Anlage  in  der  Kirche  zu  Eu  ver- 
muthet. 

2)  Die  mittlere  Chorkapelle  ist  im  14.  Jahrhundert  in  verlängerter  Gestalt  erneuert. 

9* 


232  Normandie. 

macht  das  gewaltige  Gebäude  i)  besonders  auch  durch  die  ernste  Haltung 
der  Pfeiler  und  Arcaden  des  Langhauses  einen  sehr  imposanten  und  be- 
friedigenden Eindruck,  welcher  schwerlich  bei  der  Annahme  der  kantonirten 
Säule  erreicht  sein  würde,  und  uns  daher  wieder  auf  die  Bedeutsamkeit  dieses 
älteren  Pfeilers  hinweist. 

Dennoch  wurde  gerade  jetzt  die  Rundsäulo  häufiger  angewendet.  la 
der  Stiftskirche  zu  Mortain,  welche  wahrscheinlich  in  Folge  einer  Zer- 
störung der  Stadt  im  Jahre  1216  neu  erbaut  wurde,  findet  sie  sich  bei  übri- 
gens romanischem  Detail  neben  lancetförmigen  Scheidbögen  und  Fenstern,. 
In  der  1226  geweihten  Kathedrale  von  Louviers-)  erinnern  die  kurzen 
Rundsäulen,  welche  auf  schweren  Blattkapitälen  die  Dienste  eines  quadraten 
Gewölbes  tragen,  an  Notre-Dame  von  Paris.  Indessen  fehlt  die  Gallerie 
und  statt  des  Triforiums  sind  einzelne  zweitheilige  Oeffnungen  angebracht. 
Die  Oberlichter  bestehen,  wie  in  der  Kirche  zu  Fecamp,  aus  einer  Gruppe 
von  zwei  spitzbogigen  Fenstern  ohne  Maasswerk  mit  einem  dazwischen  ge- 
stellten, aber  in  keiner  Weise  damit  verbundenen  Kreise.  Der  Chor  ist  hier 
nach  der  englischen,  aber  freilich  auch  in  vielen  kleineren  Kirchen  der  Nor- 
mandie beobachteten  Sitte  gerade  geschlossen. 

Dagegen  hat  die  frühere  Kathedrale,  jetzt  St.  Pierre,  in  Lisieux") 
welche  nach  einem  Brande  vom  Jahre  1226  errichtet  wurde,  den  Chorum- 
gang, mit  Doppelsäulen  an  der  Rundung  und  einfachen,  stämmigen,  denen 
der  Kathedrale  von  Louviers  gleichenden  Eundsäulen  im  Schiffe.  Die  Fagade 
ist  ein  gutes  Beispiel  frühgothischer  Weise.  Die  Fenster  sind  durchweg 
lancetförmig  und  ohne  MaassAverk;  die  Scheidbögen  haben  stumpfere  Zu- 
spitzung und  derbe  Profilirung. 

Von  nun  an  schliessen  sich  die  bedeutenderen  Bauten  näher  dem 
französischen  Style  an.  Die  Kathedrale  von  Seez  hat  noch  Rundsäulen, 
aber  ein  reicheres,  durch  drei  Doppelbögen  über  jeder  Arcade  gebildetes 
Triforium.  An  das  Schiff,  das,  wenigstens  in  der  ersten  Anlag(?,  noch  roma- 
nisch ist,  lehnt  sich  der  Chor  mit  fünf  stärker  heraustretenden  Kapellen 
ähnlich  denen  an  der  Kathedrale  zu  Le  Mans^).  Aehnlich  ist  der  um  diese 
Zeit  mit  Umgang  und  Kapellenkranz  erbaute  Chor  der  Kathedrale  von 
Bayeux.  Die  Kathedrale  von  Coutances  endlich,  an  welcher  um  1250 
der  Chorbau  schon  bis  zu  den  Nebenkapellen  vorgerückt  war,  gehört  schon 


1)  Die  ganze  Länge  beträgt  jetzt  408,  die  Hohe  des  Mittelseliilfs  84,  die  der  Seiten- 
schifte  42  Fuss.  Ein  Grundriss  bei  Viollet-le-Duc,  Dict.  11.  S.  362. 

2)  Gallia  elirist.  XI,  584.     Ausführiiclie  Beschreibung  bei  Inkersley  a.  a,  0.  p.  263 

—  Osten  a.  a.  0. 

^)  Wiederum  Naclirichten  und  Beschreibung  bei  Inkersley  a.  a.  0.  p.  82  und  266. 

—  Perspectivisciie  Ansicht  in  de  Caumont,    Bulletin  monumental,  Bd.  XXXIIl.     S.  88 

*)  Grundriss  bei  Viollet-Ie-Duc,  II.  S.  358. 


Eigeuthümlichkeiten  des  gothischeu  Styls.  133 

-dem  eleganteren  Style  au,  welcher  sich  iu  Paris  unter  Ludwig  dem  Heiligen 
gebildet  hatte.  Sie  hat  durchweg  schlanke  Verhältnisse,  eine  Gewölbhöhe 
von  100  Fuss,  im  Schiffe  Bündelpfeiler,  im  Chore  wieder  gekuppelte  Rund- 
säulen ^).  Der  siebenseitig  geschlossene  Chor  mit  zwei  Umgängen,  von 
welchen  der  äussere,  Avie  in  St.  Etienne  zu  Caeu,  gemeinschaftlich  mit  den  Ka- 
pellen überwölbt  ist,  zeigt  die  französischen  Einflüsse  am  sichtlichsten.  An  den 
übrigen  Theilen  treten  dagegen  die  normannischen  Elemente  stärker  hervor, 
die  Pfeiler  an  derYierung  sind  auffallend  kolossal,  sie  haben  den  mächtigen 
achteckigen  Centralthurm  aus  dem  XIII.  Jahrhundert,  der  nicht  beendigt 
nvorden  ist,  zu  tragen.  Die  beiden  mit  Helmen  gekrönten  Faradenthürme 
'erhielten  ihre  Vollendung  im  XIV.  Jahrhundert-).  Nicht  minder  elegant 
sind  die  Kapelle  des  Seminars  von  Bayeux  und  einige  kleinere  Kirchen,  wie 
die  von  Laugrune  und  Norrey  i^Dep.  Calvados)  die  von  Mouliueaux  bei 
Houen,  die  Kirche  Saint-Sauveur  zu  Petit- Angely  s). 

Die  Normandie  war  jetzt  mit  dem  königlichen  Frankreich  vereinigt, 
die  Beziehungen  zu  England  wurden  durch  die  Gesetzgebuug  Ludwigs  des 
Heiligen  gelöst,  dem  Eindringen  des  in  den  älteren  königlichen  Provinzen 
mit  Leidenschaft  gepflegten  Styls  stand  kein  äusseres  Hinderniss  entgegen. 
Dennoch  zeigt  er  hier  manche  fremde  Eigeuthümlichkeiten.  Das  Maasswerk 
und  die  reichere  Gestaltung  der  Strebepfeiler  und  Strebebögen  fanden  hier 
erst  in  ihrer  späteren  Entwickelung  Eingang.  Die  kantouirte  Säule,  welche 
in  jenen  anderen  Provinzen  so  viel  Beifall  fand,  kommt  hier  fast  gar  nicht 
vor,  sondern  stets  die  einfache  Säule  mit  den  Gewölbträgern  auf  ihrem  Ka- 
I^itäl,  und  zwar  meist  ziemlich  gedrungen,  wenn  auch  nicht  so  schwer  wie 
in  N.  D.  von  Paris.  Das  Kapital  ist  ohne  die  nähere  Beziehung  auf  die 
korinthische  Form  und  ohne  reichere  Entwickelung  des  knospenartigen 
Blattwerks.  Wenn  der  Umfang  der  Gebäude  wächst,  so  ist  dasjenige,  was 
sich  in  Folge  dessen  in  den  Formen  steigert,  nicht  die  Grösse  der  Glieder, 
sondern  eher  die  Anzahl  derselben^).  Im  Allgemeinen  ist  der  Styl  schlanker. 


1)  Diese  Kirche  und  die  von  Seez  und  Mortaiu  waren  es,  auf  welclie  die  Antiquare 
der  Normandie  ilire  Ansprüche  auf  die  einlieimische  und  frühe  Entstehung  des  Styls 
stützten.  Ueber  die  liauzeit  von  Coutances  vgl.  Gallia  christiana  XI,  col.  837  mit  den 
Bemerkungen  von  Gally  Kuight  iu  seinem  Reisewerke.  Uebrigens  haben  fasi  alle  diese 
Kirchen  in  den  Kriegen  des  vierzehnten  Jahrhunderts  Beschädigungen  und  deshalb 
spätere  Reparaturen  erhalten,  durch  welche  namentlich  der  Charakter  des  Aeusseren 
verändert  ist. 

-)  Grundriss  bei  Viollet-le-Duc,  II.  361. 

^)  De  Caumont,  Bulletin  monumental  Bd.  XX.  p.  143,  XXXII  p.  667.  An  letzter 
Stelle  Ansicht  des  Inneren.  —  Osten  a.  a.  0. 

*)  Leon  le  Cordier,  Note  sur  l'architecture  de  la  Normandie  au  Xlllme  siecle. 
Bulletin  monumental,  Bd.  XXIX.  S.  511. 


234  Normandie. 

weniger  mit  Elementen  des  antiken  Styls  gemischt,  die  horizontalen  Linien 
treten  nicht  so  stark  hervor,  die  Neigung  zu  breiten,  vollen  Formen,  welche 
den  französischen  Bauten  eigen  ist,  fällt  hier  nicht  auf.  Entschiedene  Ent- 
lehnungen aus  dem  in  England  sich  bildenden  Style  sind  seltener,  als  man 
nach  der  ursprünglichen  Stammes  Verwandtschaft  erwarten  sollte,  indessen 
kommen  die  schon  erwähnten  runden  Deckplatten  und  die  Anordnung  des 
Maasswerks  mit  parallelen  Bögen,  wie  wir  sie  in  England  näher  kennen 
lernen  werden,  auch  hier  häufig  vor^).  Jedenfalls  aber  besteht,  vermittelst 
der  Nachwirkungen  des  beiden  Ländern  gemeinsamen  früheren  norman- 
nischen Styls,  eine  gewisse  Verwandtschaft  des  Geschmacks.  Das  Lancet- 
f enster  bleibt  beliebt,  die  Ornamentation  behält  den  scharfen,  eckigen  Charaker 
der  früheren  normannischen  Schule,  der  Zickzack,  der  frei  gearbeitete  ge- 
brochene Stab  werden  noch  häufig  angewendet.  Selbst  der  ungeregelte  Ge- 
brauch menschlicher  und  thierischer  Köpfe  kommt  noch  vor;  in  der  Kirche 
von  Domblainville  vertreten  sie  an  schlanken  gothischen  Säulchen  die  Stelle 
des  Kapitals-).  Die  Fagaden  lassen  in  den  Gruppen  ihrer  Fenster  noch 
immer  das  Vorbild  des  Styls  von  St.  Etienne  erkennen,  nur  dass  die  Fenster  jetzt 
lancetförmig  und  reicher  gegliedert  sind.  Endlich  bleibt  der  Thurm  auf  der 
Vierung  des  Kreuzes  hier  wie  in  England  im  Gebrauche.  Dabei  wird  aber 
die  Ausbildung  der  Thürme  hier  mit  besonderer  Vorliebe  gepflegt;  sie  er- 
halten, selbst  bei  kleineren  Kirchen,  reich  gegliederte  Schallöffnungen  und 
einen  hohen  und  schlanken  steinernen  Helm,  und  kommen  in  dieser  Gestalt 
und  mit  vielfachen  Veränderungen  so  häufig  vor,  wie  in  keinem  anderen. 
Lande. 


Den  entschiedensten  Gegensatz  gegen  die  Normandie  bilden  die  süd- 
lichen Provinzen,  Provence  und  Languedoc.  Wenn  jene  den  neuen  Styl 
bereitwillig  empfing  und  sich  vollkommen  aneignete,  verhielten  diese  sich 
selbst  dann  noch  spröde  und  ablehnend  gegen  ihn,  als  er  schon  seine  Herr- 
schaft über  das  ganze  Abendland  erstreckte.  In  der  That  war  jener  Styl 
aus  nordischen  Bedürfnissen  entstanden.  Die*  hellere  Beleuchtung,  welche 
man  dort  suchte,  widersprach  d^n  südlichen  Gewohnheiten;  man  liebte  viel- 
mehr das  Dunkel  schattiger  Hallen,  hatte  daher  keinen  Grund,  behufs  An- 
legung der  Oberlichter  das  Tonnengewölbe  mit  dem  Kreuzgewölbe  zu  ver- 
tauschen und  brauchte  weder  Strebepfeiler  noch  Strebebögen.  Das  bisherige 
System  des  bildnerischen  Schmuckes  war  dabei  so  befriedigend,  so  sehr  dem 


^)   Vgl.  ein  Beispiel  der  letzten  Ai't  aus  dem  Chor  der  Kathedrale  von  Bayeux  in 
Caumont's  Abecedaire  I,  p.  316. 

-)   Caumont  monum.  im  Bull.  XV,  p.  99. 


Provence.  135 

einheimischen  Sinne  zusagend,  dass  man  auch  nicht  aus  decorativer  Neigung 
zu  Neuerungen  veranlasst  wurde.  Der  Spitzbogen  endlich  hatte  nicht  ein- 
mal den  Reiz  der  Neuheit,  da  man  ihn  an  Gewölben  und  auch  in  einzelnen 
Fällen  an  Fenstern  angewendet  hatte.  Er  widerstrebte  aber  der  herge- 
brachten flachen  Bedachung  und  der  antiken  Ornamentation,  die  man  bei- 
behielt, viel  zu  sehr,  als  dass  man  ihn  jemals  als  decoratives  Mittel  herbei- 
wünschen konnte. 

Ich  habe  weiter  unten  Veranlassung,  ausführlich  auf  die  Bauthätigkeit 
der  Cistercienser  einzugehen  und  die  Ursachen  nachzuweisen,  aus  welchen 
bei  ihnen  eine  eigene  Bauweise  entstand,  die  manche  Elemente  des  gothischen 
Styls  in  sich  aufnahm,  und',  bei  der  raschen  Verbreitung  des  Ordens  über 
alle  Länder,  auch  zur  Ausbreitung  dieses  Styles  beitrug.  Auch  im  südlichen 
Frankreich  traten  sie  in  dieser  Weise  auf.  Die  Klöster  Thorouet,  Sylva- 
cane,  Senauque  (Dep.  du  Var,  Bouches  du  Rhone,  Vaucluse)  in  den  Jahren 
1146  —  1148  gestiftet  1),  zeigen  in  ihren,  im  Laufe  weniger  Decennien  ge- 
bauten Kirchen  eine  sehr  übereinstimmende  Anlage,  ein  Langhaus  von  drei 
Schiffen,  Kreuzarme  und  neben  dem  eigentlichen  Chorraume,  auf  jeder  Seite 
zwei,  jedoch  der  Axe  des  Schiffs  parallel  gestellte  Kapellen.  In  Thorouet 
und  in  Senauque  ist  die  Chornische  halbkreisförmig,  in  Sylvacane  ist  auch 
diese,  an  allen  sind  die  Nebenkapellen  rechtwinkelig  geschlossen.  Die  Schiffe 
sind  mit  spitzen  Tonnengewölben  gedeckt,  die  Seitenschiffe  zwar  nicht  mit 
einem  halben  Tonnengewölbe,  aber  doch  mit  einem  unvollständigen,  so  dass 
der  innere  Bogen  bald  nach  der  Spitze  sich  an  die  Wand  des  Mittelschiffes 
anlehnt.  Das  einheimische  System  ist  daher  befolgt,  aber  so  modificirt,  dass 
Oberlichter  damit  verbunden  werden  konnten.  Die  Gurtbögen  der  Gewölbe 
rtfhen  auf  Consolen,  die  Pfeiler  sind  viereckigen  Kerns,  die  Kapitale  schmuck- 
los kelchförmig,  die  Arcaden  des  Schiffes  sämmtlich  in  breiten  Spitzbögen 
augelegt,  die  Fenster  aber  theils  rundbogig  gedeckt  theils  ganz  kreisförmig. 
Obgleich  das  südliche  Wölbungssystem  hier  die  Anwendung  des  Kreuz- 
gewölbes entbehrlich  machte,  finden  wir  in  diesen  Kirchen  doch  eine  Reihe 
von  Zügen,  die  auch  an  den  Cistercienserkirchen  anderer  Gegenden  vor- 
kommen; die  Vorliebe  für  Consolen  und  Kreisfenster,  das  einfache  Kelch- 
kapitäl,  die  eigenthümliche  Choranlage ,  den  Spitzbogen,  theilweise  den  Ge- 
brauch der  Strebepfeiler,  und  überhaupt  den  Charakter  knapper  Zweckmäs- 
sigkeit, den  diese  Ordensbauten  mit  den  frühesten  Bauten  des  •  französisch 
gothischen  Styls  gemein  haben. 

Wahrscheinlich  zeigten  fast  zwanzig  andere  Cistercienserklöster,  welche 
im  Laufe   des  zwölften  Jahrhunderts  in  der  Provence  und  im  Languedoc 


^)   Vg].  die  ßesclireibmif;  dieser  Kirclien  und  einige  Abbildungen  im  Bull,   monum, 
XVIII,  107  ff. 


J36  •  Provence  und  Langnedoc. 

entstanden;  ähnliche  Formen.  Allein  während  sie  in  anderen  Gegenden,  in 
England  und  in  Dentschland,  mehr  oder  weniger  Einfluss  auf  die  gesammte 
Bauthätigkeit  des  Landes  ausübten,  waren  sie  hier  unbeachtete  Fremdlinge, 
welche  auf  den  einheimischen  Styl  ohne  Rückwirkung  blieben. 

Diese  Lage  der  Dinge  änderte  sich  erst  nach  den  Albigenserkriegen. 
Als  das  verwüstete  Land  eine  von  Paris  aus  beherrschte  Provinz  geworden 
war,  als  nordfranzösische  Herren  von  seinen  Schlössern,  Günstlinge  des 
Königs  von  seinen  Bisthümern  und  Abteien  Besitz  nahmen,  als  auch  die  ein- 
heimischen Grossen  in  immer  nähere  Beziehungen  zu  der  nördlichen  Haupt- 
stadt traten,  wurde  der  nunmehr  schon  gereifte  und  zum  fertigen  Systeme 
ausgebildete  gothische  Styl  auch  hier  eingeführt.  .  Seine  Vorzüge  waren  zu 
auffallend,  er  entsprach  der  allgemeinen  Richtung  der  Zeit  zu  sehr,  als  dass 
man  sich  ihm  hätte  entziehen  können.  Aber  niemals  kam  man  dazu,  ihn  in 
seiner  ganzen  Kraft  und  Schönheit  anzuwenden;  die  Hand  versagte  gleich- 
sam den  Dienst,  ihr  wurde  zugemuthet,  was  ihr  nicht  natürlich  war.  Dem 
bequemen  Sinne  des  Südländers  widerstrebten  die  künstlichen  Vei'bindungen, 
die  feine  und  mühsame  Berechnung,  die  unerschöpfliche  Mannigfaltigkeit 
kleiner  Theile,  die  nur  für  den,  der  ihre  Bedeutung  fühlt,  ein  Ganzes  bildet. 
Die  Richtung  auf  das  Einfache,  Breite,  Horizontale  war  zu  allgemein,  zu 
sehr  mit  allen  Gefühlen  und  Gewohnheiten  verwachsen,  als  dass  man  die 
aufstrebenden  Verhältnisse,  den  feinen  Wechsel  verticaler  Glieder  und  Höh- 
lungen sich  wirklich  aneignen  konnte.  Man  baute  im  gothischen  Style, 
aber  nicht  mit  Lust,  nicht  mit  voller  Ueberzeugung. 

Auch  blieb  die  Zahl  der  gothischen  Kirchen  in  den  östlichen  Theilen 
dieser  Region  klein  und  die  meisten  derselben  gehören  der  späteren  Zeit 
nach  der  Beendigung  der  Albigenserkriege  an.  Bis  dahin  lässt  sich  keine 
Veränderung  des  Styls  bemerken.  Noch  St.  Andre  in  Grenoble,  obgleich 
erst  1226  gegründet,  ist  fast  ganz  romanisch,  mit  schwach  zugespitzten  Ar- 
caden  und  dem  Rundbogenfriese,  und  auch  wo  man  gothisch  baute,  geschah 
es  nur  mit  manchen  Accomodationen  an  den  früheren  einheimischen  Styl. 
Das  Tonnengewölbe  und  die  viereckigen  Pfeiler  wurden  noch  immer  häufig 
angewendet.  Die  Seitenschiffe  erhielten,  dem  früheren  Gebrauche  gemäss, 
meist  eine  dem  Mittelschiffe  nahe  kommende  Höhe;  man  bedurfte  daher 
keiner  Strebebögen  und  Fialen,  die  Oberlichter  blieben  klein.  Der  Chor 
wurde  gewöhnlich  ohne  Umgang  mit  polygonem  Schlüsse  gegeben,  das  Kreuz- 
schiff blieb  nicht  selten  fort,  ja  selbst  grössere  Kirchen  wurden  oft  ein- 
schiffig angelegt.  So  finden  wir  es  an  der  Klosterkirche  in  Vignogoul, 
unfern  Montpellier,  die  bald  nach  1220  augefangen  sein  soll,  an  St.  Bernard 
zu  Romans  in  der  Dauphine,  und  an  der  Klosterkirche  von  St.  Maximin, 
unfern  Marseille,  deren  hohe  Fenster  als  höchste  Leistungen  des  gothischen 
Styls  in  diesen  Gegenden  gerühmt  werden,  die  aber  erst  1279  angefangen 


Anwendung  des  golhischen  Styls.  •  137 

ist')  Audi  die  mächtige  Kathedrale  von  St.  Jean  zu  Lyon,  obgleich  schon 
nördlicher  gelegen  und  im  Wesentlichen  gothischen  Styls,  zeigt  durchweg 
romanische  Reminiscenzen.  Der  Chor,  der  älteste  Theil  des  gegenwärtigen 
Gebäudes  und  vielleicht  noch  in  der  ersten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts entstanden,  ist  polygonförmig  und  ohne  Umgang,  aber  in  drei 
Stockwerke  getheilt,  das  untere  aus  grossen  sintzbogigen  Fenstern  ohne 
innere  Gliederung,  das  obere  aus  Maasswerkfenstern,  das  mittlere  dagegen 
aus  einer  rundbogigen  Arcatur,  einer  Art  Triforium  mit  reichen  roma- 
nischen Säulchen,  bestehend.  Ausserdem  ist  noch  ein  Fries  mit  einer  Art 
musivischer  Verzierung  auf  weissem  Marmorgruude  augebracht.  Das  Lang- 
haus hat  die  eleganten  Formen  des  vierzehnten  Jahrhunderts,  die  Fa§ade 
ist  erst  im  fünfzehnten  vollendet,  die  brillante  Kapelle  Karls  von  Bourbon 
gehört  sogar  dem  sechszehnten  an;  aber  an  allen  diesen  verschiedenen  Thejlen 
vom  ersten  Eindringen  des  gothischen  Styles  bis  *in  die  Zeit  der  Renais- 
sance mischen  sich  noch  romanische  Formgedanken  ein.  Und  noch  mehr 
gilt  dies  von  den  südlicheren  Gebäuden  dieser  Region.  Selbst  wo  die  De- 
tails völlig  gothisch  sind,  macht  das  Ganze,  schon  durch  die  breitere  Anlage 
des  Schiffes  und  durch  das  flache  Dach,  einen  von  den  nordischen  Gebäuden 
abweichenden  Eindruck.  Wir  vermissen  die  Abstufung  der  verschiedenen 
Theile,  den  Wechsel  des  Festen  und  des  Lichten,  und  finden  statt  dessen  ein- 
fache, hohe  Mauern  mit  wenigen  und  kleinen  Fenstern,  welche,  zumal  da  sie 
oft  statt  der  Fialen  und  Balustraden  mit  Zinnen  bekrönt  sind,  ein  fast  festungs- 
artiges Ansehen  haben.  Ueberhaupt  gelang  die  Ausführung  des  gothischen 
Styls  hier  besser  in  kriegerischen  Befestigungsbauten,  als  an  Kirchen,  was 
bei  den  Modificationen  und  Beschränkungen  der  freien  Entwickelung  des 
Styls,  die  dieser  Zweck  mit  sich  bringt,  wohl  erklärbar  ist-). 

Etwas  früher  und  reiner  tritt  der  gothische  Styl. im  Languedoc  auf, 
wo  die  nordischen  Sieger  ihn  ebenso  einführten,  wie  sie  den  Städten  die 
Statutargesetzgebung  von  Paris,  die  s.  g.  Coutumes  aufnöthigten.  Schon  die 
Abteikirche  St.  Paul  in  Narbonne,  zu  welcher  1229  der  Grundstein  ge- 
legt wurde,  ist  gothischer  Anordnung;  aber  ungeachtet  ihrer  ziemlich  schlanken 
Pfeiler  und  ihrer  regelmässigen  Kreuzgewölbe  macht  sie  mit  ihren  sparsamen 
und  in  weiten  Abständen  angebrachten  Fenstern  und  ihren  schweren,  mit 
Figuren  geschmückten  Kapitalen  noch  den  Eindruck  eines  romanischen  Ge- 
bäudes.   Erst  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  entstand  in  diesen  Gegenden 


1)   Merimee,  Notes  d'un  voyag-e  dans  le  Midi,  p.  366  n.  226. 

-)  Das  Schloss  von  Beavicaire,  die  Mauern  von  Aigues-Mortes,  die  Tliürme  von 
Vilieneuve  und  Montmajour  (Merimee  a.  a.  0),  vor  allem  die  Befestigungen  von  Carcas- 
sonne,  (Archives  des  monumeiits  historiques  u.  Viollet-le-Duc,  Dict.,  an  verschiedenen 
Orten)  sind  hervorzuheben. 


138  Lang-uedoc. 

eine  Gruppe  von  Kirchen,  an  denen  die  höchste  Eleganz  des  neuen  Styls^ 
unter  directera  Einfluss  des  nördlichen  Frankreichs,  entwickelt  wurde.  Zu 
den  berühmtesten  derselben  gehören  die  Klosterkirche  von  Vallemagne^ 
1257  gegründet  und  bald  darauf  mit  einem  schönen  Kreuzgange  versehen, 
und  die  Kathedrale  St.  Just  von  Narbonne,  zu  welcher  Erzbischof  Maurin 
im  Jahre  1272  den  Grundstein  legte.  Maurin  war  dem  Hofe  Ludwigs  IX. 
nahe  getreten,  er  hatte  den  König  noch  auf  seinem  letzten  Kreuzzuge  nach 
Tunis  begleitet,  es  fehlte  ihm  daher  weder  an  Veranlassung  noch  an  Mitteln, 
den  Prachtbau,  zu  welchem  ihm  der  Papst  selbst  den  Grundstein  sendete 
und  durch  welchen  er  seine  verdächtigte  Rechtgläubigkeit  bewähren  wollte, 
durch  Meister  aus  den  Gegenden  ausführen  zu  lassen,  welche  jetzt  die 
blühendste  Bauschule  hatten.  Schon  im  Jahre  1285  war  der  Bau  so  weit 
vorgeschritten,  dass  Philipp  der  Kühne,  der  zn  Perpignan  gestorben  war, 
hier  ein  in  der  Revolution  zerstörtes  prachtvolles  Grab  erhielt;  im  Jahre  1318 
baute  man  an  den  Kapellen  des  Kranzes,  im  Jahr  1332  war  der  Chor  vol- 
lendet. Er  wird  bei  einfachen,  schmucklosen,  aber  vortrefflich  behandelten 
Formen  als  eines  der  edelsten  Werke  des  gothischen  Styls  gerühmt;  die 
gewaltige  Höhe  der  Gewölbe  (120  Fuss),  die  schlanken,  reichgegliederten 
Pfeiler,  an  denen  man  noch  die  Spuren  ehemaliger  Bemalung  erkennt,  die  hohen 
und  weiten  Maasswerkfenster  erinnern  deutsche  Beschauer  an  den  Kölner 
Dom  ^),  mit  welchem  diese  Kathedrale  leider  auch  das  Schicksal  theilte,  dass  sie 
nach  der  Vollendung  des  Chors  liegen  blieb  Erst  im  vorigen  Jahrhundert 
hat  man  den  verunglückten  und  wieder  aufgegebenen  Versuch  gemacht,  Kreuz- 
schiff und  Langhaus  hinzuzufügen.  Auch  an  diesem  ausgezeichneten  Ge- 
bäude, das  seinem  Umfang  wie  seinen  Formen  nach  in  diesen  Gegenden  als 
eine  vereinzelte  Schöpfung  dasteht,  bemerkt  man  aber  in  einzelnen  Theilen 
südliche  Eigenthümlichkeiten.  Die  Thürme,  welche  neben  dem  Chore  auf- 
steigen, sind  schwerfällig;  die  Strebepfeiler  bilden  nicht  Fialen,  sondern 
schliessen  nach  dem  südlichen  Brauch,  Kirchen  zu  befestigen,  achteckig  mit 
zinnenartiger  Bekrönung  und  sind  überdies  auffallenderweise  durch  Arcaden, 
welche  wie  Brücken  von  einem  Pfeiler  zum  anderen  gezogen  sind,  ver- 
bunden. 

Die  beiden  anderen  Gebäude,  welche  man  als  die  ausgezeichnetsten 
Leistungen  des  gothischen  Styls  in  dieser  Gegend  nennt,  die  Kathedrale 
St.  Nicaise  zu  Beziers  und  die  östlichen  Theile  der  Abteikirche  St.  Na- 
zaire  zu  Carcassonne,  sind  erst  am  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
begonnen  und  gehören  daher  grösstentheils  dem  folgenden  an.    Das  Lang- 


1)  K.  Bernhard  Stark,  Städteleben,  Kunst  und  Altertlmm  in  Frankreich,  Jena  1855. 
Vgl.  übrigens  auch  Merimee  a.  a.  0,  S.  373.  —  Grundriss  bei  Viollet-le-Duc,  II, 
S.  375.     Der  Chor  wetteifert  in  den  Verhältnissen  mit  denen  von  Beauvais    und  Köln. 


Narbonne,  Beziers,  Carcassomie. 


139 


haus  vou  St.  Xazaire  ^)  ist  romanisch,  vielleicht  theilweise  noch  herstammend 
von  dem  1096  geweihten  Bau,  mit  schweren  Pfeilern,  theils  cylindrisch,  theils 
eckigen  Kerns,  im  Mittelschiff  mit  spitzbogigen,  in  den  Seitenschiffen  mit 
schmalen  rundbogigen  Tonnengewölben.  Auch  der  Chor,  dessen  Neubau 
hauptsächlich  durch  den  Bischof  Peter  von  Roquefort  (f  1321)  betrieben 
wurde,  scheint  sich  seinem  Grundrisse  nach,  dem  alten  Bau  anzuschliessen; 
statt  der  im  gothischen  Style  beliebten  Anordnung  hat  er  nämlich  die,  welche 
hauptsächlich  durch  die  Cistercienser  im  zwölften  Jahrhundert  vorbereitet 
war.     Neben  der  in  der  Breite 

Tis    ''7 

des  Mittelschiffes  aber  ohne 
Umgang  mit  sieben  Seiten 
des  Zehnecks  heraustretenden 
Chornische  sind  nämlich  im 
Osten  des  Kreuzschiffes  auf  je- 
der Seite  drei  flache,  recht- 
winkelig schliessende  Kapellen 
angebracht,  vor  denen  dann 
noch  eine  Reihe  von  hohen  und 
kräftigen  Pfeilern  eine  Art  Sei- 
tenschiff bildet.  Dies  alles  ist 
aber  nicht  bloss  im  elegantesten 
gothischen  Style,  sondern  mit 
einer  Schlankheit  und  Eleganz 
ausgeführt,  die  fast  zu  über- 
mtithiger  Kühnheit  wird.  Sei- 
tenschiffe   und    Kapellen  sind 

nämlich  ungeachtet  ihrer  kleinen  Abtheilungen  bis  zu  der  Höhe  des 
Mittelschiffes  gesteigert  und  die  hohen  Fenster  der  ganzen  Ostseite 
stehen  so  dicht  au  einander  gereiht,  dass  das  Auge  die  dünnen  Wandpfeiler 
kaum  bemerkt.  Aber  das  Maasswerk  dieser  Fenster  und  der  beiden  grossen 
Rosen  des  Kreuzschiffes  hat  schon  nicht  mehr  die  Reinheit  des  nördlichen 
Styles,  wälirend  am  Aeusseren  des  Chors  noch  Kragsteine  in  Gestalt  von 
weiblichen  Köpfen  eine  Reminiscenz  romanischer  Decoration  geben-).  An 
der  Kathedrale  zu  Beziers  endlich  zeigt  die  Fagade  mit  ihren  viereckigen 
unverjüngten  und  zinnenbekrönten  Thürmen  und  ihrer  leeren,  bloss  durch 
eine  gewaltige  Fensterrose  durchbrochenen  Wandfläche  •^)  die  Umgestaltung 


S.  Nazaire,  Carcassoene. 


1)  Archives  des  monnments  liistoriques,  mit  Text.  —  Vgl.  den  Grundriss  bei  Viol- 
let-le-Duc,  Bd.  II,  S.  377  tf.,  und  Näiieres  IV,  S.  198  ff.  Die  Kirclie  ist  neuerdings- 
von  Viollet-le-Duc  restaurirt  worden. 

2)  Stark  a.  a.  0.  S.  180  und  Merimee  S.  418. 

^)  Eine  Abbildung  in  der  Voyage  dans  l'ancienne  France,  Languedoc. 


140  Auvergiie. 

und  Vereinfachung;  welcher  der  gothische  Styl  in  diesen  südlichen  Gegenden 
unterworfen  wurde. 

Auch  in  der  Auvergne  erhielt  sich  der  ältere  Styl  fast  in  gleichem 
Maasse  wie  in  der  Provence.  Zwar  wurde  in  Clermont-Ferrand,  unfern 
der  alten  einheimischen  Kirche  N.  D.  du  Port,  seit  1248  unter  der  Leitung 
eines  Meisters  Johannes  de  Campis  eine  prachtvolle  gothische  Kathedrale 
begonnen,  deren  Chor  schon  1285  geweiht,  deren  Schiff  nach  langer  Unter- 
brechung im  Jahre  1390  beendet  wurde  ^).  Allein  sie  war  und  blieb  ein 
Fremdling  im  Lande.  Die  Heimath  des  Baumeisters  kennen  wir  nicht,  in- 
dessen zeigt  das  Wappen  der  Königin  Bianca,  der  Mutter  Ludwigs  des  Hei- 
ligen, an  den  frühesten  Theilen  des  Baues,  dass  dieser  mit  ihrer  Unter- 
stützung und  daher  unter  dem  Einflüsse  der  nordfranzösischen  Schule  aus- 
geführt wurde.  Dieser  entsprechen  dann  auch  die  schlanken  Bündelsäulen, 
das  leicht  gehaltene  Triforium,  die  grosse  Gewölbhöhe  und  die  meisten  De- 
tails, so  dass  wir  hier  kein  einheimisches  Erzeugniss,  sondern  ein  Monument 
jener  nordischen  Schule  vor  uns  haben.  Die  Verwandtschaft  mit  der  Kathe- 
drale von  Narbonne  ist  so  gross,  dass  man  hier  denselben  Meister  zu  er- 
kennen meint-).  Dass  die  Kapellen  und  die  Seitenschiffe  mit  flachen  Ter- 
rassen statt  mit  ansteigenden  Dächern  gedeckt  sind,  dass  die  Oberlichter 
nicht  den  ganzen  Raum  zwischen  den  Pfeilern  ausfüllen,  sind  Zugeständ- 
nisse an  den  südlichen  Brauch. 


Von  diesen  südfranzösischen  Provinzen  aus  will  ich,  wie  in  der  vorigen 
Epoche,  einen  Blick  in  die  ihnen  verwandte  romanische  Schweiz  werfen. 
Die  Untersuchungen  über  das  Aufkommen  des  gothischen  Styls  in  dieser 
Gegend  sind  noch  mangelhafte^),  aber  schon  die  Kathedralen  von  Lausanne 
und  Genf  zeigen,  dass  er  hier  auf  einer  ziemlich  frühen  Stufe,  früher  als  in 
der  Provence  Eingang  fand. 

Die  Kathedrale  von  Lausanne  lässt  ungeachtet  einiger  Veränderungen 
und  Zusätze,  welche  sie  bei  Restaurationen  in  den  Jahren  1509  und  1810 
erhalten   hat,  im  Wesentlichen  einen  Bau  aus   der  Mitte  des   dreizehnten- 


»)  Michel,  rancien  Auvergne  et  le  Velay,  gieht  Abbildungen  und  Vol.  III.  p.  152 
Nachrichten.     Vgl.  auch  Gailiiabaud  Denkmäler  Vol.  III. 

2)  Viollel-le-Duc,  II,  S.  472  f.     Ebenda  Grundriss. 

3)  Das  Bd.  IV,  S.  494  erwähnte  Werk  von  Blavignac  beschränkt  sich  auf  die  ro- 
manische Zeit,  und  die  in  der  ersten  AuOage  gegebenen  Beschreibungen  der  Dome 
von  Lausanne  und  Genf  beruhten  ausschliesslich  auf  meinen  eigenen  Anschauungen. 
Neuerlicli  sind  die  schweizerischen  Monumente  Gegenstände  grösserer  Aufmerksamkeit 
geworden.     Vgl.  Ramee  l'Art  du  moyen  age  en  Snissc  in  Didron's  An.  Arch.  B.  XVI 

1856),  Lübke  Arch.  Gesch.     3.  Auil,     S.  ;519. 


Genf  und  Lausanne.  141 

Jahrhunderts  erkennen,  der  vielleicht  schon  im  zwölften  Jahhundert  begon- 
nen war  oder  Theile  aus  einem  solchen  früheren  Bau  beibehalten  hat.  Sie 
wurde  1275  geweiht.  Das  Langhaus^)  hatte  ui-sprünglich  quadrate  sechs- 
theilige Gewölbe,  von  denen  noch  eins  erhalten  ist,  starke  Bündelpfeiler, 
eckigen  Kerns  und  mit  Halbsäulen  nach  der  Richtung  der  Gewölbgurten  um- 
stellt, wechseln  mit  einfachen  oder  gekuppelten  Säulen  von  verschiedener 
Stärke.  Die  Scheidbögen  und  die  Arcaden  der  Gallerie  sind  spitz,  aber  mit 
einfacher  romanischer  Profilirung;  die  Kapitale  sämmtlich  mit  knospenför- 
migem  Blattwerk  versehen.  Die  Kreuzfagaden  sind  durch  drei  lancetförmige 
und  darüber  gestellte  kreisförmige  Fenster  belebt.  Der  Chor  endlich  ruht 
auf  sechs  Rundsäulen,  und  ist  von  einem  (wegen  des  abschüssigen  Bodens) 
niedriger  gelegenen  polygonen  Umgange  umgeben,  in  welchem  an  der  "Wand 
eine  Arcatur  mit  kannelirten  Pilastern  und  koriuthisirenden  Kapitalen  an- 
gebracht ist.  Nur  eine  Kapelle  springt  in  Gestalt  einer  kleinen  Apsis 
aus  dem  mittelsten  Joche  des  Umgangs  heraus.  Dies  scheint  der  älteste 
Theil,  wie  denn  auch  an  der  Gallerie  des  Chors  noch  Rundbögen  vorkom- 
men. Das  Portal  des  südlichen  Seitenschiffs  hat  zwischen  Ringsäulen  sechs 
Statuen,  Moses,  Johannes  den  Täufer  und  Abraham  auf  der  einen,  Petrus, 
Johannes  den  Evangelisten  und  einen  anderen  Apostel  auf  der  anderen  Seite, 
in  dem  strengen  byzantinisirenden  Style,  der  in  Frankreich  im  zwölften 
Jahrhundert  herrschte.  Wir  sehen  daher  hier  Anklänge  an  französischen 
Styl  und  mehr  an  den  von  Burgund  als  an  den  der  Provence.  —  Die  streng 
gegliederte  Fensterrose  der  südlichen  Querhausfront  hat  Villard  de  Honne- 
court  in  sein  Skizzenbuch  gezeichnet. 

Die  Kathedrale  von  Genf  hat  schwerlich  noch  Ueberreste  aus  dem 
Bau,  welcher  von  950  bis  1034  ausgeführt  wurde-),  obgleich  manche  De- 
tails noch  sehr  alterthümlich  erscheinen,  sondern  gehört  dem  Ende  des 
zwölften  und  dem  dreizehnten  Jahrhundert  an.  Das  Langhaus  erinnert  in 
seiner  Anlage  fast  an  italienische  Kirchen  gothischen  Styls,  indem  die  Ab- 
stände seiner  fünf  Pfeiler  überaus  gross,  fast  der  Breite  des  Mittelschiffs 
gleich  sind.  Diese  Pfeiler  sind  zwar  sämmtlich  gleich,  aber  übrigens  ähn- 
lich wie  die  der  Kathedrale  von  Lausanne,  sehr  stark,  mit  zwölf  Halbsäulen 
umstellt,  zwischen  denen  die  Ecken  des  Kerns  kaum  merklich  hervortreten, 
und  von  denen  die  mittleren  ununterbrochen  zum  Gewölbe  aufsteigen.  Die 
attische  Basis  hat  das  ausgebildete  Eckblatt,  die  Kapitale  sind  sämmtlich 
verschieden  und  mit  sehr  mannigfaltigem  Schmucke  ausgestattet;  bald  mit 


*)  Grundriss  bei  Lübke,  Arcli.  Gesch.  4.  Aufl.  S.  513,  nach  Aufnahme  von 
Lasius. 

-)  Wie  dies  Blavignac  Histoire  de  l'Architecture  sacree  S.  277  annimmt.  Derselbe 
giebt  übrigen  s  einen  Grundriss,  und  Taf.  LXV — LXXIJI  einige  Details. 


142  D'ß  romauisclie  Scliweiz, 

heiligen  Darstellungen,  bald  mit  Sirenen,  Vögeln,  geflügelten  Greifen  und 
anderen  grottesken  Gestalten,  bald  endlich  bloss  mit  Blattwerk  oder  Ver- 
schlingungen, stets  mit  unverkennbarer  Reminiscenz  an  das  korinthische 
Kapital.  Die  Gestalten,  Christus,  die  drei  Marien  am  Grabe,  Melchisedek, 
Abraham  und  Andere,  sind  unendlich  roh  behandelt,  die  phantastischen  Fi- 
guren, unter  denen  sich  auch  eine  Chimaera  mit  der  Namensbezeichnung 
findet,  lassen  symbolische  Beziehungen  erkennen,  aber  das  streng  stylisirte, 
reiche  Blattwerk  deutet  unzweifelhaft  auf  spätronianische  Zeit  hin.  Die 
hohen,  bald  als  Welle  bald  als  Wulst  gestalteten  Deckplatten  sind  in  ähnlicher 
Weise  mit  Palmetten  oder  Rankengewinden  ausgestattet.  Selbst  die  in  brei- 
ter Zuspitzung  hoch  aufsteigenden  Scheidbögen  sind  nicht  unverziert  geblie- 
ben, sondern  haben  wechselnden  Schmuck  von  schachbrettartigen  Viertel- 
stäben, Klötzchen  oder  Perlen.  Die  Oberlichter  bestehen  aus  Gruppen  von 
drei  Fenstern,  vor  denen  eine  freie  Arcatur  von  fünf  nach  dem  Scheitel  des 
Schildbogens  aufsteigenden  Spitzbögen  angebracht  ist.  Der  Chor  ist  mit 
fünf  Seiten  des  Zehnecks  geschlossen,  ohne  Umgang,  im  Aeusseren  mit  dem 
Rundbogenfriese,  im  Inneren  unter  den  spitzbogigen  Fenstern  mit  einer 
rundbogigen  Arcatur  auf  kannelirten  Pilastern  ausgestattet.  Auch  die  Ar- 
caden  des  Triforiums  und  die  Fenster  der  Seiten-  und  Querschifle  sind  rund- 
bogig,  aber  ebenfalls  mit  spätroraanischer  Oruamentation,  die  letzten  mit 
Säulen  und  kräftigen  Archivolten  reich  verziert.  Wir  finden  also  auch  hier, 
ungeachtet  die  ganze  Anlage  schon  dem  frühgothischen  Style  angehört,  noch 
den  plastischen  Reichthum,  aber  auch  die  rohe  Behandlung  der  Figuren  wie 
in  den  früheren  schweizerischen  Bauten.  Die  Fagade  ist  im  vorigen  Jahr- 
hundert ganz  umgestaltet,  ein  Thurm  im  Jahre  1510  erneuert,  einige  Kapel- 
len gehören  dem  vierzehnten  und  fünfzehnten  Jahrhundert  an,  der  Haupt- 
körper der  Kirche  giebt  aber  mit  seiner  frischen  und  rüstigen  Haltung  im 
Geiste  des  frühgothischen  Styls  einen  sehr  günstigen  Eindruck. 

Genf  gehörte  zur  Diöcese  von  Vienne  in  der  Provence,  aber  es  muss 
in  baulicher  Beziehung  andere  Verbindungen  gehabt  haben,  welche  die  Hin- 
neigung zum  gothischen  Style  beförderten.  Vielleicht  waren  diese  durch 
Lausanne  vermittelt,  welches  unter  dem  Erzbischof  von  Besangon  stand, 
und  somit  schon  nach  Norden  blickte.  In  der  That  gleichen  die  Oberlichter 
in  der  Kathedrale  von  Genf  denen,  welche  sich  in  der  ursprüdlich  romani- 
schen, aber  vielfach  veränderten  Kathedrale  dieser  Metropole  befinden.  Ne- 
ben diesen  Kathedralen  sind  nur  noch  ein  Paar  kleinere  Denkmäler  zu 
nennen.  Zuerst  die  Valerienkirche  zu  Sitten,  eine  Basilika  mit  ]  oly- 
gonera  Chorschluss  und  mit  Thürmen  an  Stelle  der  Kreuzarme;  die  Mittel- 
schiffjoche sind  quadratisch,  Gewölbe  und  Fenster  spitzbogig,  aber  die 
reichgegliederten  Pfeiler  aus  eckigem  Kerne  gebildet,  das  Ganze  noch  mit 
starken  romanischen  Reminiscenzen.     Die  Kirche  zu  Moudon  (Milden)  im 


Die  Bretagne.  143 

Canton  Waadt  gehört  der  Schule  der  Kathedrale  von  Lausanne  an ').  An 
ein  Langhaus  von  sechs  rechteckigen,  aber  dem  Quadrat  sich  nähernden 
Spitzbogengewölben  stösst  ein  gerad  abschliessender  Chor;  starke  cantouirte 
Kundpfeibr  tragen  breite  spitze  Scheidbögen,  das  Dach  der  Seitenschiffe 
steigt  so  hoch  empor,  dass  nur  in  der  obersten  Spitze  der  Schildbögen  für 
ein  ganz  kleines  Fenster  Raum  bleibt.  Die  Wandfläche  über  den  Arcaden 
ist  durch  eine  Art  Triforium,  eine  isolirt  stehende  Gruppe  von  drei  säulen- 
getragenen Bögen  mit  Kleeblattschluss,  belebt.  — 


Nachdem  wir  so  die  südlichen  Gegenden  überblickt  haben,  beginnen 
wir  die  Betrachtung  der  westlichen  Provinzen  Frankreichs  mit  der  nörd- 
lichsten derselben,  der  Bretagne-).  Sie  liefert  den  Beweis,  dass  das  nor- 
dische Klima  allein  nicht  genügte,  um  dem  gothischen  Style  schnellen  Ein- 
gang zu  verschaffen.  Ich  habe  schon  in  der  vorigen  Epoche  bemerkt,  dass 
diese  Provinz  sich  in  baulicher  Beziehung  erst  spät  entwickelte,  die  Spuren 
des  gothischen  Stj^ls  beginnen  daher  hier  auch  erst  nach  dem  Anfange  des 
dreizehnten  Jahrhunderts.  Sie  zeigen  aber  merkwürdiger  Weise  mehr  den 
Einfluss  englischer,  als  französischer  Gothik.  Die  Kirche  von  Beauport-^), 
w^elche,  einige  Zeit  nach  der  im  Jahre  1202  erfolgten  Verlegung  der  Abtei 
an  diese  Stelle,  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  entstanden  sein  wird, 
hat  noch  Uebergangsformen ;  schwere  Pfeiler  viereckigen  Kerns,  runde  Fen- 
ster in  den  Seitenschiffen,  spitze  Oberlichter.  Aber  ihre  Kreuzarme  haben 
nur  auf  der  östlichen  Seite  Seitenschiffe,  was  in  Frankreich  niemals,  in 
England  gewöhnlich  vorkommt,  und  das  Maasswerk  zeigt  die  in  England 
übliche  Bildung  aus  concentrischen  Bögen.  Interessant  ist  das  Kapitelhaus 
mit  seinen  überaus  schlanken,  monolithen  Säulen,  und  das  um  1250  erbaute 
Eefectorium,  welches  bei  aller  Eleganz  gothischen  Styls  noch  rundbogige 
Fenster  hat. 

Die  Kathedrale  von  DoH)  ist  völlig  englischer  Anlage;  ein  Kreuzbau 
mit  fast  gleicher  Länge  des  Laughauses  und  des  Chores,  rechtwinkeliger 
Chorschluss  mit  einem  grossen  achttheiligen  Fenster,  dahinter  eine  kleinere 


^)  Wii-  verdanken  Herrn  J.  R.  Rahn,  der  seit  längerer  Zeit  mit  einem  Speciahverk 
über  die  Denkmäler  der  Schweiz  beschäftigt  ist ,  die  Mittlieilung  einer  Aufnahme 
dieser  Kirche. 

-)  Das  Werk  über  die  Alterthümer  der  Bretagne  von  Charles  de  la  Momeraye  ist 
mic  nicht  zugänglich  gewesen;  ich  folge  hierMerimee,  Notes  d'un  voyage  dans  l'Ouest, 
den  von  Caumont  im  Bull.  mon.  XVI,  425  gegebenen  Bemerkungen  und  der  'N'oyage 
dans  l'aucienue  France,  Bretagne. 

•^)  Merimee  p.  136  und  Caumont  a.  a.  0.  S.  441,    vg],  mit  Bull.  mo:i.  XV,    p.  9. 

•*)  Merimee  S.  170  und  Caumont  S.  458. 


"l^^  Aquitanien. 

Kapelle  der  Jungfrau.  Die  Pfeiler  sind  im  Schiffe  aus  vier,  im  Chor  aus 
zehn  Säulen  zusammengesetzt,  und  tragen  mit  einem  überschlanken,  vom 
Boden  aufsteigenden  Stamme  die  Gewölbe.  Auch  die  Kapitale  und  Deck- 
platten und  die  Details  des  Triforiums  gleichen  englischen  Bauten.  Nur  die 
Leichtigkeit  der  Strebebögen  ist  diesen  fremd.  Die  Kirche  ist,  mit  Aus- 
nahme der  Portale  und  zum  Theil  der  Thürme,  ganz  in  gleichem  frühgothi- 
schem  Style  gebaut  und  wird  gegen  das  Ende  der  Epoche  angefangen  sein. 
Auch  an  der  Kathedrale  von  St.  PoI-de-Leon,  deren  Chor  und 
Frauenkapelle  erst  aus  dem  vierzehnten  Jahrhundert  stammen,  während  im 
Schiff  die  romanischen  Pfeiler  des  älteren  Baus  benutzt  sind,  findet  sich 
Maasswerk  englischer  Form.  Diese  Einwirkung  des  englischen  Styls  ist, 
da  ein  enger  politischer  Zusammenhang  nicht  bestand,  nur  durch  den  kelti- 
schen Nationalcharakter  zu  erklären,  welcher  dieser  Gegend  fortwährend 
eine  Hinneigung  zu  dem  benachbarten  Insellande  gab. 


Auch  in  den  südlicher  gelegeneu  Provinzen  des  Westens,  die  sich  von 
den  Grenzen  der  Bretagne  und  Norniandie  bis  an  die  Garonne  erstrecken, 
im  vormaligen  Herzogthum  Aquitanien,  fand  der  gothische  Styl  wenig 
Anklang.  Bei  den  hier  gehaltenen  Versammlungen  französischer  Antiquare 
mussten  die  einheimischen  Alterthumsfreunde  die  Frage  nach  dem  Vorhan- 
densein frühgothischer  Kirchen  in  den  Diöcesen  von  Bordeaux,  Saintes  und 
Angers  unbedingt  verneinen  i).  Die  Bewohner  dieser  Provinzen,  romanisirt 
wie  die  der  südlichen  Gegenden,  und  daher  in  Sprache  und  Poesie  sich  an 
diese  anschliessend,  hatten  dagegen  die  Reinheit  des  keltischen  Stammet 
in  viel  höherem  Grade  erhalten,  und  widerstrebten  mit  der  diesem  Stammes 
eigenen  Zähigkeit  dem  germanischen  Elemente.  Wir  sahen  oben,  dass  dieses 
unter  der  Herrschaft  der  Karolinger  fast  keinen  Einfluss  auf  sie'  geübt 
hatte,  dass  sie  namentlich  die  Traditionen  römischer  Architektur  noch  im 
zehnten  und  elften  Jahrhundert  bewahrten.  Die  geistige  Bewegung  des 
elften  Jahrhunderts  hatte  diesen  stationären  Zustand  zwar  gebrochen;  neue 
Formen  waren  in  Aufnahme  gekommen,  der  Spitzbogen,  den  wir  in  decora- 
tivem  Sinne  angewendet  schon  um  1100  in  Moissac  fanden,  das  Kuppel- 
system, welches  von  St.  Front  in  Perigueux  ausging,  endlich  die  phantastische 
Ornamentation  der  Fayaden,  von  der  wir  Beispiele  gesehen  haben.  Aber 
diese  Neuerungen  schlössen  sich  dem  bisherigen  Systeme  an,  vermischten 
sich  mit  den  romanischen  Traditionen,  erzeugten  nicht  das  Bedürfniss  nach 
weitereu  Fortschritten  und  wurden  mit  derselben  Beharrlichkeit  festgehalten, 
wie  früher  die  unmittelbare  römische  Ueberlieferung -).    Noch  die  Fagade 


')  Bull,  moiium.  VIII,  309,  311;  X,  568-,  VII,  522. 

-)  Noch  unter  Philipp  August  wurde    die  Kirciie  zu  Broisstu:  mit  Kuppeln    wie    in 


Aquitanien  unter  Heinrich  II.  145 

Yon  Notre-Dame  la  graude  iu  Poitiers,  die  ich  des  Zusammenhanges  wegen 
in  der  vorigen  Epoche  erwähnt  habe,  gehört  gewiss  erst  der  zweiten  Hälfte 
des  zwölften  Ja-hrhunderts  an,  und  eine  Reihe  kleinerer  Kirchen  zeigt,  dass 
man  noch  im  dreizehnten  Jahrhundert  an  vielen  Stellen  ausschliesslich  ro- 
manische Formen,  nur  in  milderer  und  mehr  harmonischer  Weise,  anwendete  ^). 

Zu  diesen  Elementen  kam  im  Anfange  dieser  Epoche  noch  ein  anderes. 
Durch  die  Vermählung  Heinrichs  H.,  Königs  von  England  und  Grafen  von 
Anjou,  mit  Eleonore,  der  Erbin  von  Poitou,  Guyenne  und  Gascogne,  im 
Jahre  1152  wurden  diese  Provinzen  nebst  den  dazwischen  gelegenen  Land- 
schaften für  Jahrhunderte  zu  einem  Ganzen  und  mit  England  verbunden. 
Zwar  war  dieses  Band  für  den  Anfang  keinesweges  ein  sehr  inniges,  aber 
der  neue  König  war  ein  Freund  der  Architektur  und  beförderte  besonders 
auch  in  diesen,  dem  Königspaare  angestammten  Besitzungen  bauliche  Unter- 
nehmungen, bei  welchen  wenigstens  einzelne  Formen  der  englischen  Archi- 
tektur um  so  eher  in  Aufnahme  kamen,  als  auch  sie  zum  Theil  keltischen 
Ursprungs  und  daher  dem  einheimischen  Geschmacke  verwandt  waren-). 
Zugleich  aber  war  durch  die  gemeinsame  Herrschaft  auch  eine  nähere  Ver- 
bindung mit  der  Normandie  begründet,  welche  allmälig  auch  dem  gothischen 
Style,  so  weit  er  hier  schon  bekannt  war,  Anwendung  verschaffte.  Es  ent- 
stand hiedurch  eine  Mischung  mannigfacher  Elemente,  in  welcher  sich  aber 
auch  wieder  der  einheimische  Geschmack  mit  seiner  Neigung  zu  breiten  und 
schweren  Formen  geltend  machte. 

Ein  Beispiel  dieser  Mischung  giebt  die  Fa§ade  der  Kirche  St.  Croix 
in  Bordeaux  3),  zu  einer  alten,  im  zehnten  Jahrhundert  gegründeten  Abtei 
gehörig,  anscheinend  aus  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts  stam- 
mend.    Der  Mittelbau,  von  zwei  unvollendeten  Thürmen  begrenzt,  hat  ein 


S.  Front  gebaut.  Vgl.  F.  de  Verneilh ,  des  iufluences  byzantines  en  France,  Aunales 
archeologiques. 

1)  Beispiele  solcher  spätromanischen  Kirchen  sind  die  von  Charlieu  (Loire),  von 
St.  Pierre  in  Chauviguy  (Poitou)  und  endlich  von  Retaud  und  Riaux  im  Saintonge.  Bull, 
monum.  VII,  582;  IX,  517;  X,  147,  559,  568.  HiJchst  merkwürdig  ist,  dass  die  Chor- 
nische an  der  Kirche  von  Retaud  eine  Zwerggallerie  nach  rheinischer  Weise  hat,  dass 
mithin  hier  im  äussersten  Westen  eine  in  Frankreich  sonst  durchaus  unbekannte  Form 
vorkommt.  Der  Berichterstatter  (X,  559)  scheint  von  ihrer  Existenz  in  anderen  Ge- 
genden nichts  zu  wissen,  und  beschreibt  und  bewundert  die  Erfindung  des  Baumeisters, 
durch  welche  er  Mauererleichterung  und  Zierde  zugleich  zu  schaffen  gewusst  habe. 
Auch  scheint  aus  den  Bemerkungen,  welche  Viollet-le-Duc,  Dict.  I,  p.  98  macht,  her- 
vorzugehen, dass  ihm  in  Frankreich  fast  nur  blinde  Arcaturen  dieser  Art  vorge- 
kommen. 

-)  Godard-Faultrier,  in  seinem  Werke  1' Anjou  et  ses  monuments,  bezeichnet  des- 
halb den  üebergangsstyl  im  Anjou  und  Poitou  als:  Style  Plantagenet,  um  auf  die 
Verbindung  französischer  und  englischer  Elemente  hinzuweisen. 

•J)  K.  Bernhard  Stark  a.  a.  0.  S.  231. 

Schnaase's  Kunstgcsch.  2.  Anfl.  V.  10 


246  Aquitanien. 

prachtvolles  Hauptportal  zwischen  zwei  schmalen  und  blinden  Seitenportalen, 
darüber  gekuppelte  Bogenfenster  und  Gallerien,  welche  zur  Aufnahme  von 
Bildwerken  bestimmt  gewesen  zu  sein  scheinen.  Die  reiche  Ornamentation 
der  Portale,  Zickzack,  Sterne,  Schnabelspitzen,  Schachbrettfriese,  lässt  den 
englisch-normannischen  Einfluss  erkennen,  auch  die  Bögen  sind  mit  dem 
Zickzack  bedeckt;  aber  die  Kragsteine  und  Blattornamente  der  Gesimse  und 
die  Gruppen  von  Halbsäulen  an  den  Stockwerken  der  Thürme  zeigen  den 
antikisirenden  südfranzösischen  Geschmack. 

In  den  nördlichen  Gegenden  Aquitaniens  war  diese  antikisirende  Rich- 
tung schon  in  der  vorigen  Epoche  mehr  in  den  Hintergrund  getreten  und 
dagegen  durch  klimatische  Ursachen  und  nordische  Einflüsse  und  zum  Theil 
durch  die  Nachwirkungen  des  fremden  Kuppelsystems  eine  grössere  Empfäng- 
lichkeit für  gothische  Formbildung  vorbereitet.  Dies  zeigt  sich  besonders 
an  einem  Monumente,  dessen  Entstehung  unmittelbar  an  Heinrich  II.  an- 
knüpft, und  dessen  Geschichte  für  diese  Provinz  überaus  wichtig  ist,  an  der 
Kathedrale  von  Poitiers  ^).  Der  Neubau  derselben  wurde  im  Jahre  1162, 
anscheinend  ohne  dringende  Veranlassung,  während  der  Anwesenheit  der 
einheimischen  Fürstin  Eleonore  und  ihres  Gemahls,  mit  Unterstützung  dieses 
königlichen  Paares  begonnen-),  schritt  dann  aber  überaus  langsam  fort,  so 
dass  die  endliche  Einweihung  des  vollendeten  Gebäudes  erst  im  Jahre  1379 
stattfand.  Indessen  ergiebt  sich  aus  den  Feierlichkeiten  dieses  Aktes  selbst, 
dass  eine  provisorische  Weihe  lange  vorher  stattgefunden  haben  muss,  und 
die  Kirche  längst  im  Gebrauche  gewesen  war^).  Auch  lässt  der  Styl  der 
einzelnen  Theile  keinen  Zweifel  darüber,  dass  Chor  und  Kreuzarme  noch  im 
zwölften,  die  unteren  Mauern,  die  Grundlage  der  Pfeiler  und  die  östlichen 
Abtheilungen  des  Schiffes  im  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts  entstan- 
den und  nur  bei  dem  Ausbau  der  oberen  Theile  desselben  längere  Pausen 
eingetreten  sind.  Die  Anlage  ist  sehr  einfach,  aber  doch  sehr  ungewöhnlich; 
sie  hat  nämlich  bei  geradem  Chorschlusse  zwar  die  Gestalt  eines  Kreuzes, 
aber  nicht  in  gewohnter  Weise.     Der  Hauptstamm  dieses  Kreuzes,  der  also 


^)  Auber,  Histoire  de  la  Cath.  de  Poitiers,  Paris  1849,  2  Bände  mit  einigen  (frei- 
lich in  architektonischer  Beziehung  nicht  selir  befriedigenden)  Zeichnungen.  —  Viollet- 
le-Duc,  II,  p.  370  f.  und  IX,  p.  253  f.,  mit  Abbildungen. 

2)  Inkei:^iey  S.  67  und  Auber  p.  72.  Urkundliche  Bestätigungen  dieser  auf  alter 
Tradition  beruhenden  Nachricht  scheinen  nicht  vorhanden  zu  sein. 

•'')  Auber  a.  a.  0.  II,  122.  Man  brächte  allen  Schmuck  der  Altäre  und  die  Re- 
liquien, welche  die  Kirche  bewahrte,  einstweilen  in  eine  andere  Kirche,  damit  nichts 
andeute,  dass  dese  Stätte  vermöge  einer  vor  fast  zweihundert  Jahren  eriheilien  Weihe 
dem  Cultus  gedient  habe.  Die  ausführliche  Erzäblcng  zeigt  deutlich,  dass  die  Kirche 
schon  seit  langer  Zeit  im  Gebrauche  war,  und  giebt  einen  sehr  augenscheinlichen  Be- 
weis dafür,  dass  das  Datum  der  Weihe  keineswegs  eiu' n  zuverlässigen  Aiilialispunkt 
für  die  Entstellungszeit  des  Gebäudes  darbietet. 


Kathedrale  von  Püitiers. 


147 


Fig.  28. 


^as  Langhaus  und  den  Chor  bildet,  besteht  nämlich  aus  drei  Schiffen  von 
fast  gleicher  Breite,  welche  durch  je  sieben  Pfeiler  von  durchweg  gleichen 
und  ungefähr  auch  der  Schiffbreite  gleichen  Abständen  geschieden  sind. 
Dieser  ganze  Raum  zerfällt  also  in  vierundzwanzig  ähnliche  Gewölbfelder, 
und  hat,  da  die  auf  der  fünften  Arcade,  von  Westen  gerechnet,  ange- 
setzten Kreuzarme  nur  ungefähr  die  Grösse  eines  Gewölbquadrates  haben, 
kein  die  ganze  Kirche  theilendes  Querschiff.  Die  Kreuzarnie  erscheinen 
vielmehr  nur  als  angesetzte  Kapellen,  Dieser  so  überaus  einfache  Plan  ist 
nun  aber  sogleich  mit  der  eigenthüm- 
lichen  Unregelmässigkeit  verknüpft, 
dass  die  Schlussmauer  des  Chores 
schmaler  ist,  als  die  der  Fa9ade  (90 
zu  105  im  Lichten),  und  die  Seiten- 
inauern  mithin  nicht  parallel  laufen, 
sondern  von  Osten  nach  Westen  be- 
deutend divergiren.  Diese  sonderbare 
Anlage  ist  dabei  aber  so  consequent 
durchgeführt,  dass  sie  nicht  füglich 
durch  eine  blosse  Nachlässigkeit  ent- 
standen sein  kann;  bei  einer  solchen 
würden  die  stumpfen  Winkel,  mit  de- 
nen die  Seitenmauern  von  der  Chor- 
wand abgehen,  nicht  völlig  gleich  aus- 
gefallen sein.  Man  wird  sie  also  für 
beabsichtigt  halten  und  dadurch  er- 
klären müssen,  dass  die  Erbauer  durch 
diese  Verengung  nach  Osten  zu  eine 
ähnliche  Wirkung  erreichen  wollten, 
wie  sie  bei  anderen  Kirchen  die  Chor- 
nische gab,  eine  Concentration  der 
heiligsten  Stelle,  eine  perspectivische 

Nöthigung  für  die  Gemeinde,  das  Auge  nach  ihr  zu  richten  i).  Eine 
zweite  Eigenthümlichkeit  des  Gebäudes  ist,  dass  es  durchweg  fast  gleich- 
hohe Schiffe  hat.  Zwar  beträgt  die  (xewölbhöhe  des  Mittelschiffes  im 
westlichen  Theile  der  Kirche  etwa  90,  die  des  Chores  und  der  Seiten- 
schiffe etwa  75  Fuss,  aber  diese  Differenz  gestattete  doch  keine  Oberlichter 
und  wirkt  mithin  fast  wie  völlige  Gleichheit  der  Höhe.  Man  kann  indessen 
zweifeln,  ob  dies  ursj  rünglich  beabsichtigt  oder  nur  im  Laufe  des  Baues 


1"  ■-  -^-^  '1 I 

Kathedrale  von  Poitiers. 


j,ö   i'LsfreT, 


^)  Im  geringeren  Grade  findet  man  eine  solche  Verengung  nach  Osten  zu  anch  in 
■anderen  Fällen,  z.  ß.  au  dem  Langhause  von  St.  Michele  in  Pavia. 

10* 


248  Aquitanien. 

wegen  Unzulänglichkeit  der  Mittel  beschlossen  worden.  Ein  Schriftsteller 
des  sechszehnten  Jahrhunderts  spricht  sich  für  die  letzte  Annahme  aus; 
man  sehe,  bemerkt  er,  an  den  Strebepfeilern,  dass  Strebebögen  und  mithin 
die  Anlage  eines  höheren  Mittelschiffes  im  Plane  gelegen  habe^).  Er  hat 
Recht,  wenn  er  von  dem  westlich  des  Kreuzschiffes  im  dreizehnten  und  vier- 
zehnten Jahrhundert  ausgeführten  Theile  der  Kirche  spricht,  denn  hier  sieht 
man  wirklich  auf  den  Strebepfeilern  die  Anfänge  weiterer  Absätze,  die  dar- 
auf hindeuten.  Allein  anders  verhält  es  sich  mit  der  östlichen  Hälfte  des 
Gebäudes,  denn  hier,  am  Chor  und  an  den  Kreuzarmen,  sind  die  kräftigen 
Strebepfeiler  mit  der  Brüstungsmauer  des  Daches  durch  ein  Gesims  geschlos- 
sen; auch  lässt  die  Gestalt  der  Kreuzarme,  die  Decoration  der  Schlussmauer 
des  Chores  so  wie  die  schon  bedeutende  Höhe  der  Seitenschiffe  des  letzten 
deutlich  erkennen,  dass  man  keine  Erhöhung  des  Mittelschiffes  beabsichtigt 
hat.  In  der  That  ist  eine  solche  Anlage  in,  dieser  Gegend  weniger  über- 
raschend, da  auch  die  älteren  Kirchen  (selbst  N.  D.  la  grande  und  andere 
in  dieser  Stadt)  drei  Schiffe  ohne  Oberlichter  und  unter  einem  Dache  haben. 
Erst  als  der  gothische  Styl,  dem  dies  fremd  war,  zur  Anwendung  kam,  wird 
man  daher  daran  gedacht  haben,  wenigstens  dem  Langhause  die  gewöhnliche 
Anlage  zu  geben,  ein  Plan,  auf  den  man  dann  wiederum  später  verzichtete,, 
um  die  endliche  Vollendung  der  Kirche  nicht  länger  aufzuhalten-).  Auf 
diese  Weise  entstand  dann  hier  die  Anlage  gleichhoher  Schiffe,  die  sich,. 
ausserdem  in  Frankreich  in  keiner  Kathedrale,  ja  selbst  bei  keiner  grösse- 
ren Kirche  findet^). 

Chor  und  Kreuzschift'  sind  noch  durchaus  rundbogig,  von  gewaltiger 
Mauerdicke,  innerhalb  welcher  in  den  drei  Schiffen  des  Chores  und  in  den 
Kreuzarmen  auf  der  östlichen  Seite  Nischen  angebracht  sind.  Dieser  ältere 
Theil  des  Gebäudes  hat  ein  ziemlich  kriegerisches,  aber  nicht  ungefälliges 
Ansehen;  der  Unterbau  steigt  ohne  Fenster  oder  sonstige  Belebung  bis  zu 
bedeutender  Höhe  auf,  worauf  dann  erst  auf  einem  kräftigen,  aber  durch 


1)  Bouchet,  Annales  d'Aquitaine,  bei  hikersley  a.  a.  0.  p.  67.  Voyre  na  este  pour- 
suyvy  Selon  la  prämiere  entreprinse,  car  la  voulte  du  niilieii  ilevoit  estre  a  arcs  bou- 
tans  et  dessus  les  aatres  deux  voultes  comme  on  peult  veoyr  p.  les  piliers  des  dictz 
arcs  boutans. 

2)  Der  Verlasser  der  S.  146  Nr.  1  angelührten  weitläufigen  Monographie  berührt  diese 
Frage  mit  keiner  Sylbe,  erwähnt  indessen  bei  der  genauen  Beschreibung  des  ganzen  Baues 
einer  oberhalb  der  Gewölbe  auf  den  Pfeilern  des  Schiif es  ruhenden  Mauer  mit  Oeffnungen,. 
welche  jetzt  das  Dach  stützt.  Eine  sachverständige  Untersuchung  würde  vielleicht  die 
Ueberzeugung  gewähren,  dass  sie  für  das  Oberschiff  bestimmt  gewesen,  aber  auch,  dass 
sie  sich  oberhalb  des  Chores  nicht  findet. 

^)  An  kleineren  Kirchen  sollen  sich  auch  in  Frankreich  gleichhohe  Schiffe  finden -y 
man  hat  mir  namentlich  die  Kirche  von  Vermanton,  unfern  Auxerre,  genannt. 


Kathedrale  von  Poiliers. 


149 


-eine  einfache  Welle  gebildeten  Gesimse  das  etwas  zurücktretende  Stockwerk 
der  ziemlich  hohen  Fenster  ruht.  An  der  Chorwand  stehen  hier  drei,  den 
Schiffen  entsprechende,  weite,  rundbogige  Fenster,  deren  Kämpfergesimse 
durch  eigenthümliche,  in  die  Mauer  eingelassene  Zwergsäulen  mit  dem  Ge- 
-simse  des  dritten  Stockwerks  verbunden  ist,  welches  dann  durch  schlanke 
Blendarcaden  belebt,  an  den  Ecken  von  achteckigen  Thürmchen  flankirt,  und 
über  den  Seitenschiffen  mit  einer  schwachen  Brüstungsmauer,  über  dem 
Mittelschiffe  mit  einem  nie- 
drigen Giebel  bekrönt  ist.  '^'  '"'' 
Die  Seitenwände  des  Chors 
und  das  Kreuzschiff'  haben 
zwischen  den  sehr  mäch- 
tigen Strebepfeilern  hohe 
gekuppelte  Rundbogen- 
fenster. .Jenseits  des 
Kreuzes  ist  diese  Anord- 
nung fortgesetzt,  nur  dass 
die  Fenster  hier  theils  ge- 
kuppelt und  in  Lancetform, 
theils  zweitheilig  mit  ein- 
facherem, theils  vier-  oder 
sechstheilig  mit  reicherem 
Maasswerk  gebildet  sind, 
4ind  dass  die  Mauerkrönung 
statt  der  einfachen  Krag- 
-steine  des  älteren  Baues 
-ein  mit  gothischem  Blatt- 
werk verziertes  Gesims , 
statt  der  schlichten,  un- 
durchbrochenen Brüstungs- 
mauer eine  Balustrade  von 
Vierpässen  erhalten  hat. 
Wir  sehen  daher  in  der 
Terschiedenheit  dieser 
"Theile ,  besonders  in  der 
von  Osten  nach  Westen , 
■der  Fensterbildung 


Kathedrale  von  Poitiers. 


der  Fenster,  das  Fortschreiten  des  Baues 
gewissermaassen  eine  fortlaufende  Geschichte 
Die  Fagade,  von  zwei  Thürmen  ungleicher  Grösse  und 
"Stellung  flankirt,  namentlich  ihre  drei  reichgeschmückten  Portale  und  die 
grosse  Rose,  gehören  dem  vierzehnten  Jahrhundert  an,  während  zwei  andere, 
am  Langhause  nächst  den  Kreuzarmen  angebrachte  Eingänge  mit  aus- 
serordentlich   schöner    Sculptur    aus    dem   dreizehnten    stammen    möchten. 


;[50  Aqnitanien. 

Im  Inneren  ist  zunächst  eine  sehr  zierliche  Arcatur  zu  erwähnen^  welche^ 
im  ganzen  Bau  gleich,  an  den  Wänden  angebracht  ist  und  in  jedem  Joche 
aus  vier  rundbogigen  Blenden  besteht,  die  ein  Gesimse  tragen  und  so  einen 
schmalen  Umgang  unter  den  Fenstern  bilden.  Die  Kragsteine  dieses  Gesim- 
ses sind  sämmtlich  mit  zierlich  gearbeiteten  Figürchen  von  höchst  verschie- 
dener Bedeutung  geschmückt,  theils  Engel  und  symbolische  Gestalten,  theils 
Karrikaturen  und  Burlesken.  Die  Pfeiler  sind  viereckigen  Kerns  mit  vier 
Front-  und  vier  Ecksäulen,  mit  Eckblättern  und  Knospenkai^itälen.  Die 
Gewölbegurten  sind  durchweg  breit,  eckig,  mit  schwachen  Rundstäben  einge- 
fasst;  die  Gewölbe  haben  vier  Diagonalrippen,  einige  sogar  ausserdem  noch 
vier  Scheitelrippen^  dabei  aber  eine  der  Kuppel  ähnliche  Ausführung.  Man- 
ches erinnert  an  englische  Bauten;  die  solide,  trotzige  Schwere  des  Unter- 
baues und  der  Strebepfeiler,  der  gerade  Schluss  und  die  Länge  des  Chors 
endlich  auch  die  Arcatur  des  unteren  Stockwerks  im  Inneren  mit  ihren 
Kragsteinen  und  Sculpturen,  und  selbst  das  achttheilige  Rippengewölbe,  das 
in  England  so  gewöhnlich  ist.  Indessen  fehlen  doch  die  charakteristischen 
Merkmale  des  englischen  Styls;  die  Pfeilerbildung,  die  gleiche  Höhe  der 
Schiffe  sind  eher  aus  einheimischen  Vorgängen  zu  erklären,  das  achteckige 
Gewölbe  und  jene  Arcatur  kommen  in  der  Uebergangszeit  an  Kirchen  dieser 
Gegend  auch  sonst  vor,  und  selbst  der  gerade  Chorschluss  war  hier  nicht 
unbekannt.  Es  sind  daher  höchstens  englische  und  einheimische  Elemente 
gemischt  und  zu  einem,  man  kann  nicht  leugnen,  sehr  eigenthümlichen  Gan- 
zen sinnreich  verbunden.  Aber  auf  jeden  Fall  ist  in  der  ganzen  Anlage,. 
Haltung  und  Ausstattung  der  östlichen  Theile  noch  keine  Annäherung  an 
den  gothischen  Styl  zu  erkennen,  und  wir  sehen  vielmehr  sehr  deutlich,  dass 
er  erst  später  dazu  getreten  ist  und  sich  an  Fenstern  und  Portalen  geltend 
gemacht,  endlich  aber  doch  dem  einheimischen  Provinzialismus  a«como- 
dirt  hat. 

Ich  habe  schon  früher^)  der  Kathedrale  St:  Maurice  von  Angers^ 
als  eines  in  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhundert  entstandenen  Ge- 
bäudes erwähnt,  welches  noch  die  Nachwirkung  des  Systems  der  Kuppelge- 
bäude zeigt,  wie  es  von  St.  Front  in  Perigueux  ausgegangen  war.  Bestimmte 
historische  Nachrichten,  welche  die  erwähnte  Bauzeit  ergeben,  besitzen  wir 
zwar  nicht,  und  die  Localforscher  geben  ein  älteres  Datum  an.  Allein  der 
Styl  deutet  auf  diese  Zeit,  und  es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  Heinrich  II.,. 
der  in  der  Normandie  so  viel  baute  und  sich  an  der  Kathedrale  von  Poitiers 
betheiligt  hatte,  die  Hauptkirche  seines  Erblandes,  Anjou,  in  gleicher  Weise 
begünstigt  und  so  den  Neubau  des  Langhauses  veranlasst  haben  wird,  der 
dann  im  letzten  Viertel  des  zwölften  Jahrhunderts  mit  der  Ausstattung  des 

')  ß(l  IV,  S.  535. 


Kathedrale  vou  Angers.  151 

Westportals  beendet  sein  mag.  Dies  ist  nämlich  im  stumpfen  Spitzbogen 
geschlossen  und  durch  Statuen  von  langgedehnter  Gestalt  und  dichtgefalteten, 
reichverzierten  Gewändern  in  dem  strengen  Style  der  mittleren  Provinzen 
Frankreichs  geschmückt,  und  unterscheidet  sich  sehr  wesentlich  vou  der 
üppigeren  Ornamentation  im  Poitou.  Das  Langhaus ' selbst  ist  einschiffig*), 
aber  mit  der  bedeutenden  Breite  von  50  Fuss,  und  durch  drei  gewaltige 
kuppeiförmige  Kreuzgewölbe  gedeckt,  welche  auf  den  Säulenbündeln  der 
Wandpfeiler  ruhen,  zwischen  welchen  die  Mauer,  wie  in  jenen  Kuppelkirchen, 
eine  Reihe  von  flachen,  von  hohen  Spitzbögen  umgrenzten  Wandnischen,  und 
über  diesen  unter  jedem  Schildbogen  zwei  rundbogige  Fenster  enthält.  Die  öst- 
lichen Theile,  Kreuzschiff  und  Chor,  sind  dem  Langhause  nicht  gleichzeitig, 
sondern  erst  in  den  Jahren  1225  bis  1240  gebaut,  haben  aber  im  Wesent- 
lichen dieselbe  Anordnung,  nur  dass  alle  Fenster  ^paarweise  und  mit  einer 
darüber  gestellten  Rosette  gruppirt)  spitzbogig  sind  und  an  die  Stelle  jener 
Wandnischen  eine  reich  verzierte  Arcatur,  am  Anfange  des  Chors  von  run- 
den, weiterhin  von  spitzen  Bögen  getreten  ist.  Die  Details  sind  dabei  im 
Wesentüchen  romanisch;  die  Kapitale  noch  mit  der  Reminiscenz  des  korin- 
thischen und  mit  Köpfchen  von  Engeln,  Königen,  Bischöfen  zwischen  dem 
Laubwerk,  die  Profile  der  Bögen  und  Gurten  aus  Rundstäben  und  Zickzack 
bestehend.  Die  Strebepfeiler  gleichen  den  Waudpfeileru  jener  Kuppelkir- 
chen, und  für  Strebebögen  war  natürlich  keine  Stelle.  Einzelnes  weiset  nach 
England  hin;  so  kommt  zwischen  den  Säulchen  der  Arcaden  jenes  Zahnor- 
nament vor,  welches  im  frühenglichen  Style  gerade  an  solchen  Stellen  wahr- 
haft wuchert.  Noch  um  1240  hat  also  der  gothische  Styl  im  Anjou,  unge- 
achtet in  dem  benachbarten  Maus  der  Chor  schon  seit  1217  in  den  reinsten 
Formen  dieses  Styls  erstand,  noch  keiueu  Eingang  gefunden. 

Einzelne  seiner  Elemente,  namentlich  die  praktisch  nützlichen,  waren 
indessen  doch  schon  an  einigen  Stelleu  angewendet,  wahrscheinlich  durch 
klösterliche  Vermitteluug.  Dies  zeigt  die  merkwürdige  Kollegiatkirche  von 
Dorat  (Haute-Yienne)  in  der  ehemaligen  Provinz  Marche,  nahe  an  der  Grenze 
des  Poitou  gelegen,  jetzt  der  Sitz  eines  Seminars.  Die  grosse  und  vollstän- 
dig erhaltene  Kirche  hat  die  gewöhnliche  Anlage;  ein  Langhaus  mit  schma- 
len Seitenschiffen,  den  Chor  mit  Umgang  und  drei  radianten,  das  Kreuzschiff 
mit  zwei  anderen,  dem  Chore  parallelen  Kapellen.  Unter  dem  Chore  in  sei- 
ner ganzen  Ausdehnung  liegt  eine  Krypta.  Auf  der  Vorhalle  des  Mittel- 
schiffes erhebt  sich  ein  schwerer,  fast  quadrater  Thurm,  auf  der  Vierung 
des  Kreuzes  ein  schlankerer,  achteckiger,  dessen  Kuppel  im  Innern  ungefähr 
100  Fuss  über  dem  Boden  liegt,  und  dessen   steinerner  Helm,  offenbar  das 

1)  Grundriss  bei  Viollet-le-Duc,  II,  S.  369  und  bei  Felix  de    Verneilh,  Arch.  Byz. 
ea  France.   Tab,  XV. 


252  Aquitanien. 

Werk  einer  etwas  späteren  Zeit,  die  Höhe  von  190  Fuss  erreicht.  Die  Sei- 
tenschiffe sind  mit  romanischen  Kreuzgewölben,  das  Mittelschiff  ist  mit  einem 
spitzbogigen,  durch  Quergurten  verstärkten  Tonnengewölbe  bedeckt.  Schwere, 
viereckige,  auf  jeder  Seite  mit  einer  Halbsäule  besetzte  Pfeiler  trennen  diese 
Schiffe,  während  im  Chor  monolithe  Rundsäulen  stehen.  Die  inneren  Arca- 
den  sind  spitz,  die  Fenster  meistens  rundbogig;  nur  am  Chore  mit  kleinen 
Säulchen  versehen,  die  Fa§ade  ist  dagegen  mit  stumpfgespitzten  Blendarca- 
den  überzogen,  und  das  Westportal  von  vier  vertieften  Archivolten  über- 
AYölbt,  welche,  wie  es  im  mittleren  Frankreich  nicht  selten  vorkommt^),  in 
einer  den  rheinischen  Fächerfenstern  ähnlichen  Weise  gebrochen  und '  in 
mehrere  kleine  Bögen  (hier  in  sieben)  aufgelöst  sind.  Oberlichter  fehlen; 
die  Kapitale  sind  mit  Gestalten,  Blattwerk  oder  anderen  Ornamenten  ziem- 
lich roher  Arbeit  verziert;  das  Gesims  ruht  durchweg  auf  schlichten  Conso- 
len.  Soweit  also  Alles  im  alten  Style.  Aber  die  Wände  der  Seitenschiffe 
und  Kapellen  sind  mit  Strebepfeilern  bewehrt,  für  den  Wasserablauf  von  dem 
flachen  Dache  der  Seitenschiffe  ist  durch  steinerne  Rinnen  gesorgt,  und  der 
ganze  Bau  macht  durch  seine  schwere,  aber  sorgfältige  Construction  einen 
ähnlichen  Eindruck,  wie  die  Gebäude  der  ersten  Stufe  des  frühgothischen 
Styls-).  Er  wird  daher  wohl  nicht  eher  als  am  Ende  des  zwölften  Jahrhun- 
derts entstanden  sein,  und  begründete  hier  gewissermaassen  eine  Schule, 
indem  sich  in  der  Umgegend  mehr  als  fünfzig  Kirchen  sehr  ähnlicher  Art 
finden,  unter  denen  die  Klosterkirche  zu  Benevent  im  Departement  der 
Creuse  fast  als  eine  Kopie  im  verkleinerten  Maassstabe  erscheint.  Eine 
weitere  Ausbildung  in  der  Richtung  des  gothischen  Styls  zeigt  sich  indessen 
nicht,  und  man  blieb  bei  dieser  schweren  und  einfachen  Bauweise,  bis  der 
völlig  ausgebildete  Styl  auch  hier  als  ein  Fremdling  eindrang. 

Dies  geschah  nicht  eher  als  um  die  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts, 
wo  wir  ihn  an  der  Kathedrale  St.  Andre  in  Bordeaux^)  finden.  Es  ist 
ein  kolossales  Gebäude,  an  welchem  vom  elften  bis  vierzehnten  und  sogar, 
nachdem  es  im  Jahre  1427  durch  ein  Erdbeben  gelitten  hatte,  bis  zum 
sechszehnten  Jahrhundert  gebaut  wurde,  und  das  daher  sehr  verschieden- 
artige Theile  enthält.  Die  West fagade  (1525)  gehört  der  Renaissance  an,  die 
Kordfagade  des  Kreuzes  mit  hoher  Portalnische  und  schlanken  Thürmen  der 


^)  Graf  Montalembert  (Ana.  arch.  XIII,  p.  327)  führt  Kirchen  zu  Menat  und  St.  Hi- 
laire-la-Croix,  beide  im  Dep.  Puy  de  Dome,  an,  welche,  obgleich  seiner  Ansicht  nach 
aus  der  ersten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts  herrührend,  diese  Verzierung-  haben. 
Auch    an  der  Kathedrale  von  Puy  findet  sie  sich. 

-)  Nachricht  von  dieser  Kirche  und  einige  Abbildungen  giebt  Texier,  damals  Oberer 
des  dort    errichteten  Seminars,  in  den  Annales  archoologiques,  Bd.  XII,  S.  250  ff. 

^)  Bulletin  monumental  VIII,  240.  Bourasse,  Cathedrales  francaises,  p.  572.  Bern- 
hard Stark  a.  a.  0.     S.  234. 


Kathedrale  von  Bordeaux.  153 

Herstellung  nach  jenem  Erdbeben,  die  übrigen  östlichen  Theile,  namentlich 
der  Chor  mit  Umgang  und  sieben  radianten  Kapellen,  zeigen  die  reichen, 
aber  noch  reinen  Formen  des  vierzehnten  Jahrhunderts.  Nur  das  Langhaus 
stammt  aus  der  gegenwärtigen  Epoche;  seine  Anlage  fällt  sogar  noch  in  die 
Frühzeit  derselben,  denn  sie  verräth  die  Schule  von  St.  Front.  Es  ist  näm- 
lich, wie  jene  Kuppelkirchen,  einschiffig  und  dabei  von  der  im  gothischen 
Style  unerhörten  Breite  von  54  Fuss,  aber  auch  von  der  kolossalen  Länge 
von  228  Fuss,  und  erscheint  daher,  obgleich  seine  sieben  Gewölbe  die  Höhe 
von  85  Fuss  erreichen,  im  Vergleich  mit  den  gothischen  Kathedralen  schwer- 
fällig und  monoton.  Am  Fusse  der  Wände  läuft  im  Innern,  wiederum  wie 
in  jenen  Kuppelkirchen,  eine  rundbogige  Arcatur,  über  welcher  die  Ober- 
lichter aus  zwei  Lancetfenstern  mit  einer  dazwischen  gestellten,  aber  noch 
kein  Maasswerk  bildenden  Rosette  bestehen.  Dieser  Theil  scheint  der  Bau- 
zeit von  1252  zuzuschreiben  und  beweist,  dass  sich  noch  um  diese  Zeit  der 
Nachahmung  nördlicher,  gothischer  Formen  romanische  Reminiscenzen  bei- 
mischten. Eine  sehr  elegante  Arbeit  dieser  Zeit  und  reineren  Styls  in  der- 
selben Stadt  ist  dagegen  das  laut  Inschrift  von  dem  im  Jahre  1260  verstor- 
benen Canonicus  Raimundus  a  fönte  gestiftete  südliche  Seitenportal  der 
ursprünglich  romanischen,  aber  vielfach  veränderten  Kirche  St.  Severin, 
welches  unter  einer  in  Gestalt  eines  halben  Achtecks  vortretenden  Halle 
liegt  und  aus  einer  Gruppe  von  drei  hohen  Spitzbögen  besteht.  Nur  unter 
dem  mittleren,  der  höher  emporsteigt,  öffnet  sich  ein  breites  Portal  und  zwar 
nicht  nach  gewohnter  Weise  unter  geradem  Balken,  sondern  unter  einem 
reich  mit  Blattwerk  verzierten  Kleeblattbogen.  Die  Seitenfelder  sind  ohne 
Thüröffnung,  wohl  aber  reich  geschmückt  mit  Statuen  zwischen  Säulen.  Die 
Giebelfelder  und  Archivolten  der  oberen  Bögen  sind  ebenfalls  reich  mit 
Bildwerk  überdeckt  ^). 

Die  höchste  Leistung  des  gothischen  Styls  in  diesen  Gegenden,  die  Ka- 
thedrale St.  Etienue  von  Limoges,  steht  mi^  zwei  früher  beschriebenen 
südlichen  Kathedralen,  denen  von  Clermont  und  Narbonne,  im  nächsten  Zu- 
sammenhange. Sie  hat  den  Chorschluss  mit  Umgang  und  fünf  unter  sich 
gleichen  Kapellen  und  wetteifert  an  edler  Ausbildung  der  Formen  mit  den 
nördlichen  Domen,  von  denen  sie  künstlerisch  abhängig  ist  -).  Sie  wurde  aber 
erst  1270  begonnen;  der  Chor  wurde  im  Laufe  des  vierzehnten,  das  Kreuz- 
schiff und  der  östliche  Theil  des  Langhauses  erst  am  Ende  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts  im  spätgothischen  Style  erbaut,  und  seit  1537  die  weitere  Fort- 
setzung aufgegeben. 


1)  Stark   a.  a.  0.  S.  236.  —  Kleine  Abbildung  bei  Viollet-le-Duc,  IX,  S.  336. 

2)  Gruiidriss  bei  VioUet-Ie-Duc,  II,  S.  374,  Ansicht  einer  Cliorkapelle  S.  479,  eines 
Kaphäls  S.  538. 


;[54  Burgund. 

Wenden  wir  uns  nun  nach  den  östlichen  Provinzen,  so  finden  wir  zu- 
nächst in  Burg  und  im  Ganzen  noch  sehr  wenige  Spuren  des  gothischen 
Styls.  Die  Kathedrale  von  Autun  ^)  hatte  eine  Verbindung  einheimischer 
Traditionen  mit  vortheilhafteu  Neuerungen  gezeigt,  welche  vor  der  Hand 
noch  genügte  und  noch  zu  neu  war,  um  schon  verlassen  zu  werden.  Die 
Kathedrale  von  Langres,  welche  in  der  vorigen  Epoche  angefangen,  aber 
bis  1180  oder  1190  fortgesetzt  und  vollendet  wurde,  schliesst  sich  diesem 
Vorbilde  an,  nur  dass  sie  statt  des  Tonnengewölbes  Kreuzgewölbe  und  statt 
der  einfachen  Concha,  welche  die  Kathedrale  von  Autun  damals  hatte,  einen 
Umgang  im  Halbkreis,  jedoch  nur  mit  einer  Kapelle,  erhielt.  Fenster  und 
Triforien  sind  rundbogig  geschlossen,  aber  in  den  Gewölben  herrscht  der 
Spitzbogen.  Die  Anlage  der  Gewölbe  des  Chorumgangs  und  die  unbeholfene 
und  störende  Verbindung  der  Halbkuppel  der  Chorrundung  mit  den  Kreuz- 
gewölben zeigt,  dass  diese  Wölbungsart  hier  noch  wenig  bekannt  war  2). 

Im  Ganzen  dauerte  dieser  Zustand  bis  zum  Ende  dieser  Epoche.  Eine 
Ausnahme  macht  nur  der  Theil  der  Diöcese  Autun,  welcher  an  die  Diöcese 
Auxerre  gränzt.  Hier  war  die  bedeutende  Abtei  von  Vezelay,  von  der  ich 
schon  früher  gesprochen  habe-^),  eine  Stätte  fortwährender  Bauthätigkeit. 
Schon  die  grosse  dreischiffige  Vorhalle,  welche  in  den  ersten  Jahren  dieser 
Epoche  gebaut  sein  muss,  zeigt  Anklänge  des  neuen  Styls.  Der  Spitzbogen 
und  das  Kreuzgewölbe  sind  darin  durchgeführt;  jedoch  noch  in  einer  Weise, 
welche  an  das  bisherige  Wölbuugssystem  erinnert,  indem  das  Mittelschift 
keine  Oberlichter  hat  und  die  Gewölbe  der  Gallerie  sich  in  aufsteigender 
Richtung,  also  mit  einer  Anstrebung,  an  das  Mittelschiif  anlehnen.  Dagegen 
hat  der  wahrscheinlich  von  dem  Abte  Hugo  (1198  —  1206)  gebaute  Chor 
schon  entschieden  gothische  Tendenz,  Säulen  mit  daraufstehenden  Gewölb- 
diensten, spitze,  lebendig  profilirte  Scheidbögen,  ein  Triforium  von  Doppel- 
öffnungen, enggestellte,  schlanke  Lancetfenster,  das  Ganze  von  Rippengewöl- 
ben bedeckt,  und  zwar  so,  dass  die  des  geraden  Theils  mit  einer  etwas 
künstlichen,  aber  sinnreichen  Anordnung  der  Halbkuppel  eine  Widerlage 
geben.  Die  Einrichtung  der  fünf  radianten  Kapellen  erinnert  an  St.  Reniy 
in  Rheims,  indem  sie  auch  hier  durch  Durchgänge  mit  einander  verbunden 
sind,  und  also  eine  Art  zweiten  Umgangs,  jedoch  ohne  Säulenstellung  vor  den 
Oeffnungen  der  Kapellen  bilden.    Der  Rundbogen  kommt  nur  noch  an  der 


1)  Vgl  Bd.  IV.     S.  518. 

-)  Näheres  darüber  bei  ViolIet-le-Duc,  I,  S.  230.  Der  jetzige  polygonale  Chor  der 
Kathedrale  von  Autun  stammt  erst  aus  dem  15.  Jahrhundert.  —  Grundriss  und  Durch- 
schnitt von  Langres  bei  Viollet-le-Duc,  II,  S.  316  f. 

*)  Bd.  IV,  S.  513.  Publication  von  Vezelay  in  den  Aichives  des  monuments 
historiques  mit  Text.  —  Viollet-le-Duc,  Dict.  über  die  Vorhalle.  Bd.  IV,  p.  31',  über 
Schill'  und  Chor.     I,  p.  231,  232  und  IX,  p.  247. 


Langres,  Vezelay.  15^ 

Arcatur  unter  den  Fenstern  der  Kapellen  und  als  Umschliessimg  der  gekup- 
pelten Spitzbögen  des  Triforiums  wie  der  spitzbogigen  Oberlichter  vor. 
Auch  die  Kirchen  von  Montreal  und  Pont  Aubert,  unfern  von  Vezelay^ 
haben  einen  Uebergangsstyl  mit  gothischer  Tendenz,  spitzbogige  Gewölbe^ 
theils  solche,  theils  rundbogige  Fenster,  Pfeiler  eckigen  Kerns,  und  endlich,^ 
wie  auch  in  der  Champagne  an  Dorfkirchen  nicht  selten,  den  graden 
Chorschluss  ^). 

Unzweifelhaft  endlich  ist  der  Einfluss  des  nordischen  Styls  auf  den  um 
1230  begonnenen  Neubau  der  schönen  Kirche  N.  D.  zu  Dijon-).  Es  ist 
ein  Bau  von  massigem  Umfange  und  Aufwände,  dem  Charakter  einer  städ- 
tischen Pfarrkirche  entsprechend,  dabei  aber  von  grosser  Frische  der  Er- 
findung und  Anmuth  der  Ausführung.  Man  erkennt,  dass  der  Erbauer  die 
Principien  des  gothischen  Styls  sich  ganz  zu  eigen  gemacht  hat,  aber  sie 
mit  Freiheit  und  ohne  ängstliches  Anschliessen  an  das  Herkommen  der  nörd- 
lichen Provinzen  anwendet.  Der  Chor  ist  ohne  Umgang,  von  fünf  Seiten 
des  Achtecks  begrenzt,  von  zwei  Reihen  ungetheilter  spitzbogiger  Fenster 
und  dazwischen  durch  kreisförmige  Oeffnungen  beleuchtet;  im  Aeussern  mit 
mächtigen  Strebepfeilern  rein  constructiv  gehalten,  im  Innern  durch  wech- 
selnde Reihen  schlanker  Wandsäulen  vollständig  belebt.  Das  Kreuzschiff  ist 
ohne  Seitenschiffe,  jedoch  mit  zwei  auf  der  Ostwand  heraustretenden  poly- 
gonen  Kapellen.  Im  Langhause  tragen  Rundsäulen  auf  achteckiger  Basis 
die  Dienste,  von  denen  sechstheilige  quadrate  Kreuzgew'ölbe  aufsteigen;  über 
den  spitzbogigen  Arcaden  ist  ein  einfaches,  aus  Spitzbögen  gleicher  Höhe 
gebildetes  Triforium,  darüber  unter  jedem  Gewölbe  ein  Paar  spitzbogiger 
Fenster  ohne  3Iaasswerk.  Soweit  schliesst  sich  alles  dem  nordischen  Style 
an,  dagegen  tritt  auf  der  Westseite  ein  südliches  Element  hervor.  Hier  ist 
nämlich  nach  älterem  burgundischen  Herkommen  (Band  IV.  S.  508)  eine 
weite,  zweistöckige  Vorhalle  von  der  Breite  des  Langhauses  und  der  Tiefe 
eines  quadraten  Mittelgewölbes,  mit  einer  eleganten,  aber  durchaus  von 
der  nordischen  Sitte  abweichenden  Fayade  angebracht.  Zunächst  nämlich  ist  die 
Anlage  von  Strebepfeilern  durch  ein  künstliches  Sttitzungssystem  vermieden, 
so  dass  sich  die  Halle  jetzt  mit  einer  Doppelreihe  von  überaus  zierlichen  Pfei- 
lern und  Bögen  öffnet,  dann  aber  steigt  dieser  Fagadenbau  ganz  nach  italieni- 
scher Weise  über  die  Vorhalle  hoch  hinaus  und  ist  dabei  durch  zwei  Reihen 
von   spitzbogigen,    auf   sehr  schlanken   Säulen  ruhenden  Arcaden  geziert, 


1)  Zeichnungen  und  Beschreibungen  beider  Kirclien  in  den  Annales  Archeologiques 
Vol.  VII,  p.  169,  und  XII,  p.  164  und  232. 

-)  Einige  Abbildungen  bei  Chapuy  cath.  frauc.  Vol.  II.  Genaueres  bei  Viollet- 
le-Dnc,  Dict.  Bd.  IV,  S.  99  ff.  (Vorhalle)  u.  S.  131  —  146  (Chor  und  Langhaus) 
Bd.  VI,  S.  14  tf.,  Bd.  VII,  S.  283  tt.,  (Vorhalle)  Bd.  IX,  S.  234  tf. 


^PfQ  Lotliringeii. 

•welche  ein  Fries  mit  Blattwerk  und  figürlichen  Darstellungen  trennt.  Es  ist 
hier  also  eine  Anlage  gegeben,  welche  sich  ungeachtet  der  überaus  schlan- 
ken und  zierlichen  gothischen  Details,  durch  das  ausschliessliche  Vorherr- 
schen der  Horizontale  von  der  Tendenz  des  gothischen  Styls  scheidet  und 
^inen  entschieden  südlichen  Charakter  annimmt.  Es  scheint  nicht,  dass 
diese  Richtung  sich  von  hier  aus  weiter  verbreitet  hat^). 


Lothringen  gehörte  in  dieser  Epoche  in  politischer  Beziehung  zum 
deutschen  Reiche,  in  kirchlicher  zur  Provinz  Trier,  allein  seine  Bevölkerung 
war  theilweise  romanisch,  seine  Fürsten  und  Ritter  hatten  sich  schon  in  den 
Kreuzzügen  den  französischen  angeschlossen  und  richteten  auch  ferner  ihre 
Blicke  nach  Frankreich,  es  grenzte  überdies  in  seiner  ganzen  Länge  an  die 
Champagne  und  hatte  dem  dort  aufblühenden  neuen  Style  keine  ausgebildete 
und  eigenthümliche  Bauweise  entgegenzusetzen.  Dies  alles  erklärt  es,  dass 
der  neue  Styl,  so  weit  die  schon  früher  berührte  Seltenheit  erhaltener  Mo- 
numente in  dieser  Gegend  es  erkennen  lässt,  hier  ziemlich  frühe  Ein- 
gang fand. 

Die  Verbreitung  französischer  Bauformen  wurde  in  vielen  Fällen  durch 
die  geistlichen  Orden  vermittelt.  Wie  die  Cistercienser  gingen  auch  die 
Templer  von  Frankreich  aus,  und  so  ist  denn  auch  in  Lothringen  die  von 
ihnen  erbaute  Kapelle  in  Metz  2),  welche  bald  nach  der  Gründung  des  Or- 
denshauses im  Jahre  1133,  also  etwa  um  die  Mitte  des  Jahrhunders  entstan- 
den sein  mag,  das  erste  Gebäude,  welches  eine  Art  Uebergangsstyl  zeigt. 
Sie  bildet,  wie  die  meisten  Kirchen  dieses  Ordens  ein,  wenn  auch  unregel- 
raässiges,  Achteck  mit  kleiner  Chorvorlage  und  Nische,  hat  durchweg  Spitz- 
bögen, aber  romanische  Profile,  Knospenkapitäle  und  selbst  Würfelknäufe. 
Wenn  sie  als  ein  Werk  des  ausländischen  Ordens  uns  noch  nicht  berechtigt, 
diese  Formen  als  hier  eingebürgert  oder  auf  diesem  Boden  entstanden  zu 


1)  Viollet-le-Duc  ist  so  ausschliesslich  mit  dem  Constructiven  des  gothischen  Styls 
beschäftigt,  dass  er  diese  auffallenden  Eigenthümlichkeiten,  selbst  das  Emporragen  des 
horizontalen  Facadenbaues  nicht  einmal  bemerkt  hat,  —  Hinsichtlich  der  weltlichen  Archi- 
tektur in  Burgund  und  im  Süden  ist  zu  dem  S.  114  über  Nordfrankreich  Gesagten 
nicht  viel  hinzuzufügen.  Sehr  ausgebildete  Bürgerhäuser,  schon  aus  dem  12.  Jahr- 
Jmndert,  namentlich  in  der  durch  die  mächtige  Abtei  wohlhabend  gewordenen  Stadt 
€luny  bei  du  Somerard  l'art  au  moyen-äge,  bei  Gailhabaud,  l'architecture  etc.  bei 
Viollet-le-Duc,  Bd.  VI,  p.  214  —  300,  Artikel  Maison,  und  bei  Verdier  et  Cattois, 
archit.  civile  et  domestique.  Ebenda,  Bd.  I.  ein  sehr  zierliches  gothisches  Haus,  noch 
mit  z.  Th.  romanischen  Blattwerk-Formen  in  der  Decoration,  aus  Figeac  in  der  Guyenne, 
Häuser  aus  dem  Perigord  und  Limousin  theilt  Fei.  de  Verneilh  in  den  Ann.  archeol. 
JV,  p.  IGl  ff.  mit. 

-)  Revue  archeologique  1848.     S.  60G.  —  Vgl,  bereits  oben  Bd.  IV,  S.  547. 


Katliedrale  von  Toul.  J  5T 

betrachteo,  so  gilt  dies  doch  nicht  von  der  kleinen  Kirche  St.  Martin  in  der- 
selben Stadt,  deren  Bauzeit  wir  nicht  urkundlich  kennen  ^),  aber  mit  Wahr- 
scheinlichkeit in  den  Anfang  des  dreizehnten  Jahrhunderts  setzen  dürfen^ 
und  deren  schlanke  Rundsäulen  und  Triforien  ebenfalls  auf  einen  westlichen 
Einfluss  schliessen  lassen.  Noch  deutlicher  sollen  franzöische  Einwirkungen 
an  der  1231  erbauten  Kirche  St.  Nicolas  de  Graviere  in  V  er  dun  hervor- 
treten-). Endlich  zeigt  die  schöne  Kathedrale  von  Toul,  mit  Ausnahme  der 
erst  im  vierzehnten  und  fünfzehnten  Jahrhundert  vollendeten  Fagade,  durch- 
weg frühgothische  Formen,  kantonirte  Säulen  mit  durchlaufenden  Diensten 
wie  in  Amiens,  zweitheilige  Fenster  mit  einfachem  Maasswerk  wie  in  N.  D. 
von  Paris.  Auch  die  sehr  bedeutenden  Verhältnisse  deuten  schon  auf  einen 
Wetteifer  mit  den  französischen  Kathedralen"").  Dagegen  finden  sich  auch 
mehrere  Spuren  einer  Eeaction  deutsclier  Sitte  gegen  den  fremden  StyL 
Der  Chor  ist  ohne  Umgang,  mit  sieben  Seiten  des  Zehnecks  geschlossen,  in 
denen  hohe  Fenster  aufsteigen;  die  Seitenschiffe  haben  im  Verhältnisse  zum 
Mittelschiffe  eine  grössere  Höhe,  als  man  ihnen  in  den  französischen  KircheA 
seit  der  Fortlassung  der  Gallerien  gegeben  hatte.  Den  erhaltenen  Nachrich- 
ten zufolge  bestand  der  Chor  schon  um  die  Mitte,  während  die  Vollendung 
des  Langhauses  erst  später,  gegen  das  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
erfolgte^).  Der  schöne  Kreuzgang  mit  sehr  einfachem  Maasswerk  erinnert 
an  den  des  Trierer  Doms  und  wird  wie  dieser  noch  in  der  ersten  Hälfte  des 
Jahrhunderts  entstanden  sein  •^).  Diese  Mischung  französischer  und  deutscher 
Form  erhielt  sich  denn  auch  in  dieser  Gegend.  Die  Kirche  St.  Vincent 
zu  Metz,  wahrscheinlich  im  Jahre  1248  begonnen,  hat  noch  ziemlich  frühe 
Formen,  steile  Spitzbögen,  Gewölbrippen,  in  deren  Profil  der  einfache  Rund- 
stab vorherrscht,  schmale,  zweitheilige  Fenster  mit  einfachem  Maasswerk, 
wohl  gegliederte  Bündelpfeiler  mit  cylindrischem  Kern  und  ununterbrochenen 
Diensten.  Die  Blendarcaden  unter  den  Fenstern  der  Seitenschiffe  erinnern 
an  den  französischen  Styl.    Dagegen  sind  die  Seitenschiffe  wieder  verhält- 


1)  Das  an  einem  Kapitale  befindliche  Datum  von  1202  soll  unächt  sein. 

-)  Bull,  monum.  XVI,  p,  584. 

")  Bei  einer  Breite  des  Mittelschiffs  von  38 ,  der  Seitenschiffe  von  20  Fuss.  er- 
reicht die  Gewölbhühe,  dort  etwa  106,  hier  63  Fuss. 

*)  Gallia  christiana  XIII,  col.  1014.  Bischof  Roger  (1231  —  1252)  stiftete  zufolge 
seines  Nekrologs  gemalte  Fenster  im  Chore  (in  cancellario  hujus  ecclesiae).  Bischof 
Conrad  (1271  — 1296)  bestimmte  jedoch  mit  Zustimmung  des  Kapitels  im  Jahre  1280 
(Revue  archeologique  1848,  S.  136)  gewisse  Einkünfte  für  die  Dauer  von  drei  Jahren 
zur  Vollendung  der  Kirche,  namentlich  der  Gewölbe.  Abbildungen  und  Beschreibungen 
in  Grille  de  Beuzelin,  Statistique  monumentale  des  Arrondissements  de  Toul  et 
de  Nancy,  1837;  eine  Innenansicht  bei  Chapuy  moyen-äge  monum.,  Nro.  308.  — 
Revue  arch.  V,  145.  —  Grundriss  bei  Kugler.  Gesch    d.  Baukunst,  III,  S.  231. 

'")  Abb.  bei  Viollet-le-Duc,  III,  S.  447.  —  Revue  arch.  V. 


158  Belgien. 

tiissmässig  höher,  statt  des  Triforiums  ist  noch  nach  deutsch-romanischer 
Weise  ein  Gesims  über  den  Arcaden  angebracht  und  der  Chor  ist  ohne  Um- 
gang mit  drei  Seiten  aus  dem  Achteck  geschlossen.  Von.  ihm  durch  Thürme 
getrennt,  die  in  den  Ecken  des  Querhauses  aufwachsen,  lehnen  sich  zwei 
pol ygone  Nebenchöre  an  die  Ostseite  der  Kreuzarme  an.  Von  der  herrlichen 
Kathedrale  zu  Metz,  welche  nur  in  den  unteren  Arcaden  den  Einfluss  des 
französischen  frühgothischen  Styls  zeigt,  dann  aber  sich  der  rheinischen  Gothik, 
besonders  dem  Kölner  Dom  anschliesst,  und  wie  dieser  mit  den  reichsten 
Bauten  Frankreichs  wetteifert,  werde  ich  erst  in  der  folgenden  P^poche 
sprechen,  und  bemerke  nur,  dass  jene  deutsche  Form  des  Chorschlusses  mit 
einfacher  Polygonanlage  sich  in  kleineren  Kirchen  dieser  Gegend,  wie  in  St. 
Gengoul  in  TouP),  in  der  Kirche  zu  Veseliz  und  in  St.  Martin  in 
Pont-ä-Mousson,  auch  später  erhielt. 


Auch  Belgien,  das  in  der  vorigen  Epoche  in  architektonischer  Be- 
ziehung nur  eine,  und  zwar  nicht  sehr  bedeutende  Provinz  von  Deutschland 
bildete,  neigt  sich  in  der  gegenwärtigen,  wo  es  reicher  und  blühender  ge- 
worden, mehr  nach  Frankreich  hin.  Indessen  war  dieser  französische 
Einfluss  keineswegs  in  allen  Theilen  des  Landes  gleich.  An  der  Maas 
herrschte  der  rheinische  Styl  vor.  Schon  die  in  der  vorigen  Epoche  er- 
wähnte Abteikirche  St. Nicolas-en-Glain,  unfern  Lüttich,  hat  eineZwerg- 
gallerie  wie  die  rheinischen  Kirchen.  Eine  solche  findet  sich  auch  an  dem 
Chor  von  St.  Servatius  in  Maes triebt-),  welcher  zwischen  zwei  vier- 
eckigen Thürmen  stehend,  dem  der  Apostelkirche  in  Köln  sehr  nahe  kommt. 
Auch  das  augenscheinlich  später  errichtete  westliche  QuerschiiF,  welches  im 
Aeusseren  mit  dreifachen  Arcaden  und  Rundbogenfriesen  reich  verziert  ist, 
und  im  Lmeren  mit  seiner  dreifachen,  früher  nach  der  Kirche  zu  geöffneten 
Empore,  einen  sehr  pittoresken  Anblick  gegeben  haben  muss,  hat  in  seiner 
Ausstattung  und  Anlage  rheinischen  Charakter.  Etwa  gleichzeitig  mag  die 
Concha  der  Frauenkirche  daselbst  angelegt  sein,  die  ebenfalls  zwischen 
zwei  viereckigen  Thürmen  steht,  und  mit  zwei  Arcadenreihen  und  reich  ge- 
arbeiteten Kapitalen  geschmückt  ist.  Auch  die  westliche  Concha  der  h.  Kreuz- 
kirche in  Lüttich  zeigt  wiederum  den  rheinischen  Styl,  aber  in  seiner  spä- 
teren Gestalt,  dem  westlichen  Vorbau  der  Apostelkirche  in  Köln  entsprechend, 


1)  Diese  scliöne,  dem  Dome  selir  äiinllclie  Kirche ,  erhielt  (zufolge  der  Gallia 
«hristiana  a.  a.  0.)  durch  den  Bischof  Amadeas  (1321 — 1330)  eine  neue  Kapelle.  Ihrer 
Choranlage,  welche  der  der  Katharinenkirche  in  Oppenheim  gleicht,  werde  ich  weiter 
unten  erwähnen.     Vgl.  Grille  de  Beuzelin  a.  a.  0.,  p.  26. 

")  Schayes,  Histoire  de  l'Architecture  en  Belgique  II,  137. 


Frauenkirche  zu  Ruremonde. 


159 


und  vielleicht  noch  jünger,  etwa  von  1230.  In  reichster  Entwickelung  end- 
lich finden  wir  diesen  Styl  an  der  Liebfrauenkirche  zu  Ruremonde,  welche 
im  J.  1224  und  zwar  durch  den  Erzbischof  Engelbert  I.  von  Köln  geweiht 
wurde  ^).  Ueber  den  Seitenschiffen  des  Langhauses  befinden  sich  Emporen. 
Die  Choranlage  ist  mit  der  der  Apostelkirche  und  der  des  Münsters  zu  Bonn 
verwandt.  Um  eine  mächtige  achteckige  Kuppel  lagern  sich  nämlich  drei 
Conchen,  welche  durch  zwei  in  den  Ecken  angelegte  viereckige  Thürme, 
ähnlich  wie  an  der  Apostelkirche,  zu  einem  Ganzen  verbunden  sind;  aber  nur 
die  östliche  Concha  ist,  wie  an  dieser  Kirche,  rund,  indessen  abweichend  von 
letzterer  mit  drei  kleinen  Halbkreisapsiden  besetzt;  die  Querhausarme  endigen 
polygonförmig,  wie  im  Münster  zu  Bonn.  Auch  ihre  Ornamentation  ist  reicher 

Fig.    30. 


Nortro-Dame  in  Ruremonde. 


und  entwickelter,  als  die  der  Apostelkirche  und  gleicht  der  der  östlichen 
Concha  jenes  Münsters;  sie  besteht  nämlich  im  unteren  Stockwerke  aus 
Wandfeldern,  die  von  Lisenen  eingeschlossen  und  von  Rundbogenfriesen 
bekrönt  sind,  im  zweiten  aber  aus  breiten  rundbogigen  Fenstern,  deren  Archi- 
volten,  dicht  gedrängt  und  vielfach  gegliedert,  eng  aneinander  stossen  und 
eine  vollstimmige  und  harmonische  Bewegung  von  Kreisformen  geben.  Dar- 
über endlich  findet  sich  wieder  ganz  nach  der  Weise  kölnischer  Kirchen 
(namentlich  der  Marienkirche  auf  dem  Kapitol)  ein  Plattenfries  und  dann 
eine  Zwerggallerie.  Um  die  Aehnlichkeit  mit  der  Apostelkirche  noch  grösser 
zu  machen,  steht  on  der  Westseite  der  bedeutenden  Kirche  ein  mächtiger 
Vorbau,  der  auch  hier  neben  der  rundbogigen  Kirche  ganz  spitzbogig,  aber 
entwickelter  und  reicher  als   dort  gebaut  ist.     Wenn  die  Haupttheile  des 


i)  Daselbst  IK,  50. 


160  Belgien. 

Baues  wirklich  erst  kurz  vor  der  Weihe  des  Jahres  1224  eiitstandeu  sind, 
so  ist  damit  der  Beweis  gegeben,  dass  man  hier  noch  mit  grosser  Vorliebe 
an  den  romanischen  Formen  hing  und  sie  auch  da  noch  un vermischt  an- 
wendete, als  im  westlichen  Belgien  schon  der  frühgothische  Styl  Eingang 
gefunden  hatte  ^). 

Für  die  Baugeschichte  dieser  westlichen  Gegenden  ist  die  Kathedrale 
zu  Tournay,  sowohl  wegen  ihrer  wahrhaft  ausgezeichneten  Schönheit  als- 
auch  wegen  des  Einflusses,  welchen  sie  nach  Westen  hin  auf  die  benachbarte 
Picardie  ausübte,  bei  Weitem  das  wichtigste  Gebäude  Leider  ist  ihre  Ge- 
schichte nicht  genügend  bekannt  und  schwer  zu  enträthseln ').  Die  Stadt 
war  im  J.  882  von  den  Normanen  zerstört  und  so  verarmt,  dass  ihr  Kapitel 
mit  dem  von  Noyon  verbunden  wurde  und  bis  1145  verbunden  blieb.  Erst 
im  elften  Jahrhundert  konnte  daher  der  Bau  einer  neuen  Kathedrale  be- 
gonnen werden,  wo  von  einer  Weihe  im  Jahr  1066  oder  1070  gesprochen 
wird.  Allein  gewiss  rührt  das  gegenwärtige  Gebäude  nicht  aus  so  früher 
Zeit  her,  auch  finden  wir,  dass  wiederum  im  Jahre  1146  von  einer  im  Bau 
begriffenen  neuen  Kirche,  1171  von  einer  Weihe  durch  Bischof  Gualterius 
gesprochen  wird-^),  und  dass  1198  der  damalige  Bischof  eine  Geldsumme 
für  die  anständige  Ausführung  der  Balkendecke  schenkte.  Dies  bezieht  sich 
ohne  Zweifel  auf  das  noch  erhaltene  Langhaus,  welches  bis  zu  seiner  erst 
im  vorigen  Jahrhundert  erfolgten  Ueberwölbung  eine  solche  hatte  und  mit- 
hin damals  erst  bis  zu  dieser  vollendet  war.  Im  Jahre  1213  wurde  dem- 
nächst der  Chor  geweiht,  an  dessen  Stelle  wir  jetzt  einen  prachtvollen, 
aber  frühestens  ein  halbes  Jahrhundert  später  begonnenen  neuen  Chor 
haben.  Dies  die  geschichtlichen  Nachrichten,  mit  denen  wir  das  Gebäude 
zu  vergleichen  haben.  Die  ganze  Erscheinung  ist  ungemein  grossartig,  eine 
der  imposantesten  auf  dem  Gebiete  der  kirchlichen  Architektur.  Ein  starker 
Vierungsthurm  bezeichnet  die  Mitte  des  Gebäudes,  vier  höhere,  viereckig 
und  kräftig  gebildete  Thürme  steigen  an  den  Ecken  der  Vierung  empor. 
Die  Fac^ade,  jetzt  durch  schwerfällige    grosse   Spitzbogenfenster  und  eine 


^)  Eine  photographische  Ansicht  und  zwei  Grundrisse  in  Weale,  Beftroi,  1863,. 
S.  243. 

-)  Vgl.  meine  Niederiändisciien  Briefe,  S.  409,  415  —  Weder  der  Notice  sur 
l'äge  de  la  cath.  d.  T.  von  Dumortier,  in  seinen  Melanges  d'histoire  et  d'archeologie, 
pag.  90,  noch  der  selir  ausführlichen  Monographie  von  Le  Maistre  d'Anstaing  (Recher- 
ches  sur  l'hist.  de  l'egl.  cath.  de  Tournay,  1842)  ist  dies  in  befriedigender  Weise  ge- 
lungen. Vgl.  ausser  derselben  die  von  Osten  in  der  Wiener  Bauzeitung  1845,  Taf. 
679  gegebenen  Abbildungen  und  Schayes  a.  a.  0.,  II,  103.  Ferner:  B.  Renard,  Mono- 
graphie de  N.  D.  de  Tournay,  Bruxelles,  1852.  —  Neueste  Publication  in  E.  Förster, 
Denkmale  deutscher  Baukunst,  Bildnerei  und  Malerei,  Bd.  X.  —  Vgl.  auch  die  Be- 
merkungen von  Mertens  in  der  deutschen  Bauzeitung  Bd.  IV.     (1870).     S.  304. 

'■')  Dumortier  a.  a.  0.,  S.  121,  bei  Schayes  p.  105. 


Kathedrale  von  Touruay. 


161 


Fig.  31. 


Vorhalle  aus  dem  vierzehnten  Jahrhundert  entstellt,  lässt  noch  ihre  ursprüng- 
liche romanische  Anlage  erkennen,  die  mit  doppelten  Fensterreihen  in  der 
Linie  der  Gallerie  und  der  Oberlichter  und  mit  zwei  Rundthürmchen  an  den 
Ecken  des  Oberschiffs 
verziert  war  ^).  Hinter 
ihr  erstreckt  sich  das 
Langhaus,  mit  drei 
(den  Seitenschiffen,  der 
Gallerie  und  dem  Ob  er- 
schiffe  entsprechen- 
den) Fensterreihen,  die 
zum  Theilrait  Säulchen 
und  Archivolten  reich 
geschmückt  sind.  Dann 
zwischen  den  Eck- 
thürmen  der  Vierung 
die  Kreuzarme,  hier 
als  hohe,  schlanke  Con- 
chen gestaltet,  und 
endlich  der  herrliche, 
hohe  und  schlanke 
gothische  Chor.  Die 
Dimensionen  sind 
durchweg  höchst  be- 
deutend, die  Länge 
des  Langhauses  und 
Kreuzschifies  schon 
2 1 0,  die  des  gewaltigen 
Chors  nur  etwa  um  30 
Fuss  geringer,  die  vor- 
dere Breite  des  Lang- 
hauses 85  Fuss.  Be- 
trachten wir  nun  das 
Innere,  so  ist  es  in 
seinen  Theilen  merk- 
würdig verschieden.  Das  Langhaus  ist  durchaus  rundbogig,  eine  Pfeiler- 
basilika mit  einer  Gallerie  über  den  Seitenschiffen,  deren  Arcaden  sich,  wie 
in  den  normannischen  Kirchen  des  elften  Jahrhunderts,  mit  gleicher  Höhe  und 


Kathedrale  von  Tournay. 


^)  So  ist  sie  nacii  der  Restauration   des  Architekten  Renard  bei  Schayes    If,    114: 
gegeben. 

Schnaase's  Kunstgesch.    2.  Aufl.    V.  11 


162 


Belffiea. 


Breite  wie  die  unteren  Pfeiler  öffnen.  Diese  Pfeiler  und  ihre  fast  hufeisen- 
artig geschwungenen  Bögen  sind  sowohl  unten  als  an  der  Gallerie  überaus 
kräftig  und  reich  gegliedert,  die  Kapitale  ihrer  Säulen  mit  Voluten,  Ara- 
besken, Blattwerk  oder  Gestalten  in  vortrefflicher  Sculptur  sehr  mannigfaltig 
und  verschieden  geschmückt^),  die  Basis  mit  dem  Eckblatt  ausgestattet, 
lieber  diesen  beiden  Stockwerken  läuft  ein  niedriges,  rundbogiges Triforium, 
dann  die  Reihe  der  in  ihrer  Zahl  den  Arcaden  entsprechenden  breiten  Ober- 
lichter. Jetzt  ist  das  Langhaus  mit  Kreuzgewölben  gedeckt,  in  alter  Zeit 
befand  sich  aber  eine  Holzdecke  über  dem  Mittelschiff,  und  nur  die  Seiten- 
schiffe waren  von  Anfang  an  gewölbt. 
^^^'  ^^'  Die  ganze  einfache,  regelrechte  und 

doch  kräftige  Gestaltung  dieses  Lang- 
hauses, die  bedeutungsvolle  Wieder- 
holung fast  gleicher  Formen  in  zwei 
Reiben  übereinandergestellter  Arcaden 
macht  einen  an  antike  Bauten  erin- 
nernden Eindruck,  während  die  De- 
tails, die  treffliche  Sculptur  der  Kapi- 
tale, die  reich  gegliederte  Arcatur  doch 
schon  auf  eine  nicht  ganz  frühe  Zeit 
hinweisen.  Einen  anderen  Charakter 
trägt  das  Kreuzschiff.  Auch  hier 
herrscht  noch  der  Rundbogen;  die 
Conchen,  mit  denen  es,  wie  erwähnt, 
nach  Süden  und  Norden  ausladet,  haben, 
wie  dort  über  den  Seitenschiffen,  so 
hier  über  dem  Umgang  eine  Gallerie 
,  und  darüber  ein  Triforium,  Allein  statt 
der  Pfeiler  tragen  hier  schlanke  Säulen 
mit  überhöhten  Rundbögen  die  Wöl- 
bungen des  Umgangs  und  der  Gallerien,  und  überhaupt  sind  die  Verhält- 
nisse dieser  Abtheilungen  hier  ganz  andere  als  im  Langhause.  Während 
in  diesem  die  Gallerie  dem  unteren  Stockwerke  gleich,  und  das  Triforium 
höchst  niedrig  und  unbedeutend  erscheint,  ist  hier  ein  fühlbarer  Rhythmus 
abnehmender  Höhenverhältnisse;  das  untere  Stockwerk  sehr  schlank  und 
hoch,  so  dass  sein  Gesims  mit  den  Kapitalen  der  dortigen  Gallerie  in  einer 
Linie  liegt,  die  Gallerie  dagegen  sehr  viel  kleiner  und  in  einem  mittleren 
Verhältnisse  zu  dem  hier  etwas  bedeutender  ausgebildeten  Triforium,  das 
aus  Säulen-  und  Pilasterstellungen  ohne  Bögen  besteht.    Während  dort  also 


Kathedrale  von  Tonjnay. 


(Längendurchschnitt.) 


^)  Beispiele  bei  Schayes,  p.  27. 


Kathedrale  von  Tournay.  163 

<ier  antike  Horizontalge  danke  vorherrscht,  ist  hier  schon  ein  schlankes  Auf- 
steigen beabsichtigt.    Endlich  ist  die  Anlage  des  ganzen  Kreuzschiffes  schon 
ursprünglich  auf  durchgängige  Ueberwölbung   berechnet.     An  das  Rippen- 
gewölbe der  Conchen  schliesst  sich   zunächst  je  ein  Tonnengewölbe,  dann 
ein  quadrates  Kreuzgewölbe  an.    Dagegen  ist  allerdings  die  Ausführung  der 
Details  in  den  Kreuzconchen  nicht  so  elegant  und  vollendet,  die  Basis  hat 
auch  hier  das  Eckblatt,  aber  die  Kapitale   sind  monoton  und  in  spröderen 
Formen,  die  Arcaden  nicht  so  reich  gegliedert.    Dies  alles  macht  die  Frage 
nach  dem  Verhältnisse  des  Alters  beider  Theile   sehr  zweifelhaft  und  hat 
Einige  sogar  bestimmt,   das  Langhaus  für  jünger  zu  halten.      In  der  That 
kann  man   dieses  nicht  wohl  früher  als   in  die  Mitte   des   zwölften  Jahr- 
hunderts setzen;  erst  um  diese  Zeit  finden  wir  in  Deutschland  diese  reiche 
Gliederung  concentrischer  Rundbögen,  welche  in  Frankreich  während  der 
Herrschaft  des  romanischen  Styls  auch  bei  übrigens  glänzender  Ausstattung 
nicht  vorkommt.    Dadurch  wird  aber  das  Yerhältniss  des  Kreuzschiffes  zum 
Langhause  um  so  zweifelhafter,  da  die  rohere  Form  der  Details,  die  auf- 
strebende Tendenz  und  die  Häufung  mehrerer  rhythmisch  geordneter  Stock- 
werke wiederum  auf  dieselbe  Zeit  hinweisen  und  es  auffallen  muss,  dass  man 
an  demselben  Gebäude  ungefähr  gleichzeitig  zwei  sehr  verschiedenen  Rich- 
tungen folgte.      Vielleicht  darf  man  annehmen,  dass   das  jetzige  Langhaus 
kein  völlig  neuer  Bau,  sondern  nur  die  Herstellung  und  Ausschmückung  einer 
älteren;  nach  der  Weise  der  Abteikirche  zu  Soignies  und  der  normannischen 
Kirchen  mit  Pfeilern  und  mit  der  Empore  über  den  Seitenschiffen  angelegten 
Kirche  ist.    Dies  vorausgesetzt  würde  sich  dann  die  vollendetere  Ausführung 
des  Langhauses  und  zugleich  die  Anbringung  des  dem  romanischen  Style 
sonst  fremden  Triforiums  dadurch  erklären,   dass  man,  als  das  Domkapitel 
gegen  die  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts  die  Vergrösserung  der  unschein- 
baren, 1066  geweiheten  Kirche  beschloss,  mit  dem  Kreuzschiffe  begann  und 
erst  nach  Vollendung  desselben  das   Langhaus  in  Arbeit  nahm,    es  aus- 
schmückte und  vermittelst  des  etwas  gedrückten  Triforiums  den  neuen  Kreuz- 
conchen ähnlich  machte.    Dies  würde  dann  auch  mit  der  Nachricht,  wonach 
1198  das  Langhaus   noch  der  Balkendecke  bedurfte,  übereinstimmen.     Es 
kann   aber  auch  sein,   dass   man  mit  der  Herstellung  des  Langhauses  und 
zwar  unter  deutschem  Einflüsse  begann,  unter  diesem  Einflüsse  auch  die 
Conchen  des  Kreuzes   nach  Kölner  Vorbildern   anlegte,  dann  aber  bei  der 
weiteren  Ausführung   derselben  französische  Meister  zuzog,  welche  nun  die 
mehr  schlanke  und  constructive  Tendenz  verfolgten,  dabei  aber  die  Zierlich- 
keit der  Details,  wie  es  bei  solchem  Streben  und  nach  der  Verschiedenheit 
beider  Schulen  völlig  erklärbar  ist,  vernachlässigten.    Jedenfalls  ist  es  merk- 
würdig, wie  sich  hier  deutsche  und  französische  Elemente  kreuzen  und  mischen. 
Im  Langhause  die  Anlage  mit  den  weiten  Gallerieöffnungen  auf  französisch- 

11* 


164 


Belgien. 


normannischen  Ursprung,  die  Ausführung  auf  Deutschland  hinweisend,  in  den 
Oonchen  die  Anlage  deutsch,  die  Ausführung  französisch.  Erwägt  man  nun 
noch,  dass  augenscheinlich  nach  dem  Vorbilde  dieser  Kreuzconchen  und  nicht 
lange  darauf  die  cähnlichen  an  den  Kathedralen  von  Noyon  und  Cambray 
entstanden  sind,  und  dass  mithin  diese  ursprünglich  deutsche,  aber  in  Tour- 
nay  durch  die  französische  Verbindung  von  Gallerie  und  Triforium  ver- 
änderte Anlage  von  hier  aus  nach  Frankreich  kam,  so   sieht  man  deutlich, 

dass  Tournay  eine  wichtige  Station 


Fi'.  33. 


in    dem  geistigen  Verkehre    beider 
Völker  bildete. 

Ein  Beweis  dafür,  dass  die  Kreuz- 
conchen von  Tournay  jünger  sind  als 
das  Langhaus,  liegt  auch  darin,  dass 
dieselbe  derbe  und  fast  rohe  Behand- 
lung der  Formen,  welche  wir  an  ihnen 
bemerken,  sich   in   den  meisten  an- 
deren, der  wirklichen  Einführung  des 
gothischen  Styls  vorhergehenden  bel- 
gischen Bauten  wiederfindet.  Sie  hängt 
mit  der  Aufnahme  gewisser  Details 
des  französisch  gothischen  Styls  zu- 
sammen, durch  welche  jene  frühere, 
mehr  nach  Deutschland  hinweisende 
Richtung  verdrängt  und  ein  Ueber- 
gangsstyl  von  charakteristisch  schwe- 
ren und  breiten  Formen    hervorge- 
bracht wurde.     Die  Rundsäule,  für 
welche  die  belgische  Architektur  auch 
später  eine  grosse  Vorliebe  behielt, 
tritt  nun,  zunächst  noch  in  sehr  stäm- 
miger Gestalt  an  die  Stelle  des  Pfei- 
lers.    Der  Spitzbogen   wird  vorherr- 
schend,   aber  keinesweges'  ausschliesslich  angewendet.      Die  Fenster  be- 
stehen oft  aus  mehreren   zusammengerückten  Lancetbögen,  die  von  einem 
Halbkreisbogen  bedeckt  sind,  zuweilen  auch,  namentlich  an  Thürmen,  aus 
einem  spitzen  Kleeblattbogen,  der  durch  zwei  innere  Säulchen  gestützt  ist  i). 
Die  Ornamentation  ist  überaus  dürftig  und  roh.  Dagegen  giebt  das  Aeussere 
in  derber,  fast  kriegerischer  Haltung  einen  malerischen  Effekt.    Der  Haupt- 


St.  Jaques,  Tournay. 


1)  Diese  Form  (Fig.  34)  kommt  aucli   in   der  Normandie,  z.  B.  am  Chore    von  St.- 
Etienne  in  Caen  vor. 


Uebergangstyl. 


165 


Fig.  34. 


St.  Jaqnes,  Tournay. 


Fig.  35. 


thurm  steht,  wie  iu  der  Normandie,  gewöhlich  auf  der  Vierung  des  Kreuzes, 
während  die  Fagade  nur  von  kleinen  Rundthürrachen  flankirt  und  durch 
Fensterreihen  über  dem  Portal  belebt  ist.  Solche  Fagaden 
haben  schon  die  im  Wesentlichen  noch  romanischen, 
nach  einem  Brande  von  1120  erbauten  Kirchen  von  St. 
Nicolas  undSt,  Jaques  in  Gent.  In  Tournay  wurden 
die  der  abgebrochenen  Kirche  St.  Pierre  und  die  von 
St.  Piat  zierlicher,  nach  dem  Vorbilde  der  Kathedrale 
.mit  rundbogigen  Fenstern  und  Arcaden  geschmückt, 
während  die  der  einschiffigen  Kirche  St.  Quentin  jene 
älteren  Vorbilder  mit  Anwendung  des  Spitzbogens  zu 
einer  kräftigen  und  gefälligen  Gestalt  ausbildet,  indem  sie  zwischen  zwei 
Rundthürmen,  deren  Helme  schon  amFusse  des  Daches  beginnen,  über  dem 
rundbogigen  Portal  je  zwei  Stockwerke  von  drei  verbundenen  spitzbogigen 
Fenstern  hat,  deren  mittleres  höher  ist 
und  am  oberen  Stockwerke  in  den  Giebel 
hineingreift.  Strebepfeiler  kommen  selten, 
Strebebögen  noch  seltener  vor.  Ueber- 
haupt  stand  dem  weiteren  Fortschritte  in 
4er  Richtung  des  gothischen  Styls  der 
Umstand  entgegen,  dass  man,  wie  es 
scheint,  das  Bedürfniss  der  vollständigen 
Ueberwölbung  der  Kirchen  noch  nicht 
erkannte.  Wenigstens  sind  alle  diese 
älteren  Kirchen  erst  später  überwölbt  und 
ohne  Spur  einer  ursprünglichen  Gewölb- 
anlage. Zu  den  interessantesten  Resten 
jener  Epoche  gehören  die  Ruinen  des 
.Sanct  Bavo-Klosters  in  Gent^).  Die 
romanischen  Formen  herrschen  noch  in 
der  1129  vollendeten  Krypta  der  Maca- 
rius-Kapelle,  einer  achteckigen  Halle,  die 
sich  nach  allen  Seiten  in  Rundbögen  öffnet 
und  mit  einer  auf  acht  breiten  Gurten 
ruhenden  Kuppel  tiberwölbt  ist.  Aber  der 
nur  wenig  spätere  Kreuzgang,  an  welchen 

dieser  Anbau  sich  lehnt,  zeigt  neben  einem  rundbogigen  Doppelportal  ge- 
kuppelte Spitzbogenfenster,  die  von  Säulen  getragen  und  von  Rundbogen- 
blenden überspannt  sind. 


St.  Quentin,   Tournay. 


1)  E.  Förster,  Denkmale,  Bd.  IX.    Leipzig  1866. 


166 


Belgien. 


Dieser  derbe  und  schwankende  Uebergangsstyl  erhielt  sich  bis  weit  m 
das  dreizehnte  Jahrhundert  hinein.  Die  Kirche  Notre  Dame  de  la  Cha- 
pelle  inBrüssel,  so  benannt  weil  eine  früher  auf  derselben  Stelle  stehende 
Kapelle  im  Jahr  1216  zur  Pfarrkirche  erhoben  wurde,  zeigt  wiederum  eine- 
eigenthümliche  Mischung  rheinischer  und  französischer  Formen.  Die  Kreuz- 
fagaden  mit  rundbogigen  Arcaden  und  durch  Rundbogenfriese  verbundenen 
Lisenen  und  die  freistehenden  Ziersäulen  an  den  Wänden  des  polygonen 
Chors  erinnern  an  den  rheinischen  Uebergangsstyl ,  während  die  Maasswerk- 
fenster dieses  Chors  denen  der  Kathedrale  von  Paris 
ähnlich  sind  und  nur  dadurch  von  ihnen  abweichen,, 
dass  der  obere  umschliessende  Bogen  nicht  spitz  ist,, 
sondern  sich  enge  an  den  Kreis  des  Maaswerks  anlegt. 
Die  Kirche  St.  Jaques  in  Tournay  enthält  in  ihrem  in 
den  Jahren  1219  bis  1251  gebauten  Langhause  über 
Rundsäulen  ein  zwiefaches  Triforium,  in  offenbarer 
Nachahmung  der  Kathedrale,  an  dem  Thurme  aber  noch 
theils  Rundbögen,  theils  Fenster  der  oben  beschriebenen 
Art.  Die  Magdale nenkirche  daselbst,  obgleich  erst 
1251  begründet,  hat  im  Schiffe  rundbogige,  im  Chore- 
wieder  von  drei  durch  einen  Rundbogen  umfasstenLancet- 
bögen  gebildete  Fenster.  Ein  sehr  schönes  Beispiel  dieses 
Styls  ist  der  nach  erhaltener  Inschrift  im  Jahre  1221 
begonnene  Chor  der  St.  Martinskirche  in  Ypern. 
lieber  den  Spitzbogenarcaden  zieht  sich  ein  Laufgang 
mit  Spitzbögen  hin,  welche  abwechselnd  auf  Pfeilern 
und  auf  schlanken  Säulchen  ruhen.  Ein  Gesims,  welches 
die  Deckplatten  der  Dienste  fortsetzt,  trennt  diesen 
Theil  von  den  runden  Schildbögen,  welche  stets  das 
durch  eine  Gruppe  von  drei  Lancetbögen  gebildete 
N.D.deiaChapaiie,  Brüssel.  Fcuster,  wic  bei  den  zulctzt  beschriebenen  Denkmälem,- 
enthalten^).  Der  polygone  Abschluss  des  Chors,  dem 
der  Umgang  fehlt,  zeigt  unter  dieser  Fensterreihe  eine  untere,  die  bloss  aus 
paarweise  verbundenen  Lancetbögen  gebildet  ist.  Auch  die  Pfarrkirche  Pa- 
mele  zu  Audenaerde,  nach  der  Familie  ihres  Stifters  genannt  und  laut  In- 
schrift im  Jahre   1234   durch   Meister  Arnulphus   de  Bincho -)•  begonnen,. 


*)  Abbildung  eines  Joches  aus  dem  Langchor,  bei  A.  Esseiiwein,  die  Entwickeluiig 
des  Pfeiler-  und  Gewölbesystems,  in  dem  Jahrbuch  der  k.  k.  Centralcommission ,  Bd.  III.. 
Wien  1859,  S.  74. 

2)  Mit  Unrecht  ist  im  Organ  für  christliche  Kunst  1856,  S.  279  bezweifelt  worden^ 
dass  dieser  Meister  (magister)  Arnulpli  der  Baumeister  gewesen. 


Uebergangsstyl. 


167 


gehört  noch  dem  Uebergangsstyl  an;  obgleich  schon  dem  gothischen  sich 
nähernd.  Sie  hat  im  Langhause  Rundsäulen,  den  polygonförmigen  Chor  mit 
einem  niedrigen  Umgange,  aber  ohne  Kapellenkranz  und  ohne  Strebebögen, 
ein  Triforium,  die  Fenster  lancetförmig  theils  einzeln  stehend,  theils  drei 
unter  einem  Rundbogen  vereinigt  (Fig.  37). 

Zu  den  wichtigsten  belgischen  Denkmälern  dieser  Epoche  gehört  das 
Cistercienserkloster  Villers,  unfern  Nivelles,  das,  obgleich  schon  1147 
gegründet,  doch  erst  seit  1197  solidere  Gebäude  erhielt.  Bald  nach  diesem 
Jahre  mag  das  Refectorium  ent- 
standen sein,  dessen  Gewölbe  im  In-  '^'  ^'' 
neren  durch  eine  Säulenreihe,  im 
Aeusseren  durch  starke  Strebepfeiler 
gestützt  werden  und  dessen  obere 
Fenster  einfach  rundbogig  sind,  die 
grösseren  unteren  aber  schon  Maass- 
werk, zwei  durch  einen  Kreis  ver- 
einigte und  von  einem  Rundbogen 
umschlossene  Spitzbögen,  enthalten. 
Aber  auch  die  Kirche,  obgleich  nach 
neueren  Ermittelungen  erst  in  den 
Jahren  1240  bis  1260  gebaut  i),  zeigt 
noch  und  zwar  sehr  wunderliche 
Uebergangsforraen.  Das  Schiff  ist  in 
der  That  schon  frühgothisch;  Rund- 
säulen, auffallenderweise  mit  runder 
Basis  und  achteckigem  aber  unver- 
ziertem  Kapital,  mit  spitzbogigen, 
aber  derb  und  rund  profilirten  Ar- 
caden,  ein  ähnliches,  blindes  Triforium, 
einfache  Lancetfenster  (Fig.  38);  das 

Oberschiff  im  Aeusseren  von  ausgebildeten  aber  undurchbrochenen  Strebe- 
bögen gestützt,  das  Gesims  aber  noch  auf  Kragsteinen  ruhend.  Der  Chor, 
polygonförmig  geschlossen,  hat  drei  Reihen  Fenster,  oben  und  unten  wieder 
lancetförmige,  in  der  Mitte  dagegen  unter  einem  Rundbogen  zwei  über- 
einandergestellte  kleine  Kreisfenster,  und  diese  auffallende  Form  wiederholt 
sich  an  den  Kreuzfa§aden  noch  Avunderlicher,  indem  hier  drei  verbundene 
rundbogige  Arcaden  jede  drei   solcher  Kreisfenster  und  überdies  in  ihren 


Andenaerde. 


1)  Vgl.  Schayes  im  Messager  des  scienses  et  des  arts  1852,  S.  3  fi'.,  der  dadurcli 
seine  frühere,  in  der  Hist.  de  l'arch.  en  Belgique  III,  p.  28  tf.  enthaltene  Angabe  be- 
richtigt. 


168 


Belgien. 


Fig.  as. 


Zwickeln  noch  zwei  derselben  Art  haben.  (Fig.  39  ff.)  Eine  unschöne  Form,  die 
hier  um  so  auffallender  ist,  weil  sie  sich  in  französischen  Bauten  gewiss  nicht 
und  überhaupt  im  Abendlande,  so  viel  ich  weiss,  nirgends  findet,  dagegen  sehr 
an  die  kreisförmigen  Oeffnungen  in  den  Marmortafeln  byzantinischer  Fenster 
erinnert,  die  namentlich  an  der  Sophienkirche  von  Konstantinopel,  am 
Katholikon  zu  Athen  und  sonst  häufig  vorkommen^).  Das  ganze  Gebäude 
giebt  uns  wieder  ein  Beispiel  des  eigenthümlichen  Erfindungsgeistes,  der 
sich  überall  in  den  Cistercienserbauten  zeigt.  "Während  hier  die  Anwendung  von 

Strebepfeilern  und  Strebebögen  auf  einen  fran- 
zösischen Einfluss  deutet,  der  bei  den  Verhält- 
nissen dieses  Ordens  sehr  erklärbar  ist,  geben 
andere  Bauten  den  Beweis  langer  Beibehaltung 
romanischer  Formen.  So  der  Chor  der  Kirche 
St.  Leonhard  in  Leau  (Zout-Leeuw)  in  Süd- 
brabant  an  der  Grenze  der  Grafschaft  Limburg, 
der  im  Jahre  1237  begonnen  wurde.  Er  hat 
nämlich  wie  die  Kirche  von  Audenaerde  den 
Polygonschluss  mit  Umgang,  aber  ohne  Kapellen 
und  Strebebögen,  Rundsäulen,  Maasswerkfenster 
und  überhaupt  einzelne  völlig  gothische  Formen, 
dabei  aber  unter  dem  Dache  des  Umgangs  noch 
eine  Zwerggallerie  nach  rheinischer  Weise, 
deren  Säulchen  hier  jedoch  Spitzbögen  tragen. 
Wir  sehen  also  in  diesen  Gegenden  einen 
Uebergangsstyl ,  der  zum  Theil  durch  die 
Mischung  deutscher  und  französischer  Formen 
entsteht,  aber  doch  auch  manche  Eigenthüm- 
lichkeiten  ausbildet.  Dahin  gehört  zunächst 
die  aus  inneren  Spitzbögen  und  einem  um- 
schliessenden  Rundbogen  zusammengesetzte 
Fensterform,  dahin  besonders  die  Neigung  für 
die  einfache  Rundsäule  und  zwar  schon  frühe  mit  runder  Basis  und  achteckigem 
Kapital;  dahin  endlich  die  Annahme  des  Umgangs,  aber  ohne  Kapellenkranz. 
Diese  Eigenthümlichkeiten  sind  um  so  auffallender,  weil  sie  sich  weder  aus  der 


Villers. 


^)  Vgl.  Albert  Lcnoir,  Architecture  nionastique,  pag.  271,  283,  302.  Es  ist  nicht 
wohl  denkbar,  rtass  liier  wirklich  ein  Mal  eine  durch  das  Kaiserthnm  Balduins  von 
Flandern  vermittelte  byzantinische  Reminiscenz  zum  Grunde  liege,  da  der  Cistercienser- 
orden  kein  geeigneter  Vermittler  mit  dem  Orient  war.  Das  zufällige  Zusammentreffen 
erklärt  sich  vielmehr  durch  die  Vorliebe  für  kreisförmige  Oeffnungen,  die  wir  in  den 
Bauten    dieses  Ordens  überall  finden. 


Uebergangsstyl.  —  Kathedrale  von  Brüssel. 


169 


Anhänglichkeit  an  einen  älteren  einheimischen  Styl,  noch  aus  irgend  einem 
architektonischen  Princip  erklären  lassen.  Vielleicht  sind  sie  zumTheil  der 
noch  dunkelen  Regung  des  malerischen  Triebes  zuzuschreiben,  dem  die  con- 
structive  Richtung  des  französischen  Styls  fremd  war,  dem  aber  auch  die 
unruhigen  Details  des  deutschen  Uebergangsstyls  nicht  zusagten,  und  der 
nur  im  Einzelnen  wirksame,  derbe  oder  gefällige  Formen  suchte,  deshalb 
die  Fayade  besonders  ausbildete  und  die  Rundsäule  wegen  ihrer  weicheren 
Schatten  vorzog.    Dazu  kam  dann  aber  auch  ein  Einfluss  des  französischen 


Fig  3(*. 


ViUers 


T^^^^^^ 


Styls,  welcher  es  verursachte,  dass  der  Eindruck  der  Gebäude  (mit  Ausnahme 
der  Maasgegenden)  ungeachtet  der  verschiedenen  Tendenz  mehr  dem  der 
französischen  als  der  deutschen  Schule  gleichkommt. 

Endlich  erlangt  dann  aber  doch,  etwa  um  die  Mitte  des  dreizehnten 
Jahrhunderts,  der  gothische  Styl  in  französischer  Weise  die  Oberhand,  und 
zwar  zuerst  vielleicht  an  der  Kathedrale  von  Brüssel,  St.  Gudula.  Der 
mächtige  Bau,  in  seiner  hohen  Lage  und  mit  den  zu  ihm  führenden  Treppen 
so  imposant,  ist  das  Werk  mehrerer  Jahrhunderte.  Im  Schiffe  herrscht,  mit 
Ausnahme  der  Seitenmauern,  der  spätgothische  Styl  vor,  der  Chor  aber  war 
im  Jahre  1226  schon  im  Bau  begriffen,  obgleich  er  erst  um  1280  vollendet 


170  Belgien. 

wurde.  Die  Fenster  des  Umgangs  sind  noch  rundbogig,  die  Rundsäulen 
schwer,  das  Triforiuni  mit  derbem,  primitivem  Maasswerk,  die  Oberlichter 
einfache  Lancetfenster,  aber  die  Anlage  ist  doch  die  reichere,  mit  Umgang 
und  Kapellen,  und  die  ganze  Ausführung  im  Geiste  der  französischen  Gothik. 

Von  nun  an,  etwa  seit  1240,  wird  diese  in  allen  Theilen  Belgiens,  aber 
freilich  nicht  ohne  manche  Modificatiouen,  angewendet.  So  in  der  Frauen- 
kirche zu  Tongern  (angefangen  1240),  in  den  Dominikanerkirchen  zu 
Gent  und  Löwen  (um  1250),  an  der  Kirche  zu  Diest  (1253),  im  Schiffe 
von  St,  Martin  zu  Ypern,  einem  der  schönsten  Gebäude  dieser  Zeit 
1254 — 1256)  ^),  und  endlich  in  der  mächtigen  fünfschiffigen  Liebfrauenkirche 
zu  Brügge  (1230 — 1297),  bei  denen  das  französische  System  dahin  verein- 
facht ist,  dass  Umgang  und  Kapellen  gemeinschaftlich  überwölbt  sind.  Auch 
noch  in  diesen  Bauten  kommt  fast  durchweg  die  einfache  Rundsäule  mit 
runder  Basis  und  achteckigem  Kapital  vor,  nur  in  der  Frauenkirche  von 
Tongern  finden  sich  und  auch  da  nur  vereinzelt  kantonirte  Säulen.  Der  ent- 
wickelte Bündelpfeiler  fand  keine  Aufnahme,  man  begnügte  sich  damit,  die 
Säule  schlanker  zu  bilden.  Auch  bleibt  der  Chor  noch  meistens  ohne  Kapel- 
lenkranz; in  der  Kirche  von  Dinant  an  der  Maas  und  in  St.  Walburgis 
von  Furnes  hat  er  den  einfachen  Umgang,  in  den  meisten  Fällen  ist  er 
ohne  solchen  polygonförmig  geschlossen.  Die  Fenster  sind  lancetförmig 
oder  doch  mit  einfachstem  Maasswerk.  Man  begnügt  sich  noch  immer  mei- 
stens mit  einem  Thurme,  auf  der  Vierung  des  Kreuzes  oder  vor  der  Fa^ade. 
Sculptur  ist  nur  sparsam  angebracht;  die  Kapitale  sind  kahl  oder  mit  ein- 
fachem knospenartigem  Blattwerk  besetzt,  der  Schmuck  der  Strebepfeiler 
und  Fialen,  wo  solche  vorkommen,  ist  dürftig.  Das  schöne  Seitenportal  an 
St.  Servatius  in  Maestricht  und  die  Portale  von  Dinant  und  Huy  sind 
wohl  die  einzigen  Prachtthore,  die  schon  in  dieser  Epoche  mit  Statuen  ver- 
ziert wurden.  Und  so  sehen  wir  denn  auch  die  plastische  Neigung  noch 
wenig  entwickelt,  gleich  als  ob  diese  Gegenden  ihre  künstlerische  Kraft  für 
die  der  Malerei  günstige  Zeit  bewahrt  hätten. 

Nur  in  einem  einzigen  Gebäude  sehen  wir  den  gothischen  Styl  im  vol- 
len Glänze  seiner  Schönheit,  in  dem  Chore  der  Kathedrale  von  Tournay, 
welcher  erst  1318  geweiht  und,  laut  Inschrift,  1325  überwölbt,  aber  ohne 
Zweifel  schon  1242  begonnen  wurde.  Hohe  und  schlanke  Bündelpfeiler  mit 
rundem  Kern,  deren  Dienste  in  den  Seitenschiffen  während  des  Baues  zu 
grösserer  Sicherheit  der  Zahl  nach  vermehrt  wurden,  trennen,  überhöhte 
Spitzbögen  tragend,  den  Umgang  von  dem  Mittelschiffe,  das  zu  der  bedeu- 
tenden Höhe  von  100  Fuss  aufsteigt  und  durch  mächtige  Strebebögen  ge- 
stützt ist.    Der  TTmgang  ist,  wie  bei  der  Liebfrauenkirche  zu  Brügge,  mit 


^)  Ein  Joch  des  Langhanses  bei  Essenwein  a.  a.  0. 


England.  171 

den  fünf  Kapellen  zusammengezogen.  Die  viertheiligen  Triforien  sind  ele- 
gant, die  Fenster,  unten  zweitlieilig,  oben  vier-  und  fünftheilig,  haben  zum 
Theil  noch  ihr  altes,  schönes  Maasswerk.  Das  Ganze  ist  in  edler  Formbil- 
dung die  bedeutendste  Leistung  des  frühgothischen  Styls  in  Belgien  und 
nicht  unwürdig,  dem  gleichzeitigen  Chore  de  sKölner  Doms  an  die  Seite  ge- 
stellt zu  werden,  so  dass  die  Kathedrale  von  Tournay  in  ihren  verschiede- 
nen Theilen  in  der  That  den  ganzen  Entwickelungsgang  der  Architektur  in 
Belgien  während  dieser  Epoche  höchst  vollständig  repräsentirt. 


Viertes  Kapitel. 

Der  früligothisclie  Styl  in  England. 

Die  älteren  englischen  Archäologen  haben  eifrig  dafür  gestritten,  ihrenr 
Vaterlaude  die  Erfindung  des  gothischen  Styls  zu  vindiciren,  meistens  frei- 
lich, indem  sie  den  Spitzbogen  für  das  einzige  charakteristische  Merkmal 
dieses  Styls  ansahen,  und  überdies  auf  Grund  unrichtiger,  von  der  heutigen 
Kritik  auch  in  England  selbst  verworfener  Daten.  Es  steht  vielmehr  fest,, 
dass  die  ersten  englischen  Gebäude,  denen  man  gothischen  Styl  zusprechen 
kann,  nicht  eher  als  in  den  ersten  Decennien  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
entstanden  sind,  und  dass  ihnen  Anregungen  und  Einwirkungen  aus  jenen 
französischen  Provinzen  vorausgingen,  welche  wir  als  die  Geburtsstätte  des 
Styls  betrachtet  haben.  Allein  es  ist  richtig,  dass  dennoch  dieser  Styl  hier 
sehr  bald  ein  eigenthümlich  englischer,  von  dem  französischen  verschiedener 
wurde,  und  dass  sich  in  ihm  der  britische  Nationalcharakter  mit  gleicher 
Entschiedenheit  wie  im  normannischen  Style,  wenn  auch  von  einer  ganz  an- 
deren Seite,  ausprägte^). 


^)  Die  Literatur  über  England  vgl.  Bd.  IV,  S.  572.  Ausserdem  .1.  H.  Packer,  au 
intruction  to  the  study  of  gothic  achitecture,  Oxford  und  London  1867.  —  Die  Priorität 
des  englischen  Styls  wird  jetzt,  soviel  ich  weiss,  nicht  mehr  behauptet,  während  schon  seit 
mehr  alssechzig  Jahren  einzelne  Engländer,  Whittington  in  dem  angeführten  Werke,  Hope 
u.  A.,  jener  den  Franzosen,  dieser  den  Deutschen  den  Vorgang  einräumten.  Dass  man 
dennoch  den  dortigen  frühgothischen  Styl  mit  dem  Namen  des  „frühenglischen"  (early 
english')  zu  bezeichnen  fortfährt,  ist  durch  die  nationale  Eigenthümlichkeit  des  Styls 
und  dadurch  gerechtfertigt,  dass  das  Entstehen  dieses  Styls  in  der  That  mit  der  Ver- 
schmelzung des  sächsischen  und  normannischen  Stammes,  und  daher  mit  dem  Ent- 
stehen der  englischen  Nation  gleichzeitig  ist.  Um  den  Schein  einer  Anmaassung  zu 
vermeiden  und  die  anderen  Nationen  der  eigenen  gleichzustellen,  haben  einige  englische 
Schriftsteller  angefangen,  den  frühgothischen  Styl  überall  nach  den  Nationen,  also  als 
,, frühdeutschen,  frühfranzösischen"  (early  german,  early  french)  zu  bezeichnen,  was 
indessen  keine  Nachahmung    verdient,    da    der    gothische  Styl    im  Allgemeinen    mehr 


■^12  England, 

la  Frankreich  und  selbst  in  Deutschland  entstanden  die  ersten  Abwei- 
chungen von  den  romanischen  Formen  durch  das  Streben  nach  vollständiger 
.und  sicherer  Ueberwölbung  und  nach  geräumigen,  höheren  und  schlankeren 
Verhältnissen  der  Kirchen.  In  England  finden  wir  keine  Spur  dieser  Bedürf- 
nisse. Die  Wölbung,  namentlich  das  Kreuzgewölbe,  wurde  allerdings  ange- 
wendet, aber  nur  bei  kleineren  und  niedrigeren  Räumen,  in  Seitenschiffen, 
•Chören,  Krypten,  oder  in  befestigten  Gängen  der  Schlösser.  Für  das  Ober- 
schiff der  Kirche  behielt  man  dagegen  noch  immer  die  Holzdecke  bei;  wir 
wissen  kein  einziges  sicheres  Beispiel  der  Ueberwölbung  vor  der  Einführung 
des  gothischen  Styls^),  ja  wir  finden  die  Holzdecke  hier  auch  noch  später 
häufiger,  als  auf  dem  Continente;  es  scheint,  dass  die  seemännische  Gewohn- 
heit hier  wie  in  Holland  eine  Neigung  für  den  Gebrauch  des  Holzes  gab. 

Allerdings  bemerken  wir  indessen  bald  nach  dem  Schlüsse  der  vorigen 
Epoche  einige  Neuerungen.  Man  fühlte  das  Schwerfällige  und  Harte  des 
älteren  Styls  und  wollte  durch  saubere  Behandlung  des  Steines,  durch  feinere 
Details  und  reicheren  Schmuck  das  Auge  befriedigen.  Man  erfand  daher 
nun  phantastische  Verzierungen,  aber  man  ging  dabei  durchaus  von  den 
Elementen  des  älteren  Styls  aus.  Die  Würfelkapitäle,  die  Wandfelder  und 
Arcadenreihen  wurden  beibehalten;  in  der  Anordnung  blieb  die  horizontale 
Theilung  der  Flächen,  in  den  Ornamenten  die  geradlinige  Bildung  nach  wie 
vor  herrschend.  Es  war  nicht  eine  Umwandlung  der  älteren  Bauweise,  son- 
dern nur  eine  Steigerung  der  schon  in  ihr  vorhandenen  decorativen  Tendenz; 
man  behielt  selbst  alle  Details  bei,  und  suchte  nur  den  Schmuck  minder 
barbarisch  und  willkürlich  zu  machen,  seine  Vertheilung  und  Ausführung 
besser  zu  regeln. 

Es  gelang  wirklich,  einen  in  dieser  Beziehung  ganz  befriedigenden 
Styl  zu  schaffen,  der  namentlich  an  manchen  kleineren  Bauten  von  grosser 
Anmuth  und  Zierlichkeit  ist.  Er  gleicht  in  der  Vorliebe  für  phantastische 
Formenspiele  einigermaassen  der  maurischen  Architektur,  und  hat,  wenn  er 
ihr  auch  in  Beziehung  auf  Feinheit  des  Geschmacks  und  auf  pikante  Gegen- 
sätze nachsteht,  den  Vorzug  grösserer  Ruhe  und  Würde.  Daher  finden  wir 
denn,  dass  man  sich,  auch  als  der  Anstoss  von  aussen  gegeben  war,  schwer 
von  ihm  trennte  und  ihn  noch  gegen  das  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts 
anwendete,  während  man  schon  an  einigen  Stellen  im  gothischen  Style  baute. 


.einen  kosmopolitischen,  als  einen  nationalen  Charakter  hat,  und  das  nationale  Element 
ilieser  schon  früher  bestehenden  Völker  sich  schon  im  romanischen  Style  mit  mindestens 
gleicher  Stärke  ausgesprochen  hatte. 

^)  Der  Stelle  des  Giraldus  Cambrensis,  nach  welcher  die  Ueberwölbung  der  Kathe- 
.drale  von  Lincoln  um  1143  erfolgt  sein  soll,  und  der  Wahrscheinlichkeit,  dass  sie 
hloss  auf  die  Seitenschiffe  zu  beziehen  sei,    habe  ich  schon  Bd.  IV,  S.  583  gedacht. 


Kapitelhaus  zu  Bristol. 


173 


Ein  Beispiel  zierlichster  Ausbildung  dieses  spätuormannischen  Styls 
giebt  das  Kapitelhaus  der  jetzigen  Kathedrale  von  Bristol.  Es  ist  ein 
rechteckiger  Raum,  von  zwei  Kreuzgewölben  bedeckt,  dessen  schmale  Seiten- 
die  eine  die  Eiugangsthüre,  die  andere  drei  verbundene  hohe  rundbogige 
Fenster,  die  einzigen  des  Raumes,  enthalten.  An  den  steinernen  Bänken^ 
welche  an  den  Wänden,  mit  Ausnahme  der  Thürseite,  herumlaufen,  bildet 
eine  Reihe  von  kleinen  Nischen  die  Rücklehnen  der  einzelnen  Sitze.  Dar- 
über steht  auf  einem  strickförmig  verzierten  Gesimse  eine  kräftige  Arcatur 
von  Säulen  mit  verflochtenen  Bögen,  alles  daran  reich  verziert,  die  Stämme 
regelmässig  abwechselnd  theils  mit  spiralförmigen  Kanneluren  theils  glatt; 
die  Würfelkapitäle  mit  verschie- 
denen Ornamenten ,  die  Bögen  *"'^-  ^-• 
zwar  mit  gleicher  Verzierung, 
aber  stark  vertieft,  und  mit 
sorgfältiger  Andeutung  der  Durch- 
kreuzung der  verschiedenen  Bö- 
gen^). Endlich  sind  dann  auch 
die  Bogenfelder  über  diesen  Säu- 
lenreihen, und  zwar  in  jedem 
der  sechs  Wandflächen  mit  einem 
anderen  teppichartigen  Muster, 
und  die  spitzbogigen  Rippen, 
welche  die  Gewölbe  tragen,  mit 
Zickzackformen  reich  ge- 
schmückt. Im  ganzen  Räume  ist 
also  keine  unverzierte  Stelle,  er 
ist  behandelt  wie  die  Arbeit 
eines  Goldschmieds;  der  Wech- 
sel der  Decoration,  auf  manchen 
feineren  Beziehungen  und  Ge- 
gensätzen beruhend,  regt  die 
Phantasie  aufs  Anmuthigste  an  -). 

Der  erste  Prior  der  Abtei  (denn  die  Kirche  ist  erst  viel  später  zur  Ka- 
thedrale erhoben)  wurde  im  Jahre  1148  eingesetzt,  dieser  elegante  Bau 
kann  daher  nicht  wohl   eher,  als  nach   Beendigung  der  ersten    nothwen- 


Kathedrale  von  Canterbury. 


1)  Ich  füge  die  bereits  Bd.  IV,  S.  587  g-egebene  Abbildung  uochmals  hier  bei, 
um  die  im  Texte  erwähnte  Anorduung  der  durcliflochteuen  Bögen  anschaulich  zu 
machen,  welche  diesen  in  den  englisclien  Bauten  niemals  felilt  und  in  Bristol  sehr  viel 
eleganter  ausgeführt  ist,  als  in  Canterbury. 

-)  Abbildungen  bei  Britton,  Cath.  Ant  Vol.  V,  und  bei  Wiiikles  English  Cathe- 
drals  Vol.  II.   S    127. 


J^74  England. 

digen  Einrichtung,  etwa  im  letzten  Viertel  des  zwölften  Jahrhunderts, 
begonnen  sein,  und  zeigt  uns  also,  dass  um  diese  Zeit  jener  reiche  spätnor- 
mannische Styl  auf  seiner  Höhe  war. 

Bei  grösseren  Bauten  war  nun  zwar  diese  Zierlichkeit  weder  ausführ- 
bar noch  genügend.  Dennoch  blieb  man  auch  hier  im  Ganzen  bei  den  For- 
men des  bisherigen  Styls  und  suchte  nur  die  Schwere  der  tragenden  Glieder 
und  den  Contrast  der  Rundsäule  gegen  den  Bogenansatz  zu  mildern.  Häufig 
wurden  daher  statt  dieser  Säulen  mehr  gegliederte  Pfeiler  angebracht.  Auch 
diese  Aenderungen  treten  erst  im  letzten  Viertel  des  zwölften  Jahrhunderts 
ein.  Im  Kreuzschiffe  der  Kathedrale  von  Ely,  das  um  1174  vollendet 
wurde,  sehen  wir  den  alten  Styl  noch  in  seiner  ganzen  Derbheit,  viereckige 
kr  euzförmige  Pfeiler  wechseln  mit  Rundsäulen,  an  welchen  acht  verschiedene 
plumpe  Würfelkapitäle  ausladen.  Im  Langhause,  welches  unmittelbar  nach- 
her in  Angriff' genommen  und  bis  1189  beendet  wurde,  ist  schon  alles  gemil- 
dert. Die  Arcaden  sind  durchgängig  von  gegliederten  und  schlankeren  Pfei- 
lern getragen,  die  Bögen  reicher  mit  mehreren  Rundstäben  profilirt,  die 
einen  sanfteren  Wechsel  von  Licht  und  Schatten  geben;  die  Gallerieöffnun- 
gen  getheilt.  Das  Fensterstockwerk  ist  ziemlich  leicht  gehalten,  und  eine 
dreifache,  hohe  Rundsäule  steigt  vom  Boden  bis  zur  Balkendecke  auf  und 
verbindet  alle  drei  Stockwerke.  Das  Ganze  erscheint  daher  schlanker,  har- 
monischer, besser  durchgebildet,  als  die  bisherigen  Bauten,  obgleich  alle  De- 
tails noch  ganz  die  alten  geblieben  sind.  Noch  deutlicher  ist  das  Bestreben 
nach  milderen  Formen  in  dem  Chore  der  Kathedrale  von  Norwich,  der 
nach  einem  Brande  von  1171  bis  1191  erbaut  wurde.  Er  ist  halbkreisför- 
mig und  zwar  mit  dem  Umgange  und  früher  sogar  mit  drei  angebauten  Ka- 
pellen. Die  Details  sind  alle  dem  alten  Style  entlehnt,  aber  die  Pfeiler 
schon  mit  schlanken  Säulen  umstellt,  und  namentlich  an  der  Gallerie  in 
solche  aufgelöst,  die  Archivolten  lebendig  gegliedert,  so  dass  das  Innere 
einen  überaus  befriedigenden  Eindruck  macht  *■).  Bei  der  Ausstattung  des 
Aeusseren  liebte  man  zwar  die  trotzigen,  kriegerischen  Formen  des  bisheri- 
gen Styls  zu  selir,  um  sie  bedeutend  zu  mildern,  aber  selbst  bei  den  engge- 
stellten Säulen  der  Arcadenreihen  bemerken  wir  doch  statt  der  schweren 
"Würfelknäufe  schlanke  und  mannigfaltige  Kelchkapitäle,  an  den  gedrückten 
Bögen  den  Versuch  feinerer  Profilirung,  wie  wir  dies  namentlich  an  dem  um 
1180  erbauten  Glockenthurme  der  jetzigen  Kathedrale  von  Oxford  wahr- 
nehmen können  (Fig.  43). 

Während  in  allen  diesen  Bauten,  welche  die  Neigung  zu  feineren  For- 
men zeigen,  der  Spitzbogen  nicht  vorkommt,    finden  wir  ihn   in  einigen 


^)  Ansichten  bei  Britton  ,    Catli.  Antiqii.  Vol.  11,    und    in  Winkles    English  Cathe- 
arals  Vol.  II,    p.  93. 


Erste  Anwendung  des  Spitzbogens. 


175 


ungefähr  gleichzeitigen  und  selbst  älteren  Kirchen,  und  zwar  in  ganz  bestimmter, 
bewusster  Anwendung  und  bei  übrigens  sehr  viel  einfacherer,  selbst  roherer 
Behandlung.  Auch  hier  kommt  er  indessen  nur  an  den  Scheidbögen  vor, 
und  ist  mit  rein  normannischen  Formen,  mit  dem  Rundpfeiler,  der  Balken- 
decke, der  rundbogigen  Bedeckung  von  Thüren  und  Fenstern,  mit  schwer- 
fälliger Gliederung  und  mit  normannischen  Ornamenten  verbunden.  Bedürfte 
es  noch  des  Beweises,  dass  diese  Bogenform  nicht  der  Ausgangsj^unkt  des 
gothischen  Styls,  sondern  nur  ein  Hülfsmittel  zu  seiner  Ausbildung  bei  einer 
anderweitig  vorhandenen  Tendenz  gewesen,  so  würden  gerade  diese  Gebäude 
ihn  liefern.  Denn  er  hat  auf  die  Um  ■ 

gestaltung    der   Formen    so     wenig  '^'  *  ' 

Einfluss  gehabt,  hängt  so  wenig  mit 
einer  Richtung  auf  das  Schlanke  und 
Aufstrebende  zusammen,  dass  die 
Rundsäulen  hier  Aielmehr  noch  stärker 
und  kürzer  gebildet  sind,  als  sonst, 
und  begreiflicher  Weise  im  Gegen- 
satze gegen  den  steilen  Bogen  noch 
schwerfälliger  erscheinen.  Es  kann 
daher  nur  die  Meinung  von  der 
grösseren  Festigkeit  dieser  Bogenart 
gewesen  sein,  welche  ihr  hier  Ein- 
gang verschaffte  und  ihre  Verbindung 
mit  jenen  gedrungenen  und  übermäs- 
sig soliden  Gliedern  hervorbrachte. 
Sehr  merkwürdig  ist  nun,  dass  alle 
Bauten,  in  denen  wir  den  Spitzbogen 
in  dieser  Weise  finden,  Klosterkirchen 
sind  und  zwar  fast  sämmtlich  dem 
Cistercieuserorden  angehörig.  So  die  Kirchen  der  Abtei  von  K i r k s t a  11 
(1152  —  1182)1),  vouBuildwas -)  und  von  Fountains,  welche  beide  1135 
gestiftet  sind,  aber  nach  Yermuthungen,  zu  denen  ihre  Geschichte  Veranlas- 
sung giebt,  wohl  erst  nach  einem  oder  mehreren  Decennien  zum  Kirchenbau 
gelangten,  dann  die  von  Furness,  nächst  der  Kirche  zu  Fountains  die 


Christ-church ,  Oxford. 


1)  BrittoD,  arcliit.  ant.  IV. 

2)  Collectanea  archeologica:  Communications  made  to  the  British  Archaeological 
Association  vol.  I.  London  1862,  p.  99—112,  Buildwas  Abbey,  by  Goidon  M.  Hills, 
mit  Abbildungen.  Ferner  Buildwas  Abbey.  By  the  Rev.  R.  W.  Eyton;  Architectural 
notices  of  the  conventual  church  of  Buildwas  Abbey.  By  the  Rev.  John  Louis  Petit. 
The  archaeological  Journal,   vol.  XV,  1858. 


176 


England. 


f  ig.  44. 


wichtigste  des  Ordens,  wohl  erst  nach  1160  begonnen,  obwohl  die  Grün- 
dung schon  1127  stattfand i),  endlich  die  von  Byland,  1143  gestiftet,  aber 

erst  1177  an  die  gegen- 
wärtige Stelle  verlegt.  Nur 
die  Kirche  zu  Malras- 
bury  2)  gehört  nicht  die- 
sem Orden,  sondern  einem 
Benediktinerkloster,  und 
zwar  sehr  viel  älterer 
Stiftung  an;  die  Gleich- 
heit ihrer  Formen  mit 
denen  jener  anderen  Kir- 
chen lässt  indessen  darauf 
schliessen,  dass  ihre  Bau- 
zeit, über  welche  die 
Nachrichten  fehlen,  jenen 
nahe  stehe.  Ein  Bau  des 
Augustinerordens,  die 
Abteikirche  von  Cart- 
melj,  Lancashire,  gegrün- 
det 1188,  zeigt  eine  stete 
Mischung  des  runden 
und  des  spitzen  Bogens;  so  kommen  im  Chor  über  runden  Arkaden  schlichte 
Spitzbogentriforien  vor  '\ 


Malnistury. 


^)  E.  Sliarpe,  on  the  ruins  of  the  cistercian  mouastery  of  St.  Mary  in  Furness, 
mit  Abljüdungen,  vol.  VI  des  Journal  of  the  British  Arcliaeological  Association, 
London  1851. 

-)  Abbildungen  der  Kirchen  von  Malmsbury  und  Buildwas  in  Britton's  Arcliit. 
Antiqu.  Vol.  I,  95,  IV,  42 — 51,  und  V,  p.  187,  der  meisten  übrigen  genannten  Kirchen 
in  dem  ausgezeichneten  Werke  von  Edmund  Sharpe,  Architectural  Paralleles  or  vievvs 
of  the  principal  Abbey  Churches.  London,  gr.  fol.  Nachrichten  über  alle  Cistercieuser- 
klöster  findet  man  in  Dugdale,  Monasticon  Anglicanum  (neue  Ausgabe),  Vol.  V,  mit 
freilich  sehr  ungenügenden  Abbildungen.  Die  Bauzeit  von  Kirkstall  (p.  526  und  530) 
scheint  wohl  beglaubigt.  Buildwas  (p.  355)  wurde  erst  einige  Zeit  nach  der  Stiftung 
dem  Cistercienserorden  übergeben,  und  wird  erst  da  seine  Kirche  erhalten  haben.  Von 
Fountains  wird  zwar  (p.  286)  in  den  Klosternachrichten  ziemlich  bestimmt  berichtet, 
dass  der  Bau  erst  1205  begonnen  und  1245  beendet  sei;  indessen  zeigt  die  Kirche  so 
wesentlich  verschiedene  Theile,  dass  man  wohl  annehmen  darf,  dass  diejenigen,  welche 
die  Rundsäule  und  den  schweren  Spitzbogen  haben,  aus  einer  älteren  Bauzeit  stammen. 
Dies  nimmt  auch  Rickmann   in  seinem  Verzeichniss  der  englischen  Kirchen  an. 

•')  Cartmel  Priory  Church,  Lancashire.  By  the  late  Rev.  J.  L.  Peiit.  —  Tiie  Ar- 
chaeological  Journal,  vol.  XXVII.  1870,  mit  Abbildungen. 


Aufkommen   des  Spitzbogens.  ^11 

Der  Cistercienserordeu  verbreitete  sich,  wie  in  allen  Ländern,  auch  in 
England  um  die  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts,  die  meisten  seiner  auch 
hier  sehr  zahlreichen  Stiftungen  stammen  aus  den  Jahren  1130 — 1160. 
Alle  diese  Klöster  wurden  zuerst  von  Sendlingen  aus  französischen  Mutter- 
klöstern besetzt,  welche  mit  anderen  Traditionen  des  Ordens  ohne  Zweifel 
auch  die  architektonischen  mitbrachten.  Zu  diesen  gehörte  aber,  wie  wir 
im  südlichen  Frankreich  gesehen  haben  und  in  Deutschland  wahrnehmen 
werden,  die  spitze  Form  der  Scheidbögen.  Es  ist  daher  überaus  wahrschein- 
lich, fast  gewiss,  dass  diese  dem  normannischen  Style  mehr  als  dem  romani- 
schen der  anderen  Länder  fremde  Bogenart  durch  diesen  Orden  aus  Frank- 
reich hieher  verpflanzt  und  nicht  bloss  in  den  genannten,  sondern  auch  in 
anderen  gleichzeitigen,  später  veränderten  Cistercienserkirchen  angewendet 
wurde.  Dass  sie  sich  nicht  schneller  verbreitete,  ausser  den  Grenzen  der 
Cistercienserklöster  zunächst  nur  ein  Mal,  und  zwar  wieder  in  einem  Kloster, 
Anwendung  fand,  erklärt  sich  wohl  hinlänglich  daraus,  dass  die  Verbindung 
des  Spitzbogens  mit  den  schweren  P^ormen  des  normannischen  Styls  nur 
diesen  vorzugsweise  auf  Solidität  bedachten  mönchischen  Baumeistern  erträg- 
lich schien. 

Indessen  war  der  spätnormannische  Styl  bei  seiner  überwiegend  decora- 
tiven  Tendenz  der  Annahme  neuer  Formen  nicht  abgeneigt.  Daher  benutzte 
man  bald  darauf  auch  den  Spitzbogen,  ohne  constructive  Tendenz,  recht 
eigentlich  zur  Abwechselung.  Sehr  deutlich  erscheint  er  so  in  der  bald  nach  1189 
erbauten  Vorhalle  der  Kathedrale  von  Ely ,  wo  von  fünf  Reihen  übereinander- 
gestellter,  bald  einfacher,  bald  durchflochtenerBögen  die  oberste  den  Spitzbogen 
hat.  Dagegen  zog  man  zu  den  Fenstern  noch  immer  den  Rundbogen  vor;  so  in 
der  St.  Josephskapelle  der  damals  noch  bischöflichen  Abtei  zu  Glaston- 
bury,  die,  eines  der  Beispiele  reichsten  spätnormannischen  Styls,  bei  rund- 
bogigen,  aber  schlank  gebildeten  Fenstern  und  Portalen  spitzbogige  Gewölbe 
und  Scheidbögen  hat  *].  Die  Urkunde,  in  welcher  Heinrich  IL  für  sich  und 
seine  Erben  die  Herstellung  der  abgebrannten  Kirche  gelobt,  ist  vom  Jahre 
1178,  der  Aufbau  dieser  Kapelle  scheint  indessen  nicht  vor  1186  begonnen 
zu  sein-).  Allein  ungeachtet  dieser  späten  Entstehung  und  der  zierlichen, 
fast  überreichen  Ausstattung  sind  die  Details  und  die  Wirkung  des  Ganzen 
noch  völlig  die  des  älteren  Styls. 

Bedeutsamer  als  die  vereinzelte  Anwendung  dieser  Bogenform  erscheint 
eine  andere  Aenderung,  die  wir  um  1180  oder  nicht  viel  früher  und  an 
einer  kleinen  Zahl  von  Kirchen,  meistens  im  Westen  Englands,  namentlich 
in  den  Kathedralen  von  Gloucester,  Hereford,  Oxford  und  in  der  Abtei 


^)  Abbildungen  bei  Britton  Arcii.  Ant.  Vol.  IV,  158  ff.    Vetusta  monumenta  Vol.  IV, 
2)  Monasticon  Angl.  I,  p.  62. 
Schnaase's  Kunstgesch.    2.  Aufl.    V.  12 


178 


England. 


Fig.  45. 


kirche  von  Tewkesbury,  endlich  auch  im  Süden,  in  der  Abteikirche  vom 
Romsey  unfern  Salisbury  finden  i).  Hier  nämlich  hat  man  das  Anstössige 
und  Schwerfällige  der  kurzen  Rundsäule  dadurch  zu  beseitigen  gesucht^  dass 
man  sie  in  schlankeren  Verhältnissen  bildete,  ähnlich  denen  der  antiken 
Säule.  In  Gloucester  hat  der  Säulenstamm  die  Höhe  von  vier^  in  Romsey 
die  von  sechs  Durchmessern.  Diese  Neuerung  bedingte  aber  mannigfache 
Veränderungen.  Die  stämmige  Gestalt  der  Säule  stand  mit  der  ganzen  bis- 
her gebräuchlichen  Anordnung  im  Zusammenhange.  Sie  gehörte  nur  den 
unteren  Arcaden  an,  über   denen  erst  ein  Stockwerk  hoher  Gallerien  und 

dann  das  der  Oberlichter  aufstieg.  Wollte 
man  dies  bewahren  und  ihr  dennoch  mit 
Beibehaltung  der  für  die  Sicherheit  des  Baues 
nothwendigen  Stärke  schlankere  Verhältnisse 
geben,  so  würde  dies  eine  übermässige  Höhe 
des  Ganzen  verursacht  haben.  Man  musste 
daher  die  Verhältnisse  der  Stockwerke  än- 
dern, und  dies  finden  wir  nun  in  diesen 
Kirchen  in  verschiedener  Weise  versucht.  In 
Gloucester,  Hereford  und  Tewkesbury  ruht 
der  Scheidbogen  noch  auf  dem  Säulenka- 
pitäl,  die  Gallerie  ist  aber  zu  einem  nie- 
drigen Triforium  zusammengeschmolzen.  In 
Oxford  und  in  Romsey  dagegen  ragt  die 
Säule  weit  über  die  Scheidbögen  hinaus, 
welche  in  halber  Höhe  des  Stammes  hier 
auf  einem  Kragsteine,  dort  auf  einer  an- 
gelegten Halbsäule  ruhen,  während  die  Ka- 
pitale der  hohen  Säulen  durch  eine  höhere 
Bogenreihe  verbunden  sind,  über  welcher 
unmittelbar  die  Oberlichter  liegen.  Zwischen 
diesen  beiden  Bögen  ist  dann  das  Triforium  angebracht,  in  Oxford  nur 
in  der  Gestalt  einfacher  Arcaden,  welche  einzeln  und  unzusammenhängend 
zwischen  den  starken  Säulen  stehen,  in  Romsey  sehr  viel  harmonischer,  in- 
dem der  auf  den  Säulenkapitälen  ruhende  Bogen  zugleich  die  Triforien- 
öffnung  umschliesst,  welche  dann  zwischen  jedem  Säulenpaar  durch  eine  klei- 
nere Säule  getheilt  ist,  deren  Kapital  mit  den  Kapitalen  der  Schiffsäulen  in 
einer  Flucht  liegt  und  mit  ihnen  gemeinsam  die  kleineren,  von  jenen  grösse- 
ren umschlossenen.  Bögen  trägt.  Diese  Anordnung  ist  in  der  That  sehr 
würdig  und  schön,  besonders  aber  auch  sehr  merkwürdig  und  bezeichnend 


Komsey. 


1)  Britton,  Arcliit.  Ant.  V. 


'       Versuche  schlankerer  Säulenbildung.  J79 

für  die  Richtung  der  englischen  Kunst.  In  gewisser  Beziehung  möchte  man, 
namentlich  in  der  Kathedrale  von  Oxford,  wo  an  der  grossen  Säule  kleinere 
Halbsäulen  angebracht  sind,  eine  Annäherung  an  den  gothischen  Bündelpfeiler 
annehmen,  da  auch  hier  ein  hoch  hinaufsteigender  Stamm  mehrere  hori- 
zontale Abtheilungen  durchläuft  und  verbindet.  Allein  in  der  That  ist  der 
Charakter  ein  ganz  anderer,  fast  entgegengesetzter.  Die  Schönheit  des 
schlank  aufsteigenden  Dienstes  am  gothischen  Pfeiler  hängt  mit  seiner  Un- 
selbständigkeit zusammen;  er  ist  nur  der  Keim,  aus  welchem  das  Gewölbe 
aufwachsen  soll.  Jene  obwohl  ziemlich  schlanke  Säule  hat  aber  keine  Be- 
ziehung auf  das  Gewölbe,  welches  gar  nicht  beabsichtigt  war,  sie  ist  durch- 
aus selbständig  und  abgeschlossen,  und  unfähig,  so  organisch  mit  dem 
Ganzen  zu  verschmelzen,  wie  es  die  Tendenz  des  gothischen  Styls  mit  sich 
brachte.  Weit  entfernt  also  demselben  entgegenzukommen,  w^ürde  die  eng- 
lische Architektur,  wenn  sie  auf  diesem  Wege  fortgeschritten  wäre,  vielmehr 
eine  ganz  andere  Richtung  erhalten  haben,  einigermaassen  den  Bauten  des 
sechszehnten  und  siebenzehnten  Jahrhunderts  ähnlich  geworden  sein,  welche 
die  antike  Säule  den  Bedürfnissen  des  christlichen  Kirchenbaues  an- 
passen wollten.  Freilich  aber  entsprach  dies  nicht  dem  Geiste  der  Zeit,  der 
daher  auch  der  weiteren  Entwickelung  dieser  Tendenz  entgegentrat. 

Denn  ungefähr  um  dieselbe  Zeit  wui^de  an  einer  anderen  Stelle,  an  der 
Kathedrale  zu  Canterbury,  der  gothische  Styl  in  seiner  frühesten  Gestalt 
schon  angewendet,  aber  freilich  nicht  von  einem  einheimischen,  sondern  von 
einem  französischen  Meister.  Die  Geschichte  dieses  Baues  ist  uns  durch  die 
glückliche  Erhaltung  des  Berichts,  welchen  Gervasius,  ein  Mönch  des  mit 
dem  Dome  verbundenen  Klosters,  niederschrieb,  vollständiger  bekannt  als 
irgend  ein  anderer  architektonischer  Hergang  dieser  Zeit.  Der  Chor  der 
Kathedrale,  welcher  unter  der  bischöflichen  Regierung  des  berühmten  An- 
selm  dem  durch  Lanfrancus  errichteten  Schiffe  der  Kirche  augebaut  und  im 
Jahre  1130  geweihet  war,  wurde  im  Jahre  1174  ein  Raub  der  Flammen. 
Unser  Berichterstatter  Gervasius  i)  beginnt  damit,  den  Schrecken  seiner 
Brüder  zu  schildern,  als  sie  die  Stätte  ihrer  täglichen  Andacht  einem  unab wend- 
lichen Untergange  Preis  gegeben  sahen.  Sofort  dachte  man  auf  Abhülfe 
des  Schadens  und  zog  deshalb  Werkverständige,  und  zwar,  wie  ausdrücklich 
"bemerkt  wird,  Franzosen  und  Engländer  herbei,  die  aber  unter  sich  nicht 
einig  werden  konnten.    Einige  gaben  den  Mönchen  die  angenehme  Versiche- 


^)  Gervasü  Tractatus  de  combustione  ac  reparatione  Cantuariensis  ecclesiae,  in: 
Twisden,  Hist.  Angl.  Scr.  p.  1289.  In  dem  bereits  erwähnten  trefflichen  Werke  des 
Professors  Willis  in  Cambridge:  The  architectural  history  of  Canterbury  Cathedral 
London  1845,  findet  sich  eine  englische  Uebersetzung  des  Berichts.  —  Vgl.  ferner: 
Le  style  ogival  en  Angleterre  et  en  Normandie,  von  F.  de  Verneilh,  Annales  archeol. 
Bd.  XXV. 

12* 


180  England. 

rung,  dass  die  Ueberreste  der  Pfeiler  und  Mauern  für  den  Neubau  brauch- 
bar sein  würden,  Andere  erklärten  dies  für  gefährlich.  Endlich  fassten  die^ 
Geistlichen  den  vernünftigen  Entschluss,  einen  Obermeister  zu  wählen  und 
sich  ihm  anzuvertrauen,  und  nahmen  dazu  einen  gewissen  Wilhelm  aus 
Sens,  der  nicht  nur  als  ein  geschickter  Künstler  in  Stein  und  Holz  berühmt 
war,  sondern  auch  durch  seinen  sonstigen  guten  Ruf  und  durch  seinen  leb- 
haften Geist  Vertrauen  einflösste.  Er  geht  sorgsam  zu  Werke,  beginnt  ab- 
zubrechen, zu  untersuchen,  überzeugt  die  Mönche  allmälig,  dass  es  nicht 
rathsam  sei,  durch  eine  Beibehaltung  der  beschädigten  Theile  das  neue  Werk 
zu  gefährden,  ermuthigt  sie  aber  auch  und  schreitet  sogleich  mit  Vorarbeiten 
vor,  indem  er  Steine  herbeischafft,  Maschinen  zurüstet  und  den  Steinmetzen 
Vorbilder  zur  Bearbeitung  des  Steines  übergiebt^).  Im  zweiten  Jahre  ist  er 
schon  so  weit  gediehen,  dass  er  die  Aufrichtung  des  Gebäudes  beginnen  kann. 
Er  geht  dabei  von  der  Vierung  des  grösseren  (westlichen)  Querschiffes  aus,, 
welche  nebst  dem  grossen  Mittelthurme,  der  auf  ihr  ruhete,  erhalten  war, 
schreitet  also  von  Westen  nach  Osten  vor.  Hier  errichtet  er  noch  in 
diesem  Jahre  sechs  Pfeiler,  drei  auf  jeder  Seite^  nebst  den  entsi^rechenden 
Mauern  der  Seitenwände,  und  vollendet  auch  sofort  die  dazu  gehörigen  sechs 
Gewölbe  der  Seitenschiffe.  Im  folgenden  Jahre  fügt  er  auf  jeder  Seite  zwei 
Pfeiler  hinzu,  ist  also  bis  zum  östlichen  Kreuzschiffe  gelangt,  überwölbt  auch 
hier  die  Seitenschiffe,  führt  dann  die  Mauern  des  Oberschiffes  auf  und 
vollendet  sogar  noch  die  Gewölbe  desselben,  nämllich  zwei  quadrate  und  ein 
schmales  Gewölbe,  welche  so  den  fünf  Arcaden,  die  er  bisher  errichtet,  ent- 
sprechen. Man  sieht,  er  fördert  sein  Werk.  Im  vierten  Jahre  arbeitet  er 
jenseits  des  östlichen  Kreuzschiffes  weiter,  beginnt  also  den  östlichen  Theil 
des  Chores,  der  aber,  weil  man  die  beiden  neben  demselben  liegenden  Thürme 
beibehalten  wollte,  geringere  Breite  erhielt.  Er  errichtete  hier  zehn  Pfeiler 
nebst  den  entsprechenden  Mauern  und  Seitengewölben  und  den  Wänden  des 
Mittelschiffes,  stürzte  aber  nun,  als  er  das  obere  Gewölbe  beginnen  wollte, 
vom  Gerüste  herab,  und  beschädigte  sich  so,  dass  er  das  Bett  hüten  musste ;, 
aber  auch  von  hier  aus  leitete  er  den  Fortbau,  indem  er  sich  eines  jungen 
Mönchs,  der  bisher  schon  als  Aufseher  beim  Bau  mitgewirkt,  bediente.  So 
wurden  die  östlichen  Kreuzarme  angelegt  und  zwei  quadrate  Gewölbe  des 
Chores  vollendet.  Im  fünften  Jahre  verzweifelte  Meister  Wilhelm  an  seiner 
Herstellung,  kehrte  daher  nach  Frankreich  zurück,  und  ein  Engländer,  eben- 
falls Wilhelm  geheissen,  klein  von  Körper,  wie  Gervasius  bemerkt,  aber  in 
verschiedenartigen  Arbeiten  sehr  wacker,  wurde  dem  Bau  vorgesetzt.    Dieser 


*)  Formas  quoque  ad  lapides  formandos  liis  qui  convenerant  sculptoribus  tra- 
didit.  Es  mag  dahin  gestellt  sein,  ob  darunter  Vorzeichnungen  oder  hölzerne  Forme» 
verstanden  sind. 


Die  Kathedrale  von  Canterbury.  181 

wölbte  nun  im  fünften  Jahre  die  Kreuzschiffe  und  die  Chorrundung.  Die 
Krypta  und  die  alten,  in  ihren  Fundamenten  beibehaltenen  Thürme  am 
Chore  waren  noch  nicht  in  Angriff  genommen  und  beides  musste  geschehen, 
ehe  die  Aussenmauer  des  Chores  vollendet  werden  konnte.  Allein  die  Un- 
geduld der  Geistlichen,  die  während  des  Baues  ihre  Hören  im  Schiffe  der 
Kirche  absingen  mussten  und  sich  hier  wie  im  Exile  fühlten,  gestattete  dem 
Meister  nicht,  den  regelmässigen  Gang  einzuhalten;  er  beeilte  sich  daher  im 
sechsten  Jahre,  die  herkömmlichen  Einfassungswände  des  inneren  Chorrau- 
mes aufzurichten,  schloss  dann  die  noch  offene  Ostseite  des  Chores  durch 
eine  hölzerne  Mauer,  und  machte  es  so  möglich,  dass  schon  im  Jahre  1180 
€ine  Weihe  erfolgte,  und  Kapitel  und  Mönche  ihren  Einzug  halten  konnten. 
Die  folgenden  Jahre  waren  nun  dem  weiteren  Ausbau  der  Krypta  und  der 
äusseren  Theile  gewidmet,  im  neunten  Jahre  trat  wegen  Geldmangels  eine 
Stockung  ein,  im  zehnten  aber  war  dieses  Hinderniss  beseitigt  und  der  Bau 
wurde  vollendet. 

Dieser  Bericht,  ohne  Zweifel  die  wichtigste  schriftliche  Urkunde  der 
mittelalterlichen  Baugeschichte,  ist  in  vielfacher  Beziehung  lehrreich.  Er 
zeigt,  dass  um  diese  Zeit  die  Kunst  schon  ganz  in  die  Hände  der  "Werkver- 
ständigen aus  dem  Laienstande  übergegangen  war,  dass  die  Geistlichen  und 
Mönche  sich  dabei  nur  als  Bauherren  verhielten,  er  gewährt  aber  auch  ein 
Zeitmaass  für  die  Fortschritte  solcher  Bauten,  wenn  anders  die  Mittel  vor- 
handen waren.  Selbst  einzelne  Ausdrücke  dieses  Berichtes  sind  wichtig,  weil 
sie  erkennen  lassen,  auf  welche  Eigenschaften  des  Gebäudes  man  Werth 
legte,  wie  man  die  Formen  desselben  betrachtete.  So  gebraucht  Gervasius 
schon  das  "Wort:  Triforium,  und  erklärt  es  ausdrücklich  als  eine  „via",  als 
einen  Weg  in  der  Mauer,  so  dass  der  historische  Ursprung  dieser  Form  aus 
•der  wirklichen  Gallerie  schon  vergessen  und  nur  die  Brauchbarkeit  ins  Auge 
gefasst  war.  So  nennt  er  ferner  nicht  das  ganze  Kreuzschiö',  sondern  jeden 
Arm  des  Kreuzes:  Crux,  und  schliesst  damit  jede  symbolische  Hindeutung 
auf  das  Kreuz  Christi  aus.  So  bezeichnet  er  das  Kreuzgewölbe  mit  dem 
Worte:  Ciborium,  das  in  der  kirchlichen  Sprache  bisher  den  Baldachin  über 
dem  Altare  bedeutete^);  man  war  sich  also  des  Umstandes,  dass  diese  Ge- 
wölbe nur  auf  den  vier  Pfeilern  ruheten  und  mit  diesen  ein  selbstständiges 
Ganzes  ausmachten,  völlig  bewusst.  Er  fügt  hinzu,  dass  er  sich  erlauben 
werde,  statt  dieses  damals  üblichen  Ausdrucks  das  Wort:  Clavis,  Schlüssel 
oder  Schlussstein,  zu  gebrauchen,  weil  dieser  in  die  Mitte  gestellte  Stein  die 


1)  Derselbe  Ausdruck  findet  sich  auch  in  der  Chronik  des  Abts  Menco  zu  Wernen 
bei  Groningen  (in  Mathaei  Analecta,  tom.  II,  p.  132  sqq.,  Lugduni  Bat.  1738),  bei  der 
interessanten  Beschreibung  der  Erbauung  dieser  Kirche  im  Jahre  1238  durch  Meister 
Everhard  von  Köln.     Vgl.  Dr.  Schölten  im  Domblatt  1850,  Nro.  62. 


182  England. 

von  allen  Seiten  herkommenden  Theile  zusammenschliesse,  und  zeigt  dadurch^ 
dass  er  die  Form  und  Bedeutung  des  Rippengewölbes  wohl  versteht. 

Dabei  ist  er  sich  des  Unterschiedes  und  der  Vorzüge  des  neuen  Styls 
vor  dem  alten  vollständig  bewusst.  Schon  bei  der  Beschreibung  des  älteren^ 
durch  den  Brand  zerstörten  Baues,  die  er  als  Augenzeuge  überliefern  zu 
müssen  glaubt,  bemerkt  er  die  Dicke  der  Mauern  und  die  kleinen  und 
dunkelen  Fenster  (murus  solidus  parvulis  et  obscuris  fenestris  distinctus),  und 
am  Schlüsse  seiner  Erzählung  macht  er  es  sich  zur  Aufgabe,  die  Vorzüge 
des  neuen  Werkes  zu  schildern.  Er  rühmt  die  grössere  Pracht,  die  Zahl 
der  Marmorsäulen,  die  Verdoppelung  des  Triforiums ^).  Die  Pfeiler,  fährt 
er  fort,  seien  bedeutend  höher,  die  Kapitale,  welche  früher  glatt,  die  Bögen,^ 
welche  wie  mit  dem  Beile  behauen  gewesen,  jetzt  mit  zierlicher,  angemes- 
sener Bildnerarbeit  ausgestattet;  im  Hauptschiffe  habe  sonst  eine  hölzerne- 
Decke,  freilich  mit  herrlicher  Malerei,  im  Umgange  des  Chores  ein  Tonnen- 
gewölbe bestanden,  jetzt  sehe  man  hier  wie  dort  ein  aus  Stein  und  leichtem 
Tuf  gebildetes,  mit  Bogen  und  Schlussstein  versehenes  Gewölbe^).  Im 
alten  Gebäude  hätte  eine  auf  den  Pfeilern  stehende  Mauer  die  Kreuz  arme 
vom  Chor  gesondert,  im  neuen  schienen  Kreuzschiff  und  Chor  in  dem  Schluss- 
steine des  mittleren  Gewölbes  zu  verschmelzen  ^j. 

Man  sieht  also,  er  ist  stolz  auf  die  schlankere  Form  der  Pfeiler,  er  be- 
merkt die  Erweiterung  der  Fenster  und  die  Leichtigkeit  der  Mauern,  er 
kennt  die  Schönheit  der  Kreuzgewölbe  und  ihren  innigen  Zusammenhang 
mit  den  Pfeilern,  er  weiss  es  zu  schätzen,  dass  jedes  von  ihnen  ein  Ganzes 
bildet  und  alle  doch  wieder  mit  einander  zusammenhängen,  er  beachtet  die 
bessere  Gliederung  der  Bögen  und  die  Form  der  Kapitale;  er  legt  dagegen 
gar  kein  Gewicht  auf  den  Spitzbogen,  findet  es  nicht  der  Erwähnung 
werth,  dass  dieser  —  nur  mit  Ausnahme  der  Oeffnungen  und  Blendbögen 
der  Empore  —  die  Stelle  des  älteren  Ptundbogens  eingenommen.  Bei  der 
Genauigkeit  seiner  Beschreibung,  der  Sorgfalt,  womit  er  einzelne  Unregel- 
mässigkeiten der  Anlage  erwähnt  und  entschuldigt,  und  der  lebendigen  An- 
schauung, welche  seine  Worte  gewähren,  müssen   wir  ihn,  wenn  er  nicht 


1)  Er  gebraucht  auch  hier  das  Wort  zur  Bezeichnung  jedes  Weges  in  der  Mauer^ 
indem  nicht  ein  zweites  wirkliches  Triforium  (nach  unserem  Sprachgebrauche),  sondern 
n\ir  über   dem  eigentlichen  Triforium    ein  Weg  am  Fusse  der  Fensler  angebracht  war. 

2)  Ibi  in  circuitu  extra  chorum  fornices  planae  (ich  übersetze  dies  durch  Tonnen- 
gewölbe, vielleicht  meint  aber  Gervasius  einfache  Kreuzgewölbe  ohne  Rippen)  hie  ar- 
cuatae  et  clavatae.  —  Ibi  coelum  ligneum  egregia  pictura  decoratum,  liic  fornix  ex 
lapide  et  tofo  levi  decenter  composita  est. 

3)  Ibi  murus  super  pilarios  directus  cruces  a  clioro  sequestrabat,  hie  vero  nullo 
intersütio  cruces  a  choro  divisae  in  unam  clavem  quae  in  medio  fornicis  magnae  con- 
sistit,  quae  quatuor  pilariis  principalibus  innilitur,  convenire  videtur. 


Die  Kathedrale  von  Canterbury. 


183 


Fig.    46. 


Kathedrale  von  Canterlniry.     Oestliclie  Tbeile. 


184  England. 

selbst  bei  dem  Bau  tbätig  war^),  wenigstens  für  einen  Freund  der  Kunst 
halten,  der  mit  den  Ansichten  der  Meister  nicht  unbekannt  geblieben.  "Wir 
entnehmen  daher  auch  hieraus,  dass  man  in  der  That  diese  Bogenform  nur 
als  ein  Mittel  der  Construction,  nicht  als  eine  Zierde  betrachtete,  und  kön- 
nen uns  um  so  mehr  die  Erscheinung  erklären,  dass  sie  zuerst  nur  an  den 
minder  auffallenden,  tragenden  Theilen  angewendet  wurde. 

Der  Bau  des  Wilhelm  von  Sens  -)  ist  noch  erhalten,  und  zeigt  eine  ge- 
naue Uebereinstimmung  mit  der  Kathedrale  von  Sens;  die  Doppelsäulen,  die 
dort  angewendet  waren,  die  Verhältnisse  der  Säulenstämme  und  korinthi- 
sirenden  Kapitale,  die  Basen  sind  auch  in  dem  englischen  Bau  beibehalten. 
Der  Chorschluss  ist  hier  rund,  während  die  meisten  um  diese  Zeit  in  Eng- 
land gebauten  Kirchen  schon  geraden  Schluss  erhielten"');  er  hat  zwar  eine 
eigenthtimliche  Anordnung,  durch  die  Verengerung  in  schräger  Richtung, 
welche  zwischen  dem  zweiten  Querhause  und  dem  Chorschluss  eintritt,  allein 
wenn  man  daran  denkt,  dass  zwei  alte  Thürme,  die  bei  dem  Neubau  erhalten 
werden  sollten,  denselben  beengten,  wird  man  finden,  dass  der  Meister  ge- 
rade nur  um  so  viel,  als  dieses  Hinderniss  ihn  nöthigte,  von  dem  Plane  des 
französischen  Vorbildes  abgewichen  ist.  Wie  dort,  tritt  aus  der  Mitte  des 
Chorumgangs  eine  Rundkapelle  heraus,  welche  hier  den  Namen  „Beckets 
Krone"  führt. 

Thomas  Becket,  der  berühmte,  bald  heilig  gesprochene  Erzbischof,  der 
Stolz  von  Canterbury,  der  erst  kurze  Zeit  vor  dem  Chorbrande  (1170)  ge- 
mordet war,  hatte  sich,  um  den  Verfolgungen  des  Königs  von  England  zu 
entgehen,  längere  Zeit  in  Sens  aufgehalten,  und  es  wäre  daher  denkbar, 
dass   man   aus   Pietät   gegen   ihn  jene  Kirche,   die   ihm   ein  Asyl  gegeben^ 


1)  Die  besclieidene  Erwähnung-  des  nicht  genannten  Mönchs,  dessen  sich  Wilhelm 
von  Sens  bediente,  um  den  Bau  von  seinem  Bette  aus  zu  leiten,  die  Hindeutung  auf 
den  Neid,  mit  welchem  diese  Auszeichnung  des  jüngeren  Mannes  betrachtet  wurde, 
könnte  auf  die  Vermuthung  führen,  dass  dieser  Mönch  kein  anderer  als  Gervasius 
selbst  gewesen. 

-)  Nächst  der  Publication  in  Britton  cathedral  antiqu.  I.  einige  Abbildungen  bei 
Arthur  J.  Stanley,  Historical  memorials  of  Canterbury.     London  1855. 

•'')  Eine  Andeutung  des  Gervasius  lässt  vermuthen,  dass  der  runde  Chorschluss 
Widerstand  fand.  Der  ältere  Bau  hatte  ihn  zwar  ebenfalls  gehabt,  allein  er  war  kürzer 
gewesen.  Zufolge  der  Beschreibung  hatte  der  Chor  auf  jeder  Seite  neun  Pfeiler  und 
dann  die  sechs  der  Rundung,  während  er  jetzt  nach  der  Weise,  wie  Gervasius  rechnet, 
zwölf  Pfeiler  ohne  jene  sechs  enthält.  Da  man  nun  über  die  Fundamente  hinausging, 
war  man  auch  nicht  an  dieselben  gebunden.  Meister  Wilhelm  machte  aber  darauf  auf- 
merksam, dass  die  beiden  alten,  der  ehemaligen  Chorrundung  anliegenden  und  herzu- 
stellenden Thürme  eine  Verengung  der  Breite  des  Chores  bedingten,  und  dass  diese 
Unregelmässigkeit  weniger  auffallen  werde,  wenn  man  dahinter  den  Chor  rund  ab- 
schliesse. 


Die  Kathedrale   von  Canterbury.  Jg5 

nachahmen  wollen.  Allein  Gervasius  sagt  dies  nicht  und  er  würde  es  nicht 
verschwiegen  haben.  Ohne  Zweifel  aber  war  durch  jenen  Aufenthalt  des 
Thomas  Becket  in  Sens  eine  Bekanntschaft  der  Geistlichkeit  beider  Bischofs- 
sitze entstanden,  welche  Veranlassung  zu  der  Berufung  jenes,  wahrscheinlich 
bei  dem  unlängst  vollendeten  Dombau  in  Sens  erprobten  Meisters  gab,  der 
nun  die  ihm  bekannten  Formen  ohne  grosse  Rücksicht  auf  englisches  Her- 
kommen anwendete. 

Auch  noch  der  östliche,  nach  seiner  Entfernung  gebaute  Theil  des 
Chores  zeigt  im  Ganzen  die  Nachahmung  des  französischen  Domes;  Wilhelms 
Zeichnungen  und  die  von  ihm  herangebildeten  Arbeiter  sind  dabei  gebraucht 
worden.  Allein  daneben  schleichen  sich  doch  wieder  Einzelheiten  des  alt- 
englischen Styles  ein,  die  unter  Wilhelms  eigener  Leitung  nicht  vorgekom- 
men waren.  Gurten  und  Archivolten  sind  mit  dem  Zickzack  und  ähnlichen 
Ornamenten  geschmückt,  die  Basen  ohne  Eckblatt  und  auf  runde  Plinthen 
gestellt,  die  starken  Säulenstämme  in  der  Krypta  von  Spirallinien  umgeben. 
Auch  Neuerungen  finden  sich,  die  dem  französischen  Style  unbekannt  sind, 
namentlich  die  Umstellung  des  runden  Pfeilerkerns  mit  schlanken,  freistehen- 
den Säulen,  eine  Anordnung,  die  in  England  später  nicht  selten  vorkommt. 
Wir  sehen,  wie  sofort,  noch  an  demselben  Bau,  unter  den  Schülern  des 
fremden  Meisters  der  einheimische  Geschmack  sich  geltend  macht. 

Eine  Nachahmung  der  Kathedrale  von  Canterbury  an  einem  anderen 
englischen  Gebäude  können  wir  ebenso  wenig  nachweisen,  als  eine  weitere 
Verbreitung  der  durch  Wilhelm  von  Sens  hier  gebildeten  Schule  oder  die 
anderweitige  Zuziehung  französischer  Architekten.  Indessen  zeigt  der  Be- 
richt des  Gervasius,  dass  sich  gleich  anfangs  unter  der  Mehrzahl  befragter 
Werkverständigen  mehrere  Franzosen  befanden,  und  so  werden  sie  auch  sonst 
den  Weg  über  den  Kanal  gefunden  haben  i).  Auch  die  geistlichen  Orden 
unterhielten  eine  architektonische  Verbindung  mit  Frankreich.  Der  Cister- 
cienser  habe  ich  schon  gedacht.  Eine  ähnliche  Rolle  spielten  die  Templer, 
auch  sie  verbreiteten  sich  seit  der  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts,  auch 
ihr  Orden  bestand  Vorzugsweise  aus  Franzosen,  auch  sie  hatten  eigenthüm- 
liche,  in  Frankreich  ausgebildete  Bauforraen,  zu  denen  der  Spitzbogen  und 
andere  Elemente  des  frühgothischen  Styls  gehörten.  Daher  finden  wir  denn 
gleichzeitig,  aber  unabhängig  von  dem  Bau  des  Wilhelm  von  Sens,  ein 
zweites  Beispiel  französischer  Formen  in  England  in  der  Templerkirche 
zu  London,  in  ihrem  älteren  Theile,  welcher  schon  1185  die  Weihe  erhielt  2). 


^)  Ein  Beispiel  der  Benutzung  französischer  Baumeister  in  England  ist,  dass  König- 
Johann  zur  Erbauung  der  Themsebiücke  einen  Meister  Isembert  aus  Saintes  nach 
London  sendete.   — •  Pauli,  Geschichte  von  England,  III,  S.  488. 

')  Vgl.  die  Inschrift  im  Glossary   III,    ad  anno  1185,  p.   67.     Abbildungen  in  B. 


186  England. 

Sie  ist,  wie  die  Templerkirchen  gewöhnlich,  ein  Rundbau,  im  Allgemeinen 
noch  von  romanischem  Charakter,  mit  rundbogigen  Fenstern,  aber  mit 
spitzen  Arcaden  auf  Pfeilern,  die  aus  vier  schlanken  Säulen  zusammengesetzt 
sind,  mit  Knospenkapitälen  und  darauf  gestellten  Gewölbrippen. 

Von  nun  an  entstanden  auch  in  England  Gebäude,  deren  Styl  man  als 
einen  Uebergang  bezeichnen  kann,  weil  er  nicht  mehr  ganz  normannisch,, 
aber  auch  noch  nicht  gothisch  ist.  Dies  geschah  dann  bald  in  der  Weise, 
dass  man  Einzelnes  aus  dem  neuen  Styl  aufnahm,  bald  aber  so,  dass  man 
die  althergebrachten  Formen  beibehielt,  aber  in  einer  dem  neuen  Style  ver- 
wandten Tendenz  behandelte  Ein  interessantes  Beispiel  der  letzten  Art  ist 
die  Vorhalle,  die  s  g.  Galilaea^)  auf  der  Westseite  des  Doms  zuDurham, 
wie  wir  genau  wissen  in  den  Jahren  1180 — 1197  entstanden-).  Es  ist  ein 
niedriger  Raum,  an  Breite  dem  Langhause  fast  gleich,  durch  vier  Reihen 
von  je  drei  Pfeilern  in  fünf  Schiffe  gleicher  Höhe  getheilt,  und  nicht  ge- 
wölbt sondern  mit  Balken  gedeckt.  Die  Pfeiler  bestehen,  ähnlich  wie  in 
der  Londoner  Templerkirche,  aus  vier  sehr  dünnen  durch  Kalk  verbundenen 
Säulenstämmen,  zwei  von  Marmor,  zwei  von  geringerem  Steine,  die  Basis  ist 
eine  blosse  Abschrägung,  die  niedrigen  Kapitale  haben  Kelchform  mit  breiten, 
unausgebildeten  Blättern,  an  denen  man  Spuren  ehemaliger  Bemalung  wahr- 
nimmt. Die  Bögen  sind  sämmtlich  mit  reichem,  stark  vortretendem  Zickzack 
verziert,  der  in  einer  Höhlung  liegt;  sie  sind  halbkreisförmig,  nur  die  äussere 
Archivolte  hat  eine  schwach  angedeutete  Spitze.  Die  Wand  über  den  Bögen 
ist  schlicht,  und  nur  durch  eine  rautenförmige  Vertiefung  verziert,  welche 
über  den  Säulen  steht  und  den  Zwickeln  der  Bögen  entspricht.  Das  obere 
Stockwerk  über  dieser  niedrigen  Halle  ist  allerdings  schon  gothisch ,  aber 
auch  entschieden  bedeutend  jünger  und  erst  in  der  folgenden  Epoche  hinzu- 
gefügt, der  untere  Raum  dagegen  enthält  keine  Details  des  neuen  Styls. 
Aber  die  schlanken  Bündelsäulen  mit  ihren  Kelchkapitälen,  die  rauten- 
förmigen Vertiefungen  in  der  Wand  und  die  leichte  und  zierliche  Haltung 
des  Ganzen  geben  den  Eindruck  eines  gothischen  Baues,  ja  selbst  eines  mehr 
anmuthigen  als  strengen. 

Eine  ähnliche  Tendenz  bemerken  wir  in  den  ungefähr  gleichzeitig  mit 
der  Galilaea  von  Durham  entstandenen  unteren  Theilen  des  Langhauses  in 
der  Kathedrale  von  Chichester.     Die  Bögen   sind  halbkreisförmig,  die 


W.  Billing,  Architectural  illustrations  and  account  of  the  Temple  church,  und  in 
Brilton  Arch.  Ant.  I. 

')  üalilaea,  ein  in  England  gebrauclilicher  Ausdruck  für  Vorhallen  der  Kirchen, 
ohne  Zweifel  mit  einer  etwas  dunkeln  Anspielung  auf  das  Verhältniss  von  Galilaea  zu 
Jerusalem. 

2)  Abbildung  in  Winkles  Cathedrals,  Vol.  III. 


Uebergang.  187 

Halbsäulen  und  Würfelkapitäle,  die  starken  Untergurte  des  alten  Styls  bei- 
behalten. Aber  die  glatte  Frontseite  des  Pfeilers  ist  an  den  Ecken  von 
zierlichen  monolithen  Säulchen  flankirt,  die  Scheidbögen  sind  mit  kleinen 
Rundstäben  eingefasst,  die  Würfelsäulen  der  zweitheiligen  Galleriearcaden 
schon  nach  der  Weise  des  frühgothischen  Styles  gruppirt.  Man  erkennt  die 
Absicht,  die  grellen  Contraste  des  älteren  Styls  zu  vermeiden,  eine  einfache 
Eegelmässigkeit  herzustellen,  mildere  Formen  zu  erlangen. 

Viel  entschiedener  in  der  Hinneigung  zu  gothischer  Formbildung  ist  der 
Chor  der  Kathedrale  von  Winchester^),  welchen  Bischof  Gottfried  von 
Lucy  im  Jahre  1202  mit  Hülfe  einer  von  ihm  gestifteten  frommen  Brüder- 
Schaft  begann-).  Der  ältere  Gebrauch,  die  Wände  äusserlich  und  innerlich 
mit  blinden  Arcaden  zu  schmücken,  ist  hier  noch  beibehalten,  aber  die  untere 
Arcadeureihe  besteht,  wie  die  innerhalb  derselben  gelegenen  Fenster,  aus 
schlanken  Lancetbögen,  die  obere  hat  die  Kleeblattform.  Die  schlanken 
Pfeiler  sind  ähnlich  wie  in  jener  Vorhalle  in  Durham,  aber  aus  acht  ein- 
zelnen monolithen  Säulchen  zusammengesetzt,  auch  die  Kapitale  haben  wie 
dort  die  Form  niedriger  Kelche,  jedoch  ganz  ohne  Blattornament,  eine 
Form,  die,  wie  wir  sehen  werden,  im  englischen  Style  sehr  beliebt  wurde. 

Hieran  reiht  sich  der  neue  Ausbau  des  westlichen  Theils  der  früher 
erwähnten  grossen  Abteikirche  zu  St.  Albans,  welchen  der  Abt  Johann 
von  Cella  (1195 — 1214)  begann-^),  jedoch,  da  der  Abbruch  des  gewaltigen 
normannischen  Baues  und  die  kostbaren  Materialien,  die  er  verwendete,  seine 
Mittel  erschöpften,  nur  die  Vorhalle  vollendete.  Auch  hier  wieder  Säulchen 
von  Marmor  auf  flachen  Basen,  und  spitze,  jedoch  eigenthümlich  gebrochene 
Bögen,  dabei  aber  nun  schon  weit  ausladende  Knospenkapitäle.  Dieser 
Neubau,  der  ungeachtet  der  Festigkeit  des  alten  Mauerwerks  unternommen 
wurde,  beweist,  wie  allgemein  jetzt  die  Gefühle  waren,  die  Gervasius  bei  der 
Vergleichung  beider  Bauten  ausspricht.  Man  konnte  die  Derbheit  des  nor- 
mannischen Styls  nicht  mehr  ertragen,  und  warf  sich  mit  einer  Art  von 
Leidenschaft  in  die  entgegengesetzte  Richtung.    Der  Nachfolger  des  Jobann 


1)  Brittou,  Cath.   aiit.  III. 

2)  Aniio  1202  Godfredus  de  Lucy  coustituit  confratriam  pro  reparatiüue  ecclesiae 
Winlonieusis  duraturam  quinque  aniios  completos.  Annal.  Winton.  bei  Whittington  a. 
a.  0.,  p.  131.  Ich  weiss  nicht,  ob  man  von  dieser  Stelle  zum  Beweise  des  Alters 
der  Bauhütten  und  der  Freimauerei  Gebrauch  gemacht  hat.  Die  Ausdrücke  scheinen 
es  jedoch  ausser  Zweifel  zu  setzen,  dass  hier  nur  von  mehrjährigen  frommen  Bei- 
steuern die  Rede  ist.  —  Die  Ostseite  der  Lady  chapel  ist  erst  im  16.  Jahrhundert 
ausgeführt. 

^)  Vgl.  Buckler  in  der  schon  angeführten  Hist.  of  tlie  arcii.  of  the  Abbey  of  St. 
Albans,  und  die  Publication  der  Society  of  Antiquaries:  Some  account  of  the  abbey 
church  of  St.  Albans,  London  1813,  fol. 


^38  Frühenglischer  Styl. 

Yon  Cella,  Wilhelm  von  Trampington  (1214 — 1235),  verstärkte  die  Anlage 
der  Fagade  und  setzte  den  Bau  im  Innern  fort.  Es  war  durchaus  nur  eine 
Decoration  der  alten  Wände,  kein  neuer  Bau;  die  Construction,  die  Höhe, 
die  Balkendecke  blieb  dieselbe,  die  massigen  Pfeiler  und  die  rauhen  Mauern 
des  alten  Münsters  erhielten  nur  ein  neues,  zierlicheres  Kleid,  sie  wurden 
wie  Felsenstücke  behauen,  jene  zu  Bündelsäulen  ungebildet,  diese  mit  Arcaden 
und  Marmorsäulchen  belegt.  Der  Styl  ist  hier  schon  ganz  der,  welchen  wir 
sofort  als  den  frühenglischen  kennen  lernen  werden;  die  Pfeiler  sind  mit 
gleich  hohen  Säulen  umgeben,  die  Kapitale  von  einfacher  Kelchform  mit 
tellerartigen  Ausladungen,  die  Bögen  durch  Rundstäbe  ziemlich  reich  proti- 
lirt;  die  Zwischenräume  dieser  Rundstäbe  und  der  oberen  Säulen  mit  dem 
weiter  unten  näher  zu  erwähnenden  Zahnornament  ausgefüllt. 

Und  nun  finden  wir  sofort  in  den  verschiedensten  Theilen  Englands 
mehrere  Bauten,  welche  dieselben  Formen,  schlanke  oder  zusammengesetzte 
monolithe  Säulen,  kelchförmige  Kapitale,  spitze  oder  kleeblattförmige  Bögen 
wiederholen.  Das  Monument  des  Abts  Alanus  in  der  Abtei  von  Tewkes- 
bury  V.  J.  1202,  allerdings  nur  ein  Werk  architektonischer  Decoration,  hat 
schon  den  Kleeblattbogen  und  sonst  reine  frühenglische  Formen;  der  im 
Jahre  1204  neubegonnene  Chor  der  Cistercienserkirche  von  Fountains 
Lancetfenster ,  eine  Arcatur  mit  Kleeblattbögen  und  kelchförmigen  weit- 
ausladenden Kapitalen,  Formen,  welche  wir  zum  Theil  auch  in  den  Cister- 
cienserkirchen  anderer  Länder  finden,  welche  aber  auch  schon  in  den  eben 
erwähnten  englischen  Bauten  vorgekommen  waren.  Sehr  zierlich  ist  ferner  die 
innere  Ausstattung  der  westlichen  Vorhalle  der  Kathedrale  von  Ely  (1200  — 
1215).  Ihre  beiden  Kreuzgewölbe  haben  leichte,  als  Rundstäbe  profilirte 
Rippen,  die  Wände  eine  Arcatur  von  freistehenden  schlanken  Säulen  mit 
kelchförmigen  Knospenkapitälen,  Kleeblattbögen  und  durchbrochenen  Zwickeln. 
Bedeutendere  Bauten  waren  der  des  östlichen  Kreuzschiffes  und  Chors  der 
Kathedrale  von  Lincoln,  welcher  durch  den  Bischof  Hugo  von  Grenoble 
(1185 — 1200)  angefangen  und  von  seinem  Nachfolger  fortgesetzt  wurde,  und 
der  des  Chors  der  Kathedrale  von  Worcester*),  welcher  im  Jahre  1218 
schon  soweit  vorgeschritten  war,  dass  er  bei  Gelegenheit  der  Anwesenheit 
König  Heinrichs  III.  eine  Weihe  erhalten  konnte-).  An  beiden  erkennen 
wir   sehr   charakteristische  Eigenthümlichkeiten   des  englischen  Styls.     Der 


')  Britton.  Catliedral  ant.  IV.  —  The  architectural  history  of  the  Cathedral  and 
monastery  at  Worcester.  By  the  rev.  R.  Willis.     The  Arch.  Journal,  vol.  XX.     1863. 

-)  Vgl.  Monasticon  Anglicanum  I.,  p.  573.  Im  Jahre  1224  wurde  schon  die 
Vorderseite  des  Schiffs  in  Arbeit  genomnieu  und  wird  der  Chor  also  schon  vollendet 
gewesen  sein. 


Die  Kathedralen  von  Lincoln  und  Worcester.  18& 

Chor  von  Lincoln^)  hatte  zwar  uoch  eine  den  älteren  coutinentalen  Bauten 
ähnliche  Anlage;  eine  runde  Concha',  welche  durch  einen  späteren  Bau  ver- 
drängt, aber  an  den  Fundamenten  nachgewiesen  ist,  und  auf  der  östlichen 
Seite  des  daraustossenden  zweiten  Kreuzschiffes  je  zwei  noch  bestehende 
halbkreisförmige  Kai)ellen.  Aber  die  Fenster  sind  durchgängig  lancetförmig, 
in  den  Kapellen  einzeln,  im  Oberschiffe  gekuppelt,  die  Pfeiler  Säulenbündel, 
die  Arcaden  spitz  und  mit  vielen  Rundstäben  profilirt-).  Noch  reicher  ist 
der  Chor  von  Worcester,  dessen  Pfeiler  nicht  bloss  von  acht  monolithen,^ 
durch  kupferne  Ringe  verbundenen  Säulen  umstellt,  sondern  auch  noch  am 
Kern  durch  acht  kleinere,  zwischen  jenen  stärkeren  Säulen  sichtbare  Säulchen 
verziert  sind.  Die  Kapitale  sind  schon  mit  dem  weiter  unten  zu  beschrei- 
benden Blattwerk  des  englischen  Styls  versehen,  das  hohe  Triforium  hat 
eine  eigenthümliche  Anlage,  von  der  ich  ebenfalls  erst  weiter  unten  sprechen 
kann;  die  Oberlichter  bestehen  aus  drei  Lancetfenstern  mit  davorgestellten 
schlanken  Säulen.  Im  Kreuzschiffe  liegen  sogar  zwei  solche  Fenstergruppen 
übereinander,  wodurch  es  denn  sehr  leicht  und  luftig  erscheint.  Beide  Bauten 
sind  mit  schmalen  Kreuzgewölben  bedeckt,  deren  Rippen  aber  von  dem 
überaus  schwachen  Dienste,  der  von  den  Kapitalen  der  vorderen  Säulen  auf- 
steigt, nur  scheinbar  getragen  werden.  Die  Strebepfeiler  sind  äusserst 
schwach  und  Strebebögen  nicht  angebracht.  Wir  sehen  also  die  decorativen 
Formen  des  gothischen  Styls  schon  ziemlich  entwickelt,  das  constructive 
System  dagegen,  aus  Unempfänglichkeit  für  die  Bedeutung  desselben  oder 
im  Vertrauen  auf  die  Vortrefflichkeit  des  Materials,  vernachlässigt. 

Diese  Bauten  enthalten  in  der  That  schon  die  charakteristischen  Züge 
das  neuen  englischen  Styls.  Er  hat  sich  in  unglaublich  kurzer  Zeit  ent- 
wickelt. Nachdem  noch  die  obenerwähnten  Gebäude  aus  den  letzten  Jahren 
des  zwölften  Jahrhunderts  im  Wesentlichen  normannische,  nur  in  einem  an- 
deren Sinne  behandelte  Formen  erhalten  hatten,  hat  man  sie  jetzt  aufgegeben 
und  mit  anderen  vertauscht.     Der  nationale  Geschmack  hat  sich  sehr  rasch 


^)  Brittoii,  arcli.  ant.  V.  —  Wild,  lilustralion  .  . .  of  tlie  catli.  chiirch  of  Lincoln. 
London   1819. 

-)  Nach  der  Beendigung  jenes  von  Bischof  Hugo  angefangenen  Baues  erlitt  die 
Kathedrale  im  Jahre  1237  durch  den  Einsturz  des  Mittelthurms  eine  bedeutende  Be- 
schädigung, welche  eine  umfassende  Herstellung  nöthig  machte.  Ein  Chronist  bemerkt 
zwar  ausdrücklich,  dass  die  Kirche  mit  Ausnahme  des  Chors  zur  Ruine  geworden  sei, 
indessen  erfahren  wir  doch,  dass  auch  an  diesem  gebaut  und  namentlich  im  J,  1256 
eine  Verlängerung  desselben  nach  Osten  zu  begonnen  ist.  Indessen  scheint  doch 
Einzelnes,  z.  B.  das  östliche  Kreuzschitf  noch  im  Wesentlichen  aus  dem  Bau  des  Bi- 
schofs Hugo  zu  stammen.  Felix  de  Verneilh  (Le  style  ogival  en  Angleterre  et  en  Nor- 
maudie  in  den  Ann.  arcli.  Vol.  25)  scheint  zu  weit  zu  gehen,  wenn  er  eine  totale  Zer- 
störung jenes  früheren  (durch  einen  wahrscheinlich  französischen  Architekten  Geoffroy 
da  Noyers  geleheten)  Baues  annimmt. 


-iQQ  Frühenglischer  Styl. 

orientirt,  aus  dem  von  Frankreich  her  ihm  zugeführten  und  sonst  bekannt 
gewordenen  gothischen  Systeme  einige  Elemente  sich  angeeignet,  andere 
zurückgewiesen,  und  daraus  den  ihm  zusagenden  Styl  gebildet,  der  nun  auch 
sofort  mit  der  dem  brittischen  Stamme  eigenen  Entschlossenheit  als  etwas 
Festgestelltes  angenommen  und  bleibend  angewendet  wurde. 

Fast  gleichzeitig  mit   den  Bauten  von  Worcester  und  Lincoln  erstand 
das  bedeutendste  Gebäude  dieses  Styls,  die  Kathedrale  von  Salisbury  ^). 
Sie  wurde  durch  den  Bischof  Richard  Poore  im  J.  1220,  gleichzeitig  also 
mit  der  Kathedrale  von  Amiens,   auf  neugewähltem  Platze  begonnen  und  so 
eifrig  gefördert,   dass   schon   nach  fünf  Jahren   darin  Gottesdienst   gehalten 
werden  konnte.  Etwa  dreissig  Jahre  später,  um  1258,  war  der  östliche  Theil 
des  Gebäudes   im  Wesentlichen  vollendet.     Das  Langhaus  und  die  Fagade 
wurden  später,   der  Thurm   erst  im  vierzehnten  Jahrhundert  ausgeführt,  in- 
-dessen  sind  diese  späteren  Theile  mit  den  älteren  so  weit  übereinstimmend, 
dass  das  Ganze  wie  aus  einem  Gusse  erscheint  und  mit  Recht  als  ein  Muster 
des  frühenglischen  Styls  betrachtet  wird.     Richard  Poore  war  aus  der  Nor- 
raandie  gebürtig,  und  es  wird  ausdrücklich  berichtet,  dass  er  berühmte  Werk- 
leute  von  jenseits  der  See  herbeigerufen  habe-);  allein,  wenn  dies  wirklich 
französische  Baumeister,  nicht  etwa  blosse  Gehülfen  und  Steinmetzen  waren, 
so  war  doch  ihr  nationaler  Geschmack  hier  nicht  mehr  maassgebend.      Re- 
miniscenzen  oder  gar  Uebertragungen  aus  französischen  Gebäuden,  wie  sie 
Wilhelm  von  Sens  in  Canterbury  wagte,  kommen  hier  überall  nicht  mehr 
vor.     Es  ist  ganz  dieselbe   charakteristisch   englische  Auffassung  des  gothi- 
schen Styls,  welche   wir   an   den  beiden  oben  genannten  Bauten  und  gleich 
darauf  an  vielen  Kirchen  in  den  verschiedensten  Gegenden  Englands  wieder- 
finden.    Die  Anordnung   ist   sehr   einfach   und  übersichtlich;   ein  Langhaus 
von  zehn  Arcaden,  dann  mit  geringem  Zwischenräume  zwei  Querschiffe,  das 
östliche  wie  immer  weniger  ausladend,  beide  nur  auf  der  östlichen  Seite  mit 
einem  Seitenflügel,  darauf  endlich  der  nur  aus  vier  Arcaden  bestehende  grade 
geschlossene  Chor  und  die  in  den  englischen  Kirchen  gewöhnlich  am  Ost- 
ende angebrachte  Kapelle   der  h.  Jungfrau.     In  dieser  Weise   erreicht   das 
Gebäude  die  bedeutende  Länge  von  474  englischen  Fuss,  während  die  Breite 
des  Langhauses  nur  78,  die   der  Fagade  ungeachtet  ihrer  beiden  seitwärts 
ausladenden  Thürmchen  nur  112,  die  Länge  des  grösseren  Kreuzschiffes  nur 
206  Fuss  misst.     Alle  Fenster  sind   lancetförmig,   an   den  Seitenschiffen  zu 
zweien,  am  Oberschiff  zu  dreien  gruppirt.     An  den  westlichen  und  Front- 


1)  Britton,  arch.  ant.  V.  —  Calhedral  ant.   II. 

")  So  wenigstens  von  Godwyn,  einem  Schriftsteller  aus  Elisabeths  Zeit,  der  aber 
ältere  Quellen  gehabt  zu  haben  scheint.  Vgl.  Winkles  I,  S.  3,  und  Britton,  Cath. 
Anliqu.  -Vol.  I. 


Salisbury. 


191 


Fig.  47 


Seiten  der  Kreuzschiffe,  wo  die  Seitenschiffe  fehlen,  liegen  drei  Etagen 
solcher  Fenster  übereinander.  Die  ziemlich  starken  Strebepfeiler  verjüngen 
sich  in  mehreren  Absätzen  mit  Wasserschlägen,  welche  wie  ein  mit  Brettern 
belegtes  Dach  (oder  wie  die  Brettchen  einer  s.  g.  Jalousie)  gestaltet  sind, 
und  schliessen  in  der  östlichen  Hälfte  des  Gebäudes  in  eben  solcher  Weise 
am  Dache  der  Seitenschiffe,  während  sie  in  dem  (etwas  später  erbauten) 
Laughause  schwache  Fialen  und 
unverzierte ,  dünne  Strebebögen 
erhallen  haben.  DieFagade  lässt 
in  ihrer  ziemlich  klaren  Anord- 
nung fünf  gesonderte  Theile  er- 
kennen :  das  Mittelschiff  etwas 
vortretend,  von  Strebepfeilern  be- 
grenzt, mit  einem  der  Dachhöhe 
entsprechenden  Giebel;  dann  et- 
was zurückweichend  die  Aussen- 
mauern  der  Seitenschiffe  bis  zur 
Höhe  des  Oberschiffs  hinaufge- 
führt und  rechtwinkelig  bekrönt; 
endlich  auf  beiden  Flügeln,  wie- 
derum wie  das  Oberschiff  vor- 
tretend ,  zwei  Treppenthürmchen 
von  quadratem  Grundrisse,  deren 
ziemlich  einfacher,  zwischen  vier 
Fialen  aufsteigender  steinerner 
Helm  nicht  viel  höher  ist  als  die 
Giebelspitze  des  Mittelschiffs, 
während  der  Thurm  auf  der  Vier- 
ung des  Kreuzes  schlank  und 
mächtig  darüber  hinausragt.  Jedes 
Schiff  hat  den  gesonderten  Eingang 
durc]i  ein  Portal  von  geringer 
Höhe  und  mit  schwachem  Spitz- 
giebel, jedes  ist  durch  eine  Fenster- 
gruppe, das  mittlere  durch  drei  Lancetfenster,  die  anderen  durch  ein  zwei- 
theiliges Maasswerkfenster  beleuchtet.  Die  übrigen  Wandflächen  derFagade 
sind  mit  Arcadenreihen  bedeckt,  welche  aber  an  den  Seitenschiffen  und 
Thürraen  andere  Eintheilung  haben  als  am  Mittelschiffe. 

Im  Inneren  bestehen  die  Pfeiler  des  älteren  Theiles  aus  einem  inneren 
Kern  und  mehreren  völlig  frei  umhergestellten  und  ziemlich  weit  abstehenden 
monolithen  Säulen,   deren   cylindrische    Stücke   durch  Bleiringe   verbunden 


Kathedrale  von  Salisbury. 


192 


Frühenglischer  Styl. 


Fig.  48. 


sind  und  die  mit  dem  Kernpfeiler  nur  durch  die  ausladenden  tellerförmigen 
Ringe  des  Kapitals  und  durch  die  Basis  zusammenhängen.  In  der  etwas 
späteren  Ladychapel  ist  der  Kern  ein  einfacher  Cylinder,  im  übrigen  Bau 
ein  Bündel  von  vier  Säulen.  Die  Basis  ist  das  umgekehrte  Kapital,  ein  un- 
verzierter  Kelch,  der  unten  durch  einen  einfachen,  oben 
durch  mehrere  ausladende  Ringe  verziert  ist.  Die 
Scheidbögen  sind  im  Verhältniss  zu  diesen  Pfeilern 
etwas  schwer,  mit  vielen  Rundstäben  und  Verzierungen 
ausgestattet.  Das  Triforium  ist  hoch  und  kräftig,  in 
den  älteren  Theilen  durch  zwei  einfache,  weite  Bögen, 
im  Langhause  durch  zweitheilige,  mit  primitivem  Maass- 
werk verzierte  Arcaden  gebildet,  die  ein  fast  halbkreis- 
förmiger Bogen  paarweise  überspannt.  Die  Fenster 
haben  wieder,  wie  in  Worcester,  eine  Arcatur  von  frei- 
stehenden überschlanken  Säulen.  Die  Gewölbhöhe  (81 
engl.  F.)  ist  im  Verhältniss  zu  der  sehr  massigen  Breite 
des  Mittelschiffs  (34')  ziemlich  bedeutend.  Die  Rippen 
bestehen  aus  zwei  Rundstäben  mit  einer  dazwischen 
gestellten  Ecke,  und  ruhen  auf  schwachen  Diensten, 
die  oberhalb  des  Triforiums  von  Consolen  getragen 
werden.  Das  Ganze  macht  auf  den  ersten 
Blick  durch  die  Regelmässigkeit  und  durch 
eine  gewisse  anspruchslose  Anmuth  der  De- 
tails einen  günstigen  Eindruck;  indessen 
lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  das  ungebro- 
chene Vorwalten  der  horizontalen  Linien,  die 
stete  Wiederholung  gleicher  nicht  sehr  kräftig 
gebildeter  Glieder,  und  die  Verhältnisse  selbst, 
namentlich  das  der  geringen  Breite  zu  der 
nimmer  endenden  Länge  des  Schiffes  ermü- 
dend wirken  1). 

Durch  diesen  bedeutenden,  bis  über  die 

Grenze   dieser  Epoche    hinaus    fortgesetzten 

Bau  erhielt  der  frühenglische  Styl  seinen  völ- 

Kathedraie  ron  Saiisbury.  Ugew  Abschluss.     Alle  anderen  innerhalb  der 

nächsten  fünfzig  Jahre  entstandenen  Bauten  tragen,  ungeachtet  vieler  kleiner 

Abweichungen,  ähnliche  Züge.     So  zunächst  das  entfernt  von  Salisbury,  in 


Kathedrale  von  Salisbury. 


Fig.   49. 


^)  So  gesteht  auch  Britton  (Salisbury  Cath.,  p.  77)  trotz  aller  N'orliebe  für  dies 
Normalgebäude  des  frühenglischen  Styls  ein:  The  uniformily  of  style  and  suri'ace 
renders  it  rather  monolonous. 


Der  Münster  von  Beverley. 


193 


Fig.  50. 


der  Grafschaft  York;  jenseits  desHiimber  gelegene  Münster  von  Beverley  ^), 
über  dessen  Alter  wir  keine  urkundliche  Nachricht  besitzen.  Auch  hier  die 
gestreckte  Anlage  mit  doppeltem  Kreuzschiffe  und  geradem  Chorschluss,  mit 
ähnlichen  Strebepfeilern  und  schwachen  Strebebögen,  mit  Gewolbdiensten, 
die  nicht  vom  Boden,  sondern  von  einer  Console  in  den  Zwickeln  der  Ar- 
caden  aufsteigen,  auch  hier  dasselbe  Bestreben 
durch  schlanke,  mehr  anmuthige  als  strenge 
und  kräftige  Formen  zu  wirken.  Die  Ab- 
weichungen von  jenem  Kathedralbau  bestehen 
fast  nur  in  decorativen  Zusätzen,  an  welchen 
diese  Kirche  besonders  reich  ist.  Selbst  die 
Strebepfeiler  sind  eigenthümlich  verziert,  indem 
in  ihre  Ecken  schlanke  Halbsäulchen  einge- 
meisselt  sind,  welche  mit  Blattkap itälen  das 
Gesims  tragen  und  deren  Basen  an  der  Stelle 
des  Eckblatts  mit  einer  Art  von  Volute  aus- 
laufen. Die  Pfeiler  bestehen  nicht  wie  in  der 
reicher  ausgestatteten  Kathedrale  aus  freisteh- 
enden Monolithen,  sondern  aus  einem  Bündel 
von  acht  dicht  an  einander  gerückten  Säulen, 
die  keinen  Kern  sehen  lassen  und  die  Eigen- 
thümlichkeit  haben,  dass  nur  die  vier  recht- 
winkelig gestellten  cylindrisch,  die  vier  diago- 
nal gestellten  aber  oval  sind  und  in  diagonaler 
Richtung  mit  einer  scharfen  Spitze  hervortreten. 
Jene  haben  dann  auch  meistens  Blattkapitäle, 
diese  die  schon  früher  beschriebenen  Teller- 
kapitäle.  Die  Fenster  sind  wiederum  lancet- 
förmig,  aber  nicht  in  Gruppen,  sondern  einzeln 
stehend,  dagegen  aber  innerlich  und  äusserlich 
von  überaus  steilen  Bögen  eingefasst,  welche 
im  Inneren  auf  freistehenden  Säulchen  ruhen 
und  der  Senkung  des  Schildbogens  entsprechend 
abnehmen.  Die  untere  Wand  der  Seitenschiffe  ist  hier,  wie  in  allen  anderen 
etwas  reicher  gebauten  Kirchen  mit  einer  Arcatur  geschmückt,  das  Triforium 
ist  niedriger  wie  in  Salisbury,  hat  aber  eine  sehr  charakteristische  Eigen- 
thümlichkeit,  welche  sich  auch  in  den  Kathedralen  von  Lincoln  und  von 
Worcester  findet.     Zwischen  den  vorderen  den  Bogen  tragenden  Säulen  und 


Beverley. 


^)  Abbildungen  bei  Britton,  Arch.  Ant.  Vol.  V.  —  Vgl.  Petit,  remarks  on  Bever- 
ley Minster,  memoirs  ,  .  .   of  the  arch.  Inst.,  1846. 

Sclinaase's  Kunstgesch.    2.  Aufl.    V.  13 


194 


Frühenglischer  Styl. 


etwas  hinter  diesen  zurückliegend;  sind  nämlich  andere  kleinere  und  niedrige 
angebracht,  deren  Bogenspitze  durch  die  erstgedachten  Säulen  verdeckt  ist. 
Es  ist  ein  Formenspiel,  das  einigermaassen  an  die  sich  durchschneidenden 
Bögen  des  älteren  Styls  erinnert,  aber  eine  bestimmtere  illusorische  Tendenz 
hat,  indem  es  gleichsam  eine  perspectivische  Durchsicht  durch  zwei  neben 
einander  fortlaufende  Arcadenreihenfingirt  (Fig.  5  2).  Dies  wird  in  anderen  Fällen 
noch  deutlicher  dadurch,  dass  die  kleineren  Zwischen- 
^i&-  51.  Säulen  keine  Basis  haben  und  daher  so  erscheinen, 

als  ob  diese  durch  die  vordere  Säulenreihe  verdeckt 
werde  ^). 

Ein  anderer  Bau  von  grosser  Reinheit  dieses 
Styls  ist  der  Chor  der  KoUegiatkirche  von  South- 
well  (Nothinghamshire).  Bemerkenswerth  ist  hier 
die  Schlusswand  des  Chors,  indem  sie  durch  zwei 
Reihen  von  je  fünf  Lancetfenstern,  die  untere  mit 
gleicher,  die  obere  mit  nach  der  Mitte  zusteigender 
Höhe  fast  ganz  durchbrochen  ist.  Ohne  Zweifel 
war  dies  während  der  Herrschaft  des  frühenglischen 
Styls  die  gewöhnliche  Anordnung,  welche  indessen 
in  den  meisten  Fällen  (namentlich  auch  in  Beverley) 
in  späterer  Zeit  durch  das  Einbrechen  von  kolos- 
salen Maasswerkfenstern  verdrängt  ist. 

Die  Kathedrale  von  Wells-)  wurde  im  Jahre 
1214  begonnen  und  schon  1239  geweiht.  1242 
wurde  der  Anfang  mit  dem  Facadenbau  gemacht. 
Der  Chor  ist  ohne  Zweifel  erst  im  vierzehnten  Jahr- 
hundert gebaut,  Kreuz  und  Schiff  stammen  dagegen 
im  Wesentlichen  aus  dieser  Epoche  und  enthalten 
manches  Abweichende.  Die  Pfeiler  haben  nämlich 
Bevoiiey.  einen  runden  Kern,   an  welchen  statt  der  vorsprin- 

genden acht  Säulen  ebenso  viele  Bündel  von  drei 
überaus  dünnen  Stäben  angelegt  sind,  deren  Kapitale  dann  auch  einen  ge- 
meinsamen Schmuck  von  überfallenden  Blättern  haben.  Diesen  Säuleubün- 
deln entsprechend  besteht  dann  die  Profilirung  der  sehr  steilen  und  hohen 


')  An  dem  Kreuzgange  von  Mont  Saint-Michel  in  der  Normandie  (VioUet-le-Duc  III, 
S.  450  tt'.)  kommt  ein  ganz  ähnliches  Motiv  aber  in  wirklicher  plastischer  Ausführung 
vor,  indem  die  Begrenzung  des  Ganges  gegen  den  Hof  nicht  wie  gewöhnlich  durch 
eine,  sondern  durch  zwei  Reihen  sehr  schlanker  Säulen  bewirkt  ist,  welche  so  ge- 
stellt sind,  dass  die  Säulen  der  innern  Reihe  stets  auf  die  Mitte  von  zweien  der  andern 
treffen. 

2)  Britton,  Cath.  Antiq.  Vol.  IV  und  Winkles  Engl.  Cathedrals  Vol.  I. 


Wells. 


195 


Fig.  52. 


Scheidbögen  aus  mehreren  gesonderten  Gruppen  dünner  Rundstäbe,  so  dass 
hier  wie  dort  der  kräftige  Ausdruck  tragender  und  wölbender  Function 
völlig  verschwunden  ist.  Das  Triforiura  wird  durch  sehr  hohe  einfache 
Lancetbögen  gebildet,  welche  ununterbrochen,  ohne  die  geringste  Andeutung 
der  Stelle  wo  der  vom  Boden  zum  Gewölbe  aufsteigende  Pfeiler  sie  durch- 
schneiden müsste,  fortlaufen,  und  mit  einem  geraden  Gesimse  bedeckt  sind, 
auf  welchem  die  Gewölbträger,  kurze  Cylinder  mit  grossem  Kapital,  derge- 
stalt aufstehen,  dass  sie  wie  der  obere  Theil  einer  hinter  dem  Triforium 
stehenden  und  von  demselben  verdeckten  Halbsäule  erscheinen.  Es  fehlen 
mithin  nicht  nur  die  senkrechten,  die  Wand  nach  den  Gewölbfeldern  ab- 
theileudeu  Dienste,  sondern  das  mächtige  horizontale  Band  des  Triforiums 
macht  auch  die  entfernte  verticale  Beziehung  zwischen  den  Pfeilern  und 
Kreuzgewölben  völlig  unwirksam.  Der  Euhm  dieser 
Kathedrale  beruht  auf  ihrer  weiter  unten  zu  erwäh- 
nenden FaQade  und  auf  der  Schönheit  der  Sculpturen, 
welche  theils  an  dieser  Westfront,  theils  auch  im  In- 
nern, allerdings  nicht  immer  an  geeigneten  Stellen, 
augebracht  sind;  die  Anordnung  des  Innern  ist  keines- 
wegs rühmenswerth.  Verwandtschaft  im  Aufbau 
zeigt  die  Klosterkirche  Saint  John  in  ehester^), 
lieber  Arcaden  normannischen  Styls  mit  Rundsäulen 
und  Rundbögen  steigen  ein  frühenglisches  Triforium 
und  Obergeschoss  auf,  beide  fast  gleich,  nämlich  aus 
je  vier  spitzbogigen  Oeffnungen,  getrennt  von  Säulen- 
bündeln, bestehend,  nur  dass  im  Triforium  Ring- 
säulen etwas  kräftiger  Bildung  mit  höheren  Kapitalen, 
an  den  Oberlichtern  dagegen  leichtere  Säulen  mit 
blattlosen  Kapitalen  erscheinen.  Vom  Triforium  steigt 
ein  mit  Ringen  versehener  Dienst  zu  der  offenen  Balkendecke  auf. 

Vom  Boden  aufsteigende  Dienste  sind  in  dieser  Epoche  überaus  selten. 
Sie  finden  sich,  soviel  mir  bekannt,  nur  in  zwei  in  den  südlichsten  Theilen 
voii  England  gelegenen  Kirchen,  in  dem  schönen  Chor  der  Kathedrale  von 
Rochester  (1225—1239  2),  und  in  dem  westlichsten  Theile  der  Stiftskirche 
zu  Romsey.  Hier  gaben  ohne  Zweifel  die  hohen  Säulen  des  um  1180  be- 
gonnenen romanischen  Baues,  der  nach  kurzer  Unterbrechung  im  früh- 
gothischen  Style  fortgesetzt  wurde,  die  Veranlassung  zu  dieser  Abweichung, 
und  ähnlich  mag  es  sich  in  Rochester  verhalten  haben,  wo  das  romanische 


Beverley. 


1)  John  Henry  Parker,  Medieval  archit.  of  Chester,  London,  1858. 
-)  Winkles  Engl,  catli.  Vol.  I.  —  Rochester  Cathedral,  by  Arthur  Ashpitel,  Jour- 
nal of  the  Brit.  arch.  assoc,  IX,  1854. 

13* 


196  Früh  englischer  Styl. 

Langhaus  zwar  niedrige  Säulen,  auf  diesen  aber  eine" '(beim  Maugel  von 
Gewölben  völlig  zwecklose)  Halbsäule  hat.  ImUebrigen  ist  die  Behandlung 
der  Pfeiler,  Kapitale,  Bögen  und  Lancetfenster  auch  hier  dieselbe  wie  in 
den  vorhererwähnten  Bauten,  und  namentlich  wie  in  der  Kathedrale  von 
Salisbury.  An  der  berühmten  Kathedrale  von  York  stammen  nur  die 
Kreuzschiffe  ^)  (und  auch  diese  nicht  ohne  manche  Aenderung)  aus  dieser 
Epoche,  und  zwar  das  südliche  aus  den  Jahren  von  1227  bis  1250,  das 
nördliche  von  1250  bis  1260.  Die  Lancetfenster  und  die  sie  am  Aeusseren 
und  im  Inneren  begleitenden  blinden  Arcaden  gleichen  denen  von  Beverley, 
die  Pfeiler  sind  schlanke  Bündelsäuleu  der  früher  beschriebenen  Art,  auf 
halber  Höhe  von  einem  Ringe  umgeben  und  mit  eleganten  Blattkapitälen. 
Endlich  gehören  sehr  bedeutende  Theile  der  Kathedrale  von  Lincoln-), 
von  Peterborough  (geweiht  1238),  der  Chor  der  Kathedrale  von  Ely,  mit 
einer  ähnlichen  Schlusswand  wie  die  Kollegiatkirche'  von  Southwell  aber  in 
minder  schönen  Verhältnissen  (1235  —  1252),  zu  den  namhaftesten  und 
schönsten  Leistungen  dieses  Styls,  neben  welchen  der  westliche  Theil  der 
Tempelkirche  (geweiht  1240),  die  Lady  chapel  der  Kirche  St.  Saviours 
(vormals  St.  Maria- Overy)  und  die  Kapelle  in  Lambeth  Palace  in  London^ 
die  Lady  chapel  der  Kathedrale  von  Bristol,  die  Kirche  zu  Ketton  in 
Rutlandshire  1232  — 1250),  die  von  Ashbouru  in  Derbyshire  (1235  — 
1241)  die  von  WenlockPriory  inShropshire^)  und  die  von  Warmington 
in  Nothinghamshire  (circa  1250)  den  Beweis  liefern,  wie  allgemein  er  ver- 
breitet war,  und  in  wie  grosser  Uebereinstimmung  und  Gleichförmigkeit  er 
sich  äusserte. 

Ein  einziges  und  zwar  sehr  bedeutendes  Gebäude  bildet  eine  Ausnahme 
von  dieser  Regel,  die  berühmte  Kirche  der  Westminster-Abtei  in  Lon- 
don. Heinrich  HL  liess,  wie  ein  gleichzeitiger  und  sehr  glaubhafter  Schrift- 
steller berichtet,  im  Jahre  1245  die  östlichen  Theile  der  alten,  von  Eduard 
dem  Bekenner  herrührenden  Kirche  niederreissen,  und  begann  einen  pracht- 
vollen Neubau,  zu  dem  er  bedeutende  Mittel  anwies.  Im  Jahre  1269  er- 
hielten Chor  und  Kreuzschiff  die  Weihe.  Der  König  hatte  anfangs  befohlen, 
den  neuen  Bau  dem  alten  westlichen  anzupassen  und  diesem  Befehle  wird 
man  es  zuschreiben  müssen,  dass  die  Wand  neben  den  Scheidbögen  noch 
nach  normannischer  Weise  mit  einem  Muster  verziert  ist.  ImUebrigen  aber 
folgten  seine  Architekten  dem  Geiste  ihrer  Zeit,  und  ihr  Gebieter  war  auch 
so  wohl  damit  zufrieden,  dass   er  nach  jener  Weihe  den  Bau  nach  Westen 


1)  Britton,  Cathedral  ant.  I,  pr.  VIII,  XIV,  XV,  XVIII. 

-)  In  Britton's  Werk  über  die  Kathedralen  nicht  aufgenommen.    Einzelnes  in  den 
Arch.  Ant.  Vol.  V.     Winkles  a.  a.  0.   Vol.  II. 
^)  CoUectanea  archaeologica.     Vol.  I. 


m 


Westminsterabtei   in  London.  197 

ZU  fortsetzte,  was  denn  auch  nach  seinem  Tode  (1272)  unter  der  Regierung 
seines  Sohnes  fernerhin  geschah,  so  dass  die  Kirche,  von  feineren  Verschie- 
denheiten und  späteren  Zusätzen^)  abgesehen,  in  gleichem  Style  ausgeführt 
ist.  Allein  es  ist  keineswegs  geradezu  der  neuenglische  Styl,  vielmehr  finden 
sieh  zahlreiche  Abweichungen  von  demselben.  Der  Chor  war  polygonförmig 
mit  dem  Umgang  und  fünf  radianten  Kapellen  geschlossen,  von  denen  nur 
die  mittlere  der  späteren  Kapelle  Heinrich's  VII.  gewichen  ist.  Von  den 
Querhausarmen  hat  der  nördliche  nicht  bloss,  wie  in  England  gewöhnlich,  in 
Osten,  sondern  auf  beiden  Seiten  Nebenschiffe,  während  der  südliche,  des 
anstossenden  Kreuzgangs  wegen,  sich  mit  dem  östlichen  Nebenschiffe  begnügt. 
Das  Querhaus  wird  von  starken,  doppelten  Strebebögen  gestützt,  die  wir 
sonst  in  englischen  Bauten  nicht  kennen;  seine  beiden  Fagaden  haben  präch- 
tige Rosenfenster  und  hohe,  schlanke  Portale  mit  dem  Mittelpfeiler,  geradem 
Deckbalken  und  spitzem  Bogenfelde,  die  sehr  verschieden  von  den  niedrigen 
und  bis  unter  den  Bogen  geöffneten  Portalen  des  englischen  Styls  sind.  Die 
Pfeiler,  aus  acht  Halbsäulen  gebildet  und  von  zwei  Ringen  umfasst,  gleichen 
zwar  einigermaassen  den  englischen  Bündelpfeilern,  aber  sie  sind  bedeutend 
höher  uud  schlanker  und  von  dem  Kapitale  der  Mittelsäule  steigt  ein  starker 
Dienst  zum  Gewölbe  hinauf.  Der  Abstand  der  Pfeiler  ist  verhältnissmässig 
kleiner  als  in  den  englischen  Bauten,  die  Arcaden  sind  steiler  und  höher 
und  schliessen  sich  mit  kräftigerer  Gliederung  dem  Pfeiler  an;  die  grossen 
Pfeiler  am  Kreuze  haben  das  in  England  ungewöhnliche  Eckblatt  der  Basis. 
Auch  das  Triforium  ist  anders  gebildet  und  die  zweitheiligen  Fenster  geben 
das  früheste  Beispiel  des  bisher  in  England  noch  unbekannten  französischen 
Maasswerks-).  Mit  einem  Worte,  wir  glauben  eine  französische  Kathedrale 
zu  sehen,  und  finden  bei  näherer  Betrachtung  nur  einzelne  Concessionen, 
welche  dem  englischen  Herkommen  gemacht  sind,  z.  B.  die  tellerförmigen 
Kapitale,  die  Scheitelrippen  der  Gewölbe.  Höchst  wahrscheinlich  befanden 
sich  unter  den  Architekten,  welche  nach  der  Erzählung  eines  gleichzeitigen 
und  glaubhaften  Chronisten  der  König,  bevor  er  zum  Bau  schritt,  herbei- 
gerufen hatte  •^),  auch  Franzosen,  deren  Entwurf  den  Vorzug  erhielt,  worauf, 
vielleicht  auch  der  Umstand  deuten  mag,  dass  bei  einem  Rechnungsabschlüsse 


1)  Zu  denselben  gehört,  ausser  der  Kapelle  Heinrich's  VII.,  die  Westfacade,  welche 
an  Stelle  der  älteren  unvollendeten  durch  Sir  Christopher  Wren   errichtet  wurde, 

-)  Wie  dies  Edmund  Sharpe,  Treatise  on  window  tracery,  London  1849,  ausdrück- 
lich anerkennt. 

3)  Matth.  Paris.  Hist.  p.  661.  Eodem  vero  auuo  (1245)  dominus  rex,  devo'tione 
quam  habuit  adversus  sanctum  Aeduardum  submoneute,  ecclesiam  sancti  Petri  West- 
monasteriensem  jussit  ampliari;  et  dirutis  autiquis  cum  turri  muris  partis  orientalis, 
praecepit  novos,  videlicet  decentiores,  suis  sumptibus,  subtilibus  artificibus  convocatis, 
construi  et  residuo,  videlicet  occidentali,  operi  coaptari. 


jgg  Frühenglischer  Styl. 

auch  ein  Posten  für  französische  Steine  ausgeworfen  wurde  ^j.  Wir  haben 
daher  hier  das  Werk  von  Fremden,  dessen  Abweichungen  nur  dazu  dienen, 
die  Eigenthümlichkeiten  des  wirklich  englischen  Styls  recht  ins  Licht  zu 
setzen. 

Diese  Eigenthümlichkeiten  beruhen  zum  Theil  auf  älteren  einheimischen 
Traditionen  der  Insel,  welche  jetzt  in  die  neue  Formensprache  übersetzt 
wurden,  aber  dennoch  ihren  Ursprung  und  die  Fortdauer  derselben  Anschau- 
ungsweise erkennen  lassen. 

Dies  gilt  zunächst  von  der  Gesammtanlage.  In  der  Spätzeit  "des  nor- 
mannischen Styls  hatte  man  die  runde  Apsis,  selbst  mit  dem  Umgange  und 
Kapellenkranze,  wieder  häufiger  angewendet,  so  bei  den  Kathedralen  von 
Canterbury,  Gloucester,  Worcester,  Norwich,  und  die  heutigen  Engländer,, 
namentlich  Britton,  erkennen  die  Vorzüge  dieser  Anordnung  im  vollen 
Maasse  an.  Ihre  Vorfahren  im  dreizehnten  Jahrhundert  waren  anderer  An- 
sicht, und  kehrten  ohne  Ausnahme  zu  der  altbritischen  Tradition  des  ge- 
raden Chorschlusses  zurück.  Damit  verbanden  sich  andere,  zum  Theil 
ebenfalls  schon  in  der  vorigen  Epoche  ausgebildete  Eigenthümlichkeiten  des 
Grundplans:  die  gewaltige  Länge  des  Hauptarmes  und  die  fast  gleiche  des 
Langhauses  und  Chores,  welcher  jetzt  durch  die  üblich  gewordene  Hinzu- 
fügung  einer  Marienkapelle  noch  grössere  Ausdehnung  erhielt,  dann  die 
Anlage  zweier  Querschiffe  von  ungleicher,  aber  immer  geringer  Ausladung, 
endlich  noch  der  Umstand,  dass  beide  nur  auf  der  Ostseite  Seitenschiffe  er- 
hielten. Alle  diese  Einrichtungen  haben  einen  inneren  Zusammenhang;  die 
gewaltige  Länge  des  Schiffes  machte  die  Chornische  überflüssig  und  die  dop- 
pelten Querschiffe,  theils  als  Eingänge  theils  auch  in  ästhetischer  Beziehung 
als  Unterbrechungen  der  langen  Linie  des  Hauptstammes  und  gleichsam  als 
aufrechthaltende  Stützen,  nöthig  oder  wünschenswerth.  Aber  durch  dies 
Alles  wurde  das  rhythmische  Verhältniss  der  Theile  gelähmt;  das  Gebäude 
erschien  schon  in  seiner  Anordnung  nicht  als  ein  in  sich  vollendeter  Orga- 
nismus, welcher  sich  von  innen  heraus  nach  allen  Seiten  entwickelt  und  be- 
grenzt, sondern  als  eine  lange  und  gedehnte,  willkürlich  abgeschnittene  Linie 
mit  unbedeutenden  Nebenräumen.  Der  Thurm  auf  der  "Vierung  des  Kreuzes, 
den  man  hier  beibehielt  während  er  auf  dem  Continent  zu  einem  kleinen 
Dachreiter  zusammenschmolz,  diente  zwar  dazu,  die  Monotonie  dieser  Linie 
zu  brechen.  Aber  die  Verdoppelung  und  die  geringe  Ausdehnung  der  Kreuz- 
schiffe und  der  Mangel  eines  harmonischen  Chorschlusses  bringt  es  mit  sich, 
dass  dieser  Thurm  nicht  als  die  Mitte  einer  reich  gestalteten  Centralanlage,. 
als  der  Sitz  der  nach  allen  Seiten  hin  ausstrahlenden  Kraft,  sondern  nur  als 


^)  Wiilmore,   History  of  Westminster  Abbey. 


Portale.  199 

der  Mittelpunkt  jener  langen,  von  Westen  nach  Osten  fortlaufenden  Linie 
erscheint,  welcher  ihre  Länge  durch  diese  Theilung  recht  fühlbar  macht. 
Dazu  kommt  ferner,  dass  die  Höhenrichtung  in  jeder  Beziehung  wenig  betont 
ist.  Schon  die  absolute  Höhe  der  Kirchenschiffe  ist  geringer  als  auf  dem 
Continent.  Die  Kathedralen  von  Salisbury  und  von  Peterborough  haben  bei 
einer  lichten  Breite  des  Langhauses  von  78  und  79  eine  Gewölbhöhe  von 
81  englischen  Fuss.  Die  Kathedrale  von  York  erhebt  sich  bis  auf  92,  die 
Kirche  der  Westminsterabtei  in  London  sogar  bis  auf  101  Fuss.  Aber  diese 
beiden  letzten  Kirchen  bilden  Ausnahmen,  und  keine  der  anderen  Kathedralen 
erreicht  die  Höhe  von  Salisbury;  die  von  Wells  und  mehrere  andere  spätere 
haben  sogar  nur  eine  Höhe  von  67  Fuss.  Aber  nicht  bloss  das  Maass, 
sondern  auch  die  Behandlung  der  Formen  giebt  der  verticalen  Richtung 
hier  eine  untergeordnete  Bedeutung.  Die  Strebepfeiler  sind  schwächer  als 
auf  dem  Continent,  vielfach  aber  nur  mit  einfachen  Schrägen  abgestuft,  ohne 
oder  doch  nur  mit  wenig  bedeutenden  Fialen,  steigen  selten  weit  über  das 
Dach  der  Seitenschiffe  hinaus;  die  Strebebögen,  wenn  sie  überhaupt  vor- 
kommen, sind  unscheinbar  und  unverziert.  Das  verticale  Element  ist  daher 
nicht  so  mächtig,  die  Seitenschiffe  des  langen  Gebäudes  sind  nicht  durch  so 
viele  und  kräftige  Schatten  gebrochen,  als  bei  den  contiuentaleu  Bauten; 
die  langen  Reihen  dicht  gestellter  Lancetbögen  geben  das  Gefühl  steter 
Wiederholung  und  ermüdender  Ausdehnung. 

An  den  Fagaden  vermissen  wir  zunächst  die  kräftigen  und  bedeutungs- 
vollen Portale  der  contineutalen  Münster.  Sie  sind  hier  niedrig,  wenig 
vertieft,  an  ihren  Gewänden  nur  mit  einigen  dünnen  Halbsäulen  besetzt,  zwar 
durch  einen  Mittelpfeiler  in  zwei  Oeffnungen  getheilt,  aber  statt  des  geraden 
Deckbalkens  und  des  hohen,  für  grosses  Bildwerk  geeigneten  Bogenfeldes 
durch  zwei  kleinere  offene  Bögen  bedeckt,  so  dass  unter  der  mager  profilir- 
ten  Archivolte  nur  ein  kleiner,  von  divergirenden  Curven  begrenzter,  und 
durch  eine  Rose  oder  einen  Vierpass  genügend  gefüllter  Raum  übrig  bleibt. 
Diese  Anordnung  ist  an  sich  anmuthig  und  zierlich  und  als  Eingang  zu  einem 
kleineren  Gebäude,  etwa  einem  Kapitelsaale,  ganz  befriedigend.  An  der 
Fagade  einer  mächtigen  Kirche  aber  erscheint  sie  kleinlich  und  gedrückt, 
zumal  wenn  nach  der  in  England  herrschenden  Sitte  darüber  eine  Gruppe 
von  sehr  viel  höheren  Lancetfenstern  steht.  Da  ein  solches  Portal  die  Breite 
des  Mittelschiffes  zwischen  den  Strebepfeilern  nicht  ausfüllt,  so  ist  es  häufig 
wie  an  der  Kathedrale  von  Salisbury  und  am  Münster  von  Beverley  von  zwei 
blinden  Bögen  derselben  Höhe  begleitet,  wodurch  es  denn  aber  noch  mehr 
an  seiner  Bedeutung  verliert.  Für  den  Bildschmuck,  welcher  die  Portale  des 
Continents  belebt,  für  die  ernsten  Statuen  und  den  reichen  Reliefinhalt  des 
Bogenfeldes  ist  hier  keine  Stelle,  und  statt  der  kräftigen  Gegensätze  von 
Licht  und  Schatten,  durch  welche  diese  auf  die  mächtigen  Hallen  des  Lineren 


200  Frühenglischer  Styl. 

vorbereiten,  ist  hier  nur  mit  etwas  schwächliclier  Zierlichkeit  für  das  Bedürf- 
iiiss  des  Eingangs  gesorgt. 

Noch  übler  ist  für  die  Wirkung  der  Fagade,  dass  ihr  meistens  die 
Thürme  fehlen.  Die  Normannen  hatten  in  ihrer  Heimath  schon  frühe  das 
richtige  Princip  für  die  Gliederung  der  Frontseite  und  für  die  Verbindung 
derselben  mit  den  Westthürmen  gefunden,  sie  statteten  daher  auch  in  Eng- 
land ihre  Kathedralen  mit  solchen  aus,  wie  dies  noch  an  denen  von  Peter- 
borough,  Lincoln  und  Durham,  ungeachtet  späterer  Vorbauten,  erkennbar 
ist.  Aber  sie  fügten  sich  auch  hier,  wie  in  anderen  Beziehungen,  den  bau- 
lichen Gewohnheiten  des  Landes,  bildeten  daher  die  Kirchthürme  nicht  so 
schlank  wie  in  der  Normandie,  sondern  Hessen  sie  wie  die  Citadelleu  der 
Burgen  breit  und  schwer,  mit  unverjüngten,  durch  gedrängte  Arcaden  be- 
lasteten Stockwerken  aufsteigen.  Dadurch  wurde  die  ganze  Anlage  reizlos 
und  schwerfällig,  der  mittlere  Raum  zu  sehr  beengt  und  der  Durchblick  auf 
den  von  der  Vierung  des  Kreuzes  aufsteigenden  Thurm,  auf  welchen  das 
brittische  Gefühl  grossen  Werth  legte,  verkümmert.  Dies  war  denn  wohl 
die  Ursache,  dass  man  schon  unter  der  Herrschaft  des  normannischen  Styls 
anfing,  thurmlose  Fa9aden  anzulegen,  welche  die  Höhe  der  drei  Schiffe  bei- 
behielten, und  oben  rechtwinkelig  bekrönt  w^aren,  wie  dies  noch  an  der  Ka- 
thedrale von  Rochester  erhalten  ist. 

Der  neue  englische  Styl  schloss  sich  dieser  Ansicht  an  und  Hess,  wenig- 
stens in  der  Regel,  die  Westthürme  fort,  wahrscheinlich  mit  Rücksicht  auf 
den  grossen  Centralthurm,  entweder  wegen  des  bedeutenden  Aufwandes,  den 
er  erforderte,  oder  weil  man  es  für  schöner  und  imposanter  hielt,  wenn  er 
in  seiner  gewaltigen  Masse  einsam  aufstieg.  Man  gab  indessen  der  ganzen 
Fa§ade  auch  vor  den  Seitenschiffen  die  Höhe  des  Mittelschiffes,  und  flankirte . 
diesen  Vorbau  durch  zwei  kleine  Treppenthürme,  die  man  aber,  um  den 
Anblick  jenes  Mittelthurmes  nicht  zu  beeinträchtigen,  nicht  vor,  sondern 
neben  den  Seitenschiffen  anbrachte.  Dies  ist  der  Grundgedanke  bei  den 
bedeutendsten  Kathedralen  dieser  Epoche,  bei  denen  von  SaHsbury,  Lincoln 
Peterborough  und  Wells;  es  sind  recht  eigentliche  Fagadenbauten,  ähnlich 
wie  wir  sie  in  Italien  finden,  Decorationen  ohne  organischen  Zusammenhang 
mit  dem  ganzen  Gebäude.  Nur  die  Westseite  des  Münsters  von  Ripon, 
wohl  schon  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  angelegt,  macht  eine  Aus- 
nahme, indem  das  Mittelschiff  über  den  drei  Portalen  mit  zwei  Reihen  von 
je  fünf  Lancetfenstern  ausgestattet  ist,  während  vor  den  Seitenschiffen  zwei 
Thürme  in  vier,  freilich  unverjüngten,  den  Abtheilungen  des  Mittelschiffes 
entsprechenden  und  wiederum  mit  Lancetfenstern  und  gleichen  Arcaden  aus- 
gefüllten Stockwerken  aufsteigen^). 


1)  Eine  Abbildung  in  Winkles,  Catiiedrals,  Band  III,  S.  113. 


Facaden.  201 

Dies  Alles  erschwerte  es  ungemein,  ein  befriedigendes  System  für  die 
Anlage  der  Fagade  zu  finden.  Durch  die  Anfügung  der  Seiteuthürmchen 
verlor  die  Vorderseite  den  inneren  Zusammenhang  mit  den  Abtheilungen  des 
Laughauses,  zu  dem  sie  einführen  sollte,  und  erhielt  zugleich  eine  so  bedeu- 
tende Breite,  dass  es  schwer  wurde,  zumal  bei  dem  Mangel  bedeutender 
Thürme,  dem  verticalen  Element  den  nöthigeu  Ausdruck  zu  geben  ^).  Daher 
zeigt  sich  denn  gerade  in  Beziehung  auf  diesen  wichtigen  Theil  ein  Schwanken 
und  Umhertappen,  welches  bei  der  sonstigen  üebereinstimmung  der  Meister 
dieses  Styls  sehr  auffallend  ist.  Die  Fagade  von  Salisbury  ist,  wie  schon 
erwähnt,  fünftheilig,  dergestalt,  dass  der  Giebel  des  Mittelschiffes  und  die 
beiden  äusseren  Thürmchen  mit  einander  correspondiren,  die  dazwischen 
gelegenen  Frontmauern  der  Seitenschiffe  aber  die  Gewölbhöhe  des 
Mittelschiffes  erreichen,  dann  aber  rechtwinkelig  schliessen.  Arcadenreihen 
überziehen,  wenn  auch  mit  abweichender  Eintheihmg  des  Mittelschiffes,  die 
ganze  Mauer.  Die  Fagade  von  Lincoln  schliesst  sich,  jedoch  mit  Benutzung 
einer  dem  älteren  Bau  und  seinen  Thürmen  noch  unter  der  Herrschaft  des 
normannischen  Styls  angefügten  Vorhalle,  der  von  Salisbury  an,  nur  dass  der 
Giebel  des  Mittelschiffes  und  die  Eckthtirmchen  hier  kleiner  und  die  recht- 
winkelig begrenzten  Theile  vorherrschend  sind,  auch  die  Arcadenreihen 
durchlaufende  Linien  bilden.  Dabei  aber  hat  man  hier  die  Einförmigkeit 
jener  ersten  Fagade  dadurch  zu  vermeiden  versucht,  dass  man  den  Zugang 
der  drei  Portale  mit  offenen ,  ungefähr  der  Höhe  der  verschiedenen  Schiffe 
entsprechenden  Hallen  versehen  hat,  welche  dann  mit  den  tiefen  Schatten 
ihrer  Höhlung  die  flache  Mauer  des  ganzen  Vorbaues  unterbrechen  und  be- 
leben. Vielleicht  gab  dieser  Versuch  die  Anregung  zu  der  sehr  eigeuthüm- 
lichen  Anlage  der  Faeade  von  Peterborough.  Hier  begrenzen  nämlich 
die  wiederum  seitwärts  gestellten  und  mit  spitzbogigen,  ziemlich  barock  an- 
geordneten Arcaden  bedeckten  Eckthürmchen  eine  der  Breite  der  drei 
Schiffe  entsprechende  Vorhalle,  welche  sich  mit  drei  mächtigen,  auf  gewal- 
tigen Bündelpfeilern  ruhenden,  bis  zur  Höhe  des  Mittelschiffes  aufsteigenden 
Bögen  öffnet  und  mit  drei  gleichhohen  Giebeln  bekrönt  ist.  Das  Ganze 
erinnert  einigermaassen  an  die  nicht  minder  grossartige  Portalnische  der 
Moschee  des  Sultan  Hassan  in  Kairo  -),  und  hat  in  der  christlichen  Archi- 
tektur nicht  seines  Gleichen.  Es  lässt  sich  diesen  mächtigen,  offenen 
Hallen  eine  imponirende  Wirkung  nicht  absprechen;  allein  der  organische 


^)  Die  nach  dem  englischen  Systeme  angelegte  Facade  der  Kathedrale  von  Ronen 
ist  188,  die  von  Wells  147  Fuss  breit,  während  die  von  N.  D.  von  Paris  136,  die 
von  Amiens  gar  nnr  116  Fuss  Breite  hat. 

-)  Band  III,  S.  401.  Ansichten  der  Facade  von  Peterborough  in  Britton's  Arch. 
Ant.  Vol.  V,  und  in  Wiukles'  english  Cathedrals  Vol.  II,  S.  72. 


202  Friiheuglischer  Styl. 

Charakter  fehlt  auch  hier.  Während  die  französischen  Fagaden  mit  ihren 
in  die  Strebepfeiler  wie  hineingewachsenen  Portalen,  ihren  so  naturgemäss  auf- 
steigenden Thürmen  und  ihrer  grossen  Fensterrose  wirklich  die  nothwendige 
und  erschöpfende  Aeusserung  des  Inneren  sind,  ist  diese  Vorhalle  doch 
immer  nur  ein  willkürlicher,  wenn  auch  sinnreicher  und  gewissermaassen 
grossartiger  Nothbehelf.  Dagegen  ist  die  Frontseite  der  Kathedrale  von 
Wells  offenbar  unter  dem  Einflüsse  der  continentalen  Fagaden  entstanden 
und  ihrer  nicht  unwürdig.  Die  Thtirme  liegen  auch  hier  neben  den  Seiten- 
schiffen, die  ganze  Front  ist  also  ftinftheilig,  aber  durch  sechs  kräftige 
Strebepfeiler  entschieden  und  übersichtlich  geordnet,  von  denen  die  vier  die 
Thürme  einfassenden  an  diesen  ununterbrochen  aufsteigen.  Eben  so  gelungen 
ist  die  Anordnung  der  horizontalen  Abtheilungen,  welche  sich  über  die  ganze 
Breite  der  Front  mit  Einschluss  der  Strebepfeiler  erstrecken.  Das  Basameut 
und  eine  reich  mit  Maasswerk  verzierte,  von  Fenstern  durchbrochene  Arcatur 
bilden  das  untere  Stockwerk,  in  welchem  sich  das  Hauptportal  befindet,  das 
zwar  in  der  herkömmlichen  Anordnung  und  niedrig,  aber  doch  kräftiger  ge- 
bildet ist.  Zwei  kleine  Seitenportale,  deren  Spitzbogen  kaum  vom  Rundbogen 
zu  unterscheiden  ist,  schliessen  unterhalb  der  Fenster  dieses  Untergeschosses. 
Darauf  folgt  ein  zweites,  die  ganze  Fläche  bis  zur  Gewölbhöhe  des  Mittel- 
schiffes füllendes  Stockwerk,  das  in  der  Mitte  drei  schlanke  Lancetfenster, 
an  den  Strebepfeilern  herrliche,  in  zwei  Reihen  gestellte  Statuen,  an  den 
dazwischen  gelegenen  Theilen  hohe,  mit  Maasswerk  verzierte  Blendarcaden 
hat.  Die  Seitenschiffe  sind  oben  wieder  rechtwinkelig  bekrönt,  während  das 
Mittelschiff  mit  einer  reichbelebten,  freilich  unvollendeten  Giebelarchitektur 
schliesst,  und  das  einzige  noch  ausgeführte  Stockwerk  der  Thürme  etwas 
verjüngt  und  ziemlich  luftig  gehalten,  höher  hin  aufwächst.  Es  ist  in  der 
That  die  schönste  Fagade  in  England,  aber  sie  steht  dennoch  den  schöneren 
des  Continents  nach.  Auch  hier  ist  das  einzige  Portal,  obgleich  etwas 
schlanker  und  tiefer  als  sonst,  weit  entfernt  von  der  Bedeutsamkeit,  die 
diesem  Theile  gebührt.  Auch  hier  wird  seine  Wirkung  durch  die  hohen 
Lancetfenster  über  ihm  geschwächt.  Auch  hier  fehlt  die  Rose  und  über- 
haupt das  concentrirende  Element;  die  gewaltige  Breite  und  die  Zusammen- 
stellung von  fünf  Abtheilungen  hindern  auch  hier  ein  kräftiges  Aufstreben. 
Der  Einfluss  der  französischen  Kunst  ist  nicht  wohl  zu  bezweifeln,  aber  die 
continentalen  Vorbilder  sind  sogleich  in  charakteristisch  britischer  Weise 
umgestaltet.  Alles  ist  hier  wohlgeordnet,  verständig,  geschmackvoll;  der 
Architekt  hat  es  erkannt,  dass  den  heimischen  Werken  der  Ausdruck  des 
Kräftigen  fehle,  und  sich  bemüht,  ihn  zu  erlangen.  Aber  die  Lebensfrische, 
den  Hauch  zeugender  Begeisterung  hat  er  seiner  Conception  nicht  zu  geben 
vermocht;  sie  ist  fast  schon  allzu  regelmässig  und  systematisch,  wir  sind  be- 
friedigt, aber  nicht  wie  vor  anderen  Bauwerken  erwärmt. 


Inneres. 


203 


Fig.    53. 


So  weit  die  Charakteristik  des  Aeusseren  dieser  Kirchen.  Im  Inneren 
zeigt  sich  die  Eigenthümlichkeit  des  Styls  in  etwas  günstigerer  Weise.  Die 
Details  sind  mit  Mannigfaltigkeit  der  Erfindung,  mit  Eleganz  und  Sauberkeit 
ausgeführt;  die  Wände  sind  vollständig  gefüllt,  und  ungeachtet  des  reichen 
Schmuckes  hat  das  Ganze  den  Charakter  der  Mässigung  und  anspruchloser 
Anmuth.  Aber  auch  hier  fällt  uns  sogleich  der  Mangel  an  kräftigen  Formen^ 
an  organischer  Gliederung,  an  durchgeführtem  Zusammenhange  auf.  Die 
Pfeiler  sind  ohne  unmittelbare  und  sichtbare  Verbindung  mit  dem  Gewölbe; 
ihre  Kapitale  stehen  alle  in  gleicher  Höhe  und  die  Gewölbdienste  steigen 
von  Consolen  auf,  welche  an  verschiedenen  Stellen,  oft  erst  in  den  Zwickeln 
der  Triforienbögen  angebracht  sind.  Triforien  fehlen  in  reicher  ausge- 
statteten Kirchen  nie;  aber,  wenn  sie  auch  nicht,  wie  in  Wells,  in  einer 
Reihe  gleicher  und  gleichgültig  fortlaufender 
Bögen,  sondern  in  Bogengruppen  bestehen, 
welche  den  Arcaden  und  Gewölbfeldern  ent- 
sprechen, so  entbehren  sie  doch  einer  orga- 
nischen Verbindung  mit  den  Gewölbdiensten. 
Die  verticalen  Abtheilungen  sind  also  gar  nicht 
betont,  die  Horizontallinien  herrschen  vor. 
Die  Scheidbögen  sind  zwar  reich  mit  Rund- 
stäben besetzt,  aber  ohne  kräftige  Gliederung, 
ohne  organisches  Verhältniss  zu  den  Pfeilern, 
ihre  Profilirung  ist  nicht  der  uaturgemässe 
Ausdruck  ihrer  Function,  sondern  ein  blosser 
Schmuck.  Dazu  kommt,  dass  die  Bögen  nicht 
gleichartig  sind;  die  Scheidbögen  breit,  die 
Fenster  lancetförmig,  die  Arcatur  unter  den 
Seitenfenstern  gewöhnlich  kleeblattförmig,  die 

Bögen  der  Triforien  bald  stumpfer,  bald  spitzer,  oft  verschieden  und  sogar 
mit  halbreisförmigen  Bögen  innerhalb  derselben  Gruppe  verbunden.  In  dem 
nördlichen  Kreuzarme  der  Kathedrale  vonHereford  sind  sämmtliche  Bögen^ 
die  grossen  Arcaden,  die  Abtheilungen  des  Triforiuras  und  die  Fenster  so 
steil  und  so  wenig  gegliedert,  dass  sie  dem  Auge  wie  gleichscheukelige  Drei- 
ecke erscheinen  1). 

Geht  man  näher  auf  das  Einzelne  ein,  so  findet  man  an  allen  Gliedern 
eine  eigenthümliche,  von  der  continentalen  Auffassung  abweichende  Behand- 
lungsweise  und  dabei  vielfache  Variationen  derselben  Grundgedanken,  welche 
beweisen,  dass  die  Architekten  diese  Abwechselung  ohne  vorwaltende  Berück- 
sichtigung des  Ganzen  zu  einer  Aufgabe  ihres  Scharfsinnes  gemacht  haben. 


Kathedrale  von  Salisburv. 


1)  Britton,  Cath.  Ant.  Vol.  III.     Taf   XI,  XII.     Winkles  Cath.  III.  p.  4L 


204 


Frühenglischer  Styl. 


Fig.  54. 


Die  Pfeiler  bestehen  einige  Male,  wie  in  der  Kathedrale  von  Salisbury  und 
im  Chor  der  Kathedrale  von  Chichester,  aus  einem  cylindrischen  Stamme  mit 
mehreren  schlanken,  frei  und  weit  abstehenden  monolithen  Säulen,  häufiger 
aus  einer  zusammenhängenden  Grui^pe  von  mehreren,  bald  mehr,  bald  weniger 
vortretenden,  aber  mit  dem  Kern  zusammenhängenden  Säulen,  wobei  dann 
aber  wieder  sehr  verschiedene  Formen  vorkommen.  In  der  Kathedrale  von 
liincoln  stehen  diese  Säulen  weit  ab  und  sind  nur  rückwärts  verlängert  und 
so  mit  dem  Kerne  verbunden;  in  der  von  Wells  sahen  wir,  dass  statt  der 
acht  Säulen  eben  so  viele  kleine  Säulenbündel  angebracht  sind;  im  Chore 
von  Worcester  stehen  sogar  zwischen  den  acht  Säulen  gleichsam  in  zweiter 
Linie  acht  kleinere;  im  Langhause  des  Münsters  zuBeverley  haften  sie  dicht 
aneinandergerückt  an  einem  nicht  sichtbaren  Kerne,  sind  aber  verschieden 
gebildet,  nur  die  den  Axen  entsprechenden  cylindrisch, 
die  diagonalen  dagegen  mit  einer  hervortretenden  Spitze. 
Damit  verwandt  ist  eine  andere  häufig  vorkommende 
Sonderbarkeit,  die  nämlich,  dass  die  Säulen  zwar 
cylindrisch  gebildet,  aber  vorn  durch  ein  Leistchen 
(fillet)  verstärkt  sind,  wodurch  sie  sich  der  fast  ovalen 
Gestalt  jener  diagonalen  Säulen  in  Beverley  einigermassen 
nähern.  Man  bezweckte  dadurch,  theils  sie  eleganter 
zu  machen,  theils  das  verticale  Element  w'enigsteus  an 
dieser  Stelle  zu  betonen.  Indessen  schwankte  man  über 
die  Art  der  Anwendung;  zuweilen  nämlich  ist  das  Leist- 
chen, wie  dies  im  Kreuzschiffe  desselben  Münsters  zu 
Beverley  und  an  den  eben  erwähnten  Pfeilern  der  Ka- 
thedrale von'Lincoln  vorkommt,  an  allen  Säulen,  meistens 
aber  nur  an  der  einen  Hälfte  derselben,  aber  bald  an 
den  in  der  Richtung  der  Axen,  bald  an  den  diagonal  ge- 
stellten angebracht,  so  dass  man  offenbar  nicht  daran  dachte,  die  Function 
dieser  verschiedenen  Schäfte  oder  ihr  Verhältniss  zu  den  Archivolten  auszu- 
drücken, sondern  nur  eine  Abwechselung  in  die  Monotonie  ihrer  Wieder- 
holung zu  bringen.  Ausserdem  kommen  dann  noch  manche  andere  Pfeiier- 
formen  vor;  in  der  um  1250  entstandenen  Kirche  St.  Saviour  in  London 
(Southwark)  sind  die  diagonalen  Säulen  durch  flache  Aushöhlungen  ersetzt, 
welche  die  senkrecht  gestellten  Säulen  verbinden,  in  anderen  Fällen 
zeigt  der  Pfeiler,  wie  in  der  Templerkirche  in  London,  bloss  die  Gestalt 
von  vier  verschmolzenen  Rundstämmen.  ^ 

Auch  die  Kapitale  unterscheiden  sich  von  denen  des  Continents.  Sie 
haben  durchweg  Kelchform,  aber  nicht  die  des  korinthischen  Kapitals,  son- 
dern eine  niedrigere,  mit  schlankem  Halse  und  kecker  Ausladung  des  oberen 
Theils.  Meistens  ist  der  Hals  nackt  und  die  Ausladung  durch  mehrere  teller- 


Katliedrale  von  Lincoln. 


Decoralive  Ausstattung. 


205 


förmig  vorspringende  und  als  Eundstäbe  profilirte  Ringe  gebildet.  Wenn 
sie  Blattwerk  haben,  so  besteht  dies  nicht,  -wie  in  den  frühgothischen  Bauten 
des  Contineuts,  aus  kräftigen,  kuospenförraigen,  in  zwei  Reihen  hintereinan- 
der gestellten  nnd  alternirenden 

Blättern,  sondern   aus   dünnen,  *^*  ^" 

den  Hals  umgebenden  Stengeln, 
von   denen   oben   eigenthümlich 
feines,  aber  couventionelles  Laub 
üppig  und  weit  herabfällt.     Die 
Deckplatte     ist     nicht    vier- 
oder  achttheilig,  sondern  kreis- 
rund, die  Basis  nicht  als  kräf- 
tiger Pfühl,  sondern  dem  umge- 
kehrten tellerförmigen  Kapitale 
ähnhch  oder  aus  mehreren  Ringen 
gebildet.     Basis  und  Kapital  ge- 
ben daher  in  keiner  Weise  eine  Ueberleitung  des  runden  Säulenstammes  in 
die  eckigen  Grundformen  des  Gebäudes,  und  der  ganze  Pfeiler  mit  allen 
seinen  Theilen  hat  einen  leichten  und  zierlichen,  aber  schwächlichen  Charakter. 
Man  hat  darauf  verzichtet,  seine  Function  als  kräf- 
tiger Träger    der    hohen    Wände    anschaulich    auszu- 
sprechen. 

Mit  dieser  nüchternen  und  uukräftigen  Behand- 
lung der  wesentlichen  und  tragenden  Glieder  hing  es 
zusammen,  dass  der  englische  Styl  auch  in  Beziehung 
auf  die  Art  und  die  Anwendung  ornamentistischer 
Ausstattang  einen  anderen  Weg  einschlug,  als  der  früh- 
gothische  des  Contiuents.  Während  dieser  anfangs  mit 
fast  spröder  Keuschheit  jeden  überflüssigen  Schmuck 
zurückwies  und  auch  später  im  Wesentlichen  alle  Zierde 
aus  dem  Xothweudigen  und  Nützlichen  herleitete,  suchte 
jener  gleich  bei  seiuemBeginne  nach  leeren  Stellen,  welche 
die  Anbringung  einer  bedeutungslosen  Decoration  dul" 
deten.  Auch  hier  waren  Reminiscenzen  des  normannischen 
Styls  maassgebend.  Zwar  verzichtete  man  darauf,  die 
Wandräume  neben  den  Bögen  mit  teppichartigen 
Mustern  zu  bedecken,  auch  konnte  man  den  gegliederten,  von  schlanken 
Säulchen  umstellten  Pfeiler  nicht  mehr  wie  die  einfachen  Rundstämme  der 
altern  Kirchen  mit  Kanneluren  oder  Rauten  völlig  überziehen.  Aber  man 
wich  in  der  That  nur  der  Nothwendigkeit  und  brachte  daher  an  den  Stellen 
des  Pfeilers,  welche  dafür  zugänglich  waren,  namentlich  an  den  abgefaseten 


Fig.  56. 


Kathedrale  von  Salisbury. 


206 


Frühenglischer  Styl. 


oder  ausgehöhlten  Seiten  des  Kerns,  wo  sie  zwischen  den  Säulen  sichtbar 
waren,  eine  nun  um  so  kräftigere  Ornamentation  an.  Ebenso  gab  man  es 
auf,  die  Scheidbögen  mit  Zickzacklinien  einzufassen,  aber  man  gestattete 
sich  dafür,  ähnliche  Ornamente  wie  zwischen  jene  Säulen  auch  zwischen  die 
Rundstäbe  der  Bogengliederung  zu  legen.  In  beiden  Fällen  bestand  dann 
die  Ornamentation  in  einem  dort  senkrecht,  hier  nach  der  Richtung  des 
Bogens  mit  einzelnen,  uuverbundenen  Blumen,  Sternen  oder  ähnlichen  Figuren 
belegten  Streifen.  Besonders  beliebt  war  dabei  der  s.  g.  Hundszahn  (dog- 
tooth  oder  schlechtweg  tooth),  eigentlich  eine  vierblätterige  Blume,  nur  mit 
herausgekehrter  Spitze  und  dadurch  an  die  Gestalt  eines  Spitzzahnes 
erinnernd.  Sieht  man  näher  zu,  so  erkennt  man,  dass  den  meisten  dieser 
Figuren,  und  namentlich  diesem,  während  dieser  Epoche  wahrhaft  wuchern- 
den Zahnornament  noch  immer  der  Gedanke  zusammenstossender  und  aus- 
-einandergehender  Linien  zum  Grunde  liegt,  mithin  derselbe  Gedanken,  welcher 

das  Zickzack  mit  seineu  vielfachen  Va- 
^'^'  ^''  riationen  hervorgebracht  hatte  und  jetzt 

nur  in  milderer  und  mehr  naturali- 
stischer Gestalt  auftrat.  An  den  Trage- 
pfeilern und  Scheidbögen  wurde  der 
Schmuck  mit  Mässigung  behandelt,  da- 
gegen betrachtete  man  die  Triforien  als  die  geeignete  Stelle 
für  den  höchsten  Luxus  der  Decoration.  Sie  haben  meist 
monolithe  Säulen  und  zwar  aus  dem  dunkeln  Marmor  von 
Purbeck,  Blattkapitäle  auch  da,  wo  die  der  Pfeiler  teller- 
förmig sind,  Kleeblattbögeu  mit  verzierten  Spitzen,  Drei- 
und  Vierpässe  oder  Blumenwerk  auf  den  Zwickeln,  stark 
hervortretende,  bald'  ernste,  bald  komische,  oft  sehr  charak- 
teristisch gearbeitete  menschliche  Köpfchen  als  Consolen,  auf  denen  die 
Archivolten  ruhen.  In  gleicher  Weise  und  oft  noch  reicher  sind  dann  auch 
die  Arcaden  am  Fusse  der  Seitenwände  ausgestattet  (Fig.  59).  An  beiden  findet 
sich  auch  zuweilen  jene  oben  bei  dem  Münster  von  Beverley  erwähnte  spielende 
Form,  welche  die  Illusion  einer  doppelten  Säulenreihe  giebt.  Ein  beson- 
derer Gegenstand  ornamentistischer  Ausstattung  sind  auch  die  Kragsteine, 
von  denen  die  Gewölbdienste  aufsteigen;  sie  sind  zuweilen  von  unverhält- 
nissmässiger  Höhe  und  trichterförmiger  Gestalt,  einige  Male  auch  schon 
jetzt  mit  Häkchen  oder  ziemlich  schwülstigem  Blattwerk  verziert. 

Ungeachtet  der  vorwaltenden  Neigung  zu  feinerem  Schmucke  kam  das 
Maasswerk,  namentlich  an  den  Fenstern,  erst  sehr  spät  in  Aufnahme;  auch 
unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  es  nicht  auf  englischem  Boden  entstanden, 
sondern  von  aussen  eingeführt  und  auch  dann  erst  mit  manchen  Modificationen 


Fig.  58. 


Tooth -Ornament. 


Maasswerk. 


207 


aufgenommen  ist  ^).  Koch  in  den  Kathedralen  von  Salisbuiy  (1220 — 1258); 
Ely  (1235 — 1252),  in  den  gleichzeitigen  Theilen  der  Kathedrale  von  Lincoln 
und  in  dem  nördlichen  Kreuzschiffe  von  York  finden  wir  einfache  Lancet- 
fenster,  entweder  in  gleicher  Höhe,  oder  in  Gruppen  von  dreien,  oder  sogar 
von  fünfen,  mit  grösserer  Höhe  des  mittleren,  aber  ohne  alle  Verbindung. 
An  denTriforien  dieser  Kirchen  ist  wohl  das  Bogenfeld  von  einzelnen  Krei- 
sen oder  Tierpässen  durchbrochen,  aber  nicht  in  wirkliches  Maasswerk  auf- 
gelöst. In  anderen  Fällen,  z.  B.  in  der  Kirche  zu  Warmington  um  1250, 
ist  zwar  die  Gruppe  von  drei  Laucetfenstern  durch  einen  grösseren  Bogen 
überspannt;  allein  dieser  Bogen  ist, 
weil  er  der  Form  des  Schildbogens  ent- 
sprechen musste,  sehr  viel  flacher  als 
die  Lancetbögen,  streicht  mithin  nahe 
über  der  Spitze  des  mittleren  höhe- 
ren Fensters  hin  und  lässt  nur  ein 
kleines  Bogenfeld,  welches  keinen 
Eaum  für  Durchbrechungen  gewährt. 
Das  erste  Beispiel  wirklicher  Maass- 
werkfenster in  England  gab  zwar 
schon  die  Westminsterkirche  in  Lon- 
don nach  1245;  allein  diese  Fenster 
zweitheilig  und  denen  von  Xotre-Dame 
in  Paris  ähnlich,  wurden  au  keinem 
anderen  Monumente  wiederholt.  Erst 
nachdem  an  dem  Kapitelhause  dieser 
Abtei  bald  nach  12  50  viertheilige  Maass- 
werkfenster angebracht  waren,  fand 
diese  Form  an  den  Kapitelhäusern, 
welche  bald  darauf  bei  anderen 
Kathedralen  wetteifernd  angelegt  vrar- 
den,  Nachahmung.  In  den  Kirchen 
dagegen  behielten  die  Oberlichter  und  Seitenfenster  noch  die  hergebrachte 
lancetförmige  Gestalt.  Nur  an  einer  Stelle  entschloss  man  sich  bald  zur 
Anlage  von  Maasswerkfenstern.  Es  war  dies  die  gerade  Schlusswand  des 
Chors,  welche,  wenn  man  ihr,  ihrer  nüchternen  Form  ungeachtet,  einen  der 
Würde  des  Orts  entsprechenden  Ausdruck  geben  wollte,  sehr  hell  beleuchtet 
werden  musste,  und  deshalb  bisher  eine  oder  zwei  Reihen  von  fünf  anstei- 


Kapitelhaus,  Salisbury. 


^)  Wie  dies  jetzt  auch  die  englischen  Schriftsteller  ziemlich  allgemein  zugeben. 
Vgl.  Edm.  Sharpe,  Treatise  on  the  rise  and  progress  of  decorated  wiudow  tracerj- 
in  England.  London  1849.  —  Uebersicht  von  Maasswerkformen  bei  Britton,  arch. 
ant.  V,  Tafeln  zu  S.  215. 


208 


Frühenglisclier  Styl. 


Fig.  60. 


genden  Lancetfenstern  erhalten  hatte.  Offenbar  war  es  besser,  diese  durch 
ein  grosses,  dann  aber  durch  Maassvverk  zu  füllendes  Fenster  zu  ersetzen, 
was  denn  auch  später  allgemein  und  zwar  oft  in  fast  übermässiger  Grösse^) 
geschah.  Frühe  Beispiele  solcher  Fenster  in  der  Ostwand  sind  die  Cister- 
cienserkirche  vonNettley,  welche  bei  ihrem  1240  begonnenen  Bau  doch  wohl 
erst  um  1260  bis  zu  dieser  Stelle  gediehen  sein  mochte,  dann  die  Kirchen 
von  Rounds,  Grantham,  die  Kathedrale  von  Hereford  schon  mit  sechstheiligem 
die  Prioratskirche  vonBinham  und  die  Kathedrale  von  Lincoln  (1260 — 1282) 
sogar  mit  achttheiligem  Fenster.  Alle  diese  Maasswerkfenster  sind  ganz 
regelmässig  nach  dem  französischen  Systeme,  die  viertheiligen  also  mit  zwei, 
die  achttheiligen  mit  drei  Ordnungen  von  Bögen  und  Kreisen  ausgeführt. 

Bei  weiterer  Anwendung  dieser  neuen 
Verzierungsweise  kam  man  aber  bald  auf  an- 
dere Gedanken.  Das  continentale  System  be- 
ruhet darauf,  dass  alle  Bögen  desselben  Fen- 
sters gleichartig  sind,  d.  h.  dass  alle  sich  in 
gleicher  Weise  zu  dem  Kreise  verhalten,  dem 
sie  angehören,  woraus  dann  wieder  folgt,  dass 
der  grössere,  umschliessende  Bogen  einen 
grösseren  Radius  und  ein  anderes  Centrum 
haben  muss,  als  der  kleinere,  und  dass  er 
sich  von  diesem,  wenn  sie  neben  einander  an- 
fangen, sogleich  ablöst  und  hoch  über  ihn 
hinaufschwingt.  Dies  giebt  aber  nur  dann  eine 
günstige  Wirkung,  wenn  der  Spitzbogen  nicht 
allzu  steil  ist,  indem  sonst  der  grössere  Bogen, 
wenn  er  dem  kleineren  gleichartig  gebildet 
wird,  allzuhoch  hinaufsteigen  würde.  Die  Bau- 
meister des  Continents  gaben  daher  sehr  frühe  den  Lancetbogen  auf,  wählten 
statt  dessen  den  aus  dem  gleichseitigen  Dreieck  construirten  Bogen  und 
Erhielten  dadurch  für  die  Ausfüllung  der  oberen  Räume  und  die  ganze  An- 
ordnung des  Maasswerks  ein  völlig  organisches  Gesetz,  welches,  besonders 
wenn  die  unteren  Lichtöffnungen  immer  in  gerader  Zahl  gepaart  wurden 
(zwei-,  vier-,  achttheilige,  nicht  drei-  oder  sechstheilige  Fenster),  eine  unbe- 
dingt ausreichende  Regel  gewährte. 

Die  englischen  Architekten  konnten  sich  nicht  entschliessen,  den  beliebten 
Lancetbogen  aufzugeben,  wenigstens  nicht  für  die  inneren  Lichtöffnungen;  sie 
konnten  sich  daher  auch  jenes  System  nicht  vollständig  aneignen.     Anfangs 


Dom  zu  Halberstadt. 


^)    In    den  Kathedralen    von    York,    Carlisle    und    anderen  Orten    erreichen    diese 
Fenster  eine  Höhe  von  sechzig  (englischen)  Fuss  und  darüber. 


Maasswerk. 


209 


fig.  61. 


halfen  sie  sich  auch  jetzt  noch  dadurch,  dass  sie  den  äusseren  Bogen  flacher 
hielten.  So  sind  die  beiden  inneren  Spitzbögen  des  Portals  am  südlichen 
Kreuzschiffe  des  Münsters  zu  Beverley  mit  einem  Halbkreisbogen  und  die  der 
zweitheiligen  Arcaden  am  Triforium  der  Kathedrale  von  Salisbury  (vergl. 
Fig.  49.  S.  192)  mit  einem  stumpfen  Spitzbogen  überdeckt.  Dies  gab  in- 
dessen eine  sehr  gedrückte  Gestalt,  welche  die  Anwendung  von  wirklichem 
Maasswerk  nicht  wohl  gestattete.  Man  machte  daher  verschiedene  Versuche, 
um  die  Beibehaltung  steiler  Bögen  mit  dem  Maasswerk  zu  vereinigen.  In 
einigen  Fällen  bildete  man  die  Bögen  sämmtlich  gleichartig  und  steil,  dann 
erhielt  man  aber  ein  zu  grosses  Bogenfeld,  welches  nur  durch  die  schwierige 
Häufung  verschiedener  Kreise  und  Pässe  ausgefüllt  werden  konnte.  Andere 
schlugen  daher  einen  anderen  Weg  ein,  welcher  in  der  That  wieder  zu  einem 
Systeme,  aber  zu  einem  von  dem  continentalen  abweichenden,  führte.  Sie 
verzichteten  nämlich  darauf,  die  Bögen  gleichartig  zu  machen,  und  con- 
struirten  sie  vielmehr  alle  aus  demselben 
Centrum,  so  dass  der  grössere  Bogen 
nicht  derselbe  Theil  eines  anderen  Kreises, 
sondern  ein  grösserer  Theil  desselben  (nur 
um  die  Dicke  der  Gliederung  erweiterten) 
Kreises  ist,  sich  also  nicht  von  dem  klei- 
neren Bogen  ablöst,  sondern  ihm  parallel 
und  anliegend  bis  zu  seiner  Spitze  neben 
ihm  aufsteigt,  und  erst  oberhalb  derselben 
seinen  Weg  bis  zu  seiner  eigenen  Spitze 
allein  fortsetzt.  Auf  diese  Weise  bildet  sich 
in  einem  zweitheiligen  Fenster  zwischen  der 

Innenseite  des  grösseren  und  den  Aussenseiten  der  kleineren  Bögen  eine  rauten- 
förmige Oeffnung,  und  in  einem  mehrtheiligen  Fenster  ein  Netz  von  solchen  Rau- 
ten, welches,  besonders  wenn  man  die  einzelnen  Rauten  durch  eingelegte  Drei- 
und  Vierpässe  belebte,  alles  weitere  Maasswerk  entbehrlich  machte.  Auch 
hier  liegt  wieder  eine  Reminiscenz  des  alten  Styls  zum  Grunde;  denn  dieses 
Maasswerk  besteht  aus  durchflochtenen  Bögen,  welche  sich  nur  da- 
durch von  der  älteren  Wanddecoration  unterscheiden,  dass  jetzt  auch  die 
grösseren  Bögen  nicht  halbkreisförmig,  sondern  spitz  sind.  Diese  con- 
sequente,  aber  spröde  Form  befriedigte  indessen  die  Architekten  nicht;  sie 
verkannten  nicht,  dass  die  Ausfüllung  des  oberen  Raumes  mit  Kreisen  oder 
sphärischen  Vierecken  schöner  sei,  und  suchten  dieselbe  sich  anzueignen, 
konnten  aber  dafür  bei  der  Beibehaltung  der  steilen  Bogenform  kein  durch- 
greifendes Gesetz  finden  und  mussten  sich  daher  willkürlicher  Auskunfts- 
mittel bedienen.  Dazu  kam  noch,  dass  sie  an  die  Zusammenstellung  von 
drei  Lichtöffnungen  gewöhnt  waren,  mithin  gern  drei-  oder  sechstheilige 

Schn.iasse's  Kunstgesch.  2.  Aufl.     Y.  14 


Kathedrale  zu  Oxford. 


210 


Frühenglisclier  Styl, 


Fig.  62. 


Fenster  bildeten,  wodurch  die  Schwierigkeiten  für  die  Ausfüllung  der  oberen 
Käurae  wuchsen.  Wollte  man  nämlich  über  die  drei  verbundenen  Bögen 
mehrere  Kreise  legen,  etwa  zwei  unmittelbar  zwischen  die  Bögen  und  einen 
in  die  Spitze,  so  wurden  diese  Kreise  kleinlich ;  begnügte  man  sich  mit  einem 
Kreise,  so  rubete  derselbe  auf  der  Spitze  des  mittleren  Bogens  und  gab  auf 

den  Seiten  Lücken,  welche  man  durch 
Dreipässe  oder  ähnliche  Figuren  ausfüllen 
musste^).  Daher  kam  man  denn  auf  den 
Ausweg,  dem  mittleren  Bogen  eine  grös- 
sere oder  geringere  Höhe  zu  geben,  als  den 
beiden  anderen.  Anfangs  geschah  dies 
wohl  in  der  Weise,  dass  man  ihn  bis  in 
die  Spitze  des  ganzen  Fensters  aufsteigen 
liess,  wo  denn  für  Maasswerk  fast  gar 
kein  Raum  blieb.  Häufiger  dagegen  hielt 
man  den  mittleren  Bogen  etwas  niedriger, 
als  die  beiden  anderen,  um  den  ganzen 
oberen  Raum  dann  durch  einen  Kreis  oder 
ein  sphärisches  Viereck  auszufüllen.  Mochte 
man  aber  dreitheilige  oder  zweitheilige 
Fenster  haben,  so  führte  die  steile  Form 
der  inneren  Bögen  schon  an  sich  zu 
manchen  Willkürlichkeiten  und  zu  einer 
schnellen  Entartung  des  Maasswerks.  Die 
Kapitale  der  Pfosten  blieben  frühzeitig 
fort,  da  der  Bogen  so  wenig  von  der 
senkrechten  Richtung  abwich,  dass  es 
unnatürlich  erschien,  ihn  gegen  dieselbe 
zu  begrenzen;  die  Leere  innerhalb  der  ein- 
zelnen Lancetbögen  führte  dahin,  dass  man  sie  durch  einen  Dreipass  oder  durch 
müssige  Flachbögen  füllte;  die  correspondirende  Lücke  zwischen  den  auf- 
liegenden Kreisen  und  den  sie  tragenden  Bögen  veranlasste  wiederum  die 
Einfügung  von  langgestreckten  und  schlecht  motivirten  Figuren-).    Ueberall 


Merton-CoUege,  Oxford. 


Kapitelhaus  zu  Wolls. 


^)  Zu  den  frühesten  grösseren  Maasswerkfenstern  mit  concentrischen  Spitzbogen 
gehören  die  sechstheiligen  in  der  Cistercienserkirche  zu  Tintern  (Sharpe,  Architec- 
tural  parallels,  pl.  48)  um  1287,  deren  drei  Kreise  fast  gleichgross  sind  und  wo  der 
Architekt  die  grosse  Lücke  zwischen  der  Peripherie  des  obersten  Kreises  und  tlen 
beiden  grösseren  Bögen  durch  senkrechte  Verlängerung  des  mittelsten  Pfostens  aus- 
zufüllen gesucht  hat. 

-)  Das  Kapitelhaus  zu  Wells  (s.  unten),  aus  welchem  die  beigefügte  Abbildung 
entlehnt  ist,  nähert  sich  schon  mehr  dem  reichverzierten  (decorated)  Style  der  folgenden 


I 


Gewölbformen,  211 

stand  endlich  die  volle  Rundung  des  Kreises  mit  den  hohen  und  steilen  Bögen 
in  einem  zu  starken  Gegensatze,  weshalb  man  sich  mehr  und  mehr  gewöhnte, 
statt  seiner  sphärische  Drei-  oder  Vierecke  anzuwenden,  welche  man  dann 
mit  Pässen  und  Nasen  werk  möglichst  ausschmückte.  Dazu  kam  nun  noch, 
dass  die  englischen  Architekten  das  Bedürfniss  organischer  Gliederung  der 
Fensterbildung  nicht  empfanden,  vielmehr  gleich  anfangs,  wie  es  auf  dem 
kontinent  erst  später  geschah,  das  Maasswerk  nur  als  eine  Gelegenheit  be- 
trachteten, sich  in  mannigfaltigen  Formspielen  zu  ergehen  ^).  Sie  gingen 
darin  oft  so  weit,  dass  sie  sogar  die  Fenster  derselben  Reihe  nicht  einmal 
in  derHauptauordnung  gleich  hielten,  so  dass  z.B.  in  der  Cistercienserkirche 
St.  Mary  zu  York  zwei-  und  dreitheilige  Fenster  neben  einander  stehen. 
Man  sieht,  die  Auffassung  der  Architektur  war  unter  der  Herrschaft  des 
gothischen  Styls  dieselbe  geblieben,  wie  vorher;  man  betrachtete  noch  immer 
die  Decoration  als  eine  selbstständige,  von  dem  Constructiven  unabhängige 
Aufgabe.  Bei  alledem  unterscheidet  sich  aber  das  englische  Maasswerk 
dieser  Epoche  noch  immer  vortheilhaft  von  demjenigen,  welches  später,  freilich 
nur  durch  eine  weitere  Entwickelung  der  steilen  Bogenform,  aufkam;  es  ent- 
hält noch  mehr  geometrische  Elemente  und  bestimmtere  Formen  -). 

Auch  in  einer  anderen  Beziehung  führte  diese  decorative  Richtung  die 
englischen  Architekten  schnell  über  das  erste  Stadium  des  Styls  hinaus,  in 
Beziehung  nämlich  auf  die  Gewölbe,  hier  jedoch  in  vortheilhafterer Weise. 
Während  man  nämlich  auf  dem  Continent  im  ganzen  Laufe  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  bei  dem  einfachen  Kreuzgewölbe  stehen  blieb,  wurden  in  Eng- 
land schon  bald  nach  der  Mitte  desselben  reichere  und  künstlichere  Gewölb- 
formen angewendet.  Schon  bei  den  gewöhnlichen  Kreuzgewölben  auf  vier- 
eckigen Räumen  begann  man  sehr  früh  die  Zahl  der  Gewölbrippen  zu  ver- 
mehren, indem  man  zu  den  Quer-  und  Diagonalrijjpen  noch  eine  Scheitelrippe 
hinzufügte,  welche  ununterbrochen  in  der  ganzen  Länge  des  überwölbten 
Raums  fortläuft  und  die  Schlusssteine  der  einzelnen  Gewölbfelder  verbindet. 
Die  Möglichkeit  einer  solchen  Longitudinalrippe  beruhete  darauf,  dass  man 


Epoche,  giebt  aber  ein  sehr  deutliches  Beispiel  der  Verlegenheiten ,  zu  welchen  die 
steile  Bogenform  führte.  —  Der  Chor  der  Kapelle  von  Merton  College  in  Oxford, 
welcher  das  andere  Fenster  entnommen  ist,  ward  1276  geweiht.  Nach  Ferguson 
(a  history  of  architecture,  London  1865  —  67)  ist  dies  vielleicht  das  schönste  Beispiel 
•eigentlich  englischen  Maasswerks. 

1)  Auch  dies  giebt  wiederum  Sharpe  a.  a.  0.  S.  92  zu. 

2)  Die  englischen  Archäologen,  namentlich  Sharpe  a.  a.  0.,  nennen  das  Maass- 
werk dieser  Epoche  daher  das  geometrische  (geometrical  tracery)  im  Gegensatze  zu 
dem  geschweiften  (flowing  oder  curvilinear)  und  dem  geradlinigen  (rectilinear  oder 
perpendicuUr).  Das  letzte,  welchem  Sharpe  die  Zeit  von  1360  bis  1500  anweist,  ist 
in  den  englischen  Kirchen  jetzt  bei  Weitem  das  vorherrschende,  namentlich  an  grösseren 
Fenstern. 

14" 


222  Frühenglischer  Styl. 

die  Kappen  von  den  Quergurten  zu  den  Diagonalrippen  nicht,  wie  es  auf  dem:- 
Contiuent  häufig  geschah,  ansteigend,  sondern  horizontal  wölbte,  allein  ein- 
erheblicher  statischer  Nutzen  war  dennoch  von  einer  solchen  Rippe  nicht  za- 
erwarten.  Sie  war  im  Wesentlichen  eine  blosse  Decoration,  und  zwar  keine 
glücklich  gewählte,  da  sie  die  beiden  Hälften  des  Gewölbes  schied,  mitbin 
die  innere  Einheit  der  einzelnen  Gewölbfelder  und  das  durch  die  Diagonal- 
rippen angedeutete  lebendige  Entgegenkommen  der  beiden  Seiten  des  Gebäudes 
verdunkelte.  Anders  verhielt  es  sich',  wenn  man  Räume  ungewöhnlicher 
Gestalt  zu  überwölben  hatte,  bei  denen  das  einfache  Kreuzgewölbe  nicht 
anwendbar  war;  hier  konnte  die  Vermehrung  der  Rippen  die  Wölbung  er- 
leichtern und  sichern.  Eine  Veranlassung  zu  solchen  Anlagen  gaben  die- 
Kapitelsäle  der  Kathedralen,  welche  bei  der  grossen  Mitgliederzahl  und  dem 
Reichthum  dieser  Stifter  schon  längst  zu  eigenen,  innerhalb  der  Kloster- 
mauer gelegenen,  geräumig  und  mit  möglichster  Pracht  ausgeführten  Ge^ 
bänden  geworden  waren.  Häufig  gab  man  ihnen  in  späterer  und  in  früherer 
Zeit  viereckige  Gestalt,  wie  dies  die  noch  jetzt  bestehenden  Kapitelhäuser 
von  Canterburj^,  Bristol,  Oxford,  Exeter,  Gloucester  und  Chester  beweisen; 
allein  es  Hess  sich  nicht  verkennen,  dass  eine  Centralanlage  dem  Zwecke  der 
Berathung  sehr  zusagte,  hei  welcher  dann  aber,  wenn  man  sie  überwölbeii 
wollte,  statt  des  Kreuzgewölbes  eine  andere  Form  gefunden  werden  musste 
Eine  solche  hat  schon  das  noch  ganz  im  normannischen  Style,  wahrscheinlich 
in  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts  erbaute  Kapitelhaus  der 
Kathedrale  zu  Worcester^).  Es  ist  ein  äusserlich  zehneckiges,  im  Innerext 
fast  kreisrundes  Gebäude  von  58  Fuss  im  Durchmesser,  an  den  Wänden  mit 
runden  Arcaden  und  durchschneidenden  Bögen  verziert,  in  der  Mitte  mit 
einer  starken  Rundsäule,  welche  das  Gewölbe  trägt.  Die  Fenster  sind  im 
fünfzehnten  Jahrhundert  verändert,  aber  das  Gewölbe  scheint  ursprünglich 
und  ist  sehr  merkwürdig.  Es  ist  nämlich  ein  kreisförmiges  Tonnengewölbe, 
indem  es  von  den  Wänden  kuppeiförmig  anhebt,  dann  aber  durch  ein 
anderes,  von  dem  Mittelpfeiler  entgegenkommendes  Gewölbe  aufgenommen, 
wird.  Diese  innere  trichterförmige  Wölbung  ist  nun  aber  so  angelegt,  dass 
ihr  Durchschnitt  nicht  eine  Kreislinie,  sondern  zehn,  mit  scharfen  Gräten 
aneinander  stossende  Höhlungen,  gleichsam  Kanneluren,  zeigt.  Die  Gräten 
hören  auf  dem  Scheitel  des  Gewölbes  auf,  dagegen  ist  in  der  Tiefe  jeder 
dieser  Kanneluren  ein  als  starker  Rundstab  gebildeter  Gurt  angebracht, 
welcher  sich  von  der  Mittelsäule  nach  der  Wand  zu  wölbt,  und  dort  auf  dena 
Würfelkapitäl  einer  zu  diesem  Zwecke  angelegten  starken  Halbsäule  niht. 
Zwischen  diesen  Halbsäulen  schneiden  dann  (anscheinend  ursprüngliche)  Stich- 
kappen über  den  Fenstern  in  das  Gewölbe  ein,  welches  auf  diese  Weise  und 


1)  Brilton.  Cath.  ant.  IV. 


Eapitelhäuser.  213 

■vermittelst  jener  Gurten  in  der  That  schon  einen  einfachen  zehneckigen 
'Stern  bildet.  Diese  sehr  primitive  und  ziemlich  unbeholfene  Anlage  mag  die 
Anregung  zu  den  künstlicheren  und  eleganteren  gegeben  haben,  welche  nach 
der  näheren  Bekanntschaft  mit  dem  Rippengewölbe  im  dreizehnten  Jahrhundert 
aasgeführt  wurden. 

Das  älteste  dieser  späteren  Kapitelhäuser,  das  der  Kathedrale  zu 
Lichfield^),  ist  niclit  eigentlich  eine  Centralanlage,  sucht  aber  doch  die 
Vortheile  derselben  einigermaassen  zu  erreichen.  Es  bildet  nämlich  ein 
längliches  Achteck  in  der  Art,  dass  sechs  gegenüberstehende  Seiten  einander 
gleich,  die  beiden  dazwischen  gelegenen  aber  doppelt  so  gross  sind.  Jede 
Hälfte  besteht  daher  aus  fünf  Seiten  des  Achtecks  und  das  Ganze  gleicht 
zwei  polygonen  Choranlagen,  welche  mit  ihren  offenen  Seiten  aneinander 
gerückt  sind.  Der  Umfang  enthält  daher  die  Seite  des  Achtecks  zehnmal, 
bat  demgemäss  zehn  Fenster  und  eben  so  viele  dazwischengestellte  Wand- 
säulen, welche  mit  den  zehn  den  Mittelpfeiler  umge- 
benden Marmorsäulen  durch  Gurten  verbunden  sind. 
In  die  zwischen  diesen  Gurten  entstehenden  dreieckigen 
Felder  schneiden  demnächst  die  Stichkappen  der  Fenster 
ein,  deren  beide  Rippen  in  ihrem  Schlusssteine  mit  einer 
vom  Mittelpfeiler  ausgehenden  Scheitelrippe  zusammen- 
treffen, so  dass  ein  länglich  zehneckiges  Sterngewölbe 
entsteht,  welches  (abgesehen  davon,  dass  es  theils 
kürzere,  theils  längere  Strahlen  hat  und  als  Rippen- 
gewölbe ausgeführt  ist)  jenem  in  Worcester  sehr  ähnlich 
ist,  indem  auch  in  diesem  von  dem  Mittelpfeiler  apite  lau»  zu Lichneid. 
aasser  den  zehn  Gurten  zehn  Gräten,  mithin  zwanzig  Strahlen  ausgehen. 
Die  ganze  Ausstattung  des  Gebäudes  ist  sehr  reich  und  reizend,  hat  aber  im 
Einzelnen  etwas  von  der  Sprödigkeit,  welche  den  frühenglischen  Styl 
charakterisirt.  Die  Bögen  des  zweitheiligen  Portals  sind  lancetförmig  und 
parallel,  die  Zwischenräume  der  Säulen  und  dieArcaden  des  Innern  reichlich 
mit  dem  Toothornament  in  der  scharfen  Behandlung  ausgestattet,  welche 
noch  die  Abstammung  von  der  älteren  Zickzackverzierung  erkennen  lässt. 
Diese  Arcaden,  welche  aus  der  Wand  heraustreten  und  Baldachine  über  den 
Sitzen  der  Chorherren  bilden,  sind  dann  aber  mit  vortrefflichen  Sculpturen, 
namentlich  mit  kleinen  hervorragenden  Köpfchen  von  höchst  energischer 


^)  Die  Nachrichten  über  den  Bau  dieser  Katiiedrale  sind  dürftig,  indessen  wissen 
wir,  dass  Heinrich  III,  durch  Urkunden  von  1235  und  1238  Steine  dazu  anwies.  Es 
£aad  mithin  um  diese  Zeit  ein  Bau  statt,  aus  welchem  die  Seitenschiffe  des  Chores  und 
des  Kreuzarmes,  so  wie  der  Gang,  welcher  das  Kapitelhaus  mit  diesem  verbindet,  und 
•eodlich  dieses  selbst  stammen  werden,  da  sie  f'rühenglich  und  augenscheinlich  jetzt 
•die  ältesten  Theile  sind.  —  Abbildungen  bei  Britton,  Cath.  ant.  III. 


214 


Frühenglischer  Styl. 


Arbeit  und  charakteristischem  Ausdrucke  geschmückt.  Die  Verhältnisse  des 
Gebäudes  sind  massig;  der  grössere  Durchmesser  ist  43  Fuss,  die  Höhe  wird 
sich  nicht  über  dreissig  erheben.  Ohne  Zweifel  war  der  Architekt  hier  durch 
den  ihm  angewiesenen  Raum  beschränkt,  und  würde  bei  grösserer  Freiheit 
die  einfachere  und  zweckmässigere  Form  des  regelmässigen  Achtecks  ge- 
wählt haben,  wie  dies  bei  dem,  bald  darauf  gegründeten  Kapitelhause  der 
Kathedrale  von  Salisbury^)  (vollendet  etwa  1270)  geschehen  ist,  in  wel- 
chem eine  schlanke,  mit  acht  schwächeren  Stämmen  umstellte  Mittelsäule  ein 
achteckiges,  übrigens  aber  dem  eben  beschriebenen  ganz  ähnliches  Stern- 
gewölbe trägt.  Dies  kleine  Gebäude  ist  durchweg  in  den  reichsten  und 
edelsten  Formen  des  englischen  Styls  gebaut,  so  dass  es  geradezu  als  das 
Pracht-  und  Meisterstück  desselben  betrachtet  werden  kann.  Schon  das 
Portal  ist  ausserordentlich  schön;  drei  ziemlich  kräftig  gebildete  Säulen 
mit  sehr  frei  gearbeitetem  Laubwerk  sind  in  die  Ecken  der  Gewände  ein- 
gelegt, ein  Bündöl  gleicher  Säulen  bildet  den 
Mittelpfeiler.  Der  Intrados  der  Bögen  ist  mit 
Bogenspitzen  (feathering,  foliation)  besetzt,  die 
Archivolte  des  grösseren  ist,  was  in  England 
selten  vorkommt,  mit  in  Nischen  aufgestellten 
Statuetten  geschmückt,  das  Vierblatt  des  Bogen- 
feldes  enthielt  früher  eine  plastische  Arbeit^ 
welche  aber  in  der  Pievolution  durch  Cromwell's 
puritanische  Soldaten  zerstört  ist.  Das  Innere 
ist  von  überraschender  Leichtigkeit.  Der  schlanke 
Mittelpfeiler  steigt  mit  seinen  Säulchen  Avie  ein 
Wasserstrahl  empor,  die  Fenster,  viertheilig  und 
mit  dem  edelsten  Maasswerk  nach  französischem  Style  geschmückt,  füllen 
die  ganze  Wand  zwischen  den  Strebepfeilern,  deren  innere  Seite  mit  drei- 
zehn Säulchen  überreich  besetzt  ist.  Die  Arcaden  über  den  an  der  Wand 
umherlaufenden  Sitzen  (Fig.  6Q.)  sind  wieder  als  Baldachine  behandelt  und  mit 
Bildwerk  bedeckt.  Thiere  sind  in  dem  Blattwerk  der  Kapitale,  Charakter- 
köpfe am  Zusammenstoss  der  Archivolten,  darüber  endlich  Reliefs  angebracht^ 
welche  die  Geschichte  des  alten  Testaments  in  sehr  dramatischer  Behand- 
lung und  in  freiester  Arbeit  darstellen.  Man  erkennt  an  ihnen,  ungeachtet 
der  Zerstörung,  die  sie  erlitten  haben,  noch  die  Spuren  der  Bemalung, 
welche  wahrscheinlich  das  ganze  Innere  bedeckte,  am  Fussboden  noch  die 
Reste  einer  eleganten  Auslegung  mit  bunt  glasirten  Ziegeln.  Der  noch 
unverletzte  alte  Tisch  ruht  auf  acht  wohlgebildeten  hölzernen  Säulen.      Der 


Kapitelhaus  zu  Salisbury. 


*)  Britton,  arch.  ant.  V.,  cathed.    ant.  II. 
modernes,  Bd.  II. 


Gailliabaiul,    Monuments    anciens    et 


Kapitelhäuser  zu  York  und  Lincoln. 


215 


Fig.  66. 


ganze  Raum    giebt    den  Eindruck  heiterer  "Würde  und  einer  Zeit  hoher 
Kunstblüthe. 

Auch  die  Kapitelhäuser  der  Kathedralen  von  Lincoln  und  von  York 
gehören  noch  dieser  Epoche  an,  und  sind  etwa  gegen  das  Ende  des  Jahr- 
hunderts vollendet.  Das  von  York  ist  ebenfalls  achteckig,  macht  aber  den 
Eindruck  noch  grösserer  Kühnheit,  indem  sein  Sterngewölbe  bei  einer 
Spannweite  von  47  Fuss  und  der  bedeutenden  Höhe  von  67  Fuss  ganz  frei 
und  ohne  die  Stütze  eines  Mittelpfeilers  aufsteigt  i).  Dies  ist  denn  freilich 
dadurch  möglich  gemacht,  dass  die  Steinrippen  in  grösserer  Zahl  angeord- 
net und  statt  steinerner  Kappen  nur  mit  Brettern  belegt  sind.  Dafür  erscheint 
denn  aber  das  Gewölbe  um  so  rei- 
cher. Die  Scheitelrippe  läuft  nicht 
bloss  bis  zum  Schlusssteine  der 
Stichkappen,  sondern  bis  zum  Schei- 
telpunkte des  Schildbogeus  über  den 
Fenstern,  die  Rippen  der  Stichkap- 
pen sind  verdoppelt,  die  Schlusssteine 
verdreifacht,  und  durch  eine  kreis- 
förmig herumlaufende  Querrippe  ver- 
bunden. Das  Kapitelhaus  von  Lin- 
coln hat  zwar  wieder  ein  steinernes 
Gewölbe  auf  einem  Mittelpfeiler,  ist 
aber  zehneckig  und  dabei  so  luftig 
und  kühn  errichtet,  dass  man  es 
(bald  nach  der  Vollendung)  mit  stär- 
keren Streben  bewahren  zu  müssen 
geglaubt,  diese  aber,  ohne  Zweifel 
um  den  Fenstern  kein  Licht  zu  ent- 
ziehen, in  einer  Entfernung  von  etwa 
20  Fuss  frei  hingestellt  und  nur 
durch  Strebebögen  mit  dem  Gebäude 
verbunden  hat.  Das  Innere  dieser 
Kapitelhäuser  ist  ähnlich  ausgestattet  wie  in  Salisbury,  nur  haben  die  Fen- 
ster in  dem  von  Lincoln  nicht  das  schönere  geometrische  Maasswerk  des 
französischen  Styls,  sondern  das  spröde  englische.  Xeben  diesen  beiden 
ist  endlich  das  Kapitelhaus  der  Wes tminsterabtei  in  London  anzu- 
führen, welches,  wahrscheinlich  schon  bald  nach  1250  gebaut,  ein  auf  einer 
Mittelsäule  ruhendes,  achteckiges,  aber  einfacheres  Sterngewölbe  hat,  aber 
wie   das  von  Lincoln  durch  entfernte  Strebepfeiler  und  davon  ausgehende 


Kapitelhaus,  Salisbnry. 


^)  Eine  grössere  Zeichnung  des  Gewölbes  im  Glossary  III,  Taf.  36. 


Ölß  Frühenglischer   Styl. 

Strebebögen  gestützt  ist  i).  Es  dient  jetzt  als  Archiv  (Record  Office)  und 
ist  deshalb  weniger  zugänglich  und  übersichtlich.  AmSchluss  dieser  Periode, 
1293  bis  1302,  wurde  das  Kapitelhaus  der  Kathedrale  von  Wells  errichtet  2), 
das  zu  den  schönsten  Gebcäuden  dieser  Gattung  gehört,  aber  bei  eleganten 
Einzelformen,  z.  B,  in  dem  schon  oben  berührten  Maasswerk  der  Fenster, 
in  den  Spitzgiebeln  über  der  Arcatur,  doch  im  Ganzen  gedrungene  Verhält- 
nisse und  einen  ungewöhnlich  massiven  Mittelpfeiler  zeigt. 

Das  Sterngewölbe  ist  hier  überall  auf  Polygonbauten  angebracht,  bei 
denen  das  Einschneiden  der  Stichkappen  in  die  durch  die  Hauptrippen  des 
Gewölbes  gebildeten  Felder  sehr  leicht  darauf  führen  konnte.  Indessen  war 
es  dennoch  eine  neue  Erfindung.  In  Deutschland  waren  mit  Rippen  über- 
wölbte polygone  oder  kreisförmige  Räume  wiederholt  vorgekommen,  nament- 
lich an  dem  Zehneck  von  St,  Gereon  in  Köln  mit  grösserer  Spannung  und 
auf  bedeutend  grösserer  Höhe  als  in  jenen  Kapitelhäusern.  In  Frankreich 
hatte  man  bei  der  Ueberwölbung  der  halben  Polygone  des  Chorschlusses 
und  der  Kapellen  des  Kranzes  vielfache  Veranlassung  gehabt,  die  Schwierig- 
keit solcher  Aufgabe  zu  prüfen.  Dennoch  hatte  man  am  Schlüsse  dieser 
Epoche  in  beiden  Ländern  eine  Vermehrung  der  Rippen  noch  nicht  versucht. 
Villard  von  Honnecourt  giebt  zwar  in  seinem  Skizzeubuche  das  Project 
eines  Sterngewölbes,  aber  seine  beigeschriebenen  Bemerkungen  zeigen,  dass 
die  Sache  neu  war  und  dass  er  den  Einwurf  der  Unausführbarkeit  fürchtete. 
In  Deutschland,  wo  man  später  von  diesen  künstlicheren  Gewölben  nächst 
den  Engländern  am  meisten  Gebrauch  machte,  kennen  wir  doch  kein  früheres 
Beispiel  als  das  der  Briefkapelle  bei  d,er  Marienkirche  zu  Lübeck  vom 
Jahre  1310.  Man  mag  es  dahingestellt  sein  lassen,  ob  diese  Erfindung 
eine  sehr  günstige  war.  Wenn  sie  auch  technische  Vortheile  und  in  ge- 
wissen Fällen  wirklich  schöne  Motive  gewährte,  so  entwerthete  sie  doch  die 
Gewölbrippe,  machte  sie  aus  einem  constructiv  wichtigen  Gliede  zu  einem 
blossen  Mittel  der  Decoration  und  trug  später  zum  Verfall  der  gothischen 
Architektur  bei.  Aber  wie  dem  auch  sei,  es  leidet  keinen  Zweifel,  dass  es 
die  Engländer  waren,  welche  in  dieser  Erfindung  oder  doch  in  ihrer  An- 
wendung den  übrigen  Nationen  vorausgingen  3). 


1)  Es  ist  hier  also  eine  ähnliche  Verwendung  von  entfernten  und  freistehenden 
Strebepfeilern  wie  an  der  oben  (S.  111)  erwähnten  Vorhalle  von  St.  Urbain  in  Troyes 
VioUet-le-Duc.  I.  S.  80,  81.  VII.  S.  301.  In  York  hat  man  sich  begnügt,  die  Strebe- 
pfeiler unten  sehr  stark  zu  machen  und  neben  den  Fenstern  bloss  als  eine  durch 
einen  kleinen  Strebebogen  mit  dem  Gebäude  verbundene  Fiale   aufsteigen  zu  lassen. 

2)  Britton,  Cath.  ant.  IV. 

3)  F.  V.  Quast,  in  den  N.  Preuss.  Provinzialbl.  XI,  S.  120,  hat  zuerst  auf  diese 
Priorität  der  englischen  Architektur  aufmerksam   gemacht. 


Allgemeine  Charakteristik.  217 

Auch  diese  Erfindung  war  ein  Resultat  ihrer  ganzen  Richtung.  Sie 
waren  die  ersten,  welche  den  decorativen  Charakter  des  gothischen  Styls 
herausfühlten,  welche  seinen  constructiven  Gliedern  den  ernsten  Ausdruck 
ihrer  Function  entzogen,  und  ihnen  eine  ritterlich  kühne  oder  sentimentale 
und  weiche  Haltung  gaben.  Sie  begannen  damit,  den  Pfeiler  in  eine  Fülle 
von  schlanken  Säulen,  die  früher  eckig  gebildete  Archivolte  in  feine  Rund- 
stäbe aufzulösen,  sie  gaben  dem  Kapitale  einen  schlankeren  Hals  und  Hessen 
das  Blattwerk  wie  weiche  Mädchenhaare  herabfallen.  Sie  benutzten  die 
Triforien  zu  einem  pikanten  illusorischen  Spiele  und  gefielen  sich  in  dem 
scheinbaren  ^Yagniss,  starke  Mauern  auf  vereinzelte  schlanke  Stützen  zu 
stellen.  Diese  decorative  Richtung  unterdrückte  den  Sinn  für  organische 
Durchbildung  und  für  die  Betonung  der  constructiven  Elemente,  lehrte  das 
Ornament  nach  willkürlichen  Nebenabsichten  bilden,  und  entzog  dem  Ganzen 
den  ernsten,  constructiven  Charakter.  Das  Verticalprincip,  auf  welches  die 
ganze  Anlage,  die  Strebepfeiler  und  Kreuzgewölbe,  selbst  die  beliebten  Lancet- 
fenster  hinweisen,  ist  nicht  empfunden,  die  Horizontallinien  herrschen  aus- 
schliesslich, die  constructiven  Glieder  sind  entweder  als  Nebensache  be- 
handelt, oder  zu  einem  gleichgültigen  Formenspiel  gemissbraucht.  Daher 
fehlt  selbst  den  Ornamenten,  so  viel  an  ihnen  gekünstelt  ist,  der  feinere 
Ausdruck;  die  Profilirung  der  bedeutsamen  Curveu  ist  roh  oder  trocken. 
Daher  auch  der  Mangel  an  wahrer  Individualität,  der  dem  Beschauer  an  den 
englischen  Gebäuden  auffällt.  Während  jedes  französche  Bauwerk  dieser 
Epoche,  ungeachtet  der  principiellen  Uebereinstimmung,  stets  Neues  und 
Anziehendes  bietet,  sind  die  englischen  Kirchen,  trotz  der  mannigfachen 
oft  gesuchten  Aenderungen  und  der  zierlichen  Details,  ermüdend  und  ein- 
förmig 1). 


^)  Wie  stark  selbst  Engländer  die  Mängel  ihrer  einheimischen  Architektur 
«mpfinden,  ergiebt  ausser  dem  schon  erwähnten  älteren  Buche  von  Whittingtou  die  iu 
vieler  Beziehung  interessante,  wenn  auch  oft  bizarre  Schrift  von  John  Ruskin,  Seven 
Lamps  of  Architecture,  London  1849.  „Ich  weiss  nicht,  woran  es  liegt",  sagt  der 
Verfasser  S.  92,  „wenn  nicht  daran,  dass  unsere  englischen  Herzen  mehr  Eichenholz  als 
Stein  in  sich  haben  und  mehr  wahre  Sympathie  mit  Eicheln  als  mit  Alpen  empfinden, 
aber  Alles,  was  wir  machen,  ist  klein  und  schwächlich,  wenn  nicht  schlechter;  dünn, 
verschwendet  und  ohne  wahren  Körper.  Das  gilt  nicht  von  modernen  Werken  allein; 
seit  dem  dreizehnten  Jahrhundert  haben  wir  (mit  alleiniger  Ausnahme  unserer  Schlösser) 
wie  Frösche  und  Mäuse  gebaut.  Welcher  Contrast  zwischen  den  erbärmlichen  kleinen 
Taubenlöchern,  welche  als  Thüren  an  der  Fronte  von  Salisbury  stehen  und  die  wie 
Eingänge  zu  einem  Bienenstock  oder  Wespennest  aussehen,  und  den  hoch  geschwun- 
genen, königlich  bekrönten  Portalen  von  Abbeville  (?),  Ronen  und  Rheims,  oder  den 
wie  in  Felsen  gehauenen  Pfeilern  von  Chartres."  Er  geht  dann  auf  die  häusüche 
Architektur  über.  „Welch  ein  sonderbares  Gefühl  von  formulirter  Hässüchkeit, 
runzeliger  Präcision,  frostiger  Genauigkeit,  menschenfeindlicher  Kleinlichkeit  haben  wir, 


218  Englischer  Styl. 

Der  Gegensatz  dieses  neuenglischen  Styls  gegen  den  unmittelbar  vorher- 
gegangenen normannischen  ist  überaus  merkwürdig.  Die  Geschichte  giebt 
kaum  ein  zweites  Beispiel  eines  so  schroffen  Geschmackwechsels.  Dort 
alles  kraftstrotzend,  plump,  schwer,  hier  eine  Vorliebe  für  schlanke,  dünne, 
zierliche  Formen.  Aber  bei  diesem  augenscheinlichen  Contraste  liegt  beiden 
Stylen  doch  eine  innere  Einheit,  dieselbe  Auffassung  des  Architektonischen 
zum  Grunde;  sie  muss  vorhanden  sein,  da  ohne  sie  die  grosse  Entschieden- 
heit und  Uebereinstimmung,  mit  der  sich  die  Nation  dem  neuen  Style  zu- 
wendete, unerklärbar  sein  würde,  und  man  fühlt  sie  auch  sehr  bald.  Sie 
liegt  in  der  verständigen  Richtung  des  englischen  Volks,  vermöge  welcher 
die  Begriffe  des  Nützlichen  und  des  Schönen,  deren  innige  Durchdringung 
gerade  die  Aufgabe  der  Architektur  bildet,  scharf  auseinander  gehalten 
werden,  wonach  jenes  allein  als  das  Nothwendige,  dieses  als  ein,  wenn  auch 
edler  und  Wünschenswerther,  aber  für  sich  bestehender  Luxus  betrachtet 
wird^).  In  der  früheren  Epoche  äusserte  sich  diese  Auffassung  in  naiver 
Weise,  indem  man  Constructives  und  Decoratives  wirklich  getrennt  behan- 
delte, die  tragenden  Glieder  mit  unverhüllter,  selbst  übertriebener  Kraft 
ausstattete,  den  Schmuck  ganz  selbständig  an  den  leeren  Wänden  anbrachte. 
Zur  Zeit  des  gothischen  Styls  hatte  man  bei  reiferer  Kenntniss  der  stati- 
schen Gesetze  erfahren,  dass  es  jener  Derbheit  nicht  bedürfe;  durch  den 
Anblick  dieses  Styls  auf  den  Vorzug  schlanker  Formen  und  edler  Mässigung 
aufmerksam  gemacht,  verachtete  man  den  Luxus  überkräftiger  Glieder  und 
bizarrer  Ornamentation  als  etwas  Barbarisches,  vermied  ihn  daher  sorgsam 
und  verfiel  in  das  entgegengesetzte  Extrem,  steigerte  den  Ausdruck  des 
Schlanken  und  Zierlichen  bis  zum  Spröden  und  Mageren,  Eine  verständige 
Richtung  dieser  Art  kann  sich  nicht  leicht  mit  der  reinen  Form  und  ihrem 


wenn  wir  aus  den  dunkeln  Strassen  der  Picardie  in  die  Marktplätze  von  Kent  kommen." 
In  der  That  ist  der  Contrast  zwischen  den  kräftigen  Farben  und  Formen  der  nord- 
französischen Städte  und  der  nüchternen  Zierlichkeit  und  Reinlichkeit,  die  wir  jenseits 
des  rasch  durchfahrenen  Kanals  finden,  höchst  überraschend  und  charakteristisch  für 
den  Gegensatz  der  Nationen  oder,  allgemeiner  gefasst,  für  den  Gegensatz  zwischen 
dem  continentalen  Lande  und  dem  seefahrenden  Inselvolke. 

^)  Wie  tief  diese  Auffassung  im  englischen  Charakter  liegt,  beweist  auch  der 
eben  angeführte  John  Ruskin,  der,  obgleich  er  die  Kunst  des  Auslandes  wohl  zu 
würdigen  versteht  und  die  seines  Vaterlandes  mit  den  stärksten  Waffen  angreift  und 
ihr  eine  totale  Reform  zumuthet,  dennoch  keine  Ahnung  von  dem  Zusammenhange 
von  Construction  und  Ornamentation  hat.  Zu  den  sieben  Leuchten,  durch  welche  er 
die  Architektur  aufklären  will,  rechnet  er  unter  Anderem  auch  die  Schönheit,  allein 
er  versteht  unter  derselben  ausschliesslich  das  Ornament  und  statuirt  als  solches  nur 
die  Nachahmung  natürlicher  Gegenstände  an  der  Architektur,  über  deren  Beding- 
ungen und  die  ihnen  anzuweisende  Stelle  er  manches  sehr  Beachtenswerthe  beibringt, 
die  bei  ihm  aber   doch  immer  ein  fremder,    willkürlich  hinzugefügter  Schmuck  bleibt. 


Allgemeine  Charakteristik,  219 

unmittelbaren  Ausdrucke  begnügen,  sie  hat  Nebengedanken  und  sucht  un- 
willkürlich die  Schönheit  auf  etwas  Praktisches,  das  auch  im  wirklichen 
Leben  Geltung  hat,  zurückzuführen.  Sie  legt  daher  in  die  für  sie  bedeutungs- 
losen Formen  der  Architektur  eine  symbolische  Bedeutung  hinein.  Daran 
war  überdies  die  Nation  gewöhnt;  die  derben  Formen  des  normannischen 
Styls  waren  wirklich  der  Ausdruck  der  Wehrhaftigkeit  nud  Kraftfülle  der 
Beherrscher  dem  besiegten  Volke  gegenüber.  Jetzt  hatten  sich  die  Zeiten 
geändert;  die  Stämme  w^aren  verschmolzen,  die  neugebildete  Nation  ordnete 
ihre  Verhältnisse  in  klarer  und  segensreicher  Weise.  Statt  jenes  Trotzes 
liebte  man  jetzt  ritterliche  Eigenschaften,  tapferen  Muth,  unbeugsamen 
Willen,  aber  gepaart  mit  Gesetzlichkeit  und  Mässigung  und  mit  der  Em- 
pfänglichkeit für  zarte  Gefühle.  Dieser  Sinnesweise  konnten  die  alten,  rohen 
Formen  nicht  mehr  genügen.  Als  daher  der  neue  Styl  über  den  Kanal  kam 
und  entgegengesetzte  Züge  darbot,  nahm  man  keinen  Anstand,  ihn  mit 
rascher  Aufopferung  des  alten  Geschmacks  sich  anzueignen,  begann  aber 
auch  sofort,  ihn  in  jener  symbolisch-decorativen  Weise  zu  behandeln,  be- 
schränkte daher  den  constructiven  Ausdruck  und  betonte  die  decorativen 
Elemente,  bis  man  die  Formen  gefunden  hatte,  welche  die  gewünschte  Ideen- 
verbindung gaben. 

Dies  erklärt  die  rasche  und  gleichmässige  Ausbildung  des  englischen 
Styls.  Er  entwickelte  sich  nicht  aus  den  älteren  Formen,  sondern  wurde 
mit  Verwerfung  derselben  aufgenommen.  Er  hatte  nicht  mit  der  Feststellung 
der  constructiven  Erfordernisse  und  der  Entwuckelung  des  Ornaments  aus 
denselben  zu  kämpfen;  der  Anforderung,  in  jedem  Gliede  seine  Function 
auszusprechen  und  doch  das  Ganze  in  Harmonie  zu  halten,  war  mau  über- 
hoben. Wie  viele  Versuche  machten  die  Meister  von  Chartres,  Rheims, 
Amiens  und  ihre  Zeitgenossen,  um  die  richtigen  Verhältnisse  der  Schäfte 
und  Kapitale  an  Kernpfeilern  und  anliegenden  Säulen  zu  finden,  wie  schwer 
wurde  es  ihnen,  die  schöne  Form  des  korinthischen  Kelchs  aufzugeben,  wie 
ernstlich  suchten  sie  das  Bedürfniss  einer  organischen  Begründung  der 
Gewölbstüzen  mit  jenen  Ansprüchen  an  die  Säulenform  auszugleichen.  Hier 
war  man  sogleich  fertig,  indem  man  sich  mit  niedrigen,  schmucklosen  Ring- 
kapitälen  begnügte,  ihnen  überall  gleiche  Höhe  anwies  und  die  Gewölbdienste 
auf  Kragsteine  stellte.  Und  ebenso  verfuhr  man  mit  der  Durchbildung  des 
Grundplans,  der  strebenden  Glieder  und  mit  allen  anderen  Theilen. 

Aus  dieser  Auffassung  erklärt  sich  nicht  bloss  die  rasche  Verbreitung 
dieses  Styls,  sondern  auch  die  bleibende  Anhänglichkeit  der  Nation  an  ihn. 
Für  die  tiefere,  geheimnissvolle  Schönheit  der  Architektur  sind  immer  nur 
Wenige  empfänglich;  die  Menge  wird  nur  oberflächlich  davon  berührt.  Wo 
diese  Kunst  sich  also  in  diesem  ihrem  höchsten  Sinne  ausbildet,  bleibt  sie 
mehr  oder  weniger  in  den  Händen  der  Künstler  und  der  näheren  Kunst- 


220  Frühenglischer  Styl. 

freunde;  und  wird  auch  von  der  Nation  verlassen ,  wenn  jene  sich  anderen 
rormen  zuwenden.  Hier  hatte  sie  diese  höhere  Bedeutung  nicht,  sondern 
war  mehr  eine  symbolische  Sprache,  welche  bald  conventionell  verständlich 
wurde  und  von  einer  Generation  auf  die  andere  überging.  Die  Nachkommen 
wussten  darin  die  Gefühle  ihrer  Vorfahren  zu  lesen,  die  Dichter  vermochten 
sie  in  Worte  zu  bringen.  Daher  blieb  sie  Gemeingut,  und  wir  finden  in  allen 
folgenden  Jahrhunderten,  wie  bei  keiner  anderen  Nation,  fortdauernde  poetische 
Beziehungen  auf  die  mittelalterliche  Architektur.  Die  dunklen  Hallen,  die 
schweren  Formen  der  normannischen  Bauten  erinnern  den  Dichter  an  die 
eiserne  Herrschaft  der  stolzen  normannischen  Barone  über  die  besiegten 
Sachsen ,  die  milderen  Züge  des  gothischen  Styls  an  die  glückliche  Ver- 
schmelzung der  feindlichen  Stämme  zu  einer  einigen  Nation,  an  die  schlichte 
und  edle  Sitte  des  frühen  Ritterthums,  an  die  religiöse  Begeisterung  und  die 
Romantik  der  Kreuzzüge.  Die  Lancetbögen,  welche  so  kühn  aufstreben 
<iie  schlanken  Säulchen,  welche  so  zierlich  dienen,  die  reichen  Ornamente, 
in  welchen  die  TJeberfülle  der  Kraft  sich  in  anmuthiger  und  weicher 
Empfindung  äussert,  die  einfache  und  massige  Haltung  der  meisten  Glieder, 
ihre  ruhige  Wiederholung  sind  Symbole  der  Eigenschaften  geworden,  nach 
welchen  die  Edleren  der  Nation  noch  immer  streben,  auf  welchen  brittische 
Sitte  und  das  Bestehen  des  Volks  beruhet,  des  festen  und  doch  milden  Sinnes, 
der  Kühnheit  für  gerechte  Sache,  der  ritterlichen  Grossmuth,  derMässigung 
und  Gesetzlichkeit.  Die  Britten  sahen  darin  stets  die  Jugendzüge  ihrer 
Nation  und  betrachteten  sie  mit  Liebe,  auch  als  die  Kunst  selbst  auf  andere 
Wege  fortgerissen  wurde. 

Und  dies  ist  auch  der  Standpunkt,  von  welchem  wir  die  englische 
Architektur  betrachten  müssen,  um  sie  zu  würdigen.  Wir  mögen  ihre 
architektonischen  Mängel  anerkennen,  aber  wir  dürfen  unser  Auge  nicht 
gegen  ihre  poetische  Bedeutsamkeit  verschliessen  und  werden  darin  eine 
Befriedigung  finden,  indem  wir  sie  als  den  Ausdruck  der  liebenswürdigen 
•Seiten  einer  bedeutenden  Nation  betrachten. 


Fünftes    Kapitel. 

Der  deutsche  Uebergangsstyl ;  die  Scluilen  deeora- 

tiver  Tendenz. 

In  den  meisten  der  bisher  betrachteten  Länder  giebt  es  in  der  Tliat 
keinen  Uebergangsstyl.  Im  nördlichen  Frankreich  waren  schon  die  ersten 
Bauten,  welche  sich  von  der  romanischen  Tradition  entfernten,  gothischer 


Deutschland.  221 

Tendenz,  wirkliche,  wenn  auch  noch  nicht  völlig  entwickelte  Versuche  dieses 
Styls.  In  den  südlichen  Provinzen  verliess  man  die  einheimische  romanische 
Bauweise  niemals  völlig  und  gestattete  nur  dem  schon  gereiften  gothischen 
Style  eine  mehr  oder  weniger  modificirte  Anwendung.  In  England  endlich 
ging  man  plötzlich  und  ohne  Zwischenstufe  von  der  nur  bereicherten  norman- 
nischen Bauweise  zu  der  frühenglischen  über.  Anders  verhält  es  sich  in 
Deutschland.  Hier  bildete  sich  seit  dem  Anfange  dieser  Ej^oche  wenigstens 
in  einigen  Provinzen  eine  Bauweise,  welche  weder  ganz  romanisch  noch 
wirklich  gothischer  Tendenz  war,  sondern  Elemente  beider  Style  in  sich 
verband,  aber  doch  so  viel  Eigenthümliches  hatte  und  sich  so  lange,  selbst 
noch  neben  dem  schon  bekannten  gothischen  Style  erhielt,  dass  man  sie  als 
einen  eigenen,  wenn  auch  nicht  consequeut  durchgebildeten  Styl  betrachten 
muss. 

Die  Ursachen  dieser  Erscheinung  liegen  theils  in  den  politischen  Ver- 
hältnissen, theils  in  der  Geschmacksrichtung  der  Deutschen. 

Auch  Deutschland  nahm  an  dem  Aufschwünge  Antheil,  den  wir  im 
ganzen  Abendlande  um  die  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts  bemerken.  Die 
wachsende  Bevölkerung,  der  grössere  Reichthum  der  Städte,  die  weitere 
Verbreitung  mannigfacher  Bildungselemente  führten  auch  hier  zu  milderen 
Sitten,  zu  regerem  geistigem  Leben.  Nach  den  Stürmen,  welche  das  schwan- 
kende und  gewaltsame  Benehmen  der  Kaiser  des  salischen  Hauses  hervor- 
gerufen hatte,  bestieg  ein  kräftigeres  und  würdigeres  Geschlecht  den  Thron, 
welches  das  Gefühl  der  Ruhe  und  des  Behagens  verbreitete  und  selbst  Männer 
erzeugte,  für  welche  die  Nation  sich  wieder  begeistern  konnte.  Allein  den- 
noch nahm  Deutschland  gerade  jetzt  in  politischer  Beziehung  eine  ganz 
andere  Richtung  als  die  westlichen  Nationen.  Während  in  England  Nor- 
mannen und  Sachsen  den  alten  Hader  vergasseu  und  zu  einem  Volke  ver- 
schmolzen, während  Frankreich  im  Bedürfniss  nationaler  Einheit  sich  um 
das  königliche  Banner  schaarte,  zerfiel  Deutschland  mehr  und  mehr.  Durch 
den  Kampf  der  Krone  mit  der  Kirche,  durch  die  Schwäche  und  Inconsequenz 
der  salischen  Kaiser  war  die  Macht  der  Territorialherren  schon  so  erstarkt,, 
dass  es  der  ganzen  Kraft  der  Hohenstaufeu  bedurft  hätte,  um  die  Bande  der 
Einheit  wieder  fester  zu  ziehen.  Aber  ihre  Blicke  waren  auf  Italien  gerichtet,, 
ihre  auswärtigen  Kriege  machten  sie  gegen  die  deutschen  Vasallen  nachgie- 
big, und  so  kam  es,  dass  gerade  unter  der  Herrschaft  dieser  ausgezeichneten 
Fürsten  die  Zersplitterung  Deutschlands  für  immer  begründet  wurde. 

Diese  politischen  Verhältnisse  hatten  einen  unmittelbaren  Einfluss  auf 
das  ganze  geistige  Leben.  "Während  in  Frankreich  Paris  schon  jetzt  in 
wissenschaftlicher  Beziehung  die  entscheidende  Stimme  hatte,  während  hier 
und  in  England  der  Hof  der  Könige  mehr  und  mehr  eine  tonangebende  Be- 
deutung erlangte,  während  das  französische  Ritterthum  eine  Gleichraässigkeit 


222  Deutschland. 

der  Sitte  hervorbrachte,  entbehrte  Deutschland  jedes  Centralpunktes,  son- 
derten sich  die  Provinzen  in  ihren  Gewohnheiten  und  Lebensansichten,  gab 
diese  Mannigfaltigkeit  ohne  höhere  Einheit  schon  jetzt  bald  ein  behagliches 
Festhalten  an  localen  Formen,  bald  ein  willkürliches  Auflehnen  der  Einzel- 
nen gegen  eine  Sitte,  die  ihnen  nicht  imponirte.  Auch  erkannten  die  Deut- 
schen die  neuerlangten  Vorzüge  ihrer  westlichen  Nachbarn  in  vollem  Maasse 
an.  Alle,  welche  höheren  wissenschaftlichen  Beruf  zu  haben  glaubten, 
Geistliche,  die  Söhne  edler,  selbst  fürstlicher  Häuser  wanderten  nach  Paris, 
um  dort  aus  der  Quelle  der  neuen  "Weisheit  zu  schöpfen;  die  deutsche  Rit- 
terschaft suchte  sich  die  damals  in  Frankreich  ausgebildete  Eleganz  und 
Courtoisie  anzueignen;  Kaiser  Friedrich  L,  der  selbst  als  Vorbild  eines  deut- 
schen Charakters  betrachtet  werden  kann,  stellte  in  provenzalischen  Versen, 
die  uns  erhalten  sind,  geradezu  den  französischen  Ritter  als  das  Ideal  der 
Ritterschaft  auf.  Allein  so  gern  man  wollte,  konnte  man  diesen  fremden 
Vorbildern  dennoch  nicht  unbedingt  nachkommen.  Die  Mannigfaltigkeit  der 
Verhältnisse,  die  freie  Bewegung  der  Geister,  Avelche  der  fast  anarchische 
Zustand  gestattete,  hatten  die  Neigung  zu  tieferem  mystischem  Denken,  zu 
innigerem,  schwärmerischem  Fühlen,  die  im  deutschen  Charakter  liegt,  stärker 
angeregt,  und  diese  Neigung  machte  sich  jetzt  den  fremden,  hier  völlig 
conventioneilen  Formen  gegenüber  geltend.  Die  deutschen  Dichter  brauchen 
französische  Namen  und  Phrasen,  sie  entlehnen  ihre  Stoffe  aus  französischen 
Dichtungen,  aber  sie  legen  ihre  eigenen  tiefen  Gedanken  hinein,  behandeln 
sie  in  einem  höhern  symbolischen  Sinne.  Französische  Courtoisie  erscheint 
zuweilen  mit  der  Uebertreibung  des  Copisten,  aber  im  Ganzen  zeigt  der 
Minnegesang  eine  höhere  Innigkeit  und  Feinheit  des  Gefühls,  und  oft  dient 
er  dazu,  ernsten  und  tiefsinnigen  Betrachtungen  poetischen  Ausdruck  zu 
leihen.  Diese  tieferen  Gedanken  und  Gefühle  konnten  aber  nicht  in  dem 
Grade  Gemeingut  werden,  wie  jene  äusserliche  Auffassung.  Sie  waren  noch 
nicht  durch  das  Element  allgemeiner  Bildung  durchgegangen,  trugen  ein 
höchst  individuelles  Gepräge  und  erregten  den  Widerspruch.  Es  wurde  dem 
Einzelnen  Gewissenssache,  seine  innerste  Ueberzeugung  nicht  bloss  nicht  zu 
verleugnen,  sondern  möglichst  genau  und  gründlich  auszusprechen.  Während 
daher  Franzosen  und  Engländer  gemeinsame  Formen,  gleiche  Gedanken 
und  Aeusserungen  annahmen,  herrschte  in  Deutschland  die  grösste  Mannig- 
faltigkeit. 

Diese  Richtung  des  deutschen  Wesens  prägte  sich  denn  auch  in  der 
Architektur  aus.  Auch  in  ihr  fehlte  es  an  einer  centralen  Gegend,  welche 
die  Erfahrungen  der  anderen  sich  aneignen  und  mit  einander  verschmelzen 
konnte.  Auch  hier  herrschte  der  Individualismus  und  die  Richtung  auf  das 
Einzelne;  statt  gemeinsamer,  organisirender  Bestrebungen,  welche  zu  einem 
•durchgreifenden  neuen  Systeme  geführt  hätten,  sehen  wir  vielfache  verein- 


Anhäng-'.ichkeit  an  den  romanischen  Styl.  223 

zelte  und  auf  das  Einzelne  gerichtete  Versuche,  die  wohl  eine  grosse  Man- 
nigfaltigkeit der  Formen  aber  kein  Ganzes  hervorbringen  konnten. 

Zu  diesem  Negativen  kam  noch  ein  positiver  Umstand,  eine  grosse, 
entschiedene  Anhänglichkeit  an  die  romanische  Form,  welche  es  verursachte, 
dass  man  sich  ungern  von  ihr  trennte,  und  auch  da  wo  man  Verbesserungen 
Kaum  gab,  so  viel  wie  möglich  von  ihr  zu  retten  suchte.  Man  darf  sie  nicht 
aus  blosser  Beharrlichkeit  oder  Trägheit  oder  aus  einem  couservativen  Sinne 
erklären,  der  Neuerungen  mit  misstrauischem  Auge  betrachtete^);  denn  es 
fehlte  an  Neuerungen  nicht,  nur  dass  sie  mehr  das  Gepräge  des  romanischen 
als  des  gothischen  Styles  hatten.  Man  behielt  jenen  bei,  nicht  weil  er  her- 
gebracht war,  sondern  weil  er  dem  Geiste  des  deutschen  Volkes  mehr  zu- 
sagte. Wäre  der  gothische  Styl  wirklich,  wie  man  ihn  genannt  hat,  der 
deutsche  oder  germanische,  so  hätte  dies  in  Deutschland  sogleich  verstanden 
werden  müssen,  man  würde  ihn  wie  einen  auswärts  geborenen  Bruder  mit 
Freuden  aufgenommen  haben.  Er  war  aber  das  Erzeugniss  nicht  einer  rein 
germanischen,  sondern  einer  aus  Romanen  und  Germanen  gemischten  Nation, 
er  war  das  V^^erk  des  organisirenden,  das  Auseinanderstrebende  verbindenden 
Talentes,  welches  in  gemischten  Nationen  schon  im  Leben  und  durch  das 
Bedürfniss  der  Einigung  Uebung  und  Ausbildung  erhält,  und  trug  das  Ge- 


1)  Man  hat  (namentlich  mit  den  bestimmtesten  Worten  Ölte  im  Kunstblatt  1847, 
Nro.  29)  die  Anhänglichkeit  der  Deutschen  an  romanische  Formen  dadurch  erklären 
wollen,  dass  die  Baukunst  bei  uns  damals  noch  ganz  in  den  Händen  der  „meist  cou- 
servativen" Geistlichkeit  beruhet  habe.  Diese  Vorstellung  ist  in  der  That  nur  eine 
andere  Version  derjenigen,  welche  in  dem  gothischen  Style  eine  Opposition  der  Laien 
gegen  die  Geistlichkeit  sieht ,  und  nach  meiner  Ansicht  ebensowenig  wie  diese  be- 
gründet. Die  couservative  Richtung  der  Geistlichkeit  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
(wenn  sie  überhaupt  vorhanden  war)  erstreckte  sich  jedenfalls  nicht  auf  bürgerliche 
Zustände  und  am  wenigsten  auf  die  Formen  der  Kunst,  namentlich  auf  die  in  den 
Augen  praktischer  Menschen  bedeutungslosen  Formen  der  Architektur.  Selbst  im  Zeit- 
alter der  Reformation  waren  die  katholischen  Geistlichen  die  Verbreiter  der  neu- 
italienischen Kunst,  während  die  protestantischen  Gegenden  sich  in  Beziehung  auf  den 
Baustyl  sehr  „conservativ"  verhielten.  Auch  im  dreizehnten  Jahrhundert  waren  der 
heilige  Ludwig  und  seine  eifrige  Geistlichkeit  die  entschiedeneu  Beförderer  des  reichen 
gothischen  Styls.  Wie  sollte  der  deutsche  Klerus  allein  auf  den  Gedanken  gekommen 
sein ,  in  bequemeren  und  solideren  oder  selbst  reicheren  Formen  eine  Gefahr  für  die 
Kirche  zu  sehen?  Vielmehr  ging  die  Richtung  der  Geistlichkeit  damals  überall  auf 
grössere  Pracht.  Sie  wollte  das  A.uge  der  Laien  befriedigen  und  fesseln,  durch  die 
Architektur  die  Macht  und  Herrlichkeit  der  Kirche  anschaulich  machen;  sie  brauchte 
für  die  grössere  Zahl  der  Chorherren  und  dienenden  Priester,  für  die  vermehrten  Al- 
täre grössere  Kirchen  und  namentlich  grössere  Chorräume,  wie  sie  der  gothische  Styl 
gewährte.  Der  Klerus  richtete  sich  in  diesen  Bestrebungen  aber  natürlich  theils  nach 
seinen  Mitteln,  theils  nach  dem  Geschmacke  des  Volks,  und  nur  in  diesem  ist  daher 
die  Ursache  des  verschiedenen  Eutwickelungsganges  bei  den  einzelnen  abendländischen 
Nationen  zu  suchen. 


224  Deutschland. 

präge  der  künstlicheren  Verhältnisse,  welche  durch  den  Gegensatz  und  die 
allmälige  Verschmelzung  der  Stämme  entstehen.  Er  hatte  denselben  Cha- 
rakter der  Vermittelung  und  Ausgleichung  wie  die  Scholastik  und  das  fran- 
zösische Ritterthum,  und  dieser  Charakter  trat  gerade  in  der  frühereu  Ge- 
stalt des  gothischen  Styls,  wo  die  constructiven  Elemente  vorherrschten^ 
unverhüllt  und  unverkennbar  hervor.  Den  Deutschen  war  dieser  Begriff  einer 
höheren,  durch  Verschmelzung  der  Gegensätze  gebildeten  Einheit  fremd*,  sie 
fühlten  sich  nur  vermöge  ihrer  natürlichen  Abstammung  als  ein  Volk,  nicht 
vermöge  ihres  politischen  Zusammenhanges.  Sie  hatten  überall  einfachere 
Verhältnisse  vor  Augen  und  daher  die  Neigung,  diese  auch  in  der  Architektur 
wiederzufinden.  Der  romanische  Styl  sagte  ihnen  schon  deshalb  mehr  zu, 
weil  er  in  der  Construction  und  in  derBogenform  einfacher  und  natürlicher 
ist,  als  der  gothische.  Es  knüpften  sich  an  diese  Natürlichkeit  poetische 
Empfindungen,  auf  die  man  nicht  verzichten  konnte  und  für  die  man  noch 
keinen  Ersatz  kannte.  In  wie  vielen  Stellen  legen  nicht  unsere  Dichter  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  gleichsam  Protest  gegen  die  künstlichen  Zustände 
ein,  welche  der  Zeitgeist  auch  unserem  Volke  aufnöthigte,  in  wie  vielen 
sprechen  sie  nicht  die  Sehnsucht  nach  einfacheren  und  natürlicheren  Ver- 
hältnissen aus.  Aber  auch  das  antike  Element,  welches  in  der  romanischen 
Architektur  ungeachtet  der  erlittenen  Umgestaltung  erhalten  war,  hatte  für 
die  Deutschen  noch  einen  höheren  Werth.  In  Frankreich  fiel  der  Beginn 
des  gothischen  Styls  mit  einer  Vernachlässigung,'  der  klassischen  Literatur 
zusammen;  wir  kennen  die  Klagen,  welche  die  Anhänger  derselben  üher  den 
Verfall  dieser  Studien  und  über  die  barbarische  Latinität  der  Scholastiker 
führten.  Die  gothische  Baukunst  hat  ungeachtet  ihrer  höheren  Eigenthüm- 
lichkeit  doch  darin  eine  Aehnlichkeit  mit  dieser  Latinität,  dass  sie  aus  an- 
tiken Formen  hervorging,  sie  theilweise  beibehielt,  aber  in  einem  ihrer 
ursprünglichen  Bedeutung  entgegengesetzten  Sinne  behandelte.  In  Deutsch- 
land wurden  die  klassischen  Studien,  wenn  auch  nicht  mit  dem  Eifer  wie 
zur  Ottonenzeit  betrieben,  doch  nicht  so  völlig  vernachlässigt.  Das  Gefühl, 
dass  die  Tradition  der  römischen  Welt  ein  nothwendiges  Bildungselement,, 
eine  noth wendige  Ergänzung  der  germanischen  Natur  sei,  erhielt  sich  noch 
immer  und  hatte  auch  auf  die  Baukunst  einen,  wenn  auch  unbewussten  Ein- 
fluss.  Die  Vorliebe  für  romanische  Formen  wurde  endlich  durch  die  Ver- 
bindung Deutschlands  mit  Italien  genährt.  Ein  Einfluss  der  italienischen 
Kunst  auf  die  deutsche  fand  allerdings  in  dieser  Epoche  noch  weniger  statt 
als  in  der  vorigen,  jene  war  vielmehr  gerade  jetzt  augenscheinlich  die  em- 
pfangende. Aber  auch  die  Italiener  waren  ein  ungemischtes  Volk,  sie 
konnten  sich  noch  weniger  als  die  Deutschen  mit  den  künstlichen  Schlüssen 
der  Scholastik,  mit  den  conventionellen  Begriffen  des  Ritterthums  befreun- 
den; das   südliche  Klima  begünstigte  einfachere  Formen  und  Verhältnisse, 


Anhänglichkeit  an  den  romanischen  Styl.  225 

die  Ueberreste  antiker  Kunst  standen  noch  vielfach  über  dem  Boden  und 
gaben  den  Städten  ihr  Gepräge.  Tausende  von  Deutscheu,  welche  alljährlich 
im  Kriegsheere  oder  im  kirchlichen  Berufe,  wegen  Familienverbinduugen  oder 
im  kaufmännischen  Verkehre  über  die  Alpen  zogen,  empfingen  daher  hier 
eine  Fülle  von  Eindrücken,  welche  dem  romanischen  Style  verwandt  waren. 
Dies  Alles  begünstigte  also  die  Beibehaltung  des  älteren  Styles.  Aber 
freilich  blieb  er  nicht  ungemischt.  Neben  den  italienischen  Anschauungen 
kamen  während  der  Kreuzzüge  auch  orientalische  auf,  und  in  den  Rhein- 
landen fanden  einzelne  der  in  Frankreich  ausgebildeten  neuen  Formen  früh- 
zeitige Aufnahme.  Dies  alles,  dann  wieder  das  praktische  Bedürfniss  neuer 
bequemerer  und  soliderer  Einrichtungen  und  endlich  die  poetische  Regsam- 
keit des  Zeitalters  wirkte  in  den  verschiedenen  Provinzen  in  verschiedener 
Weise  und  erzeugte  einen  Reichthum  mannigfaltiger  Formen,  dessen  Be- 
trachtung sehr  anziehend  ist. 


In  den  meisten  Provinzen  Deutschlands,  in  Sachsen,  Franken, 
Bayern,  Schwaben,  finden  wir  im  Anfange  dieser  Epoche  das  alte  System 
noch  in  voller  und  unbeschränkter  Geltung,  man  dachte  nur  daran,  es  in 
den  Details  reicher  und  aumuthiger  auszubilden.  Selbst  die  Wölbung  fand 
hier  erst  spät  Eingang,  man  behielt  die  gerade  Decke  wenigstens  im  Mittel- 
schiffe selbst  bei  mächtigen  und  prachtvollen  Kirchen  bei.  Nur  darin  be- 
merken wir  eine  Veränderung,  dass  der  Wechsel  von  Pfeilern  und  Säulen, 
der  bisher  so  sehr  beliebt  war,  fast  ganz  ausser  Gebrauch,  die  Pfeilerbasilika 
zu  fast  ausschliesslicher  Anwendung  kam.  Ohne  Zweifel  deshalb",  weil  man 
die  Bögen  reicher  gliedern  und  mit  der  Pfeilerbildung  in  Zusammenhang 
bringen  wollte,  was  nicht  wohl  thunlich  war,  wenn  sie  auf  ungleichartigen 
Stützen  ruheten.  Es  war  also  doch  ein  Bestreben,  statt  des  rhythmischen 
Gegensatzes  der  Theile  eine  lebendigere,  mehr  organische  Einheit  hervor- 
zubringen. Demzufolge  suchte  man  auch  den  Pfeilern  nicht  bloss  reichere 
Fuss-  und  Deckglieder,  sondern  auch  entweder  zierlichere  und  bedeutsamere 
Auskerbungen  an  seinen  Ecken  oder  gar  eine  reichere  und  künstlichere 
Ausbildung  zu  geben.  Beispiele  solcher  späteren  Pfeilerbasiliken  habe  ich 
schon  bei  der  zusammenhängenden  Schilderung  des  sächsischen  Styls  in  der 
vorigen  Epoche  angeführt.  Die  Kirchen  zu  Thalbürgel  bei  Jena,  zu  Wech- 
sclburg,  auf  dem  Petersberge  bei  Erfurt  und  zu  Ilbenstadt  in  der  Wetterau 
gehören  dahin.  Sie  stehen  auf  der  Grenze  beider  Epochen  oder  sind,  wie 
die  von  Wechselburg,  schon  ganz  in  der  gegenwärtigen  begonnen.  Wir 
haben  dort  auch  schon  gesehen,  wie  sich  die  alte  Vorliebe  für  wechselnde 
Formen  neben  der  ausschliesslichen  Anwendung  von  Pfeilern  geltend  machte, 
bald  indem  man  sie  in  feineren,   die  innere  Einheit  des  Baues  nicht  unter- 

Schnaase's  Kunstgesch.    2.  Aufl.    Y.  15 


226  Sachsen. 

brechenden  Details  mit  rhythmischen  Beziehungen  verschieden  gestaltete, 
wie  in  Wechselburg,  bald  indem  man  ihnen  sogar  verschiedene  Grundformen 
gab,  wie  in  Ilbenstadt  und  in  der  Nikolaikirche  zu  Eisenach  i).  Auch  jene 
sehr  reiche,  aber  fast  überladene  Gestaltung  des  Pfeilers,  welche  durch  die 
nischenförmige  Aushöhlung  einer  Seite  desselben  und  durch  Einfügung  einer 
Halbsäule  in  diese  Nische  bewirkt  wurde,  und  die  sich  in  der  Vorhalle  von 
Paulinzelle  ^)  und  in  der  Klosterkirche  auf  dem  Petersberge  bei  Erfurt 
üudet,  gehört  der  gegenwärtigen  Epoche  an,  und  verräth  ein  Streben,  das 
sich  mit  den  einfachen,  reinen  Formen  des  bisherigen  Styls  nicht  mehr  be- 
gnügen wollte.  Im  Ganzen  handelte  es  sich  jedoch  nur  um  geringe  Aende- 
rungen;  der  Ausdruck  blieb  derselbe,  und  namentlich  in  den  sächsischen 
Gegenden  bemerken  wir  noch  immer  die  gleiche  Richtung  auf  eine  ruhige 
und  bescheidene  Anmuth.  Die  Portale  wurden  zwar  reicher  und  mit  voll- 
ständigerer Gliederung  der  Archivolten  ausgeführt,  mit  verzierten  Säulen- 
stämmen geschmückt,  oder  durch  grössere  Vertiefung  bedeutsamer  gemacht; 
allein  sie  behielten  noch  durchweg  sehr  massige  Dimensionen.  Beispiele 
reicherer  Verzierung  der  Säulenstämme  geben  die  Portale  zu  Wechselburg, 
an  der  Neumarktskirche  zu  Merseburg  und  an  St.  Bartholomäus  zu  Zerbst^), 
stärkerer  Vertiefung  bei  einfacher  Haltung  die  zu  Paulinzelle,  zuThalbürgel 
und  zu  Altenzelle  ^).  Eigenthümlich  und  reich  sind  endlich  die  Portale  der 
Klosterkirche  zu  Vessera,  wo  Wandecken  mit  eingekerbten  Säulchen  und 
vollere  wirklich  tragende  Säulen  wechseln,  der  Kirche  zu  Treffurt,  wo 
Gewände  und  Bögen  mit  einem  derb  profilirten  Rautenornament  überzogen 
sind,  wie  es  sonst  in  Deutschland  nicht  vorkommt,  und  endlich  der  Petri- 
kirche  zu  Görlitz,  wo  indessen  die  reich  aber  barock  verzierten  Bögen 
schon  eine  etwas  zugespitzte  Form  haben  •^).  Die  Archivolten  sind  über  den 
Säulen  stets  als  starke  Rundstäbe  gebildet,  über  den  Wandecken  zuweilen 
ausgekerbt,  übrigens  aber  wenig  verziert,  und  zeigen,  dass  man  an  dieser 
Stelle  mehr  durch  die  Häufung  concentrischer  Halbkreislinien,  als  durch 
Ornamente  zu  wirken  beabsichtigte.  Das  Bogenfeld  ist  fast  immer  zu  einer 
plastischen  Darstellung,  meistens  freilich  sehr  einfacher  Art,  aus  einem 
Kreuze  oder  einer  symbolischen  Thiergestalt  bestehend,  benutzt;  in  Vessera 


1)  Putlrich,  Sachseu-Weimar-Eisenach,  El.  17,  a,  Fig.  4,  und  Vignette  17. 

2)  Puttrich,  Bd.  I,  Abth.  1,  Bl.  11,  14  a,  14  b. 

3)  Puttrich  a.  a.  0.  Bd.  I,  Abth.  1,  Taf.  6,  Bd.  I,  Abth.  2,  Taf.  7,  Bd.  1,  Abtii.  1, 
Serie  AuliaU  Taf.  6.  Das  Portal  ist  hier  der  einzige  Ueberrest  des  älteren,  dem  Ende 
des  zwölften  Jahrhunderts  zuzuschreibenden  Baues. 

*)  Daselbst  Bd.  I,  Abth.  1,  Serie  Schwarzburg  Taf.  11,  Bd.  II,  Abth.  1,  Serie 
Weimar,  Taf.  10,  Serie  Reuss,  Taf.  9,   Fig.  c. 

6)  Daselbst  Bd.  II,  Abth.  2,  Serie  Mühlhausen  Taf,  13,  Fig.  d,  Taf.  18.  Vgl.  auch 
Puttrich's  systematische  Uebersicht  Taf.  10. 


Die  goldene  Pforte  zu  Freiberg.  227 

und  Altenzelle  ist  es  indessen  geöffnet,  um  die  Höhe  des  Durchganges  zu 
steigern.  Bei  den  einfacher  gehaltenen  und  tieferen  Portalen  sind  beide 
Gewände  symmetrisch,  bei  verzierten  Säulenstämmen  dagegen  hat  man  die 
Mannigfaltigkeit  des  Ornaments  der  Symmetrie  vorgezogen.          , 

Unendlich  bedeutender  als  alle  diese  Werke  und  vielleicht  die  glän- 
zendste Leistung  romanischer  Portalbildung  ist  die  berühmte  goldene  Pforte 
zu  Freiberg  im  Erzgebirge,  die  ich  hier  anführe,  obgleich  sie  wahrschein- 
lich erst  im  zweiten  Viertel  des  dreizehnten  Jahrhunderts  entstanden  ist^). 
Fünf  Säulen  mit  reich  verzierten  Stämmen  und  Kapitalen  stehen  auf  jeder 
Seite  der  Vertiefung  des  Portals,  zwischen  ihnen  in  den  ausgekehlten  Ecken 
auf  kleineren  Säulchen  je  vier  Statuen  von  etwa  halber  Lebensgrösse;  dar- 
über kreiset  die  zehnfach  gegliederte  Archivolte,  über  den  Säulen  in  Rund- 
stäben, die  wie  die  Stämme  verziert  sind,  (Fig.  67),  über  den  Statuen  mit  Reihen 
kleinerer  Figuren  von  Engeln,  Heiligen,  Auferstandenen.  Diese  an  sich  schon 
glänzende  und  wirksame  Anordnung  erhält  aber  durch  die  unübertreffliche 
Ausführung  einen  sehr  viel  höheren  Werth.  Ich  werde  auf  die  nähere  Be- 
trachtung des  Bildwerks  später  zurückkommen  und  habe  es  hier  nur  mit 
dem  Architektonischen  zu  thun,  aber  auch  dies  ist  von  so  überraschender 
Schönheit,  dass  es  den  edelsten  Schöpfungen  aller  Zeiten  an  die  Seite  ge- 
setzt werden  kann.  Die  Kapitale  sind  sämmtlich  kelchförmig,  mit  pracht- 
vollem, unter  der  Deckplatte  volutenähnlich  und  kräftig  ausladendem  Blatt- 
werke, die  Gesimse  mit  einem  fein  stylisii'ten  Rankengewinde  geschmückt. 
Die  Säulenstämme  sind  auf  beiden  Seiten  übereinstimmend",  die  äusseren 
glatt,  die  nächsten  geradlinig  kanuelirt,  die  beiden  folgenden  rauten-  und 
2ickzackförmig,  die  letzten,  an  der  Thüröffnung  stehenden  endlich  mit  ge- 
wundener Kaunelirung.  Das  Ganze  bildet  daher  eine  Steigerung  von  dem 
Einfacheren,  das  der  Aussenseite  zukommt,  zu  dem  Reichen  und  Centralen, 
welches  den  Glanz  des  inneren  Heiligthums  charakterisirt,  und  giebt  schon 
an  den  senkrechten  Theilen  eine  Andeutung  der  Concentration,  welche  in 
den  Archivolten  ihre  höchste  Entwickelung  hat.  Freiberg,  durch  die  wenige 
Jahre  vorher  entdeckten  Silberbergwerke  wichtig  geworden  und  bereichert, 
erhielt  um  1175  Stadtrechte,  einige  Zeit  darauf  wird  daher  auch  diese 
Stadtkirche,  welche  im  fünfzehnten  Jahrhundert  die  Bedeutung  eines  Domes 
erlangte,  gegründet  sein.  Sie  ist  im  Jahre  1484  abgebrannt  und  bis  gegen 
1500  hergestellt;  am  Chore  und  Querhause  sind  aber  üeberreste  des  alten 
Baues  erhalten,  welche  dem  Style  vom  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  ent- 


^)  Die  Abbildungen  bei  Puttrich,  Abth.  I,  Bd.  1,  Lief.  3  sind  im  Ganzen  treu, 
gestatten  aber  doch  nicht  eine  Beurtheilung  der  feinen  Züge.  —  Abbildungen  der 
Sculpturen  bei  E.  Förster,  Denkmale,  Bd.  I.  —  Vgl.  auch  Ed.  Heuchler,  der  Dom  zu 
Freiberg.  In  geschichtlicher  und  kunsthistorischer  Beziehung  beschrieben  etc.  etc.  — 
Freiberg  1862. 

15* 


228  Sachsen. 

sprechen,  und  Nischen  auf  den  Kreuzarmen,  den  Rundbogenfries  und  an  der 
Vierung  des  Kreuzes  kräftig  gegliederte,  anscheinend  schon  auf  ein  Kreuz- 
gewölbe berechnete  Pfeiler  erkennen  lassen.  Ueber  die  Entstehung  der  in 
das  südliche  Kreuzschiff  führenden  goldenen  Pforte  fehlt  es  an  allen  Nach- 
richten, und  die  Schönheit  ihrer  Formen  steht  so  weit  über  den  anderen 
Werken  dieser  Art,  dass  es  schwer  wird,  ihr  Alter  durch  Vergleichung  zu 
bestimmen.  Sie  ist  daher  der  Gegenstand  mancher  Vermuthungen  geworden; 
man  hat  sie  italienischen  Künstlern  zuschreiben  wollen  und  sogar  angenom- 
men, dass  die  ganze  Ausschmückung,  an  die  romanischen  Formen  eines 
älteren  Portals  sich  anschliessend,  erst  im  fünfzehnten  Jahrhundert  bei 
Gelegenheit  des  Neubaues  entstanden  sei^).  Allein  bei  näherer  Prüfung  kann 
man  nicht  zweifeln,  dass  das  Ganze,  Architektonisches  und  Plastisches, 
gleichzeitig  und  aus  einem  Geiste  entstanden  ist,  und  dass  die  Arbeiter 
Deutsche  und  zwar  aus  diesen  sächsischen  Gegenden  waren.  Dies  nicht  bloss 
aus  dem  Grunde,  weil  sich  in  der  That  ein  fremdes  Vorbild  für  dies  Portal 
nirgends  auffinden  lässt,  sondern  auch  weil  es  ganz  der  Richtung  auf  An- 
muth  und  feine  plastische  Formbildung  angehört,  welche  dem  sächsischen 
Styl  schon  früher  eigen  war.  Es  ist  nur  die  letzte  und  höcjiste  Entwickelung 
dieser  Richtung,  aber  allerdings  durch  einen  Künstler  ersten  Ranges,  der 
überdies  seine  Phantasie  durch  Anschauungen  fremder  Kunst  bereichert 
hatte.  Manche  Details,  namentlich  die  Anordnung  der  Statuen  zwischen  den 
Säulen,  des  freistehenden  Bildwerks  in  den  Archivolten,  die  kleinen  Säul- 
chen, auf  denen  jene  Statuen  ruhen,  und  endlich  der  plastische  Styl  wenig- 
stens einiger  Figuren  und  des  Reliefs  im  Bogenfelde  lassen  nämlich  keinen 
Zweifel  darüber,  dass  der  Meister,  welcher  hier  wirkte,  schon  gothische 
Portale  in  ihrer  reicheren  Form  und  den  freieren  plastischen  Styl,  wie  er 
sich  selbst  in  Frankreich  erst  im  zweiten  Viertel  des  Jahrhunderts  bildete, 
gekannt  hat.  Es  ist  sehr  merkwürdig,  dass  er  sich  dennoch  in  der  Haupt- 
sache für  die  romanische  Form  entschied,  sie  nur  durch  einzelne,  dem 
gothischen  Style  entlehnte  Motive  bereicherte;  wir  sehen  darin  ein  künstle- 
risches Bewusstsein,  eine  Freiheit  des  Verfahrens,  wie  man  es  kaum  in  dieser 
Zeit  erwartet  hätte.  Allerdings  war  das  Portal  ein  Zusatz  zu  einem  roma- 
nischen Gebäude,  aber  die  Meister  der  gothischen  Zeit  pflegten  bekanntlich 
nicht  so  zarte  Rücksicht  auf  die  harmonische  Verbindung  ihrer  Arbeiten 
mit  den  älteren  Theilen  des  Gebäudes  zu  nehmen,  waren  vielmehr  meistens 
so  erfüllt  und  eingenommen  von  ihrer  neuen  Kunst,  dass  sie  dieselbe  fast 
absichtlich  im  Contrast  zu  den  älteren  Formen  geltend  machten.  Wir  haben 
daher  hier  einen  augenscheinlichen  Beweis,  dass  man   in  diesen  Gegenden 


1)  So   Rosenthal,  Gesch.  d.  Baukunst  (1850)  IH.  S.  595,  wahrscheinlich  bloss  nach 
Abbildungen   nrtlieilend. 


1 


Die  goldene  Pforte  zu  Freiberg. 
Fig.  67. 


229 


Von  der  goldenen  Pforte  zu  Freiberg. 


230  Deutschland. 

bewussterweise  die  romanische  Form,  wenigstens  in  der  wesentlichen  Anord- 
nung eines  so  wichtigen  Theiles,  der  schon  bekannten  gothischen  vorzog. 
Ebenso  bemerkenswerth  ist,  wie  sehr  dies  eigenthümliche  Werk  an  antik 
römische  Arbeiten  oder  doch  an  italienische  Arbeiten  der  ersten  Renaissance 
erinnert.  Es  sind  nicht  etwa  Einzelheiten,  welche  diesen  Eindruck  geben. 
Zwar  sind  die  geradlinigen  Kanneluren  völlig  wie  die  der  ionischen  und 
korinthischen  Säulen,  aber  der  volle  Blätterschmuck  der  Kapitale  ist  nur 
eine  Reminiscenz,  nicht  eine  vollständige  Imitation  des  korinthischen  Kapi- 
tals, und  alles  Uebrige,  was  an  antike  Form  erinnert,  entspricht  doch  ganz 
dem  romanischen  Style,  es  ist  nur  voller,  frischer,  freier  behandelt.  Es  ist 
möglich,  dass  der  Künstler  etwa  in  Italien  römische  Werke  gesehen  hatte, 
aber  im  Wesentlichen  entsteht  dieser  Anklang  an  Antikes  doch  nur  dadurch, 
dass  die  Elemente,  die  im  romanischen  Style  enthalten  und  in  der  sächsi- 
schen Schule  besonders  treu  bewahrt  waren,  durch  den  frischeren  Geist,  der 
die  Kunst  überhaupt  durchdrang,  auch  höhere  frische  Farben  erhielten,  und 
dass  der  Künstler,  von  dem  dieses  Werk  stammt, 
Fig.  68.  diese  antiken  Elemente  mit  grösserer  Zuneigung  und 

Wärme  ausbildete,  als  seine  Zeit-  und  Kunstgenossen. 
Während  wir  hier  also  noch  bis  gegen  die  Mitte 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  die  romanische  Form 
mit  vollstem  Verständnisse  behandelt  sehen,  machten 
sich  indessen  au  anderen  Stellen  fremde  Einflüsse 
geltend.  Die  gelehrte  Richtung  unter  den  Ottonen 
hatte  die  Vorliebe  für  die  altchristlich  antike  Kunst 
erzeugt,  der  grosse  Streit  des  Staates  und  der  Kirche 
„    .,..,        T.,  .       ,    .        unter  den  fränkischen  Kaisern  auch  auf  künstlerischem 

Kapital  vom  Kaiserpalast  zu 

Gelnhausen.  Gebiete    cinc    feierliche    Stimmung    hervorgebracht. 

Der  romantisch  bewegte  Geist,  der  jetzt  unter 
dem  hochgesinnten  Geschlechte  der  Hohenstaufen  aufkam,  und  durch  die 
Bilder  südlicher  Farbengluth  und  volleren  Lebensgenusses  im  Orient  und  in 
Italien  genährt  wurde,  gab  der  Phantasie  einen  höheren  Schwung,  und  for- 
derte reichere,  buntere  und  zierlichere  Formen.  In  einigen  Fällen  scheinen 
wirklich  arabische  Motive,  wenn  auch  in  freier  Nachahmung,  Eingang  ge- 
funden zu  haben,  in  anderen  ist  es  nur  eine  Ausbildung  einheimischer  Ele- 
mente, aber  mit  einem  Luxus,  der  wiederum  an  den  Orient  erinnert,  mit 
einer  heiteren,  fast  übermüthigen  Grazie,  die  sich  selbst  von  den  reichsten. 
Bildungen  des  früheren  romanischen  Styls  sehr  scharf  unterscheidet.  Die 
elegantesten  Beispiele  solcher  Ornamentation  kommen  nicht  in  kirchlichen 
Bauten,  sondern  in  Schlössern  vor*,  man  war  sich  bewusst,  dass  dieser  Glanz 
ein  weltliches  Element  enthalte.  Hier  finden  sich  (Fig.  68)  jene  von  den  älteren 
Würfelknäufen  sehr  verschiedenen  Kapitale,  die  auf  schlankem  Halse  Würfel- 


Das  Schloss    zu  Gelnhausen.  231 

förmig  ausladen  und  in  arabischen  Bauten  ähnlich,  aber  minder  kräftig 
und  mit  üppigerem  Schwünge  der  Linie  vorkommen,  hier  ferner  gekuppelte, 
freistehende,  unter  einem  Kapitale  vereinigte  Säulenstämme,  reichverzierte 
Deckplatten -in  Gestalt  eines  Wulstes,  der  an  den  Turban  erinnert,  Wand- 
felder mit  fast  so  künstlichen  Verschlingungen,  wie  in  den  maurischen  Wand- 
arabesken, ausgezackte  oder  hufeisenartige  Bögen,  freilich  nicht  mit  so 
starker  Ausbauchung  wie  bei  den  Arabern  ^).  Daneben  sieht  man  aber  auch 
Andeutungen  des  korinthischen  Kapitals,  sorgsam  gearbeitete  Palmetten  und 
ähnliche,  der  Antike  vielleicht  durch  erneute  Studien  entlehnte  Motive,  an- 
dererseits die  gewöhnlichen  Details  des  romanischen  Baues,  die  attische 
Basis  mit  dem  Eckblatte,  den  Schachbrettfries,  die  diamantirten  Pflanzen- 
stengel und  sonst  das  hergebrachte  conventioneile  Blattwerk,  endlich  auch 
einen  Reichthum  von  plastischen  Gebilden,  Menschen,  Thieren,  Sirenen  und 
anderen  fabelhaften  Gestalten  eingemischt,  die  weder  aus  der  Antike  noch 
aus  maurischen  Bauten  entlehnt  sind,  aber  doch  an  arabische  Märchen  er- 
innern. Eine  Nachwirkung  der  Anschauungen,  welche  die  Kreuzzüge  gewährt 
hatten,  ist  daher  nicht  zu  verkennen;  aber  sie  sind  durch  abendländischen 
Geist  hindurchgegangen,  haben  kräftigere  Formen  und  Verhältnisse  ange- 
nommen, geben  nicht,  wie  in  den  maurischen  Bauten,  müssige,  zerfliessende 
Traumspiele,  sondern  den  Ausdruck  einer  festlichen  Freude  und  reichen 
Pracht,  aber  doch  auf  einem  ernsten  Hintergrunde.  Eine  der  glänzendsten 
und  vielleicht  frühesten  Aeusserungen  dieses  Geschmacks  ist  das  Schloss  des 
Kaisers  Friedrich  I.  bei  Gelnhausen,  in  dessen  Trümmern  wir  Einzelhei- 
ten von  unnachahmlicher  Feinheit  und  meisterhafter  Ausführung  finden. 
Dies  gilt  von  den  gekuppelten  Säulchen  mit  reichen  Kapitalen,  auf  denen 
die  Fensterbögen  ruhen,  sodann  von  dem  Kamin  des  Hauptsaals,  der  von 
zwei  achteckigen  Säulchen  getragen  wird  und  zu  beiden  Seiten  durch  Felder 
mit  teppichartigem  Reliefornament  umschlossen  ist.  Im  Jahre  1170  geneh- 
migte der  Kaiser  die  Anlegung  einer  Stadt  bei  dieser  seiner  Burg,  deren 
Bau  mithin  schon  einige  Jahre  früher  fallen  wird;  wir  dürfen  daher  viel- 
leicht die  Neigung  zu  dieser  Ornamentation  mit  dem  Kreuzzuge  von  1147 
und  1148  in  Verbindung  bringen,  bei  welchem  Friedrich  seineu  Oheim,  Kai- 
ser Conrad,  begleitet  hatte.  Dass  dieser  Geschmack  auch  anderen  deutschen 
Herren  zusagte,  und  zuletzt  der  herrschende  für  Bauten  dieser  Art  wurde, 
zeigt  sich  au  einer  Reihe  anderer  Schlossbauten,  namentlich  an  dem  Schlosse 
zu  Münzenberg  in  der  Wetterau,  das  in  den  Jahren  1154  bis  1174  ge- 


^)  Hufeisenartige  Bögen  finden  sich  am  Entschiedensten  in  der  Schlosskapelle  zu 
Freiburg  an  der  Unstrut,  in  der  Kirche  zu  Göllingen  (Puttrich  I,  1.  Serie:  Schwarz- 
burg,  Tafel  19)  und  in  der  Euchariuskapelle  bei  der  Aegidienkirche  zu  Nürnberg 
(Chlingensperg,  Bayern  II,  353). 


232  Deutschland. 

baut  ist  1);  in  den  älteren  Theilen  der  Wartburg  2),  an  dem  prachtvollen 
Schlosse  zu  Wimpfen  am  Neckar'^),  an  dem  Kaiserhause  zu  Goslar*),  an 
den  Ruinen  des  Schlosses  zu  Seligenstadt,  dann  an  mehreren  Schloss- 
kapellen, so  an  der  oberen  auf  der  Burg  zu  Nürnberg,  an  denen  zu  Eger 
und  zu  Landsberg  bei  Halle,  und  endlich  an  der  Kapelle  des  Schlosses  zu 
Freiburg  an  der  Unstrut,  welche  letzte,  die  jüngste  von  allen,  in  phan- 
tastischer Eleganz  vielleicht  von  keinem  Gebäude  des  Mittelalters  übertroifen 
wird.  An  allen  diesen  Bauten  finden  sich  mehr  oder  weniger  jene  an  ara- 
bischen Styl  erinnernden  Züge.  Es  sind  nicht  unbedingte  Nachahmungen, 
sondern  nur  leichte,  schon  durch  abendländischen  Geist  hindurchgegangene 
Reminiscenzen,  welche  die  ältere  einheimische  Form  nicht  verdrängen,  son- 
dern sich  an  sie  wie  etwas  Verwandtes  anschliessen.  Die  Empfänglichkeit 
für  dieses  fremde  Element  ging  offenbar  aus  der  beiden  Völkern  gemein- 
samen phantastischen  Richtung  und  aus  einem  Bedürfnisse  des  abendländi- 
schen Geschmacks  hervor.  Unter  der  strengen  romanischen  Regel  hatte  die 
Phantasie  sich  nur  in  mehr  oder  weniger  willkürlichen  Ausbrüchen,  in  bi- 
zarren Contrasten  und  grellen  Schreckgestalten  äussern  können.  Die  mildere, 
leichtere  Sitte  der  neuen  Zeit  fand  daran  kein  Wohlgefallen;  sie  liebte  nicht 
mehr  das  Spröde  und  Abgebrochene,  das  Dunkle  und  Schwere,  sie  unterhielt 
sich  gern  mit  anmuthigen  Räthseln,  aber  sie  wollte  auch  die  Lösung  sehen; 
sie  bewegte  sich  gern  in  dem  Wagniss  kühner,  leicht  geschwungener  Linien, 
aber  doch  nur  im  heiteren  Spiele  und  im  Gefühle  der  Sicherheit  des  Gelin- 
gens. Dieser  Richtung  entsprach  die  arabische  Kunst,  der  abendländische 
und  namentlich  der  deutsche  Geist  eignete  sich  daher  aus  ihr  das  Verwandte 
an,  übertrug  es  auf  die  einheimischen  Verhältnisse  und  schuf  daraus  ein 
Ganzes,  welches  wie  die  ritterliche  Romantik  auf  dem  ernsten  Hintergrunde 
christlicher  Sitte  anmuthige  Kühnheit  und  graziösen  Uebermuth  entwickelt. 
Ritter  und  Klerus  waren  zu  sehr  desselben  Blutes,  als  dass  dieser  Ge- 
schmack der  weltlichen  Bauten  ohne  Einfluss  auf  die  kirchliche  Architektur 


1)  Abbildungen  des  Kaiserpalastes  zu  Gelnhausen  sind  von  Hundes hagen  be- 
sonders herausgegeben  (Bonn  1832),  und  ausserdem  bei  Gladbach,  Fortsetzung  von 
Moller's.  deutschen  Baudenkmälern  Taf.  36  —  42  und  bei  E.  Förster,  Denkmale,  I,  zu 
finden.     Das  Schloss  Münzenberg  bei  Gladbach  Taf.  25  —  33. 

2)  Abbildungen  der  Schlösser  der  Wartburg,  zu  Landsberg  und  zu  Freiburg,  bei 
Puttrich  in  den  Serien  Weimar,  Halle  und  Freiburg.  Ueber  die  Kapelle  zu  Eger  vgl. 
F.  V.  Quast  im  Berliner  Kunstblatt  1828,  Heft  8 ,  und  desselben  Verfassers  Vortrag : 
Ueber  Schlosskapellen.  Berlin  1852,  sodann  B.  Grueber,  die  Kaiserburg  zu  Eger  und 
die  an  dieses  Bauwerk  sich  anschliessenden  Denkmale.  Mit  19  lith.  Tafeln.  Prag, 
1864.  —  Eger  siehe  Förster,  Denkm.  Bd.  X. 

")  Abbildungen  von  Kapitalen  und  Kämpfern  in  den  Mittheilungen  der  k,  k,  Cen- 
tralcommission,  Bd.  VI,  S.  61. 

*)  Mithof,  Archiv  für  Niedersachsens  Kunstgeschichte  III  ,  Taf.   12  —  14. 


St.  Michaelis  zu  Hildeslieim.  233 

bleiben  konnte.  Zuerst  finden  wir  ihn  hier  an  den  Nebengebäuden,  in  Sälen 
und  Kreuzgängen,  bald  aber  auch  in  den  Kirchen  selbst.  Vielleicht  geschah 
dies  zuerst  bei  Restaurationen,  wo  die  Meister  an  die  vorgefundene  Anlage 
gebunden  waren  und  sich  für  den  Mangel  feinerer  Gliederung  durch  reiche 
Ausschmückung  entschädigen  wollten.  Ein  ausgezeichnetes  Beispiel  dieses 
Verfahrens  ist  die  Michaeliskirche  zu  Hildes  heim,  wie  sie  nach  einem 
im  Jahre  1162  erfolgten  Brande  bis  zum  Jahre  1186  wieder  aufgebaut 
wurde  ^).  Die  Anordnung  wurde,  aus  Rücksicht  für  den  Stifter  Bernward, 
oder  weil  einzelne  Theile  noch  brauchbar  waren,  beibehalten;  Pfeiler  wech- 
selten mit  je  zwei  Säulen,  und  die  Bögen  mussten  daher  die  einfache  unge- 
brochene Gestalt  behalten.  Aber  während  die  wenigen  älteren  Säulen,  die 
man  noch  jetzt  erkennt,  den  einfachen  Würfelknauf  zeigen,  ist  an  den  später 
hinzugefügten  die  V^ürfelform  bald  zu  kräftig  ausladenden  Blätterreihen, 
bald  zu  Verschlingungen  und  Pflanzengewinden  entwickelt.  Menschliche  und 
thierische  Gestalten  drängen  sich  aus  dem  Laubwerke  hervor,  und  die  Man- 
nigfaltigkeit phantastischer  Bildungen  giebt  immer  neuen  Reiz.  Eben  so 
reich  sind  die  Deckplatten  der  Kapitale,  die  Gesimse,  und  an  einzelnen 
Säulen  die  Ringe  der  Basis  geschmückt;  sogar  die  Unteransicht  der  Bögen 
ist  mit  anmuthigen,  stets  verschiedeneu  Mustern  ausgestattet-).  Man  sieht, 
der  Meister  hat  recht  eigentlich  nach  Stellen  gesucht,  an  denen  er  ohne 
Störung  der  architektonischen  Wirkung  noch  Schmuck  anbringen  konnte. 
Ganz  ähnlich,  wenn  auch  minder  reich,  ist  die  Ausstattung  der  Klosterkir- 
chen zu  Gandersheim  und  zu  Wunstorf,  welche  ebenfalls  älteren  Ur- 
sprungs gegen  das  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts,  wahrscheinlich  etwas 
später  als  die  Michaeliskirche,  erneuert  wurden.  Auch  die  Kirche  zu  Ha- 
mersleben^),  der  Kreuzgang  zu  Königslutter,  die  Krypta  der  Kloster- 
kirche zu  Riechenberg  bei  Goslar^),  und  die  Euchariuskapelle  an 
der  Aegidienkirche  zu  Nürnberg'^),  geben  ausgezeichnete  Beispiele  solcher 
reichen  und  geschmackvollen  Ornamentation,  welche  übrigens,  wenn  sie  auch 
mit  der  der  Schlossbauten  in  phantastischem  Reiz  und  in  der  Mannigfaltig- 
keit wetteifert,  in  den  Kirchen  überall  auf  hergebrachten  romanischen  Mo- 


^)  Die  Urkunde  über  die  Einweihung  der  Kirche  im  Jahre  1186  ist  mitgetheilt 
von  Kratz,  bei  Otte  u.  v.  Quast,  Zeitschrift  für  christl.  Archäologie  und  Kunst,  II,  S.  82. 
Hiernach  ist  die  Angabe  in  Bd.  IV,  S.  350  näher  zu  bestimmen. 

-)  Abbildungen  bei  Gladbach,  a.  a.  0.  Taf.  43  bis  48,  bei  Förster,  Denkmale,  III, 
und  in  den  miltelalterl,  Baudenkmälern  Niedersachsens,  Heft  I. 

3)  Quast  u.  Otte,  Zeitschrift,  Bd.  II,  S.  74  ff.,  mit  Abbildungen.  —  Die  mittel- 
alterlichen Baudenkmäler  Niedersachsens,  Heft  III. 

■*)  Die  mittelalterl.  Baudenkmäler.  Niedersachsens,  Heft  II. 

^)  Abbildungen  bei  v.  Rettberg,  Nürnbergs  Kunstleben  (1854)  S.  6,  und  bei 
V.  Chlingensperg   a.  a.  0.     Die  Anklänge  an  arabische  Motive   sind  hier  sehr  stark. 


234  Deutscliland. 

tiven  beruhet^  und  meistens  nichts  enthält,  was   einen  arabischen  oder  sonst 
fremdartigen  Ursprung  andeuten  könnte. 


Die  bisher  bemerkten  Neuerungen  bezogen  sich  nur  auf  die  Ornamen- 
tik und  liessen  die  Construction  und  die  wesentlichen  Formen  des  Gebäudes 
unberührt.  Auch  diese  konnten  aber  nicht  dieselben  bleiben,  sobald  man 
das  System  durchgeführter  Wölbung,  welches  bis  dahin  nicht  über  Rhein- 
land und  Westphalen  hinausgegangen  war,  auch  in  den  östlichen  Gegenden 
anwandte.  Das  erste  Beispiel  dieser  wichtigen  Neuerung  gab  in  Sachsen 
ein  weltlicher  Fürst,  der  mächtige  Heinrich  der  Löwe  am  Dome  zu  Braun- 
schweig ^),  den  er  im  Jahre  1172  oder  1173  bald  nach  seiner  Rückkehr 
aus  dem  gelobten  Lande  als  ein  Denkmal  seiner  Pilgerfahrt  und  als  eine 
würdige  Behausung  für  die  mitgebrachten  kostbaren  Reliquien  gründete, 
und  dessen  Einweihung  nach  einem  der  Grösse  des  Baues  angemessenen, 
Zeiträume  im  Jahre  1194  erfolgte.  Heinrich  hatte  nicht  bloss  die  Kuppel- 
bauten des  Orients,  sondern  auch  gewölbte  Basiliken  in  Italien  und  am 
Rheine  gesehen,  und  der  praktische  Sinn  des  kriegerischen  Fürsten  mochte 
ihn  bestimmen,  dieser  dauerhafteren  Form  den  Vorzug  zu  geben  ^j.  Dabei 
behielten  indessen  seine  Meister,  soviel  es  die  Wölbung  gestattete,  auch  hier 
die  hergebrachten  sächsischen  Details  bei.  Die  Anlage  des  Grundrisses,  die 
Anordnung  der  Chornischen  und  des  Kreuzes,  die  Rundbögen  an  Portalen, 
Fenstern  und  Arcaden  sind  ganz  wie  bisher  behandelt.  Selbst  die  Pfeiler 
haben  die  uns  wohlbekannte  viereckige  Gestalt  mit  eingeblendeten  Ecksäu- 
len, Würfelkapitälen  und  Eckblättern  der  Basis;  nur  darin  besteht  eine 
Aenderung,  dass  diejenigen,  welche  das  Gewölbe  tragen,  nicht  mehr  ein 
einfaches  Viereck  bilden,  sondern  eine  kreuzförmige  Gestalt,  und  mithin 
Vorlagen  haben,  von  denen  die  drei  niedrigeren  die  Scheidbögen  und  das 
Seitengewölbe,  die  nach  dem  Mittelschiffe  zu  gelegenen,  höher  hinauf  stei- 
genden aber  die  Wölbung  des  Oberschiffes  stützen.  Dadurch  sind  denn 
auch  die  Ecksäulchen  verdoppelt,  indem  nun  jeder  der  vier  vorliegenden 
Theile  als  ein  von  zwei  solchen  Säulchen  eingefasster  Pilaster  erscheint,  der 
oben  durch  ein  Gesimse  bekrönt  wird.    Da  das  Gewölbe  aber  ein  quadrates. 


^)  Dr.  Schiller,  die  mittelalterliche  Architektur  ßraunschweigs,  1852,  giebt  aus- 
führliche und  kritisch  erörterte  Nachrichten  und  zum  Theil  Grundrisse  des  Doms  und 
der  weiterhin  erwähnten  Kirchen  von  Braunschweig  und  der  Umgebung. 

2)  Dass  Heinrich  bemüht  war,  sich  fremde  Verbesserungen  anzueignen,  beweist 
die  (von  Muratori  Diss.  26  angeführte)  Stell»  des  Arnold.  Lubecensis,  worin  er  erzählt, 
dass  Heinrich  bei  einer  Belagerung  einen  beweglichen  Thurm  bauen  lassen,  wie  er  ihn 
in  der  Lombardei,  bei  Como  oder  Mailand,  gesehen  hatte. 


Der  Dom  zu  Braunschweig.  235 

über  zwei  Scheidbögen  gespanntes  ist,  so  war  bei  den  mittleren  Pfeilern 
diese  Neuerung  nicht  nöthig;  sie  haben  daher  ganz  die  ältere  Form.  Das 
Gewölbe  ist  ein  Kreuzgewölbe  und  zwar  mit  einer  schwachen  Zuspitzung, 
aber  in  einer  von  den  an  anderen  Orten  und  namentlich  am  Rheine  ge- 
brauchten abweichenden,  allerdings  jenen  Pfeilern  sehr  angemessenen  Ge- 
stalt. Es  hat  nämlich  keine  Quergurten,  ist  daher  eigentlich  ein  spitzes 
Tonnengewölbe,  in  welches  zwischen  jedem  Pfeilerpaar  ein  anderes,  gleich- 
gestaltetes Tonnengewölbe  einschneidet  und  dadurch  die  diagonalen  Gräten 
bildet  1).  Diese  Gräten  entsprechen  den  Ecksäulen,  während  die  breite  un- 
getheilte  Gewölbfläche  zwischen  ihnen  auf  dem  Kämpfergesimse  der  Vorlage 
ruht  und  als  eine  Fortsetzung  ihrer  Pilasterfläche  erscheint.  In  den  Seiten- 
schiffen waren  an  der  Fensterwand  den  Pfeilern  gegenüber  Pilaster  ange- 
bracht, und  zwar  so,  dass  den  kreuzförmigen  Pfeilern  breitere,  vortretende, 
den  Zwischenpfeilern  schmalere  Pilaster  entsprachen;  diese  trugen  nur  die 
Diagonalen,  wie  im  Mittelschiffe,  jene  aber  einen  Gurtbogen,  der  also  immer 
nach  zwei  Kreuzgewölben  wiederkehrte;  eine  constructiv  nützliche  Form, 
welche  überdies  den  Vortheil  gewährte,  die  Gewölbtiefe  des  Mittelschiffes 
im  Seitenschiffe  anzuzeigen  und  so  das  Verhältniss  des  letzten  zu  dem  ersten 
anschaulich  zu  macheu.  Die  Fenster  haben  die  hergebrachte  einfache  Ge- 
stalt, nur  dass  je  zwei  Oberlichter  unter  der  Mitte  des  Gewölbes,  bis  dicht 
an  die  auf  der  Aussenseite  sie  trennende  Lisene,  aneinander  rückten,  so 
dass  sie  nur  ihrer  Zahl,  nicht  ihrer  Stellung  nach  den  Fenstern  des  Seitenschiffes 
entsprachen  -).  Nur  in  einer  Detailform  könnte  man  einen  auswärtigen  Ein- 
fluss  vermuthen,  und  zwar  einen  Einfluss  von  England,  dem  Vaterlande  der 
Gemahlin  Heinrich's  des  Löwen,  mit  der  er  erst  seit  1168,  also  nicht  lange 
vor  dem  Beginn  des  Dombaues,  vermählt  war.  Die  Kapitale  sind  nämlich 
zum  Theil  als  gebrochene  Würfel  gestaltet,  in  der  Form,  welche  die  fran- 
zösischen Antiquare  gefältelt  (godronne)  nennen,  die  in  der  Normandie  und 
in  England  häufig,  in  Deutschland,  so  viel  ich  weiss,  bis  dahin  noch  nicht 
gebraucht  war.  Allein  abgesehen  von  dieser  unscheinbaren  Neuerung  ist 
Alles  deutsch;  Lisenen,  Rundbogenfries,  Profilirungen  und  Ornamente  unter- 
scheiden sich  nicht  von  den  früheren  Bauten  dieser  Gegend,  und  das  Ge- 
bäude macht  im  Ganzen  einen  durchaus  ähnlichen  Eindruck  wie  diese.      Es 


^)  V.  Quast  (Deutsches  Kunstbl.  1850,  p.  241)  ist  der  Meinung,  dass  das  Gewölbe 
jünger  sei,  als  die  Weihe  von  1194,  und  bringt  es  mit  einer  Einweihung  von  1227 
(denn  so  und  nicht  wie  gedruckt  1127  wird  es  heissen  sollen)  in  Verbindung.  Da  in- 
dessen die  Pfeiler  augenscheinlich  auf  Gewölbe  angelegt  sind  und  nichts  eine  spätere 
Veränderung  anzeigt,  so  kann  ich  (mit  Schiller  a.  a.  0.)  diese  Vermuthung  nicht 
theilen. 

2)  Dies  beweist  das  weiter  unten  erwähnte  Modell  auf  dem  Grabsteine  Heinrich'» 
des  Löwen. 


236  Gewölbebauten  in  Sachsen. 

zeigt  recht  deutlich;  wie  es  sich  hier  mit  der  ersten  Einführung  des  Spitz- 
bogens verhielt.  Denn  nicht  nur  die  Scheidbögen,  Fenster,  Portale,  sondern 
selbst  die  Gurtbögen  unter  dem  Gewölbe  an  der  Vierung  des  Kreuzes  und 
in  den  Seitenschiffen  sind  halbkreisförmig;  der  Meister  gebrauchte  daher 
den  Spitzbogen  nur  aus  Nützlichkeitsgründen  am  Gewölbe,  dessen  hier  an- 
gewendete Form  ihn  in  der  That  sehr  zweckmässig  erscheinen  Hess.  Denn 
da  es  eigentlich  ein  Tonnengewölbe  war,  welches  nur  behufs  der  Anlage 
von  Fenstern  durch  einschneidende  Kappen  zum  Kreuzgewölbe  umgestaltet 
wurde,  so  musste  man  wünschen,  das  Tonnengewölbe  möglichst  hoch  zu  er- 
halten, damit  der  Raum  für  die  Fenster  nicht  zu  sehr  beengt  werde.  Bei 
dieser  Anordnung  war  denn  gewiss  die  Wahl  des  Spitzbogens  höchst  nahe- 
liegend und  ohne  alle  Berücksichtigung  fremder  Vorbilder  denkbar.  Im 
vierzehnten  und  fünfzehnten  Jahrhundert  ist  die  Kirche  durch  Hinzufügung 
eines  zweiten  Seitenschiffes  auf  jeder  Seite  verändert,  indessen  sind  die 
Wandpfeiler  und  die  Gewölbe  der  früheren  Seitenschiffe  erhalten,  und  über- 
dies giebt  das  Modell  der  Kirche  auf  dem  dem  dreizehnten  Jahrhundert 
zuzuschreibenden  Grabsteine  ihres  fürstlichen  Stifters  die  Gewissheit  über 
die  Ursprünglichkeit  der  beschriebenen  Anordnung. 

Diese  war  so  harmonisch  und  zweckmässig,  dass  sie  das  Vorbild  für 
die  anderen  Kirchen  der  Stadt  wurde.  Die  zu  St.  Katharina,  St.  An- 
dreas, St.  Martin  und  wahrscheinlich  auch  die  vielfach  veränderte 
St.  Galluskirche  waren,  wie  die  inneren  Theile  ungeachtet  der  auch  hier 
später  eingetretenen  Erhöhung  der  Seitenschiffe^)  zeigen,  wahre  Copien  des 
Doms  in  etwas  verkleinertem  Maassstabe.  Das  kleinste  endlich  der  aus  der 
Filiation  des  Doms  hervorgegangenen  Gebäude,  aber  zugleich  das  merkwür- 
digste, ist  die  Dorfkirche  zu  Mel veröde,  wahrscheinlich  bald  nach  1178 
erbaut,  wo  der  damals  dort  bestehende  Hof  in  das  Eigenthum  des  Aegidien- 
klosters  zu  Braunschweig  überging.  Es  ist  eine  kleine  gewölbte  Pfeiler- 
basilika nach  dem  Muster  des  Doms,  nur  mit  denModificationeu,  welche  der 
geringe  Maassstab  des  kapellenartigen  Gebäudes  erforderte.  Der  Thurm 
auf  der  Westseite  nimmt  daher  die  ganze  Breite  ein,  ruht  auf  den  Mauern 
und  ostwärts  auf  zwei  Pfeilern,  und  ist  mit  einem  einfachen  Satteldache  be- 
deckt. Das  Langhaus  ist  dreischiffig,  aber  nur  aus  zwei  Abtheilungen  be- 
stehend, und,  da  niedrige  Seitenschiffe  bei  der  geringen  Höhe  nicht  wohl 
auszuführen  waren,  mit  gleichhohen  Schiffen.      Das  Kreuzschiff'  fehlt,  der 


^)  Auch  bei  der  Martiuikirche  ist  dies  vollständig  nachzuweisen,  und  es  ist  irrig, 
wenn  Kallenbach  (Chronologie  Taf.  15)  sie  als  einen  ursprünglich  mit  gleichhoheu 
Schiffen  angelegten  Bau  darstellt.  Uebrigens  ist  keineswegs  gewiss,  dass  alle  diese 
Kirchen  unmittelbar  nach  dem  Dome  gebaut  sind,  es  scheint  vielmehr,  dass  man  dies 
Vorbild  hier  lange  als  maassgebend  beibehalten  hat,  wodurch  sich  dann  erklärt,  dass 
die  Einzelheiten  manchmal  einen  späteren  Charakter  haben. 


Dorfkirche  zu  Melverode. 


237 


Chor  besteht  wie  am  Dome  aus  einer  einfachen  Vorlage  mit  einer  halbkreisför- 
migen Concha,  während  sich  am  Ende  der  Seitenschiife  ähnliche  kleinere 
Nischen  befinden,  die  aber  nicht  bis  zum  Boden  herabgehen.  Sehr  merk- 
würdig ist  nun  die  Ueberwölbung,  weil  an  ihr  deutlicher  als  bei  den  niedrigen 
Seitenschiffen  jener  grösseren  Kirchen  erkennbar  ist,  dass  die  Meister  dieser 
Schule  noch  kein  selbstständiges  Kreuzgewölbe,  sondern  nur  die  Durchschnei- 
dung zweier  Tonnengewölbe  im  Auge  hatten.      Die  Transversalgewölbe  des 

Fig.  G9. 


Melverodü. 

Mittelschiffes  gehen  nämlich  (Fig.  70)  ununterbrochen  bis  zu  den  Seitenwänden 
fort  und  werden  in  dem  offenen  Räume  der  schmalen  Seitenschiffe,  wo  der 
Kämpfer  fehlt,  durch  kleine  longitudinale  Tonnengewölbe,  die  von  den  Pfei- 
lern zu  den  Aussenmauern  herüber  gespannt  sind,  gestützt  und  durchschnit- 
ten, welche,  da  die  Breite  des  Seitenschiffes  bedeutend  geringer  ist  als  der 
Pfeilerabstand,  spitzbogig  werden  mussten,  um  die  Höhe  des  Transversalge- 
wölbes zu  erhalten,  ebendaher  aber  auch  einander  nicht  berühren,  und  mit- 
hin keine  vollständigen  Diagonalen  bilden,  sondern  nur  auf  beiden  Seiten 
mit  etwas  von  einander  entfernten  Spitzen  in  das  Gewölbe   einschneiden^). 


^)  Kallenbach  (Chronologie  Taf.  IV)    giebt    den  Grundriss    \invollständig    und    mit 
Fortlassung  der  Gewölbe  und  inneren  Pfeiler,  die  er  wahrscheinlich,    da  er  ohne  allen 


238 


Gewölbebauten  in  Sachsen. 


Auch   die    Wölbung   der  Vorlage    des  Chors   ist  kein  vollständiges   Kreuz- 
gewölbe. 

Etwas  entferntere  Nachbildungen  der  Wölbung  des  Braunschweiger 
Domes  zeigen  die  schon  erwähnten  Klosterkirchen  zu  Gandersheim  und 
Wunstorf  1),  von  denen  jene  im  Jahre  1170  abgebrannt  war.  In  beiden 
erhielten  die  viereckigen  Pfeiler  des  älteren  Baues  Vorlagen  zur  Stütze  des 
Gewölbes,  das  sich  aber,  da  hier  zwischen  den  Pfeilern  je  zwei  Säuleu  stan- 
den, ganz  ungewöhnlicher  Weise  über   drei  Arcaden   erstreckt.      Auch  die 

Fig.    70. 


Augustinerkirche  zu  Hein  in  gen  unfern  Hildesheim  2)  hat  quadrate  Gewölbe 
ohne  Quergurten,  getragen  von  kreuzförmigen  Pfeilern,  zwischen  denen  in 
den  Arcaden  je  eine  Säule   steht.      Die  Klosterkirche  auf  dem  Franken- 


historischen Grund  das  Datum  1040  —  1050  angiebt,  für  einen  späteren  Zusatz  hält. 
Das  Gebäude  ist  indessen  augenscheinlich  ganz  aus  derselben  Zeit  und  nach  allen 
Zeichen  nicht  eher  als  gegen  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  entstanden.  Der  bei- 
gefügte Durchschnitt  zeigt  eine  beachtenswerthe  Eigenthümlichkeit,  welche  sich  indessen 
auch  an  anderen  kleineren  Kirchen  (namentlich  in  Westphalen)  findet.  Die  Nischen 
am  Schlüsse  der  Seitenschiffe  dienten  nämlich  nur  dazu,  den  unteren  Theil  der  Mauern 
als  Altartisch  brauchbar  zu  machen,  und  gewährten  also  eine  Raumersparniss.  Dass 
die  Stufen,  welche  auf  den  erhöhten  Chor  führen,  nur  an  den  Seiten  angebracht  sind, 
und  der  mittlere  Theil  gegen  das  Langhaus  vortritt,  hatte  wahrscheinlich  einen  ähn- 
lichen Zweck,  etwa  behufs  leichterer  Austheilung  der  Hostie  an  die  Communicanten. 

^)  Baudenkmale  Niedersachsens,  Heft  VI. 

2)  Desgl.  Heft  VHI. 


Kirchen  zu  Goslar.  239 

berge ^)  und  die  Marktkirche  St.  Cosmae  und  Damiani  in  Goslar 
schliessen  sich  noch  näher  an  die  braunschweigischen  Kirchen  an,  doch  hat 
die  Wölbung  neben  einfachen  Diagonalgräten  hier  schon  Quergurten,  welche 
die  Zuspitzung  zeigen  -).  In  reicherer  Ausbildung  zeigt  sich  dasselbe  System 
an  der  Kirche  des  Klosters  Neu  werk  daselbst.  Auch  hier  ruht  das  Ge- 
wölbe auf  viereckigen,  von  Ecksäulen  eingefassten  Pfeilern,  allein  es  hat 
schon  durchweg  Quer-  und  DiagonalriiDpen,  erstere  wiederum  spitz,  letztere 
rundbogig.  Diese  Gurten  und  Rippen  werden  aber  von  einer  dem  Pfeiler 
vorgelegten  starken  Halbsäulengruppe  getragen,  welche  zum  Theil  höchst 
phantastisch  gebildet  ist.  Die  Anordnung  der  Fenster  ist  noch  dieselbe  wie 
am  Dome  zu  Braunschweig,  auch  ist  im  Innern  noch  wie  dort  das  bei  der 
Anlage  von  Gurtträgern  nicht  ganz  angemessene,  über  den  Bögen  fortlau- 
fende Gesims  aus  dem  älteren  Style  beibehalten.  Das  Aeussere  der  Chor- 
nische ist  ungewöhnlich  reich,  in  zwei  Stockwerke  und  jedes  wieder  in  fünf 
Arcaden  getheilt,  das  untere  mit  Lisenen  und  Halbsäulen,  das  obere,  die 
Fenster  enthaltende  mit  freistehenden,  kannelirten  oder  diamantirten  Säu- 
lenstäm  men  und  üppigem  Blattwerk  der  Kapitale,  beide  mit  eleganten  Rund- 
bogenfriesen und  kräftigen,  nicht  bloss  schachbrettförmig,  sondern  auch  in 
Strickgewinden  und  mit  anderen  Ornamenten  gezierten  Gesimsen-^).  Die  Kirche 
soll  den  historischen  Nachrichten  zufolge  in  den  Jahren  1176  bis  1186  er- 
baut sein;  die  Ausschmückung  des  Chores,  vielleicht  auch  die  der  Gewölb- 
träger, wird  indessen  erst  in  den  Anfang  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
fallen^). 

Im  Vergleich  mit  den  grossen   rheinischen  Domen   haben   diese,   noch 
überwiegend  rundbogigen  Gewölbebauten  ^)  massige  Verhältnisse,  selbst  der 


^)  Sie  wird  1108  als  Pfarrkirche  erwähnt,  aber  erst  1225  dem  Kloster  überwiesen. 
Der  Chor  ist  frühgothisch  und  mag  aus  der  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  her- 
stammen ,  die  Zeit  der  Erbauung  des  Schiffes  der  Kirche  ist  nicht  bekannt.  —  Ab- 
bildungen der  Kirchen  zu  Goslar  in  Mit  ho  f  Archiv  für  Niedersachsens  Kunstgeschichte 
3.  Abth.  1862. 

2)  An   der  Marktkirche  finden  sich  Halbkreisgurten  noch  unter  der  Vierung.'     fg 

3)  Sehr  ähnlich  ist  die  Chornisclie  der  Kirche  zu  Hamersleben. 

■*)  Es  ist  bemerkenswerth,  dass  sich  hier  eine  Inschrift  zum  Lobe  des  Steinmetzen 
findet.  Auf  der  Südseite  des  Mittelschiffes  ist  nämlich  am  Zwickel  der  ersten  Arcade 
das  Relief  eines  Engels  angebracht,  der  eine  Schriftrolle  hält  mit  den  Worten:  Miri 
facta  vide  Laudando,  (sie  —  sollte  heissen  laudanda)  viri  lapicide.  An  der  Console, 
auf  der  der  Engel  steht,  list  man  den  Namen  Wilhelmus.  Vgl.  Mithof  a.  a.  0.  S.  22. 
—  Auf  dem  aus  dem  15.  Jahrhundert  stammenden  Denkmal  der  Gründer,  des  Volk- 
mar  von  Wildenstein  und  seiner  Ehefrau,  ist  angegeben,  dass  sie  circa  annos  MCC.  ge- 
blüht hätten.   Die  Kirche  war  übrigens,  wie  man  an  mehreren  Spuren  sieht,  ganz  bemalt. 

5)  Zu  den  früheren  Gewölbebauten  in  Sachsen  möchte  vielleicht  die  St.  Ulrichs- 
kirche zu  Sangerhausen  gehören,  deren  Stiftungszeit  (1083)  ohne  Zweifel  nicht  (wie 
bei  Puttrich  Serie  Eisleben  geschieht)    auf  den  jetzigen  Bau    und    dessen  Wölbung  zu 


240  Sachsen. 

Dom  zu  Braunschweig  übertrifft  an  Mittelschiffbreite  und  Gewölbhöhe  die 
Maasse  der  Kirche  von  Paulinzelle  und  der  Michaeliskirche  in  Hildesheim 
nur  um  Weniges.  Noch  mehr  aber  entbehren  sie  des  Schmuckes  und  sind 
schlichter  und  einfacher,  als  selbst  die  früheren  Kirchen  von  Hecklingen 
und  Hamersleben.  Es  scheint,  dass  man  beim  Fortfallen  der  grossen  Wür- 
felkapitäle  keine  andere,  für  plastische  Ornamentation  geeignete  und  dem 
Wölbungssysteme  entsprechende  Stelle  fand,  oder  dass  man  Aufmerksamkeit 
und  Geldmittel  auf  die  neue  constructive  Aufgabe  verwendete  und  ihr  das 
Decorative  opferte.  Jedenfalls  bestanden  in  dieser  Zeit  hier  zwei  Systeme 
nebeneinander,  von  denen  das  eine  die  alte,  minder  dauerhafte  Structur  mit 
reichem  Schmucke,  das  andere  den  Gewölbebau  mit  grösserer  Einfachheit 
verband.  Indessen  währte  dies  nicht  lange.  Die  Neigung  zu  reicher  Orna- 
mentation war  ebensowenig  zurückzudrängen,  wie  die  nach  der  schützenden 
Wölbung,  und  man  suchte  bald  beides  zu  verbinden.  Ein  Beispiel  solchen 
Versuchs  giebt  schon  das  ebengenannte  Kloster  Neuwerk,  wo  der  Baumeister 
sogar  auf  den  Einfall  kam,  die  Gewölbträger  selbst  ornamentistisch  zu  be- 
handeln, indem  er  die  grosse  vordere  Halbsäule  vom  Pfeiler  abgebogen  und 
so  einen  schlangenartigen  Ring  tragend  erscheinen  lässt.  Er  war  also  noch 
ganz  im  Unklaren,  welche  Glieder  des  Gewölbebaues  für  die  Ornamentation 
geeignet  seien.  In  anderen  Fällen  blieb  man  von  solchen  Verirrungen  frei, 
indem  man  soviel  wie  möglich  die  Pfeilerform  des  älteren  Styls  beibehielt, 
den  Schmuck  nur  an  Kapitalen,  Deckplatten,  Gesimsen  anbrachte,  und  die 
grosseste  Sorgfalt  auf  die  Harmonie  der  Verhältnisse  und  die  Sauberkeit 
der  Ausführung  wandte.  Ein  glänzendes  Beispiel  dieser  Verbindung  roma- 
nischer Details  mit  der  Wölbung  geben  die  Ueberreste  der  Klosterkirche 
von  Conradsburg  bei Ermsleben ^),  wahrscheinlich  schon  vom  Anfange  des 
dreizehnten  Jahrhunderts. 

Ebenso  wie  das  Innere  begann  man  nun  auch  dasAeussere,  das  früher 
bei  den  sächsischen  Kirchen  sehr  einfach  gehalten  war,  reicher  als  bisher 
auszuschmücken.  Die  Stelle,  welche  sich  am  Meisten  dazu  eignete,  war  die 
Chornische,  welche  man  durch  Erhöhung,  durch  mannigfaltige  Gesimse, 
Nischen  und   Säulenstellungen,   durch  Abtheilungen  in   mehrere  scheinbare 


beziehen  ist.  Die  kreuzförmigen  starken  Pfeiler  sind,  wenn  mau  nach  den  Abbildungen 
bei  Puttrich  schliessen  darf  und  sich  nicht  bei  genauerer  Untersuchung  des  Mauer- 
verbandes eine  spätere  Verstärkung  ergeben  sollte,  ursprünglich  auf  Gewölbe  berechnet. 
Die  Ornamentation  lässt  eine  Entstehung  in  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahr- 
hunderts vermuthen,  der  auch  die  Wölbung  im  Mittelschiffe  nicht  widerspricht,  während 
die  des  Kreuzbaues  mit  Spitzbögen  und  Rippen  jünger  sein  muss.  —  Ebenfalls  zu 
den  früheren  Gewölbebauten,  vom  Ende  des  XII.  Jahrhunderts  gehört  die  Dorfkirche 
zu  Idensen  bei  Wunstorf.  Mittelalterl.  Baudenkm.  Niedersachsens  Heft  IV. 
1)  Puttrich,  Band  H,  Ablh.  2,  Serie  Eisleben. 


Steigender  Reichthum   der  Ornamentalion.  241 

Stockwerke  und  Wiederholung  des  Rundbogenfrieses  verzierte,  wie  dies  die 
schon  genannten  Kirchen  von  Neuwerk  in  Goslar,  zu  Königslutter,  zu 
Hamersleben  und  viele  andere  zeigen.  Gleichen  Fleiss  wandte  man  auf 
die  Portale,  deren  Säulenstämme  man  vermehrte  und  reich  verzierte,  indes- 
sen behielten  sie  in  diesen  Gegenden  meistens  niedrige  und  dadurch  weniger 
wirksame  Verhältnisse.  Eine  dritte  Stelle,  das  Aeussere  bedeutsamer  zu 
machen,  bildeten  die  Thürme,  denen  man  durch  grössere,  in  den  verschie- 
denen Stockwerken  wechselnd  gestellte,  durch  eine  oder  mehrere  Säulen 
getheilte  Oeffnungen  oder  blinde  Arcaden,  und  durch  die  Wiederholung  ver- 
schiedenartig geformter  Rundbogenfriese  und  Lisenen  eine  reichere  Gestalt 
zu  verleihen  wusste. 

Hierauf  beschränken  sich  aber  die  Veränderungen  der  Architektur,  die 
wir  bis  zum  Jahre  1200  und  über  dasselbe  hinaus  in  diesen  Gegenden  wahr- 
nehmen. 


In  den  Rheinlanden  begann  dagegen  schon  mit  dem  Anfange  dieser 
Epoche  die  Ausbildung  des  deutschen  Uebergangsstyls  ^).  Die  Rheinländer 
selbst  bilden  gewissermaassen  einen  Uebergang  von  den  westlichen,  roma- 
nisch gewordenen  Franken  zu  den  rein  deutschen  Stämmen  der  östlichen 
Provinzen.  Mit  jenen  haben  sie  das  leichtere  Blut,  den  praktischen,  mehr 
auf  äusserliche  Erfolge  gerichteten  Sinn,  mit  diesen  deutsche  Gemüthlichkeit 
und  Treue,  aber  auch  deutschen  Individualismus  gemein.  Auch  die  archi- 
tektonischen Bestrebungen  nahmen  daher  bei  ihnen  eine  gewissermaassen 
mittlere  Richtung.  Während  die  sächsischen  Baumeister  sich  mit  der 
schlichten  und  anspruchslosen  Basilikenform  begnügten  und  allen  ihren 
Fleiss  auf  die  Herstellung  harmonischer  Verhältnisse  und  auf  die  reiche 
und  würdige  Ausführung  der  Details  besonders  des  Inneren  richteten,  waren 
die  rheinischen  schon  mit  mannigfacher  Anwendung  der  Wölbung  und  mit 
der  Erfindung  grossartiger  neuer  Gesammtanordnungen  beschäftigt,  neben 
denen  die  Details  als  Nebensache  erschienen  und  minder  sorgfältig  behandelt 
wurden.  Aber  sie  hatten  dabei  nicht  wie  die  französischen  Meister  vor- 
zugsweise die  Constructiou  und  Haltbarkeit,  sondern  mehr  die  malerische 
Wirkung  im  Auge;  sie  verfolgten  auch  nicht  den  constructiven  Gedanken 


*)  Im  Allgemeinen  sind  hier  als  Quellen  nur  die  schon  früher  genannten  Werke 
von  Boisseree,  Denkmale  der  Baukunst  am  Niederrhein,  Schmidt,  Baudenkmale 
der  röm.  Periode  und  des  Mittelalters  in  Trier,  v.  Lassaulx,  architektonisch-histo- 
rische Bemerkungen  über  die  Bauwerke  am  Rhein  in  Klein's  Rheinreise  und  endlich 
Kugler's  fleissig  gesammehe  und  lehrreiche  Reisenotizen,  in  deij  kleinen  Schriften 
11,  S.  183  ff.,  anzuführen.  Für  die  Kölnischen  Kirchen  vgl.^v.  Quast  in  den  Jahrb. 
der  rheinischen  Alterthumsfr.  Heft  X  u.  XIII.  —  Dr.  Franz  Bock,  Rheinlands  Bau- 
denkmale des  Mittelalters,  Cöln  u.  Neuss.  —  Derselbe,  das  monumentale  Rheinland. 
Sehnaase's  K^nstgesch.  2.  Anfl.  V.  16 


242  Rheinlande. 

mit  strenger  Consequenz  und  gemeinsamer  Arbeit,  ihre  Neigung  war  viel- 
mehr wie  die  der  sächsischen  Meister  eine  decorative,  nur  dass  sie  dieselbe 
mehr  im  Ganzen  und  am  Aeusseren,  als  durch  die  Präcision  und  Feinheit  des 
plastischen  Schmucks  im  Innern  befriedigten.  Diese  Richtung  war  ebenso- 
sehr durch  die  bisherige  Baugeschichte  als  durch  den  Nationalcharakter 
dieser  Gegenden  bedingt.  Sie  hatten  nicht  wie  die  französischen  Meister 
ein  durchaus  Neues  zu  schaffen,  sie  hatten  vielmehr  eine  architektonische 
Vergangenheit,  an  der  sie  mit  Vorliebe  hingen,  und  mussten  die  in  dieser 
gegebenen  Motive  zuerst  vollständiger  entwickeln,  ehe  sie  sich  Neuem  zu- 
wenden konnten.  Der  Gewölbebau,  von  dem  sie  ausgingen,  gewährte  keine 
Stellen,  welche  zu  sorgfältiger,  plastischer  Ausarbeitung  geeignet  waren;  an 
den  hochgelegenen  Kapitalen  würde  sie  verschwendet,  an  der  mit  mächtigen 
Pfeilern  verbundenen  Basis  unpassend  gewesen  sein.  Die  Rheinländer 
brauchten  grosse,  massenhafte  Gebäude,  welche  neben  ihren  Bergen  an  den 
Ufern  des  mächtigen  Stromes  noch  bedeutend  erschienen;  sie  waren  auf 
eine  Behandlung  angewiesen,  welche  auch  in  der  Ferne  wirkte,  sie  suchten 
das  Malerische  in  der  Architektur  und  hatten  weder  Beruf  noch  Geduld  zu 
der  langsamen  und  sauberen  Ausarbeitung  unscheinbarer  Einzelheiten.  Aber 
sie  waren  doch  zu  sehr  Deutsche,  um  ihre  individuelle  Neigung  und  das 
Wohlgefallen  an  der  Neuheit  des  Schmuckes  der  Consequenz  eines  durch 
gemeinsames  Streben  zu  erlangenden  Systems  zu  opfern.  Aus  allem  diesem 
entstanden  Gebäude,  welche  nicht  mehr  romanisch  waren,  aber  auch  keinem 
anderen  völlig  durchgebildeten  Style  angehörten,  welche  freilich  gemeinsame 
Grundzüge  und  stylistische  Eigenthümlichkeiten  enthalten,  aber  doch  auch 
vorzugsweise  durch  ihre  Mannigfaltigkeit  und  durch  bunten  wirksamen 
Schmuck  den  Betrachter  fesseln. 

In  Beziehung  auf  die  Anordnung  verfolgte  man  die  in  den  älteren  Ge- 
bäuden schon  gegebene  Richtung;  man  suchte  durch  Zusammenstellung  von 
Kuppeln,  Thürmen  und  Conchen  grossartige  Gruppen  der  äusseren  Gestal- 
tung zu  erlangen,  und  den  Gedanken  eines  Centralbaues,  der  am  Schlüsse 
der  vorigen  Epoche  in  der  kleinen  Kirche  von  Schwarzrheindorf  schon  so 
bestimmt  ausgesprochen  war,  noch  weiter  und  im  Anschlüsse  an  das  bei 
grösseren  Kirchen  unentbehrliche  Langhaus  auszubilden.  Man  erreichte 
dies  hauptsächlich  durch  mannigfaltige  constructive  und  decorative  Verwen- 
dung von  Bögen  und  Wölbungen.  Da  man  in  den  älteren  Bauten  die  Concha 
als  eine  wirksame,  entgegenstrebende  Stütze  für  die  Kuppel  auf  der  Vierung 
des  Kreuzes  kennen  gelernt  hatte,  fiel  man  darauf,  nun  auch  durch  nach  dem 
Inneren  zu  geöffnete  Nischen,  welche  man  vorzugsweise  in  der  Concha,  dann 
aber  auch  wohl  an  den  geraden  Wänden  anbrachte,  eine  verstärkte  Trage- 
kraft mit  Ersparung  der  Mauermasse  und  mit  anmuthiger  Belebung  der 
inneren  Wände  zu  erlangen.    Beides  erreichte  man  demnächst  im  Aeusseren, 


Entstehung  des  Uebergangsstyls. 


243 


Fi?.    71. 


in  noch  höherem  Grade  durch  die  offenen  Gallerien  unter  dem  Dache,  auf 
deren  Bedeutung  ich  schon  früher  aufmerksam  gemacht  habe,  die  aber  erst 
in  dieser  Epoche  immer  mehr  in  allgemeinen  Gebrauch  kamen  und  durch 
den  AYechsel  von  Säulen  und  beschatteten  Hallen  die  beliebteste  Zierde  des 
Aeusseren  bildeten.  Neben  diesem  bedeutsamen  Theile  erschienen  dann  bald 
die  einfachen  Rundbogenfriese  nicht  mehr  genügend;  man  begann  sie  zu 
häufen,  stärker  und  facetteuartig  zu  profiliren,  in  breiteren  Zwischenräumen 
aufzustellen,  im  Inneren  der  Bögen  durch  Blumen  und  andere  Ornamente  zu 
schmücken.  Die  Gesimse  wurden  reicher  und  kräftiger  gebildet  und  mit 
Verzierungen  bedeckt,  welche  durch  den  Wechsel  von  hervorragenden  und 
vertieften,  lichten  und  beschatteten  Stelleu  mit  der  Wirkung  der  Zwerg- 
gallerie  harmonirten.  Ueberdies  brachte  man  unter  dieser  Gallerie  einen 
zwar  flachen,  aber  aus  dunkeln  Schieferplatten  gebildeten  Fries  au,  bei  dem 
die  Farbe  dieser  Platten  im  Gegensatze  zu  ihren 
hervortretenden  Einrahmungen  wieder  eine  ähnliche 
Wiederkehr  dunkler  Stelleu  gab,  wie  die  Gallerie 
selbst.  Bald  erschien  auch  der  grössere  Rundbogen, 
wie  er  an  Blendarcaden,  Fenstern  und  Portalen  vor- 
kam, selbst  bei  reicher  concentrischer  Gliederung  zu 
einfach;  man  umgab  ihn  an  seiner  inneren  Seite 
mit  einem  Kranze  kleinerer  Bögen,  gleichsam  mit 
einem  in  die  Rundung  verlegten  Bogeufriese.  Diese 
schon  an  den  Blendarcaden  derThürme  von  Kloster 
Laach  vorkommende  Form  führte  dann  später  dahin, 
den  Bogen  ganz  zu  brechen,  ihn  kleeblattförmig  zu . 
gestalten   oder  in  mehrere,   gewöhnlich   fünf   oder 

sieben,  kleinere  gleiche  Bögen  aufzulösen,  wodurch  im  Anfange  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  die  dem  rheinischen  Style  eigenthümlichen,  allerdings 
nicht  sehr  schönen  Fächerfenster  entstanden,  ü eberall  zeigt  sich  das 
Bestreben,  die  vollen,  einfachen  Linien  des  romanischen  Styls  zu  brechen, 
und  in  mehrere  gesonderte  Theile  aufzulösen.  Diese  Neigung  brachte  denn 
endlich  auch  den  Spitzbogen  in  Aufnahme.  Wie  überall  erscheint  er  auch 
hier  zuerst  an  den  Gewölben,  als  ein  natürliches,  fast  sich  von  selbst  er- 
gebendes Mittel,  den  Schwierigkeiten  auszuweichen,  welche  das  aus  reinen 
Kreisbögen  construirte  Kreuzgewölbe  verursachte.  Dann  finden  wir  ihn  an 
den  Arcaden  des  Schiffes,  während  Fenster  und  Portale  noch  rundbogig 
blieben;  auch  hier  also  nur  in  der  Meinung  von  seiner  grösseren  Wider- 
standskraft. Endlich  begann  man  aber  auch  an  seiner  Form  Gefallen  zu 
finden,  ihn  gleichsam  zur  Abwechselung  an  den  Blendarcaden  anzubringen. 
Offenbar  sagte  er  dem  jetzt  herrschenden  Geschmacke  zu,  weil  auch  er  statt 
des  Kreisbogens  eine  gebrochene  Linie  gab. 


St.  Quirin,  Neuss. 


244 


Rheinlande. 


Fig.  72. 


Von  einem  Streben  nach  leichterer  Construction  finden  wir  wenig- 
Spuren;  die  Gewölbfelder  behielten  die  quadrate  Form,  die  Mauern  eine 
solche  Stärke,  dass  sie  der  Strebepfeiler  entbehren  konnten.    Nur  darin  mag^ 

eine  Rücksicht  auf  Sicherung  der  Gewölbe  zu 
erkennen  sein,  dass  man  jetzt  häufig  Emporen 
über  den  Seitenschiffen  anbrachte,  die  früher 
nur  in  sehr  seltenen  Fällen  angewendet  waren. 
Dagegen  kommen  Triforien  nur  später  und  auch 
da  nur  blind  vor.  Im  Uebrigen  ist  das  Innere 
einfach  gehalten  und  ohne  bedeutende  plastische 
Ausbildung.  Die  Chornische  ist  ohne  Umgang 
und  nur  durch  Nischen,  nicht  durch  einen  Kranz 
freistehender  Säulen  belebt.  Die  Pfeiler  sind 
meist  viereckig  und  ohne  Gliederung,  nur  unter 
den  Gewölben  mit  einer  angelegten  Halbsäule 
besetzt,  die  Bögen  eckig  und  schmucklos  pro- 
filirt.  Der  einzige,  aber  auch  sehr  beliebte 
Schmuck  besteht  in  kleinen,  meist  monolithen 
Säulen  aus  einheimischem  dunkelem  Steine, 
welche  an  Mauernischen,  Emporen  und  Fenstern 
angebracht  sind  und  durch  ihre  abweichende 
Farbe  malerisch  wirken,  aber  in  keinem  organischen  Zu- 
sammenhange mit  dem  Ganzen  stehen,  und,  zumal  man  sie 
bald  aus  Wohlgefallen  an  ihrer  farbigen  Erscheinung  mög- 
lichst häufte,  einen  etwas  unruhigen  Eindruck  geben.  Die 
Kapitale  erhalten  dann,  da  die  Würfelform  diesen  schlanken 
Rundstämmen  weniger  entsprach,  Kelchform  mit  derb  ge- 
arbeitetem knospenförmigem  Blattwerk.  Die  einfache,  kräf- 
tige attische  Basis  erschien  dem  jetzigen  Geschmacke  zu 
schwer,  man  begnügte  sich  nicht  mehr  mit  dem  Eckblatt, 
sondern  gab  häufig  dem  Wulste  eine  gedrückte,  über  das 
Fussgestell  ausladende  Gestalt,  der  Kehle  geringeren  Umfang 
oder  grössere  Vertiefung,  setzte  also  auch  hier  an  die  Stelle 
der  vollen  Kreislinie  andere  mehr  bedingte,  weichere  Curven. 
Aus  der  Verwendung  der  monolithen  Rundstämme  und  aus 
der  Neigung  zu  schlankeren  und  zierlichen  Formen  ergab 
sich  dann  von  selbst  die  Erfindung  der  Ringsäulen,  die 
aus  ähnlichen  Ursachen  auch  in  Frankreich  im  frühgothischen 
Style  aufgekommen  waren.  Bildete  man  nämlich  diese  Schäfte  sehr  schlank, 
oder  wollte  man,  um  den  Anschein  eines  hoch  hinaufgehenden  Stammes  zu 
erlangen,  mehrere  übereinander  stellen,  so  ergab  sich,  theilg  um  sie  zu  ver- 


Kapelle  zu  Kobem. 


Fig.  73. 


Kirche    von  Ka 
mersdorf. 


Entstehung  des  Uebergangsstyls.  245 

binden  oder  an  bedenklichen  Stellen  zu  sichern,  theils  um  das  Auge  zu  be- 
ruhigen, die  Nothwendigkeit,  sie  auf  halber  Höhe  oder  auf  mehreren  Stellen 
mit  Ringen  zu  umgeben,  um  sie  an  der  Wand  zu  befestigen  oder  zu  kräftigen. 
Diese  Ringe  wurden  dann  oben  und  unten  gleich,  als  einfacher  Wulst  oder 
nach  dem  Vorbilde  der  attischen  Basis,  gebildet,  und  Hessen  den  Gedanken 
zu,  dass  sie  gleichsam  zusammengewachsene  Kapitale  und  Basen  aufeinander 
gestellter  Säulen  seien.  Die  Vorliebe  für  mannigfache  Abtheilungen  brachte 
es  dahin,  dass  man  später  auch  Bögen  der  Blendarcaden  oder  Gewölbrippen 
durch  solche  Ringe  theilte. 

Der  Neigung  zu  gebrochenen  Linien  musste  dann  auch  die  Polygon- 
gestalt  im  Grundrisse  einzelner  Theile  zusagen.  An  Thürmen  finden  wir 
sie  schon  im  Kloster  Laach,  an  Kuppeln  wurde  man  leicht  auf  das  Achteck 
geführt,  bald  aber  begann  man  auch  die  Concha  des  Chores  in  gleicher 
Weise  zu  theilen.  Besonders  seit  dem  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
wurden  solche  polygonen  Anlagen  häufiger,  bei  denen  man  dann  an  Thürmen 
xmd  Kuppeln  und  zuweilen  auch  an  Conchen  jeder  Polygonseite  einen  eigenen 
spitzen  Giebel  gab,  dem  sich  das  Dach  anfügte.  Die  Anlage  polygoner 
Conchen  führte  aber  auch  zu  tiefer  einwirkenden  Neuerungen.  Sie  konnten 
nämlich  nicht  füglich  mit  einer  einfachen  Halbkuppel,  wie  bisher  bei  halb- 
kreisförmigen Nischen,  gedeckt  werden,  erforderten  vielmehr  ein  gebrochenes, 
aus  einzelnen  Feldern  zusammengesetztes  und  deshalb  durch  Rippen  zu 
verstärkendes  Gewölbe,  und  endlich,  um  diesen  Rippen  Widerstand  zu  geben, 
eine  Verstärkung  der  Wandecken  durch  Strebepfeiler.  So  kamen  denn 
hier  diese  wichtigen  Bestandtheile  des  gothischen  Styls  in  Folge  der  Polygon- 
anlage in  Aufnahme. 

Während  diese  Gebäude  im  Ganzen  genommen  durch  Anordnung  und 
Reichthum  des  Schmuckes  anziehen,  zeugt  die  Ausführung  im  Einzelnen 
keineswegs  von  dem  feinen  Stylgefühl,  welches  die  sächsischen  Bauten  aus- 
zeichnet. Die  Behandlung  ist  meist  überwiegend  derb  und  auf  die  Ferne 
berechnet,  die  Ausstattung  oft  überladen  oder  spröde,  besonders  am  Aeusseren, 
namentlich  an  Chornischen  und  Fagaden  durch  allzugrosse  Häufung  von  ver- 
schieden gestalteten  Bögen  mit  wunderlichen  Brechungen,  Ringen,  Ver- 
kröpfungen  bunt  und  unruhig.  Indessen  fallen  diese  Mängel  mehr  in  die 
Spätzeit,  während  die  älteren  Gebäude  ungeachtet  ihrer  Richtung  auf 
malerischen  Effect  die  ruhige  Würde  des  romanischen  Styls  in  vollem  Maasse 
behalten. 

Die  Feststellung  des  Chronologischen  dieser  zahlreichen  und  durch  ihre 
Variationen  anziehenden  rheinischen  Bauten  wird  dadurch  erschwert,  dass 
gerade  dieser  Styl  wegen  seiner  decorativen  Richtung  sehr  geneigt  und  ge- 
eignet war,  bestehenden  Mauern  neuen  Schmuck  anzufügen,   so   dass  sich 


246  Rheinlande. 

Aelteres  mit  Neuerem  mischt.     Indessen  haben   wir  doch  eine  hinlängliche- 
Zahl  von  vollständig  bekannten  Beispielen  für  seine  allmälige  Entwickelung, 

Im  Anfange  dieser  Epoche  finden  wir  auch  hier  Bauten,  welche  in 
strenger  Einfachheit  nur  die  Solidität  vollständiger  Ueberwölbung  ertreben.. 
So  die  noch  jetzt  erhaltene  Kirche  der  Prämonstratenser  Abtei  Knecht- 
steden  bei  Dormagen^).  Das  Kloster  war  1130  gestiftet,  der  Bau  der 
Kirche  soll  bereits  1138  begonnen  sein,  wurde  aber  jedenfalls  bis  zum  Ende 
des  Jahrhunderts  fortgeführt.  Dennoch  bildet  das  Ganze  eine  strenge  und 
einfache  Gewölbanlage,  nicht  unähnlich  der  von  St.  Mauritius  in  Köln  ob- 
gleich schon  etwas  besser  durchbildet,  (Band  IV,  S.  385).  Kräftige  Pfeiler, 
noch  allen  vier  Seiten  mit  ausladenden  Diensten,  tragen  abwechselnd  mit 
Säulen  die  vier  quadraten  Gewölbe  des  Mittelschiffs  und  die  auf  jeder  Seite 
in  doppelter  Anzahl  sie  begleitenden  Seitengewölbe;  daran  reiht  sich  ein 
weit  ausladendes  Kreuzschiff  mit  achteckigem  Thurme  auf  der  Vierung  und 
endlich  der  Chor,  ursprünglich  ohne  Zweifel  mit  halbkreisförmiger  Concha, 
die  aber  im  fünfzehnten  Jahrhundert  eine  Polygongestalt  erhalten  hat.  Der 
Haupteingang  befindet  sich  auf  der  "Südseite,  während  die  Westseite  noch 
ganz  in  der  Weise  der  vorigen  Epoche  tine  Chornische  bildet.  Alle  Bögen 
sind  halbkreisförmig,  alle  Fenster  schmucklos,  die  Oberlichter  paarweise 
unter  jedem  der  grossen  Gewölbe  zusammengestellt,  die  Säulen  mit  würfel- 
förmigem Kapitale  und  der  einfachen  Basis  mit  dem  Eckblatt.  Nur  die 
Kapitale  der  obern  Dienste  an  der  Vierung  und  die  am  Portale  zeigen  das 
freiere  Blattwerk,  wie  es  der  rheinische  Styl  am  Schlüsse  des  Jahrhunderts 
liebte. 

Vielleicht  hatte  indessen  die  strenge  Tendenz  des  Ordens,  dem  das 
Kloster  angehörte,  auf  die  einfache  Haltung  eingewirkt,  denn  fast  um  die- 
selbe Zeit  treten  an  anderen  Orten  einzelne  Züge  jener  decorativen  Tendenz, 
hervor.  So  finden  wir  an  der  Concha  und  den  Thürmen  der  St.  Gereons- 
kirche in  Köln,  welche  dem  älteren  Rundbau  und  dem  durch  Erzbischof 
Anno  im  elften  Jahrhundert  angelegten  Chore  in  den  Jahren  1151  bis  1156 
hinzugefügt  sind-),  in  einem  der  Stockwerke  die  Ausfüllung  des  Blendbogens 
durch  einen  Bogenkranz.  In  reinerem  Style,  selbst  mit, strenger  Form,  aber 
in  reichstem  Schmucke  und  schönsten  Verhältnissen,  ist  die  Concha  des 
Münsters  zu  Bonn  um  1166  ausgeführt-^),  welche  von  zwei  mächtigen,  pyra- 


1)  Vgl.  Beschreibung  und  Abbildungen  von  Franz  Bock  im  Organ  für  christliche 
Kunst.  1860.  S  241  und  267;  1861  S.  133  Vgl.  aber  auch  Lotz,  Kunsttopographie,. 
Band  I. 

^)  Dies  ist  durch  v.  0«ast  a.  a.  0.  Heft  X  festgestellt. 

3)  Die  Grabschrift  des  in  diesem  Jahre  verstorbenen  Propstes  Gerhard  erwähnt 
zwar  nur,  dass  er  die  Kirche  multis  aedificiis  et  luminibus  geschmückt  habe,  indessen 
berechtigt    die  Stylverschiedenheit    der    einzelnen  Theile    des  Münsters    gerade    diesen 


St.  Martin  und  St.  Apostel  zu  Köln.  247 

midalisch  verjüngten  Thürmen  eingeschlossen,  mit  den  kräftigen  aneinander 
gereiheten  halbkreisförmigen  Archivolten  ihrer  Fenster  und  dem  reich  ver- 
zierten Kranze  von  offenen  Arcaden  den  würdigsten  Eindruck  macht.  Gleich- 
zeitig kommen  aber  an  dem  Dome  zu  Trier  an  den  Theilen,  welche  vom 
Erzbischof  Hillinus  herrühren  (1152  —  1169),  schon  Ringsäulen  vor^); 
welche  dann  bald  in  allgemeinen  Gebrauch  kamen  und  ein  charakteristisches 
Element  des  decorativen  rheinischen  Styles  wurden. 

In  Köln  sind  um  diese  Zeit  vorzugsweise  die  Abteikirche  Gross  St. 
Martin  und  die  noch  grossartigere  St.  Apostelkirche  zu  nennen,  beide 
zugleich  die  ausgezeichnetesten  Beispiele  der  besonders  in  dieser  Stadt  aus- 
gebildeten Centralanlage  der  östlichen  Theile.  Die  Vorzüge  ähnlicher  An- 
lagen, wie  man  sie  in  römischen  und  karolingischen  Bauten  vor  Augen  hatte, 
waren  am  Rheine  nie  verkannt'^),  und  bereits  in  der  vorigen  Epoche  hatte 
man  an  St.  Marien  im  Kapitol  (Bd.  IV,  S.  387,  Fig.  112),  den  Versuch  ge- 
macht, sie  mit  der  Anlage  eines  Langhauses  in  der  Art  zu  verbinden,  dass 
man  die  Chornische  und  die  beiden  Kreuzarme  als  gleiche,  um  das  Gewölbe 
der  Vierung  gelagerte  Conchen,  also  gleichsam  als  Ausstrahlungen  aus  einem 
Centrum,  bildete.  Gerade  die  grossartigen  Verhältnisse  dieses  Gebäudes, 
namentlich  der  Umstand,  dass  jede  der  Conchen  im  Innern  einen  Umgang 
hatte  und  daher  Jm  Aeussern  oben  zurücktrat,  schwächten  indessen  die 
Wirkung  und  waren  vielleicht  die  Ursache,  dass  das  Beispiel  lange  ohne 
Nachahmung  blieb.  Wahrscheinlich  gab  das  kleine,  aber  reiche  und  mit 
künstlerischem  Luxus  gebaute  Monument  zu  Schwarzrheindorf  die  Veran- 
lassung, auf  diesen  Gedanken  zurückzukommen,  den  nun  nicht  gar  lange 
darauf  die  mit  dem  Neubau  des  Chores  jener  Stiftskirchen  zu  St.  Martin  und 
zu  St.  Aposteln  beauftragten  Meister  in  einer  vollendeteren,  den  neuen  An- 
forderungen mehr  entsprechenden  Weise  ausbildeten,  Sie  verzichteten  näm- 
lich auf  die  inneren  Umgänge  und  auf  die  breiten  Verhältnisse,  rückten 
daher  die  drei  Conchen  näher  zusammen,  errichteten  auf  der  Vierung  einen 
Thurm  oder  eine  Kuppel,  in  den  beiden  Ecken,  in  welchen  die  Conchen  zu- 
sammenstiessen,  oder  ausserdem  auch  noch  in  den  Ecken  zwischen  dem 
Langhause  und  den  Querhausconchen  schlanke,  in  achtseitiger  Gestalt  auf- 
steigende Thürmchen,  und  statteten  diese  so  energisch  betonte  Gruppe  mit 
gleichen  horizontalen  Abtheilungen  aus,  so  dass  die  Blendarcaden,  der  Platten- 
fries, die  Zwerggallerie  und  die  Gesimse  das  Ganze  und  seine  Theile  wie 


Theil  mit  jeuer  Notiz  in  Verbindung-  zu  bringen.  —  Vgl.  v.  Quast  a.  a.  0.  Heft  X> 
und  Kugler  kl.  Sehr.  II,  118.  —  E.  aiis'm  Weerth,  die  Münsterkirche  zu  Bonn,  in  der 
Festschrift  des  Bonner  Congresses  1868. 

^)  Abbildung  und  Beweise  des  Chronologischen  bei  Schmidt  a.  a.  0.  Lief.  2. 

2)  Vgl.  Bd.  IV,  S.  389,  Anm. 


248  Rheinische  Uebergangshauten. 

vielfache  Bänder  umschlingen  und  zusammenhalten.  Die  Wirkung  dieser 
eigenthümlichen  Anordnung  ist  höchst  malerisch  und  bedeutsam;  der  Gedanke 
einer  belebten  und  wohlgeregelten  Concentration  kann  kaum  glücklicher 
ausgesprochen  werden.  Wir  sehen  einen  lebensvollen,  reich  ausgebildeten 
Organismus,  in  welchem  mannigfache  selbstständige  Kräfte  in  harmonischem 
Einklänge  sich  um  das  sie  beherrschende  und  vereinende  Centrum  herum  be- 
wegen. Es  ist  ein  Anklang  an  das  Sonnensystem  mit  seinen  Planetenbahnen, 
an  eine  christliche  Weltordnung,  in  der  die  Völker  gesondert  und  doch  einig 
dem  Herren  dienen. 

In  beiden  Kirchen  rühren  die  Pfeiler  und  Wände  des  Langhauses  noch 
von  einem  älteren  Bau  her;  nun  aber  wurden  zunächst  die  östlichen  Theile 
in  rascher  Bauführung  vollendet,  worauf  dann  die  Beendigung  des  Mittel- 
schiffs, verbunden  mit  der  Umgestaltung,  welche  dessen  früher  nicht  be- 
absichtigte Ueberwölbung  hervorrief,  erfolgte.  Die  Apostelkirche  gehört 
wahrscheinlich  in  ihren  Osttheilen  noch  wesentlich  dem  letzten  Viertel  des 
12.  Jahrhunderts  an,  obgleich  ihre  Ueberwölbung  erst  im  Jahre  1219  durch 
einen  Laien  Namens  Albero  erfolgte  i).     Die  St.  Martinskirche  hatte  zwar 


*)  Lassaulx  (a.  a.  0.  S.  491)  und  Kugler  (kl.  Sehr.  II,  198)  nelimen  an,  dass 
die  ganze  heutige  Kirche,  und  also  auch  der  östliche  Theil,  nach  einem  Brande  von 
1199  erbaut  sei.  Jener  stützt  diese  Annahme  ausschliesslich  auf  die  Autorität  von 
Gelenius  (de  admir.  magn.  Col.  p.  295),  welcher  allerdings  nicht  bloss  dieselbe  An- 
sicht ausspricht,  sondern  auch  in  Beziehung  auf  jenen  Brand  sehr  bestimmt  sagt,  dass 
die  Kirche  durch  denselben  in  Asche  verwandelt  sei  (basilica  in  cineres  abiit).  Da 
Gelenius  (1645)  der  Bruder  eines  Canonicus  dieser  Kirche  war,  so  ist  höchst  glaublich, 
dass  er  diese  Nachricht  aus  einer  älteren  Aufzeichnung  genommen  hat;  allein  bekannt- 
lich sind  solche  Angaben  sehr  oft  übertrieben ,  und  diese  ist  es  gewiss  auch.  Denn 
augenscheinlich  sind  die  Pfeiler  des  Schiffes  und  die  unteren  Theile  des  Thurmes  und 
der  Mauern  (wie  auch  Kugler  und  Lassaulx  zugeben)  älter  als  jener  Brand;  dersell)e 
war  daher  nur  ein  partieller,  und  kann  ebensowohl  die  Conchen  wie  die  Pfeiler  des 
Langhauses  verschont  haben.  Freilich  theilt  Gelenius  an  einer  anderen  Stelle  eine  alle 
Nachricht  mit,  dass  das  Gewölbe  im  Jahre  1219  geschlossen  sei  (Testudo  ejus  ecclesiae 
absoluta  fuerat  anno  1219  per  Alberonem  laicum.  Vita  S.  Eugelberti  p.  114),  was  sich 
mit  der  Annahme  eines  nach  dem  Brande  von  1199  begonnenen  und  bis  1219  völlig 
beendigten  Baues  wohl  vereinigen  Hesse.  Allein  da  in  dieser  Nachricht  nur  von  dem 
Gewölbe  die  Rede  ist,  nicht  von  der  Beendigung  eines  grösseren  Baues,  so  spricht 
sie  mehr  dafür,  dass  durch  den  Brand  von  1199  nur  die  oberen  Theile  des  Gebäudes 
zerstört  waren,  deren  Herstellung  verbunden  mit  der  Ueberwölbung  nach  den  Drang- 
salen des  bis  1206  dauernden  Krieges  erst  bis  1219  bewirkt  werden  konnte.  Dass  dieser 
Herstellungsbau  kein  sehr  umfassender  gewesen,  findet  auch  darin  eine  Bestätigung, 
dass  Caesarius  von  Heisterbach,  der  von  Kölnischen  Angelegenheiten  sehr  wohl  unter- 
richtet ist,  in  seinen  um  1220  geschriebenen  Dialogen  (Lib.  VIII,  c  63)  desselben  nicht 
erwähnt,  obgleich  er  eine  diese  Kirche  betreffende  Anekdote  mittheilt,  welche  ihn  wohl 
dazu  veranlassen  konnte,  und  die  vielleicht  sogar  auf  die  Entstehung  der  Conchen 
Beziehung  hat.     Er  erzählt  nämlich,    ein    reicher  Kölner  Bürger  habe,    weil    zwar  die 


St.  Martin  und  St.  Apostel  zu  Köln.  249 

schon  1172  durch  _deii  Erzbischof  Philipp  von  Heinsberg  eine  Weihe  er- 
halten. Indessen  wurde  auch  noch  im  Anfange  des  folgenden  Jahrhunderts 
der  Bau  fortgesetzt,  wo  dann  die  gegenwärtige  reicheAusstattung  des  Innern 
ausgeführt  sein  wird  ^)  Die  Choranlage  geht  hier  unmittelbar  von  dem  Vor- 
bilde der  Kirche  von  Schwarzrheindorf  aus;  wie  diese  bezeichnet  sie  den 
Mittelpunkt  durch  einen  Thunn,  der  aber  durch  vier  auf  seinen  Ecken 
heraustretende  achteckige  Treppenthürmchen  und  durch  die  Wiederholung 
der  Zwerggallerie  reicher  und  bedeutsamer  belebt  ist,  wie  diese  hat  sie, 
vermöge  ihrer  schlanken,  sich  innig  an  den  Thurmbau  anschmiegenden  Conchen 
die  Concentration  als  eine  höchst  gedrängte,  mächtig  nach  oben  treibende 
aufgefasst.  Die  Apostelkirche  (Fig.  74)  weicht  von  diesem  Vorgange  und  zwar 
in  höchst  gelungener  Weise  ab.  Der  Meister  verzichtete  auf  die  allzu  ab- 
«tracte  Durchführung  des  Pyramidalgedankens.  Er  gab  den  schmalen, 
rechteckigen  Räumen,  welche  die  Conchen  mit  der  Vierung  des  Kreuzes  ver- 
binden, und  mithin  der  ganzen  Anlage  im  Verhältnisse  zu  den  Conchen  eine 
grössere  Tiefe-),  Hess  statt  des  Thurmes  eine  niedrigere   achteckige  Kuppel 


Sünde  schwer,  Werksteine  aber  noch  schwerer  seien,  eine  Schiffsladung^  von  solchen 
gekauft,  und  da  die  Apostel  seine  Richter  sein  würden,  neben  der  Apostelkirche  hin- 
legen lassen.  Als  ihn  nun  die  Stiftsherren  gefragt  hätten,  was  er  damit  bezwecke, 
habe  er  erwiedert,  die  Kirche  würde  doch  irgend  einmal  einer  Renovation  bedürfen 
(aliqua  dierum  renovanda  est  ecclesia),  da  würien  sie  ihnen  nützlich  sein.  Und  nun 
fügt  Caesarius  hinzu,  dass  nicht  lange  darauf,  als  die  Kirche  vergrössert  wurde, 
und  zwar,  wie  er  meine,  auf  Veranlassung  dieser  Steine,  dieselben  zum  Fun- 
dament benutzt  seien.  Die  Zeit,  wo  dieser  ohne  dringende  Veranlassung  begonnene 
A'ergrösserungsbau  stattgefunden,  nennt  er  zwar  nicht  ausdrücklich;  er  bezeichnet  aber 
jenen  Bürger  als  den  Vater  eines  damals  schon  verstorbenen  Abtes  von  Villers,  den 
er  selbst  noch  gekannt  hatte.  Er  weist  also  ungefähr  auf  die  von  mir  angenommene 
Zeit,  das  letzte  Viertel  des  zwölften  Jahrhunderts,  und  auf  einen  um  diese  Zeit  statt- 
gefundenen Bau  hin,  bei  dem  man  neuer  Fundamente  bedurfte ,  und  erwähnt  nicht? 
dass  dieser  nicht  gar  lauge  danach  niedergebrannt  und  durch  einen  anderen  ersetzt 
sei.  Dieser  Bau  kann  aber  nach  der  Beschaft'enheit  des  Gebäudes  kaum  ein  anderer 
gewesen  sein,  als  der  der  östlichen  Theile,  da  das  Langhaus  seiner  Anlage  nach  älter, 
das  westliche  Querschiff  aber  jünger  ist.  —  Eine  von  Eckertz  im  D.  Kunstblatt  1858, 
S.  263,  mitgetheilte  Notiz,  wonach  die  Grundsteinlegung  erst  1200  stattgefunden  haben 
und  ein  Subdiaconus  Vogelo  der  Baumeister  gewesen  sein  soll,  bezieht  sich  nicht  auf 
diese  sondern  —  wie  aus  dem  Inhalt  hervorgeht  —  auf  die  Cunibertskirche  (nach 
Widerruf  von  Eckertz,  Dioscuren  1859,  S.  115  f.  Der  frühere  Irrthum  beruhte  nur 
auf  falscher  Katalogisirung  des  Archivs). 

^)  Vgl.  Enueu  und  Eckertz,  tjuellen  z.  Gesch.  Kölns,  II.  S.  41.  Bock,  Rheinlands 
Baudenkm.  Serie  II.  Heft  2.  Zufolge  der  Urkunde  des  Abtes  Simon  (1206  —  1221) 
war  ein  gewisser  Rudengerus  Leiter  oder  doch  Wohlthäter  des  Baues. 

2)  In  der  Martinskirche  wie  in  Schwarzrheindorf  ist  die  Tiefe  jener  Räume  dem 
Radius  (und  mithin  der  Tiefe)  der  Nischen  gleich,  in  der  Apostelkirche  dagegen  be- 
deutend grösser,  jener  15',  diese  19'  7". 


250 


Rheinische  Ueberc-ancrsbautea. 


aufsteigen,  und  gewann  dadurch  Raum,  die  achteckigen  Thürrae,  welche  dort 
dem  Mittelthurme  anlagen,  frei  emporstreben  zu  lassen.  Den  unteren  Their 
dieser  Thürme,  der  dort  viereckig  heraustritt,  bildete  er  dagegen  rund,  so 
dass  der  Grundriss  dieser  östlichen  Anlage  aus  den  drei  durch  zwei  runde 
Thürme  verbundenen  Conchen,  mithin  aus  grösseren  und  kleineren  Kreis- 
theilen  besteht,  die  leicht  ineinander  übergleiten  und  die  Umkreisung  durch 
die  mannigfachen  Arcaden  noch  anschaulicher  machen.  Aus  diesem  unteren 
Theile  wachsen  zunächst  (Fig.  75)  die  Giebel  der  Vierung,  dann  die  achteckigen 
Thürmchen,  endlich  die  mächtige  Kuppel  empor,  diese  wiederum  von  Arcaden 
„.    .,  undvon  demPlattenfriese  umgeben,  so  dass 

Flg.    i4.  °  ' 

dasselbe  Motiv  der  Umkreisung  sich  hier 
noch  immer  wiederholt.  Die  Höhenvei'- 
hältnisse  dieser  aufstrebenden  Theile  sind 
ihrer  Stelle  gemäss  verschieden.  Die 
Eckthürmchen,  gleichsam  durch  den  Druck 
zweier  mächtiger  Conchen  auf  den  be- 
schränkten Raum  der  kreisförmigen  Basis 
hervorgetrieben,  streben  hoch  hinauf, 
während  die  Giebel,  von  denen  jeder  das 
Andrängen  nur  einer  der  drei  Conchen,, 
und  die  Kuppel,  welche  zwar  die  vereinte 
Einwirkung  aller,  aber  auf  den  breiten 
Raum  der  Vierung  darstellt,  nur  massige 
Höhe  erreichen.  Der  Gedanke  des  Um- 
kreisens  ist  daher  besser  durchgeführt,, 
das  Centrum  in  der  achteckigen  Kuppel 
kräftiger,  und  doch  die  auftreibende  Kraft 
durch  die  beiden  schlankeren  Thürme 
anschaulicher  ausgedrückt,  die  dann  ihrer- 
seits wieder  von  dem  starken  Thürme  über 
der  Westseite  überragt  werden.  Die  Ver- 
hältnisse sind  durchweg  so  glücklich  ge- 
wählt, dass  keine  andere  der  später  nach  ähnlichem  Plane  gebauten  Kirchen 
dieselbe  Wirkung  erreicht. 

Noch  vor  dem  Schlüsse  des  Jahrhunderts  waren  weitere  Neuerungen 
aufgekommen.  Die  Stelle,  an  der  wir  dies  mit  Bestimmtheit  aufzeigen  können, 
ist  wiederum  der  Trierer  Dom,  der  in  der  That  eine  fast  vollständige 
Architekturgeschichte  enthält,  und  zwar  in  seiner  östlichen  Chornische,  welche 
polygonförmig,  mit  fünf  Seiten  des  Zehnecks  geschlossen,  mit  einem  Rippen- 
gewölbe gedeckt,  und  mit  Strebepfeilern  besetzt  ist.  Die  Ueberwölbung 
erfolgte  erst  unter  dem  Erzbischof  Johann  (1190  bis  1212),  allein  die  Anlage 


HL 


I»»  r     I     I    'i  •  I     I L- 

Apostelkirche  zu  Köln. 


Dom  zu  Trier. 


251 


des  Chors  in  Polygongestalt  und  mit  Strebepfeilern  stammt  aus  der  Zeit  des 
bereits  erwähnten  Erzbischofs  Hillinus  (1152  bis  1169),  und  setzt  bereits 
das  Rippengewölbe  voraus.  Uebrigens  sind  die  Details  dieses  Bautheiles 
noch  im  Wesenllichen  romanisch,  die  Bögen  fast  sämmtlich  rund,  die  Säulen- 
füsse,  die  Deckplatten  der  Kapitale,  die  meisten  Gesimse  nach  dem  Vorbilde 

Fig.   75. 


Apostelkirche  zu  Köln. 


der  attischen  Basis  gestaltet.  Das  Aeussere  ist  einfacher  als  an  den  er- 
wähnten Kölnischen  Kirchen,  nur  durch  einen  Rundbogenfries  und  durch 
Gesimse,  die  auf  theils  einfachen,  theils  sogar  als  menschliche  Köpfe  ge- 
bildeten Consolen  ruhen,  in  mehrere  Stockwerke  getheilt,  oben  mit  der 
Gallerie  und  dem  Plattenfriese  verziert;  die  Fenster  sind  von  Würfelsäulen 
flankirt.     Aber  im  Innern  finden  sich  schon  Gewölbträger  auf  Consolen  und 


252  Rheinische  Uebergangsbauten. 

die  Kippen  des  spitzbogigen  Gewölbes  sind  nicht  mehr  in  der  früher  üblichen 
gedrückten  halbelliptischen  Form,  sondern  als  volle  Rundstäbe  gestaltet  und 
durch  Ringe  getheilt^). 

Von  nun  an  kommen  verschiedene  Elemente  des  gothischen  Styles 
häufiger,  aber  vereinzelt  und  gleichsam  zufällig,  ohne  Bewusstsein  ihres  Zu- 
sammenhanges vor.  Der  Spitzbogen  ist  noch  immer  sehr  selten.  Zwar 
öffnen  sich  die  Stadtthore  von  Köln,  die  um  1188  vollendet  wurden,  schon 
mit  einem  mächtigen  Bogen  dieser  Art,  der  hier,  wo  man  auf  den  Durch- 
gang hochbeladener  Wagen  oder  prunkender  Fahnen  rechnete,  besonders 
zweckmässig  erscheinen  musste-).  Aber  an  den  Gewölben  des  Domes  zu 
Mainz,  die  nach  dem  Brande  des  Jahres  1191  erneuert  wurden,  ist  er  noch 
nicht  durchweg,  sondern  nur  neben  überhöhten  Rundbögen  gebraucht-^),  und 
selbst  die  erst  seit  1212  errichteten  Klostergebäude  der  St.  Mathias - 
kirche  bei  Trier  haben  ihn  nur  an  den  Gewölben  des  Kreuzganges,  während 
die  der  Säle  und  alle  Lichtöffnungen  noch  rundbogig  sind*).  Einige  Male 
aber  findet  er  sich,  besonders  in  diesen  westlichen  Gegenden  der  Rheinlande, 
sehr  früh  an  völlig  rundbogigen  und  romanischen  Kirchen  angewendet.  So 
haben  in,  der  Kirche  zu  Roth  an  der  Our  unfern  der  Luxemburgischen 
Grenze-^),  wo  (wie  in  der  früher  beschriebenen  Kirche  zu  Echternach)  Säulen 
mit  Pfeilern  wechseln  und  diese  letzten  durch  einen  höheren  Rundbogen  ver- 
bunden sind,  die  darunter  gelegenen  Arcaden  einen  spitzen  Bogen.  Alle 
Details  sind  sehr  roh  aber  streng  romanisch,  so  dass  man  sieht,  wie  hier  in 
einer  Dorfkirche  sehr  Alterthümliches  mit  der  neu  aufkommenden  Form 
sich  mischte.  Auch  in  der  schönen  Kirche  zu  Merzig  an  der  Saar *^),  deren 
halbkreisförmige  Concha  reich  im  spätromanischen  Style  ornamentirt  und 
mit  einem  Rippengewölbe  gedeckt  ist,  hat  das  Langhaus,  bei  übrigens  völlig 
romanischen  Details,  auf  seinen  Säulen  spitze  Arcaden,  so  dass  hier  die  Ver- 
bindung der  Säulen  mit  dem  Spitzbogen,  die  nur  in  Sicilien  gewöhnlich  war, 
auch  ein  Mal  auf  deutschem  Boden  vorkommt. 

Häufiger  finden  sich  Strebepfeiler  und  zwar  zum  Theil  offenbar  ver- 
suchsweise und  ohne  volle  Kenntniss  ihrer  Erfordernisse  angewendet.  So 
an  der  oben  genannten  St.  Mathiaskirche  bei  Trier,  welche  noch  im 
zwölften  Jahrhundert  als  eine  mächtige  Pfeilerbasilika  errichtet  wurde.    Die 


1)  Vg-1.  überall  Schmidt,  Trierische  Baudenkmale,  Lief.  2,  Taf.  4,  5,  G. 

2)  Boisseree  a.  a.  0.  Taf.  37,   S.  17  ff. 

3)  Wetter,  der  Dom  zu  Mainz,  S.  30. 
*)  Schmidt  a.  a.  0.  Heft  3,  S.  94. 

^)  Angeblich  erst  von  1256  (?). 

6)  Schmidt  a.  a.  0.  Heft  3,  wo  auch  die  anderen  eben  genannten  Kirchen  (mit 
Ausnahme  der  von  Roth)  abgebildet,  sind,  über  welche  letzie  nur  Kugler  in  den  kl. 
Sehr.  H,  187  u.  371  Nachricht  giebt. 


Vereinzelte  Elemente  des  gothischen  Styls.  253 

Kreuzgewölbe  der  Seitenschiffe  ruhen  nur  auf  den  dichtgestellten  Pfeilern 
und  Wandpilastern,  dagegen  ist  die  Mauer  des  ziemlich  hoch  hinaufsteigen- 
den, aber  ursprünglich  nur  mit  einer  Balkendecke  versehenen  Mittelschiffes 
mit  Strebepfeilern  bewehrt,  welche  auf  den  Gurtbögen  der  Seitenschiffe  auf- 
stehen ^).  Eine  noch  eigenthümlichere  Anordnung  hat  die  Kirche  des  Cister- 
cienser-Nonnenklosters  zu  St.  Thomas  an  der  Kyll,  welche  ungefähr  1190 
begonnen  und  1222  geweihet  ist.  Die  ziemlich  lange,  aber  nur  40  Fuss 
breite  und  46  Fuss  hohe  Kirche  besteht  nämlich  in  ihrer  westlichen  Hälfte 
aus  zwei  gewölbten  Stockwerken,  von  denen  das  obere  als  Nonnenchor  diente 
und  auf  einer  in  der  Axe  des  unteren  Raumes  aufgestellten  Säulenreihe  ruht. 
Die  Südseite  stiess  an  die  Klostergebäude  und  hat  eine  einfache  Mauer,  die 
Nordseite  dagegen  wirkliche  und  zwar  ziemlich  starke  Strebepfeiler,  aber  in 
der  Art,  dass  ihr  unterer,  dem  unteren  Stockwerke  entsprechender  Theil 
äusserlich  durch  Mauern  verbunden,  also  in  das  Innere  des  Gebäudes  gezo- 
gen und  mit  einem  fortlaufenden  Dache  gedeckt  ist,  aus  welchem  dann  ihr 
oberer,  verjüngter  Theil  an  der  zurücktretenden  Mauer  des  Nonnenchores 
hervortritt  und  mit  einem  Wasserschlage  abschliesst.  Diese  Anordnung  der 
Strebepfeiler  ist  denn  auch  an  dem  östlichen,  ungetheilt  aufsteigenden  Lang- 
hause fortgesetzt,  wo  zwischen  den  unteren  Strebepfeilern  kapellenartige 
Räume  entstehen,  während  die  obere,  auf  einer  abgestuften  halbkreisförmigen 
Arcade  ruhende  Wand  unter  dem  Fenster  noch  durch  aus  der  Gliederung 
der  Wandpfeiler  hervorgehende  Doppelbögen,  eine  Art  grossen  Bogenfrieses, 
verstärkt  ist.  Der  Chor,  fünfseitig  aus  dem  Zehnecke,  hat  wirkliche  Strebe- 
pfeiler. Der  Spitzbogen  kommt  hier  fast  nur  an  den  Gewölben  und  an  der 
oberen  Aussenmauer  zwischen  den  Strebepfeilern  als  eine  Mauerverstärkung 
vor.  Die  Fenster  sind  meistens  kreisförmig,  die  oberen  schon  durch  einen 
Sechspass  belebt.  Das  Ganze  ist,  obwohl  in  rohen  Details,  durchaus  ver- 
ständig und  mit  Kenntniss  der  constructiven  Vortheile  des  Strebepfeilers 
ausgeführt^).  Wir  sehen  also,  dass  in  diesem  westlichen  Theile  der  Rhein- 
lande der  Spitzbogen  und  die  Strebepfeiler  schon  mannigfach,  aber  ohne 
festes  Princip  und  selbst  bis  1222  noch  ohne  bewusste  Hinneigung  zum 
gothischen  Style  angewendet  wurden. 

Wir  sprachen  schon  im  vorigen  Bande  von  der  Stiftskirche  zu  Kloster- 
rat h  (Rolduc),  zwei  Meilen  von  Aachen  auf  belgischem  Gebiete,  weil  sie  in 
ihrem  ersten,  schon  1108  geweihten  Bau,  ähnlich  den  obenerwähnten  kölni- 
schen Kirchen  eine  aus  drei  Conchen  bestehende,  kleeblattförmige  Choran- 
lage hatte,  welche   jetzt  zwar  im  Oberbau  zerstört,  in   der  Krypta  aber 


1)  Schmidt  a.  a.  0.  Heft  2,  S.  86. 

2)  Vgl.  Schmidt  a.  a.  0.  Heft  3,  S.  10,  und  Taf.  4,  Fig.  K,  0,  P,  Q. 


254 


Rlieinisclier  Ueberganasbau. 


noch  erhalten  ist^).  Vom  Jahre  1138  an  wurde  dieser  Choranlage  eine 
ziemlich  bedeutende,  vollständig  gewölbte  Basilika  angebaut,  die  im  Jahre 
1209  die  Weihe  erhielt  und  manche  Eigenthümlichkeiten  hat.  Zunächst 
nämlich,  dass  das  dreischiffige  Langhaus  sich  nicht,  wie  in  jenen  kölnischen 

Kirchen    unmittelbar    an    die 
^'^'  '^-  kleeblattförmige       Choranlage 

anschliesst,  sondern  davon  durch 
ein  mächtiges  Querschiff  ge- 
trennt ist,  dann  aber,  dass 
das  System  rundbogiger,  quadra- 
ter Ueberwölbung  nicht  regel- 
mässig, sondern  mit  einem  rhyth- 
mischen Wechsel  ausgeführt  ist. 
Zum  Theil  nämlich  sind  die 
grossen  mittleren  Gewölbe  von 
zwei  auf  einer  Säule  ruhenden 
Arcaden  und  zwei  dem  ent- 
sprechenden Seitengewölben  be- 
gleitet; zum  Theil  aber  ist  die 
Seitenwand  weiter  hinauf  ge- 
öffnet und  das  betreffende  Joch 
des  Seitenschiffes  durch  ein 
höher  liegendes  Kreuzgewölbe 
gedeckt,  so  dass  es  fast  wie 
ein  zweites  Querschiff  erscheint. 
Da  die  Formen  übrigens  ganz 
übereinstimmen,  hat  man  keine 
Veranlassung,  hier  eine  spätere 
Aenderung  anzunehmen ,  son- 
dern mag  auch  darin  das  Be- 
streben nach  neuen  Bauformen 
erkennen  -). 

An  einer  anderen  Stelle  des 
Rheinlandes  finden  wir  gkich- 
zeitig    einen    sehr     merkwür- 
digen Versuch,    ähnliche   constructive  Resultate,     wie    sie   der    gothische 
-Styl  gab,     aber    durch    andere  Mittel,    zu  erlangen.      Ich    spreche    von 


Heisterbach. 


1)  Vgl.  Band  IV,  S.  391  und  418.'    Abbildungen  und  Nachrichten  giebt  Dr.  Fr.Bock 
im  Organ  für  christliche  Kunst  1859,  Nr.  15,  16. 

2)  Der    Chronist    (Annales   Rodenses    bei    Pertz,    Scr.  XVI,    p.  688)    schreibt    der 
Krypta    einen    lombardischen    Ursprung    zu   (Construxerunt  criptam-jacientes  funda- 


Die  Kirche  zu  Heisterbach.  255 

■der  Cistercienserkirche  zu  Heister bach  im  Siebengebirge,  von  der  jetzt 
zwar  nur  noch  die  Concha  aufrecht  steht,  wohl  aber  in  Boisseree's  Werk 
über  die  Kirchen  des  Niederrheins  vollständige  Zeichnungen  erhalten  sind. 
Das  Kloster  stand  früher  auf  der  Höhe  des  Berges,  im  Jahre  1191  beschlos- 
sen aber  die  Mönche,  es  ins  Thal  zu  verlegen,  begannen  sofort  mit  den 
Klostergebäuden  und  gründeten  nach  Vollendung  derselben  im  Jahr  1202 
die  Kirche,  welche  im  Jahre  1227  die  Weihung  mehrerer  Altäre,  und  im 
Jahre  1233  ihre  Vollendung  erhielt.  Der  Plan  ist  sehr  sinnreich  und  be- 
ruht auf  einem  durchgeführten  Strebesysteme,  jedoch  wiederum,  wie  in  der 
oben  angeführten  Kirche  St.  Thomas,  nur  in  consequenterer  und  besser 
durchdachter  Weise,  mit  in  das  Innere  gelegten  Streben.  Die  Kirche  war 
kreuzförmig,  mit  dreischiffigem  Langhause,  in  dessen  Mitte  sich  aber,  eini- 
germaassen  ähnlich  wie  in  Klosterrath,  noch  ein  zweites,  zwar  nicht  vortre- 
tendes, aber  doch  durch  seine  Höhe  und  die  grössere  Breite  der  Arcade 
bezeichnetes  Querschiif  befand  i).  Die  Wände  der  Seitenschiffe',  wie  gesagt 
ohne  Strebepfeiler,  bildeten  im  Aeusseren  zwei  Stockwerke.  Das  untere, 
äusserlich  mit  einer  kleinen  Bedachung  versehen  bestand  aus  einer  fortlau- 
fenden Reihe  nach  innen  geöffneter  Nischen,  je  zwei  in  jeder  Travee  und 
jede  (wenigstens  auf  der  Nordseite,  da  auf  der  Südseite  der  daran  anstos- 
sende  Kreuzgang  es  verhinderte)  durch  ein  rundbogig  geschlossenes  Fenster 
beleuchtet.  Auf  dem  Gewölbe  dieser  sehr  kräftig  gebildeten  Nischen  stand 
dann  die  leichtgehaltene  und  durch  kreisförmige  Fenster  beleuchtete  Wand 
des  oberen  Stockwerks,  in  welchem  kleine|,  auf  die  Zwischenwände  der 
Nischen  gestellte  Säulen  das  sehr  künstlich  gebildete,  gegen  das  Mittelschiff 
strebende  Gewölbe  der  Seitenschiffe  trugen.  Ueberdies  waren  unter  dem 
Dache  der  letzten  noch  kleine  Strebemauern  angebracht,  w^elche  sich  an  die 
obere  Wand  über  den  Scheidbögen  anlegten  und  dieselbe  also  ebenfalls 
stützten.  Während  so  die  Seitenschiffe  vermittelst  jener  beiden  Stockwerke 
eine  verhältnissmässig  grössere  Höhe  erhielten,  die  Scheidbögen  also  höher 
wie  gewöhnlich  lagen  und  die  Pfeiler  schlanker  gebildet  \vurden,  war  das 
Oberschiff  nicht  bedeutend  hoch,  auch  nur  durch  kreisförmige,  rosettenartig 


mentum  monasterii  scemate  loDgobardino),  Dies  mit  Otte  (Kunstarch.  4.  Aufl.  S.  311) 
auf  die  quadrate  Ueberwölbung  zu  beziehen,  ist  nicht  wohl  möghch,  weil  der  Chronist 
ausdrücklich  von  der  Krypta  spricht.  Auf  die  kleeblattförmige  Anlage  kann  man  es 
auch  nicht  beziehen,  da  eine  solche  in  Italien  niemals  vorkommt.  Wahrscheinlich  ist 
dabei  bloss  an  die  Anlage  einer  hohen,  weiträumigen  Krypta  gedacht,  welche  damals 
zwar  auch  wohl  schon  in  Deutschland  vorgekommen  aber  doch  in  Italien  besonders 
beliebt  war  (Bd.  VI.  S.  433)  und  von  dorther  den  Mönchen  von  Klosterrath  empfohlen 
sein  mochte. 

^)  Auch    die    kreisförmigen    Fenster   jener    den   QuerschiflFen    ähnlichen   Joche    in 
Klosterrath  erinnern  an  Heisterbach. 


25ß  Rheinischer  Uebergangsstyl. 

ausgebildete  Fenster  beleuchtet.  Die  Pfeiler  trugen  vermöge  einer  tbeils 
vom  Boden  aufsteigenden,  theils  auf  einer  Console  ruhenden  Halbsäule,  die 
Gewölbe.  lieber  jedem  Scheidbogen  lag  (einigermaassen  ähnlich  wie  in 
St.  Oermer  in  der  Picardie)  je  eine  fensterartige  Oeffnung,  welche  Licht 
unter  das  Dach  der  Seitenschiffe  brachte.  Es  war  daher  hier,  nur  in  ande- 
rer Form  wie  im  gothischen  Systeme,  die  Last  der  Gewölbe  durchaus  auf 
die  Seitenmauern  und  ihre  stärksten  Theile  zurückgeführt;  ja  dies  war  hier 
vielleicht  in  noch  soliderer  "Weise  geschehen,  weil  die  Strebepfeiler  durch 
die  überwölbten  Nischen  verbunden  und  die  Strebebögen  durch  eben  diese 
Ueberwölbung  und  durch  die  Gewölbe  der  Seitenschiffe  ersetzt  waren.  Auch 
an  der  halbkreisförmigen  Chornische  ist  dieses  Strebesystem  durchgeführt; 
sie  erhält  dadurch  einen  Umgang,  allein  wiederum  in  einer  Weise,  die  von 
der  der  gothischen  Kirchen  völlig  abweicht.  Die  innere  Concha,  an  Höhe 
dem  Mittelschiffe  gleich,  ruht  nämlich  auf  zwei  Stockwerken  von  überaus 
schlanken  und  zierlichen  Säulen  und  wird  von  den  Gewölben  des  Umgangs, 
und  wiederum  von  den  sich  ringsumherziehenden  Nischen  gestützt.  Doch 
sind  hier  auch  im  Aeusseren  über  dem  Dache  des  Umgangs  wirkliche  Strebe- 
mauern angelegt.  Wir  finden  also  in  diesem  Gebäude  vielfache  Verwandt- 
schaft mit  dem  gothischen  Style,  oblonge  Gewölbfelder,  den  Chor  mit  einem 
Umgange,  schlanke  Pfeiler  mit  hohen  Gewölbdiensten,  ein  durchgeführtes 
Strebesystem  und  das  Bemühen  nach  hellerer  Beleuchtung.  Allein  diese 
Resultate  werden  in  ganz  anderer  Weise  wie  in  Frankreich,  hauptsächlich 
durch  die  im  rheinischen  Style  beliebten  Nischen,  hervorgebracht.  Alle 
Details  gehören  noch  dem  alten  Style  an.  Die  Kapitale  sind  würfelförmig, 
die  Profile  der  Bögen  und  Gurten  eckig,  die  Säulenfüsse  attisch,  die  Fenster 
ungetheilt  und  (mit  Ausnahme  der  durch  einen  Sechspass  belebten  kreisför- 
migen Oberlichter)  ohne  eine  Spur  des  Maasswerks,  die  Diagonalen  der 
Wölbung  blosse  Gräten.  Die  Gewölbe  waren  spitz,  alle  anderen  Bögen 
halbkreisförmig,  nur  an  der  Fagade,  ohne  Zweifel  dem  spätesten  Theile, 
waren  zwei  Fenster  und  das  Portal,  sowie  der  Bogenfries  im  Spitzbogen  ge- 
bildet. Das  ganze  Gebäude  macht  daher  auch  einen  anderen  Eindruck  als 
die  gothischen;  es  hat  das  Schwere  und  Ueberkräftige  des  romanischen 
Styls  abgestreift,  aber  es  hat  auch  nicht  die  elastische  ritterliche  Kraft  des 
gothischen  Baues,  sondern  einen  viel  schlichteren,. strengeren,  aber  doch 
zugleich  weniger  kräftigen  Ausdruck. 

Eine  Wiederholung  der  constructiven  Gedanken  dieser  Kirche  findet 
sich  nirgends,  und  noch  weniger  nahm  sich  der  einheimische  Styl  die  Ein- 
fachheit des  Cistercienserordens  zum  Vorbilde,  vielmehr  steigerte  er  sich 
gerade  jetzt  im  Decorativen  fast  bis  zum  Ueberladenen. 

Dies  zeigt  schon  die  wenig  später,  im  Jahre  1209,  unter  dem  in  glaub- 


St.  Quiriii  in  Neuss.  257 

bafter  Inschrift  namhaft  gemachten  Baumeister  Wolbero  ^)  begonnene  Stifts- 
kirche St.  Quirin  zu  Neuss 2).  Es  ist  ein  mit  Aufwand  ausgeführtes  und 
trotz  mancher  Künsteleien  im  Einzelnen  doch  höchst  bedeutendes  Werk,  auf  der 
Westseite  mit  einem  mächtigen  Vorbau  von  der  Breite  der  drei  Schiffe,  aus 
dessen  Mitte  ein  schwerer  viereckiger  Thurm  aufsteigt,  im  Osten  nach  dem 
Vorbilde  der  Kölner  Kirchen  St.  Martin  und  St.  Apostel  mit  drei  gleichge- 
stalteten Conchen  schliessend  und  mit  einem  zweiten,  achteckigen  Thurme 
auf  der  Vierung  des  Kreuzes.  Die  Chornischen,  welche  in  ihrer  Anordnung 
an  die  der  Martinskirche  erinnern,  sind  iniAeusseren  und  Inneren  mit  über- 
schlanken Säulchen,  von  derselben  künstlichen  Gestalt  wie  dort,  versehen. 
Im  Langhause  sind  sowohl  in  der  Gallerie  als  im  Oberschiffe  fächerför- 
mige Fenster  (Fig.  70  S.  243),  die  wir  hier  also  zum  ersten  Male  mit  siche- 
rem Datum  treffen.  Der  Vorbau  ist  von  allen  Seiten  mit  Friesen  und  Ar- 
caden  bedeckt,  welche  im  mittleren  Theile  der  Vorderseite  treppenförmig 
atifsteigen. 

Hier  wie  an  den  Osttheilen  kommt  der  Spitzbogen  abwechselnd  mit 
tiberhöhten  und  ausgezackten  Rundbögen  vor.  Dagegen  ist  in  den  Arcaden 
und  Emporen  der  Spitzbogen  bereits  die  herrschende  Form,  obwohl  auch 
in  diesen  der  Rundbogen  noch  zweimal  auf  jeder  Seite  erscheint.  Das  Prin- 
cip  für  diesen  Wechsel  sowie  für  die  Ungleichartigkeit  fast  aller  Arcaden 
ist  schwer  zu  erkennen;  vielleicht  dass  ein  Bestreben,  die  perspectivische 
Wirkung  zu  unterstützen,  der  Grund  war.  In  der  Wölbung  tritt  der  Rund- 
bogen allein  auf,  aber  die  bedeutenden  Höhenverhältnisse  des  Innern  zeigen 
bereits  den  Einfluss  der  Gothik,  welcher  sicherlich  auch  auf  die  überra- 
schende Schlankheit  und  Beweglichkeit  der  Gliederung,  besonders  im  Chor 
und  am  äusseren  Westbau,  gewirkt  hat.  Nur  dass  die  Einzelglieder  hier 
noch  nicht  die  feste  Mauermasse  verdrängen,  sondern  sich  innerhalb  des 
Rahmens,  den  diese  bildet,  auflösen. 

Ein  so  häufiges  Auftreten  des  Spitzbogens  war  aber,  wie  wir  annehmen 
dürfen,  noch  neu,  da  das  Kreuzschiff  der  Klosterkirche  zu  Sayn,  nach  1202 
erbaut,  und  die  Castorkirche  zu  Coblenz,  nach  einem  bedeutenden  Her- 
stelluugsbau  1208  geweiht'^),  noch  keine  Spur  desselben  zeigen,  diese  viel- 


^)  Vielleicht  identisch  mit  dem  Baumeister  Albero  (s.  o.),  welcher  die  Apostel- 
kirche vollendete.     Otte,  Geschichte  der  deutschen  Baukunst  S.  375. 

-)  Die  Pyblicationen  bei  Boisseree  a.  a.  0.  und  E.  Förster,  Denkmale,  V,  sind 
nicht  in  allen  Punkten   correct. 

■^)  V.  Lassaulx  a.  a.  0.  S.  472  und  400.  Der  baukundige  Verfasser  vermuthet, 
dass  die  decorative  Aussenseite  der  Chornische  der  älteren  Mauer  nur  als  ein  Mantel 
umgelegt  sei.  Vgl.  Moller  I,  Tafel  7  und  8.  Dr.  Richter,  St.  Castor  zu  Coblenz. 
C.   1868  und  Dr.   Fr.  Bock,  Rheinlands  Bandenkm.  Heft  I. 

Sclinaase'e  Kunstgesch.    2.  Aufl.     V.  17 


258  Rlieinischer  Uebergangsstyl. 

mehr  an  ihrer  Chornische  nur  die  rundbogige  Decoration  mit  kräftig  geglie- 
derten Fenstern,  Arcaden  und  der  Zwerggallerie  hat. 

Diese  sicher  datirten  Gebäude  mögen  uns  als  Anhalt  dienen,  um  da- 
nach die  grosse  Zahl  verwandter  rheinischer  Bauten,  deren  Eutstehungszeit 
wir  nicht  nachweisen  können,  zu  ordnen.  Man  hat  angenommen,  dass  die 
Mehrzahl  derselben  nach  den  Kriegen  zwischen  Philipp  von  Schwaben  und 
Otto  IV.,  welche  von  1198  bis  1206  das  Rheinland  verwüsteten,  und  bei 
welchen  häufige  Feuersbrünste  stattfanden^),  erbaut  sei.  Indessen  ist  dies 
natürlich  nur  eine  Yermuthung,  der  man  nicht  zu  grosse  Ausdehnung  geben 
darf,  da  die  starken  Mauern  der  Kirchen  von  Feiudeshand  nicht  leicht  ge- 
fährdet werden  und  selbst  einer  Feuersbrunst  widerstehen,  da  auch  die  Er- 
schöpfung des  Landes  durch  jene  Kriege  schwerlich  die  Herstellung  in  so 
reicher  \y eise  zugelassen  haben  dürfte.  Auch  sind  die  Verschiedenheiten 
dieser  Werke  zu  gross,  als  dass  man  sie  alle  in  einen  so  kurzen  Zeitraum 
setzen  dürfte,  und  manche  derselben  werden  daher  dieser  kriegerischen  Zeit 
schon  vorhergegangen  sein. 

Der  Spätzeit  des  zwölften  oder  den  ersten  Jahren  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts mögen  unter  Anderen  der  Ausbau  des  Langhauses  von  S.  Panta- 
leon  in  Köln,  die  dortige  kleine  Kirche  S.  Maria  in  Lyskirchen,  eine 
schlichte  Pfeilerbasilika  mit  Emporen  und  spitzbogigem  Gewölbe,  jedoch 
mit  einem  schönen  Rundbogenportale,  die  obere  Chorhaube  von  S.  Maria 
im  Capitol,  deren  Ausstattung  der  Apostelkirche  verwandt  ist,  und  endlich 
die  mächtige  Kirche  der  Abtei  Br au w eiler  bei  Köln  angehören.  Mit  Aus- 
nahme der  älteren  Krypta  stammt  diese  aus  einem  im  Jahre  1193  begonne- 
nen Bau,  der  jedoch  im  Jahre  1226  durch  Brand  beschädigt  und  hergestellt 
AYurde.  Sie  ist  ein  schon  ursprünglich  auf  Gewölbe  angelegtes  Werk  des 
Uebergangsstyls,  an  dem  sich  die  Derbheit,  ja  selbst  Rohheit  der  Orna- 
mente, welche  man  in  rheinischen  Bauten  dieser  Zeit  oft  findet,  in  eigen- 
thümlicher  Weise  mit  einem  Streben  nach  Reichthum  und  Effect  paart.  Die 
Chornische  ist  mit  langgezogenen  Säulchen,  ähnlich  wie  die  der  Martins- 
kirche in  Köln,  geschmückt  und  wird  später  als  diese  entstanden  sein. 
Dagegen  ist  die  Sculptur  der  Kapitale,  an  denen  zum  Theil  kleine  Figuren 
karyatidenartig  die  Deckplatten  tragen,  und  die  Anordnung  eines  Triforiums 
mit  verschiedenartigen  Bögen  auf  bald  niedrigeren,  bald  höheren  Säulen- 
stämmen sehr  ungewöhnlich,  und  deutet  auf  eine  Zeit,  wo  dieser  rheinische 
Uebergangsstyl  noch  nicht  die  Reife  hatte,  die  er  im  zweiten  Decennium  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  erlangte-). 


1)  Caesar  von  Heisterbach  II,  30.  Provinciae  incendiis  vastantur  et  eccleslae  de- 
praedantur,  sanguis  multus  funditur.  V.  37.  Terra  rapinis  et  incendiis  vastatur. 
Andernacliuni,  Remage,  Bonna  aliaeque  villae  plurimae  exustae  sunt. 

-)  Kiigler,  Baukunst  II,    S.  336,    will    den    ganzen  Bau    in  die  Zeit    nach  jenem 


Taufkapelle  von  St.  Georg  zu  Köln  und  Ramersdorf.  259 

Ein  sehr  ausgezeichnetes,  aber  einigermaassen  räthselhaftes  Gebäude 
■dieser  Zeit  ist  die  Taufkapelle  der  Stiftskirche  St.  Georg  zu  Köln. 
Sie  liegt  innerhalb  eines  gewaltigen  Thurmes  von  vortrefflich  behauencn 
Quadern,  der  auf  der  Westseite  der  Kirche  aufsteigt,  und  besteht  aus  einem 
Quadraten,  mit  einem  Kuppelgewölbe  gedeckten  Räume,  dessen  Wände  unten 
durch  reich  gegliederte  und  mit  Säulen  umstellte  Nischen  (auf  jeder  Seite 
eine  grössere  zwischen  zwei  kleineren),  oben  durch  einen  neben  den  breiten 
rundbogigen  Fenstern  umherlaufenden  Umgang  belebt  sind.  Alles  ist  darin 
von  vollendeter  Ausführung  und  edelster  Haltung.  Das  burgartige  Ansehen 
der  glatten,  undurchdringlichen  Mauern  dieses  Gebäudes  hat  die  Sage  ver- 
anlasst, dass  Erzbischof  Anno  es  in  feindlicher  Absicht  errichten  lassen, 
dadurch  aber  den  Argwohn  der  Bürger  hervorgerufen  und  seine  Vertreibung 
aus  der  Stadt  veranlasst  habe.  Allein  es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass 
diese  edle  und  mächtige  Construction  nicht  der  schlichten  und  selbst  rohen 
Säulenbasilika  aus  Anno's  Zeit,  der  sie  angebaut  ist,  gleichzeitig  sein  kann. 
Andererseits  aber  sind  die  Formen  noch  rein  romanisch,  ohne  jede  Bei- 
mischung von  entschiedenen  Zeichen  des  Uebergangs,  so  dass  wir  sie  wohl 
nicht  später  als  in  die  letzten  Jahre  des  zwölften  Jahrhunderts  setzen 
dürfen  ^). 

Nicht  wie  dieser  stolze  und  prachtvolle  Bau  von  Drachenfelser  Trachit, 
sondern  von  schlichtem  Tufstein,  auch  nicht  mit  so  ausgezeichneter  Technik 
ausgeführt,  aber  durch  sinnreiche  und  zierliche  Anlage  interessant,  ist  die, 
jetzt  auf  den  Friedhof  zu  Bonn  versetzte  Kapelle  der  ehemaligen  Deutsch- 
herren-Commende  zu  Ramersdorf.  Sie  hat  drei  Schiffe  von  gleicher 
Höhe,  was  an  Kirchen  dieser  Gegend  sonst  noch  nicht  vorkommt,  aber  bei 
einer  so  kleinen  Kapelle  ebensowenig  wie  bei  Krypten  auffallen  kann.  Ihre 
spitzbogigen  Rippeugewölbe  werden  von  vier  schlanken  Ringsäulen  (s.  oben 
Fig.  73  S.  244)  und  von  Gewölbdiensten  getragen,  welche  auf  gleicher  Höhe 
mit  jenen  Ringen  von  Consolen  an  Wandpilastern  aufsteigen.  Die  Chor- 
nische hat  eine  ungewöhnliche  Grösse,  indem  ihr  Umfang  etwa  drei  Viertel 
eines  Kreises  enthält,  also  gewissermaassen  einen  hufeisenartigen  Bogen  be- 


Brande von  1226  setzen.  Die  Willkür  und  Rohheit  der  Formen  und  der  Mangel  des 
Spitzbogens  im  Hauptkörper  des  Gebäudes  machen  (abgesehen  von  den  im  IG.  Jahr- 
hundert erneuerten  Gewölben)  eine  so  späte  Entstehung  unwahrscheinlich. — Giersberg, 
die  Kirche  zu  Brauweiler,   Organ  für  christl.  Kunst,  1851,  1852. 

1)  F.  V.  Quast  (in  dem  angeführten  Aufsatze  Heft  X,  S.  214)  entwickelt  scharf- 
sinnig die  Vermuthung,  dass  jene  Sage  nur  die  Namen  verwechselt,  und  einen  Her- 
gang ans  der  Zeit  des  Erzbischofs  Engelbert  11.  auf  den  Erbauer  der  Georgskirche 
übertragen  habe.  Allein  dann  würde  gewiss  nicht  das  künstliche  Kuppelgewölbe, 
sondern  das  im  dreizelinteu  Jahrhundert  geläufige  Rippengewölbe  angewendet  sein. 
Boisseree  a.  a.  0.  Taf,  21  —  24. 

17* 


260 


Rheinischer  Uebergangsstyl. 


Fig. 


schreibt  und  sich  über  die  Breite  des  Mittelschiffes  hinaus  erweitert.  Die 
Fenster  des  Langhauses  sind  dicht  unter  den  Schildbögen  als  vierblätterige 
Kosen  angebracht,  offenbar  um  bei  der  geringen  Höhe  des  Gebäudes  das 
Licht  mehr  von  oben  zu  erhalten.  Die  durch  die  Schaftringe  der  Säulen 
und  die  Consolen  an  den  Wänden  angedeutete  Linie  wiederholt  sich  im 
Chore  als  Gesims  der  Fensterbrüstung,  Die  Rippen  sind  noch  rund  profi- 
lirt,  der  Spitzbogen  findet  nirgends  eine  Stelle,  es  lässt  sich  mithin  keine 
Spur  der  Einwirkung  des  gothischen  Styls  aufzeigen,  aber  das  ganze  kleine 

Gebäude  macht  schon  den  Ein- 
druck des  Heiteren  und  Schlanken, 
der  diesen  Styl  sonst  von  romani- 
schen Bauten  unterscheidet.  Wir 
werden  nicht  irren,  wenn  wir  es 
in  die  ersten  Jahre  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  setzen  ^). 

Die  Mehrzahl  der  rheinischen 
Uebergangsbauten  scheint  etwas 
jünger,  im  zweiten  oder  doch  ge- 
gen das  Ende  des  ersten  Viertels 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  ent- 
standen. Unter  ihnen  will  ich 
zuerst  wieder  eine  Kapelle  nennen, 
die  nicht  bloss  wie  die  zu  Ramers- 
dorf  durch  ihre  Zierlichkeit,  son- 
dern auch  durch  sichtbares  Stre- 
ben nach  Eleganz  bei  massigen 
Mitteln  überrascht.  Es  ist  die 
StMathiaskapelle  zuKobern 
an  der  Mosel ,  nach  Lassaulx's 
Vermuthung  in  Folge  des  Erwerbes 
einer  bedeutenden  Reliquie  durch 
die  Burgherren  bald  nach  1218  er- 
baut -).  Sie  hat  im  Grundi'isse  eine 
sechseckige  Gestalt;  in  der  Mitte  steigt  eine  hohe  Kuppel  von  geringem 
Durchmesser  auf,  welche  oben  durch  ein  auf  Kragsteinen  und  Ecksäulchen 


Kirche  zu  Ramersdorf. 


^)  Vgl.  Näheres  in  meinem  Aufsatze  hi  Kinkel's  Tasclienbuche:  Vom  Rhein,  und 
im  Domblatt  1847.  Der  verstorbene  v.  Lassaulx  liat  das  Architektonische  mit  allen 
Details  in  sehr  zweckmässiger  Weise  auf  einem  radirten  Blatte  dargestellt,  das  jedoch 
nicht  in  den  Handel  gekommen  ist.  —  Publicirt  bei  Gaiihabaud,  l'architectm-e  etc.  Bd.  I. 

-)  V.  Lassaulx,  die  Mathiaskapclle  zu  Kobern.  Koblenz  1837.  Vgl.  aucli  Kugler 
a.  a.  0.  S.  344.  —  A.  Reichensperger  in  Bock,  Rheinland?  Baudenkin.     Bd.  I. 


Kapellen  zu  Kobern  und  Viandeii.  261 

ruhendes  Gewölbe  gedeckt,  unten  aber  durch  sechs,  von  spitzen  Bögen  ver- 
bundenen Bündeln  von  je  fünf  freistehenden  Säulen  gestützt  ist.  Diesen 
mittleren  Raum  umgiebt  dann  ein  ebenfalls  sechseckiger  Umgang,  dessen 
Eippengewölbe  sich  im  Viertelkreisbogen  an  die  Wand  des  Oberschiffes  an- 
legt. An  der  einen  Seite  des  Sechseckes  öffnet  sich  eine  einen  vollen  Drei- 
viertelkreis bildende  ApsiS;  die  wahrscheinlich  ein  etwas  späterer  Anbau  ist. 
Die  vielen  Ringe  der  Säulen,  die  elegante.  Phantastisches  schon  mit  Natu- 
ralistischem mischende  Sculptur  der  Kapitale,  die  auf  Säulen  ruhenden  Klee- 
blattbögen, welche  im  Innern  eine  Arcatur  an  den  Wänden  des  Umgangs 
bilden  und  die  aus  drei  entsprechenden  Kreistheilen  zusammengesetzten 
Fächerfenster  einrahmen,  die  kräftigen  Schildbögen,  auf  welchen  über  dieser 
Arcatur  die  einzelnen  Gewölbkappen  des  Umgangs  ruhen,  —  alles  dies  giebt 
dem  Innern  einen  überaus  heiteren,  reichgeschmückten  Charakter,  aber  auch 
schon  fast  den  Eindruck  des  Unruhigen  und  Ueberladeneu. 

In  der  Grundrissanlage,  zum  Theil  auch  in  den  Formen,  ist  diese  Ka- 
pelle einem  merkwürdigen  kleinen  Gebäude  verwandt,  das  zwar  im  Luxem- 
burgischen, aber  schon  auf  deutschem  Sprachgebiet  und  dicht  an  der 
preussischen  Grenze  gelegen  ist:  der  Schlosskapelle  zu  Vianden,  wahrschein- 
lich um  1220,  oder  nicht  viel  später,  erbaut^).  Sie  bildet  ein  Zehneck  von 
etwa  30  Fuss  Durchmesser  und  23  FussHöhe,  dessen  Gewölbe  in  der  Mitte 
durch  sechs  Pfeiler  gestützt  werden-),  mit  einem  fünfseitig  geschlossenen 
Chorraum.  Jede  Seite  der  inneren  Wand  enthält  unten  zwei  vertiefte  Ar- 
caden  und  oben  zwei  eben  solche  Fenster,  beide  mit  freistehenden  Säulen 
besetzt;  zwischen  den  angrenzenden  Säulen  steigen  dann  als  Gewölbträger 
in  allen  Ecken  sehr  schlanke,  in  halber  Höhe  durch  Ringe  getheilte  Halb- 
säulen auf.  Die  mittleren  Pfeiler  sind  viereckig,  aber  theils  mit  fünf,  theils 
mit  vier  freistehenden,  jenen  Gewölbstützen  ganz  entsprechenden  Säulen 
umstellt.  Die  Fenster  sind  spitzbogig,  die  Arcaden  rund,  auch  die  Bögen, 
welche  die  sechs  mittleren  Säulen  verbinden,  nur  überhöhte  Rundbögen.  Die 
etwas  flach  gebildete  attische  Basis    hat    das  Eckblatt.     Die  Verzierung  ist 


^)  Publicirt  vou  Daniier,  Förster'sche  Allgemeine  Bauzeitiuig,  Doppeljahrgang 
18G8,  1869,  Taf,  41,  42,  Text  S.  208  —  214.  —  Vgl.  Reicheiispcrger  iu  deu  Jahrb. 
des  Vereins  der  Rliein,  Altertlmmsfreunde,  Heft  XIII,  XIV  mit  Grundrissen.  —  Nach 
1849  restaurirt. 

2)  Diese  Mittelpfeiler  stehen  auf  einer  ßrustmaner,  innerhalb  welcher  der  Fuss- 
boden  geöffnet  ist.  Da  aber  die  darunter  gelegenen  Räume,  durch  die  gewaltigen, 
hauptsächlich  als  Substructionen  der  Kapelle  dienenden  Mauermassen  gebildet,  zu 
Vorrathskammern  oder  Gefängnissen,  nicht  aber  etwa  für  die  Theilnahme'des  Schloss- 
gesindes am  Gottesdienste  eingerichtet  waren,  so  diente  diese  (teffnung  nur  zur  Be- 
leuchtung jener  unteren  Räume,  und  die  Kapelle  gehört  daher  nicht  iu  die  Reihe  der 
s.  g.   Doppelkapellen. 


2ß2  Rheiuisclier  Uebergangsstyl. 

sehr  sparsam  angebracht^  nur  die  Kapitale  an  den  unteren  Säulen  des  Chor- 
raums und  am  Portal  haben  Blattwerk,  alle  übrigen  sind  schlicht,  die  der 
Fenster  würfelförmig,  die  anderen  schlanke  aber  nackte  Kelche.  Da  indes- 
sen die  kräftig  gebildeten  Säulenringe  und  die  ungewöhnlich  hohen  Deck- 
platten der  Kapitale  überaus  reich  gegliedert  und  mehr  als  Jmndert  Säulen 
und  Ilalbsäulen  in  dem  nicht  sehr  grossen  Räume  angebracht  sind,  macht 
das  Ganze  ungeachtet  dieser  Einfachheit  einen  überaus  reichen,  aber  auch 
kräftigen  und  würdigen  Eindruck.  Im  Wesentlichen  gehört  dieses  Denkmal 
dem  rheinischen  Uebergangsstyl  an,  es  zeigt  die  Ringsäulen,  die  hochge- 
schwungenen Kelche  der  Kapitale,  die  vielfach  gegliederten  Deckplatten. 
Aber  insofern  die  Eigenthümlichkeit  des  rheinischen  Styls  sich  vorzugs- 
weise in  gewissen  decorativen  Formen,  in  Kleeblattbögen  und  gehäuften 
Friesen,  in  einer  vorherrschenden  Zierlichkeit  und  Feinheit  ausprägt,  nähert 
sich  die  Kapelle  zu  Vianden  eher  den  derberen  Formen  und  der  constructi- 
ven  Tendenz  der  französischen  Bauten,  wie  sie  bald  darauf,  freilich  schon 
entschieden  gothisch,  in  der  Liebfrauenkirche  zu  Trier  erscheint. 

Zu  den  schönsten  Kirchen  des  Rheinlandes  gehört  die  Pfarrkirche  zu 
Andernach^),  ein  nicht  unbedeutender  Bau,  zwar  ohne  Kreuzschiff,  aber 
mit  vier  kräftigen  Thürmen,  zwei  an  der  Fagade,  zwei  an  der  halbkreisför- 
migen Concha,  im  Inneren  mit  einer  Empore  über  den  Seitenschiffen.  Aus 
einer  früheren  Bauzeit,  und  zwar  aus  der  ersten  Hälfte  des  elften  Jahrhun- 
derts, mag  vielleicht  der  südliche  Thurm  der  Ostseite  stammen,  alles  Uebrige 
ist  jünger-).  Die  Chornische  mit  Arcaden  von  Pilastern  und  Säulen,  mit 
der  Gallerie,  dem  Plattenfriese,  und  sehr  reich  ornamentirteu  Gesimsen  aus- 
gestattet, gleicht  einigermaassen  denen  des  Münsters  zu  Bonn  und  der 
Kölner  Kirchen  von  St.  Martin  und  Aposteln,  doch  deutet  schon  die  schlanke 
Haltung  der  Fenster  und  der  sie  umgebenden  Arcaden  auf  eine  etwas  spä- 
tere Zeit.  Noch  deutlicher  zeigt  sich  diese  im  Langhause,  obgleich  der 
Spitzbogen  nur  im  Gewölbe  vorkommt,  in  den  kräftigen  Vorlagen  der  Haupt- 
pfeiler, den  gekuppelten  Säulen  der  Empore  und  ihren  mit  phantastischem 
Laubwerk  reichgeschmückteu  Kapitalen,  endlich  besonders  in  dem  Rippen- 
gewölbe, dessen  Diagonalgurten  schon  das  birnförmige  Profil,  das  entschei- 
dende Zeichen  gothischer  Tendenz,  haben.  Können  wir  daher  jene  Chor- 
nische auch  vielleicht  ganz  an  den  Schluss  des  zwölften  Jahrhunderts  ver- 
weisen,  so    gehört    doch    das    Schiff'   entschieden    schon    dem    dreizehnten 


^)  F.  Bock,  Rlieinlaiids  Baiulenkinale;  deiselbe,  das  momimentale  Rlieiiilaiid.  Audi 
bei  Boisseree  Tf.  44—48.  Vgl.  auch  Kngler,  kl.  Sdir.  II,  212  und  Lassaulx  a.  a.  Ü. 
S.  474. 

-)  Wahrsdieinücli  war  Biscliof  Johann  I.  von  Trier  (t  1212)  der  Erbauer.  Vgl. 
Organ  liir  christl.  Kunst,  1808  S.  13  ü'. 


Kirchen  zu  Roppard,  Baeharach,  Sinzig-  etc.  263 

Jahrhundert,  die  Ueberwölbung  selbst  erst  der  Zeit  gegen  die  Mitte  desselben 
an;  ebenso  der  Westbau,  gegliedert  von  drei  Reihen  Blenden,  über  denen 
erst  die  selbständige  Entwicklung  der  Thürme  beginnt.  Die  oberen  Stock- 
werke derselben  weisen  den  Kleeblattbogen  nebst  entsiirechender  Umrahmung 
aus  gebrochenen  Stäben,  und  den  Spitzbogen  auf.  Sehr  schön  ist  das  süd- 
liche Portal,  rundbogig,  mit  zwei  durch  die  vorspringende  Ecke  getrennten 
Säulen  auf  jeder  Seite,  mit  reich  verzierten  Kapitalen  und  Archivolten,  und 
dem  von  Engeln  getragenen  Lamme  in  der  Glorie  ^). 

Ungefähr  gleichzeitig  ist  der  Chor  und  die  Ueberwölbung  der  Kirche 
zu  Boppard.  Das  Langhaus  mit  schweren  niedrigen  Pfeilern  und  breiten 
Rundbögen  scheint  ursprünglich  nicht  auf  Gew'ölbe  angelegt  und  in  einer 
früheren  Zeit  des  zwölften  Jahrhunderts  entstanden  zu  sein.  Auch  das 
Portal  der  Westseite,  mit  kräftiger  Profilirung  und  sehr  schönem  Blattwerk, 
ist  von  zu  strenger  Form,  um  es  schon  dem  dreizehnten  Jahrhundert  zuzu- 
schreiben 2).  Dagegen  hat  die  mit  drei  Seiten  des  Achtecks  geschlossene 
Apsis,  ausser  den  sehr  schlanken  rundbogigen  Fenstern,  schon  durchweg 
den  Spitzbogen,  selbst  an  der  Zwerggallerie  des  Aeusseren,  dabei  sehr  lang- 
gedehnte Ringsäulen  und  zierliche  Gurtprofile.  Diesem  Anbau  wird  die 
Ueberwölbung  des  Mittelschiffes  und  die  äussere  Decoration  der  Fenster 
desselben  gefolgt  sein.  Jene  ist  sehr  ungewöhnlich.  Das  Schiff  ist  nämlich 
durch  starke  Quergurten  getheilt,  hat  aber  zwischen  denselben  statt  wirk- 
licher Kreuzgewölbe  ein  mit  Rippen  besetztes  spitzbogiges  Tonnengewölbe 
das  im  eigentlichen  Mittelschiffe  auf  dem  oberen  Gesimse  der  Empore,  in 
der  Vorlage  des  Chores  aber  auf  kleeblattförmigen  Schildbögen  ruht.  Noch 
wunderlicher  ist  die  äussere  Ausstattung  der  Oberlichter,  bei  denen  rund- 
bogige  Arcaden  mit  rechtwinkelig  gebrochenen  Stäben,  wenn  ich  so  sagen 
darf  mit  geradlinigen  Kleeblattbögen,  wechseln,  derselben  Form,  welche  an 
dem  Westthurme  von  Andernach  vorkommt.  Im  Ganzen  gehen  hier  die 
rheinischen  Formen  mehr  als  gewöhnlich  in  das  Barocke  über. 

Auch  die  Kirchen  zu  Baeharach,  zu  Sinzig  und  in  dem  benachbar- 


^)  Abg-ebildet  bei  E.  aus'm  Weerth,  Denkm.  des  MiltelaUers  in  den  Rheinl.  Bd.  III, 
Tai.  LH.  Fij-.  12. 

2)  Abbildungen  bei  Gladbach  (Möller  III)  Taf.  19  —  21.  Kugler,  kl.  Sehr.  II. 
S.  213,  giebt  Zeichnungen  charakteristischer  Details.  —  Dr.  Karl  Rössel,  die  Pfarr- 
kirche St.  Severus  in  Boppard,  Wiesbaden  1861,  publicirt  ein  Siegel  der  Stadt  B., 
welches  in  verhältnissmässig  guter  Ausführung  die  Kirche,  und  zwar  vollständig-  wie 
sie  noch  jetzt  ist,  mit  den  Thürmen  und  dem  Chor  darstellt.  Da  dies  an  Urkunden 
von  1236  vorkommt ,  war  die  Kirche  um  diese  Zeit  vollendet.  Damit  stimmt  überein, 
dass  die  im  Hochaltar  bewahrten  Reliquien  das  Siegel  des  Erzbischofs  Theodorich  von 
Trier  (1212  bis  1242)  trugen;  die  Niederlegung  der  Reliquien  geschah  bei  der  Weihe. 


264  Rheinischer  üebergangsstyl. 

ten  Heiraersheim,  zu  Linz  und  zu  ErpeP),  sämmtlich  mit  Emporen 
über  den  Seitenschiffen,  mit  Ringsäulen,  Kleeblatt-  und  Spitzbögen,  mit  Ar- 
cadenreihen  am  Aeusseren,  tragen  denselben  Charakter  eines  decorativen, 
nicht  gerade  mit  besonderer  Feinheit  behandelten,  aber  malerischen  Styls, 
der  sich  dann  an  dem  (muthmaasslich  1225  begonnenen)  Chore  der  St.  Mar- 
tinskirche zu  Münstermaifeld-)  in  besserer  Ausführung  zeigt.  Zu  be- 
merken ist,  dass  alle  diese  Kirchen  einen  fünfseitigen  Schluss  aus  dem  Zehn- 
ecke, also  eine  künstlichere,  aber  auch  dem  Halbkreise  sich  mehr  nähernde 
Polygonform  haben,  welche  an  der  zuletztgenannten  Kirche  durch  Verstär- 
kung der  Ecklisenen  eine  den  Strebepfeilern  ähnliche  Sicherung  erhält. 

Hieher  gehört  endlich  auch  das  Querschiff  des  Münsters  zu  Bonn, 
wahrscheinlich  der  Anfang  eines  neben  dem  älteren  Ostchore  ^)  begonnenen 
Neubaues  der  ganzen  übrigen  Kirche,  welcher  zufolge  einer  Bemerkung  des 
damals  schreibenden  Caesarius  von  Heisterbach  im  Jahre  1221  noch  nicht 
vollendet  war.  Die  Kreuzconchen  haben  auch  hier  wieder  die  fünfseitige 
Gestalt.  Starke  Ecklisenen  und  mehrere  Gesimse  theilen  das  Ganze  in 
Wandfelder,  die  sämmtlich  mit  einem  langgezogenen  Bogenfriese  gedeckt 
sind,  und  unten  kreisrunde,  rosettenartige,  oben  sehr  schlanke  rundbogige 
Fenster,  unter  dem  Dache  endlich  die  Zwerggallerie  haben.  Der  Plattenfries, 
die  plastische  Verzierung  der  Gesimse,  die  Säulen  und  Halbsäulen,  welche 
man  bisher  an  solchen  Conchen  anzubringen  pflegte,  sind  hier  fortgelassen; 
man  erkennt  eine  Tendenz  auf  gleichmässigere,  mehr  geregelte  Ornamenta- 
tion,  die  aber  nun,  da  man  doch  reiche  und  gehäufte  Verzierungen  brauchte, 
nach  Kugler's  richtigem  Ausdrucke,  in  eine  Tautologie  verfällt,  indem  ausser 
der  Arcadengallerie  drei  Rundbogenfriese  vorkommen,  so  dass  das  Motiv 
kleiner  decorativer  Bögen  sich  vier  Mal  wiederholt.  Der  Thurm  auf  der 
Vierung,  achteckig  und  mit  acht  Giebeln  versehen,  hat  schon  durchweg  spitz- 
bogige  Fenster.  Noch  deutlicher  zeigt  sich  die  Tendenz  zum  gothischen 
Style  am  Laughause,  das  wahrscheinlich  nach  der  Vollendung  des  Kreuz- 
schiffes und  bis  gegen  die  Mitte  des  Jahrhunderts  ausgebaut  wurde.  Die 
Fenster  der  Seitenschiffe  sind  fächerförmig,  aber  siebentheilig,  die  Ober- 
lichter im  Aeusseren  durch  eine  überaus  leichte  spitzbogige  Gallei'ie  verziert. 
Hier  finden  sich  auch  kleine  Strebebögen,  welche  in  Ermangelung  von 
Strebepfeilern  auf  den  starken  Wandpfeilern  der  Seiteuschiffe  ruhen.  Im 
Linern  sind  die  Gewölbe  spitzbogig,  die  Arcaden  noch  halbkreisförmig,  aber 


*)  Kugler  a.  a.  0.  S,  204.  Die  Petrildrche  zu  Baeharach  in  den  oben  angefülirten 
Werken  von  Bock,  die  Kirche  zu  Sinzig  bei  Boisseree,  Tf.  53  —  55,  die  zu  Heiniers- 
lieim  im  Organ  für  christl.  Kunst  1864,   S.  1  ff. 

')  Kugler  a.  a.  0.  S,  217.     Näheres  unten  Ivap.  7. 

3)  Vgl.  oben   S.  246  citirten  Werke. 


Die  Münster  zu  Bonn,  Kirchen  zu  Köln.  265 

weit  und  kühn  geschwungen,  die  Pfeiler  kräftig  gebildet,  'mit  hochhinauf- 
gehenden Diensten  im  Mittelschiffe,  mit  Bündelsäulen  auf  ihren  anderen 
Seiten.  Ueber  ihnen  zieht  sich  ein  Triforium  mit  Rundbögen  gleicher  Hohe. 
Die  Oberlichter  bestehen  unter  jedem  Gewölbe  aus  drei  halbkreisförmig 
gedeckten  Fenstern,  von  denen  das  mittlere  höher  und  vor  denen  ein  mit 
Säulen  geschmückter  Umgang  angebracht  ist.  Das  Ganze  ist  reich  verziert, 
hell  beleuchtet,  kräftig  und  würdig  und  theilt  die  Vorzüge  des  gothischen 
Styls,  ohne  ihm  bestimmt  anzugehören^).  Das  Hauptportal,  in  das  nördliche 
Seitenschiff"  führend,  ist  dagegen  schon  völlig  frühgothisch,  mit  tiefgeglie- 
dertem Spitzbogen  und  mit  den  kleinereu  diesem  Styl  zusagenden  Kapitalen. 
Das  Laughaus  der  Klosterkirche  zu  Sayn,  deren  im  Jahre  1202  erbautes 
Kreuzschiff  schon  erwähnt  ist,  soll  dem  dieses  Münsters  sehr  gleichen-). 

Andere  gleichzeitige  und  verwandte  Bauten  sind  die  Stiftskirche  zu 
Gerresheim  bei  Düsseldorf,  über  deren  Bauzeit  die  Nachrichten  fehlen, 
dann  das  Langhaus  und  der  als  Concha  angelegte  nördliche  Kreuzarm  der 
St.  Audreaskirche  zu  Köln,  welche  nach  dem  Brande  von  1220  erneuert 
wurden^),  endlich  das  westliche  Querschiff  der  Apostelkirche  daselbst, 
dessen  Entstehung  wahrscheinlich  sich  gleich  an  die  im  Jahre  1219  erfolgte 
LTeberwölbung  des  Langhauses  anschloss.  In  diesen  Gebäuden  sind  die 
Gewölbe  und  Arcaden  spitz,  die  Fenster  rundbogig  oder  fächerförmig,  das 
Innere  mit  dunkelen  Marmorsäulen,  das  Aeussere  mit  dem  Rundbogenfriese 
verziert.  Aber  gothische  Profile  und  Gliederungen  kommen  schon  häufiger 
vor  und  diese  verschiedenen,  theils  romanischen,  theils  gothischen  Elemente 
sind  harmonischer  verschmolzen,  so  dass  das  Ganze  mehr  den  Eindruck  des 
gothischen  als  des  romanischen  Styls  macht,  nur  freilich  in  anderer  Weise 
als  in  den  frühgothischen  Gebäuden  Frankreichs.  "Während  in  diesen  die 
constructive  Tendenz  sich  durch  höchst  solide  und  selbst  schwere  Gliede- 
rung fühlbar  macht,  war  man  am  Rheine  sofort  für  die  malerische  "Wirkung 
des  Spitzbogens  empfänglicher,  suchte  ihr  entsprechend  auch  die  mit  den 
Spitzbögen  in  "Verbindung  stehenden  Theile  schlanker  und  zierlicher  zu  bil- 
den, und  wurde  dadurch  in  der  ohnehin  schon  vorherrschenden  decorativen 
Tendenz  nur  noch  mehr  gesteigert.  Ein  sehr  auffallendes  Beispiel  hiefür 
ist  die  Klosterkirche  Sion  zu  Köln,  im  Jahre  1221  gegründet  und,  ob- 
gleich schon  vor  längerer  Zeit  abgebrochen,   uns   durch   die   von  Boisseree 


*)  Eine  gute  Abbildung  des  Ijinern  in  Chapuy's  Moyen  äge  monumental  Nro.  206, 
uud  bei  E.  aus'm  W'eerth  a.  a.  0.  —  Eine  Aussenansicht  bei  Boisseree  a.  a.  0.  Taf.  56. 

-)  Kugler,  kl.  Sehr.  II,  216,  welcher  an  einer  anderen  Stelle  darauf  hinweist,  dass 
es  Grafen  von  Sayn  waren,  welche  als  Pröpste  des  Bonner  Stiftes  den  dortigen  Bau 
leiteten. 

^)  Wie  dies  Caesarius  von  Heisterbach  a.  a.  0.  üb.  10,  c.  27  als  Zeitgenosse 
erzählt.     Nähere  Beschreibuuij  bei  Kugler  a.  a.  0.  S.  203. 


266  llhcinischrr  Ueberg-aiig-sstyl. 

publicirten  Zeichnungen  wohl  bekannt  ^).  Man  kann  sie  als  eine  einfache, 
spitzbogige  Pfeilerbasilika  betrachten,  an  deren  glatter,  nicht  einmal  durch 
Kämpfer  oder  Gesimse  unterbrochener  innerer  Wand  die  ganze  mit  dem 
Gewölbe  verbundene  und  durch  dunkelen  Marmor  belebte  Architektur  nur 
angelehnt,  gleichsam  angeklebt  ist.  Das  ganze  Mittelschiff  ist  nämlich  von 
fünf  Kreuzgewölben  bedeckt,  von  denen  das  erste  durch  einen  kräftigen  Pfeiler 
gesondert,  gleichsam  eine  Vorhalle  bildet,  die  vier  anderen  aber  paar- 
weise verbunden  und  gewissermaassen  wie  die  quadraten  oder  sechstheiligen 
Gewölbe  behandelt  sind,  indem  stärkere  Pfeiler,  an  welchen  eine  pilaster- 
artige,  von  schlanken  Ecksäulchen  begleitete  Vorlage  einen  ähnlich  gebil- 
deten breiten  Quergurt  trägt,  mit  schwächeren  Pfeilern  wechseln,  welche 
die  glatte  Fläche  zeigen,  und  oberhalb  deren  am  Triforium  ein  kleiner  Dienst 
aufsteigt,  der  nur  eine  gothisch  protilirte  Gewölbrippe  unterstützt.  Sehr 
eigenthümlich  ist  auch  das  übrigens  blinde  Triforium,  indem  es  aus  lauter 
vereinzelten,  nicht  dicht  aneinander  gereiheten  Arcaden  besteht.  Offenbar 
diente  die  neue  Ausstattung  des  Langhauses  der  Apostel kirc he,  welche 
der  nach  der  Nachricht  des  Gelenius  im  Jahre  1219  vollendeten  Ueber- 
wölbung  vorhergegangen  war"-),  hier  zum  Vorbilde,  nur  dass  man  statt  der 
sechstheiligen  Gewölbe  des  älteren  Baues  verbundene  Doppelgewölbe,  statt 
des  rundbogigen  Triforiums  spitze  Arcaden  anbrachte,  die  man,  weil  sie  den 
Raum  nicht  füllten,  auseinanderrückte.  Auch  das  Langhaus  der  alten 
St.  Martinskirche  erhielt  eine  neue  Bekleidung  des  Inneren,  indem  man 
über  den  rundbogigen  Scheidbögen  ein  Triforium  von  Spitzbögen  auf  ge- 
kuppelten Säulchen  anbrachte,  und  zugleich  ein  reiches  mit  Ringsäulen, 
romanischen  Verzierungen  und  kräftigen  spitzbogigen  Archivolten  verziertes 
Westportal.  Noch  stärker  ist  die  Hinneigung  zum  gothischen  Style  an  den 
Klostergebäuden  der  Abtei  Rommersdorf •^),  welche  unter  dem  von  1214 
bis  1236  regierenden  Abte  Bruno  erbaut  sind.  Die  Säulen  des  Kapitelsaals 
haben  noch  romanisches  Blattwerk  an  den  Kapitalen,  aber  ihre  runde  Basis 
ohne  Plinthe  und  der  achteckige  Aufsatz,  von  dem  die  Gewölbrippen  auf- 
steigen, zeigen  den  Gedanken  der  Verticalcntwickelung  sehr  deutlich,  die 
Rippen  haben  eine  Andeutung  der  birnförmigen  Profilirung,  und  selbst  an 


^)  Boisseree,  Denkmale  der  Baukunst  am  NiedeiTheiii  Taf.  64  —  66. 

-)  Lassaulx,  a.  a.  ().  S.  491,  bezieht  die  im  Jalire  1219  erfolgte  Uebenvölbniig 
mii'  auf  den  Chorraum,  weil  die  Gewölbe  des  Langhauses  jünger  zu  sein  schienen. 
Allein  die  bei  Gelegenheit  der  Ueberwölbung  bewirkte  Verstärkung  der  Pfeiler  durch 
aufsteigende  Halbsäulen  mit  Würfelkapitälen  und  das  damit  in  Verbindung  stehende 
rundbogige  Triforium  entsprechen  zu  sehr  der  Zeit  von  1219,  als  dass  man  nicht  an- 
nelunen  sollte,  dass  jene  Nachricht  sich  auch  auf  die  Einrichtung  des  [.anghauses  für 
Gewölbe  bezogen  haben  sollte. 

•'')  Vgl.  auch  hier  Boisseree  a.  a.  0.  Taf.  57,  58. 


Annäherung-  an  den  gotliischen  Slyl.  267 

den  noch  rundbogigen  Theilen  des  Kreuzganges  finden  sich  schon  kleine 
Rosetten  im  Bogenfelde,  Vorzeichen  des  Maasswerks. 

In  anderer  Weise,  nämlich  mit  engem  Anschluss  an  die  Formen  des^ 
rheinischen  Uebergangsstyles  zeigt  sich  die  Annäherung  an  die  Gothik  in 
der  Stiftskirche  St.  Cunibert  zu  Köln,  deren  Bau  im  Jahre  1200  nach 
dem  Plane  des  Subdiaconus  Vogelo  begann  und  im  Jahr  1247  geweiht 
wurde^).  Die  Anlage  der  östlichen  Theile  ist  abweichend  von  der  der  ande- 
ren gleichzeitigen  grösseren  Kirchen  in  Köln;  die  Querhausarme  haben  nicht 
die  Gestalt  von  Conchen,  sondern  sind  quadratisch,  aber  am  Aeusseren  nicht 
als  Kreuzschiff  sichtbar,  weil  sie  den  Unterbau  von  zwei  Thürmen  bilden.  Der 
Chorschluss  besteht  aus  einer  Apsis  mit  kleinen  Wandnischen  und  mit 
schmalem  Umgang  in  zwei  Stockwerken,  der  sich  unten  in  Säulengruppen  mit 
Schaftringen  und  Rundbögen,  oben  in  ähnlichen  Säulen  aber  ohne  Ringe 
und  mit  Spitzbögen  öffnet,  die  als  Stichkappen  in  die  Halbkuppel  einschneiden. 
Schon  hier  nähert  sich  das  Höhenverhältniss  der  Gothik,  aber  noch  stärker 
ist  diese  Annäherung  in  der  Anlage  des  Langhauses.  Es  ist,  wie  die  früh- 
gothischen  französischen  Kirchen,  in  drei  Doppeljochen  mit  sechstheiligen 
Kreuzgewölben  überdeckt,  die  Arcaden,  die  triforienartigen,  paarweise  ge- 
stellten Blenden  über  denselben,  die  Oberlichter  und  die  Schildbögen  sind 
rund,  aber  die  Gurten  der  Wölbung  spitz,  die  Rippen  in  der  Weise  des 
gothischen  Styls  profilirt;  vor  den  schlichten  Hauptpfeilern  steigen  Vorlagen 
in  Gestalt  von  Pilastern  mit  schlanken  Ecksäulen  ununterbrochen  in  die 
Höhe;  die  Mittelrippen  ruhen  auf  Halbsäulen,  die  vom  Arcadengesims  em- 
])orwachsen.  Die  Wände  der  rundbogig  überwölbten  Seitenschiffe  sind  durch 
Nischen  mit  kleinen  Achtpassfenstern  gegliedert.  Der  Westbau,  der  wie  in 
der  Apostelkirche  ein  zweites  Querhaus  bildet  und  aus  dessen  Mitte  der 
Hauptthurm  aufsteigt,  zeigt  den  Spitzbogen  auch  schon  in  den  Fenstern  und 
im  Portal.     Mit  Ausnahme  der  Apsis  ist  das  Aeussere  von  grösster  Schlichtheit. 

Neben  diesen  gothischen  Tendenzen  erhielt  sich  aber  der  romanische 
Uebergangsstyl  noch  in  voller  Geltung,  er  wurde  nur  durch  den  Einfluss 
jenes  regelmässigeren  Styls  geläutert  und  gekräftigt,  indem  er,  ohne  den 
Reichthum  von  Detailforraen  aufzugeben,  sie  harmonischer  zu  gestalten 
suchte.  Namentlich  bildete  sich  jetzt  auch  eine  bessere  plastische  Schule, 
welche,   wenn   sie  auch   die   Feinheit    und   Präcision    mancher   sächsischere 


1)  Diese  Nachrichten  finden  sicli  in  einem  von  Dr.  Eclierlz  entdeckten  Necrologinm^ 
welches  sich  nicht  wie  er  anfangs  meinte  (D.  Kunstbl.  1858,  S.  263)  auf  die  Apostei- 
kirclie,  sondern  nach  seiner  Berichtigung  (Dioskuren  1859,  S.  115)  auf  St.  Cunibert  beziriit. 
Die  Notiz  über  den  Baumeister  lautet:  VI  Kai.  Maji  obiit  Vogelo  subdyacoiius  .... 
Hujus  consilio  et  magisterio  inchoata  et  promota  est  nova  fabrica  ecciesie.  —  Auf- 
nahme bei  Boisseree  a.  a.  0.  Taf.  67  —  71. 


2(38  Rheinischer  Uebergangsstyl. 

Sculpturen  nicht  erreichte,  doch  in  freiem  Schwünge  und  in  Eleganz  der 
Ornamentation  Ausserordentliches  leistete,  und  die  stylvolle,  kräftige  Hal- 
tung romanischer  Gliederung  wie  mit  einem  vollen  Blüthenkranze  üppiger 
Vegetation  umgab.  Beispiele  solcher  Leistungen  geben  ausser  dem  schon 
angeführten  schönen  Portale  von  St.  Maria  in  Lyskirchen  in  Köln  die  Ka- 
pitälsculpturen  von  Rommersdorf  und  Münstermaifeld,  vor  Allem  aber  die 
herrliche  Eingangshalle  des  Kreuzganges  vor  der  westlichen  Apsis  von 
Kloster  Laach,  wo  sich  an  dem  Rankengesimse  unter  üppigem  Laubwerk 
eine  Fülle  der  schönsten  plastischen  Motive  findet  ^). 

Die  bisher  genannten  Kirchen  gehören  sämmtlich  den  Diöcesen  von 
Köln  und  Trier  an;  in  ihnen  war  der  Hauptsitz  dieses  Styls.  Doch  ver- 
breitete er  sich  auch  über  dieDiöcese  von  Mainz,  indessen  mit  etwas 
derberen  und  schwereren  Formen.  Der  Gewölbebau  fand  hier,  von  wo  er 
ausgegangen  war,  verhältnissraässig  frühe  Verbreitung,  behielt  aber  auch 
seine  schwere  und  einfache  Gestalt.  So  finden  wir  ihn  an  einigen  Dorf- 
kirchen des  Oberhessischen  Gebietes,  in  Oberwerba,  Battenfeld,  Broms- 
kirchen-), mit  schweren  viereckigen  Pfeilern,  runden  Scheidbögen  und 
Fenstern,  aber  spitzbogigen  Gewölben.  Bei  reicheren  Gebäuden  wandte 
man  aber  auch  die  Zierformen  des  niederrheinischen  Styls  an.  Ich  habe 
schon  erwähnt'^),  dass  die  prachtvolle  Ausstattung,  welche  der  Dom  zu 
Speyer  durch  eine  und  zwar  um  das  ganze  mächtige  Gebäude  umherlau- 
fende Gallerie  erhielt,  der  Herstellung  nach  dem  Brande  von  1159  zuzu- 
schreiben ist.  Gleichen  Schmuck  hat  auch  der  Dom  zu  Worms  an  seiner 
westlichen,  poIygonen  Nische  *),  die  Paulskirche  daselbst  an  ihrer  ähnlichen 
östlichen,  jener  zugleich  mit  kreisrunden  Fenstern,  deren  rosettenartige 
Verzierung  schon  an  gothisches  Maasswerk  erinnert.  An  der  schönen  west- 
lichen Vorhalle  der  Paulskirche  ist  zwar  die  Anlage,  in  Gestalt  eines  Quer- 
schiffes mit  achteckigem  Kuppelthurm  und  mit  einem  durch  Ringsäulen 
reich  verzierten  rundbogigcn  Portale,  noch  romanisch.  Aber  die  vier  Strebe- 
pfeiler, welche  an  der  Vorderseite  aufwachsen,  und  die  Gliederung  und 
Profilirung  des  Maasswerks  in  den  grossen  und  kleinen  Rosenfenstern  sind 
schon  entschieden  dem  gothischen  Style  entlehnt,  und  es  ist  nicht  unwahr- 
scheinlich,  dass,   wie  man  vermuthet  hat,   diese  Formenmischung  in  Folge 


^)  Abbiidung-en  bei  Geier  und  Görtz,  sowie  bei  Fr.  Bock,  das  monumentale  Rhein- 
land. 

-)  Abbildungen  enthalten  die  Denkmäler  der  deutschen  Baukunst,  dargestellt  von 
dem  hessischen  Vereine  für  die  Aufnalime  miltelalterlicher  Kunstwerke.  Band  I. 
Darmstadt  1858. 

»)  Bd.  IV,  S.  383. 

*)  Möller  I,  Taf.  18. 


Uebergangsstyl  am  Oberrheine.  269 

einer  im  Jahre  1261  stattgefuiidenen  grossen  Reparatur  dieser  Vorhalle 
entstanden  ist^).  Eine  sehr  eigenthümliche  Mischung  von  Elementen  des 
decorativen  rheinischen  Styles  mit  der  Tendenz  des  gothischen  finden  wir 
an  dem  westlichen  Chore  des  Domes  zu  Mainz,  der  nebst  dem  daranstehen- 
den Querschiffe  bald  nach  1200  angefangen,  1239  geweiht  ist 2).  Schon 
derGrundriss  ist  sehr  künstlich,  indem  er  aus  einem  Quadrate  besteht,  dessen 
eine  Seite  den  Zugang  nach  der  Vierung  des  Kreuzes  darstellt,  dessen  andere 
Seiten  aber  in  flache,  durch  je  drei  Seiten  des  Achtecks  gebildete  Nischen 
ausladen.  Es  ist  eine  Anwendung  des  Gedankens  kreuzförmig  verbundener 
Conchen,  wie  er  an  den  Kölnischen  Kirchen  im  Grossen  durchgeführt  war, 
auf  die  neben  ein  rechteckiges  Querschiff  gestellte  Chornische,  mithin  eigent- 
lich ein  Pleonasmus,  denn  jene  kleeblattartige  Anlage  ist  eben  eine  Ver- 
schmelzung der  Kreuzarme  mit  der  Chornische  und  hat  daher  neben  einem 
wirklichen  Kreuzschiffe  keine  Berechtigung'^).  Auf  diesem  künstlichen 
Grundplane  ist  dann  die  Ausführung  sehr  derb  und  doch  phantastisch.  Die 
polygonförmige  Anlage  der  drei  "Nischen  des  Chores,  die  langgezogenen,  wenn 
auch  rundbogigen  Fenster  auf  jeder  Polygonseite  und  die  völlig  ausgebildeten 
Strebepfeiler  erinnern  an  den  gothischen  Styl,  während  die  Ornamente  des 
rheinischen  Styls,  Rundbogenfriese,  Plattenfries  und  eine  Zwerggallerie  von 
ziemlich  gedrückten  Verhältnissen,  sich  häufen  und  neben  der  achteckigen 
Kuppel  schlanke  achteckige  Thürmchen  aufsteigen. 

Wie  es  scheint,  durchkreuzten  sich  in  diesen  Gegenden  verschiedene 
Einflüsse.  Die  imposante  Erscheinung  der  alten  Dome  von  Mainz  und 
Speyer  reizte  zur  Nachahmung,  während  man  doch  auch  mit  dem  zierlichen 
Style  der  nördlichen  Rheingegend  wetteifern  wollte  und  andererseits  von 
dem  neuaufkommenden  französischen  Systeme  entlehnte.  Dieses  Schwanken 
erkennt  man  schon  an  dem  Dome  zu  Worms,  welcher,  im  Jahre  1181  ge- 
weiht, im  Ganzen  noch  die  Gedanken  jener  älteren  Nachbardome  verfolgt, 
dabei  aber  in  den  Details  weichliche  Linien  und  eine  unharmonische  De- 
coration zeigt.  Bei  den  Klosterkirchen  dieser  Gegend  wurde  dann  die  Mischung 
stylistisch  verschiedener  Formen  noch  durch  den  langsamen  Baubetrieb  ge- 
steigert. So  schon  an  der  Kirche  des  vor  1150  gestifteten  Klosters  Enken- 
bach  bei  Kaiserslautern.  Ihre  Anlage,  kreuzförmig,  mit  einfach  quadratischem 


'^)  F.  V.  Quast  in  seiner  augefülirteii  Schrift  über  die  romanischen  Dome  zu  Mainz, 
Speier  und  Worms  S.  53,  weist  eine  alte  Nachricht  nach,  zufolge  welcher  im  Jahre 
1261  bedeutende  Reparaturen  (a  fundamentis)  stattgefunden  liaben.  —  Abbildung  in 
Moller's  Denkmälern  Bd.  II,  und  in  Förster's  Denkm.  Bd.  II. 

2)  Vgl.  Wetter  S.  33,  und  v.  Quast  a.  a.  0.     Kallenbach  Taf.  25,  26. 

')  An  der  oben  erwähnten  Kirche  zu  Klosterrath  beruht  die  ähnliche  Verbindung 
des  Kleeblattes  mit  dem  Kreuzschift'e  nicht  auf  ursprünglichem  Plane,  sondern  auf  der 
Verschiedenheit  der  Bauzeit. 


270  Rheinischer   Ueberg-angsstyl. 

Altarraum  und  quadratischer  Uebervvölbung  bei  kolossaler  Dicke  der  Mauern 
und  Pfeiler  entspricht  dieser  Frühzeit.  Auch  sind  die  Fenster  rundbogig 
und  runde  Blendbögen  verbinden  die  Pfeiler;  aber  über  den  zwischen  diesen 
Pfeilern  stehenden  Säulen  lehnen  sich  die  Arcaden  spitzbogig  an  jenen  Blend- 
bogen an,  die  Gewölbe  sind  nicht  bloss  spitzbogig,  sondern  mit  starken 
Kippen  versehen  und  im  Aeussern  durch  kräftige  Strebepfeiler  gestützt, 
und  das  gegen  die  westliche  Vorhalle  sich  öffnende  Portal  ist  zwar  rund- 
bogig,  aber  reich  gegliedert,  und  mit  Blattwerk  und  besonders  im  Tympanon 
mit  Weinlaub  geschmückt,  dessen  Behandlung  schon  ganz  die  des  gothischen 
Styls  ist^).  Noch  stärker  zeigt  sich  der  Gegensatz  von  strengen  und  gran- 
diosen neben  leichten  und  zierlichen  Theilen  an  der  vielleicht  einige  Jahre 
später  begonnenen  Kirche  des  benachbarten  Cistercienserklosters  Otter- 
berg, ebenfalls  in  der  bayrischen  Pfalz-).  Stärkere  und  schwächere  Pfeiler 
wechseln  in  dem  aus  fünf  quadraten  Gewölben  bestehenden  Langhause, 
diese  einfach  viereckig,  jene  durch  eine  Vorlage  verstärkt  und  mit  Ecksäulen 
und  einer  von  einer  Console  aufsteigenden  Mittelsäule  die  Gewölbrippen 
tragend.  An  das  Kreuzschiff  schliesst  sich  der  viereckige,  hinten  aber  mit 
flacher  Polygonnische  ausladende  Chor  an.  Alle  Fenster  sind  rundbogig, 
die  Arcaden  dagegen  sehr  einfach  gehaltene  unverzierte  Spitzbögen.  Dies 
Alles  giebt  den  Eindruck  des  Kräftigen  und  Strengen,  aber  die  Kapitale,  in 
korinthisirender  Form  mit  schlankem  Halse  und  eckiger  Ausladung  sind 
geschmackvoll  und  üppig  verziert,  und  die  Westfa^ade,  nach  der  Regel  der 
€istercienser  ohne  Thurm,  hat  ein  reizendes  überaus  reich  gegliedertes  rund- 
bogiges  Portal  rheinischen  Styls,  während  das  darüber  befindliche  grosse 
Radfenster  schon  dem  Gothischen  verwandtes  Maasswerk  enthält,  und  ein 
im  Giebel  ausgebrochenes  Fenster  dem  entwickelten  gothischen  Style  an- 
gehört. 

In  den  auf  der  rechten  Seite  des  Stromes  gelegenen  Gegenden  der 
Mainzer  Diöcese  erscheint  der  rheinische  Styl  etwas  feiner  ausgebildet,  so 
namentlich  in  der  von  seinen  Ufern  schon  ziemlich  entfernten  Hauptkirche 
zu  Gelnhausen^).  Die  kleine  Reichsstadt  erfreute  sich,  seitdem  Friedrich  I. 
in  ihrer  Nähe  seinen  oben  erwähnten  Palast  erbaut  hatte,  der  Gunst  des 


1)  S.  Abbildungeil  bei  Sig-hart,  Gesciiichte  d.  b.  Künste  in  Bayern,  S.  247.  Audi 
in  den  vom  hessischen  Vereine  lierausgegebenen  Denkmälern ,  sowie  bei  Förster, 
Denkmale  Bd.  X. 

2)  Vgl.  Sighart  a.  a.  0.,  S.  249,  Gladbach  a.  a.  0.  Taf.  12  —  15,  E.  Förster, 
Denkmale   Bd.  X. 

••')  Moller,  Denkmäler  Taf.  19-25.  Kallenbach  a.  a.  0.  Taf.  22  und  23.  Mertens, 
in  seinen  Tabellen,  setzt  diese  Kirche,  wohl  nur  vermöge  seines  allgtMiieinen  Princips 
ßpäter  Datirung,  nicht  auf  Grund  specieller  Naciirichten,  um  125C\ 


Kirche  zu  Gelnhausen. 


271 


Fig.  78. 


Hohenstaufischeii  Hauses.  Zahlreiche,  von  diesem  Schlosse  datirte  Urkunden 
beweisen,  dass  Friedrich  selbst,  Heinrich  VI.,  Philipp  von  Schwaben  und 
König  Hehirich,  Friedrichs  II.  Sohn,  hier  häufig  Hof  hielten.  Dies  wurde 
die  Grundlage  zunehmender  "Wohlhabenheit,  von  welcher  die  für  eine  blosse 
Pfarrkirche  ungewöhnlich  reiche  Ausstattung  dieses  Gebäudes  Zeugniss 
ablegt.  Das  Langhaus,  ohne  Zweifel  der  älteste  Theil,  ist  ziemlich  einfach, 
sogar  noch,  was  bei  rheinischen  Kirchen  ähnlichen  Umfanges  in  dieser  Zeit 
nicht  mehr  leicht  vorkam,  mit  einer  Balkendecke  versehen.  Die  Fenster 
sind  rundbogig  und  unverziert,  die  Scheidbögen  spitz,  die  viereckigen 
Pfeiler  haben  auf  der  Stirnseite  eine  Ringsäule.  Das  Kreuzschiflf  und  der 
ziemlich  lang  gestreckte,  mit  drei  Seiten  des  Achtecks  geschlossene  Chor 
sind  dagegen  durchweg  gewölbt  und  in 
jeder  Beziehung  reich  gehalten.  Auf  der 
Vierung  des  Kreuzes  öffnet  sich  eine  acht- 
eckige Kuppel,  über  welcher  ein  mächtiger 
Thurm  zwischen  zwei  anderen  in  den 
Winkeln  des  Kreuzschiffes  und  der  Chor- 
vorlage angebrachten,  ebenfalls  achteckigen, 
aber  schlankeren  Thürmen  hervorragt.  In 
der  Decoration  ist  das  Motiv  gebrochener 
Bögen  fast  im  Uebermaasse  gebraucht.  Im 
Inneren  sind  die  Doppelreihen  von  Blend- 
arcaden  im  Kleeblattbogen  gebildet,  die 
Schildbögen  an  den  Polygonseiten  des 
Chorschlusses  fünffach  ausgezackt,  endlich 
die  Gewölbkappen  von  Rosenfenstern  mit 
innerem  Vierpasse  durchbrochen.  Das 
Aeussere  der  Chornische  hat  zw'ar  im 
unteren  Stockwerke  schlichte  Fenster  mit 

stumpfem  Spitzbogen  und  den  einfachen  Rundbogenfries,  dafür  aber  Strebe- 
pfeiler. An  den  Giebeln  der  Polygonseiten  tritt  dann  eine  um  so  stärkere 
Häufung  jenes  Bogenmotivs  auf,  ein  treppenförraig  aufsteigender  Bogenfries, 
Kleeblattbügen  au  derGallerie  und  au  den  Fenstern,  und  endlich  noch,  durch 
die  Säulen  der  Gallerie  durchscheinend,  der  Vierpass  jener  Rosenfenster. 
Dazu  kommt,  dass  sämmtliche  Kleeblattbögen,  mit  Ausnahme  der  oberen 
Arcatur  des  Inneren,  keine  Einrahmung  durch  einen  einfachen  Bogen  haben, 
so  dass  die  unruhige,  ich  möchte  sagen  hüpfende  Bewegung  kleiner  Bögen 
jeder  Unterbrechung  und  Milderung  entbehrt.  Wenn  sich  in  diesem  Theil 
des  Schmuckes  die  Schwächen  dieser  decorativen  Richtung  zeigen,  ist  da- 
gegen die  Ausführung  und  namentlich  die  Plastik  au  den  Kapitalen  und 
Consolen  des  Inneren  des  höchsten  Lobes  werth.  Es  sind  noch  die  bekannten 


Kirche  zn  Gelnhausen. 


272  Rheinischer  Uebergangsstyi. 

Rankenverschliugungen  des  romanischen  Styls,  aber  in  so  freien  und  kühnen 
Schwingungen,  mit  so  feinem  Gefühle  für  die  Schönheit  der  Linie,  und  mit 
solcher  Präcision  und  Schärfe  ausgeführt,  dass  sie  das  Auge  entzücken  und 
kaum  von  irgend  einer  anderen  Arbeit  ähnlicher  Art  übertroffen  werden. 
Nachrichten  über  den  Bau  besitzen  wir  nicht;  die  Aehnlichkeit  der  Formen, 
der  kelchförmigen  Kapitale,  der  gedrückten  und  ausladenden  Basis  und  selbst 
jenes  Missbrauchs  gebrochener  Bögen,  weist  auf  ^die  Zeit  hin,  in  welcher  die 
Kapelle  von  Kobern,  die  Herstellung  der  Kirche  zu  Boppard  und  andere  der 
oben  erwähnten  Bauten  entstanden  sind,  so  dass  wir  auch  hier  die  Bauzeit 
von  1220  bis  1210  annehmen  können^). 

Auch  in  anderen  gleichzeitigen  Bauten  dieser  ostrheinischen  Gegend 
herrscht  diese  decorative  und  plastische  Richtung,  wenn  auch  in  minder 
vollkommener  Ausführung.  So  in  den  Chorbauten  der  Abteikirchen  zu 
Seligenstadt-),  wo  die  Bogenmotive  und  das  leicht  gearbeitete  Blattwerk 
der  Kapitale  an  Gelnhausen  erinnern,  und  zu  Pfaffen- Seh wabenheim^) 
im  Darmstädtischen,  wo  die  Fenster  im  Langchor  spitzbogig,  im  polygonen 
Chorschluss  rundbogig  und  innen  reich  mit  Ringsäulen  besetzt  sind  und  die 
Zwerggallerie  ungewöhnlicher  Weise  keine  Bögen,  sondern  gerades  Gebälk 
trägt.  Gleichzeitig  und  in  manchen  Beziehungen  verwandt  sind  auch  das  in 
einem  späteren  Bau  erhaltene  Portal  der  St.  Leonhardskirche  zu  Frank- 
furt am  Main,  der  Kreuzgang  der  Stiftskirche  zu  Aschaffenburg  und 
endlich  die  in  die  Sakristei  führende  Thür  des  Domes  zu  Mainz^).  Sie 
alle  haben  die  Eigenthümlichkeit,  dass  ihre  halbkreisförmigen  Bögen  etwas 
überhöhet  und  fast  hufeisenförmig  sind,  was  aber  gewiss  nicht  aus  maurischen 
Reminiscenzen,  sondern  aus  der  Absicht  zu  erklären  ist,  höhere,  luftigere 
und  schlankere  Oeffnungen  zu  gewinnen.  Sehr  augenscheinlich  tritt  dies  an 
dem  Kreuzgange  zu  Aschaffenburg  hervor,  welcher,  obgleich  niedrig  und 
beschränkt,  dennoch  durch  die  eigenthümliche  Bogenconstruction,  welche 
sehr  schmale  Pfeiler  und  Säulchen  von  nur  sechs  Zoll  Dicke  anzuwenden 
gestattete,  starke  Beleuchtung  und  freien  Zutritt  der  Luft  erhält,  und  so 
den  Anforderungen,  welche  man  an  diese  Gänge  machte,  entspricht.  Er 
scheint  die  früheste  der  erwähnten  Anlagen ;  die  Kapitale,  schlank  und  üppig 
ausladend,  sind  bei  massiger  Ausführung  in  ungünstigem  Material  überaus 
reich  und  nach  einem  gewissen  Rhythmus  wechselnd  mit  mannifachen,  aber 
durchweg  romanischen  Motiven  verziert,  die  flache,  über  die  Plinthe  hinaus- 
ragende Basis  gleicht  der  in  der  Kirche  zu  Gelnhausen.     Noch  auffallender 


*)  Eine  Inschrift   an  einem  Strebepfeiler   bekundet  ein  Erdbeben  vom  Jahre  1223. 
")  Kallenbach  a.  a,  0.  Taf.  29. 

'')  Vgl.  die  vom  hessischen  Vereine  herausgegebenen  Denkmäler  Taf.  15 — 18. 
')  SämmtHch  bei  Moller  Bd.  I,    Taf.  9,  11,  12,  14  —  16.     Vgl.  Wetter  a.  a.  0. 
S.  47.     Kapitale  aus  dem  Kreuzgange  von  Aschaffenburg  bei  Kallenbach  Taf.  29. 


Elsass.  273 

ist  die  Ueberhöhung  des  Bogcns  an  der  Sakristeithüre  des  Mainzer  Domes^ 
welche  wahrscheinlich  gleichzeitig  mit  dem  "Westchor  um  1230 —  1236  ge- 
baut wurde  und  in  ihren  schlanken  Verhältnissen,  sowie  in  der  Bildung  der 
Säulenfü^se  schon  eine  Aveitere  Annäherung  an  die  Tendenzen  des  gothischen 
Styls  zeigt.  Auch  am  Portal  der  Leonhardskirche,  an  welchem  die  Kapitale 
mit  würfelartiger  Ausladung  auf  schlankem  Halse,  die  reichverzierten  und 
weit  vorragenden  Deckplatten,  die  Rankengewinde  noch  völlig  dem  spät- 
romanischen Style  angehören,  verräth  die  eigenthümliche  Bildung  der  Säulen- 
stämme und  des  achtseitig  kannelirten  Säulenfusses  dasselbe  Bestreben  nach 
schlankeren  Verhältnissen  und  nach  einem  mehr  organischen  Hervorwachsen 
der  oberen  Theile  aus  den  unteren. 

So  sehen  wir  also  die  rheinische  Bauschule  vom  Beginn  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  bis  um  1240  in  einer  rüstigen  und  erfreulichen  Thätigkeit; 
überall  sind  neue  Gebäude  erstanden  oder  ältere  verschönert.  Die  Mehr- 
zahl der  malerischen  Kirchen,  welche  die  Ufer  oder  Nebenthäler  des  Rheines 
zieren,  tragen  das  Gepräge  dieses  kurzen  Zeitraumes.  Die  Technik  hat  sich 
verbessert,  die  Ueberwölbung  ist  auch  bei  kleineren  Kirchen  angewendet, 
die  3Iannigfaltigkeit  der  einheimischen  vulkanischen  Steinarten  in  glück- 
lichster Weise  benutzt.  Die  Plastik  bewegt  sich  innerhalb  der  Grenzen 
des  architektonischen  Styles  mit  kühnem  Schwünge  and  feinstem  Schönheits- 
gefühl; eine  Fülle  neuer  Erfindungen  und  Combinationen  giebt  jedem  Ge- 
bäude einen  eigenen,  individuellen  Charakter.  Allein  bei  allen  diesen  Vor- 
zügen bemerken  wir  den  Mangel  eines  festen,  architektonischen  Princips. 
Das  vorherrschend  decorative  Bestreben  macht  schon  jetzt  zuweilen  den 
Eindruck  des  Spielenden  oder  des  Ueberladenen  und  es  ist  wenigstens  sehr 
zweifelhaft ,  ob  man  ein  weiteres  Fortschreiten  auf  diesem  Wege  wünschen 
durfte. 


Der  Elsass  zeigte  schon  in  der  vorigen  Epoche^)  eine  etwas  andere 
architektonische  Richtung  als  die  Gegenden  des  Nieder-  und  Mittelrheins. 
Neben  der  Neigung  zu  einer  effectvollen,  selbst  barocken  Ornamentation 
machte  sich  auch  das  Streben  nach  strenger  und  solider  Construction  geltend. 
Kirchen  mit  quadrater  Ueberwölbung  auf  Stützen  von  wechselnder  Stärke 
waren  schon  im  zwölften  Jahrhundert  entstanden;  einige,  z.  B.  St.  Fides  in 
Schlettstadt,  sogar  schon  mit  spitzbogigen  Arcaden.  Am  Schlüsse  des  12. 
und  im  Beginne  des  13.  Jahrhunderts  bildete  sich  diese  Richtung  mit 
grösserer  Consequenz  aus.     Eine  interessante  Leistung  des  hierdurch  ent- 


1)  Band  IV,  S.  397. 

Schnaase's  Knnstgesch.  2.  Aiifi.    V 


274  üebergangsstyl  im  Elsass. 

standenen  Styles  ist  die  Kirche  zu  Gebweiler,  St.  Legerius  ^),  ursprünglich 
eine  dreischiffige,  kreuzförmige  Anlage  mit  drei  Doppeljochen  im  Mittel- 
schiffe, später  durch  zwei  weitere  Seitenschiffe  und  eine  spätgothische 
Chornische  vergrössert.  Die  Fenster  sind  rundbogig,  die  Gewölbe  und 
Arcaden  in  sehr  entschiedenem  Spitzbogen,  diese  mit  einem  Untergurt.  Die 
Hauptpfeiler  sind  auf  allen  vier  Seiten,  die  Nebenpfeiler  mit  Ausnahme  der 
Frontseite  mit  Halbsäulen  als  Diensten  der  Bögen  und  Gewölbgurten  be- 
wehrt, alle  Details  aber  schlicht  und  strenge,  die  Kapitale  durchweg  in 
schmuckloser  Würfelform,  und  die  Verhältnisse,  wie  es  schon  in  romanischer 
Zeit  im  Elsass  vorherrschte,  gedrungen.  fNur  die  Westseite  zeigt  elegantere 
Formen,  ein  von  je  drei  schlanken  Säulen  eingefasstes  Rundbogenportal, 
und  davor,  nach  einem  im  Elsass  beliebten,  schon  an  St.  Fides  in  Schlett- 
stadt  und  besonders  in  Mauresmünster  angewendeten  Motive,  eine  offene 
Vorhalle  von  drei  Bögen,  welche  hier  der  ganzen  Breite  der  drei  Schiffe 
entspricht,  und  an  welcher  der  mittlere  Eingang  rund,  die  beiden  schmaleren 
Seiteneingänge  aber  ihrer  geringeren  Weite  gemäss  spitzbogig  gehalten  sind. 
Zwei  viereckige  Thürme  über  dieser  Vorhalle  und  der  mächtige,  achteckige 
Vierungsthurm  bekrönen  das  Ganze. 

Ungefähr  gleichzeitig  entstanden  und  ähnlich  wie  St.  Legerius  von 
Gebweiler,  aber  grossartiger  ist  die  Stiftskirche  St.  Peter  und  Paul  zu 
Neuweiler-),  welche  mit  ihrem  zu  diesem  Zwecke  rechtwinkelig  schliessen- 
den  Chore  an  die  oben  (Bd.  IV,  S.  398)  erwähnte  sehr  viel  ältere  Doppel- 
Kapelle  (St.  Sebastian)  anstösst.  Dieser  Chor,  das  Kreuzschiff  und  das  öst- 
liche der  drei  das  Langhaus  bildenden  Doppeljoche  sind  noch  im  Style  des 
zwölften  Jahrhunderts  erhalten.  Kreuzförmig  gestaltete  und  mit  streng- 
gebildeten Halbsäulen  ausgestattete  Hauptpfeiler,  durch  spitze,  aber  recht- 
winkelig umrahmte  Arcaden  mit  den  achteckigen  Nebenpfeilern  verbunden, 
tragen  das  schwere  spitzbogige  Rippengewölbe,  welches  durch  einfache,  von 
starken  Strebepfeilern  ausgehende  Strebebögen  gestützt  wird.  Das  Lang- 
haus ist  durch  paarweise  unter  jedem  Schildbogen  zusammengestellte  rund- 
bogige  Oberlichter,  das  Kreuzschiff  aber  (wie  in  Gebweiler)  durch  Radfenster 
beleuchtet.  Die  westlichen  Joche  tragen  die  Spuren  einer  späteren  Ent- 
stehung, die  Seitenschiffe  haben  zwar  noch  romanische,  aber  eleganter 
behandelte  Formen,  die  des  Mittelschiffes  gehören  schon  der  Frühgothik  an. 


^)  Publicirt  in  den  Archives  de  la  commissiou  des  monumenft  historiqiies.  Vgl. 
Lübke,   eine  Reise  im  Elsass,  in  der  Wiener  Bauzeitung  1866.     S.  346  —  368. 

-)  Vgl.  auch  hier  die  Publication  in  den  Archives  des  monuments  historiques  und 
Besciireibung  und  Zeichnungen  bei  Lübke  a.  a.  0.  sowie  bei  Woltmann ,  Streifzüge 
im  Elsass,  Zeitschrift  für  bildende  Kunst,  1872,  S.  271  ff.  —  Neuvveiler  liegt  bei  Zabern, 
also  in  der  nördlichen  Hälfte  des  Elsass,  Gebvveiler  in  der  Nälie  von  Tliann,  also  im 
Süden. 


St.  Peter  und  Paul  zu  Neuweiler. 
Fig.  79. 


275 


St.  Peter  und  Paul  zu  Nenweiler. 


18* 


276 


üebergangsstyl  im  Elsass. 


Am  siidlichen  Seitenschiffe  befindet  sich  ein  rundbogiges,  zierlich  ge- 
gliedertes Portal  mit  schlanken  Ringsäulen.  Der  westliche  Frontbau  ist  ein- 
Zusatz  des  vorigen  Jahrhunderts.  Die  jetzt  dem  protestantischen  Gottes- 
dienst gewidmete  St.  Adelphikir  che  zuNeu  weilerzeigt  in  ihren  erhaltenen 
Theilen  den  Einfluss  der  Stiftskirche,  jedoch  mit  durchgängiger  Anwendung 


Fig.  8ü. 


3         4        5         6 


St.  Peter  und  Panl  zn  Neuweiler. 


des  Spitzbogens  und  mit  etwas  plumper  Formbildung.     Sie  wird  der  ersten- 
Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  angehören. 

Neben  diesen  Bauten  mehr  constructiver  Richtung  kommen  dann  hin 
und  wieder  zierlichere  Anlagen  vor.  So  der  an  der  übrigens  modernisirten 
Kirche  zu  Pfaffc.nheim  bei  Ruffach  erhaltene  Chor.    Er  ist  von  schlankea 


Osttlieile  des  Strassburger  Münsters.  277 

Terhältnissen ,  mit  drei  Seiten  des  Achtecks  geschlossen,  mit  regelmässig 
gebildeten  Strebepfeilern  bewehrt,  mit  reich  gegliederten  Fenstern,  Rund- 
bogenfriesen und  endlich  mit  einer  Zwerggallerie  ausgestattet ,  die  aber 
abweichend  von  dem  niederrheinischen  Gebrauche  nur  aus  Blendbogen  be- 
steht 1). 

Zu  den  wichtigsten  Leistungen  des  elsassischen  Uebergangsstyles  gehört 
dann  auch  der  Umbau,  welchen  die  östlichen Theile  des  berühmten  Strass- 
burger  Münsters  seit  dem  Anfange  des  13.  Jahrhunderts  erlitten.  Die 
Anordnung  selbst  ist  höchst  alterthümlich,  basilikenartig  und  wahrscheinlich 
aus  der  Gründung  der  Kathedrale  unter  den  Karolingern  oder  Merowingern 
stammend.  Sie  besteht  (über  einer  ganz  romanischen  Krypta)  aus  einer 
Apsis,  welche  äusserlich  rechtwinkelig  ummauert  sich  an  die  Stiftsgebäude 
anschliesst,  innerlich  aber  die  Gestalt  eines  vertieften  Halbkreises  bildet, 
und  ohne  den  im  romanischen  Style  Deutschlands  üblichen  Vorraum  unmittel- 
bar in  ein  Querschiff  von  ungewöhnlicher  Breite  mündet.  Bei  der  Apsis, 
deren  Gestalt  eben  wegen  ihres  Zusammenhanges  mit  den  Stiftsgebäuden 
keine  Veränderung  duldete,  musste  sich  der  Meister,  der  mit  ihrer  Wieder- 
herstellung im  neueren  Style  beauftragt  war,  damit  begnügen,  sie  durch  eine 
reiche  spitzbogige  Wandarcatur  zu  beleben,  welche  ihm  zugleich  dazu  diente, 
an  den  Eckpfeilern  der  Chorvvand  eine  Erweiterung  des  Mittelschiffes  vor- 
zubereiten. Schwieriger  war  es,  das  Querschiff,  das  bisher  ohne  Zweifel 
nur  eine  Balkendecke  gehabt  hatte,  wie  es  der  Anstand  und  die  Sicherheit 
jetzt  forderten,  mit  einer  Kuppel  über  der  Vierung  und  mit  vollständiger 
Ueberwölbung  zu  versehen.  Da  nämlich  die  Kreuzarme  sehr  weit  ausladend, 
von  grösserer  Breite  als  Tiefe  sind,  schien  es  nicht  thunlich,  jeden  mit  einem 
einzigen  grossen  Gewölbe  zu  bedecken.  Der  Meister  gab  ihnen  daher  je 
vier  kleine  Kreuzgewölbe,  welche  in  der  Mitte  auf  einer  freistehenden  hohen 
Rundsäule  ruhen.  Diesen  Säulen  entsprechend  ist  dann  auch  zwischen  jedem 
Paare  der  vier  mächtigen,  an  den  Ecken  der  Vierung  stehenden  Pfeiler  eine 
kleinere  Säule  gestellt,  so  dass  das  ganze  Kreuzschiff  in  seiner  Längen- 
Tichtung  durch  eine  Säulenreihe  getheilt  ist,  und  neben  dem  grösseren  Räume 
der  Vierung  auf  jeder  Seite  vier  kleinere  Abtheilungen  entstanden  sind-). 
Wenn  auch  bei  dieser  Anordnung  zunächst  die  Sicherung  des  Gewölbes  be- 
stimmend gewesen  war,  so  gewährte  sie  doch  den  Vortheil,  jene  weiten 
Räume  des  Kreuzschiffes  zu  theilen,  neben  der  Vierung  kleinere  Gewölbfelder 
zu  bilden,  und  so  ohne  wesentliche  Steigerung  der  Höhe  des  ganzen  Raumes 
schlankere,  dem  neueren  Geschmack  mehr  zusagende  Verhältnisse  und 
Formen  zu  erlangen.     Auch  in  den  Details   erkennen  wir  neben  den  her- 


^)  Vgl.  den  Holzschnitt  bei  Lübke,  Arch.  Gesell    S.  391. 

-)  S.  unten  Fig.  105  den  Grundriss  des  Strassburger  Münsters. 


278  Uebergangsstyl. 

gebrachten  romanischen  Formen  schon  einzelne  derGothik  angehörige,  z.  B. 
spitzbogige,  zweigetheilte,  wenn  auch  noch  nicht  durch  Maasswerk  belebte 
Fenster,  und  empfinden  das  unruhige  Suchen  und  Ringen,  welches  durch 
den  Widerstreit  des  neuen  Styls  uud  der  alten  Gewöhnung  entstand.  Nament- 
lich gilt  dies  von  den  Fagaden  des  Querhauses,  bei  denen  sich  spitzbogige 
Fenster,  dann  romanisch  gebildete  Radfenster,  und  endlich  auf  der  Nordseite 
noch  eine  Zwerggallerie  übereinander  erheben.  Das  Doppelportal,  das  sich 
auf  der  freiliegenden  Südseite  erhalten  hat,  ist  rundbogig,  aber  sehr  schlank. 


Der  Einfluss  dieser  energischen  Schule  erstreckte  sich  nicht  auf  die- 
benachbarten  Gegenden.  Schon  das  Langhaus  des  Münsters  zu  Altbrei- 
sach, obgleich  nur  durch  den  Rhein  vom  Elsass  getrennt,  erinnert  mehr  an 
die  mittelrheinischen  Dome  als  an  den  pikanten  Uebergangsstyl  des  Elsass 
und  das  Kreuzschiff  des  Freiburger  Münsters,  obgleich  reich  ausgestattet,, 
zeigt  durchweg  die  ruhigen  Formen  des  spätromanischen  deutschen  Styls,. 
rundbogige  Portale  und  Fenster,  den  Rundbogenfries  u.  s.  f.  "Weiterhin,  in 
der  deutschen  Schweiz,  in  Schwaben  und  Bayern  tritt  die  constructive  Tendenz, 
das  Suchen  nach  neuen,  kräftigen  Formen  noch  mehr  zurück*,  der  einfache 
romanische  Styl,  das  Würfelkapitäl,  die  Balkendecke  bleiben  noch  lange  be- 
liebt. Hin  und  wieder  kommen  wohl  gewölbte  Kirchen  vor,  aber  vereinzelt,^ 
mit  wechselnden  Formen,  welche  keinesweges  als  Leistungen  einer  in  sich 
einigen  Localschule  erscheinen,  sondern  auf  fremden  Einfluss  deuten.  Das 
Streben  der  einheimischen  Bauleute  scheint  vielmehr  ausschliesslich  auf 
Herstellung  einer  reicheren  Ornamentik  gerichtet,  bei  der  sie  dann  aber 
nicht  von  so  sicherem  Geschmack  geleitet  sind,  wie  die  niederrheinische 
Schule,  sondern  mannigfach  schwanken.  Zum  Theil  nämlich  geben  sie 
geometrisches  Ornament,  das  mit  feinem  Stylgefühl  ausgeführt  ist,  häufiger 
aber  gefallen  sie  sich  in  ziemlich  unmotivirter  Ausstattung  der  Gebäude 
mit  phantastischen  Gestalten,  thierischer  und  menschücher  Bildung.  Die 
bedeutendsten  Leistungen  dieser  decorativen  Schule,  deren  Anfänge  wir  schon 
in  der  vorigen  Epoche  (Band  IV ,  S,  405)  bemerkten ,  finden  sich  an  dem 
grossen  Münster  zu  Zürich,  besonders  am  Nordportale  und  an  dem  Kreuz- 
gange^).    Auch  das  Portal  der  Klosterkirchezu  Petershausen  bei  Constanz -) 


1)  Vögelin,  der  Kreuzgaug  beim  Grossmünster  in  Zürich.  Vögelin  und  Keller,  der 
Grossmünster  in  den  Mittheilungen  der  antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich,  Bd.  I  u.  II. 

2)  Abbildungen  in  den  Denkmalen  deutscher  Baukunst  am  Oberrhein  und  im 
Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit  1860  S.  286  und  321.  An  dem  Relief  im 
Friese  des  Portals  findet  sich  ohne  weitere  Bezeichnung    der  Name  Wezilo,    welchea 


Würtemberg. 


279 


and  die  sehr  ähnliche,  aber  reicher  ausgeführte  Galluspforte  am  Münster 
zu  Basel  gehören  dieser  Schule  an,  die  übrigens  trotz  ihrer  Vorliebe  für 
Figurenbildung  in  dieser  sehr  roh  und  ungeschickt  auftritt,  während  das 
eigentliche  Ornament  frei  und  leicht  behandelt  ist. 

Im  Würtembergischen  sind  nur  geringe  Spuren  des  üebergangsstyls 
nachzuweisen.  Die  Stiftskirche  zu  Ellwangen,  die  einzige,  auf  quadratische 
Ueberwölbung  angelegte  grössere  Basilika,  unterscheidet  sich  so  sehr  von 
allen  anderen  schwäbischen  Bauten,  dass  man  einen  fremden  Einfluss,  etwa 
von  Sachsen  her,  annehmen  muss.  DieKirchenzu  Denkendorf,  zu  Obersten- 
feld und  zu  Weinsberg  haben 

bei  rundbogigen  Fenstern  spitz-  Fig-  8i. 

bogige  Arcaden,  aber  ohne 
weitere  bauliche  Entwickelung. 
Dagegen  sind  häufig  auch 
kleinere  Kirchen  mit  phantasti- 
schen Sculpturen  ausgestattet; 
an  der  Kirche  zu  Plieningen 
bei  Stuttgart  ist  die  Unterseite 
des  weitausladendeu  Kreuzge- 
simses mit  Thieren  oder  mensch- 
lichen Gestalten  besetzt,  an  den 

Kirchen  zu  Schwärzloch  bei  Tübingen,  zu  Brenz,  Faurndau  und 
B eisen  tragen  Kapitale  und  Friese  so  phantastisches  Bildwerk,  dass  man 
sie  lange  für  heidnischen  Ursprungs  gehalten  hat.  Selbst  in  der  streng- 
gehaltenen Klosterkirche  zu  Alpirsbach  sind  zwei  Säulen  in  dieser  Weise 
verziert  1).  Nicht  minder  verbreitet  ist  diese  phantastische  Ornamentik  in 
Bayern.  An  den  Kirchen  zuBiburg  bei  Abensberg,  an  denen  zu  Tollbath 
und  zu  Weiss endorf,  beide  im  Bezirk  von  Ingolstadt,  tragen  rohe  Menschen- 
oder Thierköpfe  den  Rundbogenfries -}.  In  der  nach  einem  Brande  von  1159 
hergestellten  Krypta  des  Doms  zu  Freising  sind  alle  Pfeiler  und  Säulen 
verschieden  ausgestattet  und  an  Kapitalen  und  Sockeln,  zum  Theil  sogar  am 
Stamme  mit  Sculpturen  von  Vögeln,  Seethieren,  Teufeüi,  mit  Thier-  und 
Menschenköpfen  oder  auch  mit  kämpfenden  oder  als  Karyatiden  behandelten 
Gestalten  bedeckt -^l 


Zur. .11. 
ins  dem  Kreuzgange  des  grossen  Monsters  zu  Zürich. 


das  von  Mone  herausgegebene  Chronicon  Petershusanum   als   den  des  Meisters  des  im 
J.  1162  begonnenen  Neubaues  nennt  (Wenzilone  quodam  de  Constancia  ex  clerico  opifiee). 

1)  V.  Stillfried,  Hohenzollernsche  Alterthümer.  Bd.  I.  Vgl.  über  die  übrigen 
genannten  Kirchen  die  Programme  der  polytechnischen  Schule  zu  Stuttgart  von  Mauch 
(1849)  und  Leins  (1864)  so  wie  oben  Bd.  IV,  S.  406. 

2)  Sighart,  Gesch.  d.  bild.  Künste  in  Bayern  I,  160. 

')  Sighart  a.  a.  0.  S.  154;    derselbe,  der  Dem  zu  Freising,  Landshut  1852.     Der 


280  Uebergangsstyl  in  Bayern. 

Ebenso  reich;  auffallend  und  fremdartig,  aber  von  grösserer  künstle- 
rischer Bedeutung  ist  die  Ausschmückung  des  Schottenklosters  St.  Jacob  in 
Regensburg.  Die  Anlage  der  Kirche  hat  nichts  Ungewöhnliches.  Es  ist 
eine  dreischiffige  Säulenbasilika  ohne  Querschiff,  im  Osten  durch  drei  eng 
an  einander  gereihete  Conchen  geschlossen,  auf  der  Westseite  mit  einem 
Vorbau,  dessen  oberes  Stockwerk  sich  als  Loge  nach  dem  Inneren  der 
Kirche  öffnet.  Das  Mittelschiff  hat  eine  Balkendecke,  die  Seitenschiffe  sind 
mit  einfachen  Kreuzgewölben  versehen,  auf  denen  eine  Empore  ruhet.  Allein 
schon  die  sehr  schlanke  Bildung  der  Säulen  und  die  hochstrebenden  Ver- 
hältnisse der  ganzen  Anlage  unterscheiden  sie  von  den  Bauten  der  vorigen 
Epoche.  Auch  sind  die  Kapitale  anders  gestaltet,  niedriger,  würfelartig  oder 
ausgekehlt,  aber  mit  einem  wulstigen  Aufsatze  versehen,  reich  geschmückt 
mit  Blattwerk,  Ketten,  Schuppen,  Rankengewinden,  mit  menschlichen  und 
thierischen  Gestalten.  Die  Basis  hat  statt  des  Eckblattes  Thierköpfe.  Ihren 
grossen  Ruf  verdankt  die  Kirche  indessen  nicht  diesen  inneren  Theilen, 
sondern  den  phantastischen  Sculpturen  des  Portals  und  seiner  Umgebungen. 
In  plastischer  Beziehung  werde  ich  von  ihnen  weiter  unten  sprechen,  aber 
auch  die  architektonische  Anordnung  ist  sehr  auffallend.  Das  Portal  selbst 
hat  eine  reiche,  aber  gewöhnliche  Form,  je  drei  Säulen  mit  verzierten  Stäm- 
men zwischen  ausgekehlten  Ecken,  durch  eine  grosse  Zahl  rund  profilirter 
Archivolten  verbunden,  das  Bogenfeld  mit  Sculptur  in  hergebrachter  Weise. 
Am  Fusse  der  Archivolten  lagern  hier,  was  sich  auch  in  Freiberg  findet, 
kleine  Löwen.  Dies  Portal  ist  aber  nur  ein  Theil  einer  grossen  Fa^aden- 
architektur,  wie  sie  sonst  in  Deutschland  nicht  vorkommt.  Es  liegt  am 
nördlichen  Seitenschiffe ,  von  welchem  jederseits  noch  ein  geräumiges  Feld 
durch  breite  Lisenen  abgesondert  und  mit  dem  Portal  zu  einem  gemein- 
schaftlich umrahmten  Ganzen  verbunden  ist.  Die  Seitenfelder  sind  durch 
glänzende  deeorative  Gliederung  in  drei  Stockwerke  getheilt,  von  denen  das 
untere  die  Höhe  der  Portalsäulen  hat  und  jederseits  durch  ausgemeisselte 
Gestalten  von  Menschen  und  thierischen  Ungeheuern,  welche  freischwebend 
erscheinen,  gefüllt  ist.  Beiderseits  bilden  drei  muschelähnlich  verzierte 
Rundbögen  den  Abschluss  dieses  Theils,  und  über  einem  Gesimse,  das  die 
Deckplatten  der  Portalsäulen  fortsetzt,  folgen  nun  auf  jeder  Seite  der  Archi- 
volten des  Portals  zwei  Reihen  kleiner  Arcaden,  die  untere  mit  grottesken 
Karyatiden,  die  obere  mit  Pilastern.     Endlich  schliesst  ein  kräftiges  Gesims, 


Neubau  wurde  IIGO  beg-onuen  und  erhielt  im  Jahre  1205  eine  Weilie,  welche  jedoch 
sciiwerlich  (wie  F.  v.  Quast  im  deutschen  Kunstblatt  1852,  S.  173  annimmt)  die  erste 
nach  der  Vollendung-  des  Baues  war,  da  derselbe  (Sighart  p.  47)  schon  1181  einen 
Altar  in  der  Gallerie  hatte.  Die  Kirche  ist  übrig:ens  eine  einfache  Pfeilerbasiiika  ohne 
KrenzschifF,  mit  einer  Apsis  auf  jedem  der  drei  Schiffe,  und  mit  Gallerien  auf  den 
Seitenschiffen.  —   Die  Krypta  publicirt  bei  E.  Förster,  Denkmale,  Bd.  XII. 


Schotlenkirche  in  Regensburg.  281 

über  dem  Scheitel  jener  Archivolten  noch  mit  Figuren  verziert,  den  ganzen 
Portalbau  ab^).  Das  Kloster  war,  wie  gesagt,  ein  Schottenkloster,  d.  h.  eine 
jener  zahlreichen  Stiftungen,  welche  schon  vom  siebeuten  Jahrhundert  an 
uud  mit  erneuertem  Eifer  wieder  im  elften  Jahrhundert  auf  dem  Festlande 
für  irische  Mönche  gegründet  ^wurden.  Die  Niederlassung  dieser  Schotten 
in  Regensburg  fällt  in  das  Jahr  1076;  ihr  Kloster  lag  aber  anfangs  an  einer 
anderen  Stelle  und  wurde  erst  später  auf  die  jetzige  verlegt.  Die  erste  hier 
von  1090  bis  1111  gebaute  Kirche  war,  wie  ein  gleichzeitiger  Chronist 
selbst  sie  bezeichnet,  ein  ungeordnetes  und  hinfälliges  Werk  (opus  incom- 
positum  et  fragile),  und  so  begann  denn  bei  etwas  günstigeren  Verhältnissen 
des  Klosters  der  Abt  Gregor  schon  um  1150  einen  Neubau.  Der  Chronist 
rühmt  an  diesem  Bau,  dass  er  von  wohlbehauenen  Steinen  (quadris  et  politis 
lapidibus)  aufgeführt,  mit  Blei  gedeckt  war,  einen  der  Erwähnung  würdigen, 
aus  geglätteten  Steinen  (quadris  lapidibus  superficia  tenus  laevigatis)  ge- 
bildeten Fussboden  und  einen  Kreuzgang  mit  plastisch  verzierten  Kapitalen 
und  Basen  (claustrum  capitellis  sculptis  ac  basibus)  hatte.  Wir  dürfen  nicht 
zweifeln,  dass  dieser  Bau  der  gegenwärtig  erhaltene  ist.  Die  Kirche  wird 
von  einem  um  1184  schreibenden  Chronisten  schon  als  vollendet  erwähnt-), 
indessen  kann  es  sein,  dass  der  Portalschmuck  erst  etwas  später,  immer 
aber  doch  vor  dem  1204  erfolgten  Tode  jenes  Abtes  hinzugefügt  ist.  Da 
■diese  Schottenklöster  sich  stets  durch  neu  ausgewanderte  Mönche  ihrer 
Nation  ergänzten,  hat  man  geglaubt,  die  auffallenden  Eigenthümlichkeiten 
des  Gebäudes  aus  der  fremden  Abkunft  seiner  Erbauer  erklären  zu  müssen-^); 
allein,  mit  Ausnahme  des  Zickzackornaments,  das  sich  an  einem  Seitenportale 
und  im  Kreuzgange  findet,  kommt  hier  nichts  vor,  was  auf  die  britischen 
Inseln  hinwiese.  Die  altirischen  Kirchen  sind  einschiffig;  der  normannische 
Styl,  welcher  um  diese  Zeit  in  Irland  Eingang  fand,  liebt  überaus  schwere 
Säulen,  und  eine  zwar  reiche,  aber  geradlinige  Ornamentation;  hier  sind  die 
Säulen  schlank,  die  decorativen  Theile  mit  einer  Fülle  von  Blattwerk  und 
menschlichen  und  thierischen  Gestalten  verziert.  Dort  sind  Sculpturen  selten 


^)  Abbildungen  besonders  bei  Popp  und  Bülau ,  Denkmäler  von  Regensburg, 
bei  E.  Förster,  Denkmale,  IX.  und  in  Otte  Gesch.  der  deutschen  Baukunst  S.  446. 
Einzelnes  bei  Quaglio,  Denkmäler  der  Baukunst  des  Mittelalters  in  Bayern,  und  bei 
Kallenbach  Chronologie  Taf.  17.  Der  Portalbau  in  kleiner  Dimension  in  Guhl's  Atlas 
Taf.  46,  Nro.  3.  Nachrichten  über  neu  entdeckte  Theile  des  Kreuzganges  in  der 
Wieirer  Bauzeitung  1848,  S.  316.     Vgl.  v.  Quast  im  deutschen  Kunstblatt   1852. 

-)  Wattenbach,  die  Congregation  der  Schottenklöster  in  Deutschland,  in  v.  tjuast  u. 
Otte,  Zeitschrift  für  christliche  Archäologie  und  Kunst,  Bd.  I.  Der  oben  erwähnte 
Chronist  ist  der  Auetor  vitae  S.  Mariani  Scoti  (Acta  SS.  Febr.  II,  365  —  372),  der, 
wie  sich  aus  speciellen  Andeutungen  ergiebt,  zwischen  1177  und  1185  schrieb. 

')  Namentlich  nennt  Förster,  Geschichte  der  deutschen  Kunst  I,  88,  das  (lebände 
geradezu  ein  Werk  englisch-normannischer  Architektur. 


282  Uebergangsstyl  in  Süddeutschland. 

und  von  rohester  Ausführung,  während  sie  hier  verschwendet  und  mehr  con- 
ventionell  und  strenge  als  roh  behandelt  sind.  Ein  Portalbau  dieser  Art 
würde  in  England,  geschweige  denn  in  Irland  ganz  unerhört  erscheinen. 
Allerdings  hat  die  Vertheilung  und  besonders  der  Inhalt  der  Sculpturen  an 
der  Fagade  etwas  Fremdartiges,  aber  er  erinnert  eher  an  den  Styl  des 
westlichen  Frankreichs  oder  an  italienische  als  an  britische  oder  irische 
Bauten.  Man  mag  es  daher  als  möglich  zugeben,  dass  der  altnordische,  aus 
den  Miniaturen  uns  bekannte  Geschmack  an  bizarrer  Ornamentation ,  oder 
dass  die  Eindrücke,  welche  diese  Schotten  als  wandernde  Mönche  im  west- 
lichen Frankreich  erhalten  hatten,  auf  ihre  deutschen  Arbeiten  eingewirkt 
haben  könne,  aber  eine  dringende  Veranlassung  zu  solcher  Annahme  ist  nicht 
vorhanden.  Das  Architektonische,  namentlich  die  Profilirung  der  reich  ge- 
gliederten Archivolten,  Gesimse  und  Basamente,  ist  ganz  ähnlich  wie  in 
anderen  gleichzeitigen  deutschen  Werken.  An  dem  Westportale  und  im 
Kreuzgange  der  Carmeliterkirche  zu  Bamberg,  damals  zu  einem  Bene- 
diktiner Nonnenkloster  gehörig,  kommen  Zickzackornamente,  liegende  Löwen 
auf  den  Gesimsen,  üppiges  Blattwerk  und  phantastische  Darstellungen  an  den 
Kapitalen  vor,  wie  an  dem  Kegensburger  Bau,  und  noch  nähere  Verwandt- 
schaft mit  demselben  scheint  das  Portal  der  kleinen  achteckigen  Kirche  zu 
Ober-Wittighausen  bei  Würzburg  sowohl  in  der  reichen  Gliederung  und 
plastischen  Behandlung,  als  in  der  bizarren  Wahl  der  dargestellten 
Gegenstände  zu  haben  ^).  Viel  eleganter  dagegen  sind  die  beiden,  ursprüng- 
lich für  eine  Vorhalle  bestimmten  Säulen,  welche  im  südlichen  Seitenschiffe 
des  Doms  zu  Würzburg  stehen  und  mit  den  Namen  der  Säulen  im  salo- 
monischen Tempel  Jachim  und  Boas  bezeichnet   sind-). 

Durchgängig  verbindet  sich  mit  dieser  ornamentistischen  Neigung  eine 
Schwäche  des  architektonischen  Triebes.  Grössere  Kirchen  mit  romanischen 
Gewölbenkommen  namentlich  im  eigentlichenBayern  ausserordentlich  selten  vor, 
die  beiden  einzigen,  welche  man  kennt,  sind  die  angeblich  um  1181  gegründete 
Pfarrkirche  St.  Nicolaus  zu  Reichenhall  %  in  welcher  Pfeiler  und  Säulen  wech- 
seln, und  endlich  die  St.  Michaelskirche  zu  Alten  Stadt  bei  Schongau, 
ihrem  Grundrisse  nach  ein  Oblongum  von  drei  Schiffen  mit  halbkreisförmigen 


1)  Vgl.  F.  V.  Quast  im  deutschen  Kunstblatt  1852,  S,  189,  und  1854,  S.  134. 
Die  daselbst  erwähnte  Urkunde  im  Pfarrarchive  von  1285  bezieht  sich,  zufolge  brief- 
licher Mittheilung  des  verst.  Becker  in  Würzburg,  nicht  auf  diesen  Bau,  sondern  auf 
die  dortige  Pfarrkirche.  Die  kleine  achteckige  Kirche  wurde  erst  in  neuester  Zeit 
Eigenthum  der  Gemeinde  Ober-Wittighausen  und  gehörte  früher  der  Gemeinde  Pappen- 
hausen. —  Ansicht  des  Portals  in  der  Zeitschrift  des  histor.  Vereins  für  das  würtem- 
bergische  Franken.     Bd.  3. 

^)  Förster,  Denkmäler,  Bd.  IX. 

3)  Sighart,  Bayern,  S.  159. 


Oesterreich.  283 

Nischen,  ohne  Querschiff,  von  ziemlich  bedeutenden  Dimensionen  (140  F.  L., 
64  F.  Br.).  Die  Pfeiler  sind  aus  vier  gleich  starken  Halbsäulen  zusammen- 
gesetzt, von  denen  die  dem  Mittelschiff  entsprechende  zum  Gewölbe  aufsteigt. 
Die  Basis  ist  attisch  mit  Eckblättern,  die  Kapitale  haben  mehr  oder  minder 
schwere  Würfelform  und  sind  mit  conventioneilen  Palmetten  verziert.  Auch 
das  reiche  Portal  hat  noch  Würfelkapitäle  mit  hohem  verziertem  Aufsatze; 
die  äussere  "Wand  zeigt  ausser  den  einfachen  rundbogigen  Fenstern  nur  den 
schlichten  Bogenfries  ohne  Lisenen.  Die  Arcaden  und  die  Bögen  der 
Wölbung  sind  gebrochen  und  neigen  sich  zur  Spitzbogenform.  Auffallend 
ist,  dass  die  Gewölbe  des  Mittelschiffes  nicht  qaadrat  sind,  sondern  über 
jedem  Pfeiler  schliessen.  Diese  Gewölbform,  dann  die  Gestalt  der  Pfeiler  ge- 
statten nicht,  die  Entstehung  des  Baues  früher  als  in  den  Anfang  des  13.  Jahr- 
hunderts zu  setzen;  die  schwerfällige,  eckige  Behandlung  der  Details  scheint 
für  diese  Zeit  zu  sprechen,  schliesst  aber  die  Möglichkeit  einer  noch  späieren 
Entstehung  durch  eine  zurückgebliebene  Bauschule  nicht  aus^). 

Auch  die  östlichen  Gegenden  von  Süddeutschland,  Oesterreich  und 
die  benachbarten  später  zum  österreichischen  Staate  vereinigten  Provinzen, 
geben  nicht  das  Schauspiel  raschen  architektonischen  Fortschreitens.  Schon 
ihre  Lage  und  ihre  Schicksale  erklären  dies  vollkommen;  sie  waren  gleich- 
sam später  geborene  Kinder  Deutschlands,  später  zu  den  friedlichen  Zu- 
ständen gelangt,  deren  die  Anfänge  der  Civilisation  bedürfen.  In  der  vorigen 
Epoche  hatten  sie  nur  vereinzelte  Spuren  architektonischen  Lebens  gezeigt,. 
und  auch  dies  nur  an  besonders  bevorzugten  Orten,  in  den  Metropolitan- 
städten  Salzburg  und  Prag  oder  in  Klöstern,  welchen  die  auswärtigen 
Stiftungen  ihres  Ordens  Vorbilder  und  Hülfe  gewährten.  Jetzt,  besonders 
seit  dem  Anfange  des  13.  Jahrhunderts,  wurden  die  Zustände  günstiger;  es 
erwachte  ein  neues,  frisches  Leben  und  mit  ihm  eine  rege  Bauthätigkeit,  bei 
der  man  dann  aber  natürlich,  statt  der  mühsamen  und  zeitraubenden  Arbeit 
eigner  Entwickelung,  sich  der  Formen  bediente,  welche  die  vorangeschrittene 
Kunst  der  andern  deutschen  Länder  darbot.  So  geschah  es  denn,  dass 
verschiedene  Einflüsse  sich  gleichzeitig  geltend  machten  und  eine  einige 
Bauschule  auch  jetzt  nicht  entstand. 

Auffallend  ist,  dass  dennoch  gewisse  gemeinsame  Bausitten  sich  über 
alle  diese  Provinzen  verbreiteten,  obgleich  sie  noch  keine  politische  oder 
kirchliche  Einheit  bildeten.     Dahin  gehört  zunächst  die  Vorliebe  für  kleine. 


1)  Bernh.  Grueber,  vergleichende  Sammlung  christlicher  Baukunst,  I,  3  u.  4. 
II,  16  und  28,  und  E.  Förster,  Denkmale  II.  —  Dort  kommen  Ungenanigkeiten  vor, 
z,  B.  schwache  Strebepfeiler  am  Mittelschitf.  Vgl.  Sighart  S.  158,  wo  der  Bau  den 
Jahren  1160  —  1180  zugeschrieben  wird.  Otte ,  Geschichte,  S.  438  ist  geneigt  den- 
selben in  die  erste  Hälfte  des  13.  Jahrliunderts,  sogar  bis  gegen  1250  zu  setzen. 


234  Uebergangsstyl. 

kuppelartig  überwölbte  Rundbauten,  die,  fast  immer  mit  einer  der  Ostseite 
angebauten  balbkreisförmigen  Altarnische  versehen,  neben  Pfarrkirchen  oder 
auch  alleinstehend  vorkommen.  Meistens  haben  sie  einen  kellerartigen, 
gewöhnlich  überwölbten  Unterraum,  der  zur  Aufbewahrung  von  Leichen 
geeignet  war  und  sie  als  Todtenkapellen  kennzeichnet;  darauf  bezieht  sich 
denn  auch  der  Name  Karner  (Carnarium,  von  Caro,  das  Fleisch),  den  sie  in 
diesen  Gegenden  meistens  tragen.  Zuweilen  aber  sind  sie  auch  ohne  solche 
Gruft  und  mithin  zu  anderer  Bestimmung  erriclitet,  und  es  steht  fest,  dass 
sie  als  ländliche  Pfarrkirchen  dienten,  wie  die  Kapellen  zu  St.  Lorenzen 
bei  Markersdorf  im  Wiener  Walde,  zu  Scheiblingskirchen  in  Niederöster- 
reich, zu  Petronell  bei  Deutsch-Altenburg  ^).  An  heidnischen  Ursprung,  den 
die  Volksmeinung  diesen  Gebäuden  zugeschrieben  hat,  ist  nicht  zu  denken; 
bei  der  Bestimmung  zu  Grabkapellen  hat  die  runde  Form  nichts  Auffallendes, 
man  hielt  sie  für  eine  Nachahmung  der  Kirche  des  heiligen  Grabes  zu  Jeru- 
salem und  wählte  sie  daher  gern  zu  diesem  Zwecke.  Dass  man  sie  dann 
auch  auf  andere  kleinere  kirchliche  Bauten  übertrug,  erklärt  sich  vielleicht 
daraus,  dass  man  in  diesen  dem  Holzbau  ergebenen  Gegenden  die  solidere 
Constructionsweise  zuerst  nur  an  Grabkapellen  (welche  die  Gebeine  bis  zum 
jüngsten  Tage  bewahren  sollten)  angewendet  hatte  und  daher,  mit  Ausnahme 
von  einigen  durch  fremde  Hülfe  erbauten  bischöflichen  oder  klösterlichen 
Kirchen,  nur  in  dieser  Form  kannte,  Ueber  die  Entstehungszeit  dieses  Ge- 
brauchs haben  wir  keine  Andeutung;  in  Böhmen,  wo  solche  Rundbauten  am 
häufigsten  vorkommen,  sind  sie  höchst  einfach  und  können  daher  schon  früher 
Entstehung  sein.  In  den  andern  Provinzen  haben  sie  oft  reichen  Schmuck 
von  verzierten  Bogenfriesen  und  Säulenbündeln,  von  Portalen,  die  theils  der 
Chornische  gegenüber,  theils  seitwärts  gelegen  sind,  alles  in  spätromanischen 
Formen  und  also  auf  die  zweite  Hälfte  des  12.  oder  die  erste  des  13,  Jahr- 
hunderts hindeutend.  Zu  den  bedeutendsten  Gruftkapellen  gehören  die  zu 
Deutsch-Altenburg  an  der  Ungarischen  Grenze,  zu  Wiener  Neustadt, 
zu  St  Lambrecht  und  Hartberg  in  Steiermark;  durch  die  elegante  Be- 
handlung der  späteren  Uebergangsformen  zeichnen  sich  die  zu  Mödling  bei 
Wien,  zu  Pulkau,  zu  Oedenburg  und  besonders  die  Dreikönigskapelle  zu 
Tuln-)  aus,  bei  welcher  in  der  Wandgliederung  durch  Blenden  schon  der 
Spitzbogen  neben  dem  Kleeblattbogen  auftritt. 


^)  Vgl.  oben  Band  IV,  S.  195,  Heider,  über  die  Bestimmung  der  romanischen 
Rundbauten  in  den  Mittheil.  d.  k.  k,  Centr.-Comm.  I.  53.  Vgl.  auch  ebenda  I.  251, 
III.  263,  IV.  47,  V.  337  und  besonders  Dr.  K.  Lind,  ebenda  Bd.  XII.  (1867),  S.  162 
11'.  —  Ueber  S.  Lorenzen,  vgl.  Jaiirbnch  der  Centr.-Comm.  II.  S.  138,  über  Petronell 
Mitth,  XV.   S.  IV. 

-)  Ernst  und  Oesclier,  Bandenkmale  des  Mittelalters  im  Erzlierzogtlium  Oesterreiclj. 


Oesterreich,  285^ 

Auf  die  Entwickelung  des  coiistructiven  Sinnes  hätten  übrigens  diese 
kleinen  soliden  Bauten  keinen  Einfluss.  Die  Ueberwölbung  grösserer  Kirchen 
fand  sehr  langsam  Eingang.  Die  Cistercienser,  also  fremde,  mit  auswärtigen 
Bausitten  hierher  kommende  Mönche  hatten  zwar  schon  in  der  1187  ge- 
weihten Kirche  zu  Heiligenkreuz  und  in  andern  Bauten  dieses  einflussreichen 
Ordens  Beispiele  grossartiger  Gewölbeanlagen  gegeben,  aber  noch  um  das 
Jahr  1200  war  die  flache  Decke  und  die  rein  romanische  Form  in  aus- 
schliesslicher Anwendung.  Erst  in  den  folgenden  Jahrzehnten  entstanden 
einige  weiter  unten  näher  zu  erwähnende  Kirchen  veränderter  Form,  meistens 
mit  quadraten  Gewölben,  spitzbogigen  Arcaden  und  mehr  oder  weniger  aus- 
gebildeter Gliederung  der  Pfeiler,  welche  dann  auch  im  Aeusseren  mit 
mannigfaltig  gestalteten  Rundbogenfriesen  und  mit  wirkungsvollen  Thurm- 
gruppen  geschmückt  sind  und  überhaupt  den  Charakter  des  deutschen 
Uebergangsstyls  zeigen.  Aber  trotz  dieser  allgemeinen  Uebereinstimmung 
sind  diese  Bauten  in  den  constructiven  Einzelheiten  so  verschieden,  dass 
man  sie  keinesweges  der  Entwickelung  einer  localen  Schule,  sondern  nur 
mannigfach  sich  durchkreuzenden  auswärtigen  Einflüssen  zuschreiben  kann, 
welche  dann  durch  den  Zusammenhang  der  verschiedenen  Mönchsorden  oder 
durch  den  Einfluss  der  angrenzenden  Gegenden  auf  diese  zum  Theil  zerstreut 
gelegenen  Kirchen  wohl  zu  erklären  sind.  Nur  in  einer  Beziehung  finden 
wir  dann  aber  eine  weit  verbreite  Uebereinstimmung,  Jene  Vorliebe  für 
phantastische  Ornamentation,  die  wir  über  das  ganze  südliche  Deutschland 
verbreitet  fanden,  zeigt  sich  nämlich  auch  hier,  aber  in  etwas  anderer  Weise 
und  mit  einigermaassen  wiederkehrenden  Formen.  Zum  Theil  gefällt  sich 
auch  hier  der  decorative  Trieb  in  bedeutungsvollen,  räthselhaften  mensch- 
lichen und  thierischen  Gestalten,  wie  wir  sie  in  Rosheim  im  Elsass,  an  der 
Schottenkirche  in  Regensburg  und  an  andern  Orten  wahrnahmen,  welche 
dann,  mit  sehr  mangelhafter  Plastik  ausgeführt,  an  beliebigen  Stellen  der 
Aussenmauern  angebracht  sind.  So  zunächst  die  sehr  roh  gearbeiteten 
Sculpturen  an  der  in  reichem  romanischem  Style  und  wahrscheinlich  erst  in 
den  Jahren  1210  —  1230  erbauten  Chornische  der  Kirche  zu  Schön- 
grab er  n  in  Niederösterreich.  Einige  derselben  lassen  bestimmte  Gegen- 
stände der  heiligen  Schrift,  den  Sündenfall,  das  Opfer  Abels  und  Kains  u.  A. 
erkennen,  andere  aber  sind  so  phantastisch  und  willkürlich,  dass  es  nicht 
gelungen  ist,  ihren  Sinn  zu  errathen^).  Auch  an  der  romanischen  West- 
fagade  des  Stephansdomes  zu  "Wien,  am  Giebel  der  Stiftskirche  zu 
Wiener  Neustadt  und  an  andern  Orten  finden  sich  solche  phantastische 
Figuren  regellos  und  mit  schwachen  symmetrischen  Beziehungen  eingemauert. 


1)  Abbildungen  und  gelehrte  Untersuchungen  bei  Dr.  Heider,  die  romanische  Kirche 
zu  Schüiigrabern ,  1855. 


286  Uebergangsstyl. 

Wichtiger  als  diese  verfrüheten  plastischen  Versuche  sind  dann  aber  die 
rundbogigen  Portale,  welche  an  einigen  dieser  Kirchen  erhalten  sind  und 
an  denen  sich  diese  süddeutsche  Neigung  für  reiche  Ornamentation  in 
edelster  Anwendung  und  bereits  unter  der  Zucht  eines  weiter  ausgebildeten 
Stylgefühls  zeigt.  Das  berühmteste  dieser  Portale  ist  das  auf  der  West- 
seite von  St.  Stephan  in  Wien,  die  sogenannte  Eiesenpforte.  Sie  ist, 
wenn  auch  an  sich  nicht  von  sehr  grossen  Dimensionen  (die  lichte  Höhe  der 
Thüröffnung  bis  zum  Deckbalken  beträgt  14  Fuss,  die  lichte  Breite  kaum 
8  Fuss),  doch  durch  Ausdehnung  und  Anordnung  wahrhaft  grossartig.  Die 
Verhältnisse  sind  höchst  regelmässig;  die  Breite  jeder  Seitenwand  und  die 
Höhe  des  Bogenfeldes  mit  allen  seinen  Archivolten  sind  einander  und  der 
lichten  Höhe  der  Thüröffnung  fast  gleich.  Jede  der  Seitenwände  enthält 
zwischen  den  kräftig  hervortretenden  und  zierlich  ausgekehlten  Wandecken 
fünf,  ausserdem  stehen  an  den  beiden  äusseren  Wandpfeilern  noch  zwei,  im 
Ganzen  also  auf  jeder  Seite  sieben  Säulen,  deren  Stämme  alle  reich  verziert 
sind  und  zwar  in  regelmässiger  Abwechselung  mit  sehr  kräftigen,  rauten- 
förmigen Bandverschlingungen  oder  mit  leichterem  Blattwerk.  Darüber 
kreisen  ausser  dem  den  äusseren  Wandpfeilern  entsprechenden  glatten  Bogen 
zehn  concentrische  Rundstäbe,  wiederum  regelmässig  wechselnd,  theils  glatt, 
theils  mit  reichen  schattenden  Verzierungen,  den  Säulenstämmen  ähnlich. 
Die  Kapitale  sind  mit  knospenartigem  und  diamantirtem  Blattwerk  aus- 
gestattet, aus  welchem  hier  und  da  Köpfe  hervorschauen.  Auf  dem  hohen 
Öeckgesimse  sind  die  Halbfiguren  der  Apostel  und  anderer  Heiligen  in  etwas 
freierer  Behandlung  angebracht,  während  das  Bildwerk  des  Bogenfeldes, 
Christus  in  der  Glorie  von  zwei  Engeln  getragen,  noch  völlig  den  strengen 
Styl  der  romanischen  Epoche  hat.  Die  ganze  architektonische  Anlage  wirkt 
durch  das  regelmässige  Alterniren  verzierter  und  glatter  Theile  und  vermöge 
der  dadurch  belebten  Kreisbewegung  der  Archivolten  höchst  imponirend  und 
gehört  zu  den  prachtvollsten  Leistungen  dieses  reichen  Styls.  Nachrichten 
über  die  Entstehungszeit  fehlen;  man  wird  sie  bei  der  späten  Entwickelung 
dieser  Gegend  nicht  früher  als  in  das  erste  Viertel  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts, vielleicht  sogar  noch  etwas  später,  setzen  dürfen  i). 

Aehnliche  Portale,  zum  Theil  mit  genauer  Wiederholung  der  ornamen- 


^)  Man  weiss  nur  von  einem  im  Jalire  1144  geweihten  Bau  und  von  Herstellungen 
nach  den  Bränden  von  1258  und  1275,  denen  dies  Portal  nicht  zugeschrieben  werden 
kann.  —  Der  Spitzbogen,  welcher  äusserlich  die  rundbogigen  Archivolten  umgiebt,  ist 
eine  charakteristische  Zuthat,  welche  die  Entstehung  an  der  Grenze  zweier  Style  be- 
zeichnet. Abbildungen  bei  Tschischka,  der  Stephans-Dom.  Wien  1832.  Taf.  15, 
bei  Lichnowsky,  Denkmale  Taf.  3  ff. ,  L.  Förster.  Allg.  Bauzeitung  1853,  Tafel  537, 
E,  Förster,  Denkmale  Bd,  VI,  Mittheilungen  der  k.  k.  Central-Commission,  Band  IX, 
Taf.  XIII,  XIV. 


^Oeslerreich,  287 

tistischen  Motive  finden  sich  dann  sowohl  in  der  näheren  Umgebnng  von 
Wien  als  in  entfernteren  Provinzen.  So  in  Oesterreich  selbst  an  der  Stifts- 
kirche zu  "Wiener  Neustadt,  an  der  Rundkapelle  zu  Mödling  bei  Wien, 
an  der  Kirche  zu  Klein-Mariazell,  an  der  Dreikönigskapelle  zu  Tuln^). 
Zwei  sehr  bedeutende  Prachtportale  dieser  Art  besitzt  Mähren,  das  eine 
am  nördlichen  Seitenschiffe  der  unten  erwähnten Benetictinerkirche  zu  Tre- 
bitsch  '-),  das  andere  an  der  Cistercienserkirche  zu  Tischnowitz.  Dieses, 
obgleich  noch  in  überwiegend  romanischer  Form,  doch  schon  nach  1238, 
vielleicht  schon  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  entstanden  und  mit  der  styl- 
vollen aber  naturalistischen  Behandlung  des  Laubwerks,  die  sich  erst  im 
gothischen  Style  entwickelte-^).  Mehrere  Portale  dieser  Art  finden  sich  in 
Ungarn.  So  zunächst  das  an  der  Klosterkirche  St.  Jak  im  Oedenburger 
Comitate*),  welches  an  den  drei  inneren  Archivolten  noch  ganz  rundbogig, 
dann  aber  nicht  bloss  wie  in  Wien  und  in  Neustadt  von  einer  schmucklosen 
Spitze  umrahmt  ist,  sondern  in  seiner  äussern  Hälfte  mit  drei  reich  verzierten 
Spitzbögen  sich  erhebt.  Die  Ornamentation  am  Portal  selbst  besteht  aus- 
schliesslich in  gebrochenen  oder  sich  rautenförmig  durchschneidenden  Linien, 
dagegen  sind  an  dem  Giebel,  der  oben  die  Ausladung  des  Portals  bekrönt, 
in  kleeblattförmig  geschlossenen  Nischen  die  Statuen  Christi  und  der  Apostel 
aufgestellt.  Aehnlich,  fast  bis  zur  Ueberladung  mit  gewundenen  Kanneluren 
und  anderen  Ornamenten  geschmückt,  ist  das  Portal  der  benachbarten  Kirche 
zu  Horpacz'');  geringeren  Umfangs,  aber  schöner  das  an  der  Kirche  des 
im  Jahre  1202  gegründeten  Benedictinerklosters  zu  Lebeny  (Leiden)  bei 
Raab^).  Hier,  wie  in  der  schon  erwähnten  Kirche  desselben  Ordens  zu 
Trebitsch  in  Mähren  sind  im  Gegensatze  zu  der  Ornamentation  des  Wiener 
Portals  die  Säulenstämme  und  Archivolten  glatt  geblieben,  dagegen  die 
vertieften  Stellen  dazwischen  mit  kräftigen,  starke  Gegensätze  von  Licht 
und  Schatten  gebenden  Verzierungen  ausgestattet.  Auch  Böhmen  hat  zwei 
solche  Portale  aufzuweisen,  das  eine  an  der  Kapelle  zu  Podvinec,  das 
andere  zu  Zabor. 

Endlich  finden  wir  auch  noch  in  Schlesien,  am  Weitesten  gegen  Nord- 
osten vorgerückt,  ein  Beispiel  dieses  decorativen  Styls,  nämlich  an  dem 


1)  Ansicliten  und  Risse  bei  Ernst  und  Oesciier  Heft  4.  Vgl.  Dr.  Lind  über  Rund- 
bauten etc.  in  den  Mitth.  der  k.  k.  Centr.-Conim.  Bd.  XII.     1867.     S.  1G2  fl'. 

2)  Mittelalterllclie  Kunstdenkmale  des  össterreichischen  Kaiserstaates  II,  Taf.  17. 

3)  Wocel  im  Jahrbucii  d.  k.  k.  Centralcomm.    1858. 

*)  Eitelberger  in  den  mittelalterl.  Kunstdenkmalen  des  österreichischen  Kaiser- 
staates Bd.  I  und  Jahrb.  d.  k.  k.  Centr.-Comm,     Bd.  I. 

5)  M.  A.  Kunstdenkm.  a.  a.  0.  S.  90. 

•5)  Vgl.  die  Zeichnungen  von  Essenwein  in  den  Mittheilungen  der  k.  k.  Central- 
Comm.  II,  S.  9. 


288  Uebergangsstyl. 

Prachtportale,  welches  im  Jahre  1546  von  der  abgebrochenen  Kirche  des 
St,  Vincenzklosters  an  die  Kirche  zu  St.  Maria  Magdalena  in  Breslau 
versetzt  ist  ^).  Drei  Säulen,  deren  Stämme,  mit  Ausnahme  der  beiden  letzten 
mit  Rankengewinden,  Streifen  oder  gebrochenen  Kanneluren  geschmückt 
sind,  stehen  auf  jeder  Seite;  auch  die  Thürpfosten  sind  mit  Rankenge  winden 
bedeckt,  welche  Medaillons  mit  phantastischen  Gestalten  umschliessen.  Die 
steile  attische  Basis  hat  das  ausgebildete  Eckblatt,  die  Kapitale  sind  noch 
würfelförmig,  aber  meist  mit  abgerundeten  Ecken  und  zwischen  Ranken- 
gewinden überreich  mit  menschlichen  Gestalten,  Drachen,  Greifen  und  Vögeln 
ausgestattet.  Die  hohe,  kräftig  profilirte  Deckplatte  ist  dagegen  ohne 
Sculptur.  Die  Archivolten  wölben  sich,  den  drei  Säulen  und  den  Thür- 
pfosten entsprechend,  in  vier  zurückweichenden  Ordnungen  und  sind  wiederum 
reich  verziert,  besonders  die  über  dem  innersten  Säulenpaare,  indem  sie  in 
sieben  Reliefs  mit  fast  zu  zwei  Drittheilen  heraustretenden  Figuren  ohne 
alle  Trennung  durch  Baldachine  oder  andere  Begrenzung  die  Geschichte 
Christi  von  der  Verkündigung  bis  zur  Taufe  enthält.  Die  Wahl  dieser  un- 
gewöhnlichen Stelle  für  die  Anbringung  des  Bildwerks  scheint  damit  zu- 
sammenzuhängen, dass  Thürsturz  und  Bogenfeld  fehlen,  und  die  Thüröffnung 
denBogenraum  mit  umfasst,  so  dass  die  Erbauer  auf  diese  Weise  den  Mangel 
des  gewöhnlichen  Reliefs  im  Bogenfelde  ersetzen  wollten.  Die  Entstehungs- 
zeit ist  auch  hier  unbekannt,  und  wird  bei  der  späten  architektonischen  Ent- 
wickelung  dieser  östlichen  Gegenden,  nicht  eher  als  in  das  dreizehnte  Jahr- 
hundert gesetzt  werden  dürfen.  Der  romanische  Styl,  der  überhaupt  in 
Schlesien  spärlich  vertreten  ist,  gelangte  nicht  vor  dem  Ende  des  zwölften 
und  dem  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts  zu  grösserer  Ausbildung,, 
und  blieb  auch  dann  noch  hinter  den  Schöpfungen  des  westlichen  Deutsch- 
lands zurück. 

In  noch  höherem  Grade  gilt  dies  von  Böhmen-),  dessen  architektonische- 
Entwickelung  unter  dem  Einflüsse  des  slavischen  Nationalcharakters  spät 
begonnen  hatte  und  auch  in  dieser  Epoche  sich  nur  langsam  über  die  alte 
Formlosigkeit  erhob ^).  Dazu  kommt  dann,  dass  die  wenigen,  meistens  zu 
Klöstern  gehörigen,  grösseren  und  reicher  ausgestatteten  Kirchen  der  roma- 
nischen Epoche  fast  sämmtlich  in  den  stürmischen  Religionskriegen  zerstört 


^)  Eine  ausfülirliche  Beschreibung  bei  Dr.  Luchs,  über  einige  mittelalterliche 
Kunstdenkmäler  von  Breslau.  (Besonderer  Abdruck  eines  Schulprogramms,  1855.) 
S.  41.  —  Abbildung  bei  Dr.  H.  Luchs,  romanische  und  gothisdie  Stilproben  aus 
Breslau  und  Trebnitz,  Breslau  1859,  Taf.  L 

-)  B.  Grueber,  die  Kunst  des  Mittelalters  in  Böiuiien,  Mittheiluiigeu  d.  k.  k.Ceiilral- 
Commission  1871,  Beiblatt,  mit  zahlreichen  Hulzschnilten.  —  Verschiedene  Aufs-iitze 
von  Wücel  und  von  Grueber  in  friiiieren  Jahrgängen  der  Mittheiiungeii. 

3)  Bd.  IV,  S.  411. 


Böhmen.  289 

worden  sind  oder  erhebliche  Umgestaltungen  im  Geschmack  anderer  Epochen 
erlitten  haben.  Das  ist  in  Prag  mit  der  Kirche  des  Prämonstratenser-Stiftes 
S tr ah ow  geschehen,  und  von  einem  andern  interessanten  Bauwerke  Prags  aus 
der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts,  von  der  Kirche  St.  Johann  in 
vado  (unfern  der  Brücke),  sind  nur  wenige,  zu  Privathäusern  verwendete 
Mauern  erhalten.  Das  gänzlich  verschwundene  Langhaus  scheint,  nach 
Maaspgabe  der  noch  erkennbaren  Choranlage,  einschiffig  gewesen  zu  sein. 
Der  Chor  bestand  nämlich  aus  einer  Concha,  die  aber,  sehr  ungewöhnlicher- 
weise, mit  zwei  als  Kreuzarme  hervortretenden,  ganz  gleichen  Conchen  ver- 
bunden war.  Eines  der  grossesten  und  besterhaltenen  Denkmäler  Böhmens, 
die  ehemalige  Prämonstratenserkirche  zu  Mühlhausen ^)  bei  Tabor 
—  um  1184  gegründet  —  zeigt  mit  wie  schmucklosen  Formen  man  sich 
damals  noch  begnügte.  Der  Chor  und  das  Querhaus  sind  frühgothisch,  aus 
dem  ursprünglichen  Bau  ist  nur  das  Langhaus  erhalten,  in  welchem  Mittel- 
schiff und  Seitenschiffe  durch  fünf  Säulenpaare  getrennt  sind.  Die  Basen 
der  starken  Rundsäulen  sind  jetzt  im  Fussboden  verborgen,  die  Kapitale,  durch 
einen  Ring  getrennt,  gleichen  fast  einer  umgekehrten  Basis,  auf  einem 
Wulst  mit  Eckblättern  ruht  ein  schwerer  Abacus.  Die  Kreuzgewölbe  ohne 
Gurten  und  Rippen  sind  wohl  nur  in  den  Seitenschiffen  ursprünglich,  das 
Mittelschiff  war  anfangs  auf  eine  flache  Holzdecke  angelegt.  Die  Ober- 
mauern des  Schiffs  sind  völlig  ungegliedert,  ebenso  das  Aeussere,  dem  Lisenen 
und  Bogenfriese  gänzlich  fehlen,  selbst  an  den  beiden  mächtigen  Thürmen 
der  "Westfront.  Die  Formen  sind  also  der  alten  Georgskirche  in  Prag-) 
kaum  überlegen.  Noch  roher  sogar  ist  die  St.  Wenzelskirche  zu  Altbunz- 
lau,  von  der  nur  die  Krypta,  auch  diese  aus  dem  Schluss  des  12.  Jahr- 
hunderts, erhalten  ist.  Die  Kreuzgewölbe  sind  durch  Gurten  getrennt,  welche 
unmittelbar  ohne  Deckplatten  von  den  auf  das  Derbste  zugehauenen  Würfel- 
kapitalen  der  32,  meist  völlig  schmucklosen  Säulen  aufwachsen.  Die  nächste 
Uebereinstimmung  mit  Mühlhausen  zeigt  die  1193  gegründete  und  1232 
vollendete  Prämonstratenserkirche  zu  TepP),  bei  welcher  die  mittlere  der 
drei  Apsiden  durch  einen  gothischen  Chorschluss  verdrängt  worden  ist  und 
die  völlige  Entstellung,  welche  das  Innere  im  18.  Jahrhundert  erfahren,  nicht 
mehr  erkennen  lässt,  ob  die  Anlage  ursprünglich  auf  Gewölbe  berechnet  war. 
Daneben  verdienen,  ausser  den  auch  in  Böhmen  häufig  vorkommenden 
Rundcapellen,  einige  kleinere  Kirchen  Beachtung,  welche,  meist  in  schlichter 
Form,  und  grösstentheils  einschiffig,  manchmal  höchst  originelle  Züge 
in  ihrer  Grundrissanlage  aufweisen.     Die  Details  haben  zwar  die  Elemente 


»)  Wocel  in  den  Mittheilungen  Bd.  VIII,  S.  11  ff.  u.  36  ff.   mit  Abbilduagen. 

2)  Bd.  IV,  S.  412. 

3)  Ürueber,  Milth.  Bd.  XVI,  S.  XLVI. 

Schnaase's  Kunstgeech.    2.  Aufl.    V.  19 


290  Uebergangsstyl. 

der  früheren  böhmischen  Architektur,  wie  die  Würfelkapitäle  deren  Seiten- 
flächen von  Bändern  eingerahmt  sind,  beibehalten,  aber  an  Stelle  der  ehe- 
maligen Schmucklosigkeit  ist  doch  bereits  eine  Anwendung  von  Blattwerk 
und  von  reicherer  Decoration  getreten.  So  die  Kirchen  von  Tisnitz  bei 
Böhmisch  Brod,  von  Hostivar  bei  Prag,  von  St.  Jacob  bei  Kuttenberg ^), 
in  welcher  zwei  Säulen,  auf  denen  die  innere  Empore  ruht,  eine  reiche 
ornamentale  Ausstattung  ^zeigen  und  namentlich  die  Kirche  zu  Zabor  bei 
CoUin  -),  dreischiffig,  von  vier  Säulen  getragen,  aber  in  Charakter  eines  Central- 
baues.  Der  quadrate  Mittelraum  wie  die  Nebenräurae  sind  von  rippenlosen 
Kreuzgewölben  zwischen  breiten  Gurten  überdeckt,  über  den  vier  Mittel- 
säulen steigt  der  Thurm  auf,  dessen  Last  durch  Bögen  auf  die  Aussenwände 
abgeleitet  wird.  Ebenso  wie  diese  Kirche  haben  wir  ihres  Portals  wegen 
auch  die  zu  Podvinec  bei  Jungbunzlau  bereits  erwähnt,  die  vielleicht  erst 
aus  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  herrührt-^).  Sie  besteht  aus  einem  drei- 
seitig geschlossenen  Chor  und  einem  quadratischen  Raum,  der  eine  Vorhalle 
mit  Empore  darüber  und  das  flachgedeckte  Schiff  umfasst. 


Sechstes  Kapitel. 

Der  deutsche  Uebergangsstyl ;  die  Schulen  mehr 
constructiver  Richtung. 

Während  in  den  Rheinlanden  der  eben  geschilderte  decorative  Styl  und  im 
südlichen  Deutschland  die  Neigung  zu  phantastischer  Ornamentation  sich 
verbreiteten,  entstanden  auf  anderen  Stellen  Neuerungen  fast  entgegen- 
gesetzter Art,  welche,  anstatt  auf  vermehrten  Schmuck  hinzuführen,  eher 
die  Einfachheit  und  Strenge  der  älteren  Bauten  noch  steigerten.  Ihren 
localen  Sitz  hatte  diese  Richtung  hauptsächlich  in  den  niederdeutschen, 
flachen  und  nach  der  Meeresküste  zu  gelegenen  Provinzen,  allein  sporadisch 
und  aus  besonderen  Ursachen  trat  sie  auch  in  anderen  Theilen  Deutschlands 
auf,  und  gewann  mehr  und  mehr  an  Einfluss. 

Schon  in  Westphalen*),  also  in  unmittelbarer  Nähe  des  Rheinlandes, 


1)  Publicirt  von  Passavant,  in  der  Zeitschrift  von  v.  Quast  u.  Otte,  Bd.  I,  S.  149 
u.  Taf.  3. 

2)  Publ.  V.  Wocel,  Mittheil.  II,  S.  116  S;  Grueber,  Mitth.  I,  S.  199. 

»)  Grueber  Mittheil.  Bd.  XVI,  S.  CXXII  ff.  -  Förster,  Denkmale,  Bd.  XII.  — 
Angeblich  sogar  erst  1316  geweiht. 

*)  Vgl.  hier  überall  das  bereits  angeführte  vortreffliche  Werk  von  W.  Lübke,  die 
mittelalterliche  Kunst  Westphalens. 


Westphalen.  291 

lernen  wir  diese  Richtung  kennen.  Nirgends  zeigt  sich  die  unvertilgbare 
Verschiedenheit  einzelner  Bruderstämme  desselben  Volkes  auffallender,  als 
wenn  man,  nur  wenige  Stunden  vom  Laufe  des  Rheines,  die  Grenze  über- 
schreitet, welche  die  Wohnsitze  des  fränkischen  Stammes  von  denen  des 
sächsischen  scheidet,  und  sofort  andere  Sprachtöne,  andere  Sitten  und  An- 
sichten findet.  Während  die  Rheinländer  manche  Eigenschaften  mit  den  roma- 
nischen Völkern  gemein  haben,  während  ihr  rascher  fiiessendes  Blut,  ihr  leicht 
erregbarer  Sinn  sie  für  Fremdes  und  Neues  empfänglich,  nach  Lebensgenuss 
and  heiterem  Schmuck  begierig  macht,  ist  in  Westphalen  der  ruhige,  ver- 
ständige, nüchterne  Sinn  des  niedersächsischen  Stammes,  das  treue,  fast 
eigensinnige  Festhalten  am  Hergebrachten  reiner  und  entschiedener  aus- 
geprägt als  in  irgend  einer  anderen  Gegend.  Früher  bekehrt  und  civilisirt 
als  das  östliche  Deutschland,  besass  Westphalen  schon  im  elften  Jahrhundert 
reiche  und  gelehrte  Klöster,  deren  Herrschaft  sich  zum  Theil  über  weite 
Gebiete  erstreckte,  bischöfliche  Schulen,  in  denen  Wissenschaft  und  Kunst 
eifrige  Pflege  erhielten.  Aber  so  lange  die  Bewohner  d^s  Landes  fast  aus- 
schliesslich auf  ihren  einsamen  Höfen  hauseten,  blieb  diese  Bildung  auf  jene 
geistlichen  Mittelpunkte  beschränkt,  und  erst  in  dieser  Epoche,  als  die 
Städte  zahl-  und  volkreicher,  und  durch  die  diesem  Stamme  eigene  Betrieb- 
samkeit und  Sparsamkeit  mächtiger  geworden  waren,  erwachte  ein  höheres 
geistiges  Leben,  in  welchem  sich  die  Eigenthümlichkeiten  des  Volkscharak- 
ters bestimmter  entwickelten  und  Gestalt  annahmen.  Wie  wir  gesehen  haben, 
war  die  Wölbung,  deren  Vortheile  dem  praktischen  Sinne  dieser  Gegend 
vorzugsweise  einleuchteten,  schon  früh  in  Aufnahme  gekommen.  Ihre  aus- 
gedehntere Anwendung  führte  jetzt  zu  weiteren  Fortschritten,  in  welchen  die 
Rücksicht  auf  einfache  Zweckmässigkeit  vorwaltet,  zugleich  aber  auch  der 
Freiheitssinn  und  die  individuelle  Selbständigkeit,  welche  den  Bewohnern 
dieser  Gegend  eigen  ist,  sich  in  sehr  mannigfaltigen  Formen  und  Versuchen 
reicherer  Ausstattung,  immer  aber  mit  einer  charakteristischen  Einfachheit 
und  Derbheit  des  Schmuckes  äussert.  Dies  Alles  ergab  denn  einen  Ueber- 
gangsstyl,  der  aber  von  dem  rheinischen  sich  wesentlich  unterscheidet,  und 
dem  Provinzialcharakter  Westphalens  so  sehr  zusagte,  dass  er  sich  noch 
lange  erhielt  und  dass  manche  seiner  Formen  auch  auf  den  gothischen  Styl 
bei  seiner  späteren  Annahme  übergingen. 

Die  gewöhnlichen  Basiliken,  welche  am  Schlüsse  der  vorigen  Epoche 
hier  entstanden,  hatten,  wie  wir  gesehen  haben,  häufig  die  von  der  rheinischen 
Weise  abweichende  Eigenthümlichkeit ,  dass  darin  Säulen  mit  Pfeilern 
wechselten.  Von  diesem  Anfange  ausgehend  schritt  man  nun  zu  weiteren 
Versuchen  und  weiterer  Ausschmückung.  In  einer  Reihe  meistens  wiederum 
kleinerer  Kirchen  ist  nämlich  an  die  Stelle  dieser  einen  Säule  ein  Säulenpaar 
getreten,  das  mit  einem  gemeinschaftlichen  Kapital  in  der  Dicke  der  Mauer 

19* 


292  Westphälischer   Uebergangsstyl. 

die  Arcadenbögen  trägt ^).  So  in  den  Kirchen  zu  Boke,  Horste,  Del- 
brück, Verne,  sämmtlich  zwischen  Paderborn  und  Lippstadt  gelegen,  und 
dann  etwas  entfernter  in  denen  zu  Opherdike  bei  Dortmund  und  B öle 
bei  Hagen  2),  die  letzten  wohl  schon  vom  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts. 
In  der  Kirche  zu  Horste  zeigt  sich  darin  eine  sinnige  Variation,  dass  die 
zusammengestellten  Säulen  ungleich,  die  eine  rund  die  andere  achteckig,  und 
zwar  mit  wechselnder  Stellung  gebildet  sind  und  ihre  Verbindung  durch  eine 
ausgemeisselte  Hand,  die  ihre  Kapitale  umfasst,  ausgedrückt  ist.  Auch  in 
reinen  Pfeilerbasiliken  wurden  die  Arcadenpfeiler  zierlicher  gestaltet,  indem 
sie  an  den  abgefaseten  Ecken  eine  feine  Halbsäule  erhielten.  So  in  den 
Klosterkirchen  zu  Lippoldsberg  (auf  dem  rechten  Weserufer)  und  zu 
G  ehr  den,  so  wie  in  der  Stadtkirche  zu  Brakel  bei  Höxter.  Während 
diese  Bauten  an  der  östlichen  Grenze  Westphalens  sich  dem  sächsischen 
Style  nähern,  zeigt  die  Marienkirche  zu  Dortmund  schon  eine  Pfeiler- 
bildung, welche,  von  jener  obenerwähnten  eigenthüralich  westphälischen  Form 
ausgehend,  eine  organische  Verbindung  mit  der  Wölbung  ausdrückt.  Die 
Pfeiler  haben  nämlich  auf  den  Stirnseiten  je  eine  Halbsäule  als  Gewölb- 
träger, unter  den  Scheidbögen  dagegen  (ähnlich  wie,  nur  mit  freistehenden 
Säulen,  in  Boke  und  den  anderen  damit  verwandten  Kirchen)  zwei  verbundene 
Halbsäulen,  die  an  der  Pfeilerhöhe  hervortreten  und  den  die  Arcade  unter- 
fangenden Bogen  tragen.  Noch  reicher  und  eigenthümlicher  ist  dies  in  der 
benachbarten  Dorfkirche  zu  Brakel,  indem  hier  auch  die  Gewölbträger  des 
Mittelschiffes  verdoppelt  sind  und  zwar  dergestalt,  dass  sich  diese  Ver- 
doppelung in  zwei  aufeinandergestellten  Stockwerken  wiederholt.  Um  diese 
Zeit,  gegen  das  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts,  werden  auch  die  Portale 
oft  überaus  reich  und  geschmackvoll.  Sie  sind  meist  nicht  von  be- 
deutender Höhe  und  weichen  häufig  darin  von  der  gewöhnlichen  Form  ab, 
dass  die  Thüröffnung  nicht  durch  einen  geraden  Sturz,  sondern  durch  einen 
Kleeblattbogen  gedeckt  ist,  so  dass  das  Bogenfeld  auf  die  dadurch  ent- 
stehenden Zwickel  beschränkt  wird.  Das  schönste  dieser  Portale  ist  das 
der  St.  Jacobskirche  zuKoesfeld^),  welches  durch  den  rhythmischen 
Wechsel  von  glatten  und  verzierten  Theilen  und  dadurch  einen  besonderen 
Werth  erhält,  dass  die  polychromische  Färbung,  mit  welcher  die  Gliederung 
ausgestattet  war,  noch  sehr  wohl  erhalten  ist.  Aehnliche  Portale  sind  das 
nördliche  des  westlichen  Kreuzschiffes  am  Dome  zu  Paderborn,  so  wie  die 


1)  Es  ist  also  dieselbe  Anordnung   wie   in  der  Kalhedraie   von  Sens  in  Frankreich 
(S.  60),  ohne  dass  man  an  einen  Einfluss  von  dorther  denken  darf. 

2)  Lübke  a.  a.  0.  S.  III   und  Taf.  5. 

3)  Lübke    a.    a.    0.    S.    147    und    87.  —  Abgebildet    bei   Kalleubach    u.    Sclimitt, 
Taf.  XIV. 


Chorschluss.  293 

der  Pfarrkirchen  zu  Vreden,  Recklinghausen,  Metelen,  Lette  und 
St.  Johannes  zu  Billerbeck. 

Gleichzeitig  wurde  aber  eine  Form  herrschend,  welche  ein  sehr  ent- 
schiedenes Zeugniss  für  die  Richtung  auf  das  Nützliche  und  Einfache  giebt, 
der  rechtwinkelige  Chorschluss.  Schon  in  der  vorigen  Epoche  kommt 
er  einige  Male  vor,  jedoch  nur  ausnahmsweise  neben  der  halbrunden  Apsis; 
in  der  gegenwärtigen  bildet  er  dagegen  mit  seltenen  Ausnahmen  die  Regel 
und  wurde  so  beliebt,  dass  er  aus  dem  üebergangsstyle  in  den  gothischen 
Styl  dieser  Provinz  übertragen  wurde.  Der  Grund  für  die  Annahme  dieser 
Form  war  wohl  schwerlich  ein  ästhetischer;  man  zog  sie  vielmehr  vor,  weil 
man  eine  durchgängige  Ueberwölbung  haben  wollte  und  die  Schwierigkeiten 
scheute,  welche  die  runde  oder  polygone  Apsis  für  eine  solche  verursachte. 
Aber  immerhin  zeigt  die  Wahl  dieses  Mittels  und  das  Beharren  bei  dieser 
Form,  dass  man  an  ihrer  nüchternen  Erscheinung  nicht  Anstoss  nahm.  In 
einigen  Fällen  wusste  man  indessen  diese  schlichten  Chorwände  sehr  anmuthig 
und  constructiv  richtig  zu  behandeln.  Man  versah  nämlich  die  drei  Wände 
des  viereckigen  Chorraums  mit  mehr  oder  weniger  reich  gegliederten  Wand- 
arcaden,  über  deren  Gesims  je  ein  oder  mehrere  Oberlichter  standen.  Dies 
gab  dann  die  Veranlassung,  dass  man  die  Wand  oberhalb  desj  Gesimses  ver- 
jüngte und  mit  einer  davor  gelegten  Gallerie  versah.  So  findet  es  sich  sehr 
schön  und  belebt  in  den  Domen  von  Osnabrück  und  Minden  gegen  Ende 
des  zwölften  oder  vielleicht  am  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts.  Sie 
beide  übertrifft  an  edler  Form  und  Zweckmässigkeit  der  Chor  des  Domes 
zu  Münster.  Er  ist  nämlich  ausnahmsweise  nicht  rechtwinkelig,  sondern 
mit  fünf  Seiten  aus  dem  Zwölfeck  geschlossen  und  von  einem  niedrigen  Um- 
gange begleitet.  Dadurch  erhält  dann  die  auch  viel  reicher  gebildete  Gallerie, 
welche  sich  durch  die  aufsteigenden  Pfeiler  durchzieht,  eine  höhere  Bedeutung 
und  reichere  Entwickelung.  Die  Gewölbe  jund  theilweise  auch  die  Schild- 
bögen sind  rund,  die  Arcadenbögen  spitz,  die  Anlage  wird  daher  schon 
einige  Jahrzehnte  jünger  sein  als  die  der  beiden  anderen  Dome  ^).  Wir 
sehen  also,  dass  die  westphälischen  Meister,  wie  die  Erfinder  des  gothischen 
Styles,  darauf  bedacht  waren,  die  Mauermassen  zu  erleichtern  und  eben  da- 
durch plastisch  zu  beleben,  sie  schlugen  aber  den  entgegengesetzten  Weg 
ein,  indem  sie  der  leichter  gehaltenen  oberen  Mauer  ihre  Stützen  im  Inneren 
gaben,  während  der  gothische  Styl  sie  nach  Aussen  verlegte.  Sie  erlangten 
dadurch  an  der  Stelle,  wo  sie  es  versuchten,  sehr  schöne  und  harmonische 
Formen,  aber  freilich  nicht  ein  so  fruchtbares  und  vielseitig  anwendbares 
Princip,  wie  es  der  gothische  Styl  besa'ss. 

Während   dessen  war  aber  eine  andere,  viel  folgenreichere  Neuerung 


1)  Lübke  S.  126,  236,  128. 


294  Westphälischer  Uebergangsstyl. 

aufgekommen,  die  Anlage  der  Kirchen  mit  gleichhohen  Schiffen,  wie  man  sie- 
zweckmässig  benannt  hat  der  Hallenkirchen.  In  Krypten,  in  Refectorieis- 
und  anderen  Sälen,  auch  in  kleineren  Kapellen ')  kannte  man  die  Zusammen- 
stellung gleichhoher  Wölbungen  schon  längst,  bei  grösseren  Kirchen  hatte 
man  sie,  sei  es  aus  Anhänglichkeit  an  den  Basilikentypus,  sei  es  wegen  der 
davon  befürchteten  Schwierigkeiten,  noch  nicht  angewendet.  Wir  können 
als  gewiss  annehmen,  dass  es  zuerst  in  Westphalen  geschah.  Nur  hier  finden 
wir  diese  Form  schon  im  romanischen  Style,  nur  hier  ist  sie  dem  Volksgeiste 
in  dem  Grade  zusagend,  dass  sie  die  Basilikenform  im  Uebergangsstyle  fast 
ganz  und  im  gothischen  Style  völlig  verdrängt.  Schon  diese  Vorliebe  lässt 
auf  eine  einheimische  Entstehung  schliessen,  völlig  entscheidend  für  eine 
solche  ist  aber,  dass  wir  ihre  Genesis  hier  und  nur  hier  vollständig  verfolgen 
können,  sie  nach  mannigfaltigen  Versuchen  allmälig  zu  der  völligen  Aus- 
bildung gelangen  sehen,  mit  der  sie  in  anderen  Gegenden  unvorbereitet  und 
immer  erst  in  Verbindung  mit  dem  gothischen  Style  auftritt.  Wahrscheinlicli 
entstand  der  Gedanke  anfangs  aus  haushälterischer  Neigung  zur  Benutzung 
des  Vorhandenen.  Wie  man  früher  die  alten  Pfeilerbasiliken  nicht  durck 
neue  gewölbte  Kirchen  ersetzt,  sondern  überwölbt  und  dadurch  gelernt  hatte^ 
die  Wölbung  vorhandenem  Mauerwerk  anzupassen,  wollte  man  bei  zu- 
nehmender Bevölkerung  auch  den  Raum  luftiger  machen,  ohne  ein  ganz 
neues  Gebäude  anzulegen,  und  erreichte  dies  durch  Erhöhung  und  später 
zugleich  durch  Erweiterung  der  Seitenschiffe.  In  einer  grossen  Zahl  vor 
Fällen,  und  zum  Theil  in  solchen,  die  sehr  frühzeitig  scheinen,  können  wir 
dies  Verfahren  wirklich  nachweisen,  mehrere  Male  finden  wir  sogar,  dass 
nur  ein  Seitenschiff  erhöhet,  das  andere  in  der  alten  Gestalt  gelassen  ist. 
Es  ist  daher,  wenn  auch  nicht  erwiesen,  doch  sehr  wahrscheinlich,  dass  solche 
Aenderungen  dem  Neubau  ähnlicher  Kirchen  vorhergegangen  sind. 

Auch  bei  diesen  schloss  man  sich  anfangs  noch  völlig  an  den  Basiliken- 
typus an,  und  entfernte  sich  erst  nach  und  nach  von  demselben,  als  man  die 
Vortheile  und  Erfordernisse  der  neuen  Anordnung  besser  kennen  lernte. 
Zuerst  behielt  man  die  Grundverhältnisse  der  Basilika  vollständig  bei,  die 
schmale  Anlage  der  Seitenschiffe,  die  quadraten  Gewölbe,  sogar  mit  Rück- 
sicht auf  den  bisherigen  Gebrauch  die  zwischen  die  Gewölbpfeiler  gesetzte 
Arcadensäule.  Die  Seitenschiffe  hatten  daher  ganz  dieselben  Gewölbstützen 
und  Gewölbfelder  wie  bisher;  man  legte  diese  nur  etwas  höher,  wodurch 
dann  die  Säule  bei  gleicher  Stärke  schlanker  und  die  obere  Wand  des 
Mittelschiffes  über  den  beiden  Arcaden  jedes  quadraten  Gewölbes  auf  ein 
kleines  unausgefülltes  Bogenfeld  beschränkt  wurde,  dem  natürlich  die  Ober- 


1)  Die  Bartholomäuskapelle    in    Paderborn,    die  Kirche    zu  Melverode    bei    Brano-- 
schweig    und   die  Kapelle   von  Ramersdorf  sind   schon   in  dieser  Beziehung  angeführC 


Ausbildunfir  der  Hallenkirchen. 


295 


g^^a;i^a,^.;^aa:^^lm^g^ 


lichter  fehlten i).  Dies  findet  sich  in  der  kleinen  Kirche  zu  Derne  bei 
Dortmund  nicht  lange  nach  dem  Anfange  dieser  Epoche  mit  durchgängiger 
Anwendung  des  Rundbogens,  in  St.  Servatius  zu  Münster,  St.  Jacobus 
zu  Koesfeld,  in  der  Klosterkirche  von  Langenhorst,  in  St.  Johannes 
in    Billerbeck,    in    Leg- 

den,  in   St.  Marien   (der  Fig.  82. 

sogenannten  Marktkirche) 
undSt.NicoIaus  zuLipp- 
stadt  mit  Spitzbögen  an 
den  Arcaden  und  meistens 
auch  an  den  Gewölben  bei 
rundbogigen  Fenstern.  In 
den  beiden  letztgenannten 
Kirchen  ist  zu  erkennen, 
dass  die  Seitenschiffe  früher 
niedriger  waren,  bei  den 
anderen  scheint  ihre  jetzige 

Höhe    ursprünglich.        Bei    mehreren  Fig.  83. 

derselben  ist  es  erweislich,  bei  allen 
wahrscheinhch ,  dass  sie  im  letzten 
Viertel  des  zwölften  Jahrhunderts  ent- 
standen sind.  Die  Anwendung  des 
Spitzbogens  empfahl  sicli  hier  schon 
dadurch,  dass  sie  jenes  unbeleuchtete 
Bogenfeld  verkleinerte  und  dem  Mittel- 
schiffe mehr  von  dem  Lichte  der  Seiten- 
schiffe zukommen  Hess.  Da  dies  Bogen- 
feld das  Mittelschiff  verfinsterte  und 
die  Zwischensäule  als  Stütze  der  oberen 
Wand  unentbehrlich  war,  so  musste 
man  wünschen,  beide  zu  beseitigen 
und  den  Durchblick  bis  zu  der  Ge- 
wölbhöhe des  Seitenschiffes  offen  zu 
lassen.  Dies  war  indessen  unmöglich, 
so  lange  man  neben  dem  quadraten 
Gewölbe  zwei  Seitengewölbe  anlegte, 

und  konnte  nur  geschehen,  wenn  man,  von  dem  Herkommen  quadrater 
Wölbung  abgehend,  den  länglichen  und  schmalen  Raum  neben  jedem  Gewölb- 
felde des  Mittelschiffes  mit  einer  Wölbung  bedeckte,  welche  keiner  mittleren 


1)  Vgl.  Lübke  S.  144  ö'.  und  Taf.  X. 


296  Westphälischer   Uebergang-sstyl. 

Stütze  bedurfte.  Dies  geschah  dann  anfangs  in  sehr  originellei'  "Weise.  In 
einigen  Kirchen  (St.  Maria  zur  Höhe  und  St.  Thomas  in  Soest,  nebst 
den  Kirchen  zu  Ruthen  und  zu  Enniger  im  Münsterlande)  hat  man  den 
Seitenschiffen  halbe  Kreuzgewölbe  gegeben,  deren  Scheitelpunkt  sich  an 
das  Mittelschiff  anlehnt  und  die,  da  zu  den  Diagonalgurten  eine  von  einem 
Wandpilaster  aufsteigende  mittlere  Gurte  hinzukommt,  eine  muschelförmige 
Gestalt  haben.  Diese  Anordnung  ist  zwar  ganz  zweckmässig,  da  dies  Ge- 
wölbe sich  dem  Schub  der  mittleren  Kreuzgewölbe  entgegenstemmt,  allein 
sie  gewährte  zu  sehr  den  Eindruck  eines  Nothbehelfs,  als  dass  man  sich 
dabei  beruhigen  konnte.  Man  gab  daher  den  Seitenschiffen  Tonnengewölbe 
mit  einschneidenden  Stichkappen,  wie  sich  dies  unter  anderen  an  den  Kirchen 
zu  Bai  VC  und  Plettenberg  in  ähnlicher  Weise  wie  an  der  früher  be- 
schriebenen Dorfkirche  zu  Melverode  bei  Braunschweig  findet.  Endlich 
kam  man  auf  den  Gedanken,  den  Seitenschiffen,  abweichend  von  dem  bis- 
herigen Gebrauche,  fast  gleiche  Breite  mit  dem  Mittelschiffe  zu  geben,  wo- 
durch man  in  ihnen  Gewölbe  erhielt,  welche  bei  fast  quadratischer  Form 
mit  Hülfe  des  Spitzbogens  ohne  Schvrierigkeit  fast  dieselbe  Höhe  erlangten 
wie  die  des  Mittelschiffes.  Wahrscheinlich  kam  man  auch  auf  dieses  Aus- 
kunftsmittel zuerst  nicht  bei  Neubauten,  sondern  bei  Herstellungen  älterer 
Kirchen,  wo  man  durch  Hinausrücken  der  Seitenwände  bis  an  die  Vorderseite 
des  Kreuzschiffes  zugleich  eine  Vergrösserung  des  Flächenraumes  und  die 
Erleichterung  der  Gewölbanlage  erlangte.  Diese  Art  der  Erweiterung  hat 
namentlich  an  der  Stiftskirche  zu  Ober-Marsberg  im  Jahre  1233^)  und, 
wahrscheinlich  etwas  früher,  an  der  Münsterkirche  zu  Herford  statt- 
gefunden, an  welcher  letzten  die  mannigfaltigen  Wölbungsarten  und  Fenster- 
formen sehr  augenscheinlich  zeigen,  dass  der  Meister  seiner  Sache  nicht 
sicher  war  und  Versuche  anstellte. 

Indessen  yab  man  sehr  bald  auch  bei  neuerbauten  Kirchen  den  Seiten- 
schiffen eine  grössere,  der  des  Mittelschiffes  sich  annähernde  Breite.  So  in 
der  Klosterkirche  zu  Barsinghausen  am  Deister,  bei  welcher  das  Stiftungs- 
jahr 1203  überliefert  ist,  in  der  Kirche  zu  Methler  und  einigen  anderen 
kleineren  Kirchen  in  der  Gegend  von  Dortmund,  und  endlich  in  der  schönen, 
leider  nur  als  Ruine  bestehenden  Stiftskirche  St.  Marien  zu  Li pp Stadt, 
deren  P'enster  zwar  auf  eine  etwas  spätere  Zeit  hinweisen,  deren  Pfeiler  und 
Grundmauern  aber  schon  gleich  nach  der  Vollendung  des  noch  völlig  roma- 
nischen Nonnenchors,  mithin  spätestens  um  1230,  angelegt  zu  sein  scheinen. 
In  anderen  Fällen,  wie   bei   der  Dominikanerkirche  und  bei  St.  Johann  zu 


')  C.  Becker  tlieilt  im  D.  Kunstblatt  1855,  S.  141  eine  (sowohl  Lübke  als  mir 
selbst  entgangene)  Inschrift  mit,  nach  welcher  die  Kirche  nach  einem  Brande  von 
1230  drei  Jahre  darauf  hergestellt  sei. 


Details.  297 

Warburg  uud  bei  den  Kirchen  zu  Wickede  und  Huckarde  sind  die 
Seitenschiffe  zwar  wieder  von  schmalerer  Form,  indessen  wurde  doch  jene 
breitere  Anlage  so  beliebt,  dass  sie  sich  iu  Westphalen,  abweichend  von  dem 
Herkommen  der  meisten  anderen  Gegenden,  in  welchen  Hallenkirchen  auf- 
kamen, auch  unter  der  Herrschaft  des  gothischen  Styles  erhielt. 

In  den  meisten  dieser  Kirchen  sind  nur  die  Gewölbe  und  Arcaden  spitz, 
die  Fenster  dagegen  rundbogig.  So  findet  es  sich  namentlich  noch  in  der 
erst  1223  gestifteten,  freilich  sehr  rohen  und  schmucklosen  Kirche  zuElsey 
an  der  Lenne.  Bald  wandte  man  aber  auch  an  den  Fenstern,  theils  um  sie 
auf  beschränktem  Räume  zu  erhöhen,  theils  wie  es  scheint  bloss  zur  Ab- 
wechselung, den  Spitzbogen  an.  An  der  Kirche  zu  B  ar  sing  hausen  sind 
die  Fenster  innerlich  rund,  äusserlich  mit  einer  schwach  hervortretenden 
Spitze,  am  Münster  zu  Herford  höchst  verschieden,  theils  rund,  theils  spitz, 
theils  mit  einem  Kleeblattbogen  bedeckt,  in  St.  Maria  zur  Höhe  in  Soest 
auf  der  einen  Seite  rundbogig,  auf  der  andersn  spitz,  hier  aber  äusserlich 
von  einem  Kleeblattbogen  umschlossen,  dessen  Ecken  sich  über  den  oberen 
Theil  des  Fensters  hineinbiegen  und  dasselbe  theilweise  verdecken.  An  den 
Kirchen  zu  Wickede,  Huckarde,  Methler,  Albersloh  i),  w^elche  indessen 
säramtlich  wohl  schon  dem  zweiten  Viertel  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
angehören,  sind  endlich  alle  Fenster  spitz.  Häufig  sind  sie  mit  einem  Rund- 
stabe eingefasst,  der  ohne  Kapital  herumläuft  aber  an  verschiedenen  Stellen 
durch  Ringe  getheilt  ist.  Meistens  stehen  sie  gruppenweise,  zu  zweien  oder 
dreien  zusammengestellt;  in  Methler  und  Wickede  sind  diese  Fensterpaare 
mit  spitzbogigen  Blenden  bedeckt,  die  zwischen  beiden  auf  einer  Console 
ruhen.  Die  Aussenmauern  sind  mehrentheils  mit  Lisenen  und  mit  demBogen- 
friese  in  runder  oder  spitzer  Form  ausgestattet.  Die  Ornamentation  ist 
nicht  gerade  arm,  oft  vielmehr  wild  phantastisch,  aber  ohne  feineres  Gefühl, 
und,  besonders  an  der  schon  genannten  Höhenkirche  zu  Soest,  ungewöhnlich 
derb  und  bizarr.  Die  Gewölbfelder  sind  immer  von  schweren  eckig  pro- 
filirten  Gurten  getrennt,  meistens  auch  mit  Rippen  in  Gestalt  eines  derben 
Rundstabes  versehen,  die  aber  oft  bloss  als  Zierden  zum  Scheine  vorgelegt 
sind.  Häufig  sind  die  Wölbungen  sogar  kuppeiförmig,  aber  doch  mit  Rippen 
in  Stuck  bekleidet  2).     Mehrere  Male   sind   diese   Rippen   vermehrt   und   zu 


1)  Vgl.  Organ  für  christl.  Kunst,  1869,  mit  Abb. 

2)  Dies  ist  in  dem  spätromanischen  Nounenchor  der  Stiftskirche  St.  Maria  zu 
Lippstadt,  wo  die  Rippen  und  der  Bewurf  zum  Theil  abgefallen  sind,  vollständig  zu 
sehen.  Aehnlicli  wie  VioIlet-le-Duc  (Dict.  I.  S.  186),  und  noch  stärker  als  dieser  hat 
sich  ein  anderer  berühmter  Architekt,  Hübsch,  im  D.  Kunstbl.  1855,  S.  186  in  der 
Anm.,  für  die  Ansicht  ausgesproclien ,  dass  die  Rippen  „nicht  aus  einem  construetiven 
Beweggrunde  entstanden  sind  ,  sondern  lediglich  eine  decorative  Veranlassung  haben, 
um  nämlich  den  beliebt  gewordenen,    vom  Boden   aufsteigenden   vielen  dünnen  Blend- 


298  Westphälischer  Uebergangsstyl. 

einer  eigenthümlicheu  Verzierung  benutzt,  indem  die  Diagonalen  zwar  bis 
zum  Schlusssteine  fortgesetzt,  die  von  den  Seiten  der  Quergurten  und  Schild- 
bögen ansteigenden  Rippen  aber, ^  ehe  sie  jene  erreichen,  abgebrochen  sind, 
indem  sie  innerhalb  eines  durch  einen  Rundstab  in  einiger  Entfernung  vom 
Schlussstein  gebildeten  Kreises  mit  einer  Blume  endigen.  Dies  findet  sich 
namentlich  an  der  Kirche  St.  Johannes  zu  Billerbeck,  im  Chor  der  Kirche 
zu  Legden  und  an  der  Vierung  des  Kreuzes  in  der  Pfarrkirche  St.  Maria 
zu  Lippstadt,  ähnliches,  z.  B.  die  Umschliessung  des  Schlusssteines  mit 
einer  Raute  und  einem  Kreise,  an  anderen  Orten.  Häufig  sind  auch  in  einer 
und  derselben  Kirche  einige  Gewölbe  mit  Rippen,  andere  ohne  solche,  und 
eben  so  häufig  die  Rippen  mit  einzelnen,  an  gewissen  Stellen  angelegten 
Schilden  verziert^).  Auch  herabhängende  Schlusssteine  finden  sich  einige 
Male,  so  dass  der  Gedanke  decorativer  Benutzung  der  Gewölbe,  der  in 
anderen  Gegenden  erst  im  vierzehnten  Jahrhundert  aufkommt,  hier,  freilich 
in  anderer  Weise,  frühzeitig  auftaucht.  Dagegen  sind  die  Pfeiler  in  den 
meisten  dieser  Bauten  gleich  und  in  einer  dem  Systeme  der  Hallenkirchen 
wohl  entsprechenden,  sehr  regelmässigen  und  constructiv  richtigen  Gestalt 
aus  viereckigem  Kern  kreuzförmig  gebildet,  in  den  Ecken  schwächere,  auf 
den  vier  Seiten  stärkere  Halbsäulen,  alle  mit  attischer  Basis  und  mit  dem  Eck- 
blatte und  von  einem  kurzen  Kapitälgesimse  umgeben,  das  mit  gleichmässigem 


Säulen  einen  Scheindienst  zu  verleihen."  Vielleicht  soll  damit  mehr  eine  teclmische 
Meinung  über  den  wirklichen  Nutzen  der  Rippen,  als  eine  historische  über  die  Absicht 
der  Baumeister  des  Mittelalters  ausgesprochen  sein.  Vom  historischen  Standpunkte 
würde  sich  dagegen  einwenden  lassen,  dass  gerade  die  französischen  Meister  des  früh- 
gothischen  Styls  keine  Blendsäulen  vom  Boden  aufführten,  sondern  die  Gewölbdienste 
sehr  mühsam  auf  den  Kapitalen  der  Säulen  anbrachten,  was  sich  nur  durch  ihre 
Meinung  von  der  constructiven  Bedeutung  dieser  Dienste  und  der  auf  ihnen  ruhenden 
Rippen  erklären  lässt.  Vom  technischen  Standpunkte  aus  dürfte  zu  bemerken  sein» 
dass  wenigstens  die  frei  untergelegten  Rippen,  welche  sich  selbst  tragen,  dem  Gewölbe 
als  Verstärkung,  oft  auch  als  Lehrbögen  dienen  mussten,  und  dass  in  vielen  Fällen 
(wie  Viüllet-le-Duc  es  schon  für  die  Bauten  aus  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahr- 
hunderts bezeugt  und  wie  es  später  oft  augenscheinlich  der  Fall  ist)  die  Kappen  wirk- 
lich auf  den  Rippen  ruhen.  Einen  Beweis  dafür,  dass  die  deutschen  Meister  vom 
Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts  die  Rippen  nicht  als  eine  Rechtfertigung  der 
Säulen,  sondern  diese  als  Stützen  der  Rippen  ansahen,  geben  viele  Bauten  des  Ueber- 
gangsstyles,  z.  B.  die  Vorhalle  im  Kloster  Maulbronn  (s  Eisenlohr's  Werk  über  dasselbe), 
in  welchen  auch  die  Diagonalrippen  halbkreisförmig,  aber,  weil  sie  einen  grösseren 
Halbmesser  haben  als  die  Quergurten,  bedeutend  grösser  und  deshalb  auch  die  Säulen, 
welche  sie  tragen,  bedeutend  niedriger  gehalten  sind,  als  die  für  die  Quergurten  und 
Schildbügen  bestimmten;  eine  Ungleichheit,  die  man  aus  decorativen  Gründen  vermieden 
haben  würde  und  später  wirklich  vermied,  die  daher  zeigt,  dass  man  es  mit  dem 
Constructiven  sehr  ernsthaft  meinte. 
1)  Lübke  a.  a.  0,  Taf.  X. 


Der  Dom  zu  Paderborn.  299 

einfachem  und  derbem  Blattwerk  besetzt  ist.  Der  Chorschluss  ist ,  wie 
erwähnt,  in  den  meisten  Fällen  rechteckig,  das  Innere  im  Ganzen  schlicht, 
hell  beleuchtet,  regelmässig,  die  Breitenrichtung  vermöge  der  grösseren 
Breite  der  Seitenschiffe,  des  Fortfallens  oder  doch  der  verminderten  Be- 
deutung der  Kreuzschiffe  und  der  meist  nicht  bedeutenden  Höhe  der  Schiffe 
überwiegend.  Der  Uebelstand,  der  in  dem  Systeme  der  Hallenkirchen  durch 
die  grosse  Masse  des  gemeinsamen  Daches  entsteht,  ist  mehrere  Male  dadurch 
beseitigt,  dass  die  einzelnen  Abtheilungen  der  Seitenschiffe  eigene  Giebel 
und  Dächer  erhalten  haben. 

Dieser  einfache  Uebergangsstyl  erhielt  sich  in  Westphalen  sehr  lange 
und  vermischte  sich  zum  Theil  noch  mit  den  Formen  des  entwickelten  go- 
thischen  Styls.  So  zeigt  er  sich  auch  an  dem  bedeutendsten  Gebäude  dieser 
Gruppe,  amDomezuPaderboru^).  Offenbar  ist  dieser  nicht  aus  einem  Gusse, 
sondem  durch  die  Arbeit  verschiedener  Jahrhunderte  entstanden.  Das 
Langhaus  hat  wieder  die  einfache  Anlage  der  Hallenkirchen,  im  Mittelschiffe 
fast  quadratische  Gewölbfelder,  da  der  Pfeilerabstaud  etwa  vier  Fünftel  der 
Breite  beträgt,  Seitenschiffe  von  fast  zwei  Dritteln  der  Breite  des  Mittel- 
schiffes, Pfeiler  von  kreuzförmiger  Anlage  mit  breitgestalteter  Basis, 'Eck- 
blättern und  Kapitälgesimsen,  ähnlich  wie  in  Ober-Marsberg,  dabei  aber 
mächtige  Fenster  mit  derbem,  aus  Rundstäben  gebildetem  Maasswerke,  wel- 
ches die  Kenntniss  des  entwickelten  gothischen  Styles  verräth.  Der  Chor 
ist  rechtwinkelig  geschlossen,  ebenso  das  südliche  Kreuzschiff,  während  das 
nördliche  polygouförmig  mit  fünf  Seiten  des  Zwölfeckes  und  durchweg  in 
frühgothischen  Formen  errichtet  ist.  Die  Geschichte  berichtet  zuerst  von 
einem  1068  geweihten  Bau,  aus  welchem  nur  der  alterthümliche  mächtige 
Westthurm  erhalten  ist  -;.  Eine  an  ihn  anstossende  Pfeilerstellung  zeigt 
noch  einfach  romanische,  aber  doch  schon  spätere  Form,  und  wird  daher 
dem  Bau,  der  eine  Weihe  im  Jahre  1143  zur  Folge  hatte,  zuzuschreiben 
sein.  Aus  späterer  Zeit  wissen  wir  nur  von  einem  bedeutenden  Brande  im 
Jahre  1263,  und  von  einer  nach  demselben  erfolgten  Herstellung,  aus  welcher 
ohne  Zweifel  die  jetzigen  Gewölbe  und  die  Seitenmauern  mit  ihren  Strebe- 
pfeilern und  Maasswerkfenstern  stammen.  Zweifelhaft  ist  dagegen,  ob  man 
diesem  Herstellungsbau  auch  die  ganze  Anlage  des  Langhauses  und  die  Ver- 
wandlung der  älteren  Basilika  in  eine  Hallenkirche  beilegen  muss,  wie  Einige 
angenommen  haben,  wogegen  aber  die  Form  der  Pfeiler  und  die  dadurch 
bedingte  sehr  massige  Gewölbhöhe  zu  sprechen  scheinen.  Wahrschein- 
licher ist  daher,  dass  schon  vor  jenem  Brande  eine  Hallenkirche  bestand, 
welche  entweder  in  langsamer  Fortsetzung  des  Baues  nach  der  irgend  einem 


1)  Lübke  a.  a.  0.  S.  173  und  Taf.  XIII. 

2)  Vgl.  Bd.  IV,  S.  394. 


30C)  Westphälischer  L'ebergangsstyl, 

Theile  im  Jahre  1143  ertheilten  Weihe,  oder  durch  einen  von  derselben 
unabhängigen,  historisch  nicht  überlieferten  Neubau  in  der  ersten  Hälfte  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  errichtet  war,  und  deren  solide  Pfeiler  ^den  Brand 
von  1263  überdauerten  und  für  die  nach  demselben  erfolgte  Herstellung 
raaassgebend  waren  ^).  Dies  wird  man  um  so  mehr  anzunehmen  geneigt  sein, 
wenn  man  mit  ihnen  den  polygonen  Ausbau  des  nördlichen  Kreuzarmes 
vergleicht,  dessen  Wandsäulchen  schon  zierliche  Kapitale  mit  frühgothischem 
Laubwerk  haben,  während  das  Fenstermaasswerk  noch  in  ganz  gleicher 
Weise  wie  das  reichere  in  den  Fenstern  des  Langhauses  aus  Rundstäben 
mit  Kapitalen  gebildet  ist  und  auch  die  Gewölbrippen  noch  nicht  die 
scharfe  gothische  Profilirung  zeigen.  Dieser  Ausbau  möchte  daher  eben  so 
wie  jene  Fenster  der  Herstellung  vom  Jahre  1263  zuzuschreiben  sein,  welcher 
dann  aber  die  in  ganz  anderem  Geiste  behandelten  Pfeiler  unmöglich  ange- 
hören können.  Auf  einen  Bau  in  der  Zwischenzeit  von  1143  bi«  1263 
deutet  auch  das  nördliche  Portal  des  westlichen  Querarms,  welches  den  voll- 
endeten, aber  noch  rein  romanischen  Styl  vom  Ende  des  zwölften  Jahrhun- 
derts zeigt,  während  das  südliche-)  zwar  noch  rundbogig  (sei  es  mit  Be- 
nutzung einer  älteren  Anlage  oder  im  Anschluss  an  die  rundbogigen  Formen 
der  spätromanischen  Vorhalle),  aber  in  einer  Weise  verziert  ist,  welche  die 
Kenntniss  des  entwickelten  gothischen  Styls  voraussetzt. 

Diese  Beispiele  werden  genügen,  um  die  Eigenthümlichkeit  des  west- 
phälischen  Uebergangsstyls  zu  zeigen,  der,  wenn  auch  weniger  malerisch 
und  reich  als  der  rheinische,  doch  in  vielen  Beziehungen,  namentlich  durch 
die  Erfindung  der  Hallenkirchen,  einen  wesentlichen  Einfluss  auf  die  ganze 
spätere  Entwickelung  der  Architektur  in  Deutschland  ausgeübt  hat.  Auch 
sehen  wir  ihn  schon  jetzt  auf  dem  Wege  weiterer  Verbreitung  in  der  Me- 
tropolitane  des  Nordens,  in  Bremen,  wo  der  Chor  des  Domes •'^),  rechtwin- 
kelig mit  Mauernischen  und  einem  darauf  ruhenden  Umgange,  denen  von 
Minden  und  Osnabrück  gleicht. 


Eine  verwandte,  aber  doch  wieder  abweichende  Richtung  bildete  sich 
in  den  übrigen  Ländern  des  nördlichen  Deutschlands,  welche  sich  von 
der  Weser  an  bis  zu  den  östlichsten  Grenzen  deutscher  Zunge,  der  Meeres- 
küste entlang  und  weiter  binnenwärts  bis  zum  Fusse  der  nächsten  Berge 
hinziehen.  Die  Bewohner  dieser  Gegenden  gehören,  wie  die  von  Westphalen, 
dem  niedersächsischen  Stamme  an,   sie   unterscheiden   sich   aber  von  diesen 


1)  Dr.  W.  E.  Giefers,  der  Dom  zu  Paderborn,  1860,  S.  20,  giebt  die  Ablassurkunde 
vom  Jahr  1267,  welche  von  einer  Zerstörung  durch  Brand  spricht. 
-)  Moller's  Denkmäler  Theil  I,  Taf.   17. 
^)  Abbildungen  bei  H.  A.  Müller,   der  Dom  zu  Bremen,  1861. 


Die  Gegenden  des  Ziegelbaues.  3<  •! 

insofern,  als  sie  nicht  in  uralten  Sitzen  hausen,  sondern  mehr  oder  weniger 
Kolonisten  sind,  welche  das  Land  den  Wenden  oder  doch  der  unwirthlichen 
Xatur  abgewonnen  haben.  Dazu  kommt  in  baulicher  Beziehung  der  wich- 
tige Unterschied,  dass  der  natürliche  Stein,  der  dort  in  Fülle  gebrochen 
wird,  in  diesen  Flachländern  fehlt,  und  dass  daher  grössere  Bauunterneh- 
mungen hier  nur  mit  Hülfe  künstlicher  Steine  gedeihen  konnten.  In  der 
vorigen  Epoche  hatten  diejenigen  Theile  dieses  grossen  Gebietes,  die  damals 
schon  zu  Deutschland  gehörten,  in  künstlerischer  Beziehung  noch  nichts 
geleistet.  Sie  waren  zu  arm,  zu  dünn  bevölkert,  zu  sehr  mit  der  harten 
Arbeit,  Wälder  und  Sümpfe  in  urbares  Land  zu  verwandeln,  beschäftigt 
gewesen.  Man  hatte  daher  auch  die  Kirchen  meistens  nur  nothdürftig  aus 
Holz  erbaut  und  in  den  seltenen  Fällen,  wo  man  über  reichere  Mittel  ver- 
fügen konnte,  mit  weit  hergeholten  Hausteinen^)  in  der  Weise  der  südlicheren 
Gegenden  gearbeitet.  Sehr  bald  wird  man  wohl  auch  Ziegel  angewendet 
haben,  da  die  Fabrication  dieses  für  solche  Gegenden  so  nützlichen  Materials 
am  Rheine  aus  römischer  Zeit  her  in  fortwährender  üebung  geblieben  und 
in  anderen  Gegenden  Deutschlands  auch  wenigstens  versucht  war-).  Allein 
wie  selten  oder  unbedeutend  diese  Bauten  gewesen  sein  müssen,  ergiebt  sich 
schon  daraus,  dass  sie  sämmtlich  durch  spätere  Anlagen  verdrängt  sind. 

Anders  gestalteten  sich  die  Verhältnisse  seit  dem  Beginne  dieser  Epoche, 
als  die  Länder  an  der  Elbe  und  östlich  von  derselben,  die  bisher  theils 
ganz  von  Wenden  bewohnt,  theils  doch  durch  die  beständigen  Einfälle  dieser 
heidnischen  Nachbaren  beunruhigt  waren,  von  deutschen  und  niederländischen 
Kolonisten  besetzt  und  so  grosse  geschlossene  Territorien  gebildet  wurden,  in 
welchen  Ortschaften  und  Klöster  mit  baulichen  Bedürfnissen  und  mit  grösseren 
Mitteln  zur  Befriedigung  derselben  erstanden.  Den  Mangelan  Hausteinen  ersetzte 
man  auch  hier  anfangs  theils  durch  Holz,  theils  durch  Feldsteine.  Bald  aber 
wurde  die  Anwendung  von  Ziegeln  allgemein.  Feldsteine  wurden  nunmehr  nur 
zu  kleineren  Gebäuden  oder  zu  Grundmauern  verwendet ,  Hausteine  anfangs,. 
wo  es  die  Mittel  gestatteten,  aus  den  sächsischen  Gegenden  herbeigeführt, 
um  daraus  die  feineren,  der  Sculptur  bedürftigen  Details  zu  bilden,  später 
aber,  um  diese  Kosten  zu  ersparen,  durch  Ornamente,  welche  sich  mit  Form- 
steinen bilden  Messen,  ersetzt-^'). 


1)  So  nach  ausdrücklichen  Zeugnissen  (Fiorillo  a.  a.  0.  II,  107)  unter  den  Erz- 
bischöfen Bezelin  und  Adalbert  in  der  MiUe  des  elften  Jahrhunderts  am  Dome  zu 
Bremen  und  später  unter  Heiuridi  dem  Löwen  an  dem  zu  Bardewjk  im  Lüne- 
burgischen. 

-)  Schon  Bischof  Bern  ward  von  Hildesheim  legte  im  Anfange  des  elften  Jahr- 
hunderts Ziegelbreunereien  an.  (Lateres  ad  tegulam ,  propria  industria .  nullo 
monstrante,  composuit.     Leibnitz  Scr.  I,  444). 

*)  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die  niederländischen  Kolonisten,    welche    in 


302 


Norddeutschland. 


Fig.  84. 


Schon  der  romanische  Styl  erhielt  hier  durch  den  Einfluss  des  Materials 
einen  anderen  Charakter.  Die  Zufälligkeiten,  welche  bei  der  Anwendung 
des  natürlichen  Steins  durch  die  verschiedene  BescbaflPenheit  desselben  und 
durch  die  Individualität  der  Arbeiter  herbeigeführt  waren,  fielen  fort,  der 
Bau  wurde  regelmässiger  und  einfacher.    Auf  den  Reichthum  von  Sculpturen, 

auf  die  Ornamente,  in  welchen  die  runde 
Linie  vorherrschte,  musste  man  verzichten, 
alles  auf  gerade  Linien  reduciren.  Selbst 
das  Würfelkapitäl,  so  einfach  es  war,  büsste 
die  volle  Rundung  seines  unteren  Theiles 
ein,  und  verwandelte  sich  in  einen  mehr 
geradlinigen  Körper,  dessen  Ecken  nach 
unten  zu  abgeschrägt  waren.  Es  entstand 
an  Stelle  des  rundschildigen  ein  trapez- 
förmiges Kapital,  welches  freilich  durch  den 
Mangel  der  Ausladung  die  "Wirkung  des 
Würfelkapitäls  nicht  erreichte  und  den  Ein- 
druck des  Nüchternen  macht.  Dennoch  war 
diese,  mancher  Abwechselung  fähige  Form 
dem  Ziegelbau  so  zusagend,  dass  sie  sich 
über  das  ganze  nordöstliche  Deutschland 
verbreitete  und  sich  bis  zur  Mitte  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  neben 
manchenElementen  desfrüh- 
gothischen  Styls  erhielt^). 

Wie  das  "Würfelkapitäl 
erlitt  auch  der  Run  dbogen- 
fries  hier  eine  Veränderung, 
aber  in  entgegengesetzter 
Richtung ;  während  jenes 
einfacher  wurde,  wurde  er 
reicher,  indem  man  ihn  statt 
aus  einer    einfachen  Reihe 


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Kloistei-kirche  zu  Jerichow. 


Bogenfries  aus  Jerichow. 


der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  sich  in  der  Mark  Brandenburg  niederliessen,  die  Fabrikation 
und  Anwendung  von  Backsteinen  befördert  haben.  Adler,  die  niederländischen  Kolonien 
der  Mark  Brandenburg,  Märkische  Forschungen,  Bd.  VII,  1861;  ders,  Mittelalter).  Back- 
stein-Bauwerke des  Preussischen  Staates,  Berlin  1862,  S.  33  f.,  36  f.  —  A.  v.  Wersebe, 
Niederländische  Kolonien  im  nördlichen  Teutschland.  Allein  die  weitere  Ausbildung 
des  Ziegelbaues  fällt  in  eine  spätere  Zeit  und  erlangte  eine  Höhe,  welche  sie  in  den 
Niederlanden  niemals  erreichte. 

1)  Beispiele  und  Abbildungen    in    dem    lehrreichen   Aufsatze    von    v.  Quast:    „Zur 
■Charakteristik  des  älteren  Ziegelbaues  in  der  Mark  Brandenburg",  im  deutscheu  Kunst- 


Die  Gegenden  des  Ziegelbaues.  303 

aus  zwei,  gleichsam  übereinander  gelegten  und  sich  durchkreuzenden  Bogen- 
reihen  bildete.  Dieselbe  Form  haben  wir  in  England  kennen  gelernt,  sie 
findet  sich  aber  auch  in  der  lombardischen  Ebene,  und  ist  gewiss  nicht,  wie 
man  annehmen  könnte,  aus  einer  dieser  entfernten  Gegenden  in  die  andere 
übergegangen,  sondern  überall  selbständig,  aber  aus  gleicher  Ursache  ent- 
standen. Sie  hatte  überall  den  Zweck,  den  Mangel  kräftiger  plastischer 
Ornamente  durch  reicher  gebildete  flache  zu  ersetzen.  In  England  war 
dieser  Mangel  eine  Folge  des  einheimischen  Geschmackes,  in  der  Lombardei 
aber  bediente  man  sich,  wie  in  unserem  deutschen  Norden,  der  Ziegel,  welche 
freie  Plastik  versagten,  dafür  aber,  sobald  man  Formsteine  zu  bilden  gelernt 
hatte,  die  Ausführung  reicherer  Linienornamente  ohne  grosse  Anstrengung 
gestatteten  ^). 

Einige  der  Formen,  welche  in  anderen  Gegenden  den  üebergangsstyl 
charakterisiren  und  dem  gothischen  Style  vorarbeiteten,  kamen  hier  ziemlich 
früh  in  Aufnahme.  Die  Wölbung  erregte  schon  dadurch  geringe  Schwierig- 
keiten, dass  man  nicht,  wie  in  den  Gegenden  des  Steinbaues,  verschiedener 
Materialien,  eines  stärkeren  und  schwerereu  Steines  zu  den  Mauern  und  eines 
leichteren  zu  den  Gewölben,  bedurfte,  und  dieselben  Ziegel  hier  wie  dort 
genügten.  Nachdem  man  an  den  senkrechten  Mauern  die  verbindende  Kraft 
des  Mörtels  kennen  gelernt  hatte  ,  lag  es  nahe,  darüber  hinauszugehen  und 
nach  der  gegenüberstehenden  Mauer  hin  eine  ähnliche  Arbeit  zu  versuchen. 
Gab  es  doch,  um  die  Thüröffnungen  in  Ziegeln  zu  decken,  kein  anderes 
Mittel  als  die  Wölbung;  wie  leicht  wurde  man  darauf  hingeführt,  auch  ganze 
Wände  in  ähnlicher  Weise  zu  verbinden.  Auch  der  Spitzbogen  sagte 
dem  Material  zu;  die  gebrochene  Linie  ist  in  Ziegeln  leichter  herzustellen, 
als  die  kreisrunde.  ländlich  kam  der  Backsteinbau  ganz  von  selbst  auf  ein 
Vorherrschen  des  Verticalen,  weil  er  bedeutende  Ausladungen  nicht  ge- 
stattet, und  weil  die  natürliche  Horizontallinie  mächtiger  Steinlagen  ihm 
fehlt.  Aber  freilich  unterschied  sich  dieser  üebergangsstyl  sehr  wesentlich 
von  dem  der  westlichen  Gegenden,    Er  war  nicht  der  Nachfolger  geschmückter 


blatte  1850,  S.  229  ff.  Kugler',  der  diese  Kapitälform  in  Pommarn  und  auf  der  Insel 
Rügen  fand,  vcrmuthet,  dass  sie  aus  Dänemark  stamme,  von  woher  Rügen  das  Christen- 
thum  empfangen  hatte  und  zu  welchem  Pommern  im  Anfange  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts noch  in  abhängigem  Verhältnisse  stand  (Kunstgesch.  2.  Aufl.  S.  500);  indessen 
spricht  die  weite  Verbreitung  gegen  diese  Herleitung.  —  Hauptwerk  für  den  nord- 
deutschen Backsteinbau,  zunächst  der  Mark  Brandenburg,  das  angeführte  Werk  von 
F.  Adler,  Mittelalterliche  Backsteinbauwerke  des  Preussischen  Staates,  I.  Band,  Berlin 
1862,  nebst  Fortsetzung  als  Suppl.  der  Zeitschrift  für  Bauwesen, 

^)  Ausser  den  unten  näher  beschriebenen  Kirchen  sind  die  St.  Marienkirche  zu 
Salzwedel  und  die  Klosterkirche  zu  Neu-Ruppin  Beispiele  früher  Anwendung  des  sich 
kreuzenden  Rundbogenfrieses,     v.  Quast  a.  a.  0.  S.  240. 


^Q^  Nürcldeutsehland. 

romanischer  Formen,  er  hing  nicht  mit  dem  Bestreben  nach  Mannigfaltig- 
keit und  Zierde  zusammen,  er  behielt  den  strengen  Charakter  der  bisherigen 
rundbogigen  Bauten  bei,  steigerte  denselben  sogar  durch  den  spröden  Aus- 
druck des  schlichten  Spitzbogens. 

Neben  der  Eigenthümlichkeit  des  Materials  hatten'aber  auch  der  Charakter 
der  Einwohner  und  die  Gestaltung  der  Verhältnisse  einen  wesentlichen  Ein- 
fluss  auf  die  architektonischen  Formen.  Die  deutschen  Kolonisten,  welche 
sich  in  diesen  wendischen  Marken  niederliessen  und  die  Eingeborenen  ent- 
weder verdrängten  oder  mit  sich  verschmolzen,  kamen  meistens  aus  Nieder- 
deutschland, aus  Holland,  Westphalen  oder  aus  den  früher  kolonisirten 
Gegenden  zwischen  der  Weser  und  Elbe ;  sie  brachten  daher  den  schlichten 
und  nüchternen  Sinn  des  niederdeutschen  Stammes  mit  sich,  dessen  Ein- 
wirkung auf  die  Architektur  wir  in  Westphalen  kennen  gelernt  haben,  und 
bildeten  ihn  durch  ihre  Eigenschaft  als  Ansiedler,  die  vor  Allem  auf  das 
Nützliche  und  Zweckmässige  bedacht  sein  mussten,  noch  mehr  aus.  Dazu 
kam  aber  no«h,  dass  diese  Niederlassungen  einen  völlig  militärischen  Charakter 
hatten.  Der  Markgraf  trat  nicht  mit  den  bedingten,  allmälig  nnd  privat- 
rechtlich erworbenen  Rechten  auf,  wie  die  Landesherren  in  den  inneren 
Provinzen  Deutschlands;  er  war  mit  militärischer  Obergewalt  vom  Kaiser 
beliehen,  hatte  keine  Dynasten,  keine  freien  Städte,  nicht  einmal  freie  Bauern 
zu  berücksichtigen.  Seine  erste  Aufgabe  war,  das  Land  zu  besetzen,  es 
gegen  Einfälle  und  Aufstände  der  besiegten  Wenden  zu  sichern.  Ueberall 
stiegen  daher  Burgen  auf,  deren  Befehlshaber  und  Besatzung  statt  des  Soldes 
zu  ihrem  Unterhalte  mit  den  umherliegenden  Ländereien  belehnt  wurden  und 
diese  durch  die  unterworfenen  Wenden  oder  mitgebrachte  deutsche  Hörige 
bearbeiten  Hessen.  In  den  Burgen  waren  die  Kirchen  der  Umgegend,  neben 
ihnen  lagen  die  Wohnungen  der  belehnten  Burgmannschaft,  sammelten  sich 
die  Gewerb  treibenden,  deren  man  bedurfte;  sie  wurden  die  festen  Punkte 
deutscher  Civilisation  im  slavischen  Lande,  die  späteren  Städte.  Das  ganze 
Land  stand  also  unter  militärischer  Disciplin,  alle  Verhältnisse  waren  gleich- 
förmig wie  der  flache  Boden,  auf  dem  sie  entstanden;  von  jener  Mannig- 
faltigkeit verschiedener  Berechtigungen,  welche  die  älteren  deutschen  Pro- 
vinzen enthielten,  war  hier  eben  so  wenig  eine  Spur,  wie  von  den  Bergen, 
welche  jene  oberen  Gegenden  beleben.  Diese  eigenthümlichen  Verhältnisse 
gaben  natürlich  auch  dem  Charakter  der  Bewohner  ein  bestimmtes  Gepräge, 
eine  knappe,  militärische  Haltung|,  welche  auf  die  Architektur  um  so  mehr 
übergehen  musste,  als  sie  ihre  erste  Schule  an  den  Burgen  und  an  befestigten 
Kirchen  machte,  als  selbst  die  Klöster,  welche  in  diesen  Gegenden  gegründet 
wurden,  Befestigungen  nicht  entbehren  konnten.  Ueberdies  gehörten  die 
meisten  dieser  Klöster  dem  neugestifteten  Cistercienserorden  an,  der  auch 
hier  in  gewohnter  einfacher  Weise  baute  und  auf  den  einheimischen  Geschmack 


Mark   Brandeiibuig.  305 

in  dieser  Richtung  einwirkte  i).  Es  entstand  ans  allem  diesem  ein  Styl,  welcher 
auf  den  Luxus  plastischer  Ornamente  verzichtete,  dafür  aber  das  Verdienst 
einer  consequenten,  wo  möglich  grossartigen  Haltung  und  präciser  Aus- 
führung hatte. 

Von  den  ältesten  Bauten  in  Feldsteinen  ist  nur  weniges  erhalten,  und 
dieses  beschränkt  sich  meist  auf  den  Unterbau  der  Thürme,  welche  vor  der 
Front  später  erneuerter  Kirchen  emporstiegen.  Die  unteren  Partien  des 
Westbaues  der  St.  Godehardskirche  zu  Brandenburg^)  sind  noch  ein 
Rest  der  zwischen  1158 — 1161  errichteten  Kirche,  auch  der  Westbau  des 
Doms  in  Havelberg")  gehört  dem  12.  Jahrhundert  an.  Verhältnissmässig 
spät,  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  13.  Jahrhunderts,  ist  der  Westbau  der 
Nicolaikirche  in  Berlin  entstanden,  welcher  bereits  Formen  des  Ueber- 
gangsstyls,  allerdings  bei  sehr  derber  Behandlung,  in  diesem  spröden  Material 
zeigt,  das  sich  auch  noch  längere  Zeit  hindurch  an  Dorfkirchen  und  an 
Nebengebäuden  erhielt.  Der  Granitbau,  theilweise  schon  mit  dem  Back- 
steinbau verbunden,  herrscht  sodann  in  der  kleinen  Klosterkirche  zu  Kre- 
wese  in  der  Altmark,  die  1157  begonnen,  aber  nach  späteren  Bränden 
vielfach  umgestaltet  ist.  Hier  treten,  mit  viereckigen  Pfeilern  wechselnd, 
derbe  Rundpfeiler  auf,  grob  aus  Granit  zugehauen,  mit  einer  Schräge  unter 
der  Deckplatte,  welche  die  einzige  Kunstform  bildet.  Während  Mittelschiff 
und  Langchor  ursprünglich  flach  gedeckt  waren,  besassen  die  Seitenschiffe 
schlichte  Tonnengewölbe,  so  dass  wir  hier  den  ältesten  Gewölbebau  der 
Mark  haben*). 

In  der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  bürgerte  sich  nun  der  Ziegelbau 
ein,  aber  zunächst  kam  die  Wölbung  keineswegs  mit  ihm  zugleich  in  Auf- 
nahme, man  begnügte  sich  vielmehr,  wie  es  damals  im  östlichen  Deutschland 
meistens  geschah,  mit  gerader  Decke.  Dies  zeigt  die  älteste  consequent 
durchgeführte  Backstein-Kirche  der  Mark  Brandenburg,  die  Kirche  des  1144 
gestifteten  Prämonstratenserklosters  zu  Jerichow'),  welche  bald  nach 
dieser  Zeit  angefangen  wurde  und  wahrscheinlich  um  1159  bereits  vollendet 


^)  Nur  in  der  Ahmark  bestanden  ßenediktinermünchsklöster;  in  der  Mark  Branden- 
burg und  in  der  Lausitz  waren  dagegen  26  Cistercienserklöster,  während  die  anderen 
Klöster  hauptsächlich  den  Augustinern,  Prämonstratensern  und  den  im  dreizehnten 
Jahrhundert  gestifteten  Bettelorden  angehörten.  Klöden,  zur  Geschichte  der  Marien- 
verehrung  in  der  Mark  Brandenburg,  Berlin  1840,  S.  33  ff. 

'^)  Adler,  Mitlelaltierl.  Backstein-Bauw.,  S.  25,  mit  Holzschnitt. 

3)  Adler  a.  a.  0.  Taf.  LH. 

*)  Adler  a.  a.  0.  S.  44  f.,  Taf.  XXV. 

^)  Aussenansicht  bei  Strack  und  Meierheim ,  architektonische  Denkmaie  der  Alt- 
mark. Nähere  kritische  Beschreibung  bei  v.  Quast  in  dem  angeführten  Aufsatze.  — 
Adler,  a.  a.  0.  Taf.  XXI  —  XXIII. 

Schnaase's  Knnstgesch.    2.  Aufl.    V.  20 


306  Uebergaiigsstyl  in  Norddeutschland. 

war.  Es  ist  eine  Basilika  mit  höherem  Mittelschiffe  und  Querschiffe,  nur 
in  der  Krypta  und  in  der  runden  Chornische  gewölbt,  die  Aussenwand  an 
Seitenschiffen  und  Apsis  mit  senkrechten,  rechtwinkelig  vorspringenden 
Lisenen  und  mit  Rundbogenfriesen  ausgestattet.  Ausser  den  Basen  und 
Kapitalen  der  Krypta  und  den  Deckplatten  auf  den  Säulen  des  Schiffes  ist 
alles  in  Ziegeln  ausgeführt.  Die  Kapitale  des  Langhauses  haben  schon  hier 
jene  eckige  Würfelgestalt,  die  Basis  entbehrt  des  Eckblattes.  Der  ganze 
Bau  ist  zwar  höchst  einfach,  giebt  aber  die  feierliche  und  doch  harmonische 
Wirkung,  welche  auch  bei  den  späteren  Wandlungen  des  Styles  den  Ge- 
bäuden dieser  Gegend  blieb.  Auffallend  ist,  dass  man  statt  der  damals  in 
den  Ländern  des  Hausteines  üblichen  Pfeiler  freistehende  Rundsäulen  als 
Arcadenträger  anwendete,  obgleich  ihre  Herstellung  in  Ziegeln  grössere 
Schwierigkeiten  hatte;  da  wir  aber  dieselbe  Form  inKrewese  gefunden,  mag 
sie  aus  dem  älteren  Granitbau  übernommen  sein.  Die  ziemlich  hohe  Krypta 
öffnet  sich  in  je  zwei  Bögen  gegen  das  Langhaus  und  die  Querhausarme.  — 
Die  Nebenchöre  und  derThurmbau  der  Westfront,  dessen  üebergangsformen 
sich  bereits  der  Gothik  nähern,  sind  ein  Zusatz  aus  späterer  Zeit. 

Im  Jahre  1179  wird  der  Dom  zu  Brandenburg  als  im  Bau  begriffen 
erwähnt,  und  wahrscheinlich  war  er  1194  bereits  vollendet^).  Auch  hier 
tritt  der  Ziegelbau  auf,  nun  aber,  unter  Beseitigung  der  schwierigen  Rund- 
säule, mit  viereckigen  Pfeilern,  zum  Theil  mit  Ecksäulchen,  Einige  Theile 
der  Mauern  und  die  Arcaden  des  Schiffes  sind  aus  jenem  Bau  erhalten,  der 
später  überwölbt  und  auch  sonst  verändert  ist.  Auch  die  Krypta,  wie  in 
Jerichow  von  bedeutender  Höhe,  gehört  noch  der  ursprünglichen  Bauzeit 
an  und  zeigt  in  ihren  Wandpfeilern  eine  höchst  merkwürdige  Form:  sie 
bestehen  aus  Paaren  von  Halbsäulen  mit  rundschildigen  Würfelkapitälen  und 
ebensolchen  Basen,  und  mit  Pfeilerkanten,  welche  jedesmal  zwischen  den 
beiden  Säulen  übereck  heraustreten.  Die  freistehenden  Sandsteinsäulen  mit 
reichen  Kapitalen  in  der  Mitte  der  Krypta  und  ebenso  ihr  polygoner  Ab- 
schluss  sind  erst  ein  Zusatz  des  Uebergangsstyls  aus  dem  zweiten  Viertel 
des  13.  Jahrhunderts-).  —  Ein  kleinerer  Bau,  die  Nicolaikirche  bei 
Brandenburg,  vor  1173  gegründet,  besteht  noch  jetzt  in  ursprünglicher 
Gestalt.  Sie  ist  wiederum  eine  einfache,  in  allen  Details  noch  ganz  roma- 
nische Basilika;  das  Langhaus  von  fünf  Arcaden  auf  jeder  Seite  mit  kreuz- 
förmigen Pfeilern  auf  attischer  Basis,  mit  kreisrunden  Fenstern  und  gerader 
Decke,  ein  Kreuzschiff,  jedoch  in  gleicher  Flucht  mit  den  Aussenmauern  der 


1)  Adler  a.  a,  p.  10.  —  Ein  1165  begonnener,  schon  1166  geweihter  Dombau 
war  höchst  wahrscheinlich  nur  eine  Herstellung  der  nahe  gelegenen  Peterscapelle  als 
provisorischen  Domes. 

■2)  Adler  a.  a.  0.  Taf.  V  —  VII. 


*  Länder  des  Backsteinbaues.  307 

'Seitenschiffe,  dies  und  die  Vorlage  des  Chores  mit  zwei  auf  Wandpfeilern 
ruhenden  Kreuzgewölben  ohne  Rippen,  die  Concha  endlich  halbkreisförmig 
von  drei  rundbogigen  Fenstern  beleuchtet.  Die  Bogenfriese  sind  zum  Theil 
rundbogig  oder  aus  sich  durchschneidenden  Bögen  gebildet,  zum  Theil  spitz- 
bogig  oder  spitzgiebelig,  und  selbst  die  Arcaden  des  Langhauses  haben 
theihveise  eine  leichte  Zuspitzung. 

Bald  darauf,  ungefähr  gleichzeitig  mit  der  Anlage  des  Braunschweiger 
Domes,  wurde  die  "Wölbung  auch  bei  grösseren  und  in  Basilikenform  ange- 
legten Kirchen  angewendet.  Beispiele  sind  der  Dom  in  Lübeck  und  die 
Cistercienserkirche  zu  Dobrilugk  in  der  Lausitz  ^j,  jener  schon  1173 -), 
diese  wahrscheinlich  1181  gegründet,  beide  mit  quadraten  Gewölben  und 
viereckigen,  durch  Vorlagen  verstärkten  Pfeilern.  Von  jenem  ist  nur  noch 
im  Mittelschiffe  die  ursprüngliche  Gestalt  erkennbar,  die  Kirche  zu  Dobrilugk 
dagegen  ist  noch  wohl  erhalten  und  zeigt  schon  interessante  Abweichungen 
von  dem  herrschenden  Style.  Sie  hat  sehr  regelmässige  Kreuzgestalt,  das 
Langhaus  aus  vier  doppelten  zwischen  zwei  einfachen  Jochen,  das  Kreuzschifl' 
mit  der  Vierung  aus  drei  Quadraten,  der  Chor  aus  quadratischer  Vorlage 
und  der  runden  Nische  bestehend,  die  Seitenschiffe  des  Langhauses  von 
halber  Mittelschifl'breite.  Die  Halbsäuleu,  welche  nur  an  den  östlichen 
Vierungspfeilern  vorkommen,  haben  schwere,  unten  wenig  abgerundete  "Wür- 
felknäufe und  volle  schwere  Stämme.  Während  dies  ihnen  aber  ein  alter- 
thümliches  Ansehen  giebt,  haben  andere  Theile  schon  feinere  Formen. 
Besonders  zeigt  sich  dies  an  der  Chornische,  welche  aussen  durch  zwei 
Halbsäulen  mit  Würfelkapitälen  in  drei  Abtheilungen  getheilt  ist,  deren  jede 
ein  ziemlich  grosses,  mit  doppelten  Säulen  und  vorspringeaden  Ecken  reich 
abgestuftes  Fenster  enthält,  und  die  besonders  auch  im  Innern  sehr  günstig 
wirken.  Darüber  läuft  am  Rande  des  Daches  unter  einem  zierlich  gebilde- 
ten Friese  von  sich  durchkreuzenden  Bögen,  der  sich  auch  an  den  übrigen 
Theilen  des  Gebäudes  findet,  eine  eigenthümliche  Verzierung  von  kleinen 
.fensterähnlichen  Oeffnungen  hin,  die  in  ihrer  Wirkung  einigermaassen  an 
die  Zwerggallerien  der  rheinischen  Kirchen  erinnert.  Bemerkenswerth  ist 
-auch  die  Form  der  Fenster  im  Oberschiffe  und  in  den  Kreuzarmen.  Sie 
sind  nämlich  gross  und  zweitheilig,  so  jedoch,  dass  das  Bogenfeld  zwischen 
den  kleineren  und  den  sie  umschliessenden  grösseren  Bögen  undurchbrochen 
ist.  Sie  geben  daher  ungefähr  die  Form,  welche  in  anderen  Gegenden  auf 
die  Bildung  der  Maaswerkfenster  hinwirkte.  Auch  die  Nicolaikirche  zu 
Treue nbriezen,  kreuzförmig  und  mit  drei  Apsiden,   von   denen   zwei   vor 


1)  Puttrich  11,  2,  Serie  Lausitz,  —  Adler  Taf.  LXII,  LXIIL 

-)  Deecke,  die  freie  Stadt  Lübeck,    S.    27.     Vgl.  Schlosser  und  Tischbein,  Denk- 
male aUdeutscher  Baukunst  in  Lübeck,   Taf.  VIIL 

20» 


308  Uebergangbslyl  in  Norddeulschlaiul. 

der  Ostseite  des  Querhauses  liegen,  zeigt  ein  ähnliches  Bestreben  nach 
reicherer  Ausstattung,  indem  die  Lisenen  an  der  Chornische  kannelirt  und  die 
gekuppelten  Fenster  der  Kreuz  schiffe  durch  zierliche,  aus  vor-  und  zurück- 
tretenden Steinen  gebildete  Archivolten  bekrönt  sind.  Sie  mag,  da  sie  schon 
in  einzelnen  Theilen  Spitzbögen  zeigt,  im  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhun- 
derts entstanden  sein  *). 

Sehr  merkwürdig  ist  die  Klosterkirche  zu  Arendsee  in  der  Altmark 
(1184  gestiftet,  1208  bereits  vollendet)-),  weil  auch  sie  zeigt,  wie  die  An- 
wendung von  Ziegeln  die  Wölbung  beförderte,  aber  zugleich  auch  zu  Ver- 
suchen und  Neuerungen  antrieb.  Hier  ist  nämlich  der  Chor  mit  glatten 
Kreuzgewölben,  jedes  Seitenschiff  mit  einem  Tonnengewölbe,  das  Mittelschiff 
und  die  Querarrae  aber  mit  Kuppeln  gedeckt.  Man  sieht,  der  Baumeister 
versuchte  sich  in  mannigfaltigen  Wölbungsarten  und  scheute  auch  die  unge- 
wöhnliche Kuppelform  nicht.  Die  schlanken  Arcaden  ruhen  auf  ganz 
schlichten  quadratischen  Pfeilern ,  nur  die  Vierungspfeiler  srnd  kreuzförmig 
und  haben  Halbsäulenvorlagen  mit  trapezförmigen  Würfelkapitälen.  Das 
Aeussere,  im  Ganzen  sehr  schlicht,  zeichnet  sich  durch  ein  schön  ge- 
gliedertes Portal  an  der  südlichen  Querhausfront  aus,  welches  zwischen 
eckiger  Gliederung  auch  Säulen  enthält;  das  Westportal  ist  schmal  und 
niedrig,  aber  gemeinschaftlich  mit  den  drei  Fenstern  des  oberen  Stockwerkes 
durch  einen  hohen  Blendbogen  eingefasst,  welcher  das  Hauptmotiv  der  thurm- 
losen  Fa^ade  bildet. 

Die  nahe  gelegene  Kirche  zu  Diesdorf-^)  ist  dieser  sehr  verwandt, 
aber  ruhiger  und  einfacher.  Die  Bauzeit  gehört  ebenfalls  dem  Ende  des 
zwölften  Jahrhunderts  an,  nur  die  Osttheile  könnten  bereits  in  den  Jahren 
1157 — 1161,  unter  dem  Einfluss  der  Kirche  von  Jerichow,  zunächst  unge- 
wölbt, entstanden  sein.  Das  rippenlose  Kreuzgewölbe  geht  durch,  die 
Fenster  sind  schon  paarweise  gestellt,  zur  Wölbung  steigen  schlanke  Halb- 
säulen an  allen  Hauptpfeilern  empor,  die  zugleich,  ebenso  wie  die  schmal- 
rechteckigen Nebenpfeiler,  nach  den  Arcaden  zu  mit  Halbsäulen  besetzt 
sind.  Auch  hier  wie  in  Arendsee  hat  das  südliche  Querhaus  ein  reicheres 
Portal,  während  an  der  westlichen  Fa^:ade  das  niedrige  Portal  durch  einen 
Blendbogen  mit  den  oberen  Fenstern,  die  aber  hier  schon  spitzbogig  sind, 
zu  einer  Gruppe  verbunden  wird. 

Den  ausgebildeten  Uebergangsstyl  zeigt  die  Kirche  St.  Lorenz  zu 
Salzwedel.  Dem  ursprünglichen,  noch  dem  ersten  Viertel  des  13.  Jahr- 
hunderts zugehörigen  Bau  entstammt  nur  das  dreischiffige  Langhaus,  dessen. 


1)  PuUricli  II,  2,  Serie  Jüterbog,  Taf.  12,  S.  27  und  35.  —  Adler,  B!.   LXX. 

2)  Adler  a.  a.  0.  Taf.  XXVI  —  XXVIII,  S.  47  IF. 

3)  Adler,  Taf.  XXVIII,  XXIX,  S.  49  ff. 


Mark  Brandenburf 


309 


Fig.  «6. 


Seitenschiffe  nicht  mehr  existiren.  Der  Westbau  und  der  gerade  geschlos- 
sene Chor  kamen  etwas  später  hinzu.  Die  Oberlichter  des  Langhauses  sind 
kreisförmig,  der  Schildbügen  spitz  und  theilweise  kleeblattförmig,  die  Wöl- 
bung selbst  rührt  erst  aus  der  spätgothischen  Epoche  her.  Ursprünglich 
bestanden  offenbar  sechstheilige  quadratische  Gewölbe,  denn  nicht  nur  die 
Hauptpfeiler,  auch  die  Nebenpfeiler  haben  nach  allen  vier  Seiten  Halbsäulen- 
vorlagen,  von  welchen  die  gegen  das  Mittelschiff'  gerichteten  bis  zur  Wölbung 
emporsteigen,  ja  das  östlichste  Nebenpfeilerpaar  kommt  sogar  dadurch  der 
frühen  französischen  Gothik  nahe,  dass  es  nur  aus  einfachen,  stärkeren 
Rundsäalen  besteht,  über  deren  Kapital  erst  die  nach  oben  steigende  Halb- 
säule beginnt. 

Der  bedeutendste  Uebergangsbau 
■der  Mark:  die  Marienkirche  auf 
dem  Harlungerberge  bei  Branden- 
burg^), ist  im  Jahre  1722  abgebrochen 
und  uns  nur  durch  Abbildungen  und 
durch  ein  nach  diesen  gemachtes  Modell 
bekannt.  Ihre  Anordnung  war  eine 
sehr  ungewöhnliche;  ein  fast  quadrati- 
scher Grundplan,  auf  jeder  Seite  mit 
einer  halbkreisförmigen  Concha,  die 
im  Altarraume  noch  durch  drei  kleinere 
daran  angebrachte  Nischen  erweitert 
war.  Vier  mächtige  Pfeiler  bildeten 
im  Inneren  neun  durch  Kreuzgewölbe 
überdeckte  Felder  von  verschiedener 
Grösse,  und  waren  theils  durch  runde, 
theils  durch  spitze  Bögen  verbunden. 
Xleber  den  vier  quadratischen  Eck- 
gewölben und  neben  der  den  Mittelraum  bedeckenden  Kuppel  stiegen  vier 
Thürme  auf.  Paarweise  gestellte  rundbogige  Fenster  beleuchteten  ^  das 
Innere,  die  Aussenwand  war  mit  Lisenen  und  dem  einfachen  Rundbogenfriese 
^^erziert.  Die  Kirche  soll  nach  einer  glaubhaften  Sage  an  der  Stelle  eines 
ehemaligen  Götzentempels  gegründet  sein  und  dieses  Anknüpfen  an  eine 
■dunkle  Vorzeit  und  ihre  ungewöhnliche  Gestalt  hat  zu  der  Meinung  verleitet, 
dass  sie  nach  einem  byzantinischen  Vorbilde  gebaut  sei-).  Allein  schon  die 
unvollkommene  Kenntniss  des  Baues,  welche  die  erhaltenen  Zeichnungen  uns 
gewähren,  steht  dieser  Annahme  entgegen  und  gestattet  nicht  einmal,  diesen 


Marienkirche    In.'i  liranderiliurg-. 


1)  Adler  a.  a.  0.  p.  5  f.,  Taf.  I,  II.  —  Kursier,  Denkmale,  Bd.  X, 

'^)  \g\.  die  bereits  oben  Bd.  IV,  S.  72G,    Aiini.  2  jeg-ebeneii  Nachrielileii. 


310  Nördliches  Deutschland. 

Bau  der  ursprünglichen  Gründung  durch  den  bekehrten  Wendenfürsten 
Pribislav  in  den  Jahren  1136  bis  1144  zuzuschreiben.  Er  scheint  vielmehr 
erst  im  zweiten  Viertel  des  dreizehnten  Jahrhunderts  entstanden  und  ver- 
dankt seine  allerdings  sehr  sinnreiche  Anordnung  dem  "Wunsche  der  beliebten 
und  mit  hochverehrten  Reliquien  reich  ausgestatteten  Kirche,  eine  zur  Auf- 
nahme grosser  Volksmassen  und  zu  Bittgängen  an  den  einzelnen  Altären 
geeignete  Localität  zu  schaffen. 

Auch  in  Mecklenburg  und  den  anstossenden  Landschaften  finden 
wir  eine  Reihe  rundbogiger  gewölbter  Kirchen,  deren  Ursprung  in  das  letzte 
Viertel  des  zwölften  Jahrhunderts  fällt.  Dahin  gehört  der  Dom  zu  Ratze- 
burg, dessen  Gewölbe  zwar  in  spätgothischer  Zeit  erneuert  sind,  der  aber 
schon  ursprünglich  auf  solche  angelegt  war.  Er  ist  eine  genaue  Kopie  des 
Braunschweiger  Domes  mit  den  durch  das  Ziegelniaterial  bedingten  Aende- 
rungen^),  und  stimmt  wiederum  mit  dem  Dome  von  Roeskilde  auf  der  Insel 
Seeland  sehr  nahe  tiberein.  Andere  Beispiele  früher  Wölbung  in  dieser 
Gegend  sind  die  Kirche  zu  Gadebusch  mit  spätgothischem  Chore,  aber 
völlig  rundbogigem  und  merkwürdiger  Weise  aus  drei  gleich  hohen  und 
breiten  Schiffen  bestehendem  Langhause-),  die  Kirche  zu  Vietlübbe  bei 
der  genannten  Stadt,  welche  die  Gestalt  eines  gleicharmigen  griechischen 
Kreuzes  hat^),  und  die  zu  Schlagsdorf  bei  Ratzeburg,  deren  Gewölbe  auf 
Säulen  ruhen  und  deren  etwa]  jüngerer  Chor  polygonförmig  schliesst^j.  Wir 
sehen  auch  hier,  dass  der  Ziegelbau  zu  mannigfaltigen  Versuchen  führte. 
Die  Kirche  zuNeuklo  ster,  gegründet  1219,  und  die  ungefähr  gleichzeitige 
zu  Bruel^'j,  beide  einschiffig  und  mit  geradem Chorschluss,  zeigen  auch  den 
Spitzbogen,  und  zwar  nicht  bloss  an  den  Gewölben,  sondern  auch  an  den- 
Fenstern,  jedoch  nur  schwach  angedeutet  und  fast  wie  zufällig  entstanden. 
Ueberhaupt  ist  die  Zahl  früher  Backsteinkirchen,  meistens  schon  mit  An- 
wendung des  Spitzbogens,  im  Mecklenburgischen  sehr  gross,  so  dass  ein. 
einheimischer  Forscher  sie  auf  etwa  zweihundert  schätzt. 


')  Lisch,  Jalirbücher  für  mecklenburgische  Geschichte  VII  (Jaliresbericht  des  Vereins- 
S.  61)  und  XI,  420.  F.  v.  Quast,  a.  a.  0.  S.  242,  setzt  in  Folge  seiner  schon  oben 
erwähnten  Ansicht  über  die  späte  Ueberwölbung  des  Domes  zu  Braunschweig  auch 
den  Dom  zu  Ratzeburg  erst   in  das  dreizehnte  Jahrhundert. 

-)  Lisch  a.  a.  0.  III,  125,  und  VII,  65.  Ich  kenne  die  mecklenburgischen  Kirchen 
nicht  aus  eigener  Anscliauung,  und  muss  es  dahingestellt  sein  lassen,  ob  die  ilmen 
von  Lisch  gegebenen  Daten  sich  bewähren. 

3)  Daselbst  IV,  82,  und  VII,  65. 

*)  Daselbst  VII,  63. 

■')  Daselbst  VII,  75,  und  III,  147.  Vgl.  auch  L=sch  in  der  Zeitschrift  für  Bau- 
wesen 1852,  S.  313. 


Pommeru.  311 

In  Pommern^)  gehören  schon  die  ältesten  Kirchen  dem  Uebergangs- 
style  an.  So  im  Dome  von  Cammin  die  älteren  Theile  des  Chores  und  des 
Kreuzschiffes,  ferner  die  Klosterkirchen  zu  Bergen  auf  der  Insel  Rügen,  zu 
Eldena  und  zu  Colbatz-),  und  endlich  noch  weiter  östlich  die  des  Klosters 
Oliva  bei  Danzig.  Dies  letzte  Kloster  ist  eine  Stiftung  des  Klosters  Col- 
batz, dessen  Formen  es  genau  nachahmt;  es  ist  in  den  Jahren  1235  bis 
1239  erbaut")  und  ^lässt  daher  auf  eine  frühere  Entstehung  des  Mutter- 
klosters schliessen.  Nur  einzelne  Theile  der  Kirche  zu  Bergen  mögen  noch 
in  die  letzten  Jahre  des  zwölften  Jahrhunderts  fallen,  die  übrigen  genannten 
Kirchen  aber  sämmtlich  aus  den  ersten  Decennien  des  dreizehnten  Jahrhun- 
derts stammen.  In  allen  diesen  Bauten  ist  die  Anlage  noch  im  Wesentlichen 
romanisch;  niedrige  Seitenschiffe,  Pfeiler  mit  viereckigem  Kern,  Kapitale  in 
schmuckloser  Kelchform  oder  als  Würfel  der  früher  beschriebenen,  dem 
Backsteinbau  eigeuthümlichen  Art,  ruudbogige  Portale  und  Fenster;  doch 
giebt  ihnen  die  Wölbung,  der  wenn  auch  gedrückte  Spitzbogen  der  Arcaden, 
endlich  selbst  die  einfache,  aber  straffe  Form  der  Ornamente  schon  den 
Charakter  des  Uebergangsstyls,  und  zwar  eines  sehr  strengen  und  ernsten. 
Nur  in  einzelnen  Fällen  sehen  wir  auch  hier  das  Bestreben,  zierlichere  For- 
men zu  erlangen.  An  der  Kirche  zu  Colbatz  erscheint  dies  noch  in  sehr 
bescheidener  Weise,  am  Dome  zu  Cammin  dagegen  zeigt  das  romanische 
Portal  schon  und  zwar  in  Stuck  gebildete  Blattkapitäle  und  Rankengewinde. 


Aber  auch  ausserhalb  der  Wohnsitze  des  niedersächsischen  Stammes 
waren  inzwischen  an  vielen  Stellen  des  deutschen  Bodens  Gebäude  entstan- 
den, welche  von  dem  romanischen  Style  abwichen  und  gewisse  Elemente 
des  gothischen  Styles  annahmen,  dabei  aber  sowohl  von  den  französisch- 
gothischen  Bauten  als  von  denen  des  rheinischen  Uebergangsstyles  sich 
wesentlich  unterschieden,  und  eine  grosse  Einfachheit,  man  kann  fast  sagen, 
zur  Schau  trugen.     Es  sind  dies  die  Kirchen  des  Cistercienserordens*), 


^)  Quelle  ist  hier  Kugler's  Pommersche  Kunstgeschichte  (Stettin  1840),  in  ihrem 
Wiederabdrucke  in  den  kl.  Schriften  I,  652  ff.  mit  sehr  nützlichen  Zeichnungen  ver- 
sehen. 

■-)  Kugler,  S.  40  ff.  (kl.  Sehr.  S.  669),  bezweifelt,  dass  die  älteren  Theile  dem  um 
1188  erwähnten  Kirchenbau  angehören,  und  setzt  sie  in  den  Anfang  des  dreizehnten 
Jahrhunderts.  F.  v.  Quast  (Beiträge  zur  Geschichte  der  Baukunst  in  Preussen,  in  den 
Neuen  Preuss.  Prov.  ßl.  Bd.  IX,  S.  20)  verweist  sie  in  die  Jahre  1220  —  1230. 

')  Vgl.  V.  Quast  in  den  Neuen -Preuss.  Prov.  Bl.  Bd.  IX  (1850),  S.  1.  Dr.  Theod. 
Hirsch  daselbst  Bd.  X,  S.  1,  und  in  einem  besonderen  Werke,  Beiträge  zur  Geschichte 
westpreussischer  Kunstbauten,  erster  Theil,  Kloster  Oliva,  Danzig  1850. 

■*)  Auf  die  Eigenthümlichkeiten  der  Cistercienserbauten  haben  bereits  Lübke  im 
Organ  für  claistliche  Kunst  1853,  Nro.  1  ff.,  von  Quast,  daselbst  Nro.  7,  und  endlich 


312  D'*'  Cistercieiiser. 

auf  deren  Eigenthtimlichkeiten  ich  schon  wiederholt  gelegentlich  hingewiesen 
habe.  Die  Heimath  dieses  abweichenden  Styles  wie  des  Ordens  selbst  war 
zwar  Frankreich,  er  zeigt  sich  aber  nirgends  so  bedeutsam,  als  in  Deutsch- 
land, und  hier  scheint  daher  die  geeignete  Stelle,  von  ihm  ausführlicher  zu 
sprechen,  obgleich  wir  zu  diesem  Zwecke  nach  Frankreich  zurückblicken 
müssen. 

Der  Orden  entstand  bekanntlich  aus  dem  Wunsche  nach  einer  Reform 
des  Klosterwesens.  Er  ging  von  Cluny  in  Burgund  aus,  dessen  Verfassung 
selbst  aus  einem  ähnlichen  Bestreben  hervorgegangen  war,  das  aber  auf 
dem  Gipfel  der  Macht  und  des  Keichthums  strengeren  Ansprüchen  nicht 
mehr  genügte.  Dies  war  die  Veranlassung,  dass  Robert,  ein  eifriger  Clu- 
niacenser-Mönch,  sich  mit  mehreren  Gleichgesinnten  zuerst  in  die  Wüste 
von  Molesmes,  dann  im  Jahre  1098  in  die  noch  rauhere,  wie  die  Beschreiber 
sagen,  nur  von  wilden  Thieren  bewohnte  Einöde  von  Citeaux  zurückzog. 
Auf  päpstlichen  Befehl  musste  er  zwar  zu  der  verlassenen  Hcerde  von  Mo- 
lesmes zurückkehren,  aber  seine  Gefährten  setzten-  ihr  Einsiedlerleben  zuerst 
unter  der  Leitung  seines  Nachfolgers  Alberich,  dann  unter  der  des  Englän- 
ders Stephan  Harding  fort.  Es  gelang  ihrem  angestrengten  Fleisse,  den 
Wald  zn  lichten,  den  sumpfigen  Boden  in  fruchtbares  Ackerland  zu  ver- 
wandeln, und  nach  wenigen  Jahren  hatte  der  Ruf  ihrer  Frömmigkeit  ihnen 
so  viele  Genossen  zugeführt,  dass  es  nicht  rathsam  schien,  sie  in  denselben 
Mauern  zu  behalten.  Eine  Kolonie  wurde  daher  ausgesendet,  welche  sich 
nicht  gar  weit  davon  wiederum  in  einer  waldigen  Einöde  niederliess,  und 
der  neuen  Stiftung  den  Namen  Firmitas  (la  Fertc)  gab.  Schon  im  fol- 
genden Jahre  (1114)  wurde  in  entfernteren  Gegenden  der  Wunsch  nach  so 
frommen  und  nützlichen  Bewohnern  rege,  und  eine  neue  Kolonie  in  Pon- 
tigny  (Pontis  nidus)  gegründet.  Bald  darauf  (1115)  erfolgten  sogar  zwei 
solche  Entsendungen,  nach  Clairvaux  (Clara  vallis)  und  Morimond  (Mors 
mundi),  jene  unter  der  Leitung  des  berühmten  Mannes,  der  später  die  Zierde 
des  Ordens  wurde,  des  heiligen  Bernhard.  Wie  Citeaux  selbst  wuchsen 
auch  diese,  wie  man  sie  nachher  nannte,  vier  ältesten  Töchter,  und  bald 
waren  auch  sie  in  der  Lage  wegen  eigener  Uebervölkerung  oder  nach   den 


VioUet-le-Duc  a.  a.  0.  aufmerksam  gemadil.  Historisclie  Nachrichten  ül)cr  den  Orden 
und  seine  einzelneu  Klöster  finden  sich  am  vollstiindigsteu  bei  Manrique  Annales  Ordinis 
Cisterciensis,  und  (mit  besonderer  Ausführlichkeit  inid  Zuverlässigkeit  für  die  deutsciien 
Klöster)  bei  Jungelinus,  Notitia  Abbatiarum  Ordinis  Cist. ,  Colon.  KiiO.  —  Vgl.  Joseph 
Feil,  Andeutungen  über  die  Eigenthümlichkeiten  der  Satzungen  des  Cistercienser-Ordens 
in  Bezug  auf  Bau  und  Einrichtung  der  Klöster  und  Kirchen  dieses  Ordens,  Bd.  1,  S.  1, 
der  Mittelalterlichen  Kunstdenkmale  des  Oesterreich.  Kaiserstaates.  Stuttgart  1858.  — 
Besonders  aber  R.  Dohme,  die  Kirchen  des  Cistercieiiserordeiis  in  Deutschland  während 
des  Mittelalters.     Leipzig,  1869. 


Entstehung  und  landwirtlischaftüclie  Richtung  des  Ordens.  313 

Aufforderungen,  welche  mau  au  sie  richtete,  neue  Kolouieu  zu  entsenden,  so 
dass  schon  um  die  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts  in  allen  Ländern  zahl- 
reiche Stiftungen  bestanden,  welche  alle  von  diesen  fünf  ersten  Klöstern 
unmittelbar  oder  mittelbar  abstammten  und  eines  derselben  als  ihr  Ober- 
haupt anerkannten.  Die  Disciplin  des  Ordens  brachte  es  mit  sich,  dass 
ueue  Stiftungen  nur  in  dieser  Weise  entstehen  durften ;  die  Kolonisation  und 
eine  bedingte  Abhängigkeit  der  Töchter  vom  Mutterkloster  wurde  zum 
Systeme.  Sobald  die  Zahl  der  Mönche  es  erforderte  oder  doch  die  Gewäh- 
rung des  von  aussen  her  ausgesprochenen  Wunsches  es  gestattete,  ernannte 
der  Abt  womöglich  dreizehn  Brüder,  unter  ihnen  das  erwählte  Oberhaupt 
des  zukünftigen  Klosters,  welche  dann  mit  festgestellter  Förmlichkeit  ihre 
bisherige  Heimath  verliessen,  um  an  neuer  Stelle  die  Beschwerden  der 
Gründung  zu  übernehmen.  Alle  diese  Klöster  wurden  in  Einöden,  gewöhn- 
lich in  Thälern  angelegt;  sie  fingen  mit  den  rauhest en  Arbeiten  an,  mussten 
öfter  verlegt  werden ;  die  Legende  weiss  gewöhnlich  von  einer  Erscheinung 
der  heil.  Jungfrau,  welche  dem  Abte  die  richtige  Stelle  anwies.  Der  Name 
des  Klosters  wurde  dann  nicht  von  dem  hergebrachten  Namen  des  Ortes 
genommen,  sondern  frei  und  bedeutungsvoll  gewählt,  meistens  mit  Hindeutung 
auf  eine  Eigenthümlichkeit  des  gewählten  Fleckes  (Clara  vallis,  Aqua  bella\), 
u.  s.  f.)  oder  mit  Beziehung  auf  die  Jungfrau  Maria,  als  allgemeine  Schutz- 
patronin,  der  jede  einzelne  Stiftung  gewidmet  war  (Portus  Mariae,  Locus, 
Campus,  Vallis  Mariaej;  zuweilen  blieben  die  Namen,  welche  die  Landes- 
bewohner der  gewählten  Stelle  gegeben  hatten,  neben  jenen  officiellen  Namen 
der  Klostersprache  im  Gebrauche. 

Die  Gründer  des  Ordens  hatten  keine  Neuerung  beabsichtigt.  Sie 
wollten  nur  die  Regel  des  heiligen  Benedict  in  ihrer  Reinheit  herstellen  und 
sich  den  Versuchungen  des  Reichthums  entziehen.  Sie  wählten  deshalb  Ein- 
öden zu  ihren  Niederlassungen,  aber  sie  konnten  unter  dem  rauhen  nordischen 
Himmel  nicht  wie  die  Anachoreten  der  ersten  Jahrhundertc  in  Höhlen 
wohnen  und  sich  von  den  Früchten  ernähren,  welche  die  Natur  ihnen  frei- 
willig bot.  Sie  mussten  also  darauf  bedacht  sein,  Hütten  und  Häuser  zu 
errichten  und  den  Boden  zu  bebauen.  Ihre  Thätigkeit  wurde  daher  eine 
landwirthschaftliche,  ihrem  Eifer  gelaug  es,  die  wildesten  und  undankbarsten 
-Stellen  in  fruchtbares  Ackerland  und  Wiesen  zu  verwandeln.  Diese  Arbeit 
sollte  aber  nicht  bloss  zur  Befriedigung  ihrer  eigenen  Bedürfnisse  dienen; 
sie  wollten  auch  die  Mittel  zu  Werken  der  christlichen  Liebe,  zum  Unter- 
halte der  Bedürftigen  und  der  Wanderer  erwerben,  welche  an  ihre  Thür 
klopften.     Sie  durften  also  die  Regeln   einer  geordneten  Wirthschaft  nicht 


^)  Selbst    ristercium    soll    so  benannt    seiu ,    wegön    der  vielen  Quellen,    die  mau 
dort  fand. 


314  Der   Cistercienserorden. 

verschmähen,  und  dies  machte  wiederum  mancherlei  Einrichtungen  nöthig. 
Sobald  sich  das  Gebiet  durch  Schenkungen  und  Rodungen  ausgedehnt  hatte, 
war  es  nicht  mehr  thunlich,  die  entfernten  Ländereien  von  dem  Kloster  aus 
zu  bebauen.  Man  legte  daher  Meierhöfe  (grangiae)  in  einiger  Entfernung 
von  demselben  an,  auf  welchen  die  Wirthschaft  durch  dazu  bestimmte 
Mönche  betrieben  wurde.  Dieser  Umfang  der  Geschäfte  setzte  auch  eine 
Theilung  der  Arbeit  voraus.  Die  Brüder  unterschieden  sich  daher  in  zwei 
Klassen,  in  solche,  welche  eine  höhere  Bildung  hatten  und  das  feierliche 
Gelübde  ablegten  (professi),  und  in  solche  von  minder  feierlichem  Bekennt- 
nisse (couversi)  ^),  welche  bei  übrigens  gleichen  Rechten  und  Pflichten  sich 
mehr  den  körperlichen  Arbeiten  des  Ackerbaues,  der  Viehzucht  und  der 
nöthigen  Gewerbe  widmeten.  Jene  Meierhöfe  waren  dann  immer  mit  der 
erforderlichen  Zahl  von  Conversen  unter  der  Leitung  eines  professus  als 
Meister  (magister  conversorum)  besetzt.  Die  Lebensweise  der  Ordensbrüder 
war  die  strengste,  grobe  Gemüse,  hartes  Brod  von  Roggen,  Gerste  oder  un- 
gereinigtem Weizen  waren  ihre  Kost,  ein  Strohsack  ihr  Lager,  auf  dem  sie 
sich  mit  dem  rauhen  wollenen  Kleide,  das  sie  am  Tage  trugen,  bedeckten. 
Diese  Entsagungen  waren  aber  nicht  freiwillige  Büssungen.  Der  Orden 
ging  von  der  Erfahrung  aus,  wie  leicht  die  Regel  verabsäumt  wird,  wenn  sie 
nicht  strenge  Ueberwachung  erhält;  er  hielt  daher  die  Zucht  des  strengen 
Gehorsams  für  unerlässlich,  und  selbst  in  der  Abtödtung  und  Entsagung 
durfte  kein  Eigenwille  die  vorgeschriebenen  Grenzen  übertreten.  Durch 
alles  dieses  entstand  neben  der  inbj'ünstigen  Frömmigkeit  zugleich  der  Sinn 
für  militärische  Ordnung  und  praktisch  nützliche  Thätigkeit.  Der  Orden 
wurde  nicht  bloss  wegen  des  Beispiels  ascetischer  Strenge  geehrt;  die 
tapferen  Streiter  gegen  die  Mauren  auf  der  spanischen  Halbinsel,  die  ritter- 
lichen Orden  von  Calatrava  und  Alcantara,  von  Avis  und  Christo  unterwarfen 
sich  der  Regel  von  Citeaux,  Fürsten  und  Volk  begünstigten  Niederlassungen 
der  Cistercienser,  um  durch  sie  ihre  Einöden  anzubauen  und  Vorbilder 
wirthschaftlicher  Verwaltung  zu  haben. 

Die  Erhaltung  dieses  Geistes  konnte  nur  durch  eine  geeignete  Verfas- 
sung gesichert  werden,  und  eine  solche  wurde  dann  auch  bald  nach  der 
Entsendung  der  vier  ersten  Tochterklöster  berathen.  Man  hatte  dabei 
warnende  Beispiele  vor  Augen.  Die  älteren  Benedictinerabteien  waren  ei- 
gentlich selbstständige,  nur  durch  gleiche  Institutionen  und  geistlichen  Ver- 
kehr verbundene  Republiken  gewesen.  Die  Congregation  der  Cluniacenser 
bildete  dagegen   eine   feste  Hierarchie;   sie   hatte  nur   einen  Abt,   den   des 


^)  Der  Eintritt  in  den  Orden  wurde  Bekehrung  (conversio)  genannt  und  das  Ge- 
lübde lautete:  Ego  promitto  stabilitatem,  conversionem  et  obedientiam  seeundum  regulam 
St.  Benedicti.     Daher  der  Name:  Conversi. 


Verfassung  des  Ordens.  31  & 

Mutterklosters,  alle  anderen  Stiftungen  bildeten  nur  Priorate,  die  von  Cluny 
aus  besetzt  und  geleitet  wurden.  Allein  diese  Concentration  hatte  ebenso 
wie  jene  Isolirung  zum  Verfall  der  Disciplin  gefülirt.  Cluny,  der  Sitz  einer 
ausgedehnten  Herrschaft,  hatte  den  Versuchungen  des  Reichthunis  und  der 
Macht  nicht  widerstehen  können  und  den  unterworfenen  Klöstern  das  Bei 
spiel  laxer  Sitten  gegeben.  Die  Cistercienser  schlugen  daher  einen  mittleren 
Weg  ein  und  suchten  ihrer  Verfassung  durch  die  Mischung  monarchischer 
und  demokratischer  Elemente  eine  grössere  Haltbarkeit  zu  geben.  Citeaux 
war  der  Sitz  der  obersten  Leitung;  unter  dem  Vorsitze  seines  Abtes  wurden 
die  Generalkapitel  des  Ordens  abgehalten,  auf  welchem  die  Mehrzahl  der 
versammelten  Aebte  allgemeingültige  Beschlüsse  fasste.  Aber  jedes  Kloster 
hatte  seinen  eigenen  Abt  und  jedes  Mutterkloster  führte  die  Aufsicht  über 
alle  von  ihm  ausgegangenen  Klöster,  so  dass  jede  der  vier  ältesten  Töchter 
über  zahlreiche  Stiftungen  gestellt  war.  In  ihrer  inneren  Verwaltung  und 
bei  der  Wahl  des  Abtes  war  den  einzelnen  Klöstern  Selbständigkeit  gelas- 
sen, aber  alljährlich  unterlagen  sie  einer  Visitation,  durch  zwei  von  dem 
Abte  von  Citeaux,  aber  aus  Klöstern  derselben  Abstammung  ernannte  Aebte. 
Selbst  Citeaux  war  von  dieser  Regel  nicht  ausgenommen,  die  Aebte  jener 
vier  ältesten  Töchter  übten  das  Recht  der  Visitation  aus. 

Die  Aufgabe  dieser  Visitationen  war  nicht  bloss,  die  Beobachtung  der 
positiven  Vorschriften  zu  wahren,  sondern  auch  eine  Gleichheit  des  Sinnes 
und  der  Sitten  zu  erhalten.  Die  Verfassungsurkunde  vom  Jahre  1119  war,, 
wie  ihre  Urheber  sie  nannten,  eine  Urkunde  der  Liebe,  Charta  caritatis^ 
und  die  Brüderlichkeit  forderte  Uebereinstimmung.  Der  erste  Artikel  setzte 
daher  fest,  dass  alle  Glieder  des  Ordens,  in  Einer  Liebe,  nach  Einer 
Regel,  mit  ähnlichen  Sitten  wie  Citeaux  leben  sollten,  und  jene  Visitationen 
waren  das  wirksame  Mittel,  um  diese  geistige  Einheit  zu  erhalten.  Daher 
erklärt  sich,  dass  die  Gleichheit  der  einzelnen  Klöster  aller  Länder  mit  den 
Mutterklöstern  weiter  ging,  als  die  ausdrückliche  Vorschrift  es  ergab.  Allein 
diese  Gleichheit  war  doch  keine  absolute,  sie  äusserte  sich  mehr  im  Inner- 
lichen nnd  Wesentlichen,  als  in  Zufälligkeiten,  sie  war  durch  den  praktischen 
und  ökonomischen  Sinn  des  Ordens  beschränkt,  der  es  nöthig  machte,  in 
jeder  Gegend  die  bereiten  und  bequemsten  Mittel  für  jenen  höheren  Zweck 
zu  benutzen.  Dazukam,  dass  zwar  die  ersten  im  Auslande  gestifteten  Tochter- 
klöster von  französischen  Mönchen  besetzt  wurden,  dass  aber  die  weiteren. 
Stiftungen  meist  von  inländischen  Klöstern  ausgingen  und  gleich  anfangs 
eingeborene  Mönche  erhielten,  und  dass  diesen  unmittelbaren  Mutterklöstem 
auch  die  Aufsicht  und  die  Visitation  dieser  ihrer  Töchter  zufiel.  Der  Geist 
jedes  einzelnen  Landes  machte  sich  daher,  soweit  es  die  allgemeine  Regel 
gestattete,  in  diesen  engeren  Verbindungen  geltend. 

Dies  Alles  hatte   dann   auch   auf  die   architektonische  Gestaltung  der 


21ß  Der  Cislercienserorden. 

■Cistercienserkirchen  Einfluss.  Bestimmte  Vorschriften  für  die  Anordnung 
und  Ausführung  der  Bauten  bestanden  zwar  nicht,  aber  der  Geist  des  Ordens 
führte  doch  auf  das  Princip  möglichster  Einfachheit,  und  die  Beschlüsse  der 
Generalkapitel  enthielten  manche  nähere  Bestimmungen,  welche  auch  auf  die 
Architektur  zurückwirkten.  Das  Geläute  durfte  nur  von  einer  Glocke  aus- 
gehen ;  man  folgerte  daraus,  dass  grössere  Thürme  ein  nicht  zu  rechtferti- 
gender Luxus  seien,  und  brachte  gewöhnlich  nur  ein  kleines  Thürmchen 
einen  sogenannten  Dachreiter,  auf  der  Vierung  des  Kreuzes  an.  Gold  und 
Silber  an  Altardecken  uud  Geräthen  waren  im  Allgemeinen  verboten;  selbst 
für  den  Kelch  nur  vergoldetes]  Silber  gestattet.  Seide  durfte  nur  an  bestimmten 
Theilen  der  Messgewänder  verwendet  werden.  Sculpturund  Malerei  zu  üben  war 
den  Brüdern  untersagt,  weil  es  sie  von  der  Gewohnheit  der  Meditation  uud 
der  Strenge  der  Disciplin  abziehen  könne').  Glasmalereien  waren  als  Luxus 
verboten-);  um  aber  doch  den  beliebten  Schmuck  nicht  ganz  zu  entbehren, 
duldete  der  Orden  in  der  Folge  eine  neue  Technik,  welche  zwar  die  Viel- 
farbigkeit verbannte,  aber  die  Glasstücke  so  zuschnitt,  dass  der  Bleiguss 
der  sie  einschloss,  Ornamente  bildete.  Ein  Schritt  weiter  führte  dann  zu 
der  ornamentalen  Fensterbemalung  grau  in  grau,  wie  sie  am  schönsten  im 
Kreuzgang  zu  Heiligenkreuz  in  Oesterreich  auftritt.  Die  herrschende  Ansicht 
ging  noch  über  diese  Vorschriften  hinaus;  der  heil.  Bernhard  eiferte  gegen 
den  weltlichen  Inhalt  der  Bildwerke,  seine  Jünger  machten  den  Mönchen 
von  Cluny  den  Schmuck  ihrer  Kirche  als  einen  Dienst  der  Augenlust  zum 
Vorwurfe'^),    sie    rühmten    sich    der    Niedrigkeit    und    Aermlichkeit    ihrer 


^)  S.  diese  Vorschriften  des  Generalkapitels  von  1134  hei  Manrique  a.  a.  0.  Tom. 
I.  p.  257  und  273.  Jul.  Paris,  Monasticum  Cisterciense,  Paris  1664;  —  Vgl.  H.  H. 
d'Arbois  de  Joubainville,  Etudes  sur  l'etat  interieur  des  abbayes  cisterciennes,  Paris 
1858,  S.  28  ff.,  und  Dohme  a.  a.  0.  S.  27  ff.  — Fiorillo,  G.  d.  z.  K.  in  Deutschland  I, 
190,  irrt,  wenn  er  sagt,  dass  den  Cisterciensern  versagt  gewesen  sei,  ihre  Kirchen  mit 
Sculpturen  und  Malereien  zu  schmücken;  es  handelte  sich  nur  von  eigener  Aus- 
übung der  Kunst.  Sie  verschmäheten  solchen  Schmuck  keinesvveges,  sobald  er  an 
geeigneter  Stelle  und  nicht  mit  übermässigem  Luxus  angebracht  wurde.  Bilder  der 
JnngfVau  fehlten  gewiss  keinem  Kloster.  Caesarius  von  Heisterbach  (Diaiogi  MII, 
ca[j.  24)  erzählt  von  einem  Benedictinermönche,  welcher  in  den  Klöstern  herumgezogen 
sei,  und  aus  Frömmigkeit  gratis  Crucifixe  gemacht  habe,  und  fügt  hinzu:  nostros 
crucifixos  paene  omnes  fecit.  Sie  mussten  also  deren  viele  im  Kloster  haben.  Ein  Bild 
<Jes  heil.  Nicolaus  war  im  Cislercienserkloster  zu  Burtscheidt  (eodem  cap.  761 

*)  Der  Wortlaut  des  Verbots:  Vitreae  albae  fiant  sine  crucibus  et  picturis  gestattete 
eine  decorative  Ausstattung  mit  grau   gezeichneten  Mustern. 

*)  Martene  et  Durand,  Thes.  nov.  auecd.  Tom.  V,  col.  1570,  geben  ein  zwischen 
1153  und  1174  von  einem  Cistercienser  verfasstes  Gespräch  mit  einem  Clui;iacenser, 
worin  er  demselben  vorhält:  Pulchrae  picturae,  variae  caelaturae,  utraeque  auro  de- 
coratae,  pulehra  et  pretiosa  pallia,  pulchra  tapetia  variis  coloribus  depicta,  pulchrae  et 
pretiosae  fenestrae,  vitreae  saphiratae,  Haec  omnia  non  necessarius  usus,  sed  ocu- 
lorum  concupiscentia  requirit   (col.  1584). 


Eiiifaclilieil  der  Bauten.  31 T 

Klöster,  weil  sie  ihreDemuth  zeige  ^).  Indessen  konnte  man  doch  bei  diesem 
Extreme  nicht  stehen  bleiben.  Man  brauchte  bald  geräumige,  zurAufnahme^ 
zahlreicher  Pilger  geeignete  Kirchen,  grosse,  der  Gastfreiheit  des  Ordens- 
entsprechende Räumlichkeiten,  strebte  vermöge  des  praktischen  und  ver- 
ständigen Sinnes  nach  Solidität  und  Zweckmässigkeit,  und  wählte  aus  diesem 
Grunde  die  Kunstverständigen  unter  den  Brüdern  zu  Baumeistern,  bei  denen 
dann  bald  die  Neigung  erwachte,  mit  der  erforderten  Einfachheit  eine  gewisse 
Anmuth  der  Formen  zu  verbinden.  Die  Vorzüge  der  Ueberwölbung  waren 
ihnen  einleuchtend;  wo  die  Mittel  es  irgend  gestatteten,  gaben  sie  ihren 
Kirchen  eine  darauf  berechnete  Anlage.  Dazu  kam,  dass  der  neue  Orden 
schon  als  solcher  keine  Veranlassung  hatte,  dem  gleichzeitig  neuaufkommen- 
den gothischen  Style  abhold  zu  sein.  Der  kirchliche  Luxus,  gegen  den  sich 
die  Gründer  von  Citeaux  aufgelehnt  hatten,  gegen  den  der  heil.  Bernhard 
und  seine  Jünger  eiferten,  war  der  des  romanischen  Styls,  die  Anhäufung 
von  müssigem  oder  schwerverständlichem  Bildwerk,  die  Verschwendung  von 
edeln  Metallen  und  kostbaren  Stoffen.  Der  gothische  Styl  war,  besonders 
bei  seinem  ersten  Auftreten,  keuscher,  er  strebte  ebenfalls  nach  einer  ge- 
wissen Einfachheit,  wenn  auch  aus  anderen  Gründen,  er  athmete  einen  Geist 
der  Ordnung,  Consequenz  und  Zweckmässigkeit,  welcher  dem  strengen,  mili- 
tärisch disciplinirten  und  wirthschaftlichen  Sinne  der  Cistercienser  nicht 
fremd  war.  Ihre  ersten  Klöster  lagen  in  Burgund,  zum  Theil  an  der  Grenze- 
der  Champagne,  ihre  Kolonien  verbreiteten  sich  bald  auf  dem  heimathlichen 
Boden  des  neuen  Styles.  Sie  nahmen  daher  den  Spitzbogen,  die  Strebe- 
pfeiler und  manche  andere  Mittel  der  Solidität  oder  besserer  Beleuchtung- 
aus dem  gothischen  Systeme  an,  welche  die  Billigung  der  Stimmführer  des 
Ordens  erhielten  und  ein  Gemeingut  desselben  wurden.  Dabei  aber  waren 
sie  keinesweges  blinde  Nachahmer.  Manche  Eigenthümlichkeiten  des  früh- 
gothischen  Styles  wiesen  sie  mit  Entschiedenheit  zurück.  Die  Gallerien  über 
den  Seitenschiffen  erschienen  überflüssig;  man  gab  vielmehr  dem  Mittelschiffe 
eine  massige  Höhe,  so  dass  sein  Gewölbe  durch  das  Halbgewölbe  der 
Seitenschiffe  hinlänglich  gestützt  wurde.  Mit  den  Gallerien  tiel  auch  der 
Säulenschmuck  der  Pfeiler  fort,  sie  erhielten  einfach  viereckige  Gestalt,, 
selbst  die  Gewölbdienste  wurden  aus  Sparsamkeit  meist  niclit  bis  zum 
Boden  geführt,  sondern  auf  Consolen  gestützt-).  Die  Kapitale  erhielten  die 
zweckmässige  Bildung  schlanker  Kelche,  aber  ohne  Blattwerk.    Die  Fenster 


*)  Deus  in  domibus  eorum  cognoscebatur ,  cum  simplicitute  et  humiliiate  aedi- 
ficioriim  simplicitatem  et  humilitatem  inhabitantium  paiiperum  Christi  vallis  muta 
loqueretur.     So  Manrique,  a.  a.  0.  I,  p.  80,  voa  Morimond  sprechend. 

-)  Dohme  a.  a.  0.  S.  44  sucht  den  Grund  dieser  Bausitten  darin,  dass  man  Raum 
für  die  Aufstelhuifc  der  Chorstühle  der  zahheichen  Mönche  gewinnen  wollte. 


^Jg  Cistercienserkirchen. 

<iurfteii  nicht  allzugross  sein,  da  ihnen  Glasmalerei  versagt  war;  man  bildete 
sie  anfangs  rundbogig,  dann  auch   lancetförmig,  sehr  häufig  aber  in  Kreis- 
Gestalt.    Man  suchte  Alles  auf  das  Nothwendige  zu  reduciren,  die  überflüssige 
Fülle  der  Glieder,  welche  der  frühgothische  Styl  aus  dem  romanischen  über- 
Jiommen  hatte,  zu  vermeiden,  und  erhielt  eben   dadurch   schlanke  Formen, 
■welche  von  selbst  schon  eine  gewisse  bescheidene  Eleganz  hatten.    Manche 
Eigenthümlichkeiten  gingen  dann  aus  bestimmten  Sitten  des  Ordens  hervor. 
Der  Grundplan  besteht  fast  immer  aus  einem  dreischiffigen  Langhause  von 
ziemlich  beträchtlicher  Ausdehnung,   einem  Kreuzschiffe  ohne   Nebenschiffe 
aber  mit  mehreren  Kapellen  auf  der  Ostseite,  einem  wenig  heraustretenden 
•Chorraume,  der  aber  sehr  wechselnde  und  häufig  sehr  eigenthümliche  An- 
lage   hat.      Die   Ostkapellen   hatten    den  Zweck,   den  Mönchen  Räume  für 
ungestörte  Privatandacht  zu  gewähren^);  ja  aus  einer  gelegentlichen  Nach- 
richt erfahren   wir,  dass  die  Mönche,  nicht  vermöge  bestimmter  Vorschrift, 
sondern  aus  einem  zur  Sitte  gewordenen  Bedürfnisse,  sich  nach  vollbrachtem 
Chordienste  einzeln  vor  den  Altären    niederzuwerfen,  zu  entblössen  and  zu 
züchtigen  pflegten-).    Dies  konnte  nicht  füglich  in  der  Nähe  des  im  west- 
lichen Theile  der  Kirche  versammelten  Volkes  geschehen  und  erforderte  die 
Anbringung  vieler  gesonderter  und  abgelegener  Kapellen.     Man  zog  daher 
die  ersten  Abtheilungen  des  Langhauses  zum  Chordienste  hinzu,  behielt  mithin 
•das    Kreuzschiff  geschlossen   und   legte  entweder  hier  oder  an  dem   Chore 
selbst  jene  Kapellen  an.    Dabei  wurde  aber  die  bei  den  Cluniacenserklöstern 
und  an  den  Kathedralen  gebräuchliche  Anlage  des   reichen,  radianten  Ka- 
pellenkranzes als  zu  künstlich  und  prachtvoll  anfangs  verschmäht;  man  hatte 
vielmehr   eine   Vorliebe   für   den   rechtwinkeligen   Chorschluss,  als   für   die 
-schlichteste  Art,  und  suchte  jenes  Bedürfniss   vieler  Kapellen  mit   der  ge- 
wohnten  Einfachheit   zu  vereinigen.     Dies   erzeugte   mannigfaltige   Formen, 
von  denen   aber  keine  zur  Vorschrift   oder  maassgebenden  Regel   erhoben 
wurde,  so  dass  auch  der  halbkreisförmige  Schluss  und  im  dreizehnten  Jahr- 
hundert selbst  der  volle  Kapellenkranz  häufig  angewendet  wurden.    Schon  die 
ersten  Mutterklöster  wichen  in  dieser  Beziehung  von  einander  ab;  Citeaux 
schloss  rechtwinkelig  mit  einem  niedi'igen,   gleichfalls  rechtwinkeligen  Um- 
gänge, Clairvaux  und  Pontigny  halbkreisförmig  mit  neun  Kapellen,  die  aber 


^)  Ea  comnioditate,  ut  si  qui  secretius  orare  velint  aut  celebrare  sacerdotes,  a 
iiulio  piüisus  coiispiciantur  —  Brevis  notitia  monast.  Ebracensis,  Rom  1739. 

'-)  Caesarius  von  Heisterbacli,  a.  a.  0.  I,  S.  22,  erzählt  die  Bekehrung  eines  Dom- 
herrn von  Köhi,  der  im  Kloster  Campen  gesehen  habe,  wie  die  Mönche,  alte  und  junge, 
ad  diversa  discurrentes  altaria  ad  disciplinas  suscipiendas  nudabant  dorsa  sua,  confitentes 
humiliter  peccata  sua.  Mit  dieser  Sitte  mag  es  auch  zusammenhängen,  dass  diese 
\Kapellen  meistens  sehr  niedrig  und  schlecht   beleuchtet  sind. 


Erste  Alllagen  in  Deutschland.  319 

auch  hier  die  Gestalt  von  sphärischen  Vierecken  haben  und  zusammen  eine 
fortlaufende  halbkreisförmige  Aussenmauer  bilden.  Zwei  rechtwinkelige 
Kapellen  auf  der  Ostseite  jedes  Kreuzarmes  kamen  hinzu^).  Morimond,  im 
Anfange  dieses  Jahrhunderts  abgebrochen,  hatte  auf  dem  Mittelschiffe  eine 
halbkreisförmige  Concha,  dagegen  auf  den  Ostseiten  dßs  Kreuzes  mehrere 
rechtwinkelige  Kapellen-).  Auch  die  Tochterklöster  dieser  ersten  Stiftungen 
hielten  sich  keinesweges  ängstlich  an  das  Vorbild  des  Mutterklosters. 

Deutschland  stand  vorzugsweise  in  Verbindung  mit  Morimond,  dessen 
erster  Abt,  Arnold,  ein  Deutscher  und  Bruder  des  damaligen  Erzbischofs 
Friedrich  1.  von  Köln,  im  Jahr  1122  selbst  nach  Köln  pilgerte  und  durch 
seine  Predigt  die  Gründung  des  ersten  deutschen  Cistercienserklosters 
Campen  Uilt-Camp)  bei  Köln^)  und  die  Bekehrung  einer  grossen  Zahl  von 
Deutschen  bewirkte,  die  ihm  nach  Morimond  folgten.  Bald  darauf  erwarb 
Morimond  ein  höchst  bedeutendes  Mitglied.  Otto,  Sohn  des  Markgrafen 
Leopold  von  Oesterreich  und  Oheim  des  nachherigen  Kaisers  Friedrich  I. 
als  Geschichtschreiber  unter  dem  Namen  Otto  von  Freising  wohl  bekannt^ 
trat  auf  seiner  Rückreise  von  der  hohen  Schule  zu  Paris  mit  seinem  Bruder 
Conrad  und  mehreren  Söhnen  deutscher  fürstlicher  und  gräflicher  Häuser 
in  das  Kloster,  welches  er  demnächst  von  1131  bis  zu  seiner  Berufung  auf 
den  bischöflichen  Stuhl  von  Freising  im  Jahre  1138  als  x\bt  leitete.  Gleich- 
zeitig legte  ein  anderer  fürstlicher  Gast  in  Morimond  das  Gelübde  ab. 
Graf  Eberhard  von  Berg  wurde,  wie  es  in  dieser  bewegten  Zeit  so  häufig 
geschah,  in  der  Mitte  eines  kriegerischen  Leben  von  heftiger  Reue  ergriffen. 
Er  wallfahrtete  im  Bussgewande  zu  mehreren  heiligen  Stätten,  langte  endlich 
auf  einem  der  Meierhöfe  von  Morimond  an  und  unterzog  sich  hier  dem  de- 
müthigen  Geschäfte  eines  Schweinehirten.  Der  Zufall  führte  zwei  seiner 
nach  ihm  ausgesendeten  Diener  in  diese  Gegend,  welche  ihren  verloren  ge- 


^)  Grundrisse  oder  Ansichten  aller  drei  Kirchen  bei  VioUet-le-Duc  Dictionnaire  I, 
S,  267,  270,  272.  Die  Kirchen  von  Citeaux  und  Ciairveaux  existiren  nicht  mehr.  Von 
den  Formen  und  dem  Bestehen  von  la  Ferte  habe  ich  keine  Kunde.  —  In  Pontigny 
bilden  indessen  die  Kapellen  im  Inneren  Polygone.  Vgl.  YioUet-Ie-Duc  II,  S.  465. — 
Viollet-le-Duc  (ebenda)  leitet  die  Sitte  der  viereckigen  Kapellen  aus  architektonischer 
Oekonomie  her,  weil  bei  ihnen  die  Construction  der  Mauer  und  des  Daches  einfacher 
war.  —  Abbildung  von  Pontigny,  innere  Ansicht  des  Chors,  bei  James  Ferguson,  A  History 
of  Architecture  vol.  I,  S.  505  f. 

-)  Dubois,  Histoire  de  l'abbaye  de  Morimond,  1852,  S.  194,  giebt  diese  Nach- 
richten theils  nach  den  an  Ort  und  Stelle  aufgefundenen  Spuren,  theils  nach  Zeichnungen, 
welche  bei  Gelegenheit  einer  Reparatur  im  Jahre  1475  aufgenommen  imd  noch  im 
Archive  des  Departements  der  Haute-Marne  erhalten  sind. 

^)  Siehe  Notiz  über  Alt-Camp,  von  Ernst  aus'mWeerth,  in  v.  Quast  u.  Otte,  Zeit- 
schrift, I,  S.  138,  nebst  Holzschnitt.  Nur  noch  die  rechteckige  Apsis  zwischen  zwei 
Thürmen  besteht. 


320  ^^^  Cisiereienserorden. 

glaubten  Herrn  erkannten  und  zur  Rückkelir  zu  bewegen  suchten,  aber  gerade 
dadurch  die  Veranlassung  seines  förmlichen  Eintritts  in  das  Kloster  wurden. 
Als  Mönch  besuchte  er  nun  seine  Heimath,  bestimmte  seinen  Bruder  Adolph 
zur  Stiftung  des  nachmals  so  berühmten  Klosters  von  Altenberg  (1133)  und 
einen  anderen  Verwandten,  den  Grafen  Zizzo,  zur  Gründung  des  Klosters 
St.  Georgenberg  (nachher  Georgenthal)  in  Thüringen,  dessen  erster  Abt  er 
wurde  (1141),  Wcährend  Altenberg  mit  französischen  Mönchen  besetzt  wurde,, 
aus  denen  auch  die  beiden  ersten  Aebte  hervorgingen^).  Diese  Verbindungen 
mit  deutschen  Fürstenhäusern  und  überhaupt  die  östliche  Lage  von  Morimond 
auf  der  Grenze  von  Lothringen  bewirkte^  dass  der  Wunsch  nach  Cister- 
cienserstiftungen  aus  Deutschland  sich  meistens  hierher  richtete.  Ausser 
Campen  gehörten  Lutzell  im  Elsass  (1122)  und  Ebrach  in  Franken  (1124) 
zu  den  ältesten  Töchtern  von  Morimond.  Während  Otto's  Verwaltung  (11 34) 
wurden  auch  nach  Bayern  (W\aldsassen)  und  nach  Oesterreich  (Heiligenkreuz) 
Kolonien  entsendet,  und  als  er  nach  Freising  ging,  zählte  Morimond  in 
Deutschland  schon  neunzehn  unmittelbare  oder  mittelbare  Töchter,  deren 
Zahl  bis  zum  Schlüsse  des  Jahrhunderts  auf  mehr  als  70  und  später  bis 
auf  117  wuchs-).  Nur  siebzehn  deutsche  Cistercienserklöster  waren  von 
anderer  Abstammung,  und  zwar  sämmtlich  von  der  Linie  von  Clairveaux. 
Die  Abstammung  von  der  einen  oder  anderen  dieser  ältesten  Töchter  hatte 
indessen,  wie  eine  Vergleichnng  der  noch  erhaltenen  Kirchen  zeigt,  keinen 
Einfluss  auf  die  bauliche  Anordnung.  Von  mehr  als  vierzig  Cistercienser- 
kirchen,  welche  auf  deutschem  Boden  erhalten  oder  wenigstens,  wie  Sion,  in 
Abbildungen  bewahrt  sind',  haben  mindestens  21  und  darunter  drei  von 
Clairveaux  abstammende  den  geraden  Chorschluss,  aber  in  höchst  ver- 
schiedener Weise,  und  die  übrigen  eine  halbkreisförmige  oder  polygon- 
förmige  Chornische,  mehrere,  allerdings  erst  im  dreizehnten  Jahrhundert 
gebaute,  sogar  mit  radianten  Kapellen-").  Selbst  in  der  Anlage  dieses  be- 
deutungsvollen Theiles  band  man  sich  nicht  an  das  Beispiel  der  gemeinsamen 
Stammmutter,  oder  des  unmittelbaren  Mutterklosters. 


^)  Jongeliinis  a.  a.  0.  Lib.  II,  p.   13. 

-)  Hierbei  sind  die  Cisterciensernoniienklöster   nicht  mitgezählt. 

*)  Geraden  Chorschluss  haben  Amelunxborn,  Arusburg,  Campen,  Eberbach,  Ebrach, 
Eldena,  Eiisserlhal,  Haina,  Heiligenkreuz,  Heilsbronn,  Hude,  Lilient'eld,  Loccum,  Marieii- 
feld,  Marienthal,  Neuberg  (in  Steiermark),  Pelpiin,  Riddagshausen,  Roda,  Salmansweiler, 
Thennenbach.  —  Es  ist  unsicher,  ob  zu  diesen  auch  Bebenhausen  und  Maulbronn  zu 
rechnen  sind,  die  jetzt  gerade  schiiessen,  bei  denen  aber  vielleicht  ursprünglich  eine 
halbkreisförmige  Chornische  bestand.  Halbkreisförmigen  oder  polygonen  Chorschluss 
haben:  Altenberg,  Bronnbacli,  Chorin,  Colbatz,  Doberan,  Dobrilugk,  Heisterbach,  Kais- 
heim, Lehnin,  Marienstatt,  Oliva,  Porta,  Sion,  Victring,  Walkenried,  Zinna,  Zvvetl.  — 
Manche  aus  letzterer  Gruppe,  wie  Marienstadt,  Altenberg  und  Dobberan  liaben  radiante 
Capellen. — Die  Denkmäler  aus  der  folgenden  Periode  sind   hierbei  mitgerechnet. 


Baustyl.  321 

Ueberhaupt  zeigen  diese  Bauten  zwar  eine  Familienähnlichkeit,  aber 
doch  wieder  grosse  Verschiedenheiten;  sie  sind  Kinder  desselben  Geistes, 
aber  dabei  höchst  individuell.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  der  Orden 
schon  aus  ökonomischeu  Gründen  seine  Baumeister  selbst  bildete;  wir  finden 
auch  die  Nachricht,  dass  der  heil.  Bernhard  den  Bruder  Achard,  Novizen- 
meister in  Clairvaux,  in  viele  deutsche  und  französische  Klöster  geschickt 
habe,  um  ihre  erste  Einrichtung  und  ihre  Bauten  zu  leiten  i),  und  eine  ähn- 
liche Einwirkung  auf  die  Bauten  neuer  Stiftungen  werden,  auch  sonst  die 
Mutterklöster  ausgeübt  haben.  Noch  bei  anderen  Gelegenheiten  finden  wir 
Baumeister  aus  dem  Orden  selbst  genannt '2).  In  der  Schule,  die  auf  diese 
Weise  entstand,  bildeten  sich  zwar  bestimmte  bauliche  Traditionen;  aber 
der  strebende,  reformatorische  Sinn  des  Ordens,  die  Selbständigkeit  der 
einzelnen  Klöster,  die  schon  aus  Sparsamkeit  gebotene  Rücksicht  auf  das 
vorhandene  Material  und  auf  die  architektonischen  Gebräuche  jener  Gegend 
bewahrten  sie  vor  sclavischer  Nachahmung  und  Einförmigkeit.  Die  Aufgabe, 
solide  Formen  mit  augenscheinlicher  Einfachheit  und  doch  auch  mit  der  der 
Würde  des  Ortes  zusagenden  Anmuth  zu  verbinden,  erzeugte  vielmehr  ein 
wahrhaft  künstlerisches  Bestreben,  aus  welchem  sehr  originelle,  anziehende 
und  mannigfaltige  Erfindungen  hervorgingen  und  das  fast  jeder  Kirche  ein 
eigenthümliches  Interesse  verleihet. 

Unter  den  älteren  Cistercienserkirchen  Deutschlands  sind  mehrere, 
welche  die  Eigenthümlichkeit  des  Ordens  kaum  erkennen  lassen,  sondern 
sich  einfach  der  Bausitte  der  Provinz  anschliessen,  in  der  sie  entstanden 
sind.  Dies  tritt  natürlich  auch  später  da  ein,  wo  eine  bereits  vorhandene 
oder  doch  angefangene  Kirche  dem  Orden  übergeben  wurde.  Daher  denn 
eine  ziemlich  grosse  Zahl  solcher  Kirchen  mit  flacher  Decke  und  in  Formen, 
die  später  nicht  wieder  vorkamen.  So  ist  die  Kirche  zu  Heilsbronn  bei 
Nürnberg,  welche  Bischof  Otto  von  Bamberg  erbauen  lassen  und  1132  dem 
Orden  übergab,  eine  schlichte  Säulenbasilika  mit  schweren  Würfelkapitälen. 
So  ferner  das  Laughaus  der  Kirche  zu  Amelunxborn  bei  Stadtoldendorf 
mit  wechselnden  Pfeilern  und  Säulen,  die  Kirche  von  Marienthal  bei 
Helmstedt,  die  ursprünglich  den  Prämonstratensern  gehörige  Kirche  von 
Bebenhausen  in  Schwaben,  selbst  die  grosse  Kirche  von  Maulbronn  und 


1)  Jongelinus  a.  a.  0.  und  zwar  in  dem  Manipnlus  Hemmerodensis,  Tit.  XII,  p.  21. 

^)  In  Georgentlial  wird  im  J.  1246  ein  gewisser  Wiegand,  Mönch  des  Klosters, 
mit  dem  Zusätze  angefiilirt:  „qui  tunc  magister  lapidum  vocabatur".  Bei  der  Gründung 
von  Victring  in  Kiirnthen  befanden  sich  unter  den  dahin  gesandten  Mönchen:  „Con- 
versi  barbali  diversis  artibus  periti."  Der  Bau  von  Walkenried  wurde  durch  die 
Klosterbrüder  Jordan  und  Berthold  angefangen,  später  aber  durch  den  Abt  Heinrich 
geleitet,  der  „architecturae  peritus"  war;  unter  ihm  arbeiteten  21  Laienbrüder  als  Stein- 
metzen, Maurer  und  Zimmerleute.  Vgl,  Dohme  a.  a.  0.  S.  79,  78,  106. 
Schnaasse's  Kunstgesch.  2.  Aufl.     V.  21 


222  Cistercienserkircheii. 

andere.  Wie  in  dieser  Zeit  die  Eigenthümlichkeit  der  Ordensbauten  noch 
nicht  entwickelt  ist;  so  verliert  sie  sich  später  wieder,  etwa  in  der  zweiten 
Hälfte  des  13.  Jahrhunderts.  Für  die  mittlere  Zeit  dagegen,  etwa  von 
1150  bis  1250  bildet  sich  für  die  Kirchen  des  Ordens  ein  gewisser  Typus, 
der  zwar  stets  mit  Freiheit  und  mit  Abweichungen  angewendet  wird,  aber  doch 
im  Wesentlichen  wiederkehrt.  Es  ist  der  einer  kreuzförmigen  Pfeilerbasilika 
mit  quadraten  Gewölben,  deren  Dienste  meistens  nicht  bis  zum  Boden  herab- 
gehen ,  sondern,  in  kurzen,  von  einer  Console  getragenen  Pfeilerstücken 
bestehen.  Das  Langhaus  pflegt  ziemlich  lang  zu  sein,  aus  vier  oder  fünf 
quadraten  Gewölben  zu  bestehen,  die  Seitenschiffe  sind  auffallend  schmal. 
Von  der  Eigenthümlichkeit  der  Ornamentation  und  von  der  Anlage  der  öst- 
lichen Theile  haben  wir  schon  gesprochen. 

Zu  den  ältesten  und  merkv/ürdigsten  der  noch  erhaltenen  deutschen 
Cistercienserkirchen  gehört  die  von  Bronnbuch  bei  Wertheim.  Das 
Kloster  wurde  im  Jahre  1151  und  zw^ar  als  Fiale  von  Maulbronn  gegründet, 
und  erhielt  sofort  bedeutende  Schenkungen  der  Grafen  von  Wertheim  und 
des  Erzbischofs  von  Mainz,  lieber  die  Vollendung  der  Kirche  besitzen  wir 
keine  Nachrichten,  indessen  wird  man  nicht  fehlen,  wenn  man  sie  etwa  um 
1200  setzt  1).  Es  ist  ein  ansehnlicher  und  solider  Bau;  ein  Langhaus  von 
vier  Gewölbquadraten  mit  Seitenschiffen  von  nicht  völlig  halber  Breite  des 
Mittelschiffes,  ein  in  gleicher  Breite  ausladendes  Kreuzschiff,  auf  seiner  Ost- 
seite mit  zwei  viereckigen,  durch  starke  Mauern  geschiedenen  niedrigen 
Kapellen,  über  deren  Aussenwände  hinaus  auf  der  Breite  des  Mittelschiffes 
eine  einfache,  durch  drei  Fenster  beleuchtete  halbkreisförmige  Apsis  hervor- 
tritt. Vor  dem  östlichsten  Quadrate  des  Langhauses  erhebt  sich  der  Boden 
um  zw^ei  Stufen,  so  dass  wahrscheinlich  der  Chorraum  sich  bis  hierher 
erstreckte.     Fenster  und  Arcaden  sind  rundbogig,  dagegen  die  höchst  merk- 


1)  Nachrichten  über  die  Geschichte  des  Klosters  geben  Mone  (Schriften  des  Badisclien 
Alterthums -Vereins,  Karlsruhe '1849,  Band  II,  S.  307  —  386,  und  Zeitschrift  für  die 
Geschichte  des  Oberrheins,  Karlsruhe  1851,  Bd.  IL,  S.  291  ff.),  ferner  Aschbach,  Geschichte 
der  Grafen  von  Wertheim,  1843,  im  zweiten  Bande.  Für  unseren  Zweck  ist  aus  den 
vielen,  von  beiden  mitgetheilten  Urkunden  zu  bemerken,  dass  nach  einem  Memoriale 
des  um  1170  lebenden  Abtes  Diether  von  Maulbronu  (Nro.  IV  und  IX  bei  Aschbach) 
der  Bau  des  Klosters  von  Bronnbach  (in  den  Urkunden  auch  Brunnebach  und  Bnrne- 
bach  genannt)  im  Jahre  1157  begann.  Wahrscheinlich  noch  vor  der  Vollendung  der 
Kirche  entstand  indessen  ein  Zwiespalt  im  Kloster,  weil  der  Abt  Reginhard  sich  in  dem 
Streite  zwischen  Kaiser  Friedrich  und  Papst  Alexander  III.  für  den  ersten  erklärte, 
obgleich  der  gesammte  Cistercienserorden  die  Partei  des  Papstes  ergriffen  hatte.  Dies 
veranlasste  Widerstand  der  Mönche  und  vielleicht  selbst  das  Verlassen  des  Klosters, 
indem  im  Jahre  1174,  nachdem  Reginhard  zfiu-  Abdankung  bestimmt  worden  war,  ein 
neuer  Abt  mit  Mönchen  von  Maulbronn  ausgesendet  wurde.  Wahrscheinlich  wird  daher 
ei>6t  nach  dieser  Zeit  der  Bau  wieder  aufgenommen  und  dann   bald  vollendet  sein. 


Bronnbacli. 


323 


•würdigen  Gewölbe  spitzbogig.  Sie  besteben  nämlich  im  Mittelschiffe,  in 
den  Kreuzarmen  und  in  der  Vorlage  des  Chores  aus  quadraten  Kreuz- 
gewölben mit  blossen  Gräten,  die  man  aber  in  der  That  noch  als  spitzbogige 
Tonnengewölbe  mit  grossen  Stichkappen  betrachten  kann,,  da  die  Gewölb- 
felder nicht  durch  Tran^versalgurten  geschieden  sind  und  die  über  den  Fenstern 
einschneidenden  Kappen  wegen  der  grossen  Stärke  der  Pfeiler  nicht  völlig 
die  Breite  und  Hohe  des  Longitudinalgewölbes  haben.  In  den  Kapellen  an 
den  Kreuzarmen  sind  wirkliche  Tonnengewölbe,  die  Seitenschiffe  sind  aber 
mit  halben  Kreuzgewölben  der  erwähnten  Art  bedeckt.  Offenbar  ist  es 
das  ältere  französische  System  der  Bedeckung  mit  ganzen  und  halben  Tonnen- 
gewölben, welches  aber  in  Deutschland  wegen  des  Bedürfnisses  von  grösseren 
Fenstern  und  Oberlichtern  und  durch  die  Einwirkung  des  hier  schon  längst 
bekannten  Kreuzgewölbes  modificirt  ist.  Dieses  Auftreten  einer  französischen 
Anordnung  ist  um  so  auffallender,  weil  sie  sich  in  Maulbronn  nicht  findet, 
wo  das  Mittelschiff'  vielmehr  die  in  Cistercienserkirchen  seltene  gerade  Decke 
hat,   die  Seitenschiffe   aber  mit  ge- 

FW    87 

wohnlichen  Kreuzgewölben  bedeckt 
sind.  Maulbronn  stammte  von  Neuen- 
bürg im  Elsass,  welches  eine  Kolonie 
von  Bellevaux  imBisthum  Besangen, 
der  ältesten  Tochter  von  Morimond, 
war.  Die  Verbindung  von  Bronn- 
bach mit  Frankreich  war  also  eine 
ziemlich  entfernte.  Dennoch  aber 
muss  sich  ein  Eiufluss  aus  der  Central- 
gegend  des  Ordens  hierher  erstreckt  haben,  der  sich  nur  dadurch  erklären 
lässt,  dass  man  von  Maulbronn  aus  ältere  in  französischen  Klöstern  gebildete 
Mönche  mitgesendet  hatte.  Auch  ist  die  Choranlage  dieselbe  wie  in  Mori- 
mond. Im  Uebrigen  weisen  die  Details  nicht  gerade  nach  Frankreich  hin. 
In  den  beiden  östlichen  Gewölbfeldern  des  Langhauses  wechseln  Säulen,  in 
den  beiden  westlichen  nur  schwächere  Pfeiler  mit  den  gewölbetragenden, 
welche  kreuzförmig,  unter  dem  anstrebenden  Seitengewölbe  mit  einem  unver- 
zierten  Pilaster  ohne  Kapital,  unter  den  Scheidbögen  mit  Drei  viert  elsäulen, 
auf  der  Frontseite  wieder  mit  einer  Halbsäule  besetzt  sind,  welche  letzte 
aber  nicht  vom  Boden,  sondern  von  einem  ziemlich  hohen  schlichten  Pilaster 
aufsteigt  und  dadurch  dieselben  Dimensionen  wie  die  Zwischensäulen  erhalten 
hat.  Auf  dem  Kapital  dieser  Säule  liegt  dann  ein  als  Viertelstab  oder  als 
"Welle  gebildeter  Abacus,  auf  welchem  zwei  treppenförmig  ausladende  Balken 
den  breiten  Gewölbansatz  stützen.  Die  Kapitale  sind  theils  würfelförmig  mit 
derb  gearbeiteten  Rankenverschlingungen,  theils  kelchförmig  mit  schwacher 
Anwendung  breiter  Blätter.     Sehr  eigenthüralich  ist   die  Behandlung  der 


Bronnbach. 


324 


Cistercienserldrchen. 


Fig.   88. 


Basis  und  des  die  Stelle  des  Eckblattes  vertretenden  Theiles.  Während 
der  romanischen  Periode,  besonders  in  Sachsen,  kommt  öfter  der  Versuch 
vor^  das  Eckblatt  gewissermaassen  organisch  zu  rechtfertigen,  indem  man 
es  wie  eine  Hülse  behandelte,  welche  den  Pfühl  umschliesst  und  in  den  Ecken 
der  Plinthe  weiter  hinaufwächst.  Hier  hat  man  eijen  ähnlichen  Gedanken 
durchgeführt,  nur  dass  diese  Hülse  nicht  von  unten  nach  oben,  sondern  um- 
gekehrt von  oben  nach  unten  wä(^st  und  sich  anlegt,  and  dies  mit  mehreren 
sinnreichen  Variationen.  In  einigen  Fällen  erscheint  sie  nämlich  wie  eine 
zarte  Haut,  welche  am  oberen  Rande  des  Pfühls  im  ganzen  Umfange  anhebt 
und  in  den  Ecken  sich  zu  Voluten  aufrollt,  dazwischen  aber  in  wechselnden 
Bogenlinien  abstirbt.  In  anderen  Fällen  bildet  sich  dagegen  eine  stärkere 
Schale,  welche  wie  die  der  Nuss  einen  gleichgestalteten  kleineren  Kern  um- 
giebt  und  da,  wo  sie  über  die  Plinthe  überragen  würde,  abgeschnitten  ist, 
so   dass   sie  hier  den  inneren  Kern  sehen  lässt,  während  sie  in  den  Ecken 

neben  dem  Kerne  mit  einem  kleinen  Zwischen- 
räume von  demselben  stehen  geblieben  ist  und 
so  die  Lücke  ausfüllt.  Besonders  anmuthig 
ist  die  Ausführung  der  Basis  an  den  drei 
ziemlich  reich  mit  monolithen  Säulen  ge- 
schmückten rundbogigen  Portalen  der  West- 
seite. Neben  diesen  feiner  ausgebildeten 
Theilen  ist  dann  die  fast  bis  zur  Bohheit  ge- 
steigerte Einfachheit  mancher  anderen,  nament- 
lich der  Wandpilaster  in  den  Seitenschiffen, 
,„,„,,„.^^i,  sehr    auffallend.       Die    Aussenmauern    sind 

schmucklos,  auf  der  Nordseite  mit  schwachen 
Strebepfeilern  besetzt,  nur  an  der  Chornische  mit  einer  Rautenverzierung 
und  einem  auf  Consolen  ruhenden  Runcibogenfriese  ausgestattet,  welcher  in 
seinen  Details  ganz  denen  am  Dome  und  am  Neumünster  zu  Würzburg  gleicht. 
Wir  sehen  daher  hier  sehr  anschaulich  die  eigenthümliche  Mischung  von 
französischen  und  deutschen  Elementen  und  von  Einfachheit  und  Zierlich- 
keit, und  zugleich  die  Selbständigkeit  der  Baumeister  von  älteren  Tradi- 
tionen und  neu  aufgekommenen  Formen,  welche  die  deutschen  Cistercienser- 
bauten  charakterisirt.  Auch  der  Kreuzgang,  obgleich  etwas  jünger  als  die 
Kirche,  hat  noch  sehr  primitive  Formen.  Jede  seiner  Abtheilungen  besteht 
nämlich  aus  drei  auf  Säulen  ruhenden,  stumpfen,  aber  stark  überhöheten 
Spitzbögen,  von  denen  der  mittlere  die  beiden  anderen  überragt  und  fast  in 
die  Spitze  des  die  ganze  Gruppe  umfassenden  steilen  Spitzbogens  hinein- 
reicht. Auch  er  wird  daher  noch  ans  dem  zwölften  Jahrhundert  stammen. 
Neben  der  Kirche  zu  Bronnbach  ist  die  des  1156  gegründeten  Klosters 
zu  Thennenbach  (Porta  Coeli)  im  Breisgau  zu  nennen.    Sie  ist  zwar  in  den 


,  Tlienueubach.  325 

Jahren  1829  bis  1830  abgebrochen,  aber  als  evangelische  Kirche  nach  dem 
nicht  weit  entfernten  Freiburg  versetzt  und  daher  auch  in  den  Theilen, 
welche  bei  dieser  Uebertraguug  verändert  sind,  uns  durch  die  Beschreibung 
des  Architekten  wohl  bekannt^).  Die  Angabe  entspricht  im  Ganzen  jenem 
vorherrschenden  Typus;  vier  Quadrate^bilden  das  ISIittelschiff  des  Langhauses, 
drei  das  Querschiff,  an  dessen  Ostseite  sich  neben  dem  gerade  geschlossenen 
Altarhause  je  zwei  rechtwinkelige  Kapellen  anlegen.  Ungewöhnlich  ist  aber  die 
Ueberwölbung  der  Seitenschiffe;  sie  bestand  nämlich  ursprünglich  (denn  bei  dem 
Wiederaufbau  in  Freiburg  sind  statt  dessen  spitzbogige  Kreuzgewölbe  ange- 
bracht) in  quergelegten  Tonnengewölben  also  in  einer  Wölbungs- 
art, die  in  verschiedenen  Gegenden  von  Frankreich,  und  unter  Anderem 
auch  in  der  Cistercienserkirche  von  Fontenay  angewendet-),  in  Deutschland 
aber  ganz  unbekannt  war  und  auch  niemals  wiederholt  ist.  Die  Arcaden 
sind  schon  Spitzbögen  und  das  unbeschädigt  nach  Freiburg  übertragene 
Hauptportal  zeigt ,  obgleich  ruudbogig ,  schon  eine  Annäherung  an  den 
gothischen  Styl,  die  aber  hier,  bei  der  engen  Verbindung  mit  Frankreich, 
welche  durch  jene  Seiteugewölbe  bewiesen  wird,  uns  noch  nicht  berechtigt, 
dem  Bau  ein  späteres  Datum  zu  geben,  als  etwa  um  1200. 

Die  Choranlage  mit  mehreren  niedrigen,  auf  der  Ostseite  des  Kreuzes 
und  in  einer  Flucht  mit  dem  Chorraume  angelegten  Kapellen,  wie  wir  sie  in 
Bronnbach  finden,  ist  die  beliebteste  in  den  früheren  Cistercienserkirchea; 
man  wechselte  dabei  aber  mit  dem  halbkreisförmigen  und  dem  rechtwinkeligen 
Schluss  des  Chorraums  und  zuweilen  auch  der  Kapellen.  So  haben  die  nahe 
bei  einander  gelegenen  südfranzösischen  Kirchen  Thorouet,  Sylvacane  und 
Senauque,  von  denen  ich  früher  sprach,  sämmtlich  vier  solcher  Seitenkapellen 
neben  dem  Chore,  die  beiden  ersten  aber  wie  Morimond  und  Brounbach  mit 
halbkreisförmiger,  die  dritte  mit  geradliniger  Schlusswand  des  Chorraumes. 
Im  nördlichen  Frankreich  hat  Vaux-de-Sernay  in  der  Diöcese  von  Paris 
gerade  den  Chorraum  viereckig,  die  Kapellen  aber  halbkreisförmig  geschlossen; 
Fontenay  bei  Montbord  (Dep.  cote  d'or)  dagegen  durchweg  rechtwinkelige 
Schlusswände ^).  Dies  ist  auch  die  vorherrschende  Form  in  Italien,  wo  sie 
sich,  und  zwar  häufig  mit  grösserer  Ausladung  der  Kreuzarme  und  daher 
mit  drei  Kapellen  auf  jeder  Seite  des  Chores,  nicht  bloss  an  Cistercienser- 
kirchen,  wie  unter  anderen  an  denen  von   Fossanova  bei  Auagni   und 


^)  V^l.  Hübsch,  Bauwerke  S.  12  und  die  dazu  gehörigen  Zeichnungen. 

-)  Vgl.  Band  IV,  S.  512. 

3)  Viollet-le-Duc  I,  S.  274.  —  Auch  die  Kirche  vou  Beliaigue  (Dep.  Pny- 
de-Dome),  welche,  nach  Einführung  der  Cistercienser  (1137)  in  das  ehemalige  Bene- 
diciinerkloster,  erbaut  ist,  hatte  neben  dem  Chore  vier  demselben  parallele  Kapellen. 
Mittheilung  von  Montalembert  in  den  Annales  archeologiques  XII,  p.  328. 


326 


Cistercienserkirche.n. 


Casamari  bei  Veroli^),  sondern  auch  in  den  Kirchen  anderer  Orden^. 
namentlich  der  Franziskaner  2),  findet.  Auch  in  Deutschland  haben  wir 
mehrere  ähnliche  Anlagen ,  jedoch,  soviel  ich  weiss,  nur  an  Cistercienser- 
kirchen.     Eine   der  ältesten  ist  die  im  Jahre  1186  gew-eihete  Kirche  von 

Eberbach     im     Rheingau  =^),     mit 
^'s-  ^^-  quadraten    Gewölben,     viereckigen, 

meistens  ganz  schlichten  Pfeilern, 
rundbogigen  Fenstern,  Gewdlbträgern 
aufConsolen.  Die  Zahl  der  Kapellen 
ist  hier  auf  jeder  Seite  auf"  drei  ge- 
steigert. Aehnlich,  jedoch  nur  mit 
fünf  Altarräumen,  ist  die  Kirche  von 
Loccum  bei  Stadthagen  östlich  der 
Weser.  Das  Kloster,  dessen  umfang- 
reiche, im  entwickelten  gothischen 
Style  ausgeführten  Gebäude  noch 
wohl  erhalten  sind,  war  schon  1163 
gegründet;  die  Kirche  ist  bedeutend 
jünger  und  wurde  wahrscheinlich  in 
den  Jahren  1240  —  1277  vollendet. 
Ein  gewisser  Bodo  wird  als  Bau- 
meister genannt.  Sie  hat  durchweg 
spitzbogige,  aber  ungegliederte  Ar- 
caden,  im  Langhause  eben  solche,  ia 
den  östlichen  Theilen  dagegen  rund- 
bogige  Fenster,  die  auch  hier  wie  in 
Bronnbach  paarweise  unter  den  oberen 
Schildbögen  stehen.  Die  Pfeiler  sind 
viereckig  und  stark,  die  gewölbtragen- 
den oben  durch  einen  Vorsprung  verstärkt,  der  als  breite  Console  den  Quer- 
gurt trägt,  die  Zwischenpfeiler  nach   sächsischer  Weise  mit  Ecksäulchen 


Loccum. 


1)  Ich  verdanke  die  Kenntniss  dieser  Kirchen  den  Mitiheilungea  des  verstorbenen 
Bibliothekars  Dr.  Bethmann  in  Wolfenbiittel.  —  S.  Vincenzo  e  Anastasio  bei  Rom 
nur  mit  zwei  Kapellen  auf  jeder  Seite,  Grundriss  bei  Lenoir,  archit.  monastique  II 
pag.  47. 

-)  In  Frankreich  haben  die  Klöster  La  Regle  bei  Limoges  und  La  Couronne  bei 
Angouleme,  obgleich  nicht  Cistercienser,  die  Form  von  Loccum. 

")  Vgl.  Geier  und  Görz,  Denkmale  romanischer  Baukunst  am  Rhein,  Heft  1.  Die 
hier  erwähnte  Kirche  ist  die,  welche  die  Herausgeber  als  die  neuere  bezeichnen.  VgL 
oben  IV,  S.  370,  Anm.  —  Denkmäler  aus  Nassau,  Heft2u.  3,  Wiesbaden  1857,  1862.— 
Urkundenbuch  der  Abtei  Eberbach,  herausgegeben  von  K.  Rössel,  Wiesbaden  1862  ff. 


Eu&serthal,  Zinna,  Walkenried.  327 

verziert.  Die  Kapellen  an  den  Kreuzarraeu  sind  im  Aeusseren  durch  eine 
gemeinschaftliche  gerade  Mauer,  im  Inneren  einzeln  halbkreisförmig  ge- 
schlossen. Der  ganze  Bau  ist  sehr  einfach  und  strenge,  mit  Ausnahme  der 
Chor-  und  Querhaus^Yände  noch  ohne  Strebepfeiler,  mehr  romanisch  als 
gothisch  1).  Dieselbe  Anlage  der  östlichen  Theile,  nämlich  je  zwei  niedrige 
Kapellen  neben  dem  rechteckigen  Chor  zeigt  die  Kirche  zu  Eusserthal 
bei  Kaiserslautern-),  deren  Langhaus  nicht  mehr  besteht.  Die  Schlusswand 
des  Chores  ist  hier  durch  zwei  Reihen  rundbogiger  Fenster  würdig  belebt. 
Verwandt  ist  auch  die  Kirche  des  erst  im  Jahre  1170  gegründeten,  aber 
schnell  aufgeblühten  Klosters  zu  Zinna  bei  Jüterbog  =^).  Es  ist  eine 
schlichte  Pfeilerbasilika,  und  zwar  von  sehr  sorgfältig  behauenem  Granit. 
Strebepfeiler  fehlen,  die  Fenster  sind  lancetförmig,  die  Arcaden  spitz,  das 
Langhaus  mit  schmalen  Kreuzgewölben;  jedoch  aus  späterer  Zeit,  gedeckt, 
während  die  Kapellen  am  Kreuze  noch  Tonnengewölbe  haben.  Diese  Ka- 
pellen, je  zwei  anf  jeder  Seite,  und  die  Chornische  selbst  sind  inwendig  rund, 
äusserlich  polygonförmig  geschlossen;  sie  sind  indessen  überaus  niedrig  und 
sehr  schwach  beleuchtet.  Schon  das  Material  gebot  hier  die  höchste  Ein- 
fachheit ;  nur  die  Consolen  der  Gewölbträger  zeichnen  sich  durch  Verzierungen 
von  diamantirten  Stengeln  und  stylisirtem  Blattwerk  spät  romanischen  Styles 
aus,  welche  in  gebranntem  Thou  gearbeitet  und  dem  rohen  Granitblock 
angehängt  sind.  Auch  die  schöne,  jetzt  in  Ruinen  liegende  Kirche  von 
Walkenried  am  Harze,  die  im  Jahre  1207  begonnen,  aber  erst  1290 
geweihet  war  und  schon  eine  starke  Annäherung  au  die  Gothik  zeigt,  hatte 
wahrscheinlich  eine  ähnliche  Choranlage,  wie  dies  theils  die  erhaltenen 
Nachrichten,  theils  der  jetzige,  im  vierzehnten  Jahrhundert  aufgeführte  Chor- 
bau vermuthen  lassend  Eine  sonderbare  Modification  dieser  Anlage  zeigt 
die  Klosterkirche  von  Maulbronn.  Hier  sind  nämlich  auf  jeder  Seite  des 
viereckigen  Altarraumes  drei  kleine  Kapellen  angebracht,  jedoch  so,  dass 
sie  nicht  neben  dem  Kreuzschiflfe ,  sondern  an  der  Stelle  desselben  stehen 
und  im  Aeusseren  nicht  sichtbar  werden.  Die  Kreuzarme  sind  nämlich  ge- 
theilt,  so  dass  die  östliche  Hälfte  jene  drei  Kapellen  enthält,  die  westliche 
aber  einen  vor  demselben  liegenden  Gang  bildet.     Es  hängt  damit  zusammen. 


')  Mittelalter!.  Baudenkmäler  Niedei-saclisens.  Heft  10.  Hannover  1864.  —  Lübke 
a.  a.  0.  S.  119  und  Taf.  VHI.  —  Derselbe  im  Organ  für  christliche  Kunst  1853  S.  17bis 
19,  Bemerkung  von  v.  Quast  ebenda   S.  51. 

2)  Abbild,  bei  Sighart,  Gesch.  d.  Bild.  K,  in  Bayern  S.  253,  der  jedoch  irrig  das 
Kloster  den  Benedictinern  zuschreibt. 

3)  Otte,  bei  Puttrich,  Bd.  H,  Abth.  2,  Serie  Jüterbog,  S.  26,  setzt  sie  um  1216. 
Vgl.  die  Abbildungen  das.  Taf.  13  —  16. 

*)  Vgl.  die  Publication  von  Lotz  bei  v.  Quast  und  Otte,  Zeitschrift  II,  193  und 
die  von  Leuckfeld,  Antiquitates  Walkenriedenses,  Leipzig  1705,  gegebene  Beschreibung. 


328 


Cistercienserkircheii. 


Fig.  90. 


Riddagsliausen,    Chor. 


Fig.  91. 


dass  die  Kreuzarme  nicht  die  Höhe  des  Mittelschiffes  (die  hei  der  Enge  jener 
Abtheilungen  unverhältnissmässig  gewesen  sein  würden),  sondern  nur  die  der 
Seitenschiffe  haben,  wobei  denn  der  dadurch  ge- 
wonnene obere  Raum  je  einen,  für  klösterliche 
Zwecke  benutzten  Saal  bildet. 

In   einigen   anderen  Kirchen  finden   wir  diese 
Kapellenanlage  sehr  viel  reicher  entwickelt,  indem 
der  Chor  zwar  rechtwinkelig,  aber  von  grösserer 
Tiefe  und  auf  allen  seinen  drei  Aussenseiten  von 
einem  Umgange  und  daran  stossenden  Kapellen  be- 
gleitet ist.     Das  bedeutendste,  wenn  auch  nicht  das 
älteste  Beispiel  einer  solchen  Anlage  giebt  die  Kirche 
zu    Riddagshausen    bei    Braunschweig  ^).       Der 
Grundplan  besteht  zunächst  wiederum 
aus  einem  Langhause  von  vier  Gewölb- 
quadraten,   hier    mit    sehr   schmalen, 
noch  nicht  ein  Drittel  der  Mittelschiff- 
breite   haltenden    Seitenschiffen    und 
einem  um  etwas  mehr  als  diese  Seiten- 
schiffbreite   ausladenden  Kreuzschiffe. 
An  dieses  schliesst  sich  die  Choranlage, 
deren  innerer  rechtwinkelig  umgrenzter 
Theil  durch  zwei  Kreuzgewölbe    von 
der  Höhe  des  Mittelschiffes  gedeckt, 
und  von  einem,  nach  dem  Kreuzschiffe 
zu  geöffneten  Umgange  von  der  Breite 
und  Höhe  der  Seitenschiffe,  demnächst 
aber  von  vierzehn  niedrigen  und  kleinen 
viereckigen  Kapellen,  und  zwar  sechs 
auf  der  Ostseite  und  vier  auf  jeder 
der  beiden  anderen  ^Seiten,  umgeben 
ist,  welche  an  die  Ostseite  des  Kreuz- 
schiffes anstossen,  aber  nur  vom  Chor- 

1)  Zeitschrift  für  Bauwesen,  Berlin  1857.  Tafel  65  ff.,  Text  von  Ahlburg, 
S.  543  ff.  —  Schiller ,  die  mittelalterliche  Architektur  Braunschweigs  (1852),  giebt 
Grundriss  und  Beschreibung,  Kallcnbach's  Chronologie  Tafel  31  eine  Abbildung  des 
Chores.  Vgl,  auch  Lübke  im  D.  Kunstbl.  1851,  S.  83.  Riddagshausen  gehörte  zur 
Linie  von  Morimond,  dessen  Choranlage,  wie  wir  gesehen  haben,  eine  andere  war.  Eher 
scheint  die  hiesige  der  von  Citeaux  zu  gleichen,  indessen  zeigt  die  bei  Viollet-le-Duc 
nach  einer  älteren  Zeichnung  gegebene  Ansicht,  dass  daselbst  (wie  in  der  weiter  unten  zu 
beschreibenden  Kirche  von  Arnsburg)  Umgang  und  Kapellen  von  gleicher,  nicht  wie  in 
Riddagshausen  und  Ebrach  von  verschiedener  Höhe  waren. 


Riddagshausen. 


329 


Fig.   92. 


umgange  aus  zugänglich  sind.  In  französischen  Gebäuden  kommt  eine  solche 
Anordnung  des  Chores  nicht  vor,  ^Yohl  aber  in  einem  Entwurf  des  Villard 
de  Hounecourt,  bei  welchem  dahin  gestellt  bleiben  muss,  ob  er  die  Anregung 
dazu  bei  seinen  Reisen  in  Deutschland  erhalten  ^).  Der  Zweck  dieser  Anlage 
war  offenbar,  abgesonderte  und  dem  Volke  verschlossene  Kapellen  für  den 
Gebrauch  der  Mönche  zu  erhalten.  Zugleich  [aber  gab  sie  mit  ihren  zwei 
stufenweise  zu  dem  'höheren  inneren  Raum  aufsteigenden  Dächern  dem 
Aeusseren  des  Chores  eine  sehr  ernste,  dem  Sinne  dieses  Ordens  ent- 
sprechende Gestalt.  Eben  so  ernst  und  einfach  ist  die  ganze  Anordnung 
und  Ausstattung  des  Inneren.  Die  Dimensionen  sind  nicht  unbedeutend,  die 
allerdings  unverhältnissmässig  grosse  Länge  271,  die  Breite  des  Querarmes 
103,  die  des  Mittelschiffes  32,  die  Gewölbhöhe  über  70  Fuss.  Die  Pfeiler 
sind  kreuzförmig  gestaltet,  unter  den  Scheidbögen  und  in  den  Seitenschiffen 
mit  einer  einfachen,  im  Mittelschiffe  mit  dreifachen  vom 
Boden  aufsteigenden  Halbsäulen.  Alle  Bögen  an  Ge- 
wölben, Arcaden  und  Fenstern  sind  spitz,  über  den  eckig 
profilirten  Scheidbögen  aber  ist  noch  nach  romanischer 
Weise  ein  schachbrettartig  verziertes  Horizontalgesims 
angebracht.  Die  Oberlichter  stehen  paarweise  und  ohne 
Verzierung  unter  den  Scheidbögen  der  quadraten  Ge- 
wölbe; die  Kapitale  des  Langhauses  sind  schmucklose 
Kelche.  Im  Chore  ist  Alles  reicher  ausgestattet.  Die 
Oberlichter  bestehen  hier  aus  Gruppen  nicht  von  zwei, 
sondern  von  drei  Fenstern  unter  jedem  Gewölbe,  und 
sind  von  einem  eigenen,  auf  zwei  kleinen  Säulchen  ruhen- 
den Gurtbogeu  sehr  zierlich  eingerahmt.  Die  Kapitale 
und  Consolen  sind  wechselnd  und  geschmackvoll  verziert. 
An  einigen  der  ersten  findet  sich  der  sonst  nirgends 
vorkommende  Gedanke,  den  üebergang  des  Kelches  in  die  Deckplatte  durch 
eine  Eckverzierung,  ähnlich  dem  Eckblatte  der  Basis,  zu  vermitteln  2),  unter 
diesen  haben  mehrere  die  auffallende  und  seltene  Gestalt  eines  von  der 
Mauer  abgebogenen  Hornes^).      Wir  sehen  daher  wieder,  ähnlich  wie  in 


Riddagshausen. 


1)  Darcel  et  Lassiis,  Album  de  Villard  de  Hoiinecourt,  Paris  1858,  p.  XXVII: 
„vesci  une  glize  del  quarie  ki  fu  esgardee  a  faire  eu  lordene  dcistiaux".  —  Vgl. 
ebenda  S.  113  ff.,  Text  und  Anmerkungen. 

^)  Nur  in  der-  Kirche  zu  Roslieim  im  Elsass  hat  ein  Säulenkapiläl  ein  ähnliches 
Motiv.  (Chapuy's  moyen  äge  monumental  uro.  312.)  Da  diese  Kirche  und  dies  Kapital 
aber  älter  sind  und  ein  Zusammenhang  zwisclieu  Rosheim  und  Riddagshausen  nicht 
denkbar  ist,  so  ist  dies  wieder  ein  Beweis,  dass  ähnliche  Formen  im  Mittelalter  häufig 
mehrmals  unabhängig  entstanden  und  dass  man  aus  solchen  Aehnlichkeiten  nicht  auf 
eine  Herleitung  schliessen  darf. 

^)  In  Deutschland  kommen  solche  Consolen,    so    viel  ich  weiss,   nur    noch  in  der 


330  Cistercienserkirt'hen. 

Brorinbach;  höchst  originelle  Aeusserungen  eines  feinen  Geschmackes  un- 
geachtet der  hervorgebrachten  Einfachheit  der  Grundformen. 

Die  Zeit  des  Baues  steht  nicht  fest;  das  Kloster  ist  1145  gegründet, 
eine  Weihe  wird  erst  im  Jahre  1278  berichtet,  der  ganze  Charakter  des 
Baues  lässt  aber  darauf  schliessen,  dass  er  in  der  Zwischenzeit,  jedenfalls 
vor  1250,  im  Wesentlichen  vollendet  und  mithin  im  Anfange  des  Jahrhunderts 
begonnen  ist.  Namentlich  gilt  dies  von  dem  Chore.  Wenn  die  Bauschule 
des  Ordens  auch  die  reichere  Gliederung  des  gothischen  Styles  verschmähet 
hätte,  so  lag  jedenfalls  kein  Grund  vor,  da,  wo  sie  verzierte,  sich  an  den 
Geschmack  des  romanischen  Styles  zu  halten.  Hier  ist  aber  noch  kein  Ein- 
fluss  des  gothischen  Styles  zu  erkennen,  vielmehr  bestehen  die  Verzierungen 
der  Kapitale  durchweg  aus  romanischen  Formen  und  stylisirtem  Blattwerke. 
Nur  die  Ausführung  der  drei  westlichen  Gewölbquadrate,  vielleicht  sogar  die 
ganze  Ueberwölbung  des  Mittelschiffes  mag,  da  ihre  Rippen  in  einer  dem 
gothischen  Style  sich  annähernden  Weise  profilirt  sind,  aus  der  jener  Weihe 
unmittelbar  vorhergegangenen  Zeit  stammen^). 

Eine  merkwürdige  Uebereinstimmung  mit  dieser  Choranlage  hat  die 
der  reichen  Cistercienserabtei  zu  Ebrach  in  Franken.  Dieselbe  Zahl  der 
Pfeiler  und  der  Kapellen,  dieselbe  Abstufung  der  Höhenverhältnisse  des 
inneren  Chores  und  der  äusseren  Theile,  man  glaubt  den  Chor  von  Riddags- 
hausen  zu  sehen.  Nur  darin  besteht  eine  Verschiedenheit,  dass  die 
Kreuzarme  in  Ebrach  weiter  ausladen  und  daher  auf  ihren  östlichen  Seiten 
noch  eine  fernere  Nebenkapelle  haben.  Das  Langhaus  unterscheidet  sich 
von  jenem,  indem  es  nicht  quadrate,  sondern  schmale  Kreuzgewölbe,  nicht 
paarweise,  sondern  einzeln  stehende  und  spitzbogige  Fenster  hat,  auch  schon 


Sebalduskirche  zu  Nürnberg  und  in  der  Doniinikanerkirche  zu  Regensburg  (Kalleabacli 
Chronologie  Taf.  32),  ähnliche  aber  nicht  ganz  gleiche  auch  im  westlichen  QuerschifFe 
des  ßamberger  Domes  vor,  ausserhalb  Deutschlands  weiss  ich  nur  ein  Beispiel  in  der 
Kirche  von  Broadwater,  Grafschaft  Sussex;  indessen  sind  in  England  die  sehr  ver- 
wandten trichterförmigen  Consolen  in  spätnormannischen  und  noch  mehr  in  gothischen 
Bauten  dieser  und  der  folgenden  Epoche  sehr  gewöhnlich.  (Glossary  I,  s.  v.  Corbel, 
II,  Taf.  34.  35.)  Die  mitgetheilte  Zeichnung  verdanke  ich  der  Güte  des  Herrn  Dr.  C. 
Schiller  in  Braunschweig. 

1)  Für  die  (auch  von  Schiller  a.  a.  0.  S.  135  angenommene)  Meinung,  dass  die 
ganze  Kirche  der  Zeit  vor  1275  zuzuschreiben  sei,  liesse  sich  allerdings  der  Umstand 
anführen,  dass  auch  die  Dominikanerkirche  zu  Regensburg,  in  welcher  die  vorher 
erwähnten  Consolen  sich  in  ganz  gleicher  Weise  finden,  erst  um  1265  gebaut  ist.  In- 
dessen ist  der  Styl  beider  Kirchen  übrigens  so  sehr  verschieden,  dass  schon  ihre  Ver- 
gleichung  genügte,  das  frühere  Alter  von  Riddagshausen  zu  erweisen.  Auch  war  das 
Kloster  schon  lange  so  blühend,  dass  es  nicht  wohl  ohne  grössere  Kirche  gewesen  sein 
kann,  deren  Erneuerung  dann  wiederum  nicht  nach  so  kurzer  Zeit  nöthig  geworden 
sein  würde.  Schon  in  einer  Urkunde  vom  Jahr  1216  nennt  Kaiser  Otto  das  Kloster 
„dilectissima  nobis  ecclesia".     Jongelinus  a.  a.  0.  Lib.  III,  p.  32. 


Kloster  Ebrach-,  Arnsburg.  331 

durchweg  und  zwar  am  Oberschiffe  mit  ziemlich  ausgebildeten  Strebepfeilern 
versehen  ist.  Die  Kirche  ist  um  1200  begonnen,  aber  erst  1285  geweihet  ^),. 
und  die  Ausführung  des  Langhauses  mag  daher  erst  in  diese  spätere  Zeit 
fallen,  welcher  jedenfalls  die  reichen  Radfenster  der  Fagaden  angehören 
Der  Chor  stammt  dagegen  unzweifelhaft  vom  Anfange  des  Jahrhunderts^ 
was  sich  auch  durch  einen  äusseren  Umstand  erweisen  lässt.  Dem  nörd- 
lichen Kreuzarme  ist  nämlich  eine  bedeutend  niedrigere,  aber  in  Kreuz- 
gestalt angelegte  Kapelle  des  heil.  Michael  2)  dergestalt  angefügt,  dass  sie 
erst  nach  Vollendung  dieses  Kreuzarmes,  dessen  Mauern  ihr  zum  Theil  als 
Seitenwand  dienen ,  errichtet  sein  kann.  Diese  Kapelle,  mit  Ringsäulen  und 
Kleeblattarcaden  reich  geschmückt,  hat  aber  durchweg  Formen  des  Ueber- 
gangstyles,  nicht  unähnlich  der  Vorhalle  von  Kloster  Maulbronn,  wird  mithin 
spätestens  von  1230  bis  1240  begonnen  sein,  so  dass  der  Anfang  des  damals 
vollendeten  Chores  in  eine  sehr  viel  frühere  Zeit  fällt. 

Einige  andere  Kirchen  haben  dieselbe  Choranlage  in  vereinfachter 
Form.  So  zunächst  die  zu  Arnsburg  in  der  Wetterau^^),  deren  Grundplan 
sich  von  dem  von  Riddagshausen  nur  dadurch  unterscheidet,  dass  die  Seiten- 
schiffe etwas  breiter  sind  und  die  Kapellen  unmittelbar  und  ohne  Umgang 
an  den  inneren  Chorraum  austossen,  so  dass  sich  am  Aeusseren  nur  ein, 
tiefer  als  die  Seitenschiffe  gelegenes  Dach  um  den  rechtwinkeligen  Chor 
herumzieht.  Sie  sind  sehr  niedrig  und  nur  durch  Thüröffnungen  mit  einander 
verbunden,  auch  in  geringerer  Zahl.  Dafür  ist  aber  neben  ihnen  auf  jeder 
Ostseite  des  Kreuzes  noch  eine  mit  einer  kleinen  Nische  abschliessende 
Kapelle  angebracht,  auch  hat  die  mittlere  Kapelle  hinter  dem  Chore  eine 
solche  Nische.  Die  Details  deuten  auf  eine  etwas  frühere  Entstehung.  Die 
Pfeiler  sind  einfach  viereckig,  nur  in  den  Seitenschiffen  mit  einer  vom 
Boden  aufsteigenden  Halbsäule  versehen,  während  im  Mittelschiffe  eine  kurze 
auf  einer  Console  ruhende  Säule  die  Gewölbgurten  trägt;  das  Horizontalgesims 
fehlt  und  an  seiner  Stelle  sind  kleine  feusterartige  und  schmucklose  Oeff- 
nungeu,  ähnlich  wie  in  St.  Germer  in  der  Picardie  und  in  Heisterbach  an- 
gebracht, welche  den  Dachraum  der  Seitenschiffe  beleuchten.  Die  Basis  ist 
die  attische,  mit  einfachem,  wohlgebildetem  Eckblatte,  die  Kapitale  sind 
theils  würfelförmig,  theils  kelchförmig  mit  knospenartigem  Blattwerk,  die 


1)  Brevis  notitia  Moiiasterii  B.  V.  M.  Ebraceiisis,  Romae  1793.  Die  Dimensionen- 
sind  noch  bedeutender  als  in  Riddagshausen,  die  gesanimte  Länge  294,  die  Breite  des- 
Langhauses 81,  die  Höhe  90  Fuss. 

-)  Der  Verfasser  der  ebengenannten  Schrift  vermuthet  (S.  31),  dass  diese  Kapelle 
an  Stelle  der  ursprünglichen  kleinen  Kirche  des  Klosters  und  zum  Andenken  an  dieselbe 
errichtet  sei.  Dadurch  erklären  sich  sowohl  die  Kreuzgestalt  wie  die  eigenthüralichen 
und  künstlich  ausgeglichenen  Unregelmässigkeiten  der  Anlage. 

3)  Gladbach  a.  a.  0.  Taf.  52  —  60. 


332  Cistercienserkirchen. 

Fenster  säramtlich  rundbogig,  ebenso  die  Arcaden  mit  Ausnahme  der 
in  den  drei  westlichen  Quadraten,  welche  aus  einfachen,  eckig  profi- 
iirten  und  mit  einem  Gurtbogen  unterzogenen  Spitzbogen  bestehen. 
Nach  den  historischen  Nachrichten  wurde  das  Kloster  an  dieser  Stelle  im 
Jahre  1174  gegründet  und  um  1215  reich  beschenkt.  Wahrscheinlich 
stammt  daher  der  Bau  ungefähr  aus  dieser  Zeit;  das  Kapitelhaus,  welches 
dieselben  Kapitale,  aber  übrigens  frühgothische  Formen  zeigt,  wird  dann 
etwa  um  1250  den  Schluss  dieser  Bauthätigkeit  gebildet  haben. 

Aehnlich  ist  ferner  die  im  Jahre  1222  geweihete  Kirche  zu  Marien- 
feld bei  Güterslohe  in  Westphalen  ^),  auch  sie  mit  rechtwinkeligem  Chor- 
schlusse  und  niedrigem  Umgänge,  in  welchem  sich  jedoch  keine  Zwischen- 
mauern zur  Abtheilung  der  Kapellen  befinden.  Die  Arcaden  sind  spitz,  die 
Fenster  mit  Ausnahme  des  Kreuzschiffes  im  Rundbogen  geschlossen;  die 
Gewölbträger  ruhen  auch  hier  auf  einem  Bündel  von  kleinen,  von  einer 
Console  getragenen  Säulen,  deren  Abacus  in  das  Horizontalgesims  fällt. 
Die  Anordnung  weicht  in  sofern  von  den  bisher  genannten  Cistercienserkirchen 
ab,  als  die  Pfeiler  völlig  unverziert  und  von  ungewöhnlicher  Breite  sind; 
und  die  Arcaden  zwischen  ihnen  auf  einer  Säule  ruhen.  Die  Erbauer  haben 
sich  also  in  dieser  Beziehung  an  den  westphälischen  Uebergangcstyl  ange- 
schlossen. 

Aehnliche  Choranlage  hatte  ursprünglich  die  Kirche  zu  Marienthal 
bei  Helmstedt,  eine  noch  jetzt  erhaltene  flach  gedeckte,  sehr  schmucklose 
Pfeilerbasilika  aus  dem  zwölften  Jahrhundert,  an  deren  Chorwand  die  ruud- 
bogigen  Oeffnungen  der  abgebrochenen  Kapellen  noch  zu  erkennen  sind-), 
und  haben  noch  jetzt  die  freilich  nur  als  Stall  und  Scheuer  dienende  Kirche 
des  ehemaligen  Cistercienser-Nonnenklosters  St.  Burchard  bei  Halberstadt; 
der  dem  romanischen  Langhause  angefügte  frühgothische  Chor  der  Kloster- 
kirche zu  Amelunxborn  an  der  Weser,  dieser  jedoch  ohne  Scheidewände 
der  Kapellen,  und  in  anderer  Weise  vereinfacht,  und  endlich  die  schon  im 
entwickelten  gothischen  Style  erbaute,  später  ausführlich  zu  würdigende 
Kirche  des  Cistercienserklosters  Salem  am  Bodensee,  wo  der  Chor  jeder- 
seits  zwei  Seitenschiffe  hat,  seine  Ostseite  aber  mit  gerader  Wand  schliesst. 
Aehnliches  scheint  schon  bei  dem  Kloster  Hude  im  Oldenburgischen,  aus 
dem  zweiten  Viertel  des  13.  Jahrhunderts,  der  Fall  gewesen  zu  sein  2). 


1)  Lübke  a.  a.  0.  S.  141  und  Taf.  VIII, 

2)  Lübke  im  Organ  für  christI,  Kunst  1853,  Nro.  1. 

**)  Von  der  Kirche  zu  Hude  (in  der  Ordenssprache  Portus  S.  Mariae)  stehen  nur 
noch  Ruinen,  welche  später  ausführlicher  gewürdigt  werden  sollen.  Ein  vorhandenes 
Mauerstück  deutet  darauf  hin,  dass  auf  der  Ostseite   des  rechtwinkeligen  Chores  keine 


Andere  Formen  des  Chorschlusses.  33S 

In  anderen  Cistercienserkirchen  ist  die  Choranlage  minder  eigenthümlich. 
Die  zu  Heilsbronn  in  Franken^),  zu  Roda  in  Sachsen,  zu  Hayna  in 
Hessen,  die  erst  im  vierzehnten  Jahrhundert  erbaute  zu  Pelplin  iuPreussen 
haben  zwar  viereckige  Chorräume,  aber  ohne  Kapellen.  Ebenso  die  schöne 
Kirche  zu  Otterberg  bei  Kaiserslautern,  die  bereits  oben  (S.  270)  be- 
schrieben ist.  An  das  Langhaus,  dessen  Formen  völlig  dem  Styl  der  Cister- 
cienser  entsprechen,  schliesst  sich  das  sehr  schmale  Kreuzschiff  und  an  dieses 
ohne  Nebenkapellen  der  viereckige  Altarraum  an,  der  jedoch  im  Osten  mit 
einer  sehr  flachen,  aus  drei  Polygonseiten  gebildeten  Nische  endet.  Diese 
Nische,  die  kaum  eine  Raumerweiterung  oder  sonst  irgend  einen  praktischen 
Nutzen  gewährte,  zeigt  recht  deutlich,  dass  die  Vorliebe  für  den  geraden 
Chorschluss  nicht  auf  irgend  einer  Vorschrift,  sondern  nur  auf  Gewohnheit 
und  Sparsamkeit  beruhete.  Auch  verlor  sich  diese  Sitte  immer  mehr  und 
während  sie  im  zwölften  Jährhundert  in  der  That  die  Eegel  bildet,  kommt 
im  dreizehnten  die  runde  oder  polygone  Apsis  häufiger  vor.  Eine  sehr 
eigenthümliche  Erscheinung  giebt  in  dieser  Beziehung  die  Kirche  zu  Lilien- 
feld in  Oesterreich,  eine  Stiftung  Herzog  Leopolds  VH.,  der  den  Bau  1202 
begann  aber  erst  vier  Jahre  darauf  den  Cisterciensern  übergab.  Sie  erhielt 
schon  1220  in  Verbindung  mit  der  Beisetzung  des  kurz  vorher  verstorbenen 
Stifters  eine  Weihe,  ohne  Zweifel  nur  der  östlichen  Theile.  Diese  bestehen 
nur  aus  einem  hohen  von  fünf  Seiten  des  Zehnecks  geschlosseneu  Altarhause 
das  dann  aber  äusserlich  auf  allen  drei  Seiten  von  niedrigen,  doppelten 
Seitenschiffen  umgeben,  gewissermaassen  rechtwinkelig  eingerahmt  ist. 
Dieser  Umgang  des  Chores  scheint,  obgleich  er  neben  spitzen  Arcaden  noch 
rundbogige  Fenster  hat,  ein  späterer  Anbau  zu  sein,  den  man  hinzugefügt 
hat,  um  die  ungewöhnliche,  von  dem  fürstlichen  Stifter  angeordnete  Chor- 
anlage mit  den  Sitten  des  Ordens  zu  vereinigen.  Um  dieselbe  Zeit  begann 
man  aber  an  anderen  Orten  schon  sich  freier  zu  bewegen-).  Die  Kirche 
zuHeisterbach  vom  Jahre  1202,  die  ich  oben  ausführlich  beschrieben  habe 


Kapellen  waren,  während  dahiogestelll  bleiben  mnss ,  ob  die  Nebenschitt'e  des  Chors 
—  nur  eins  befand  sich  an  jeder  Seite  —  offen  oder  in  Capellen  getheilt  waren. 
Vg-I,  die  Mittelalterlichen  Baudenkmäler  Niedersachsens.     Neutes  Heft.     Hannover  1863. 

')  Der  jetzige  polygone  Chor  ist  spätgothisch  und  eine  Verlängerung  des  ursprüng- 
lichen Gebäudes,  welches  anscheinend  rechtwinkelig  mit  Seitenschiffen,  aber  ohne  Ka- 
pellen, schloss.  Vgl.  den  Grundriss  in  des  Freiherrn  v.  Stillfried  Alterth.  und  Kunsl- 
denkmälern  des  Hauses  Hohenzollern. 

2)  Der  nach  den  vorgefundenen  Ueberresten  der  zerstörten  Cistercienserkirche 
Hradist  (Gradii)  bei  Müuchengrätz  restaurirte ,  in  den  Mitth.  d.  k.  k.  Centr.-Comni. 
Bd.  IX,  (1864)  S.  138  abgedruckte  Grundriss  dieser  Kirche  nimmt  eine  Clioranlage  an, 
welche  mit  der  von  Lilienfeld  genau  übereinstimmt.  Allein  jene  Ueberreste  berechtigen 
dazu    keineswegs,   es  ist   nicht  die   mindeste    Spur   der    polygonförmigen    Anlage    vor- 


334 


Cistercienserkirclien. 


und  deren  interessante  Eigenthümlichkeiten  den  strebsamen  Geist  des  Ordens 
von  seiner  günstigsten  Seite  zeigen,  hat  einen  halbkreisförmigen  Umgang 
zwar  mit  tiefen  Nischen,  aber  ohne  Kapellen,  welche  jedoch  auf  der  Ostseite 
des  Kreuzes  nicht  ganz  fehlen.  Nicht  lange  darauf  wurde  dann,  wie  dies 
schon  in  Longpont  in  der  Picardie  geschehen  war,  die  reiche  Form   des 


Fig.  Ö3. 


Chor  der  Kirche  zu  Lilienfeld. 


Kapellenkranzes  auch  in  deutschen  Cistercienserkirchen  angewendet,  wie 
dies  die  später  zu  erwähnenden  Kirchen  von  Marienstatt  und  Altenberg 
beweisen  ^) 


fanden,  und  die  sechs  üstliclien  Joche  eines  niedrigen  Umganges,  die  man  gefunden, 
lassen  sich  ebensowohl  und  mit  grösserer  Wahrscheinlichkeit  auf  eine  Choranlage  wie 
in  Riddagsliausen,   also   mit  durchaus  rechtwinkeliger  Anlage  vereinigen. 

1)   An  der  freilich  erst  nach  der  Mitte  des  13.  Jalirh.  erbauten  Cistercienserkirclie 
zu  Hohen  fürt  im  südlichen  Böhmen    bat   man  die  Vorliebe  für  gerade  Schlusswände 


Länder  des  Backsteinbaues.  335 

In  den  Ländern  des  Backsteinbaues  treten  die  Eigenthümlichkeiten  der 
Cistercienser-Bauten  minder  deutlich  hervor,  weil  das  Material  den  künst- 
lerischen Traditionen  des  Ordens  von  Hause  aus  fremd  war  und  sie  folglich 
bei  seiner  Anwendung  entschiedenere  locale  Einflüsse  erfuhren.  Dies  gilt  von 
den  Formen  wie  von  dem  Grundrisse.  Die  schon  oben  (S.  307)  erwähnte 
Kirche  von  Dobrilugk  zeigt  in  ihrer  Anlage  kaum  irgend  eine  der  cha- 
rakteristischen Eigenheiten  der  Cistercienser.  Die  schöne  Kirchen-Ruine 
des  1180  gestifteten  Klosters  Lehnin  in  der  Mark  Brandenburg i)  hat 
ebenfalls  eine  halbkreisförmige  Apsis  und  zwar  mit  zwei  Fensterreihen,  in 
den  Ecken  von  Chor  und  Querhaus  liegt  jederseits  eine  quadrate  Kapellen- 
Gruppe,  mit  vier  Kreuzgewölben  bedeckt  und  nur  in  ihrer  östlichen  Hälfte 
durch  eine  Zwischenwand  geschieden.  Die  Vollendung  erfolgte  erst  1262, 
aber  die  Osttheile,  das  zunächst  liegende  Doppeljoch  des  Langhauses  ein- 
geschlossen, sind  viel  früheren  Ursprungs,  ebenso  die  ruudbogigeu  Arcaden 
des  Westbaues,  die  aber  in  der  Folge  von  Spitzbogenblendeu  umrahmt 
wurden,  und  zwischen  denen  sich,  über  dem  je  zweiten  Pfeiler,  in  mehreren 
Abstufungen  breite  Dienste  zur  Aufnahme  der  Gewölbgurten  auskragten; 
auch  die  paarweise  gestellten  Oberlichter  sind  spitzbogig  und  in  dem  Gurt- 
gesimse mit  Blattwerk,  das  sich  innen  unter  dem  Fuss  der  Fenster  hinzieht, 
sowie  in  dem  Felderfriese  aniAeusseren  der  Ostseite  zeigen  sich  neue  orna- 
mentale Formen.  —  Auch  die  schon  erwähnten  Ordenskirchen  von  Colbatz 
in  Pommern  und  von  Oliva  bei  Danzig-)  haben  den  polj"gonen  Chor, 
während  die  Ruinen  von  Eldena  bei  Greifswald  wieder  geraden  Chorschluss 
und  jederseits  zwei  Ostkapellen  zeigen^). 

Ueberhaupt  verschwindet  die  Eigeuthümlichkeit  der  Cistercienserbauten 
allmälig;  die  ursprüngliche  Scheu  vor  reicheren  Formen  Hess  nach;  die 
Kirchen  selbst  behielten  zwar  einen  einfacheren  Charakter,  aber  man  ge- 
stattete sich  Kebenkapellen,  Vorhallen  und  Kreuzgänge  decorativ  zu  schmük- 
ken.  Auch  erhielt  der  locale  Styl  jeder  Gegend  jetzt  grösseren  Einfluss, 
Die  neuen  Stiftungen  gingen  nicht  mehr  unmittelbar  von  Frankreich,  sondern 
von  älteren  deutscheu  Klöstern  aus  und  wurden  gleich  anfangs  durchweg 
mit  einheimischen  Mönchen  besetzt;  die  französischen  Mutterklöster  behielten 
zwar  ihre  hierarchische  Obergewalt,  aber  sie  fanden  es  nicht  mehr  nöthig 


so  sehr  aufgegeben,  dass  neben  der  mit  füuf  Seiten  des  Achtecks  geschlossenen  Chor- 
nische von  den  zwei  auf  jeder  Seite  sich  anfügenden  Kapellen  die  äussersien  mit 
einem  spitzen  Winkel  ,  also  mit  der  Spitze  eines  Dreiecks  endigen.  Mitth.  der  k.  k. 
C.-Com.     Bd.  VI.  S.  15. 

^)  Adler ,  Mittelalter!.  Backsteiubauw.  Taf.  53  —  GO  (noch  oline  Text).  — 
Heffter,  Geschichte  des  Klosters  Lehnin,  Brandenburg  1851. 

2)  S.  oben  S.  311. 

^)  Ebenda. 


336  ^^"^  Einfluss  der  Cistercienser, 

nnd  angemessen,  die  unterrichteten  und  angesehenen  deutschen  Aebte  auch 
bei  Gegenständen  des  praktischen  Nutzens  oder  der  Schicklichkeit  einer 
speciellen  Leitung  zu  unterwerfen.  I^ese  waren  daher  selbständiger  und 
folgten  mehr  den  Gebräuchen  ihres  Landes.  Allerdings  kam  dann  in  archi- 
tektonischer Beziehung  auch  dazu,  dass  die  einheimischen  Gewohnheiten  sich 
dem  Herkommen  des  Ordens  mehr  genähert  hatten.  Der  Spitzbogen,  die 
Wölbung,  die  Strebepfeiler  waren  nun  schon  allgemeiner  geworden,  die 
Cistercienser  wichen  daher  nicht  mehr  von  der  Landessitte  ab,  wenn  sie  in 
diesen  Beziehungen  ihren  eigenen  Traditionen  folgten.  Aber  dennoch  be- 
merkt man  in  ihren  Bauten  noch  bis  um  die  Mitte  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts manche  Spuren  eines  engeren  Zusammenhanges  mit  Frankreich, 
vermöge  dessen  sie  noch  jetzt  in  gewissen  Neuerungen  den  übrigen  Bauten 
ihrer  Provinz  vorangingen,  und  endlich  trugen  sie  durch  ihre  Verbreitung  dazu 
bei,  die  Verschiedenheiten  der  einzelnen  Theile  Deutscljlands  mehr  und  mehr 
auszugleichen. 

Dies  Alles  gestattet  uns,  die  Bedeutung  der  Cistercienser  für  die 
Baugeschichte  überhaupt  und  namentlich  für  Deutschland  näher  zu  würdigen. 
In  Frankreich  übten  sie  keinen  erheblichen  Einfluss  aus.  Sie  gaben  eben 
nur  die  vereinfachten  Formen  des  einheimischen  Styles,  verhielten  sich  also 
zu  diesem  wie  die  klösterliche  Strenge  zu  dem  allgemeinen  Leben  der  Nation- 
In  Deutschland  dagegen  brachten  sie  neue  und  praktisch  nützliche  Formen 
mit,  welche  sich  zur  Annahme  empfahlen.  Sie  machten  die  Wölbung,  welche 
bis  gegen  das  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  in  Deutschland  nur  selten 
angewendet  war,  populär  und  lehrten,  sie  mit  Hülfe  des  Spitzbogens  und 
anstrebender  Stützen  zu  sichern.  Sie  waren  gewisserraaassen  Missionäre, 
welche  die  Grundsätze  der  französischen  Architektur  bei  anderen  Völkern 
verbreiteten.  In  Deutschland  gelang  ihnen  dies  um  so  mehr,  als  sie  den 
französischen  Styl  nicht  vollständig,  nicht  als  abgeschlossenes  System,  sondern 
mit  Vereinfachungen  und  Aenderungen  ausübten,  welche  den  einheimischen 
Sitten  und  Ansichten  zusagten.  Der  gothische  Styl  begann  in  Frankreich 
mit  der  Anwendung  der  Säule;  die  Cistercienser  zogen,  wie  es  in  Deutsch- 
land üblich  war,  den  einfachen  Pfeiler  vor.  Er  adoptirte  die  Gallerien  über 
den  Seitenschiffen  und  behielt,  als  er  sie  aufgab,  eine  ähnliche  Belebung  des 
Oberschiffes  vermöge  der  Triforien  bei;  die  Cistercienser  hatten  sie  gleich 
anfangs  verworfen  und  nichts  an  ihre  Stelle  gesetzt^  und  ebenso  war  man 
in  Deutschland  meistens  an  schlichte,  höchstens  von  einem  Gesimse  durch- 
schnittene Wände  des  Oberscbiffes  gewöhnt.  Ueberhaupt  hatte  die  deutsche 
Architektur  durchweg,  wenn  auch  nicht  überall  in  derselben  Weise  wie  in 
Westphalen  und  in  den  Ländern  des  Ziegelbaues,  eine  Neigung  für  ein- 
fachere Formen,  mit  welcher  die  Richtung  der  Cistercienser  übereinstimmte. 
Dazu  kam,  dass  auch  bei  diesen,  wie  in  Deutschland,  die  Einfachheit  der 


Der  Spitzbogen  und  die  Wölbung.  337 

wesentlichen  Formen  die  Neigung  zu  sorgfältiger  und  anmuthiger  Ausbildung 
der  Details  erzeugte.  Alles  begünstigte  daher  eine  Verschmelzung  ihrer  aus 
Frankreich  mitgebrachten  Traditionen  mit  den  einheimischen,  welche  dazu 
beitrug,  die  noch  vorherrschende  Anhänglichkeit  an  den  romanischen  Styl 
zu  brechen  und  die  Aufnahme  von  Elementen  des  gothischen  Systems  in 
den  deutschen  Uebergangsstyl  zu  erleichtern.  Mit  der  vollkommenen  Herr- 
schaft des  gothischen  Styles  in  Deutschland  hörte  diese  Art  des  Einflusses 
auf.  Aber  dennoch  behielten  die  Bauten  der  Cistercienser  auch  jetzt  noch 
eine  gewisse  Eigeuthümlichkeit.  Sie  unterliegen  nicht  der  Monotonie,  welche 
in  den  Bauten  der  weltlichen  Meister  bald  eintritt;  sie  zeigen  noch  immer 
das  Geschick  mit  massigen  Mitteln  günstige  und  anmuthige  Wirkungen  her- 
vorzubringen und  den  üblichen  Formen  durch  eine  neue,  ungewohnte  Ver- 
wendung einen  höheren  Reiz  zu  geben,  "Wir  werden  weiter  unten  Gelegen- 
heit haben,  auf  mehrere  dieser  Bauten  aufmerksam  zu  machen. 


Das  Aufkommen  neuer  und  die  Umgestaltung  der  romanischen  Formen 
hing  fast  überall  mit  der  Einführung  der  vollständigen  Ueberwölbung, 
namentlich  auch  des  Mittelschiffes  grösserer  Kirchen,  zusammen.  Diese 
erfolgte  aber  in  den  meisten  Gegenden  erst  sehr  spät,  und  noch  am  Anfange 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  gehörten  ausserhalb  der  Kheinlande,  West- 
phalens,  jener  Gruppe  sächsischer  Kirchen,  denen  der  Dom  zu  Braunschweig 
zum  Vorbilde  gedient  hatte,  und  einiger  Bauten  in  den  Ländern  des  Ziegel- 
baues grössere  Gewölbe  zu  den  sehr  seltenen  Ausnahmen.  Wir  sahen  schon 
oben,  wie  isolirt  im  Würtembergischen  die  'Stiftskirche  zu  Ellwangen,  in 
Bayern  die  zu  Altenstadt  bei  Schongau  als  die  einzigen  grösseren  rundbogigeu 
und  überwölbten  Kirchen  dastehen. 

Wie  es  scheint,  hielt  mau  in  den  meisten  Gegenden  die  Anlegung  von 
einfachen,  bloss  durch  das  Durchschneiden  zweier  Tonnengewölbe  gebildeten 
Kreuzgewölbe  über  dem  Mittelschiffe,  wie  man  sie  im  Dome  zu  Braunschweig 
noch  hatte,  für  zu  gewagt  oder  schwierig,  und  entschloss  sich  erst  dann  zur 
Ueberwölbung  dieser  weiten  Räume,  nachdem  man  gelernt  hatte,  das  Kreuzge- 
wölbe durch  Diagonalrippen  zu  verstärken  und  die  abweichenden  Höhenverhält- 
nisse der  verschiedenen  Gurten  mit  Hülfe  des  Spitzbogens  besser  auszugleichen. 
Diese  Kenntniss  verbreitete  sich  einige  Zeit  nach  1200  allmälig  über  ganz 
Deutschland,  und  man  versuchte  nun,  wo  bedeutende  Neubauten  auszuführen 
waren,  diese  Mittel  einer  solidereu  Construction,  zunächst  noch  mit  Bei- 
behaltung der  romanischen  Details,  soweit  sie  nicht  durch  jene  Neuerung 
modificirt  wurden,  in  Anwendung  zu  bringen.  Es  bildete  sich  dadurch  eine 
höhere  Schule  der  Architektur;  während  die  Meister  bisher  sich  mit  dem 

Schnaase's  Kunstgesch.  2.  Aufl.  V.  22 


338  Weitere  Verbreitung  des  Uebergangsstyls. 

Herkommen  ihrer  Provinz  oder  ihres  Ordens  begnügt  hatten  und  nur  allmälig 
und  unvermerkt  zu  Neuerungen  und  Fortschritten  gelangt  waren,  gab  qs 
nun  nicht  wenige,  welche  bewusster  Weise  nach  Erweiterung  ihrer  statischen 
Kenntnisse  und  nach  einem  constructiven  Ziele  strebten,  und  durch  dies 
Streben  unter  einander  verbunden  waren.  Es  schloss  dies  die  Anhänglich- 
keit an  die  einheimischen  Formen  nicht  aus,  aber  es  modificirte  sie  und 
führte  unvermerkt  zu  einem  allgemein  deutschen,  die  Provincialschulen  ver- 
bindenden Typus.  Daher  finden  wir  auf  den  entferntesten  Punkten  einzelne 
Kirchen,  welche  nicht  von  einem  Muster  herstammen,  sondern  dem  ab- 
weichenden Herkoramen  ihrer  Provinzen  gemäss  verschieden  sind,  aber  doch 
sämmtlich  in  Hinsicht  auf  Wölbungsart  und  Verbindung  runder  und  spitzer 
Bögen  übereinstimmen.  Sie  haben  alle  quadrate  Gewölbe,  gegliederte,  aber 
noch  aus  dem  Rechteck  entwickelte  Pfeiler,  spitze  Scheidbögen  und  Gewölbe, 
aber  rundbogige  Portale  und  Fenster.  Die  gewölbtragenden  Pfeiler  sind  auf 
der  Frontseite  gewöhnlich  mit  einer  Gruppe  von  ununterbrochen  aufsteigenden 
Diensten,  auf  den  drei  anderen  Seiten  mit  einzelnen  kleinen  Halbsäulen 
besetzt.  Die  Nebenpfeiler  haben  nur  diese  und  sind  auf  der  Frontseite 
meistens  glatt.  Der  Würfelknauf  ist  meistens  verlassen,  und  bald  durch 
ein  einfaches  Polstergesimse,  bald  durch  ein  Kelchkapitäl  mit  flachen 
Eankenverschlingungen  oder  knospenförmigem  Blattwerk  ersetzt.  Der 
Bogenfries  und  die  Friesornamente  des  alten  Systems  sind  beibehalten,  die 
Gesimse  eckig  oder  als  Rundstab  profilirt,  ohne  Spur  der  feineren  Höhlungen 
des  gothischen  Styles;  das  Fenstermaasswerk  ist  unbekannt.  Leider  fehlt 
es  bei  vielen  dieser  Bauten  an  festen  Daten;  sie  sind  älterer  Stiftung,  und 
die  Nachrichten  über  ihren  Um-  oder  Neubau  fehlen  oder  sind  mangelhaft. 
Daher  hat  man  sie  wohl  auf  jene  Stiftungszeiten  zurückführen  und  die 
Kenntniss  des  Spitzbogens  in  Deutschland  in  eine  frühe  Zeit  verlegen 
wollen^).  Dieser  Annahme  widerspricht  jedoch  die  ganze  Gestaltung  dieser 
Kirchen ;  auch  abgesehen  von  dem  Spitzbögen  sind  alle  übrigen  Formen, 
Pfeiler,  Profilirungen,  Ornamente  von  der  Art,  wie  sie  nur  an  späteren 
Monumenten  vorkommen  und  nach  dem  naturgemässen  Entwickelungsgange 
der  Baukunst  nur  später  entstehen  konnten,  Wir  müssen  sie  daher  frühestens 
in  die  letzten  Jahrzehnte  des  zwölften,  mit  grösserer  Walirscheinlichkeit  in 


1)  Diese  Hypothese  ist  besonders  ausgeführt  in  einer  Jugendarbeit  des  Dr.  R.  Lep- 
sius,  der  sich  später  durch  seine  Forschungen  auf  dem  Gebiete  ägyptischer  Kunst  und 
Chronologie  berühmt  gemacht  hat,  und  zwar  in  einem  Nachtrage  zu  der  Uebersetzung 
der  Reise  des  Gally  Knight  durch  die  Normandie  (Leizig  1841).  Die  Kirchen,  welche 
er  als  Beispiele  anführt,  sind  die  Dome  zu  Naumburg,  Merseburg,  Basel  und  Bamberg, 
die  Klosterkirche  zu  Memlebeu,  die  Stadtkirche  zu  Freiburg  an  der  Unstrut,  und  die 
Sebalduskirche  zu  Nürnberg.  Kugler  widersprach  sogfleich  (Kunstblatt  1842,  Nro,  75; 
kl.  Sehr.  II,  S.  375)  dieser  Ansicht,  welche  jetzt  keinen  Vertheidiger  mehr  findet. 


Stiftskirclie  in  Fritzlar.  339 

■die  ersten  des   dreizehnten  Jahrhunderts  verweisen,  wo   denn  auch  einige 
dieser  Gebäude  ein  ganz  bestimmtes  Datum  haben. 

Das  älteste  derselben  ist  vielleicht  die  Stiftskirche  zu  Fritzlar  in 
Hessen.  Der  Chor  derselben,  polygonförmig  mit  Lisenenfeldern  und  Zwerg- 
gallerie,  gleicht  dem  der  Paulskirche  zu  Worms  ^j,  und  ist  entschieden 
rheinischen  Ursprungs;  man  wird  ihn  vielleicht  der  Herstellung,  welche  der 
Erzbischof  von  Mainz  im  Jahre  1171  anordnete,  zuschreiben  können.  Das 
Schiff  der  Kirche  wird  dann  nach  Beendigung  des  Chorbaues  um  1200  be- 
gonnen sein.  Es  macht  einen  sehr  ernsten,  aber  durchaus  primitiven  Ein- 
druck; man  sieht,  dass  die  noch  neue  und  schwierige  Aufgabe  der  Her- 
stellung eines  Gewölbebaues  den  Meister  ganz  in  Anspruch  nahm  und  ihn 
abhielt,  auf  feinere  Formen  zu  denken.  Die  Pfeiler  sind  regelmässig  aus 
viereckigem  Kern  gebildet,  die  schwächeren  mit  Halbsäulen  auf  allen  vier 
Seiten,  die  stärkeren  unter  den  Scheidbögen  mit  einer  Pilastervorlage,  unter 
den  Gewölben  der  Schiffe  mit  einem  Bündel  von  drei  kräftigen  hoch  hinauf- 
steigenden Diensten.  Die  Basis  hat  steile  attische  Form  und  Eckblätter, 
das  Kapital,  das  gesimsartig  um  den  Pfeiler  herumläuft,  die  Gestalt  eines 
unverzierten  Wulstes,  dem  dorischen  Echinus  ähnlich,  mit  einer  reich  aber 
roh  profilirteu  Deckplatte.  Die  Scheidbögen  sind  spitz,  aber  wie  früher  in 
einigen  rundbogigen  sächsischen  Kirchen,  namentlich  in  Drübeck  und  Ilsen- 
burg, paarweise  durch  einen  grösseren,  die  stärkeren  Pfeiler  verbindenden 
Bogen  überspannt,  ohne  Zweifel  behufs  Erleichterung  der  unteren  und  Ver- 
stärkung der  oberen  Mauer.  Die  rundbogigen  Oberlichter  stehen  paarweise, 
aber  unverbunden  unter  jedem  Gewölbe.  Die  Profile  der  Gewölbgurten  sind 
schwer,  eckig  und  im  Chor  mit  Rundstäben  eingefasst.  Einer  etwas  späteren 
Periode  gehört  die  reiche  westliche  Vorhalle  an,  welche  der  Front  in  ihrer 
ganzen  Breite  mit  Ausnahme  des  südlichen  Thurmes  vorliegt,  wo  ursprünglich 
wohl  ein  früherer  Anbau  ihr  eine  Grenze  setzte.  Wahrscheinlich  ist  sie  erst 
nach  dem  Jahre  1233  entstanden,  in  welchem  Landgraf  Konrad,  der  nach- 
herige Hochmeister  des  deutschen  Ordens,  die  Kirche  zur  Sühne  für  die  im 
Kriege  entstandenen  Bechädigungen  beschenkte-).    In  allen  Einzelformen, 


*)  Vgl.  den  Chor  von  Fritzlar,  hei  Gladhach  a.  a.  0.  Taf.  24,  mit  dem  von  Worms, 
bei  Moller  Bd.  II,  Taf.  15.  —  Näheres  über  die  ganze  Kirche  nebst  einigen  Profil- 
zeichnungen in  Kugler's  kl.  Sehr.  II,  158.  —  Neuerdings  vortrefflich  publicirt  von  H. 
V.  Dehn-Rotfelser  und  F.  Hoffmann  in  Band  I.  der  Mittelalter!.  Baudenkmäler  in  Kur- 
hessen. —  Vgl.  auch  Dehn-Rotfelser  und  Lotz,  die  Baudenkmäler  im  Regierungsbezirk 
Cassel.     1870.  —  Förster,  Denkmale,  Bd.  XI. 

^)  Chronicon  Erfordiense  bei  Böhmer,  Fontes  rer.  germ.  II,  399.  Von  einer  gänz- 
lichen Zerstörung  der  Kirche  ist  offenbar  nicht  die  Rede;  es  wird  zwar  im  Allgemeinen 
von  einem  Brande  der  Kirchen  von  Fritzlar  gesprochen,  aber  es  wird  als  Hauptfrevel 
die  Zerstreuung  der  Hostien  auf  dem  Bodeu  der  Kirche  angeführt. 


3^Q  Weitere  Verbreitung-   des  Uebergangsstyls. 

in  den  Pfeilern,  auf  welchen  innen  die  spitzbogigen,  rippenlosen  Kreuz 
gewölbe  ruhen,  in  den  schlanken  Säulen,  welche  die  Fenster  theilen  und 
die  Wandungen  gliedern,  in  dem  mit  Ringen  besetzten  Wulst  der  Bogen- 
leibung  über  dem  Portal,  in  der  gleichzeitigen  Anwendung  von  Rundbögen 
Spitzbögen,  Kleeblattbögen  tritt  der  Einfluss  des  rheinischen  Styles  deutlich  her- 
vor. Aber  die  Verbindung  dieser  Bogenformen  ist  nicht  bloss  ein  decoratives 
Spiel,  sie  ist  vielmehr  in  höchst  geschickter  Weise  benutzt  worden,  um  die 
Unzuträglichkeit  auszugleichen,  dass  die  Halle  um  viele  Stufen  tiefer  als  die 
Bodenfläche  liegt.  Die  innere  Fensteröifnung  ist  rundbogig,  damit  sie  höher 
in  den  Schildbogen  hinaufgerückt  werden  konnte,  aussen  aber,  wo  die 
Fenster  bis  zum  Boden  herabgehen,  ist  auch  ihr  Abschluss  erhöht  und 
bildet  einen  Halbkreis  von  gleichem  Radius  aber  mit  höher  gelegtem  Mittel- 
punkt als  der  innere  Bogen,  und  der  Unterschied  zwischen  beiden  wird 
durch  Steinplatten  verdeckt,  in  welche  die  drei  schmalen  Spitzbögen  der 
Fenstertheilung  einschneiden;  dann  aber  wird  jede  Fenstergruppe  nochmals 
von  grossen  Spitzbögen  umschlossen,  während  am  Portal,  seiner  grösseren 
Breite  wegen,  auch  die  Umrahmung  rundbogig  ist^). 

Etwas  jünger  als  diese  Kirche  ist  der  Dom  zu  Naumburg 2).  Er  hat 
die  gewöhnliche  Anlage  grösserer  deutscher  romanischer  Kirchen,  ein  drei- 
schiffiges  Langhaus  mit  östlichen  Kreuzarmen  und  mit  zwei  Chören,  die  jedoch 
schon  völlig  im  gothischen  Style,  der  westliche  Chor  in  den  Jahren  1249 — 
1272,  der  östliche,  als  Erweiterung  eines  älteren,  wahrscheinlich  halbkreis- 
förmig geschlossenen,  im  vierzehnten  Jahrhundert  erbaut  sind.  Nur  das 
Langhaus  gehört  in  die  Zeit,  von  welcher  wir  hier  sprechen.  Das  Mittel- 
schiff ist  mit  quadraten  Gewölben  von  32  Fuss  Breite  und  40  Fuss  Tiefe 
bedeckt,  von  denen  nur  das  östlichste  durch  eine  spätere  Herstellung  Rippen 
erhalten  hat,  die  anderen  bloss  in  Gräten  zusammenstossen.  Die  Pfeiler 
sind  schon  ursprünglich  auf  Gewölbe  angelegt,  die  stärkeren  kreuzförmig 
mit  vier  Halbsäulen  auf  den  vortretenden  Seiten  und  vier  kleineren  Säulen 
in  den  Ecken,  die  schwächeren  in  gleicher  Gestalt,  doch  so,  dass  nach  dem 
Mittelschiffe  zu,  wo  sie  kein  Gewölbe  tragen,  die  für  dasselbe  bestimmte 
Vorlage  nebst  ihren  Säulen  fehlt  und  die  breite  Fläche  des  Pfeilerkernes  zu 
Tage  liegt.    Nur   der  östlichste  schwächere  Pfeiler  jeder  Reihe    vor  dem 


1)  Die  Fenstertheilung  ist  nur  noch  an  einer  Stehe  erhalten.  —  Meine  i'rühere  An- 
nahme, dass  die  Vorhalle  zwei  verschiedene  Bauperioden  erkennen  lasse,  ist  durch 
Dehn-Rotfelser  nach  genauer  Untersuchung  des  Fugenschnittes  und  durch  Ermittelung 
der  Motive  für  diese  eigenthümliche  Formenmischung  a.  a.  0.  S.  25  widerlegt  worden. 
—  Die  ältere  Publication  bei  Gladbach  Taf.  4  —  6,  ist  nicht  ganz  correct. 

-)  Vollständige  Abbildung  und  Beschreibung  bei  Puttrich  Abth.  2,  Band,  1.  Der 
Verfasser  des  Textes  (Lepsius  der  Aeltere)  kämpft  jedoch  für  die  Entstehung  im  elften 
.Jahrhundert.  —  C.  Förster,  Denkmale,  Band  IV. 


Dom  zu  Naumburg.  341 

Kreuzschiffe  ist  anders  gestaltet,  indem  er  die  ältere,  in  sächsischen  Kirchen 
herkömmliche  Gestalt  eines  einfachen  Vierecks  mit  eingeblendeten  Eck- 
säulchen  hat.  Man  hat  also  zuerst  diese  Form  anwenden  wollen  und  erst 
demnächst  eine  andere,  dem  Wölbungssysteme  mehr  ensprechende  gewählt. 
Die  Kapitale  haben  kelchförmigen  Hals  mit  würfelförmiger  Ausladung  und 
sind  mit  gutgearbeitetem,  conventionellem  Blattwerk  geschmückt,  die  Basis 
hat  wohlgebildete  Eckblätter,  die  Scheidbögen  sind  spitz  mit  einem  Unter- 
gurt in  strenger  eckiger  Profilirung.  lieber  ihnen  ist  die  Wand  zwischen 
■den  hochhinaufsteigenden  Diensten  des  mittleren  (xewölbes  leer  und  nur  von 
dem  mit  der  Deckplatte  der  Kapitale  in  einer  Flucht  liegenden  horizontalen 
Gesimse  durchschnitten,  auf  welchem  die  rundbogigen  und  von  einem  ein- 
fachen Rundstabe  eingefassten  Oberlichter  paarweise  unter  den  Schüdbögen 
stehen.  Die  Profilirung  der  Quergurten  des  Gewölbes  gleicht  der  der  Scheid- 
bögen. Die  Anordnung  der  Pfeiler  und  die  Profile  der  Bögen  erinnern 
einigermaassen  an  das  Langhaus  des  Münsters  zu  Bonn,  nur  dass  das  Tri- 
forium  und  der  Arcadenschmuck  fehlen,  und  das  Ganze  einen  einfacheren, 
strengeren  Charakter  trägt,  welcher  durch  die  spröde  Form  des  Spitzbogens 
gesteigert  wird.  Das  Aeussere  ist  sehr  einfach,  nur  mit  dem  Bogenfriese, 
und  am  Kreuzschiffe  mit  Lisenen  verziert.  Beide  Chöre  sind  von  Thürmen 
flankirt,  deren  Ausführung  allmälig  im  Laufe  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
erfolgt  ist.  Die  neben  dem  Ostchor  steigen  bis  zur  Höhe  des  Schiffes  vier- 
eckig empor,  haben  auf  ihrer  Ostseite  eine  kleine  Concha  und  nehmen  dann 
eine  achteckige,  durch  Fenstergruppen  und  Bogenfriese  belebte  Gestalt  an. 
Am  Westchore  ist  der  allein  ausgeführte  südliche  Thurm  reicher  gebildet, 
indem  er  viereckig  mit  vier  durchbrochenen  Treppenthürmchen  aufsteigt 
und  bereits  den  Einfluss  des  französischen  Thurmbaues,  etwa  wie  er  in 
Laon  auftritt,  verräth.  Hier  sind  auch  die  Fenster  spitzbogig.  Der  ganze 
Bau  hat  eine  eigenthümliche  strenge  und  einfache  Anmuth;  die  Details, 
namentlich  die  Kapitale,  sind  von  grosser  Schönheit  und  freiem  Schwünge 
der  Linie. 

Die  historischen  Nachrichten  über  die  Bauzeit  sind  wie  gewöhnlich 
mangelhaft.  Unmittelbar  nach  der  Verlegung  des  Bischofssitzes  von  Zeitz 
nach  Naumburg  im  Jahre  1030  begann  ein  Neubau,  welcher  schon  in  den 
Jahren  von  1040 — 1050  eine  Weihe  zur  Folge  hatte.  Demnächst  finden 
wir  keine  urkundliche  Erwähnung  einer  Herstellung  oder  Erneuerung,  bis 
im  Jahre  1249  Bischof  Dietrich  in  einem  offenen  Briefe  seine  Absicht  ver- 
kündet, das  Werk  des  Dombaues  zu  vollenden,  was  sich,  wie  man  aus  dem 
Inhalte  der  Urkunde  schliessen  darf,  speciell  auf  die  Erbauung  des  west- 
lichen Chores  bezog,  welchen  derselbe  dann  auch,  nach  dem  Zeugniss  eines 
Ablassbriefes  von  1254  und  einer  Schenkung  von  Bausteinen  im  Jahre  1272, 
während  seiner  langjährigen  Regierung  fortsetzte  und  der  Vollendung  nahe 


342  Weitere  Verbreitung   des  üebergangsstyls. 

brachte.  Jene  Urkunde  von  1249  ergiebt  also,  dass  das  gegenwärtige  Lang- 
haus damals  schon  bestand ,  keineswegs  aber ,  dass  es  noch  jenem  Bau  aus 
der  Mitte  des  elften  Jahrhunderts  angehört.  Vielmehr  können  wir  aus  dem 
Style  der  einzelnen  Theile  des  Baues  und  selbst  aus  Andeutungen  der  Ur- 
kunden vermuthen,  dass  der  westliche  Chor  sich  an  einen  Neubau  anschloss, 
bei  welchem  er  schon  in  dem  Plane  lag,  der  noch  bei  Menschendenken  bis 
dahin  gediehen  und  dann  unterbrochen  war,  und  also  etwa  im  Anfange  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  begonnen  sein  mochte  ^).  Der  westliche  Chor  ist  zwar 
schon  im  entschiedenen  gothischen  Style,  während  im  Langhause  die  roma- 
nischen Elemente  vorwalten.  Aber  wir  wissen  überhaupt,  dass  diese 
Aenderung  des  Styles  oft  sehr  plötzlich  eintrat,  und  wir  sehen  auch  schon 
an  einzelnen  Theilen  des  Langhauses,  dass  man  sich  während  der  Bauzeit 
mehr  und  mehr  zu  gothischer  Behandlung  hineigte.     In   der  Vorlage  des 


3)  Lepsius,  bei  Puttrich  a.  a.  0.  S.  30,  40,  41,  folgert  den  unmittelbaren  Zu- 
sammenhang der  Urkunde  von  1249  mit  dem  westlichen  Chore  und  das  unveränderte 
Bestehen  des  Kirchenschift'es  von  1050 — 1249  besonders  daraus,  dass  der  Bischof  '\n 
jenem  offenen  Briefe  die  fürstlichen  "Wohlthäter  der  Kirche  bei  ihrer  ersten  Stiftung 
(primi  ecclesiae  nostrae  fundatores,  promotores  et  benefactores)  aufzählt,  ohne  der 
Wohlthäter  zu  gedenken,  welche  zu  dem  späteren  Neubau  beitrugen,  und  das  nur  die 
Statuen  dieser  genannten  Personen  im  westlichen  Chore  aufgestellt  sind.  Allein  der 
letzte  Umstand  rechtfertigt  wohl  die  Vermuthung,  dass  der  westhche  Chor  noch  von 
dem  Verfasser  jener  Urkunde  herstamme,  keineswegs  aber  die  Annahme,  dass,  weil 
nur  diese  ersten  Wohlthäter  gefeiert  sind,  kein  weiterer  Neubau  stattgefunden  habe. 
Der  Bischof  gedenkt  in  jener  Urkunde  im  Allgemeinen  derjenigen,  welche  durch  ihre 
Spenden  (per  largitionem  eleemosinarum  suarum  in  aediftcationem)  den  Bau  gefördert 
haben,  was  sich  sehr  wohl  auf  einen  Neubau  des  zwölften  oder  dreizehnten  Jahr- 
hunderts beziehen  kann,  da  die  Bauten  dieser  Zeit  seltener  durch  die  Gaben  mächtiger 
und  namhafter  Wohlthäter,  als  durch  Ablassbriefe,  kleine  Beisteuern  und  regelmässige 
Einnahmen  des  Kapitels  bestritten  wurden.  Bischof  Dietrich  spricht  ferner  nur  von 
der  Vollendung  des  Baues  (consumare  voluit  episcopus  —  totius  operis  consumatio), 
nicht  von  einer  amplificatio  oder  dergleichen.  Er  gebraucht  jenes  Wort  wiederholt, 
und  zeigt  dadurch,  dass  es  nicht  ein  unvorsichtig  gewähltes,  sondern  das  angemessene 
gewesen  ist.  Dies  lässt  aber  voraussetzen,  dass  es  sich  nicht  von  der  Anfügung  des 
westlichen  Chores  an  ein  seit  200  Jahren  bestehendes  Gebäude  handelte,  sondern  von 
einem  augenscheinlich  unvollendeten,  der  Vollendung  bedürfenden,  noch  bei  Menschen- 
gedenken unterbrochenen  Bau.  Auf  einen  solchen  deuten  dann  auch  die  ebenfalls  von 
Lepsius  citirten  Urkunden  des  Bischofs  Engelhard  vom  Jahre  1223,  nach  welchen  der- 
selbe von  den  Klöstern  Pforta  und  ßosan  Zahlungen  ad  ecclesiae  aedificia  instauranda 
und  ad  opus  fabricae  ecclesiae  nostrae  stipulirt.  Allerdings  ist  in  der  zweiten  Urkunde 
ausgesprochen,  dass  das  Geld  zum  Kapitelsaale  und  Dormitorium  verwendet  werden 
solle ,  und  die  Worte  ad  ecclesiae  aedificia  mögen  zweideutig  sein  und  sowohl  auf  die 
Kirche  selbst  als  auf  ihre  Nebengebäude  bezogen  werden  können.  Allein  immerhin 
geht  doch  aus  diesen  Urkunden'eine  Bauthätigkeit  hervor,  und  es  ist  wohl  denkbar,  dass 
gerade  die  dringend  nothwendige  Herstellung  der  klösterlichen  Localitäten  den  Bau 
der  Kirche  selbst  unterbrochen  hat,  bis  Bischof  Dietrich  seine  Vollendung  übernahm. 


Dom  zu  Naumburg.  343 

Ostchors  findet  sich  auf  jeder  Seite  eiue  in  die  Nebenräume  führende  Thür 
mit  Säulen  und  einer  rund  profilirten  Archivolte;  die  eine  dieser  Thüren  ist 
rundbogig,  die  andere  bei  gleicher  Gliederung  und  Kapitälbildung  spitzbogig. 
Sie  zeigen  uns  also  den  Moment,  wo  man  begann,  den  Spitzbogen,  der  im 
Schiffe  selbst  nur  zu  den  tragenden  Arcaden  diente,  auch  auf  ornamentale 
Theile  zu  verwenden.  Noch  deutlicher  ist  die  Geschmacksveränderung  an 
dem  in  das  südliche  Kreuzschiff  der  Kirche  führenden  grossen  Hauptportale. 
Es  ist  spitzbogig  und  stark  vertieft,  mit  je  fünf  Säulen  zwischen  vor- 
springenden Ecken  und  entsprechender  Gliederung  der  Archivolten,  hat 
aber  dieser  reichen  Anordnung  ungeachtet  nicht  mehr  den  plastischen  Schmuck 
der  Stämme  und  Bögen,  den  man  im  romanischen  Style  liebte,  sondern  wirkt 
nur  durch  den  Wechsel  von  Licht  und  Schatten  in  schon  tiefer  unterhöhlter 
Profiliruug  der  Bögen.  Diese  Behandlung  zeigt  ein  Streben  nach  Conse- 
quenz  und  Vermeidung  überflüssigen  Schmuckes,  welches  der  Frühzeit  des 
gothischen  Styles  überall  eigen  ist  und  den  bewussten  Gegensatz  gegen  die 
decorative  Tendenz  des  spätromanischen  Styles  bildet.  Dies  Portal  steht 
daher  in  Beziehung  auf  das  sich  darin  äussernde  Stylgefühl  dem  Westchore 
näher  als  den  Details  des  Schiffes,  und  man  kann  aus  den  Formen  schliessen, 
dass  es  als  letzte  Arbeit  den  mehrere  Jahrzehnte  vorher  begonnenen  Bau 
des  Langhauses  beendigt  habe  und  nur  wenige  Jahre,  vielleicht  ein  Decen- 
nium,  der  Begründung  des  westlichen  Chores  vorhergegangen  sei.  Eine 
neuerlich  aufgefundene  Nachricht  gestattet  es  sogar,  den  Tag  der  Weihe 
des  Langhauses,  wenigstens  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit,  anzugeben,  und 
auf  den  Peter-  und  Paulstag  (den  29.  Juni)  1242  zu  setzen^). 

Eine  Bestätigung  für  die  angenommene  Bauzeit  des  Kirchenschiffes 
giebt  uns  die  ehemalige  Kirche  des  Klosters  Mildenfurth-),  welche  jetzt 
zu  Wirthschaftsgelassen  benutzt  und  verbaut,  aber  dennoch  erkennbar  ist. 
Sie  hat  dieselbe  Pfeilerbildung,  aber  schon  spitzbogige  Fenster.  Das  Kloster 
war  1193  gegründet,  der  Bau  der  Kirche  kann  indessen  auch  nach  den 
geschichtlichen  Verhältnissen  nicht  vor  1209  und  wird  wahrscheinlich  noch 
wenigstens  ein  Decennium  später  begonnen  sein. 

Auch  die  kleine  Kirche  zu  Süpplingenburg  bei  Königslutter  wird  zu 
den  sächsischen  Gewölbebauten  dieser  Zeit   zu  rechnen    sein.      Sie    war 


^)  Auch  diese  Nachricht  verdanken  wir  der  Thätigkeit  des  Hrn.  v.  Quast,  welcher 
sie  im  Deutscheu  Kunstblatt  1855,  S.  202  bekannt  gemacht  hat.  Sie  gründet  sich 
zwar  unmittelbar  nur  auf  handschriftliche  Notizen  der  Küster  und  zwar  des  vorigen 
Jahrhunderts,  ist  aber  von  diesen  mit  solchen  Details  gegeben,  und  wird  durch  manche 
Nebenumstände  so  sehr  unterstützt,  dass  sie  ohne  Zweifel  aus  Urkunden  oder  älteren 
Traditionen  herstammen  muss. 

-)  Puttrich,  Theil  II,  Abth.  1,  Serie  Reuss,  S.  5,  Taf.  4  —  9. 


344  Weitere  Verbreitung  des  üebergang^sstyls. 

ursprünglich  nach  der  Schenkung  Kaiser  Lothar's  an  die  Templer  (1130)  als 
Pfeilerbasilika  erbaut,  wurde  aber  später  mit  Beibehaltung  der  nur  erhöheten 
Aussenmaueru  und  der  Pfeiler  in  eine  gewölbte  Kirche  verwandelt,  welche 
neben  rundbogigen  Fenstern  und  Portalen  spitzbogige  Arcaden  und  Ge- 
wölbe hat^). 

Aber  nicht  bloss  an  gewölbten  Kirchen,  sondern  auch  an  solchen  mit 
gerader  Decke  wandte  man  den  Spitzbogen  an  den  Arcaden  an,  wenn  man 
aus  besonderen  Gründen  einer  stärkeren  Tragekraft  zu  bedürfen  glaubte.  So 
in  der  Pfarrkirche  zu  Pötnitz  bei  Dessau  und  in  der  Klosterkirche  zu 
Memleben.  In  beiden  bestehen  nur  die  Pfeiler,  Bögen  und  Fensterein- 
fassungen aus  Werkstücken,  die  Mauern  aber  dort  aus  Ziegeln,  hier  aus 
unregelmässigen  ^Bruchsteinen  von  Thonschiefer ,  mithin  aus  Materialien, 
welche  eine  solidere  Gestaltung  der  Arcaden  wünschenswerth  machten.  Jene 
ist,  ungeachtet  der  alterthümlichen  Anlage  wechselnder  Pfeiler  und  Säulen, 
nicht  eher  als  im  Anfange  'des  dreizehnten  Jahrhunderts  erbaut,  da  die 
Pfarrei  selbst  erst  1198  errichtet  wurde.  Diese  gehört  zu  den  Kirchen, 
welche  man,  weil  das  Kloster  schon  im  zehnten  Jahrhundert  gegründet  war 
und  Nachrichten  über  einen  Neubau  fehlen,  als  Beweise  frühzeitiger  An- 
wendung des  Spitzbogens  anführte.  Allein  die  Bildung  der  Pfeiler  mit 
anliegenden  Halbsäulen  unter  den  Scheidbögen,  die  polygonförmigen  Nischen 
des  Chores  und  der  Kreuzarme,  die  künstliche  Form  des  Rundbogenfrieses 
und  selbst  die  Gestalt  der  Kelchkapitäle  lassen ,  auch  abgesehen  von  dem 
Gebrauche  des  Spitzbogens,  keinen  Zweifel  übrig,  dass  der  ganze  Bau  nicht 
eher  als  etwa  im  zweiten  Viertel  des  13.  Jahrhunderts  entstanden  sein 
kann  -). 


1)  Lübke  im  D.  Kiinstbl.  1851.   S.  75. 

-)  Bei  Puttrich  a.  a.  0,  wird  darauf  Gewicht  g^'^?')  dass  das  Kloster  schon  seit 
1015  verarmt  und  der  Abtei  Hersfeld  einverleibt  war,  und  dass  diese  Verarmung  auch 
im  dreizehnten  Jahrhundert  fortgedauert  zu  haben  scheine,  weil  es  in  den  Jahren  1202, 
1244  u.  s.  f.  Güter  verkaufte,  wobei  in  einer  Urkunde  von  1250  einer  drückenden 
Schuldenlast  Erwähnung  geschieht.  Allein  es  fragt  sich,  ob  diese  Schuldenlast  nicht 
eben  durch  den  Bau  entstanden  war,  der  keinesweges  von  Ueppigkeit  zeugt  und  unge- 
achtet der  dürftigen  Verhältnisse  des  Klosters  unvermeidlich  gewesen  sein  mochte.  Die 
an  den  Pfeilern  beftndliclien  Gemälde  sind  unzweifelhaft  aus  der  Spätzeit  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts.  Ausser  dieser  Kirche  und  den  im  Text  bereits  erwähnten  oder 
noch  zu  erwähnenden  zu  Naumburg,  Bamberg,  Nürnberg  und  Basel  nennt  Dr.  R.  Lep- 
sius  in  der  oben  angeführten  Abhandlung  als  Beweis  der  frühen  Anwendung  des 
Spitzbogens  noch  den  Dom  zu  Merseburg  und  die  Pfarrkirche  zu  Freiburg  an  der 
Unstrut.  Beide  sind  aber  mehrfach  verändert ;  die  Kirche  zu  Freiburg  im  dreizehnten 
Jahrhundert  (Puttrich,  Abth.  II,  Bd.  1),  der  Dom  zu  Merseburg  in  der  zweiten  Hälfte 
desselben  Jahrhunderts,  wo  im  Jahre  1274  für  seine  reaedificatio  gesammelt  wurde. 
Neue  Mitth.  des  Thüring.  Sachs.  Vereins  VI.  4.  S.  76)  und  dann  wieder  im  15.  Jahr- 


Der  Dom  zu  Bamberj 


345 


Das  bedeutendste  und  reichste  Werk  dieser  ganzen  Gruppe,  eine  der 
edelsten    Leistungen    des    deutschen   Uebergangsstyles    und    vielleicht    der 


Fig.    94. 


Dom  zu  Bamberg 


deutschen  Architektur  aller  Zeiten,  ist  der  Dom  zu  Bamberg^).     Er  be- 
steht aus  einem  dreischiffigen    Langhause    mit  zwei  hochgelegenen  Chören 


hundert  unter  Bischof  Thilo  von  Trotha  (1468  —  1514),  wo  das  Langhaus  gleich  hohe 
Schiffe  erhielt.  Bei  beiden  wird  daher  der  Spitzbogen  erst  aus  diesen  späteren  Bauten 
stammen. 

^)  Landgraf,  der  Dom  zu  Bamberg*,  Heller,  Geschichte  d.  Domk.  zu  B.  1837; 
Kugler,  kl.  Sehr.  I,  152  —  162;  Waagen,  Künstler  u.  K.  \V.  in  Deutschland  I,  75. 
Eine  Ansicht  des  Inneren  in   v.  Chlingensperg's  Königreich  Bayern,  1840  ff.     Ansichten 


346  Weitere  Verbreitung  des  Uebergangsstyles. 

und  Krypten,  und  einem,  jedoch  ungewöhnlicher  Weise  mit  dem  westlichen 
Chore  verbundenen  Querschiffe.  Die  Dimensionen  sind  bedeutend;  die  Länge 
in  ganzer  Ausdehnung  335  Fuss,  die  Breite  97  Fuss.  Neben  jeder  Chorapsis 
steigen  zwei  Thürme  auf,  welche  dem  Ganzen  ein  imposantes  Ansehen  ver- 
leihen, die  östlichen  viereckig,  durch  Bogenfriese  in  viele,  mit  Fenstern 
geschmückte  Stockwerke  getheilt,  die  westlichen,  ähnlich  dem  westlichen  des 
Domes  zu  Naumburg,  unter  Einfluss  des  frühgothischen  französischen  Thurm- 
baues,  mit  durchbrochenen  Treppenthürmchen  an  ihren  Ecken.  Der  west- 
liche Chor  nebst  dem  dazu  gehörigen  Querschiff,  mit  consequent  durch- 
geführtem und  ausgebildetem  Spitzbogen,  ist  offenbar  der  späteste  Theil  des 
jetzigen  Gebäudes,  und  wird  aus  der  Zeit  um  1274  herstammen,  wo  Bischof 
Konrad  von  Freising  zu  Gunsten  der  Herstellung  einen  Ablass  gewährte'). 
In  dieser  Zeit  mag  auch  das  quadrate  Gewölbe  des  Mittelschiffes  seine  jetzige 
Gestalt  mit  gothisch  profilirten  Rippen  erhalten  haben.  Das  Langhaus  ist 
augenscheinlich  älter.  Die  Pfeiler  sind  nicht  wie  in  Naumburg  kreuzförmig, 
sondern  einfach  viereckig  mit  eingelassenen  Ecksäulchen,  also  wie  das  älteste 
Pfeilerpaar  des  eben  genannten  oder  wie  sämmtliche  Pfeiler  des  Braun- 
schweiger Domes,  denen  sie  auch  darin  gleichen,  dass  ihnen  unter  den  Quer- 
gurten des  mittleren  Gewölbes  pilasterartige  Vorlagen,  wiederum  mit  ein- 
gelegten Halbsäulen,  angefügt  sind;  die  spitzbogigen  Arcaden  und  die 
Quergurten  des  Gewölbes  sind  zierlicher  als  in  den  bisher  genannten  Kirchen 
mit  einem  den  Ecksäulchen  entsprechenden  Rundstabe  als  Archivolte  profi- 
lirt.  Das  Horizontalgesimse,  das  auch  hier  die  einzige  Belebung  der  oberen 
Wand  bildet,  steht  ziemlich  nahe  über  den  Scheidbögen.  Die  Oberlichter 
sind  rundbogig  und  schmucklos,  die  Kapitale  klein,  in  der  bekannten  den 
Kelch  und  den  Würfel  verbindenden  Form,  mit  wohlgebildetem  Blattwerk. 
Das  Aeassere  ist  mit  Lisenen  und  Rundbogenfriesen  ausgestattet,  beide  aber 
in  sehr  zierlicher  Profilirung,  die  Rundbögen  mit  wechselnden  Blumen- 
ornamenten gefüllt,  und  durch  ein  kräftiges,  reich  ornamentirtes  Gesimse 
bekrönt.  Besonders  glänzend  ausgestattet  ist  der  östliche,  der  St.  Georgen- 
Chor.  Er  tritt  äusserlich  zwischen  den  östlichen  Thürmen  als  polygone, 
durch  fünf  Seiten  des  Zehnecks  gebildete,  durch  kräftige  Gesimse  und  Bogen- 
friese in  drei  Stockwerke  getheilte  Apsis  vor,  von  denen  das  mittlere  durch 


des  Aeussereti  häufig.  Publicirt,  doch  nicht  vollständig,  bei  E.  Förster,  Denkmale 
Bd.  III.  Eine  gründliche,  mit  genauen  architektonischen  Zeichnungen  begleitete  Publi- 
kation bleibt  um  so  wünschenswerther,  als  das  ausgezeichnete  Gebäude  manches 
Räthselhaftete  enthält.  —  Interessant  ist  die  hohe  kimstierische  Würdigung,  welche 
VioUet-le-Duc  in  seinen  (freilich  flüchtigen)  Lettres  adressees  d'Allemagne  diesem 
Denkmale,  gerade  im  Gegensatz  zu  den  Leistungen  der  deutschen  Gothik  zu  Theil 
werden  lässt. 

1)  Lang,  Regesta  III,  473:    „pro  restauratione  ecclesiae  Bambergensis". 


Der  Dom  zu  Bamberg-.  -  347 

fünf  grosse  rundbogige,  mit  Säulen  und  mit  dem  Perlenfriese  belebte  Fenster 
gefüllt  ist,  und  das  obere  eine  Zwerggallerie  unter  dem  Dachgesimse  dar- 
stellt, alles  mit  Thiergestalten  und  Arabesken  vollständig  belebt  und  in 
vortrefflichem  Steine  mit  schärfstem  Meissel  ausgeführt,  ein  Juwel  romanischer 
Ornamentation.  Als  würdige  Einfassung  dienen  dieser  Apsis  zwei  unter  den 
Thürmen  in  die  Kirche  führende  Portale  (A,  B),  rundbogig,  stark  vertieft, 
mit  kräftig  umschwingender  Gliederung,  namentlich  mit  dem  weniger  ge- 
wöhnlichen Zickzackornament,  das  nördliche  auch  mit  gleichzeitiger  Sculptur 
versehen,  das  südliche  offenbar  ursprünglich  nur  in  seiner  architektonischen 
Anlage  vollendet,  und  erst  später,  vielleicht  nach  fast  einem  Jahrhundert, 
mit  Säulen  und  Statuen  besseren  Styles  geschmückt.  Grösser  noch  und 
bedeutender  ist  die  sogenannte  goldene  Pforte  (C),  welche  von  dem  freien 
Platze  vor  dem  bischöflichen  Palaste  in  das  nördliche  Seitenschiff  führt; 
in  ihrer  Anlage  und  in  der  Nachahmung  antiker  Kannelur  und  korinthischer 
Kapitale  der  goldenen  Pforte  in  Freiberg  gleichend,  aber  minder  harmonisch 
und  schön  ausgeführt.  Die  verschwenderisch  angebrachte  Sculptur  ist  hier 
(mit  Ausnahme  zweier  offenbar  späterer  und  ohne  inneren  Zusammenhang 
mit  der  Architektur  angefügter  Statuen)  noch  sehr  strengen  Styles.  Im  In- 
neren erheben  sich  beide  Chöre  auf  einer  Stufenreihe  hoch  über  den  Boden 
des  Mittelschiffes,  dessen  Breite  sie  einnehmen.  Auch  hier  ist  der  Georgen- 
chor besonders  reich  geschmückt,  an  der  Brüstung,  die  ihn  von  den 
niedrigen  Seitenschiffen  trennt,  mit  sehr  merkwürdigen  Reliefs,  die  ich 
später  als  wichtige  Monumente  deutscher  Sculptur  näher  betrachten  werde, 
an  den  Wänden  der  Apsis  mit  Nischen  und  Säulen,  deren  Stämme  wech- 
selnd, aber  an  beiden  Seiten  gleich,  mit  convexen  und  concaven,  geraden, 
gewundenen  oder  gebrochenen  Kanneluren  verziert  sind.  In  der  schwach 
beleuchteten,  aber  hohen  Krypta  wird  das  Gewölbe  von  vierzehn  Säulen 
getragen,  welche  abwechselnd  rund  oder  achteckig,  verschiedene,  zum 
Th«l  dem  korinthischen  genau  nachgebildete  Kapitale  und  eine  attisch 
gegliederte,  aber  der  Form  des  Stammes  entsprechende  und  mit  dem  Eck- 
blatt versehene  Basis  haben. 

Der  Dom,  bekanntlich  die  begünstigte  Stiftung  Kaiser  Heinrichs  IT.,. 
brannte  urkundlichen  Nachrichten  zufolge  im  Jahre  1081  bis  auf  die  Mauern 
ab,  und  erhielt  im  Jahre  1111  durch  Bischof  Otto  den  Heiligen,  den  Apostel 
der  Pommern,  eine  neue  Weihe.  Dieser  Bauzeit  hatte  man  auch  früher,  da 
man  keine  Nachricht  über  andere  Herstellungen  bis  zu  den  Ablassbriefen 
vom  Jahre  1274  besass,  die  Haupttheile  des  Gebäudes  zugeschrieben» 
Neuerlich  aufgefundene  Chronikennachrichten  ergeben  indessen,  dass  am  6.  Mai 
1237  eine  feierliche  Einweihung  statt  fand^),  und  man  darf  nicht  zweifeln, 


^)  Chronicon  Erfordiense  in  Böhmer's   Fontes  II,  397 :    Anno    1237    in  Babenberc 


348  Weitere  Verbreitung  des  Uebergangsstyles. 

■dass  diese  Weihe  sich  auf  den  Bau  bezog,  bei  welchem  die  spitzbogigen 
Arcaden  des  Schiffes,  die  Gewölbanlage  und  zum  Theil  die  äussere  Ausstat- 
tung der  Portale  entstanden  sind.  Allerdings  werden  dabei  ältere  Theile 
benutzt  sein,  namentlich  einige  Pfeiler,  an  welchen  die  Pilastervorlagen  später 
hinzugefügt  zu  sein  scheinen  i).  Nach  dem  gewöhnlichen  Hergange  bei 
Bauten  des  Mittelalters  ist  es  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die  ^¥eihe  von 
1111  nach  der  Vollendung  eines  Theiles  der  Kirche,  vielleicht  des  später 
erneuerten  westlichen  Chores,  ertheilt  worden,  dass  man  dann,  sei  es,  dass 
jener  Brand  von  1081  nicht  das  ganze  Gebäude  in  Asche  gelegt  hatte  oder 
dass  die  Mittel  augenblicklich  kein  weiteres  Fortschreiten  gestatteten,  erst 
in  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts  die  Erneuerung  der  östlichen 
Krypta  und  des  Georgenchores  begann,  die  äusseren  Mauern  aufführte,  die 
Seitenschiffe  überwölbte,  am  Ende  dieses  Jahrhunderts  und  im  Anfange  des 
folgenden  die  östlichen  Thürme  weiter  hinaufführte,  das  Mittelschiff  über- 
wölbte, dem  Dache  die  reichen  Gesimse  hinzufügte,  die  äussere  Ausstattung 
des  Georgenchores  und  der  Portale  bewirkte  und  darauf,  als  diese  Aus- 
schmückung fast,  aber  noch  nicht  ganz  vollendet  war,  im  Jahre  1237  zur 
Einweihung  schritt,  durch  welchen  Hergang  sich  die  Verschiedenheit  des 
plastischen  Styles  an  den  Sculpturen  der  Portale  erklärt. 

Ziemlich  gleichzeitig  mit  diesem  Dome  ist  auch  der  Bau  der  St  Se- 
balduskirche  zu  Nürnberg,  aus  welchem  das  Mittelschiff  nebst  dem 
Unterbau  der  Thürme  und  der  dazwischen  liegenden,  später  veränderten  so- 
genannten Löffelholzischen  Kapelle  herstammen.  Die  Grundsteinlegung  fand 
in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  statt,  der  Hauptbau  war  1256 
vollendet,  erst  1274  aber  wurde  die  Löffelholzische  Kapelle  gew^eiht^), 
welche,  als  westlicher  Chor  mit  fünf  Seiten  des  Achtecks  vortretend,  durch 
ihre  Stellung  zwischen  zwei  wohlgegliederten  rundbogigen  Portalen  und  durch 
die  Behandlung  der  Rundbogenfriese  an  die  ähnliche,  aber  reichere  Anlage 
des  Bamberger  Domes  erinnert.  Die  Pfeiler  des  Mittelschiffes  sind  vier- 
eckigen Kernes,  an  den  Ecken  eingekerbt,  aber  auf  der  Frontseite  und  unter 
den  Scheidbögen  mit  je  einer  kräftigen  Halbsäule  besetzt,  welche  vermittelst 


dedicatum  est  monasterium  ab  bis  episcopis,  Erbipolensi ,  Eystatensi,  Nuvvesburgeiisi, 
Merseburgeiisi ;  domino  papa  ibidem  magnam  facicnte  induigentiam.  Das  Wort 
Monasterium  bezeichnet ,  wie  schon  früher  gesagt ,  in  den  Urkunden  des  Mittelalters 
stets  die  Kirche  und  zwar  die  bischöfliche  oder  grosseste  Stiftskirche.  Diese  Chroniken- 
nachricht wird  dadurch  unterstützt,  dass  Papst  Gregor  IX.  in  deu  Jahren  1232  und 
1236  Ablassverkündigungen  für  den  Besuch  der  Bamberger  Domkirche  erliess,  und 
dass  Bischof  Engelhard  von  Naumburg  im  Jahre  1237  einen  Ablassbrief  zu  Gunsten 
-des  Würzburger  Domes  von  Bamberg  aus  datirt.     (Lang,  Regesta  II,  265.) 

1)  Vgl.  Wilh.  Stier  in  der  Wiener  Bauzeitung  1844,  S.  309. 

-)  Baader  in  der  Augsburger  Postzeitnng,  1859,  Nro.  123,  vgl.  Sighart,  S.  235. 


St.  Sebaldus  in  Nürnberg.  —  Münster  zu  Basel.  349^ 

eines  hohen,  kelchförmigen;  aber  würfelförmig  ausladenden,  mit  knospen- 
artigem Blattwerk  oder  mit  Verschlingungen  und  Perlschnüren  verzierten 
Kapitals  das  Gesims  tragen.  Die  Scheidbögen  sind  entschieden  spitz,  durch 
einen  breiten  Untergurt  gestützt  und  mit  einem  Rundstabe  verziert;  die 
Basen  haben  Eckblättchen,  tiefe  Aushöhlung  und  den  flachen  vortretenden 
Wulst.  Sehr  eigeuthümlich  ist  die  Triforiengallerie,  über  jeder  Arcade  vier 
kleine  Spitzbögen  auf  kurzen,  stämmigen  Säulchen.  Die  Gewölbe,  nicht 
mehr  quadrat,  haben  kräftige,  aber  noch  rundprofilirte  Rippen  und  sind 
durch  starke  eckige,  spitzbogige  Quergurten  getrennt.  Die  Gewölbdienste 
bestehen  in  drei  Halbsäulen,  welche  jedoch  erst  oberhalb  des  Pfeilergesimses 
und  zwar  von  drei  sehr  verschieden  gebildeten,  meist  hornförmigen  Consolen 
aufsteigen,  ähnlich  wie  wir  solche  in  Riddagshausen  gefunden  haben.  Die 
Fenster,  sämmtlich  rundbogig,  sind  im  Chore  gegliedert,  mit  Rundstäben 
ohne  Kapital,  im  Langhause  dagegen,  unter  jedem  Gewölbfelde  einzeln 
stehend,  einfach  abgeschrägt;  der  Schildbogen  ruht,  wiederum  wie  in  Rid- 
dagshausen, auf  kleineu  Säulchen  i). 

In  Bayern  und  Schwaben  können  wir  keine  Kirche  ähnlicher  Art  nach- 
weisen, wohl  aber  gehört  dahin  das  Münster  zu  Basel"^),  dessen  Langhaus 
in  vielen  Beziehungen  dem  Naumburger  Dome  verwandte  Züge  trägt.  Auch 
hier  sind  die  Pfeiler  viereckigen  Kerns  mit  einfachen  Halbsäulen  unter  den 
Scheidbögen  und  in  den  Seitenschiffen,  auf  den  Frontseiten  an  den  Haupt- 
pfeilern mit  hoch  hinaufsteigenden  dreifachen  Diensten,  an  den  Nebenpfeilern 
glatt;  auch  hier  sind  sie  durch  spitzbogige  starkgegliederte  Arcaden  ver- 
bunden, während  die  Oberlichter,  paarweise  unter  jedem  Schildbogen,  einfach 
gehalten  und  halbkreisförmig  geschlossen  sind.  Nur  darin  bestehen  wesent- 
liche Unterschiede,  dass  die  Wand  über  den  Arcaden,  die  in  Naumburg  bis 
zum  Fenstersimse  kahl  geblieben,  hier  durch  rundbogige  Triforienöffnungen 
kräftig  belebt  ist,  und  dass  andrerseits  die  ganze  Haltung  und  die  Behand- 
lung der  Details  strenger  und  ernster  erscheint,  wozu  freilich  auch  die  Härte 
des  zu  dem  ganzen  Gebäude  verwendeten  rothen  Sandsteins  wesentlich  bei- 
getragen haben  mag.  Namentlich  haben  die  Kapitale,  die  dort  von  an- 
muthiger  Bildung  und  mit  schwungvollen  Blättern  ausgestattet  sind,  einfache 
Würfelform  und  keinen  oder  nur  bedeutungslosen   Schmuck.     Dagegen  ist 


^)  Vgl.  über  die  Sebalduskirche  Kallenbach,  Atlas,  Taf.  20,  21,  und  R.  v.  Rettberg, 
Nürnbergs  Kunstleben,  Stuttgart  1854,  S.  9.  Die  Uebereinstimmung  jener  hornförmigen 
Consolen  mit  denen  in  Riddagshausen  (s.  oben  S.  329)  ist  höchst  auifallend.  —  E.Förster, 
Denkmale,  Band   IV. 

-)  Abbildungen  in  (Burckhardt's)  Beschreibung  der  Münsterkirche  zu  Basel,  1842, 
bei  Gailhabaud,  monuments  anc.  et  modernes,  Bd.  III.  und  bei  E.  Förster,  Denkmale, 
Bd.  I.  Vgl.  auch  (namentlich  über  das  Chronologische)  v.  Quast  in  der  Zeitschrift  für 
Christi,  Archäologie  und  Kunst  II,  S.  128  ft'. 


^^Q  Weitere  Verbreitung  des  Uebergangsstyls. 

<iie  räumliche  "Wirkung  eine  sehr  mächtige,  indem  die  nicht  unbedeutende 
Breite  des  Mittelschiffes  (42  Fuss)  neben  den  verhältnissmässig  schmalen  Seiten- 
schiffen (14  F.)  noch  grösser  erscheint,  und  diese  Verhältnisse  jenseits  des 
Kreuzschiffes  im  Chore  fortgesetzt  sind,  welcher  bei  einem  Schlüsse  mit  fünf 
Seiten  des  Zehnecks  die  in  Deutschland  seltene  Anordnung  eines  vollständigen 
niedrigen  Umganges  hat.  Das  Gewölbe,  mit  frühgothischen  Ripi)en  versehen,  ist 
wahrscheinlich  nach  einem  Brande  von  1258  erneuert;  die  obere  Haube  des 
Chores,  die  Fagade  und  die  äusseren  Seitenschiffe,  durch  welche  das  Lang- 
haus fünfschiffig  geworden  ist,  stammen  aus  einem  Herstellungsbau,  der  durch 
das  Erdbeben  von  1356  veranlasst  wurde  und  im  Jahre  1363  eine  Weihe 
zur  Folge  hatte.  Die  Haupttheile  des  Gebäudes  sind  allerdings  älter,  können 
aber  ihre  jetzige  Gestalt  nicht  in  dem  Bau,  zu  welchem  Kaiser  Heinrich  H. 
beisteuerte,  erhalten  haben.  Die  in  das  nördliche  Kreuzschiff  führende  St. 
Galluspforte,  rundbogig  und  mit  romanischen  Details,  aber  mit  Statuen 
zwischen  den  schlanken  Säulen,  und  mit  kräftiger  Gliederung  der  Archivolten, 
kann  nicht  früher  als  gegen  das  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  gesetzt 
werden.  Das  Langhaus  wird  erst  im  dreizehnten  Jahrhundert  entstanden 
und  jenen  früher  genannten  Kirchen  gleichzeitig  sein.  Wahrscheinlich 
gab  ein  Brand  vom  Jahre  1185,  von  dem  wir  Nachricht  haben, 
die  Veranlassung  zur  Erneuerung  zuerst  einzelner  Theile  und  demnächst  des 
Ganzen.  Der  Chor,  obgleich  mit  der  Krypta  organisch  verbunden  und  daher 
wahrscheinlich  früherer  Anlage,  hat  seine  charakteristische  Ausstattung  mit 
zum  Theil  völlig  freistehenden  Säulen  und  phantastischen  Sculpturen  wohl 
erst' nach  der  Herstellung  des  Langhauses  im  Laufe  des  13.  Jahrhunderts 
erhalten. 

Auch  die  Stiftskirche  zu  Neufchätel  in  der  Schweiz  ist  hier  zu  er- 
wähnen; obgleich  schon  auf  französischem  Sprachgebiet  liegend,  trägt  sie  in 
ihrem  Chorbau  noch  völlig  deutschen  Charakter,  nicht  nur  in  der  dreischif- 
figen  und  mit  drei  Apsiden  schliessenden  Anlage,  sondern  auch  im  Aufbau, 
welcher  völlig  der  der  bisher  beschriebenen  Kirchen  ist.  Die  Arcaden  und  die 
quadraten  Gewölbe  sind  spitzbogig,  die  Fenster  und  das  reich  gegliederte 
Portal  rundbogig,  die  Ornamentation  deutsch  romanisch,  aber  mit  Regungen 
jenes  phantastischen  Geistes,  den  wir  auch  sonst  in  dieser  Gegend  wahr- 
nehmen. Das  Langhaus,  nach  einem  Brande  erneuert  und  1276  geweiht, 
zeigt  dagegen  den  Einfiuss  der  französischen  Gothik^j,  welcher  dann  in  den 


1)  Vgl.  Blaviguac  in  dem  Band  IV,  S.  494  citirten  Werke,  Hist.  de  l'arcliitecture 
sacree,  1853 ,  der  hier  wie  auch  sonst  zu  frühe  Entstehungsdaten  annimmt.  Kugler, 
Gesch.  d.  Baukunst  II,  S.  491.  —  Nach  den  von  Dubois  de  Montpereux  in  den  Mit- 
theihingen  der  aiitiquarisclien  Gesellschaft  zu  Zürich  Band  5  beigebrachten  Nachrichten 


Schweiz  und  Tyrol.  351 

Südlicheren  Tlieilen  der  westlichen  Schweiz  schon  früher  vorherrscht  und  so 
der  deutschen  Schule  eine  Grenze  setzt. 

Auch  in  der  östlichen  Schweiz  finden  wir  die  Wirksamkeit  derselben 
gelähmt.  Das  Grosse  Münster  zu  Zürich  ist  eine  mächtige  Basilika  mit 
einer  grossen  Empore  über  den  Seitenschiffen  und  mit  quadraten  Gewölben, 
aber  durchaus  rundbogig  und  von  eigenthümlich  voller,  schwerer  Formbildung 
welche  an  lombardische  Bauten,  namentlich  an  S.  Michele  zu  Pavia  erinnert 
und  jedenfalls  älter  ist  als  diese  Uebergangszeit.  Einzelne  Zusätze,  nament- 
lich der  berühmte  Kreuzgang  und  das  grosse  Portal  der  Nordseite  ^),  scheinen 
indessen  aus  dieser  Zeit  und  die  Rippengewölbe  des  Mittelschiffes  aus  noch 
späterer,  vielleicht  aus  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts,  zu  stammen. 
Auch  der  Dom  zu  Chur,  dessen  Chor  in  den  Jahren  1178  bis  1208  gebaut 
ist,  gerade  schliessend,  in  derb  romanischen  Formen  und  im  gedrückten 
Spitzbogen  überwölbt,  zeigt  eine  Mischung  deutscher  und  italienischer  Ein- 
flüsse und  ein  dadurch  abgestumpftes  Formgefühl-).  Noch  stärker  ist  der 
italienische  Einfluss  in  Tyrol,  auch  in  dem  deutschen  Theile  des  Landes -^j. 
Wenn  auch  nicht  kräftig  genug,  um  Formschöpfungen  im  italienischen 
Sinne  hervorzubringen,  reichte  er  doch  aus,  um  die  lebendige  Theilnahme 
an  den  von  den  mittleren  Provinzen  Deutschlands  ausgehenden  constructiven 
Bestrebungen  zu  hemmen.  Der  Uebergangsstyl  hatte  daher  hier  so  gut  wie 
gar  keinen  Erfolg  und  romanische,  rundbogige  Form  erhielt  sich  bis  zum 
Anfange  des  14.  Jahrhunderts.    Erst  jenseits  dieser  Region  finden  wir  daher 


wurde  die  seit  dem  10.  Jahrhundert  bestehende  Kapelle  zu  Neufchätel  erst  um  1158 
zur  Collegiatkirche  erhoben;  wodurch  dann  die  von  mir  angenommene  Zeitbestimmung- 
bestätigt wird.     Vgl.  auch  daselbst  die  Abbildungen. 

1)  Die  dünnen  Säulen  nnd  schweren  Kapitale  dieses  Portals  verrathen  eine  Ver- 
wandtschaft mit  (fer  Galluspforte  am  Münster  zu  Basel.  Zahlreiche  Abbildungen  aus 
dem  Züricher  Münster  und  Kreuzgang  in  den  Mitlheilungen  der  antiquarischen  Gesell- 
schaft in  Zürich  Bd.  I  und  II. 

2)  Siehe  diese  Mitlheilungen  Bd.  XI,   Heft  7. 

'')  Einzelne  italienische  Motive  sind  durch  Tyrol  bis  nach  Salzburg  und  Bayern 
vorgedrungen.  So  der  Gebrauch  von  wechselnden  Lagen  weissen  und  rothen  Marmors, 
der  sich  selbst  in  Salzburg  an  Portalen  der  alten  Pfarrkirche  und  an  St.  Peter  findet, 
und  die  Anlage  von  Vorhallen  mit  Säulen,  die  auf  den  Rücken  von  Löwen  ruhen,  wie 
sie  an  der  jetzt  spätgothischen  Kirche  zu  Botzen,  aus  einem  älteren  Bau  herstammend,  an 
der  Kirche  zu  Inichen  und  selbst  an  der  von  St.  Zeno  bei  Reichenhall  vorkommen.  Vgl. 
Messmer  in  den  Mitth.  d.  k.  k.  Centr.-Comm.  II,  101  und  Heider  in  dem  Jahrbuche 
derselben  II,  30.  Es  scheint,  dass  diese  letzte  Form  von  St.  Zeno  in  Verona  aus  zu- 
gleich mit  dem  Cultus  dieses  Heiligen,  der  für  einen  bewährten  Helfer  in  Wassers- 
gefahr galt,  sicli  über  diese  Gegenden  verbreitet  hatte. 


352  Weitere  Ausbildung  des  Uebergangstyls. 

wieder  Werke  jener  deutschen  Schule.  So  zunächst  die  jetzt  den  Francis- 
eanern  überwiesene  alte  Pfarrkirche  zu  Salzburg.  Auch  sie  zeigt  noch 
in  ihrem,  durch  wechselnde  Lagen  rothen  und  weissen  Marmors  verzierten 
Portale  den  italienischen  Einfluss,  aber  das  Langhaus  (denn  der  Chor  ist  in 
glänzenden  spätgothischen  Formen  erneuert)  ist  ein  Bau  des  Uebergangs- 
styles  mit  quadraten  Gewölben,  spitzen  Arcaden  und  gegliederten  Haupt- 
'pfeilern  neben  den  auf  den  Frontseiten  rechtwinkelig  abschliessenden  Zwischen- 
pfeilern, also  ganz  ähnlich  den  früher  beschriebenen  Bauten,  aber  mit  derber, 
einfacher  Ausbildung  der  Details.  In  Oesterreich  selbst  gehört  zunächst  die 
Stiftskirche  zu  Wiener  Neustadt  in  diese  Reihe,  wahrscheinlich  im  ersten 
Viertel  des  13.  Jahrhunderts  begonnen,  aber  langsam  ausgeführt.  Im  Aeus- 
seren  von  strenger  romanischer  Form,  mit  rundbogigen  Portalen  und  Fenstern, 
zeigt  sie  im  Innern  einen  freilich  ziemlich  unregelmässigen  Gewölbebau,  mit 
spitzen  Arcaden  zwischen  schweren,  wenig  entwickelten  Pfeilern  und  un- 
gleichen, zum  Theil  dem  Quadrate  sich  nähernden,  zum  Theil  schmalen  Ge- 
wölbfeldern. Auch  die  Kirche  St.  Michael  zu  Wien,  obgleich  bei  dem 
Brande  Wiens  im  Jahre  1275  von  den  Flammen  verwüstet  und  erst  1288 
hergestellt,  lässt  noch  bedeutende  Ueberreste  ihres  ersten  im  Jahre  1221 
vollendeten  Baues  erkennen,  wohlgegliederte  Pfeiler  viereckigen  Kerns  und 
spitze  Arcaden  bei  rundbogigen  Fenstern.  Aber  die  sehr  ungleichen  Ge- 
wölb fehler  sind  nicht  mehr  quadratisch  und  haben  gothisch  profilirte  Gurten 
und  Rippen.  In  Mähren  gehören  endlich  hierher  die  Kirche  der  Bene- 
dictinerzuTrebitsch  und  die  derCistercienser  zuTiscbnowitz.  Die  letzte 
nähert  sich  schon  mehr  entwickelten  frühgothischen  Formen,  während  jene 
die  Kirche  zu  Trebitsch,  mit  spitzen  Arcaden  bei  rundbogigen  Oberlichtern 
und  mit  charakteristisch  schwerer  Pfeilerbildung  zu  den  Uebergangsbauten 
gehört.  Das  Langhaus  ist  jetzt  mit  einem  spätgothischen  Tonnengewölbe 
überdeckt,  war  aber  ursprünglich,  wie  die  Gestalt  der  Pfeiler  ergiebt,  auf 
quadrate  Ueberwölbung  berechnet.  Sehr  eigenthümlich  ist  der  Chor,  der, 
weil  durch  feste  Mauern  mit  rundbogigen  Oberlichtern  von  den  Seiten- 
räumen getrennt,  eine  einschiffige  Fortsetzung  des  Mittelschiffes  darstellt, 
die  mit  fünf  Seiten  des  Achtecks  schliesst,  und  vor  dieser  Schlussabtheilung 
zwei  quadrate  Felder  enthält,  welche  dann  aber  nicht  wie  gewöhnlich  mit 
vier  oder  sechs  Kappen  quadratisch,  sondern,  indem  quergelegte  Rippen  die 
vier  Ecken  abschneiden,  dem  Polygonschlusse  entsprechend,  mit  kuppei- 
förmig ansteigenden  achteckigen  Rippengewölben  überdeckt  sind.  Die  derbe 
Bildung  dieser  Rippen  und  ihrer  von  Wandconsolen  aufsteigenden  Dienste 
beweist,  dass  diese  Anlage  die  ursprüngliche,  etwa  dem  Anfange  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  angehörige  ist,  und  zeigt  die  Vorliebe  dieser  Zeit  für 
ungewöhnliche  Formen.  Die  polygone  Altarnische  lässt  dann  endlich  in  der 
zierlichen  Belebung  ihres  Innern   auch  die  decorativen  Tendenzen  dieser 


Verbreitung-  der  streng-eren  Richtung.  353 

Zeit,  und  zwar  in  einer  an  rheinische  Schule  erinnernden  Weise  zum  Ausdruck 
kommen.  Auf  eine  Spitzbogenarcatur  folgen  Radfenster,  denen  Säulen  als 
Speichen  dienen,  und  darüber  gekuppelte  Rundbogenfenster,  die  in  einen 
Umgang  in  der  Mauerstärke  führen^).  Viel  schlichter  ist  die  Klosterkirche 
zu  Trebnitz,  die  einzige  erhaltene  grössere  Kirche  romanischen  Styles  in 
Schlesien,  welche  darthut,  wie  der  Fortschritt  in  der  architektonischen  Ent- 
wickelung,  besonders  die  Ausbildung  des  Gewölbebaues  hier  zugleich  mit 
der  Germanisirung  des  Landes  begründet  wurde.  Wie  die  Cistercienserinnen, 
denen  Herzog  Heinrich  der  Bärtige  und  seine  Gemahlin,  die  heilige  Hedwig, 
im  Jahre  1203  das  Kloster  gründeten,  aus  der  Gegend  von  Bamberg  kamen, 
so  werden  auch  deutsche  Werkmeister  den  Bau  ausgeführt  haben,  dessen 
Weihe  1219  stattfand.  Aber  dieses  Datum  hat  w^ohl  nur  auf  Chor  und 
Querhaus  Bezug,  welche  einfache  Kreuzgewölbe  mit  breiten  Gurten  und  Rippen 
zeigen,  während  die  Vierungsbögen  spitz  sind,  und  ebenso  wohl  ursprünglich 
die  Arcaden,  obgleich  die  Modernisirung,  welche  die  Kirche  während  der 
-Zopfzeit  erlitten,  dies  nicht  mehr  erkennen  lässt.  Bei  ganz  schlichten  recht- 
eckigen Pfeilern  mit  Vorlagen  nur  nach  den  Schiffen  treten  im  Langhause 
sechstheilige  quadratische  Gewölbe  auf-). 

Die  meisten  der  bisher  betrachteten  Gewölbebauten  zeigen  augen- 
scheinlich, dass  ihre  Erbauer  ausschliesslich  mit  der  Anwendung  der  neuen 
constructiven  Formen  des  Spitzbogens  und  der  Wölbung  beschäftigt  waren 
und  von  dem  hergebrachten  Style  nur  so  weit  abwichen,  als  sie  dazu  durch 
diese  genöthigt  wurden.  Die  Ornamentation  gehört  noch  ganz  dem  älteren 
Style  an,  sie  ist  aber  auch,  vielleicht  mit  einziger  Ausnahme  des  Bamberger 
Domes,  ziemlich  dürftig,  die  ganze  Erscheinung  ist,  weit  entfernt  von  der 
Anmuth  und  Harmonie  früherer  sächsischer  Bauten ,  vielmehr  strenge  und 
spröde.  Wie  einfach  ist  selbst  der  Naumburger  Dom,  der  doch  zu  den 
reicheren  Gebäuden  dieser  Gruppe  gehört,  im  Vergleich  mit  der  St.  Michaelis- 
kirche zu  Hildesheim,  in  der  nicht  bloss  die  Kapitale  viel  prachtvoller, 
sondern  auch  die  Säulenbasis  und  die  Scheidbögen  in  ihrer  Unteransicht 
mit  reichen  Mustern ,  die  Wände  mit  Relieffiguren  geschmückt  sind;  man 
vergleiche  ferner  alle  eben  beschriebenen  Kirchen  mit  den  viel  älteren  von 
Paulinzelleoder  von  Huyseburg,  um  zu  fühlen,  wie  sehr  es  diesen  neuen  Meistern 


*)  Vgl.  Beschreibung  und  Abbildungen  der  Kirche  zu  Salzburg  im  Jahrbuch  der 
k.  k.  Centr.-Comm.,  Bd.  II,  S.  35  tt'.,  Portal  Taf.  IV.;  St.  Michael  zu  Wien  in  den 
Berichten  des  Wiener  Altertliumsvereins,  Bd.  III,  und  darnach  in  den  Mittheilungeu 
d.  k.  k.  Centr.-Comm.,  Bd.  IV,  S.  305;  Wiener  Neustadt  und  Trebitsch  in  den  Mhtel- 
alterl.  Kunstdenkmälern  des  österr.  Kaiserstaates,  II.  S.  176  ff.  u.  Taf.  XXXI— XXXV, 
S.  67  fF.  u.  Taf.  XIII  — XVII;   Tischnowitz  im  Jahrbuch,  III,  S.  249  ff.  u.  Taf.  I— IV. 

2)  Luchs,  Stilproben,  S.  8  ff.  u.  Taf.  I. 
Sclinaaso's  Kunstgcsch.    2.  Aufl.    V.  23 


QR^.  Deutscher  Uebergangsstyl. 

nur  auf  Solidität  und  Ernst  der  Construction  ankam,  wie  sehr  sie  diesem 
Zwecke  den  Reichthum  des  Schmuckes  und  selbst  die  Anmuth  der  Verhält- 
nisse opferten.  Sie  unterscheiden  sich  dadurch  sehr  merklich  von  der  deco- 
rativen  Tendenz  des  rheinischen  Styles  und  nähern  sich  der  strengeren 
Richtung  der  Cistercienser  und  des  Ziegelbaues.  Unmittelbare  architek- 
tonische Entlehnungen  sind  zwar  nicht  nachzuweisen ,  wohl  aber  darf  man 
einen  geistigen  Einfluss  annehmen,  den  der  allverbreitete  Orden  und  die  aus 
allen  Gegenden  Deutschlands  stammenden  Kolonisten  der  wendischen  Länder 
vermöge  ihrer  verwandten  strengen  sparsamen  und  militärischen  Richtung  in 
weiteren  Kreisen  ausübten  und  der  eineReaction  gegen  die  Pracht  der  spät- 
romanischen Zeit  und  eine  Vorliebe  für  einfache  und  selbst  spröde  Solidität 
hervorbrachte.  Es  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  nicht  bloss  die  Städte ,  die 
immer  mehr  aufblüheten,  sondern  auch  die  Verhältnisse  der  deutschen 
Territorialherren;  welche  die  Entfernung  der  Kaiser  nutzten  um  ihre  Haus- 
macht zu  begründen,  einen  bürgerlich  sparsamen  Sinn  beförderten,  der  jener 
strengen  Richtung  verwandt  war  und  auch  zu  architektonischer  Einfachheit 
neigen  mochte. 

Allein  diese  Reaction  war  doch  nur  eine  vorübergehende  Strömung; 
sobald  der  erste  Eifer  für  jene  neuen  constructiven  Formen  vorüber  war 
und  man  sie  mit  grösserer  Leichtigkeit  handhabte,  lebte  auch  die  Neigung 
für  mannigfaltigen  und  individuellen  Schmuck  wieder  auf.  Aber  sie  äusserte 
sich  nun  in  anderer  Weise,  als  bisher,  man  mochte  fühlen,  dass  die  halbkreis- 
förmigen concentrischen  Archivolten  und  die  vollen  Linien  der  romanischen 
Architektur  mit  dem  bereits  vorherrschenden  Spitzbogen  nicht  wohl  über- 
einstimmten, man  nahm  daher  die  schlankeren  Decorationsformen  des  rhei- 
nischen Styles  auf,  und  wandte  die  Ringsäule,  den  Kleeblattbogen,  gebrochene 
Linien  aller  Art,  und  zwar  in  einer  Weise  an,  welche  eine  Herleitung  von 
rheinischen  Bauten  nicht  wohl  bezweifeln  lässt.  Der  Georgenchor  des  Domes- 
zu  Bamberg  mit  seiner  fünfseitigen  Apsis,  mit  den  reich  gegliederten  und 
gedrängten  Fenstern  und  mit  der  Zwerggallerie  erinnert  an  die  ältere  Concha 
des  Münsters  zu  Bonn,  die  östlichen  Thürme  dieses  und  des  Naumburger 
Domes  in  ihrer  oberen  achteckigen  Hälfte,  das  Hauptportal  der  Kirche  zu 
Mildenfurth  1;  mit  Ringsäulen  und  feinerer  Gliederung  der  Archivolten  tragen 
rheinische  Züge.  Dasselbe  bemerken  wir  an  vielen  anderen  Stellen.  An 
der  Westseite  des  Domes  zu  Halberstadt  sehen  wir  die  Portale  mit  Ring- 
säulen besetzt,  die  rundbogigen  Oeffnungen  der  beiden  inneren  Flügel  des 
Mittelportals  zu  einem  Kranze  von  kleinen  Bögen  ausgezackt,  das  grosse 
Bogenfeld  selbst  statt  mit  Reliefs  durch  eine  treppenförmig  aufsteigende 
Arcatur  gefüllt,  und  überhaupt  an  der  ganzen  Fagade  eine  Verschwendung. 


1)  Puttrich,  Ablh.  I,  Bd.  II,  Serie  Reuss,  Taf.  9,  a. 


Mischung  der  Provinzialismen.  355 

unverhülltcr  Kleeblattbögen,  wie  in  Gelnhausen  und  in  anderen  rheinischen 
Bauten  1).     Der  Dom  hatte  nach  einem  Brande  vom  Jahre  1181  eine  Her- 
stellung erhalten,  welche  im  Jahre  1220  beendet  war;  indessen  scheinen  die 
Formen  des  Portals,  namentlich  die  reiche  Gliederung  der  Archivolten,  schon 
über  die  Tendenzen  selbst  des  rheinischen  Styles   dieses  Jahres  hinauszu- 
gehen; man  wird  diesen  Theil  daher  dem  Bau  zuschreiben  müssen,   welchen 
der  Probst  Semeca  im  Jahre   1237   begann-).     Gleichzeitig  ist  auch  der 
rechtwinkelig  geschlossene  Chor  des  Domes  zu  Nord  hausen,  dessen  lancet- 
förmige  Fenster  mit  Ringsäulen  besetzt  sind,  und  der  ungeachtet  seiner 
Uebergangsformen  doch  noch  das  eigenthümliche  Gepräge  bescheidener  An- 
muth  hat,  welches   die  älteren  sächsischen  Bauten   charakterisirt.     Er  ist 
der  Ueberrest  der  nach  einem  Brande  von   1234  begonnenen  und  1267 
geweiheten  Kirche^).     Der  Zeit  um   1230  —  1240  werden  dann  auch  der 
achteckige  Thurm    der    St.  Blasiuskirche    zu  Mühlhausen*),    dessen 
Kleeblattfenster  wieder  an  die  Kirche  zu  Gelnhausen  erinnern,  und  das  spitz- 
bogige  Portal  mit  schlanken  Säulen  und  noch  fast  romanischen  Kapitalen  an 
der  Liebfrauenkirche  zu  Arnstadt-^)  angehören.     Auch  hier  mögen  die 
Mönchsorden  und  namentlich  die  Cistercienser,  nachdem  sich  ihre  Scheu  vor 
reicheren  Formen  verloren  hatte,  zur  Verbreitung  des  rheinischen  Styles  bei- 
getragen haben,  indem  wir  in  mehreren  ihrer  Bauten  sehr  zierliche  Arbeiten 
dieser  Art  finden.     Dahin  gehört  zunächst  die  Vorhalle  (das  Paradies)  der 
Klosterkirche  zu  Maulbronn  im  Würtemb ergischen,  welche  in  der  zier- 
lichen Behandlung  der  Ringsäulen  und  Kleeblattbögen  einen  unmittelbaren 
Einfluss  des  rheinischen  Styles  verräth.     Zwar  ist  hier  noch  vorherrschend 
der  Rundbogen  angewendet,   aber  die  Gewölbe  und  ihre  Schildbögen   sind 
spitzbogig,  ihre  Rippen,  wenn  auch  noch  als  Rundstäbe,  doch  schon  in  einer 
der  gothischen  Weise  annähernden  Weise  profilirt,  die  Aussenmauern  mit 
ausgebildeten  Strebepfeilern  bewehrt,  und  das  Bogenfeld  der  Doppelfenster 
ist  mit  einer  kreisförmigen  Oeffnung  zwischen  den  Spitzen  des  Kleeblattes 
verseilen,  welche  an  gothisches  Maasswerk  erinnert").     Sehr  wahrscheinlich 


1)  Abbildung  bei  Kallenbach  a.  a.  0.  Tafel  19.  Lucanus ,  der  Dom  zu  Halber- 
stadt.   Förster,  Denkmale,  VIII. 

-)  Wie  dies  schon  von  Quast  in  der  Zeitschrift  für  Bauwesen  1851  ange- 
nommen hat. 

3)  Puttrich,  Abth.  II,  Bd    II,  Serie  Mühlhausen,  Taf.  12  und  S.  13. 

4)  Daselbst  Taf.  7,  8,  11, 

5)  Puttrich,  Abth.  I,  Bd.  1,  Serie  Schwarzburg,  Taf.  4. 

")  Eisenlohr,  Mittelalterliche  Bauwerke  im  südwestl.  Deutschland,  Heft  1 — 4,  giebt 
eine  Reihe  von  Abbildungen  der  einzelnen  GebäuHchkeiten  dieser  grossartigen  und 
wohlerhaltenen  Klosteranlage.  Vgl.  auch  Kallenbach  a.  a.  0.  Tafel  31.  —  Förster, 
Denkmale,  VII. 

23* 


356 


Deutscher  Uebergang^sstyl. 


fällt  daher  der  Bau  in  eine  Zeit,  wo  die  Meister  den  Spitzbogen  sehr  wohl 
kannten  und  ihn  da ,  wo  sie  seiner  Tragkraft  bedurften,  wohl  angewendet 
haben  würden,  während  sie  hier  bei  kleineren  und  leichteren  Verhältnissen 


Fig.   95. 


j^tim. 


Kapelle  zu  Heilsl)ronn. 


den  Rundbogen  vorzogen  und  gerade  durch  seine  Verbindung  mit  dem 
Kleeblattbogen  und  den  schlanken  Ringsäulen  des  rheinischen  Styles  ein 
überaus  reizendes  und  anmuthiges  Werk  hervorbrachten.     Diese  rheinischen 


Miscliung  der  Provinzialismen.  357 

Formen  finden  wir  dann  auch  in  grösserer  Entfernung  vom  Rheine  in  den 
österreichischen  Cistercienserklöstern ,  in  dem  Kreuzgange  von  Heiligen- 
kreuz ^),  in  denen'vonZwetl  2)  und  Lilienfeld  ^),  und  auf  fränkischem  Gebiet  im- 
Cistercienserkloster  zu  Heilsbronn  bei  Anspach,  an  einer  kleinen,  aber 
äusserst  zierlichen  Nebenkapelle,  besonders  an  ihrem  Portale.  Dieses  hat 
im  Ganzen  noch  romanische  Anlage  und  Decoration;  die  vier  Säulenstämme 
auf  jeder  Seite  sind  nach  dem  Gesetze  rythmischen  Wechsels,  das  wir  schon 
sonst  an  romanischen  Portalen  kennen  gelernt  haben,  theils  glatt,  theils  reich 
verziert,  die  Kapitale  schlanke  Würfel;  von  den  vier  Archivolten  ist  nur  die 
äussere  als  Rundstab  dem  Säulenstamme  gleich  gebildet,  während  die  anderen 
die  sächsische  Auskerbung  der  Ecken  mit  dem  Ablaufe  haben.  Dabei  aber 
sind  die  stark  verjüngten  schlanken  Stämme  durch  wohlgegliederte  Ringe 
getheilt  und  die  Thüröffnung  steigt  kleeblattförmig  in  das  Bogenfeld  hinein. 
Die  Kapelle  selbst  hat  einfache  rundbogige  Fenster,  aber  schon  wirkliche 
Strebepfeiler  mit  Wasserschlägen  und  Gesimse  mit  tiefen  Auskehlungen,  so 
dass  wir  das  kleine  Gebäude  gewiss  nicht  früher  als  um  1230  datiren 
können. 

So  sehen  wir  denn  etwa  um  1230  die  Tradition  des  romanischen  Styles 
und  mit  ihr  die  localen  Traditionen  der  einzelnen  Provinzen  in  allen  Theilen 
Deutschlands  gründlich  gebrochen.  Zwar  verschwanden  die  Reminiscenzen 
an  diese  architektonische  Vergangenheit  nicht  ganz;  wir  haben  schon  ge- 
sehen, wie  der  Meister  der  goldenen  Pforte  in  Freiberg  ihnen  in  bewusster 
Weise  und  mit  Benutzung  gothischer  Formen  huldigte.  Aber  es  Avar  dies 
hier  und  in  anderen  Fällen  doch  nur  eine  individuelle  Geschmacksäusserung, 
nicht  die  Folge  bleibender  und  unbeschränkter  Herrschaft  des  Herkommens. 
Zwar  blieben  Verschiedenheiten  bestehen;  die  Bauten  des  Ziegelbaues,  der 
Rheinlande  und  Westphalens  behielten  noch  immer  ein  charakteristisches 
Gepräge.  Aber  es  war  doch  eine  grössere  Einheit  angebahnt;  wie  die  deco- 
rativen  Formen  des  rheinischen  Styles  sich  weithin  verbreitet  hatten,  finden 
wir  auch  am  Rheine  einzelne  Bauten  strengerer  Richtung,  wie  beispielsweise 
die  schon  erwähnte  Stiftskirche  zu  Gerresheim  bei  Düsseldorf  und  die 
St.  Cunibertskirche  zu  Köln.  Ein  festes  Princip,  aus  dem  sich  ein  völlig 
neuer  Styl  consequent  entwickeln  konnte,  war  freilich  überall  nicht  gegeben; 
eine  vorherrschende  Schule  entstand  nicht.  Deutschland  hatte  eben  keine 
Centralgegend,  in  welcher  die  Nachrichten  aus  den  Provinzen  zusammen- 
strömten, in  der  sich  die  Uebung  rascher  Combination,  der  Geist  syste- 
matischen Fortschrittes  ausbilden  konnte.     Jeder  einzelne  Meister  war  auf 


^)  Mittelalterliche  Kunstdenkmale  des  österreichischen  Kaiserstaates,  Bd.  I. 

2)  Ebenda,  Bd.  K. 

■'')  Jahrb.  der  k.  k.  Centralcommission,    Bd.  II. 


_"358  Erste  Spuren  gotliischen  Styls  in  Deutscliland. 

sich  selbst,  auf  seine  Fähigkeiten,  auf  die  Kenntnisse  beschränkt,  welche  sein 
Lerneifer  ihm  verschaffte,  zu  welchen  ihm  Gelegenheit  geworden  war.  Aber 
gerade  diese  Lage  der  Dinge  gewährte  dem  strebenden  Architekten  eine 
Fülle  von  Mitteln,  wie  die  Kunst  sie  kaum  je  besessen,  und  welche,  von  ge- 
schickter Hand  und  in  maassvoller  Haltung  angewendet,  sehr  bedeutende 
Leistungen  gestattete.  Wer  die  Münster  von  Bonn  und  Bamberg,  die  Vor- 
hallen von  Kloster  Laach  und  Maulbronn  oder  auch  nur  manche  andere  der 
erwähnten  Bauten  gesehen  hat,  wird  es  begreiflich  finden,  dass  viele  der 
.Zeitgenossen  an  diesen  reichen,  belebten  und  individuellen  Formen  hingen 
•und  keine  Aenderung  wünschten. 


Siebentes  Kapitel. 

Der  deutsche  früligotliisclie  8tyl. 

Wie  wir  gesehen  haben,  zeigt  der  deutsche  Uebergangsstyl  im  Ganzen, 
ausser  der  Anwendung  des  Spitzbogens  und  des  Rippengewölbes,  keine  be- 
stimmte Hinneigung  zu  den  Tendenzen  des  eigentlich  gothischen  Styles. 
Strebepfeiler  kommen  zwar  hin  und  wieder,  aber  von  geringem  Umfange  und 
an  untergeordneten  Stellen,  Strebebögen  fast  nur  an  einigen  Cistercienser- 
kirchen  und  als  schwache  Versuche  vor,  der  Gedanke  eines  durchgeführten 
Strebesystems  scheint  noch  ganz  unbekannt.  Statt  des  Kapellenkranzes  ist 
die  einfache  Polygonnische,  statt  der  Säule  oder  des  kantonirten  Rundpfeilers 
der  Pfeiler  viereckigen  Kernes,  statt  der  kühnen,  auf  die  einzelnen  Gewölb- 
gurte berechneten  Dienste  die  hoch  hinaufsteigende  Halbsäule  noch  immer 
wie  in  den  älteren  romanischen  Gewölbebauten  angewendet.  Indessen  finden 
wir  in  einzelnen  Fällen  schon  im  ersten  Viertel  des  dreizehnten  Jahrhunderts, 
anfangs  seltener,  nachher  häufiger  Formen,  die  nach  Frankreich  hinweisen. 
Da  man  einmal  den  Weg  ruhigen  Beharrens  bei  den  überlieferten  Local- 
formen  verlassen  und  den  des  Suchens  und  Strebens,  des  Erfindens  und  der 
Aneignung  fremder  .Erfindungen  betreten  hatte,  kann  es  nicht  auffallen,  dass 
unsere  Meister  auch  die  Fortschritte  des  Nachbarlandes,  wenn  sie  mit  ihnen 
bekannt  wurden,  benutzten,  und  dass  der  französische  Stjd,  der  jedenfalls 
den  Vorzug  grösserer  Consequenz  hatte,  allmälig  mehr  und  mehr  Einfluss 
gewann.  Dies  geschah  aber  nicht,  wie  man  vermuthen  könnte,  in  der  Weise, 
dass  er  zuerst  über  die  westlichen  Grenzen  Deutschlands  eindrang  und  dann 
langsam  weiter  nach  Osten  vorschritt.  Vielmehr  tauchen  schon  ziemlich 
irüh  Anklänge  an  französische  Form  an  verschiedenen,  von  einander  ent- 


Domchor  zu  Maffdebur« 


359 


fernten  Stellen  auf,  und  erst  später  entstehen  Werke,  welche  eine  voll- 
ständigere Kenntniss  des  ganzen  gothischen  Systems  verrathen.  Die  Mit- 
theilung geschah  also  nicht  vermöge  der  Berührung  benachbarter  Gegenden, 
sondern  durch  einzelne  wandernde  Bauleute,  welche,  zufällig  oder  schon 
durch  den  Ruf  der  französischen  Schule  bestimmt,  sie  an  der  Quelle  kennen 
gelernt  hatten  und  bei  ihrer  Rückkehr  das  Erlernte  mit  grösserer  oder  ge- 
ringerer Accomodation  an  deutsche  Gewohnheiten  in  Anwendung  zu  bringen 
suchten. 

Schon  die  erste  Spur  eines  solchen  französischen  Einflusses  treffen  wir 
nicht  am  Rheine,  sondern  fern  von  den  Grenzen,  an  der  Elbe  und  zwar  am 
Dome  zu  Magdeburg^).  Eine  Feuersbrunst,  welche  im  Jahre  1207  die 
ältere,  vielleicht  noch  aus  der  Stiftungs- 
zeit unter  Otto  dem  Grossen  her-  Fig.  oe. 
stammende  Kirche  einäscherte,  ver- 
anlasste einen  Neubau,  der  im  Jahre 
1234  zur  Vollendung  des  Chores 
führte.  Die  Details  dieses  Chores, 
mit  dem  wir  uns  hier  allein  be- 
schäftigen, da  der  Bau  des  Langhauses 
späterer  Zeit  angehört,  entsprechen 
im  Ganzen  dem  deutschen  Ueber- 
gangsstyle;  im  Inneren  Ringsäulen, 
Kelchkapitäle  mit  conventionellem 
oder  knospenförmigem  Blattwerk  oder 
mit  jener  üppigen,  würfelartigen  Aus- 
ladung, im  Aeusseren  fa^ettenartig 
ausgearbeitete  Rundbogenfriese.  Alle 
diese  hergebrachten  Details  sind 
in  grösster  Vollendung  und  mit  Liebe 

ausgeführt,  namentlich  die  Kapitale  am  Umgange  des  Chores  von  aus- 
gezeichneter Schönheit.  Daneben  aber  bemerken  wir  Spuren  ungewöhn- 
licher Studien,  der  Eierstab  und  die  Akanthusblätter,  welche  an  Kapitalen 
und  Gesimsen  vorkommen,  verrathen  eine  nähere  Kenntniss  antiker  Formen; 
auch  ist  der  Spitzbogen  schon  durchgängig  selbst  an  den  Fenstern  angewendet. 
Völlig  abweichend  aber  von  allen  deutschen  Traditionen  ist  die  Anlage  des 
mit  einem  L^mgange  und  Kapellenkranze  versehenen  Chores.  Selbst  der 
blosse  Umgang  war  bisher  in  Deutschland  nur  ausnahmsweise  und  meist  unter 
Umständen  vorgekommen,   welche  eine  besondere  Veranlassung  vermuthen 


Kapital  aus  dem  Chore  des  Doms  zu  Magdeburg. 


^)  Clemens  ,    Melliii  iiiul  Rosenthal ,    der  Dom    zu  Magdeburg  in  30  Abbildungen 
1S31  —  1838. —  E.  Förster,  Denkm.  V 


360 


Erste  Spuren  gothischen  Styles  in  Deulschland. 


lassen;  so  schon  sehr  frühe  an  der  Kapitolskirche  zu  Köhi,  später  an  der 
Cistercienserkirche  zu  Heisterbach  und  am  Dome  zu  Basel.  Für  die  Anlage 
eines  Umganges  mit  Kapellen  war  bisher  die  St.  Godehardskirche  zu  Hildes- 
heim das  einzige,  unbefolgt  gebliebene  Beispiel,  und  auch  hier  sind  nur  drei 
vereinzelte  Kapellen  angebracht  i).  Der  Magdeburger  Dom  hat  dagegen  den 
geschlossenen  Kranz  von  fünf  radianten  Kapellen,  und  zwar  in  sehr  ähnlicher 
"Weise  wie  an  den  gleichzeitigen  französischen  Kathedralen,  den  inneren  Chor- 
schluss  den  Kapellen  entsprechend  fünfseitig,  die  Kapellen  dreiseitig,  über 
dem  Umgange  eine  Gallerie  —  den  Bischofsgang  —  und  an  dieser  aus- 
gebildete, von  einem  Satteldach  bekrönte  Strebepfeiler.  Die  Anlage  hat 
namentlich  eine  grosse  Verwandtschaft  mit  dem  Chore  der  Kathedrale  von 
Soissons,  der  in  Frankreich  zuerst  von  der  bisher  üblichen  halbkreisförmigen 


Fig.  97. 


li  ni 

Chor  des  Domes  zu  Magdeburg. 


Anordnung  des  oberen  Chores  und  der  Kapellen  abwich,  und  bei  welchem 
dieselben  Polygone  Avie  am  Magdeburger  Dome,  nämlich  das  Zehneck  und 
Achteck,  zum  Grunde  gelegt  sind.  Da  der  Chor  dieser  Kathedrale  im  Jahre 
1212  dem  Dienst  übergeben  wurde,  und  der  Bau  zu  Magdeburg  höchst 
wahrscheinlich  nicht  unmittelbar  nach  dem  Brande  von  1207,  sondern  erst 
nach  mehrjährigen  Vorbereitungen  begann,  so  ist  eine  Einwirkung  des 
französischen  Gebäudes  der  Zeit  nach  vollkommen  möglich,  und  dies  um 
so  mehr,  als  der  damalige  Bischof  Albert  H.,  welcher  wenige  Tage  nach 
dem  Brande  von  1207  seinen  Einzug  in  Magdeburg  hielt,  in  Paris  studirt 


J)  Vgl.  den  Grundriss  Bd.  IV,  S.  357. 


Magdeburg  und  Limburg.  361 

hatte  ^).  Freilich  finden  sich  aber  auch  nicht  bloss  in  den  feineren  Details^ 
sondern  schon  in  der  Ausbildung  des  Grundplanes  vielfache  Abweichungen. 
Die  Pfeiler,  welche  die  fünfseitige  Wand  des  oberen  Chores  stützen,  sind 
zwar  in  Magdeburg  völlig  wie  in  Soissons  gestellt,  nämlich  die  vier  öst- 
lichen näher  aneinander  gerückt,  die  beiden  westlichen  weiter  abstehend; 
aber  es  sind  nicht  wie  dort  Rundsäulen,  sondern  eckige  Pfeiler,  auf  der 
Fronte  mit  Bündeln  von  Gewölbdiensten,  auf  den  drei  anderen  Seiten  mit 
einzelnen  Halbsäulen  besetzt  und  so  kräftig  gebildet,  dass  sie  noch  an  den 
durch  feste  Mauern  begrenzten  Polygonschluss  erinnern.  Auf  den  Kapitalen 
der  Mittelsäulen  sind  verjüngte  Säulenschäfte  von  polirtem  Granit  angebracht, 
die  wohl  aus  dem  älteren  Bau  herrühren  und  dieser  Stelle  noch  einen  mehr 
dem  älteren  Style  entsprechenden  Charakter  geben.  Die  Kapellen  sind  im 
Inneren  unter  den  Fenstern,  wie  die  der  Kathedrale  von  Rheims,  halbkreis- 
förmig gebildet  und  erst  oben  dreiseitig;  sie  werden  nicht  durch  keilförmige 
Strebepfeiler,  sondern  durch  breite,  im  Inneren  mit  rohen  Bruchsteinen  aus- 
gefüllte und  nur  äusserlich  mit  Hausteinen  bekleidete  Mauermassen  begrenzt, 
welche  allerdings  w'ohl  geeignet  sind,  die  Last  der  Gallerie  und  des  Ober- 
schiffes zu  tragen ,  aber  diesen  Dienst  noch  nicht  mit  Leichtigkeit  leisten. 
Das  Rippengewölbe  der  Kapellen  entspricht  im  Ganzen  den  frühgothischen 
französischen  Kirchen;  der  Chorumgang  ist  noch  mit  glatten  und  rund- 
bogigen  Kreuzgewölben  bedeckt.  Alles  dies  beweist ,  dass  der  Meister  noch 
an  romanischer  Formbildung  hing  oder  mit  der  Kraft  des  Strebesystems  und 
den  Vortheilen  des  spitzbogigen  Rippengewölbes  noch  nicht  so  vertraut  war, 
wie  seine  Zeitgenossen  in  Frankreich,  steht  aber  der  Vermuthung,  dass  die 
Plananlage  von  dort  entnommen  sei,  keineswegs  entgegen.  —  Unter  Einfluss 
des  Domchors  wird  auch  der  innere  Umbau  der  Liebfrauenkirche  zu 
Magdeburg  (seit  1215)'  ausgeführt  sein,  bei  welchem  die  Rundbogenarcaden 
der  ursprünglichen  romanischen  Basilika  durch  höhere  Spitzbögen  umrahmt 
wurden  und  das  Mittelschiff  sechstheilige  gothische  Kreuzgewölbe  erhielt-). 
Sehr  viel  deutlicher  ist  die  Verwandtschaft  mit  einem  bestimmten 
französischen  Bau  an  einer  berühmten  deutschen  Kirche,  welche  nicht  lange 
nachher,  aber  ziemlich  weit  entfernt  von  dem  Magdeburger  Dome,  entstand, 
an  der  Stiftskirche  St.  Georg  zu  Limburg  an  der  Lahn.  Der  Baumeister 
derselben  ist  aus  der  rheinischen  Schule  hervorgegangen;  die  Zwerggallerie, 
die  Bekrönung  der  Thürme  mit  einzelnen  Giebeln,  die  Knospenkapitäle,  die 
prachtvollen  Laubgewinde  an  den  Archivolten  des  Portals  und  überhaupt 
alle  Ornamente  gehören  ihr  an;   selbst  die  grossartige  Gesammtanlage  mit 


^)  V.  Quast  in  der  Zeitschrift  für  cliristl.  Archäologie  und  Kunst,  I,  S.  172. 
-)  V.  Quast,  Zeitschrift,  a.  a.  0.,  mit  Abbildungen.  —  Vgl.   auch   A.  Hartmann  in 
Romberg's  Zeitschrift  für  praktische  Baukunst  1854,  S.  137,  Taf.  XV  —  XXIII. 


362 


Erste  Spuren  goiliischen  Styles  in  Deutschland. 


zwei  mächtigen  Westthürmen,  vier  kleineren  Thürmchen  an  den  Kreuz- 
fagaden,  und  einem  hohen  und  schlankenachteckigenThurmeauf  der  Vierung 
des  Kreuzes  ist  in  ihrem  Geiste  erfunden  und  ausgeführt.  Der  Grundplan 
ist  noch  ganz  der  einer  gewölbten  romanischen  Basilika,  mit  starken  Aussen- 
mauerD;  quadratem  Gewölbe  in  Haupt-  und  Nebenschiffen,  nur  darin  von 

ähnlichen    rheinischen   Bauten 
Fig.  98.  abweichend,  dass  die  Apsis  des 

Chores  mit  einem  Umgange 
umgeben  ist.  Auch  die  An- 
ordnung der  unteren  Theile 
des  Mittelschiffes  trägt  noch 
den  Charakter  des  rheinischen 
Styles  und  stimmt  namentlich 
mit  der  St.  Quirinskirche  in 
Neuss  im  Wesentlichen  überein. 
Wie  in  dieser  sind  auch  hier 
die  Zwischenpfeiler  einfach  vier- 
eckiger Gestalt,  die  auf  ihrem 
Kämpfergesimse  ruhenden  Ar- 
caden  spitzbogig  mit  eckiger 
Leibung,  wie  dort  ruht  auf  den 
niedrigen  Seitenschiffen  eine 
Gallerie  mit  zweitheiligen,  spitz- 
bogigen,  von  einem  breiteren 
Spitzbogen  mit  undurchbro- 
chenemBogenfelde  überwölbten 
Oeffnungen.  Allein  die  gewölb- 
tragenden Pfeiler  sind  kräftiger 
gebildet,  nicht  mit  einer  ein- 
fachen Halbsäule  auf  der  Front- 
seite, sondern  mit  einer  pilaster- 
artigen  Vorlage  und  zwei  Eck- 
säulen ausgestattet,  die  qua- 
st.  Georg:  Limburg.  drateu    Gcwölbc    durch     eine 

Mittelrippe  in  sechs  hochan- 
steigende, entschieden  spitzbogige  Kappen  getheilt,  die  Rippen  kräftig  und 
schon  mit  birnförmiger  Zuspitzung  profilirt.  Vor  allem  aber  ist  bemerkens- 
werth ,  dass  ein  Triforium  von  gleich  hohen ,  schwach  zugespitzten  Arcaden 
über  der  Gallerie  hinläuft,  welches  die  Wand  zwischen  dieser  und  den  rund- 
bogigen  Oberlichtern  völlig  ausfüllt.  Gallerien  über  den  Seitenschiffen  sind, 
wie  wir  gesehen  haben,  dem  rheinischen  Uebergangsstyle  wohl  bekannt,  auch 


St.  Geofor  zu  Limbur; 


363 


Fig.  99. 


Triforien  kommen  nicht  selten  vor,  wenn  auch  meistens  nur  als  Blendarcaden, 
nicht  als  wirkliche  Gänge.  Für  die,  einigermaassen  pleonastische  Verbindung 
beider  Formen  aber  giebt  es  am  Rheine  und  überhaupt  in  Deutschland  kein 
zweites  Beispiel^).  Ueberhaupt  kennen  wir  diese  Verbindung  nur  an  einer 
kleinen  Gruppe  belgischer  und  fran- 
zösischer, der  Picardie  und  Cham- 
pagne angehöriger  Kirchen,  an  den 
Kathedralen  von  Tournay,  Noyon  und 
Laou,  in  St.  Remy  zu  Rheims  und 
Notre-Dame  von  Chälons  und  am 
Chore  der  Abteikirche  zu  Mon- 
tier-en-Der.  Wir  werden  daher  auf 
eine  Beziehung  zu  diesen  Kirchen 
hingewiesen  und  finden,  wenn  wir 
St.  Georg  zu  Limburg  mit  ihnen  ver- 
gleichen, mit  einer  von  ihnen,  näm- 
lich mit  der  Kathedrale  von  Noyon, 
eine  so  grosse  üebereinstimmuug,  dass 
wir  an  einem  engeren  Zusammenhange 
beider  Bauten  nicht  zweifeln  können-). 
Zwar  hat  die  Kirche  von  Noyon  statt 
des  Zwischeupfeilers  eine  Rundsäule, 
auch  stehen  die  rundbogigen  Ober- 
lichter dort  eng  gekuppelt,  hier  einzeln 
unter  jeder  Abtheilung  des  Gewölbes. 
Aber  die  Bildung  der  Gallerieöff- 
nungen,  die  Zahl  der  Triforienbögen, 
die  Anordnung  der  sechstheiligen 
Gewölbe  und  der  mit  ihnen  verbun- 
denen Schildbögen  sind  gleich,  und 
dem  in  Noyon  von  dem  Kapital  der 
Zwischensäule  auf  steigenden  Gewölbe- 
dienste entspricht  in  Limburg  eine 
vom  Fusse  der  Gallerieöffnung  an- 
hebende   Halbsäule,     so     dass    die 

^)  Nur  in  der  Kirche  zu  ßoppard  findet  sich  etwas  Aehnliches,  indessen  sind  docii 
nur  vereinzehe,  unter  das  Dach  der  Seitenschifl'e  fiihrende  Oeffnungen,  nicht  fortlaufende 
Arcadenreiiien  üljer  der  Gallerie  angebraclit,  so  dass  die  Wirkung  eine  ganz  andere  ist. 

-)  Abbildungen  der  Kirche  von  Limburg  sind  in  Moller's  Denkmälern  Theil  II,  der 
Kathedrale  von  Noyon  in  Vitet's  Monographie  über  dieselbe  und  in  der  Voyage  dans 
l'ancienne  France,  Picardie,  gegeben.  —  Für  Limburg  s.  auch  E.  Förster,  Denkmale, 
Bd.  I.  und  Fr.  Bock,  Rheinlands  Baudenkmale,  II.  Serie,  Lief.  6  u.  7. 


Kathedrale  von  Noyon. 


3g^  Erste  Spuren  gotliischen  Styles  in  Deutschland.    ' 

Wirkung  der  schlanken,  den  einzelnen  Arcaden  entsprechenden  Wandfelder 
fast  ganz  dieselbe  ist.  Der  Bau  der  Limburger  Kirche^)  (geweiht  1235), 
fällt  in  eine  Zeit,  in  welcher  die  Kathedrale  von  Noyon  wahrscheinlich  der 
Vollendung  nahe,  jedenfalls  so  weit  vorgeschritten  sein  musste,  dass  sie  als 
Vorbild  dienen  konnte.  Da  eine  kirchliche  Verbindung  beider  geistlichen 
Stifter  nicht  wohl  denkbar  ist,  da  auch  die  Rheinlande,  aus  denen  der  Meister 
von  St.  Georg  zu  stammen  scheint,  kein  Gebäude  enthalten,  welches  eine  Ver- 
mittelung  bilden  könnte,  so  bleibt  nichts  übrig,  als  auch  hier  bei  den  oberen 
Theilen  der  Kirche  das  Hinzutreten  eines  Meisters  anzunehmen,  der  in 
Frankreich  und  namentlich  an  jener  Kathedrale  Studien  gemacht  hatte. 
Wahrscheinlich  kannte  er  aber  auch  andere  französische  Kirchen,  wie  dies 
die  grosse  Fensterrose  an  der  Fa^ade,  deren  die  Kathedrale  von  Noyon  ent- 
behrt, anzudeuten  scheint.  Eine  grosse  Verwandtschaft  mit  der  Limburger 
Kirche  zeigt  ein  niederrheinisches  Denkmal,  das  durch  seine  genaue,  auf- 
fallend späte  Datirung  für  die  Architekturgeschichte  von  besonderer  Wichtig- 
keit ist:  dießenedictiner-Abteikirche  zu  Werden,  deren  Herstellungs- 
bau 1257,  nach  einem  Brande,  begann  und  1275  geweiht  wurde-).  Während 
die  Wests'eite  des  Schiffes  und  der  Westthurm  noch  ein  Ueberrest  des  älteren 
romanischen  Baues  sind,  gehören  die  Fortsetzung  des  Langhauses,  das  Quer- 
haus und  der  polygone  Chor  der  Erneuerung  an.  Das  System  des  Aufbaues 
stimmt  in  seinen  unteren  Theilen  im  Wesentlichen  völlig  mit  St.  Georg  zu 
Limburg;  hier  wie  dort  der  Wechsel  von  stärkeren,  mit  hoch  hinaufsteigen- 
den Diensten  versehenen  und  von  einfachen ,  viereckigen  Pfeilern ,  spitzbogige 
Arcaden  und  Emporen  mit  ebenfalls  spitzen  Doppelöffnungen  bei  undurch- 
brochenem Bogenfelde,  zwischen  denen  auch  hier  über  den  Zwischenpfeilern 
der  zum  Gewölbe  aufsteigende  Dienst  erst  vom  Fussgesimse  der  Gallerie 
anhebt.  So  weit  also  ganz  die  Anordnung,  wie  in  Limburg,  welche  beweist, 
dass  auch  hier  ursprünglich  eine  Wölbung  von  sechstheiligen  Doppeljochen 
beabsichtigt  war.  Während  das  Mauerwerk  aufstieg,  scheint  man  den  Plan 
geändert  zu  haben;  das  Triforium,  welches  in  Limburg  über  der  Empore 


1)  Müller's  Beiträge  I,  41.  Eine  in  einem  Reliquienkästchen  im  Hauptaltare  der 
Kirche  gefundene,  mit  dem  Siegel  des  Erzbischofs  Dietrich  von  Trier  (1213  —  1242) 
versehene  Schrift,  nennt  einen  Grafen  Heinrich  als  Erbauer  der  Kirche.  Friilier  hatte 
man  angenommen,  dass  dies  Graf  Heinrich  IL,  genannt  der  Reiche,  von  Nassau  (1197  — 
1247)  sei,  da  dieser  aber  weder  Besitzungen  in  Limburg,  noch  auch  Beziehungen  zum 
Collegiatstift  St.  Georg  daselbst  hatte,  ist  eher  an  den  damaligen  Besitzer  von  Limburg, 
Grafen  Heinrich  von  Isenburg  (von  1179  bis  1220  vorkommend)  zu  denken.  —  Vgl. 
J.  Ibach  bei  Bock  a.  a.  0.  u.  Dr.  K.  Schwarz  in  den  Annalen  des  Nassauischen  Alter- 
thums-Vereins.     Bd.  IX,  S.  368. 

-)  Publicirt  von  Stider,  mit  Text  von  Lohde,  Zeitschrift  für  Bauwesen  1857.  — 
Vgl.  auch  E.  Wulff  im  Organ  für  christl.  Kunst,  1866. 


St.  Gereon  zu  Köln.  365 

angebracht  war,  ist  fortgeblieben  und  statt  der  quadraten,  sechstheiligeu 
sind  schmale  rechteckige  Kreuzgewölbe  ausgeführt,  deren  spitze  Schildbögen 
kreisförmige  Oberlichter  mit  Achtpässen  enthalten,  während  die  Fenster  der 
Seitenschiffe,  soweit  sie  noch  vorhanden,  schmal,  lancetförmig,  und  zu  dreien 
gruppirt  sind. 

Eine  erheblich  frühere  Spur  von  der  Kenntniss  des  französisch- 
gothischen  Styls  finden  wir  an  dem  zehneckigen  Theile  der  Stiftskirche 
St.  Gereon  zu  Köln,  der  auf  den  Fundamenten  eines  älteren,  wohl  noch 
aus  römischer  Zeit  stammenden  Baues  in  den  Jahren  1212  bis  1227  auf- 
geführt Avurde^).  Er  hat  nämlich  schon  hohe,  spitzbogige  und  zweitheilige 
Fenster  mit  einer  maasswerkartigen  Durchbrechung  des  Bogenfeldes  und  frei 
aufsteigende,  durch  einen  Bogen  die  Kuppel  stützende  Strebepfeiler,  beides 
Neuerungen,  denen  wir  hier  zum  ersten  Male  auf  deutschem  Boden  begegnen, 
die  aber  hier  noch  völlig  vereinzelt  neben  den  fächerförmigen  Fenstern,  den 
wiederholten  Rundbogenfriesen,  der  Zwerggallerie  mit  dem  Plattenfriese  und 
anderen  Details  des  rheinischen  Styles  erscheinen.  Das  Gebäude  gehört 
daher  auch  ungeachtet  jener  gothischen  Elemente  in  seinem  Totaleindrucke 
noch  ganz  diesem  Style  an.  Ohne  Zweifel  hatte  nur  die  schwierige  Aufgabe, 
eine  so  grosse  und  hohe  Kuppelwölbung  genügend  zu  stützen,  Studien  des 
französischen  Strebesystems  und  dadurch  auch  die  Aufnahme  der  hohen 
Maasswerkfenster  veranlasst. 

Während  die  bisher  erwähnten  Gebäude  ungeachtet  mancher  Einzel- 
heiten des  gothischen  Styles  das  Gepräge  des  deutschen  Uebergangsstyles 
tragen,  dessen  Mannigfaltigkeit  durch  diese  neuen  Elemente  nur  vermehrt 
wird,  nahmen  die  Dinge  nun  eine  andere  Gestalt  an.  Es  fanden  sich  Meister, 
welche  nicht  bloss  Einzelnes,  sondern  die  tiefere  Bedeutung  des  neuen  Systems 
aufgefasst  hatten  und  zur  Geltung  brachten.  Noch  in  demselben  Jahre  1227, 
in  welchem  das  Kuppelgewölbe  von  St.  Gereon  geschlossen  wurde,  begann 
der  erste  Bau  in  wirklich  gothischem  Style,  die  Liebfrauenkirche  in 
Trier.  Der  gesteigerte  Mariencultus  dieser  Zeit  begnügte  sich  nicht  damit, 
der  heiligen  Jungfrau  Altäre  in  den  bestehenden  Kirchen  zu  errichten  oder 
ihr  diese  Kirchen  selbst  zu  widmen,  sondern  verlangte  eigene  Gebäude  für 
ihren  ausschliesslichen  Dienst,  welche  dann  neben  den  weiten  und  ernsten 
Hallen  der  Hauptkirche  als  besondere  Kapellen  oder  kleinere  Kirchen 
errichtet  und  ihrem  Zwecke  gemäss  möglichst    anmuthig  und  reich  aus- 


1)  Vgl.  V.  Quast  in  den  Jahrb.  der  rliein.  Altertliumsfreunde  Heft  XIIL,  S.  168, 
und  die  daselbst  S.  184  angeführte  alte  Nachricht,  welche  das  Jahr  1227  als  das  der 
Vollendung  des  Gewölbes  ausser  Zweifel  setzt.  Sonstige  Nachrichten  und  Abbildungen 
bei  Boisseree,  Niederrliein,  S.  34  und  Tafel  61  ff.  und  bei  Bock,  Rheinlands  Bau- 
•denkmale,  mit  Text  von  A.  Reichensperger. 


366  Früheste  g-othische  Bauten  in  Deutsclilaud. 

gestattet  wurden.  Eine  solche  wurde  nun  auch  dem  alten  Dome  zu  Trier, 
den  wir  als  eine  Stätte  fortdauernder  lebendiger  Bauthätigkeit  schon  kennen 
gelernt  haben  und  der  uns  schon  feste  Daten  für  den  Beginn  und  die 
weiteren  Fortschritte  des  Uebergangsstyles  gewährt  hat,    angefügt  2).     In 

England  und  Frankreich  pflegte 
'^"      ■  man  diese  Kapellen  gewöhnlich 

"^  in    länglicher  Gestalt    an  der 

^^  Ostseite  der  Kathedralen  anzu- 

bringen.     Hier    nöthigte    die 
Lage  der  älteren  Klostergebäude 
zu  einem  anderen  Plane;  man 
r\  I  /"^k  hatte  über  einen  Raum  auf  der 

;y-^'''      "•■■•■M^   ä^^m'  Südseite  des  Domes  von   etwa 

i./T-,   /B\ 's^'^x W.  i^^m 

\  i  y  jii;     "ix-^  Pv'i    >^~MiI         quadratischer  Gestalt  zu  ver- 

'-'^^■'^^^^m^^^^''^-^  fügen,  der  zu  einer  kreisrunden 

"■'    X/HlX    X^^'^^  /^  '■■   /  ^^^      ^^^^  polygonen  Anlage  einlud. 

Ä  f||\"7*^:~>||  \  !    y>'....  fl        Die  letzte  lag  dem  Geiste   des 

.^. ^#v    ■  ••'  /^    \!/     \^^^^      Uebergangsstyles    nahe;    man 

Würde,    wenn  man   den  alten 
Traditionen  gefolgt  wäre,  die 
^^  Mauern  als  Seiten  eines  Poly- 

gons mit  Anschluss  einer  Chor- 
nische gebildet,  und  eine  mittlere 
Kuppel    auf  Pfeilern,    welche 

Liebfrauenkirche  in  Trier.  ■,        -.nr.    i     ,        i       -n    i  i. 

den  Wnikem  des  Polygons  ent- 
sprachen, errichtet  haben.  Ein 


^)  Schmidt,  a.  a.  0.  Lief,  1,  dessen  Text  und  Abbildungen  hier  überall  als  Quelle 
gelten,  nimmt  S.  13  auf  die  Autorität  der  Herausgeber  der  Gesta  Trevirorum  an,  dass 
die  Liebfrauenkirche  nur  eine  Erneuerung  einer  älteren  Marienkirche  auf  derselben 
Stelle  sei.  Allein  die  Urkunde  vom  Jahr  1243,  auf  welche  sich  diese  Annahme  stützt, 
rechtfertigt  sie  nicht.  Der  Erzbischof  von  Köln  bewilligt  in  derselben  die  Sammlung 
von  Beiträgen  für  die  ecclesia  beate  Marie  Virginis  gloriose  majori s  in  Treveris,  que 
Caput  mater  et  magistra  est  omnium  ecclesiarum  provincie  Trevirensis,  welche  in 
Folge  des  Alters  eingestürzt  und  in  schönem  und  grossartigem  Style  neu  erbaut  sei, 
aber  der  Vollendung  bedürfe  (vgl,  die  Urkunde  selbst  auf  dem  letzten  Blatte  des  ersten 
Bandes  der  neuen  Ausgabe  der  Gesta  Trevirorum).  In  dieser  Weise  konnte  er  aber 
nur  von  dem  Dome  selbst  reden,  den  er,  wenn  auch  nicht  ganz  genau,  aber  dem  vor- 
herrschenden Gebrauche  entsprechend  als  Kirche  der  heiligen  Jungfrau  benennt.  Es 
scheint  daher,  dass  bei  der  Redaction  des  Ablassbriefes  der  Gegenstand,  welcher  der 
Vollendung  bedurfte,  nicht  genau  bekannt  war,  was  in  ähnlichen  Urkunden  uicht  selten 
vorkommt.  —  Abbild,  auch  bei  Fr.  Bock,  Rheinlands  Baudenkmale,  Bd.  I,  bei  Gail- 
habaud,  monuments  a.  et  m.  II,  u,  E.  Förster,  Denkmale,  I, 


Die  Liebfrauenkirche  in  Trier. 


367 


Fig.    101. 


solcher  Plan  genügte  jedoch  den  Ansichten  des  Meisters  nicht;  er  hatte- 
ohne  Zweifel  seine  Schule  in  Frankreich  gemacht,  war  von  dem  Geiste  des 
gothischen  Styles  durchdrungen  und  kam  dadurch  auf  den  Gedanken ,  die 
Umfangsmauern  nicht  als  einfache  Polygonseiten  zu  bilden,  sondern  jede 
derselben  wieder  in  polygoner  Gestalt  hervortreten  zu  lassen  und  diese 
einzelnen  Nischen  in  der  Weise  des  französischen  Kapellenkranzes  zu  ver- 
binden. Die  gewöhnliche  Form  des- 
selben war  aber  doch  dem  Zwecke 
nicht  entsprechend;  eine  innere 
Pfeilerstellung  nebst  Umgang  und 
dahinter  angebrachten  Kapellen 
gleicher  Grösse  würde  den  inneren 
Raum  zu  sehr  beschränkt  haben  und 
Hess  sich  mit  der  polygonen  Gestalt, 
welche  eine  wenigstens  annähernde 
Gleichheit  der  gegenüberliegenden 
Theile  des  Umfanges  erforderte, 
nicht  recht  vereinigen.  Er  zeichnete 
daher  zwei  sich  im  rechten  Winkel 
durchkreuzende  Hauptschiffe  gleicher 
Länge,  gab  jeder  Endseite  dieser 
Kreuzarme  einen  polygonförmigeu 
Schluss  und  zog  die  zwischen  den- 
selben entstehenden  Quadranten  in 
das  Innere,  indem  er  sie  durch  je 
zwei  kleinere  polygonförmige  Nischen 
abschloss,  so  dass  das  Ganze  eine 
Art  von  Rotunde  bildet.  Die  gros- 
sen Pfeiler  an  der  Vierung  tragen 
einen  Tlmrm,  die  Wände  der  Haupt- 
schiffe sind  hoch  hinaufgeführt,  die 
dreieckigen  Räume  und  Nischen 
zwischen    den    Armen    des  Kreuzes 

haben  die  Höhe  gewöhnlicher  Seitenschiffe.  Die  Peripherie  besteht  daher 
aus  zwölf,  nämlich  aus  vier  grösseren  und  acht  kleineren  Nischen,  der  obere 
Bau  lässt  ein  griechisches  Kreuz  nur  mit  verlängertem  Chorraum  und  mit 
Ausfüllung  der  Ecken  erkennen,  und  der  Grundriss  gleicht  ungefähr,  in 
welcher  Richtung  man  ihn  auch  betrachte,  der  Zusammenstellung  zweier 
Choranlagen  französischen  Styles.  Man  kann  nicht  im  Mindesten  zweifeln, 
dass  der  Meister  solche  Anlagen  kannte  und  ihnen  nachstrebte;  ja,  es  scheint 
sogar,  dass  er  ein  bestimmtes  Vorbild  im  Auge  hatte.    Es  ist  dies  die  Stifts- 


n%h 


St.  Yved  in  Braisne. 


363  Frülicste  gothlsche  Bauten  in  Denlscliland. 

kirche  St.  Yved  inBraisne  bei  Soissons,  die  ich  oben  beschrieben  und  dabei 
bemerkt  habe,  dass  sie  gevvissermaassen  eine  Verschmelzung  französischer  und 
deutscher  Gewohnheiten ,  des  Kapellenkranzes  mit  dem  Chorschluss  ohne 
Umgang,  darstelle.  Die  Kirche  von  Braisne  ist  zwar  kein  Polygonbau,  sie 
hat  das  gewöhnliche  Langhaus  und  rechtwinkelig  gestellte  Kreuzarme,  aber 
der  Chor  gleicht  dem  der  Liebfrauenkirche  durchweg,  auch  in  den  Verhält- 
nissen des  weiter  hervortretenden,  mit  fünf  Seiten  des  Zehnecks  geschlos- 
senen Altarraumes  und  der  einzelnen  Abtheilungen  der  Gewölbanlage  so 
vollständig,  dass  man  ein  zufälliges  Zusammentreffen  unmöglich  annehmen 
kann.  Die  französische  Kirche  ist  in  den  Jahren  1180  bis  1216  erbaut, 
also  älter  als  die  Liebfrauenkirche,  und  wir  müssen  daher  annehmen,  dass 
der  deutsche  Meister  sie  gekannt  und  benutzt  hat^).  Diese  Uebereinstimmung 
beider  Kirchen  erstreckt  sich  aber  keinesweges  auf  die  Details,  welche  in 
St.  Yved  ziemlich  roh  und  in  der  schweren  Weise  des  frühgotbischen  Styles, 
in  der  Liebfrauenkirche  dagegen  theils  an  rheinische  Uebergangsbauten 
erinnernd,  theils  im  Geiste  des  gothischen  Styles  sehr  viel  feiner  entwickelt 
sind.  Die  Pfeiler  an  der  Vierung  sind  kantonirte  Rundsäulen,  die  hier  zum 
ersten  Male  auf  deutschem  Boden  erscheinen,  die  übrigen  einfache,  überaus 
schlanke  Säulen,  diese  auf  rundem,  jene  auf  achteckig  gestaltetem  Sockel, 
welcher  die  Ptuudung  des  Kernes  in  die  Achsenlinien  des  Gebäudes  über- 
leitet. Das  Maasswerk  der  zweitheiligen  Fenster  ist  noch  sehr  einfach  und 
gleicht  dem  im  Chore  des  Doms  von  Rheiras  und  im  Herstellungsbau  von 
Notre-Dame  von  Paris,  indem  der  (hier  indessen  durch  einen  Sechspass  be- 
lebte) Kreis  nach  Verhältniss  der  Bögen  etwas  zu  gross  gehalten  ist.  Da- 
gegen ist  die  Bildung  des  Kapitals  schon  mehr  dem  Geiste  des  neuen  Styles 
entsprechend,  als  in  den  Kathedralen  von  Rheims  und  Amiens,  ein  den 
ganzen  Pfeiler  mit  Einschluss  der  Ilalbsäulen  in  stets  gleicher  Höhe  um- 
fassendes schmales  Gesims,  das  mit  zwei  Reihen  theils  auf  ihren  Stielen 
stehender,  theils  frei  angelegter  Blätter  geschmückt  ist.  Die  Profile  der 
Gurten  und  Bögen  sind  sämmtlich  schon  leicht  und  tief  unterhöhlt  und  zum 
Theil  birnförmig,  die  Rippengewölbe  mit  grosser  Kühnheit  meisterlich  aus- 
geführt. Das  Aeussere  ist  durchweg  an  allen  Winkeln  der  Nischen  mit 
Strebepfeilern  bewehrt,  die  mit  einfacher  Abdachung  schliessen;  Strebebögen 
sind  nicht  vorhanden,  aber  auch  nicht  nöthig,  da  halbkuppelförmige  Gewölbe 
von  allen  Seiten  nach  der  Mitte  zu  stützend  anstreben.  Die  Pfeiler  haben 
sämmtlich  leichte  Schaftringe,  die  aber  nicht  auf  mittlerer  Höhe  stehen, 


^)  Das  Verdienst,  die  Aeliniichkeit  beider  Kirchen  entdeckt  zu  haben,  gehört 
Mertens,  der  in  seinen  zu  Diisseklorf  1841  geliaitenen  Vorlesungen  zuerst  darauf  auf- 
merksam niaclite,  und  mich  dadurcii  veranlasste,  bei  euier  späteren  Reise  in  Frank- 
reich St.   Yved  zu  besuchen. 


Die  Liebi'rauenkirclie  in  Trier.  369 

sondern  dem  Kafsimse  der  unteren  und  oberen  Fenster  entsprechen.  Auch 
haben  die  hohen  Pfeiler  sowohl  unten  bei  dem  Ansätze  der  Scheidbögen,  als 
oben  bei  dem  der  Gewölbe  ihre  Kapitälgesimse,  so  dass  vier  Horizontallinien 
durch  das  ganze  Innere  fortgeführt  sind,  was  bei  dem  leichten  üeberblick 
über  sämmtliche  Pfeiler,  den  die  Rundgestalt  gewährt,  sehr  vortheilhaft 
wirkt.  Sämmtliche  Portale  sind  rundbogig.  Das  Hauptportal  auf  der  West- 
seite hat  schon  nach  französischer  Weise  an  den  Seitenwänden  grosse 
Statuen  unter  Baldachinen,  in  den  fünf  Archivolten  Statuetten.  Die  beiden 
anderen,  das  eine  vom  Dome,  das  andere  vom  Kreuzgange  her  in  die  Kirche 
führend,  schliessen  sich  dagegen  noch  ganz  an  romanische  Bildung  an,  indem 
ihre  schrägen  Gewände  mit  schlanken,  zum  Theil  mit  Schaftringen  versehenen 
Säuleu,  ihre  Archivolten  mit  reichen  Kränzen  besetzt  sind.  Das  letzterwähnte 
Portal  hat  sogar  im  Bogenfelde  nicht  wie  die  anderen  historische  Reliefs, 
sondern  einen  bloss  decorativen  Kleeblattbogen  von  Weinlaub.  Sämmtliches 
Laubwerk  ist  aber  keinesweges  romanisch  stylisirt,  sondern  sogar  leichter, 
kühner  und  mit  deutlicherer  Nachahmung  einheimischer  Pflanzen  gearbeitet, 
als  in  den  gleichzeitigen  französischen  Kirchen.  Wir  erkennen  also  in  allen 
Beziehungen  einen  Meister,  der  sehr  frei  und  selbständig  verfuhr.  Er  hatte 
sich  mit  dem  frauzösisch-gothischen  Style  vertraut  gemacht  und  war  für  ihn 
begeistert,  aber  diese  Begeisterung  machte  ihn  nicht  zum  sclavischen  Nach- 
ahmer. Schon  die  Benutzung  eines  blossen  Chores  zu  der  Rotundengestalt 
der  Liebfrauenkirche  ist  so  sinnreich  und  genial,  dass  sie  einer  völlig  neuen 
Schöpfung  gleichgestellt  werden  kann.  Erwägt  man  dabei,  dass  die  Chor- 
anlage von  St.  Yved  gewissermaassen  die  Mitte  zwischen  dem  französischen 
Kapellenkranze  und  dem  in  Deutschland  üblichen  einfachen  Chorschluss  hält, 
dass  sie  in  Frankreich  ganz  isolirt  dasteht,  dass  dagegen  in  Deutschland 
später  und,  soviel  wir  ersehen  können,  unabhängig  von  St.  Yved  und  von 
der  Liebfrauenkirche,  bloss  durch  die  Verschmelzung  gothischer  und  deutscher 
Elemente  mehrmals  ganz  ähnliche  Anlagen  entstanden  sind  ^),  so  könnte  man 
auf  die  Vermuthung  kommen,  dass  schon  jene  französische  Choranlage  das 
Werk  eines  deutschen ,  aber  in  französischer  Schule  gebildeten  Meisters 
gewesen,  der  dann  später  dasselbe  Motiv  in  reicherer  Weise  an  der  Lieb- 
frauenkirche anwandte.     Jedenfalls  aber,  wenn  dies  nicht  der   Fall  war. 


1)  Au  der  Stiftskirclie  in  Xanten  und  in  etwas  vereinfachter  Weise  an  den  Kirchen 
zu  Ahrweiler  und  Oppenheim,  die  sämmtlicli  unten  besprochen  werden.  Ausserhalb 
Deutschlands  finden  sich  solche  Choranlagen  in  Belgien  und  in  Lothringen-,  die  von 
St.  Bavo  in  Gent  gleicht  genau  der  von  Xanten  (Wiebeking  Tafel  86),  die  von 
St.  Gengoul  in  Toul  genau  der  von  Oppenheim.  Indessen  gehörte  Gent  wie  Xanten 
damals  zur  Kölner,  Toul  wie  Oppenheim  zur  Mainzer  Provinz,  so  dass  hier  unbedenk- 
lich eine  durch  geistliche  Verbindung  vermittelte  Einwirkung  der  östlichen  Kirchen 
auf  die  westlichen  angenommen  werden  kann. 

Sclinaaso's  Kunstgcsch.  2.  Aufl.    V.  -■! 


g'JQ  Frülieste  gotliische  Bauten  in  Deutschland. 

beweist  schon  die  Wahl  jenes  halb  deutschen  Vorbildes  eine  ungewöhnliche 
Klarheit  und  Sicherheit  des  künstlerischen  Bewusstseins,  die  uns  denn  auch 
tiberall  in  der  Ausführung  entgegentritt.  Der  Meister  wagt  es,  die  in  Frank- 
reich längst  aufgegebene  Form  des  rundbogigen  Portals  beizubehalten ,  weil 
sie  dem  anmuthigen  Charakter  seines  Werkes  zusagt,  er  nimmt  auch  im 
Obergeschoss  des  Thurmes  den  Rundbogen  Avieder  auf,  zugleich  geht  er  aber 
in  der  Bildung  des  Kai^itäls  im  Geiste  des  gothischen  Styles  weiter,  als  die 
meisten  seiner  französischen  Zeitgenossen,  er  wendet  sich,  wo  ihn  weder  die 
deutschromanische  noch  die  französische  Ornamentik  befriedigen,  unmittelbar 
an  die  Natur.  Er  verräth  an  keiner  Stelle  die  Mattigkeit  des  Nachahmers; 
jede  Linie  derProfilirung,  jedes  kleinste  Detail  athmet  vielmehr  eine  Wärme 
der  Empfindung,  welche  dem  ganzen  Werke  einen  Cliarakter  der  Jugend- 
frische und  anspruchsloser  Schönheit  verleiht,  die  jeden  empfänglichen  Be- 
schauer entzückt.  So  trat  also  der  gothische  Styl,  obgleich  von  französischen 
Vorbildern  hergeleitet,  schon  bei  seinem  ersten  Erscheinen  auf  deutschem 
Boden  mit  voller  Selbständigkeit  und  mit  tieferem  Verständniss  des  Princips 
auf;  der  deutsche  Geist  behandelte  ihn  nicht  als  eine  fremde,  fertige  Schöpfung, 
sondern  als  sein  Eigenthum. 

Sehr  interessant  ist  auch  der  Kreuzgang  des  Domes  ^),  dessen  Kapitale 
und  Profile  zum  Theil  mit  denen  der  Liebfrauenkirche  so  genau  überein- 
stimmen, dass  man  sie  für  Arbeiten  desselben  Meisters  halten  möchte,  dessen 
eigenthümliche  Mischung  romanischer  und  gothischer  Elemente  aber  zweifel- 
haft macht,  ob  er  später  oder  früher  entstanden  ist.  Seine  dreitheiligen 
Lichtöffnungen  sind  nämlich  rundbogig,  und  zwar  in  der  Art,  dass  der  Um- 
fassungsbogen  des  ganzen  Fensters  und  die  beiden  äusseren  Bögen  überhöht 
sind,  während  der  mittlere  niedriger  gehalten  ist  und  eine  Kreisöffnung  mit 
einem  Sechspasse  trägt.  Wir  sehen  also  den  Rundbogen  mit  Maasswerk- 
formen verbunden,  welche  die  Kenntniss  des  gothischen  Styles  voraussetzen, 
wie  denn  auch  die  regelmässigen  Strebepfeiler  und  die  schon  unterhöhlten 
Profile  der  Gewölbrippen  darauf  hindeuten.  Nur  an  einer  auf  der  Westseite 
des  Kreuzganges  und  unmittelbar  neben  der  Liebfrauenkirche  angebauten 
Kapelle  haben  die  Lichtöffnungen  (bei  übrigens  gleicher  Anordnung  und  mit 
Beibehaltung  des  Halbkreises  an  dem  mittleren  Bogen,  welcher  den  Kreis 
trägt)  durchweg  Spitzbögen.  Im  Jahre  1215  wurde,  zufolge  einer  Ueber- 
lieferung,  das  an  den  Kreuzgang  anstossende  Refectorium  hergestellt  2),  aber 
noch  im  Jahre  1258  bewilligte  Papst  Alexander  IV.  einen  Ablass  zu  Gunsten 
der  Trierer  Domkirche,  in  welcher  ausdrücklich  das  „Kloster"  als  vor  Alter 


1)  Vgl.  Schmidt  a.  a.  0.   Lief.  2,    Taf.  3  und  7,   S.  45  und  61,   u.  Bock  a.  a.  0. 

2)  Schmidt  a.  a.  0.  S.  46. 


Einfluss  der  Liebfrauenkirche.  371 

verfallen  bezeichnet  wird^).  Indessen  ist  diese  letzte  umfassende  Bezeich- 
nung nicht  gerade  auf  den  Kreuzgang,  sondern  auf  andere  Klostergebäude, 
vielleicht  auf  jene  erwähnte  Kapelle  zu  beziehen ,  welche  ihrer  Lage  nach 
erst  nach  Beendigung  der  Chornische  der  Liebfrauenkirche  erbaut  sein  kann, 
50  dass  die  rundbogigen  Theile  des  Kreuzganges  früher,  zum  Theil  vor,  zum 
Theil  während  des  Baues  dieser  Kirche  entstanden  sein  mögen.  Sie  geben 
■einen  merkwürdigen  Beweis,  wie  man  um  diese  Zeit  die  Elemente  beider 
Style  zu  verschmelzen  suchte. 

Um  1243  war,  wenigstens  nach  überlieferter  und  wahrscheinlicher  An- 
nahme, der  1227  angefangene  Bau  der  Liebfrauenkirche  ziemlich  beendet, 
ohne  dass  bis  dahin  in  der  Rheinprovinz  ein  anderer  bedeutender  Neubau 
im  neuen  Style  begonnen  war.  Wohl  aber  können  wir  an  näheren  und  ent- 
fernteren Stellen  bemerken,  wie  zu  bereits  in  romanischer  Weise  angefangenen 
Bauten  Schüler  der  Trierer  Hütte  hinzugetreten  sind,  welche  nun  in  mehr 
oder  weniger  umfassender  Weise  dort  das  Erlernte  zur  Geltung  brachten. 
Sehr  auffallend  erscheint  dies  an  der  benachbarten  Klosterkirche  zu  Offeu- 
bach  am  Glan,  deren  Bau  am  Ende  des  zwölften  oder  am  Anfange  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  in  romanischer  Weise  begonnen,  aber  unterbrochen 
war,  und  nun  später  von  den  im  neuen  Style  gebildeten  Werkleuten  so  rück- 
sichtslos fortgesetzt  wurde,  dass  sie  auch  solche  Bögen,  die  schon  in  roma- 
nischer Profilirung  angefangen  waren,  in  gothischer  beendeten-).  Die 
Gewölbrippen,  Fensterbildungen  und  Strebepfeiler  des  Kreuzschiffes  und 
Chores  lassen  keinen  Zweifel,  dass  diese  Werkleute  aus  der  Hütte  zu  Trier 
hervorgegangen  waren.  Ebenso  finden  wir  dieselbe  Schule  an  entfernteren 
Orten  des  Mosel-  und  Rheinthales.  In  der  Stiftskirche  zu  Garden •'),  wo 
der  Chor  und  das  Kreuzschiff  zwar  mit  spitzbogigen  Arcaden  und  Gewölben, 
aber  sonst  in  romanischer  Weise  errichtet  waren,  hat  das  Langhaus,  obgleich 
gewiss  eine  unmittelbare  Fortsetzung  des  Baues,  sehr  kurze  und  weitgestellte 
iantonirte  Rundsäulen  mit  Blattkapitälen  und  hoch  hinaufgehendem  Mittel- 
dienste, zweitheilige  Fenster  mit  ganz  einfachem  Maasswerk  und  dabei  an 
den  noch  in  schwerer  Form  angelegten  Scheidbögen  einzelne  birnförmige 
Profile;  es  ist  in  der  That  schon  ausgesprochen  gothisch.     Aehnlich,  aber 


')  In  den  Annales  archeologiques  XH,  p.  161  wird  der  Text  dieser  bis  daliin 
unedirten  Uriiunde  mitg^etheilt.  Die  Worte:  „ecclesia  et  claustrum  nimia  vetustate 
consumptum"  sind  wieder  offenbare  Uebertreibiingen  der  Ablassurkunde  und  lassen 
ilaher  den  wahren  Sinn  zweifelhaft,  zumal  das  Wort  „claustrum"  alle  Gebäulichkeiten 
des  Domes  umfasst. 

2)  Sclimidt  a.  a.  0.  Lief.  3.  —  v.  Quast,  Zeitschrift  für  christliche  Arcliäolog-ie 
tind  Kunst,  möchte  in  diesem  Werke  vielmehr  eine  Vorstufe  der  Liebfrauenkirche,  viel- 
leicht ein  früheres  Werk  desselben  Meisters  sehen. 

•')  Vgl.  Abbildung  bei  v.  Quast  und  Otte,  Zeitschrift,  l.  S.  90. 

24* 


372  Früheste  gothische  Bauten  in  Deutschland. 

viel  edler  und  bedeutender  und  zugleich  von  stärkerem  Einfluss  der  Lieb- 
frauenldrche  zeugend  ist  die  St.  Martinskirche  zu  Münstermaifeld. 
Der  Chor  ist  wieder  in  Uebergangsformen  erbaut,  die  aber  hier  schon  dem 
Gothischen  sehr  nahe  stehen.  Zwar  hat  er  an  seinem  unteren  Stockwerke 
den  Bogenfries  und  unter  dem  Dache  die  Zwerggallerie ,  aber  beide  schon 
mit  spitzen  Bögen.  Er  schliesst  fünfseitig  aus  dem  Zehnecke,  aber  seine 
Ecklisenen,  deren  Aussenlinien  dem  Winkel  der  beiden  von  ihnen  berührten 
Polygonseiten  parallel  laufen,  sind  so  stark  gebildet,  dass  sie  fast  die  Be- 
deutung von  Strebepfeilern  haben,  und  oben  zu  Spitzbögen  verbunden,  in 
w^elchen  die  hohen  spitzbogigen  Fenster  in  vertieftem  Felde,  also  in  einer 
bloss  ausfüllenden  Mauer,  stehen.  Im  Inneren  sind  die  Ecken  mit  zierlichen, 
von  Ringen  durchschnittenen  Säulenbündeln  besetzt,  die  vor  den  Fenstern 
über  dem  stärkeren  Unterbau  einen  Umgang  bilden.  Das  Langhaus  dagegen, 
mit  niedrigen  Seitenschiffen  und  drei  schmalen  Gewölbfeldern  des  Mittel- 
schiffes, ist  in  allen  Beziehungen  ein  gelungenes  Werk  des  frühgothischen 
Styles.  Die  kantonirten  Rundpfeiler,  mit  ziemlich  kurzer  Kernsäule  aber 
hoch  hinaufgehendem  Mitteldienste,  haben,  wie  in  der  Liebfrauenkirche, 
niedrige  Laubkapitäle  und  eine  rautenförmige  Basis,  sind  aber  zum  Theil 
schon  entwickelter  wie  dort,  indem  der  Mitteldienst  am  westlichen  Pfeiler- 
paare von  unten  auf,  am  östlichen  wenigstens  oberhalb  des  Kapitals  der 
Kernsäule  von  zwei  Gurtträgern  flankirt  ist.  Die  Maasswerkfenster  gleichen 
völlig  den  einfacheren  in  Trier;  Scheidbögen  und  Gewölbgurten  sind  von 
guter,  selbst  eleganter  gothischer  Profilirung.  Die  Strebepfeiler  und  Strebe- 
bögen endlich  sind  noch  sehr  schlicht  gehalten.  Ueber  die  Zeit  des  Baues 
wissen  wir  nur,  dass  derselbe  1225  begonnen  ist,  und  erst  1330  ganz  beendet 
sein  soll.  Ohne  Zweifel  bezieht  sich  die  erste  Jahreszahl  auf  den  Chorbau, 
die  zweite  auf  die  Vollendung  des  Kreuzschiffes,  dessen  grosse  Maasswerk- 
fenster einer  späteren  Zeit  angehören,  während  das  Schiff  mit  seinen  schönen, 
frühgothischen  Formen  wohl  unmittelbar  nach  dem  Chore,  etwa  um  1240, 
in  Angriff  genommen  sein  wird.  Etwas  früher  mag  der  Chorbau  fallen, 
welcher  der  älteren  Pfeilerbasilika  zu  Hirzenach  (zwischen  Boppart  und 
St.  Goar)  um  diese  Zeit  angefügt  ist.  Er  ist  fünfseitig  aus  dem  Achteck, 
in  den  Ecken  mit  ziemlich  reich  gebildeten  Bündelpfeilern,  dazwischen  mit 
zweitheiligen  Maasswerkfenstern,  wiederum  nach  Art  der  Liebfrauenkirche, 
an  beiden  aber,  an  Pfeilern  und  Fenstern,  die  einzelnen  Säulchen  noch  sehr 
selbständig  und  mit  fast  voller  Rundung  hervortretend.  Die  Gewölbgurten 
sind  von  guter  birnförmiger  Profilirung,  unter  den  Fenstern  ist  aber  eine 
sehr  derbe  und  noch  an  romanische  Behandlung  ei'innernde  Arcatur  an- 
gebracht. Aehnliche  Pfeiler,  Fenster  und  Profilirungen  finden  sich  auch 
in  der  ehemaligen  Dominikanerkirche  zu  Coblenz,  jetzt  Militairmagazin, 
welche  im  Jahre  1245   einen  Ablassbrief  zur  Förderung  des  Baues  erhielt, 


Elisabethkirche  zu  Marburi 


373 


und,  wenn  auch  in  sehr  roher  Weise;  au  der  etwa  gleichzeitigen  Carmeliter- 
kirche  zu  Kreuznach').  Wir  sehen  also  in  allen  diesen  Bauten,  die  freilich 
sämmtlich  nicht  vor  1240  entstanden  sein  werden,  den  Einfluss  'der  Lieb- 
frauenkirche, wenn  auch  zum  Theil  noch  in  romanisirender  Behandlung. 


Fig.  102. 


Elisabethkirclie  zu  Marburg. 


Früher  als  diese  rheinischen  Bauten,  und  noch  während  der  Bauzeit 
der  Liebfrauenkirche  war  aber  ausserhalb  des  Rheinlandes  und  ziemlich  ent- 
fernt von  Trier,  in  Hessen,  ein  sehr  viel  bedeutenderes  und  ihr  einiger- 
maassen  verwandtes  Werk  begonnen.  Es  ist  dies  die  mit  Recht  berühmte 
St.  Elisabethkirche  zu  Marburg^),  welche  zwar  erst   1283  vollendet, 


1)  Notizen  über  alle  diese  Kirchen  bei  Kugler  kl.  Sehr.  II,  239  S. 
1)  Bekanntlich  in  MoUer's  Denkmalen   Bd.  II   vortrefflich  edirt.     Vgl.  auch  Kug-ler 
kl.  Sehr.  II,   161,  und  E.  Förster,  Denkmale,  II. 


374 


Früheste  g-othische  Bauten  in  Deutschland. 


Fig.  103. 


aber  schon  1235;  unmittelbar  nach  der  Heiligssprechuug  der  verehrten- 
Fürstin,  mit  dem  Chore  angefangen  wurde  und,  geringe  Verschiedenheite» 
abgerechnet,  so  sehr  wie  aus  einem  Gusse  gebildet  ist,  dass  ihr  ein  fest- 
gestellter Plan  oder  die  Wirksamkeit  einer  durch  einen  hervorragenden. 
Meister  gestifteten  Schule  zum  Grunde  liegen  muss.  Ihre  Anlage  ist  nicht 
wie  die  jener  Frauenkirche  eine  ungewöhnliche;  sie  sollte  nicht  das  Neben- 
gebäude eines  mächtigen  Domes,  sondern  eine  selbständige,  einer  ein- 
heimischen, hochverehrten  Heiligen  gewidmete  Kirche  sein.  Sie  hat  daher 
die  herkömmlichen  Theile,  ein  dreischiffiges  Langhaus,  Kreuzarme  und  Chor, 

alles  aber  mit  manchen  Neuerungen.  Die 
Schiffe  des  Langhauses  sind  gleicher  Höhe, 
die  Kreuzarme  schliessen  dem  Chore  gleich 
mit  polygonförmigen ,  durch  fünf  Seiten 
des  Zehnecks  gebildeten  Nischen.  Es 
ist  also  eine  Hallenkirche,  die  erste 
des  gothischen  Styles,  verbunden  mit 
einer  Choranlage  kleeblattartiger  Form; 
in  einer  Weise,  wie  sie  im  gothischen 
Style,  selbst  an  der  Kathedrale  von  Noyon 
noch  nicht  vorgekommen  war.  Die  Ver- 
hältnisse sind  durchaus  regelmässig;  die 
Seitenschiffe  von  halber  Breite  des  Mittel- 
schiffes, die  Höhe  des  letzteren  unter  dem 
Gewölbe  der  gesammten  Breite  gleich. 
Die  Pfeiler  sind  wie  in  Trier  cylindrischen 
Kernes  mit  vier  angelegten  Halbsäulen, 
aber  ohne  Schaftring;  die  Kapitale  wie 
dort  schmale  Kapitälgesimse  mit  freiem, 
sich  ablösendem  Blattwerk.  Zwei  Reihen 
massig  grosser,  zweitheiliger,  mit  einem 
einfachen  Kreise  über  den  inneren  Bögen 
verzierter  Fenster  ziehen  sich  um  das  ganze  Gebäude  herum.  Die  Kreuz- 
gurten der  Gewölbe  sind  schon  nach  gothischer  Weise  birnförmig  profilirt,. 
die  Basis  schliesst  sich  bei  einigen  Pfeilern  der  Rundung  der  Kernes  und 
der  Halbsäule  an ,  während  sie  bei  anderen ,  wie  in  der  Liebfrauenkirche, 
bereits  rautenförmige  Gestalt  hat.  Das  Ganze  trägt  einen  durchaus  harmo- 
nischen, aber  auch  primitiven  Charakter. 

Die  Verwandtschaft  mit  jener  Trierer  Kirche  ist  unverkennbar.  Nicht 
bloss  die  Pfeiler,  das  Maasswerk  der  Fenster  und  der  Chorschluss  mit  fünf 
Seiten  des  Zehnecks  weisen  dorthin,  sondern  auch  die  Anordnung  zweier 
Reihen  gleicher,  übereinander  gestellter  Fenster.     In  der  Liebfrauenkirche 


I  I  I — I I I 1 ,i\ 

Elisabetlitirclie  zu  Marburg. 


St.  Elisabetli  in  Marburi,'.  375 

besteht  diese  Anordnimg  nur  in  den  höheren  Theilen  und  zwar  mit  dem 
Zwecke,  die  unteren  Fenster  dieser  höheren  Theile  als  eine  Fortsetzung  der 
Fensterreihe  in  den  niedrigen  Theilen  erscheinen  zu  lassen.  Hier  fehlte 
dieser  Grund  und  es  wäre  bei  der  Anlage  gleich  hoher  Schiffe  viel  natür- 
licher gewesen,  nur  ein  schlankes  Fenster  in  jeder  Abtheilung  anzubringen. 
Man  darf  daher  vermuthen,  dass  bei  der  Neuheit  solcher  Anlage  das  Vorbild 
der  Trierer  Kirche  und  die  Reminiscenz  an  die  Doppelreihen  der  Fenster 
bei  niedrigeren  Seitenschiffen  den  Meister  bestimmt  haben.  An  der  Lieb- 
frauenkirche sind  sämmtliche  Portale,  hier  wenigstens  die  beiden  kleineren 
Thüren  der  Seitenschiffe,  welche  unter  den  Fenstern  liegen  und  mithin 
möglichst  geringe  Höhe  erhalten  mussten,  rundbogig.  Sie  sind  im  Wesent- 
lichen romanisch  und  zeigen,  dass  man  diesen  älteren  Styl  bei  Annahme 
des  gothischen  noch  sehr  wohl  zu  handhaben  wusste  und  keineswegs  un- 
bedingt verwarft).  Sehr  auffallend  ist  die  Nischengestalt  der  Kreuzarme. 
Die  viereckige  Anlage  dieser  Theile  ist  so  natürlich,  dass  man  sich  noth- 
wendig  fragen  muss,  was  den  Meister  bewogen  haben  mag,  davon  abzugehen. 
Bei  den  früher  beschriebenen  romanischen  Kirchen  in  und  um  Köln  und  an 
der  Kathedrale  von  Tournay  hing  diese  Anordnung  mit  dem  Centralisations- 
gedanken  zusammen,  welcher  Chor  und  Kreuz  zu  einer  um  die  Kuppel  ge- 
lagerten Gruppe  verbinden  wollte.  Davon  ist  hier  aber  keine  Spur;  ein 
schwaches  Thürmchen,  ein  sogenannter  Dachreiter,  bezeichnet  den  Kreuzungs- 
punkt, und  das  ganze  Gebäude  erstreckt  sich  hinter  den  Thürmen  der  West- 
seite in  länglicher  Gestalt  und  ununterbrochener  Höhe.  Der  Grund,  welcher 
den  Meister  bestimmte,  muss  daher  ein  anderer  gewesen  sein;  vielleicht  darf 
man  annehmen,  dass  er  den  Abschluss  des  Ganzen  durch  polygone  Nischen, 
wie  ihn  die  französische  Architektur  in  ihrem  Kapellenkranze  hatte,  kannte, 
und  etwas  Aehnliches,  aber  ohne  so  weitschichtige  Anlage,  zu  erlangen 
suchte.  Jedenfalls  gab  diese  Anordnung,  wie  in  der  Trierer  Kirche,  wenn 
auch  in  anderer  Weise,  eine  Verschmelzung  der  französischen  Nischenbildung 
mit  dem  deutschen  Chorschlusse  ohne  Umgang.  Ungeachtet  aller  Ueber- 
einstimmung  mit  der  Liebfrauenkirche  kann  man  indessen  nicht  annehmen, 
dass  beide  von  demselben  Meister  herstammen.  Die  Details  sind  andere, 
das  Ganze  athmet  hier  einen  strengeren  Charakter;  der  Meister  ist  sich  des 
Princips  der  gothischen  Kunst  in  vollem  Maasse  bewusst,  er  weicht  aber  in 
der  Anwendung  desselben  noch  mehr  von  der  französischen  Weise  ab,  als 
der  Trierer.  Grossentheils  entstanden  diese  Abweichungen  durch  die  An- 
ordnung gleich  hoher  Schiffe,  welche  hier  vermutblich  nach  dem  Vorgange 
der  westphälischen  Schule  angenommen  wurde;  der  kantonirte  Rundpfeiler 
erhielt  dadurch  sofort  eine  andere  Bedeutung,  er  wurde  die  einzige,  unmittel- 

1)  Wie  dies  schon  Kugler  a.  a.  0.  S.  1G3  ricluig  bemerkt  hat. 


376  Früheste  gotliische  Bauten  in  Deutschland. 

bare  Stütze  der  Gewölbe,  hing  mit  keiner  Oberwaud,  mit  keinem  aufsein 
Kapital  zu  stellenden  Gewölbdienste  zusammen.  Das  Kapital  wurde  zu 
einem  gleichmässig  um  die  ganze  Pfeilermasse  herumlaufenden  Gesimse,  die 
Triforien,  die  Oberlichter  fielen  fort,  die  gesammte  Anordnung  des  Inneren 
wurde  einfacher.  Die  Anlage  des  Kapellenkranzes  wäre,  da  es  kein  niedriges, 
um  den  höheren  Chorraum  herumzuführendes  Seitenschiff  gab,  ein  müssiger 
und  unorganischer  Zusatz  gewesen.  Der  ganze  ritterliche  Prunk  frei  auf- 
steigender Fialen,  kühner  Strebebögen,  breiter,  reicheres  Maasswerk  er- 
fordernder Fenster  war  ausgeschlossen.  Dagegen  trat  das  Verticalprincip 
in  jenen  einfacheren  Pfeilern  und  hohen  Seitenwänden,  in  den  Strebepfeilern, 
welche  ununterbrochen  vom  Boden  bis  zum  hohen  Dache  aufsteigen,  deut- 
licher zu  Tage.  Es  war  dadurch  die  Richtung  auf  eine  schlichtere  Behand- 
lung aller  Thcile  gegeben,  welche  weniger  durch  Mannigfaltigkeit  und  Kühn- 
heit, als  durch  übersichtliche  Anordnung,  klare  und  strenge  Gesetzlichkeit, 
richtige  und  harmonische  Verhältnisse  und  Anmuth  der  Details  zu  wirken 
suchte.  Schon  die  Annahme  der  Hallenform  zeugt  von  der  Neigung  für 
eine  solche  Auffassung.  Dass  diese  aber  nicht  bloss  durch  jene  bedingt  war, 
ergiebt  sich  aus  der  davon  unabhängigen  Fagade.  Denen  der  französischen 
Kirchen  ist  sie  sehr  unähnlich;  der  Schmuck  der  Statuen,  der  Arcadenreihen, 
der  Rose  fehlt;  das  Portal  steigt  nicht  mit  einem  Spitzgiebel  frei  empor, 
sondern  ist  nur  mit  schlanken  Säulchen,  mit  Archivolten,  die  noch  nach  dem 
Gesetze  des  romanischen  Styles  abwechselnd  nackt  und  mit  Blätterreihen 
verziert  sind,  mit  einem  Rankengewinde  im  Bogenfelde  sehr  einfach,  aber 
anmuthig  geschmückt.  Darüber  bildet  ein  breiteres  Fenster  mit  reichem 
Maasswerk  die  einzige  Ausstattung  der  Wand  unter  dem  Giebel  des  Mittel- 
schiffes, während  die  beiden  Thürme,  durch  kräftige  Strebepfeiler  begrenzt 
und  bloss  durch  schlanke  Spitzfenster  verziert,  in  schwacher  Verjüngung 
aufsteigen  und  amFusse  des  achteckigen  Helmes  durch  vier  einfache  Fialen 
abschliessen.  Die  ganze  Fagade  ist  also  höchst  anspruchslos  und  einfach, 
macht  aber  durch  ihre  klaren  und  regelmässigen  Verhältnisse  einen  be- 
deutenden, würdigen  und  ernsten  Eindruck  und  zeigt  das  Verticalprincip  in 
einer  Klarheit  und  Reinheit,  wie  kaum  irgend  ein  anderes  Gebäude. 

Bei  diesen  Eigenschaften  kann  es  nicht  überraschen,  dass  die  Bauhütte 
dieser  Kirche  einen  bedeutenden  Einfluss  auf  andere  Bauten  ausübte.  Eine 
Reihe  von  Kirchen  mit  gleich  hohen  Schiffen  und  entschiedener  Familien- 
ähnlichkeit beweist,  wie  lange  man  noch  in  Hessen  diesem  Vorbilde  folgte. 
Die  meisten  derselben ,  wie  die  Marienkirche  in  Marburg  selbst,  die 
Kirchen  zu  Frankenberg,  Grünberg,  Alsfeld,  Friedberg  sind  erst 
nach  der  Vollendung  der  Elisabethkirche ,  zum  Theil  selbst  im  vierzehnten 
Jahrhundert  und  sogar  in  der  Spätzeit  desselben  gegründet.  Dagegen  hat 
dieKirchezu  Wetter  noch  Dienste  mit  Schaftringen  und  sonst  noch  unsichere 


Die  hessische  Schule.  377 

und  alterthümliche  Details ,  ebenso  die  Cistercienserkirclic  zu  Hayna,  die 
gleichzeitig  mit  der  Elisabethkirche,  vielleicht  selbst  früher  als  diese,  be- 
gonnen ist^)  und  in  ihren  Osttheilen  bei  grosser  Aehnlichkeit  mit  derselben 
zum  Theil  primitivere  Formen  enthält.  Dass  die  Thürme  fehlen  und  der 
Chor  und  dem  entsprechend  die  Kreuzarme  nicht  Avie  in  der  Elisabethkirche 
polygonförmig ,  sondern  rechtwinkelig  geschlossen  sind,  erklärt  sich  schon 
aus  der  Sitte  des  Ordens  und  gestattet  daher  keinen  Schluss  auf  das  Zeit- 
verhältniss  beider  Bauten. 


Der  Einfluss  dieser  Schule  erstreckte  sich  sehr  bald  über  die  Grenzen 
von  Hessen  hinaus.  Die  Stiftskirche  zu  Wetzlar,  deren  Thurmanlage  und 
Westportal  aus  früher  romanischer  Zeit  stammen,  lässt  im  Chore  erkennen, 
dass  der  im  Uebergangsstyle  begonnene  Bau  während  der  Arbeit  in  gothischer 
Weise  fortgeführt  und  mit  Maasswerkfenstern  und  tiefer  unterhöhlter 
Protilirung  versehen,  während  das  Langhaus  sofort  im  Style  der  Elisabeth- 
kirche und  mit  gleich  hohen  Schiffen  angelegt  wurde-).  Die  Kirche  zu 
Geissnidda  in  derWetterau,  welche  zwar  niedrige  Seitenschiffe,  aber  theil- 
weise  wenigstens  Pfeiler  von  ähnlicher  Bildung  hat  wie  die  Marburger  Kirche, 
zeugt  von  dem  Einflüsse,  den  diese  hier  auf  einen  im  Uebrigen  noch  im 
Uebergangsstyle  ausgeführten  Bau  ausübte^). 

Auch  in  Westphalen  weist  das  früheste  Beispiel  gothischen  Styles  auf 
die  hessische  Schule  hin.  Es  ist  dies  die  reizende  St.  Nicolai-Kapelle 
zu  Ober-Marsberg^),  im  südlichsten  Theile  Westphalens,  auf  hohem  Berge 
gelegen,  von  dem  man  die  Spitzen   der  hessischen  Gebirge  in   ziemlicher 


')  Die  Geschichte  des  Klosters  ist  ziemlich  dunkel.  Nach  dem  bei  Jongelinus 
(Notitia  abb.  Ord.  Cist.  Lib.  III,  p.  60)  abgedruckten  Visitatioiisrecesse  vom  Jahr  1244 
war  das  Kloster  vor  seiner  Verlegung  nacli  Hayna  an  fünf  anderen  Stellen  gewesen. 
Die  Stiftung  war  indessen  schon  1144  erfolgt  und  zufolge  einer  Urkunde  von  1215 
{bei  Jongelinus  und  bei  Gudenus  Cod.  dipl.  uro.  Iß4,  p.  432)  seheint  die  Verlegung 
nach  Hayna  damals  schon  beschlossen.  Nach  Kuchenbecker,  Annal.  Hass.  Coli.  IV, 
p.  309,  soll  diese  Verlegung  im  Jahre  1221  ausgeführt  und  der  Bau  der  Kirche  so- 
gleich mit  aller  Macht  angefangen  und  vullendet  sein.  —  Publicationen  der  Kirchen 
von  Griinberg  und  Friedberg  in  Moller's  Denkmalen,  I.  Ausführliche  Beschreibung 
der  Kirche  von  Alsfeld  in  Lotz,  Statistik  der  deutschen  Kunst,  der  übrigen  erwähnten 
Bauwerke  in  dem  vortrefflichen  Werke  von  H.  v.  Dehn-Rotfelser  und  Lotz,  die  Bau- 
denkmäler im  Regierungsbezirk  Cassel,  1870.  Abbildungen  in  Ungewitter,  Lehrbuch 
goth.  Constr.,  an  verschiedenen  Stellen. 

2)  Vgl.  Kugler  kl.  Sehr.  II,  165  und  Geschichte  der  Bavüuinst  III,  S.  238. 

•'')  Gladbach,  Forts,  von  Moller's  Denkm.  Taf.  16  —  17. 

*}  Lübke  a.  a.  0.  S.  233,  Taf.  17  mid  15. 


378  Früheste  golliische  Bauten  in  Deutsclilaud. 

Nähe  sieht.  Der  Chor,  geradlinig  geschlossen,  hat  Eckpfeiler  mit  recht- 
winkeligen Auskantungen ,  Ringsäulen  mit  dem  Eckblatt  der  Basis,  im 
Aeusseren  Lisenen  mit  spitzbogigen  Wandarcaden,  in  denen  Reliefköpfe  an- 
gebracht sind;  er  trägt  noch  ganz  das  Gepräge  des  Uebergangsstyles.  Das 
Langhaus  dagegen ,  drei  fast  gleich  hohe  Schiffe  von  je  zwei  Gewölbfeldern, 
hat  völlig  gothische  Form  und,  wie  die  Elisabethkirche,  Rundpfeiler  mit  vier 
vom  Boden  aufsteigenden  Halbsäulen,  zwischen  denen  aber  noch,  um  den 
kleineren  Raum  reicher  zu  schmücken,  vier  kleinere  auf  Consolen  ruhende 
Dienste  angebracht  sind.  Einzelne  romanische  Reminiscenzen  sind  mit 
gothischen  Formen  von  höchster  Vollendung  gemischt.  Die  Gewölbrippen 
sind  noch  rund  profilirt,  die  Basis  ist  noch  der  attischen  Basis  ähnlich,  aber 
die  Kapitale  und  Consolen  haben  schon  die  Nachahmung  natürlicher  Blätter 
und  Früchte  im  reinsten  Style,  und  die  Fenster  zeigen  ein  zwar  noch  ein- 
faches ,  aber  wohlgebildetes  Maasswerk.  Auch  stehen  Chor  und  Schiff  un- 
geachtet der  Verschiedenheit  des  Styles  in  vollster  Harmonie,  in  beiden 
dieselbe  stylvolle  Haltung,  dieselbe  Freiheit  und  Wärme  der  Ausführung. 
Der  Uebergang  von  einem  Style  zum  andern  ist  nicht  gewaltsam,  wenn  auch 
rasch;  man  glaubt  es  wahrzunehmen,  wie  derselbe  Meister  durch  seine 
Studien  schon  für  die  Aufnahme  des  neuen  Styles  vorbereitet,  während  des 
Baues  zu  näherer  Kenntniss  desselben  gekommen,  und  sofort  zur  Anwendung 
geschritten  ist.  In  der  That  übertrifft  dies  kleine  Gebäude  vielleicht  alle 
gleichzeitigen  und  früheren  Bauten  Westphalens  an  Feinheit  und  Geschmack 
der  Behandlung,  und  man  mag  daher  wohl  annehmen,  dass  der  Einfluss  aus 
dem  benachbarten  Hessenlande,  wo  gerade  jetzt  die  Elisabethkirche  zu 
Marburg  in  ähnlichen  reinen  Formen  entstand ,  einen  begabten  jüngeren 
Meister  zu  diesen  Leistungen  angeregt  hat. 

Unter  dem  Einflüsse  der  Nicolaikapelle  und  nicht  viel  später  scheint 
die  Jacobikirche  zu  Lipp Stadt  entstanden  zu  sein.  Sie  hat  ganz  die- 
selbe Anlage;  ein  Langhaus  von  drei  gleich  hohen  Schiffen  mit  je  zwei  Ge- 
wölbfeldern, Rundpfeiler  mit  vier  ganzen  und  vier  auf  Consolen  ruhenden 
Halbsäulen,  den  Chor  von  der  Breite  des  Mittelschiffes,  aber  mit  zwei  poly- 
gonen  Seitennischen ,  in  welche  'die  Seitenschiffe  auslaufen  ^).  Nur  darin 
weicht  sie  ab,  dass  der  Chor  hier  nicht  geradlinig,  sondern  mit  drei  Seiten 
des  Achtecks  geschlossen  und  mit  gothisch  gebildeten  Wandsäulen  versehen 
ist,   und   dass  die  Gewölbfelder  des  Mittelschiffes   Quadrate    bilden.     Die 


1)  Auch  in  der  Nicolaikapelle  von  Ober-Marsberg  sind  solche  Nebenchöre,  aber 
beide  im  Aeusseren  rechtwinkelig  und  nur  der  eine  im  Inneren  mit  fünf  Seiten  des 
Achtecks  geschlossen,  während  sie  in  der  Jacobikirche  beide  polygonförmig  und  durch 
schräg  gestellte  Zwischenwände  mit  dem  Chore  verbunden  sind.  Diese  ist  also  auch 
in  dieser  Beziehung  eine  verbesserte  Copie  der  Nicolaikapelle. 


Westphalen,  379 

Kapitale  sind  einfaclier,  aber  doch  zum  Theil  mit  Eichenlaub  und  anderem 
gothischen  Blattwerk  geschmückt. 

Auf  eine  Einwirkung  der  Elisabethkirche  deutet  auch  der  nördliche 
Kreuzarm  des  Domes  zu  Paderborn,  indem  er  als  Polygon  mit  fünf 
Seiten  des  Zwülfecks  heraustritt^  ^Yas  sich  neben  dem  rechtwinkelig  ge- 
schlossenen Chore  des  Domes  selbst  und  in  einem  Lande,  wo  mau  diese  Form 
des  Chorschlusses  liebte,  kaum  anders  als  aus  der  Befolgung  des  in  Marburg 
gegebenen  Beispiels  erklären  lässt.  Das  Maasswerk  der  zweitheiligen  Fenster 
ist  ganz  wie  dort,  nur  nach  westphälischer  Weise  in  etwas  roher  Ausführung 
gebildet,  und  die  fast  hufeisenartige  Schwingung  der  äusseren  Bögen  wohl 
schwerlich  eine  bewusste  Abweichung  von  jenem  Vorbilde,  sondern  eher 
durch  ungenügende  Berechnung  der  Raumvei-hältnisse  entstanden.  Nur  darin 
findet  sich  ein  wesentlicher  Unterschied,  dass  hier  im  Inneren  unter  den 
F.enstern  eine  Arcatur  von  Kleeblattbögcn  angebracht  ist,  die  in  Marburg 
nicht  vorkommt,  und  auf  eine  weitere  Kenntniss  des  französischen  Styles, 
in  dem  sie  üblich  ist,  schliessen  lässt.  Endlich  verräth  auch  der  Chor  der 
Pfarrkirche  zu  Hamm^)  den  Einfluss  der  Elisabethkirche,  indem  er  mit  ihr 
den  fünfseitigen  Schluss  und  die  Bildung  des  Fenstermaasswerks  und  der 
Bündelsäulen  in  den  Ecken  gemein  hat. 

Ausserhalb  der  hessischen  Lande  selbst  und  \\^estphalens  findet  sich 
nur  in  Sachsen  und  auch  da  nur  vereinzelt  eine  Spur  des  Einflusses  dieser 
Schule,  und  zwar  an  der  Klosterkirche  zu  Nienburg  an  der  Saale-),  welche^ 
da  das  Kloster  erst  seit  1239  durch  Schenkungen  der  Anhaltischen  Fürsten 
zu  besserem  Vermögen  gelangte,  um  die  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
neu  erbaut  sein  mag.  Der  Chor  schliesst  wiederum  mit  fünf  Seiten  des 
Zehnecks,  hat  aber  einfache  Lancetfenster  und  romanische  Details,  das  Lang- 
haus dagegen  besteht  wie  in  der  Elisabethkirche  aus  drei  gleich  hohen  Schiffen 
mit  kantonirten  Rundpfeilern  von  ähnlichen  Verhältnissen  und  ähnlichem 
Blätterschmucke  der  Kapitale  wie  dort. 


In  den  Rheinlanden  blieb  inzwischen  ungeachtet  der  Trierer  Lieb- 
frauenkirche und  einzelner  unter  ihrem  Einflüsse  entstandener  gothischer 
Bauten  der  hier  beliebte  Uebergangsstyl  noch  lange,  bis  gegen  die  Mitte 
des  dreizehnten  Jahrhunderts,  in  vorherrschender  Geltung.  Der  Kapitelsaal 
am  Dome  zu  Mainz,  der  um  1243  vollendet  wurde,  hat  zwar  das  gothisch 
zugespitzte  Gurtprofil,  ist  aber  im  Ausdruck  und  in  allen  Details  romanisch. 


1)  Lübke  S.  299  und  Taf.  XX,     Das  Langhaus  dürfte  bedeutend  jünger   sein. 

2)  Putlrich  a.  a.  0.  Abtli.  2,  Bd.  I.     Serie  Anhalt,  S.   17,  Taf.  12  —  14. 


330  Früheste  gothisclie  Bauten  in  Deutschland. 

Der  Chor  der  Kirche  zu  Remagen,  zufolge  erhaltener  Inschrift i)  im  Jahre 
1246  geweiht,  hat  zwar  spitzbogige  Fenster,  aber  sonst  völlig  romanische 
Formen.  Ja  sogar  noch  bedeutend  später  kommen  in  einzelnen  Fällen, 
namentlich  an  Burgen,  entschieden  romanische  Formen  vor,  wie  dies  die 
€rst  im  Jahre  1284  gegründete,  mit  grossem  Aufwände  und  in  ausgedehnten 
Verhältnissen  gebaute  Burg  Reichenberg  bei  St.  Goarshausen  beweist-). 
Der  grosse  Rittersaal,  der  sich  in  drei  Stockwerken  wiederholt,  ist  im 
untersten  halbkreisförmig,  sonst  polygon  geschlossen  und  mit  spitzbogigen 
Kreuzgewölben  bedeckt,  aber  die  Reihe  von  drei  monolithen  Säulen,  welche 
ihn  theilt,  zeigt  in  allen  Geschossen  Würfelkapitäle.  Die  Kapelle,  welche 
auf  der  entgegengesetzten  Seite,  über  dem  Durchgang  zum  Burggarten 
gelegen  ist  und  in  ihren  beiden  Geschossen  Tonnengewölbe  hat,  enthält,  neben 
den  Würfelkapitälen  der  Säulen,  oben  auch  ein  schlichtes  Knospenkapitäl. 
Man  könnte  vielleicht  annnehmen,  dass  diese  Säulen  von  einem  älteren 
Gebäude  herrührten,  aber  auch  die  Rundbögen  der  Portale,  die  Fenster  und 
Friese  sind  wesentlich  romanisch.  Noch  auffallender  ist,  wie  sich  bei 
decorativen  Architekturwerken  noch  lange  eine  seltsame  Mischung  romanischer 
und  gothischer  Formen  erhielt.  Dies  zeigt  der  Baldachin  über  dem  Grabe 
des  Stifters  im  Westchore  der  Abteikirche  zu  Laach,  welcher  von  dem 
Abte  Theodorich  (1282  —  1295)  errichtet  wurde,  und  au  welchem  sechs  Säulen 
vermittelst  kleeblattförmiger  und  herzförmiger  Steinrippen  eine  Zwerggallerie 
tragen,  auf  der  dann  wieder  vermittelst  herzförmigen  Maasswerkes  die  offenen 
Steinrippen  der  Decke  ruhen.  Die  Ausarbeitung  des  Steines  zu  freien,  dem 
Maasswerk  ähnlichen  Gliedern,  die  Kenntniss  des  Rippengewölbes  sind  dem 
Erbauer  dieses  kühnen  Zierwerkes  geläufig  gewesen,  aber  viele  Details  und 
der  Ausdruck  des  Ganzen  sind  noch  völlig  romanisch"^). 


1)  Abgedruckt  in  Müller's  Beiträgen  Heft  I,  S.  41. 

-)  Sie  wurde  durcli  den  Grafen  Wilhelm  I.  von  Katzenellenbogen  gegründet  (Wenk, 
Hessische  Geschichte  I,  p.  354)-,  das  Gründungsjahr  ist  auch  auf  dem  Grabe  des 
Stifters  in  Erbach  angegeben.  Herr  Burkart,  der  Verfasser  der  von  Zeichnungen  be- 
gleiteten Notiz  in  der  (Berliner)  Zeitschrift  für  Bauwesen  1853,  S.  483,  Taf.  71  und 
73  hält  die  gedachten  drei  Säle  für  eine  Doppelkapelle  nebst  Unterkirche.  Ebenso 
Kugler,  kl.  Schriften,  II,  S.  220,  Cohausen,  die  Bergfriede,  1860,  und  Lotz,  Statistik, 
Bd.  I.  Aber  es  ist  ein  anderer  Raum  vorhanden,  der  nach  Lage  und  Gestaltung  weit 
eher  Kapelle  zu  sein  scheint,  und  es  scheint  ausserdem  midenkbar,  dass  man  bei  einer 
wesentlich  auf  Vertheidigung  berechneten  Burg  einen  so  überflüssig  grossen  Raum  für 
den  Gottesdienst  bestimmt  haben  sollte,  da  jedenfalls  einer  dieser  Säle  schon  für  eine 
sehr  grosse  Besatzung  genügt  haben  würde. 

^)  Publicirt  bei  E.  aus'm  Weerth ,  Kunstdenkmale  des  christlichen  Mittelalters  in 
den  Rheinlanden,  Taf.  LH.  Die  Zeit  der  Errichtung  steht  allerdings  nicht  ganz  fest, 
da  die  Inschrift,  auf  welcher  unsere  Kunde  beruhet,  nur  den  Namen  des  Abtes  Theo- 
dorich   nannte,    und  ein    früherer  Abt   desselben  Namens    von    1235   —   1247    regiert 


Klosterkirche  Marienslatt. 


381 


Fig.  104. 


Innenansicht  des  Chores  der  Kirche  zu  Marienstatt. 


382  Gotliischer  Styl  in  Deutschland. 

Bis  zum  Jahre  1248  weiss  ich  in  diesen  Gegenden  nur  einen  Bau  zu 
nennen,  der  entschieden  gothischen  Styles  und  zugleich  von  der  Trierer 
Schule  unabhängig  ist,  die  Kirche  des  Cistercienserordens  Marien  statt 
(Locus  Mariae)  bei  Hachenburg  im  Nassauischen.  Schon  im  Jahre  1215 
wurde  auf  den  "Wunsch  eines  frommen  burggräflichen  Ehepaares  die  übliche 
Zahl  von  zwölf  Mönchen  unter  Leitung  des  Abtes  Hermann  hierher  geschickt, 
aber  erst  später,  wie  gewöhnlich  durch  eine  Vision  des  Abtes,  die  zur  Gründung 
des  jetzigen  Klosters  geeignete  Stelle  gefunden,  worauf  dann  im  Jahre  1227  der 
Grundstein  der  Kirche  gelegt  wurde  i).  Aber  1243  hatte  nochmals  die 
Grundsteinlegung  eines  grösseren  Klosters  statt  und  die  Weihe  erfolgte  erst 
im  Jahre  1324.  Indessen  lassen  die  Formen  der  Kirche  kaum  einen  Zweifel, 
■dass  das  Gebäude  bedeutend  älter,  und  die  Einweihung,  wie  es  so  häufig  ge- 
schah, wegen  der  damit  verbundenen  Kosten  aufgeschoben  und  erst  spät  bei 
gelegentlicher  Anwesenheit  des  Bischofs  vorgenommen  ist. 

Die  Kirche  besteht  aus  einem  Langhause  von  sieben  schmalen  Gewölb- 
feldern mit  niedrigen  Seitenschiffen,  einem  Kreuzschiffe,  der  mit  fünf  Seiten 
des  Zvvölfecks  geschlossenen,  also  fast  halbkreisförmigen  Chornische  mit 
Umgang  und  sieben  radianten  kreisförmigen  Kapellen,  an  welche  sich  noch 
auf  der  Ostseite  jedes  Kreuzarmes  zwei  andere,  viereckige  Kapellen  an- 
schliessen.  Abgesehen  von  dieser  letzten,  dem  schon  früher  erwähnten 
Gebrauche  der  Cistercienser  entsprechenden  Anordnung,  ist  also  die  Anlage 
ganz  die  der  frühesten  französisch-gothischen  Kirchen.  Damit  stimmen  auch 
die  Details  überein ,  nur  dass  sie ,  wie  es  die  Strenge  des  Ordens  und  viel- 
leicht die  Dürftigkeit  des  Klosters  mit  sich  brachte,  einfacher  und  zum  Theil 
roh  behandelt  sind.  Am  Aeusseren  steigen  von  den  durch  einen  blossen 
Wasserschlag  geschlossenen  Strebepfeilern  schmucklose  Strebebögen  auf; 
im  Inneren  ruhen  die  hohen  Mauern  auf  niedrigen  Rundsäulen,  mit  mehr 
oder  weniger  ausgebildeter  attischer  Basis  ohne  Eckblatt,  mit  kelchförmigen 
Kapitalen,  die  im  Langhause  schmucklos,  im  Chore  von  flachen,  fast  nur  ge- 
zeichneten Blättern  umgeben  sind.  Auf  ihrem  achteckig  und  an  der  Chor- 
rundung zwölfeckig  weit  ausladenden  Abacus  stehen  mit  besonderer  Basis 
kräftige  Gewölbdienste,  im  Langhause  einfach,  im  Chore  drei-  oder  vierfach 
gruppirt,  und  hier  durch  kurze  Ringe  getheilt,  welche  mit  einem  einfachen, 
von  Kleeblattbögen  gedeckten  Triforium  zusammenhängen.    Die  Scheidbögen 


hatte.      Die    kühne    Behandlung-    des    Steines    lässt    aber    eher    auf    die    spätere    Zeit 
schliessen.     Anderer  Ansicht  ist  Boisseree,  Niederrhein,  S.  11. 

1)  Jongelinus,  Notitia,  Lib.  XII,  p,  24.  Brower  et  Masenius,  Anliqu.  Trevir. 
(1670)  II,  p.  125.  Caes.  Heisterb.  Dialogi  VII ,  7  und  29.  —  Organ  für  christliche 
Kunst,  1860,  S.  217,  229.  Endlich  und  besonders  Görz ,  die  Abteikirche  zu  Marien- 
Statt  bei  Hachenburg,  Piibl.  des  Nassauischen  Alterthumsvereins,  Wiesbaden  1866. 


Baden.  383 

sind  roh,  die  Gewölbgurten  etwas  feiner  jirofilirt,  an  den  Diagonalen  als 
Rundstäbe  mit  einem  Leistchen ,  die  Fenster  (je  eines  unter  jedem  Gewölb- 
felde) lancetförmig  ohne  Maasswerk.  Wir  sehen  also  durchweg  den  älteren 
französisch  -  gothischen  Styl,  und  zwar  in  so  primitiver  Gestalt,  wie  er  in 
Deutschland  sonst  nirgends  vorkommt.  Es  ist  auffallend,  dass  diese  Formen 
hier  zu  einer  Zeit,  wo  sie  in  Frankreich  schon  durch  neuere  Erfindungen 
verdrängt  waren,  und  bei  einem  Tochterkloster  von  Heisterbach  vorkommen, 
dessen  so  eben  neu  erbaute  Kirche  sich  dem  rheinischen  Style  anschliesst. 
Vt'^enn  man  indessen  erwägt,  dass  die  Cistercienser  in  steter  Verbindung  mit 
Frankreich  standen,  dass^auch  der  Abt  Heinrich  von  Heisterbach,  unter 
dessen  langer  Regierung  (1208  —  1244)  die  Kirche  von  Marienstatt  erbaut 
wurde,  in  Paris  studirt  hatte,  so  ist  es  sehr  begreiflich,  dass  er  und  vielleicht 
auch  diejenigen  seiner  Brüder,  welchen  die  unmittelbare  Leitung  des  Baues 
anvertraut  war,  sich  nach  französischen  Bauten  richteten,  die  während  ihrer 
Jugend  entstanden  und  ihnen  bekannt  geworden  waren.  Ebenso  begreiflich 
ist  es  aber,  dass  dieser  einsam  gelegene  und  überdies  schmucklose  und  fast 
rohe  Bau  kein  grosses  Aufsehen  erregte  und  nicht  dazu  beitrug,  den  reichen 
Uebergangsstyl  der  niederrheinischen  Lande  zu  verdrängen. 

Auch  in  Baden  kommt  nur  ein  vereinzeltes Beisj^iel  früher  Gothik  vor, 
wiederum  eine  Klosterkirche,  nämlich  die  des  1196  gestifteten  Prämon- 
stratenserklosters  Allerheiligen  im  Schwarzwalde ^),  deren  Ruinen  wenig- 
stens noch  die  Grundzüge  der  alten  Anlage  erkennen  lassen.  Aus  der  Zeit 
der  Gründung  rührt  wohl  nur  die  im  Tonnengewölbe  geschlossene  Vorhalle 
her,  neben  deren  Rundbogenportal  aber  auch  schon  kleine  Spitzbogenfenster 
auftreten.  Die  Kirche  selbst  gehört  dagegen  mit  ihren  ausgesprochen  gothi- 
schen aber  noch  sehr  primitiven  Formen  dem  zweiten  Viertel  des 
13.  Jahrhunderts  an  und  zeigt  die  in  diesen  Gegenden  seltene  Form  einer 
Hallenkirche,  indem  die  Seitenschiffe  annähernd  die  Höhe  des  Mittelschiffes 
haben.  Auf  ein  Langhaus  mit  drei  quadraten  Jochen  im  INIittelschift'  und 
ebenso  viel  rechteckigen  in  den  Seitenschiffen  folgt  ein  Querhaus  und  ein 
gerade  geschlossener  Chor,  die  Pfeiler  sind  achteckig,  mit  Halbsäulenvorlagen 
nach  den  Schiffen,  die  Vierungspfeiler  stehen  dem  romanischen  Style  noch 
näher,  indem  sie  aus  dem  Quadrat  gebildet  sind,  durch  Halbsäulen  an  der  Mitte 
jeder  Seite  sowie  durch  Ecksäulen  gegliedert  werden  und  Eckblätter  an  der 
Basis  zeigen.  Eine  kleine  aus  fünf  Seiten  des  Achtecks  gebildete  Kapelle, 
welche  aus  der  Ostwand  des  südlichen  Querarms  heraustritt,  ist  am  meisten 


1)  Kein  Cistercienserkloster,  wie  in  Lotz,  Statistik  der  deutschen  Kunst,  angegeben 
ist.  —  Erwähnt  von  Mertens  und  Lohde,  Zeitschrift  für  Bauwesen,  1862,  Sp.  348,  und 
zuerst  eingehend  gewürdigt  von  Lübke,  Architekturgeschichte,  4.  Auflage,  Leipzig  1870, 
S.  544. 


384  Gotliischer  Styl  in  Deutschland. 

in  den  Formen  entwickelt,  sie  hat  ein  ausgebildetes  Piippengewölbe ,  das 
durch  kräftige  Strebepfeiler  gestützt  wird,  und  schmale,  in  spitzem  Kleeblatt- 
bogen geschlossene  Fenster,  welche  mit  einem  darüber  stehenden  Dreipass 
durch  einen  Blendbogen  zusammengefasst  sind.  Ein  Treppenthürmchen  lehnt 
sich  an  die  nördliche  Querhauswand,  die  gleichfalls  ein  hohes,  schmales, 
kleeblattförmig  geschlossenes  Fenster  enthält.  Ein  schlichter  viereckiger 
Thurm  erhob  sich  ehemals  über  der  Vierung. 

Im  Elsa ss^),  wo  wir  schon  in  der  vorigen  Epoche  einen  stärkeren 
Einfluss  aus  den  benachbarten  romanisch  redenden  Gegenden  wahrnahmen, 
fand  auch  der  frühgothische  Styl  eher  und  häufiger  Anwendung.  In  der 
bereits  oben  geschilderten  Kirche  St.  Peter  und  Paul  zu  Neu  weil  er-) 
nehmen  die  Formen  der  bereits  im  Bau  begriffenen  Anlage  in  den  beiden 
westlichen  Jochen  des  Langhauses  gothisches  Gepräge  an.  Die  Spitzbögen 
der  Arcaden  steigen  höher  empor,  die  sechstheilige  Wölbung  und  der 
Wechsel  von  Haupt-  und  Nebeupfeilern  bleibt,  aber  diese  sind  als  Gruppen 
von  vier  Halbsäulen,  jene  als  kantonirte  Ptundpfeiler  gebildet.  Die  spitz- 
bogigen  Oberlichter  sind  schlicht  und  ohne  Maasswerk.  Aehnlich  ist  das 
Langhaus  der  Kirche  zu  Ruf  fach,  welches  in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahr- 
hunderts dem  romanischen  Querschiff  angebaut  wurde.  Auch  hier  quadratische 
Gewölbfelder,  an  denen  kräftige,  wohlgegliederte  Hauptpfeiler  mit  hochauf- 
steigenden Diensten  abwechseln  mit  einer  sehr  schlank  gebildeten  Säule. 
Alle  Bögen  sind  spitz  und  mit  feinen  Rundstäben  eingefasst,  die  Oberlichter 
noch  ohne  Maasswerk,  aber  unter  jedem  Schildbogen  zu  einer  engen  Gruppe 
mit  höherem  Mittelfenster  zusammengestellt.  Strebepfeiler  und  einfache 
Strebebögen  stützen  den  Bau,  dessen  westliche  Theile  nun  schon  die  Formen 
des  reifen  und  eleganten  gothischen  Styls  tragen.  Auf  einer  weiteren  Ent- 
wickelungsstufe  finden  wir  diesen  Styl  in  dem  Münster  St.  Georg  zu  Schlett- 
stadt.  Auch  hier  zwar  noch  (wenigstens  in  den  östlichen  Jochen  des  Lang- 
hauses) ein  sechstheiliges  Gewölbe  und 'demgemäss  der  Wechsel  von  stärkeren 
und  schw^ächeren  Pfeilern,  aber  jene  bestehen  schon  aus  acht  durch  Hohl- 
kehlen verbundenen,  diese  aus  vier  Diensten,  von  denen  alle  dem  Mittel- 
schiff angehörigen  schlank  und  hoch  zum  Gewölbe  ansteigen.  Die  Ober- 
lichter sind  schon  mit  zweitheiligem  Maasswerk  versehen,  und  der  Raum 
zwischen  ihnen  und  den  Arcaden  ist,  wenn  auch  nicht  durch  ein  Triforium, 
so  doch  durch  unter  das  Dach  der  Seitenschiffe  führende  Oeffnungen  belebt. 
Sehr  merkwürdig  ist  auch  die  Grundrissbildung:   dem  Langhause  geht  ein 


^)  Lübke  in  der  Allgemeinen  Bauzeitung-,  Wien,  1866.  Seite  346  —  360. 
Taf.  40  —  44. 

-)  Vgl.  oben  S.  274.  —  Publ.  in  den  Archives  de  la  comm.  des  monuments 
historiques. 


Die  Münster  zu  Slrassburg  und  zu  Frei  bürg-.  385 

westliches  Querbaus  vorher  und  an  die  Ecken  der  Querarme  und  des  gerade 
geschlossenen  Chors  lehnt  sich  jederseits  eine  polygone  Kapelle. 

Jedenfalls  hatten  in  den  oberen  Gegenden  des  Rheinlandes  alle  Versuche 
in  der  Richtung  des  gotbischen  Styls  noch  etwas  Schwankendes,  als  derselbe 
am  Dome  zu  Strassburg  und  ungefähr  gleichzeitig  an  dem  benachbarten 
Münster  zu  Fr  ei  bürg  im  Breisgau  ^j  plötzlich  in  sehr  reiner  und  aus- 
gebildeter Gestalt  auftrat.  Die  genauen  Daten,  welche  wir  in  Beziehung 
auf  beide  Kirchen  besitzen,  fallen  zwar  schon  in  die  zw'eite  Hälfte  des  Jahr- 
hunderts ,  die  Vollendung  des  Freiburger  Münsters ,  mit  Ausnahme  des 
Thurmes  und  des  sehr  viel  späteren  Chores,  um  1270 -),  die  des  Schiffes  des 
Strassburger  Domes  in  das  Jahr  1275^;.  Indessen  ist  es  bei  dem  Umfange 
der  Arbeit,  obgleich  in  beiden  nur  das  Langhaus  gothischen,  das  Kreuzschiff 
älteren  Styles  ist,  ausser  Zweifel,  dass  auch  diese  neueren  Theile  schon  um 
die  Mitte  des  Jahrhunderts  begonnen  sein  müssen. 

Der  Meister,  welcher  etwa  um  1240  die  Ueberwölbung  des  Querschifies 
im  Strassburger  Münster  vollendete,  hatte,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  bereits 
einige  Kenntuiss  des  gothischen  Styles  gehabt.  Aber  er  war  in  den  Tra- 
ditionen des  romanischen  Stj'les  aufgewachsen  und  legte  diese  seinen  Ent- 
würfen zum  Grunde,  obgleich  er  ihnen  gothische  Einzelheiten  einmischte. 
Sein    uns    dem    Namen    nach    unbekannter  Nachfolger^),    dem    etwa  ein 


^)  Das  Münster  zu  Freiburg  bekanntlich  bei  Möller  a.  a.  0,  Bd.  2,  und  mit  Text 
von  Schreiber  in  den  Denkmälern  des  Oberrheins,.  Karlsruhe  1829,  das  zu  Strassburg 
in  dem  letztgenannten  Werke  mit  Text  von  Schreiber,  und  in  Chapuy's  Cath.  franc. 
Vol.  I,  mit  Text  von  Schweighaeuser.  —  Ganz  ausreichende  Publicationen  des  Strass- 
burger Münsters  fehlen  noch  immer. 

■-)  Schreiber  S.  5.  Die  Annahme  dieses  Schriftstellers,  dass  der  westliche  Theil  des 
Langhauses  schon  bis  zum  Jahre  1218  vollendet  gewesen  sein  müsse,  knüpft  sich  an 
das  an  einer  Stelle  desselben  eingemauerte  Gi'abmal  des  in  diesem  Jahre  verstorbenen 
Herzogs  Berthold  V.  von  Zähringen.  Allein  der  Grabstein  stammt ,  wie  schon  die 
Tracht  des  Verstorbenen  beweist,  aus  dem  vierzehnten  oder  frühestena  dem  Ende  des 
dreizehnten  Jahrhunderts. 

^)  Nach  der  Chronik  des  Künigshofen,  der  zwar  erst  im  vierzehnten  Jahrhundert 
schrieb,  aber  ein  glaubhafter  Berichterstatter  ist,  und  noch  zuverlässige  Kunde  haben 
konnte.  Schreiber  a.  a.  0.  S.  24.  Wichtiger  ist  die  hiermit  übereinstimmende  Nach- 
richt in  einem  Lectionarium  aus  dem  13.  Jahrhundert,  in  der  Bibliothek  zu  Wolfen- 
büttel. Pertz  S.  S.  XVII,  90.  Vgl.  besonders  Adler's  kritischen  und  gründlichen 
Aufsatz  ,,Das  ]\Iünster  zu  Strassburg"  in  der  deutschen  Bauzeitung  1870.  Hauptquelle 
für  die  Geschichte  des  Baues  waren  die  Collectaneen  des  Architekten  Daniel  Specklin 
(1536  — 1589),  welche  mit  der  Strassburger  Bibliothek  verbrannt  sind.  Vgl.  Hegel, 
Städtechronikeu,  Chroniken  von  Strassburg,  Bd.  II,  1013,  Leipzig  1871,  und  J.  See- 
berg, die  Juncker  von  Prag  und  der  Strassburger  Münsterbau,  Leipzig  1871. 

*)  Erwin  von  Steinbach,  7  1318,  war  beim  Beginn  des  Langhauses  entweder  noch 
gar  nicht  am  Leben  oder  doch  nur  ein  kleiner  Knabe. 

Sclinaase's  Kunstgesch.    2.  Aufl.     V.  25 


3gg  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

Decennium  später  die  Aufgabe  zufiel,  jenen  älteren  Theilen  das  Langhaus 
anzufügen,  war  bereits  ein  genauer  Kenner  und  entschiedener  Anhänger  des 
gothischen  Styles,  der  die  damals  neuesten  Leistungen  der  französischen 
Schule  an  Ort  und  Stelle  studirt,  aber  sich  doch  noch  das  Gefühl  für  die 
Vorzüge  der  älteren,  einheimischen  Bauweise  bewahrt  hatte.  Statt  daher, 
wie  es  später  so  häufig  geschah,  mit  der  ausschliesslichen  Anwendung  und 
selbst  Uebertreibung  der  Principien  des  neuen  Styles  zu  prunken  und  ihren 
Gegensatz  gegen  die  älteren  Bautheile  recht  stark  zu  betonen,  suchte  er  sich 
ihnen  soviel  wie  möglich  zu  nähern  und  aus  der  Mannigfaltigkeit  gothischer 
Formen  solche  zu  wählen,  welche  sich  dem  älteren  Styl  anschlössen.  Wir 
besitzen  das  Langhaus  nicht  mehr  in  dem  unveränderten  Zustande,  in  welchem, 
dieser  Meister  es  schuf.  Eine  verderbliche  Feuersbrunst  hatte  im  Jahre 
1298,  also  drei  und  zwanzig  Jahre  nach  der  Vollendung,  die  oberen  Theile 
zerstört;  Erwin  von  Steinbach,  der  damals  seit  1277  Meister  des  Werkes 
war,  musste  den  bereits  rüstig  vorgeschritteaien  Fagadenbau  unterbrechen, 
um  hier  eine  Herstellung  zu  bewirken.  Schon  die  Formen  lassen  erkennen 
und  eine  glaubhafte  Nachricht  erzählt,  dass  die  Oberlichter  in  ihrer  jetzigen 
Gestalt  mit  dem  darunter  befindlichen  Umgange  von  ihm  herrühren,  und  sichere 
Zeichen  am  Bau  selbst  ergeben,  dass  er  diese  Gelegenheit  benutzt,  um  dem 
Mittelschiff  eine  grössere  Höhe  zu  geben,  als  sein  Vorgänger  es  gewagt 
hatte  ^).  Erwin  ging  dabei  bis  an  die  äusserste  Grenze;  er  Hess  das  Gewölbe 
so  hoch  hinaufsteigen,  dass  der  Vierungsbogen  fast  20  Fuss  unterhalb 
desselben  blieb  und  die  westliche  Hälfte  der  Vierungskuppel  von  dem  Dache 
bedeckt  wurde.  Er  erreichte  so  die  an  sich  ziemlich  beträchtliche  Höhe 
von  96  Fuss,  die  aber  bei  der  sehr  bedeutenden  Breite  des  Mittelschiffes 
von  mehr  als  50  Fuss  noch  weit  hinter  den  Ansprüchen  an  schlankes  Auf- 
steigen zurückblieb,  an  die  man  sich  jetzt  in  Frankreich  gewöhnt  hatte,  wo 
die  Gewölbhöhe  oft,  z.  B.  in  Eheims  und  Amiens,  mehr  als  das  Dreifache 
der  Breite  betrug.  Verhielt  es  sich  so  bei  der  Steigerung,  die  Erwin  ein- 
treten Hess,  so  konnte  sein  Vorgänger,  der  sich  enger  an  die  Maasse  der 
älteren  Theile  anschloss,  noch  weniger  daran  denken,  in  dieser  Beziehung 
mit  den  französischen  Kathedralen  zu  wetteifern.  Offenbar  war  er  sich 
dessen  bewusst  gewesen  und  hatte  sich  bestrebt,  durch  engeres  Anschliessen 
an  die  Verhältnisse  des  Kreuzschiffes  einen  andern,  dem  deutschen  Geschmack 


1)  Es  ist  Adler's  Verdienst,  dies  nachgewiesen  zu  haben.  Vgl.  a.  a.  0.  S.  368, 
die  (von  Specklin,  t  1589,  gegebene)  Nachricht  nnd  S.  403,  den  architektonischen  Beweis, 
dass  das  Gewölbe  jetzt  hoher  liegt,  als  es  Erwin  selbst  bei  dem  vorhergegangenen 
Thiirmbau  vor  sich  gehabt  hatte.  Eine  Mitwirkung  Erwins  bei  der  Ausbildung  der 
Oberlichter  hatte  ich  schon,  ohne  diesen  Beweis  zu  kennen,  in  der  ersten  Auflage  meines 
Buches  vermuthet. 


Das  Müiistfr  zu  Strassburg. 


387 


mehr  zusagenden  Rhythmus;  eine  grössere  Weiträumigkeit  zu  erlangen.  Da 
er  seinem  Mittelschiffe  die  Breite  der  Vierung  geben  musste,  glaubte  er 
auch  die  Breite  der  Seitenschiffe  nicht  nach  dem  in  Frankreich  üblichen 
Verhältnisse  bestimmen,  sondern  sie  ebenfalls  aus  dem  älteren  Kreuzschiffe 
entlehnen  zu  müssen.     Er  gab  ihr  daher  dasselbe  Maass,  welches  die  Ge- 


Fig.  105. 
HI=l=IMNS=l=+=i=i=4h 


Das  Münster  zu  Strassburg. 


Wölbfelder  der  Kreuzarme  durch  die  in  ihrer  Mitte  aufgerichtete  Säule 
erhalten  hatten.  Es  war  das  mehr,  als  gewöhnlich,  aber  es  brachte  das 
Langhaus  in  Harmonie  mit  dem  Kreuzschiffe  und  gewährte  eine  bei  der 
Beschränkung  der  östlichen  Theile  erwünschte  Erweiterung  des  Raumes. 
Dem  Pfeilerabstande  dagegen  wagte  er  nicht  dieselbe  Breite  zu  geben,  sie 

25* 


388  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

Würde  die  Zahl  der  Joche  allzusehr  verkleinert  und  ein  Missverhältniss 
gegen  die  zu  erlangende  Höhe  hervorgebracht  haben.  Er  bildete  ihn  der 
Mittelschiff  breite  gleich,  obgleich  auch  so  die  Wandfelder  bei  Weitem  nicht 
das  schlanke  Verhältniss  erlangten  wie  in  den  französischen  Domen.  Bei 
diesen  ist  ihre  Höhe  oft  das  Fünffache  des  Pfeilerabstandes,  während  sie 
hier,  selbst  nach  der  Erhöhung  durch  Erwin,  nur  das  Yiertehalb fache  desselben 
erreicht.  Sehr  wichtig  war  daher  die  Bildung  der  Pfeiler.  In  Frankreich 
war  der  kantonirte  Rundpfeiler  jetzt  vorzugsweise  beliebt;  er  trug  dazu  bei, 
den  Charakter  des  Schlanken  und  Luftigen,  den  man  erstrebte,  zu  betonen. 
Eben  deshalb  aber  wäre  er  hier  nicht  günstig  gewesen,  hätte  Ansprüche 
erweckt,  denen  die  Verhältnisse  nicht  entsprachen.  Statt  dessen  wählte  er 
den  aus  dem  übereckgestellten  Quadrate  construirten  Bündelpfeiler  mit 
sechzehn  stärkeren  und  schwächeren  Diensten,  von  denen  fünf  zum  oberen 
Gewölbe  aufsteigen,  in  ganz  ähnlicher  Bildung  wie  er  bei  dem  unter 
Ludwig  IX.  (1231)  begonnenen  Herstellungsbau  der  Abteikirche  von  Saint- 
Denis  angewendet  war^).  Er  erlangte  dadurch  mehrfache  Vortheile,  zuerst 
den  der  Uebereinstimmung  mit  den  Pfeilern  der  Vierung,  dann  den  einer 
breiteren,  der  Weiträumigkeit  der  Anlage  mehr  zusagenden  und  zugleich  die 
Lebensfülle  des  gothischen  Styles  vollkommener  aussprechenden  Form,  an 
welcher  zugleich  durch  den  Gegensatz  der  kleineren  Dienste  gegen  die  hohen, 
durch  kein  Kapital  unterbrochenen  Gewölbträger  des  Mittelschiffes  der  kühne 
Aufschwung  des  Gewölbes  einen  kräftigen  Ausdruck  fand.  In  der  Bildung 
dieser  Pfeiler,  in  der  edeln  Profilirung  der  Scheidbögen,  in  dem  schönen 
Laubwerk  der  Kapitale  und  der  kräftigen  Arcatur  unter  den  Seitenschiff- 
fenstern zeigt  er  sich  als  einen  höchst  ausgebildeten  Meister,  von  feinem 
Gefühl  für  Schönheit  und  Harmonie.  Wie  er  die  Fenster  gebildet  hatte 
wissen  wir  nicht;  denn  auch  die  der  Seitenschiffe  sind  wie  die  Oberlichter 
viertheilig  und  so  sehr  mit   diesen   übereinstimmend,   dass  man  vermuthen 


1)  Herr  Adler  a.  a.  0.  S.  404  macht  geltend,  dass  Mertens  in  seiner  Abhandlung 
Paris  baugeschichtlich  im  Mittelalter  (1847)  und  in  seiner  Schrift:  Die  Baukunst  in 
Deutschland  (1850),  also  früher  als  ich  in  der  ersten  Auflage  dieses  Buches  (185G)  die 
Uebereinstimmung  der  Pfeiler  von  Strassburg  mit  denen  von  Saint -Denis  hervor- 
gehoben, und  scheint  mir  einen  Vorwurf  daraus  zu  machen,  dass  ich  jenen  dabei  nicht 
citirt  habe.  Ich  habe  zu  wenig  Sinn  für  den  Ruhm,  eine  solche  Wahrnehmung  zuerst 
gemacht  zu  haben,  um  die  Verpflichtung  anzuerkennen,  bei  jeder  Erwähnung  derselben 
die  Priorität  festzustellen.  Ich  citire  in  der  Regel  nur  da,  wo  ich  eine  Thatsache  auf 
fremde  Autorität  hin  anführe  oder  dem  Leser  die  Möglichkeit  verschaffen  will,  sich 
darüber  näher  zu  informireii,  und  bedurfte  hier,  wo  ich  die  einfache  Thatsache  der 
Uebereinstimmung  auf  Grund  wiederholter  eigner  Anschauung  selbst  verbürgen  kann, 
keines  Chats,  Auf  die  Priorität  der  Wahrnehmung  habe  ich  keinen  Anspruch  gemacht 
und  bin  auch  weit  entfernt,  Herrn  Mertens  diesen  Vorzug  zu  bestreiten,  obgleich  ich 
natürlich  nicht  wissen  kann,  ob  Andere  ihm  darin  vorangegangen  sind. 


Die  Münster  von  Strassburg  und  Freiburg.  389 

muss,  dass  beide  aus  derselben  Zeit  stammen  mid  dass  also  auch  die  unteren 
Fenster  bei  dem  Herstellungsbau  von  1298  durch  Erwin  vergrössert  und 
verändert  sind.  Unter  den  Oberlichtern,  welche  schon  an  sich  möglichst 
weit  gestaltet  sind  und  den  ganzen  Raum  zwischen  den  Pfeilern  füllen,  ist 
überdies  ein  hohes ,  durch  entsprechende  Anordnung  des  Maasswerks  mit 
den  Fenstern  verbundenes,  und  durch  nach  aussen  führende  Fenster  be- 
leuchtetes Triforium  angebracht.  Es  ist  bemerkenswerth ,  dass  auch  diese 
Anordnung  sich  in  Saint -Denis  vorfindet,  also  in  derselben  Kirche,  aus 
welcher  der  Erbauer  des  Langhauses  die  Form  seiner*Pfeiler  entlehnt  hatte. 
Allein  dennoch  entspricht  sie  den  Verhältnissen  des  Baues  nicht  genug,  um 
sie  schon  von  jenem  angewendet  zu  glauben.  Sie  wird  vielmehr  erst  von 
Erwin  herrühren,  der  durch  die  Fülle  und  den  Glanz  der  Beleuchtung  das 
Innere  luftiger  zu  machen  und  so  den  Contrast  seiner  massigen  Höhe  gegen 
die  kolossalen  und  kühnen  Verhältnisse  der  Fagade  zu  vereinigen  strebte. 
Das  Langhaus  des  Freiburger  Münsters  zeigt  mit  dem  des  be- 
nachbarten Strassburger  Domes  eine  Uebereinstimmung,  die  kaum  auf  einem 
Zufall  beruhen  kann.  Auch  hier  hatte  der  Meister  mit  den  Dimensionen 
der  älteren  östlichen  Theile  zu  kämpfen  und  setzte  sich  mit  denselben  ganz 
so  auseinander,  wie  es  in  Strassburg  geschehen  war;  er  gab  nämlich  den 
Seitenschiffen  mehr  als  die  Hälfte  der  beibehaltenen  Mittelschiffbreite  und 
lehnte  das  neue  Gewölbe  so  an  die  ältere  Kuppel  an,  dass  es  diese  verdeckt. 
Das  Kreuzschiff  des  Freiburger  Münsters  hatte  aber  in  allen  Beziehungen 
kleinere  Dimensionen  als  das  des  Strassburger,  und  veranlasste  daher  den 
Meister  hier  zu  noch  umfangreicherem  Gebrauche  jener  Mittel.  Die  Aussen- 
mauern  des  Langhauses  hat  er  so  weit  hinausgerückt,  dass  sie  mit  den  Front- 
wänden des  Kreuzschiffes  in  einer  Flucht  liegen  und  den  Seiteuschiffen  die 
ganz  ungewöhnliche  Breite  von  fünf  Sechsteln  der  Mittelschiffbreite  geben. 
Auch  das  Gewölbe  ist  so  weit  als  möglich,  bis  zum  äussersten  Fiande  der 
senkrechten  Kuppelmauer,  hinaufgeführt,  so  dass  die  Kuppel  nicht  bloss  auf 
ihrer  Westseite  verdeckt  ist,  sondern  ganz  unter  dem  Dache  liegt.  Auch 
so  ist  noch  nicht  die  absolute  Höhe  des  Strassburger  Münsters  (96  Fuss), 
sondern  nur  die  von  84  Fuss  erreicht,  aber  dennoch  sind  die  Verhältnisse 
günstiger,  weil  die  hier  wie  dort  beibehaltene  Mittelschiff  breite  nur  37  Fuss 
beträgt,  und  der  Pfeilerabstand,  ebenfalls  wie  in  Strassburg,  nicht  nach 
Maassgabe  der  Seitenschiffe,  sondern  auf  wenig  mehr  als  die  Hälfte  der 
Mittelschiffbreite  bestimmt  ist.  Die  Höhe  ist  daher  bedeutend  mehr  als 
das  Doppelte  der  Breite  und  als  das  Vierfache  der  einzelnen  Wandabtheiluugen, 
und  das  Innere  erscheint,  ungeachtet  der  geringen  absoluten  Höhe,  schon 
viel  schlanker.  Noch  unzweifelhafter  zeigt  sich  die  Uebereinstimmung  beider 
Bauten  in  den  Details.  Die  Pfeiler  sind  hier  wie  dort  mit  sechzehn  eng 
aneinandergereiheten  Halbsäulen  rautenförmig  umstellt,  von  denen  die  fünf 


390  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

vorderen  kräftig  und  ununterbrochen  zum  oberen  Gewölbe  aufsteigen,  aber 
die  Dienste  stehen  in  Freiburg  nicht  zwischen  eckigen  Vorsprüngen,  sondern 
sind  bereits  durch  Hohlkehlen  verbunden.  Dagegen  ist  hier  das  Blattwerk 
der  Kapitale  weniger  leicht  behandelt  und  die  Basis  der  attischen  ähnlich, 
auch  an  den  vorderen  Diensten  noch  mit  dem  Eckblatt  versehen.  Von  den 
Fenstern  sind  die  beiden  östlichen  Paare  der  Oberlichter  die  ältesten;  sie 
sind  zweitheilig  und  noch  ohne  Pfostensäulen,  vielmehr  nur  durch  abgeschrägte 
Wandungen  gegliedert ;  ihnen  folgen  die  dreitheiligen  mit  tief  herabgehendem 
Maaswerk  im  nördlichen  Schiff,  während  die  viertheiligen  Fenster  des  süd- 
lichen Seitenschiffes  offenbar  schon  unter  Einfluss  des  Strassburger  Münsters 
entstanden  sind  und  wenigstens  an  den  Ecken  und  an  dem  mittelsten  Pfosten 
mit  Säulchen  geschmückt  sind.  Die  dreitheiligen  westlicheren  Oberlichter 
gehören  dagegen  schon  dem  14.  Jahrhundert  an.  Das  Triforium  ist  fortge- 
blieben und  die  Wand  zwischen  den  Scheidbögen  und  Oberlichtern  ist,  wie 
es  in  Deutschland  herkömmlich  war,  unbelebt  und  leer.  In  der  Ausstattung 
der  Seitenschiff- Wände  übertrifft  dagegen  der  Freiburger  Meister  selbst  sein 
überrheinisches  Vorbild.  Er  hat  nämlich  die  Arcatur  am  Fusse  dieser  Wände 
nicht  bloss  beibehalten,  sondern  dieselbe  auch  noch  mit  einer  hohen  Ba- 
lustrade von  wechselndem  und  anmuthigem  Maasswerk  bekrönt,  welche  unter 
den  Fenstern  einen  Gang  bildet  und  mit  denselben  die  Wand  vollständig 
und  ungewöhnlich  reich  belebt. 

Der  Freiburger  Meister,  dessen  Namen  man  nicht  kennt,  wurde  offenbar 
von  dem  Strassburger  Langhause  in  dessen  ursprünglicher  Anlage  beeinflusst, 
ging  aber  in  der  Formbehandlung,  in  der  Wahl  der  Höhenverhältnisse,  in 
der  Pfeilerbilduug  über  dieses  Vorbild  hinaus,  und  machte  überdies  während 
der  Weiterführung  des  Baues  unverkennbare  Fortschritte.  Die  Ostpartien 
zeigen  in  den  Details  viel  stärkere  romanische  Reminiscenzen,  als  die  weiter 
nach  Westen  gelegenen  Theile ,  und  in  den  Fenstern  zwar  Maasswerk ,  aber 
von  sehr  roher  Ausführung.  Von  dem  Herstellungsbau  Erwins  können 
höchstens  die  Fenster  des  südlichen  Seitenschiffs  und  von  seinem  Fayadenbau 
die  kleinen  Rosen  in  quadratischer  Umrahmung  an  den  Westenden  beider 
Seitenschiffe  entlehnt  sein,  falls  hier  nicht  etwa  das  umgekehrte  Verhält- 
niss  obwaltet,  und  Erwin  von  Freiburg  her  Anregungen  empfangen  hat. 

Wenn  das  Langhaus  des  Freiburger  Münsters  ungeachtet  seiner  Ab- 
hängigkeit von  dem  Strassburger  einen  günstigeren  Eindruck  macht,  so 
entsteht  dies  zunächst  durch  die,  vielleicht  nicht  freiwillig,  sondern  mit 
Rücksicht  auf  die  älteren  Theile  angenommenen  besseren  und  schlankeren 
Verhältnisse,  dann  aber  auch  durch  die  Behandlung  der  Details.  Das  Innere 
des  Strassburger  Domes  ist  fast  zu  gefüllt;  bei  der  nach  Verhältniss  der 
Breite  nur  massigen  Höhe,  bei  der  reichen  Gestalt  der  Pfeiler  ist  es  fast  zu 
viel,  dass  das  hohe  Triforium  nahe  über  den  Scheidbögen  beginnt  und  mit 


Die  Münster  von  Strassburg  und  Fieiburg-.  391 

■den  hohen  und  breiten  Fenstern  zu  einer  Masse  verschmilzt.  Eine  so  reiche 
Ausstattung  der  Wand  erfordert  auch  die  schlanken  Verhältnisse  der  franzö- 
sischen Kathedralen.  Das  Innere  des  Freiburger  Münsters  ge\Yinnt  dagegen 
gerade  durch  seine  Einfachheit;  es  ist  wahr,  dass  die  grosse  Wandfläche 
zwischen  den  Scheidbögen  und  den  Oberlichtern  leer  erscheint,  dass  die 
Oberlichter  selbst  nicht  so  reich  und  glänzend  sind,  wie  dort,  aber  gerade 
4iese  Anordnung  macht  die  adele  Bildung  der  Bündelpfeiler  und  den  Auf- 
schwung der  schlanken  Gewölbdienste  um  so  fühlbarer,  und  giebt  den  Aus- 
druck gehaltener,  kirchlicher  Würde,  der  auf  den  Beschauer  mächtig  wirkt, 
und  diesem  Münster  eine  bedeutende  Stelle  unter  den  schönsten  Schöpfungen 
des  gothischen  Styls  in  seiner  Blüthezeit  anweist.  Allerdings  kommt  dem 
Freiburger  Langhause  aber  auch  das  zu  Statten,  dass  es  nicht,  wie  in  Strass- 
burg, mit  einer  engen  Concha  älteren  Styles,  sondern  mit  einem,  wenn  auch 
erst  im  fünfzehnten  Jahrhundert  und  nicht  mehr  in  den  reinsten  Formen 
erbauten,  aber  freien  und  luftigen  Cliore  verbunden  ist,  der  eine  angemessene 
Perspective  gewährt. 

Von  dem  Thurme  des  Freiburger  Münsters,  also  von  dem  Theile, 
welcher  den  Ruhm  dieses  Baues  in  weiteren  Kreisen  am  meisten  begründet, 
W'ird  erst  später  die  Rede  sein,  da  seine  Ausführung  wesentlich  dem  vier- 
zehnten Jahrhundert  angehört.  Dagegen  muss  der  berühmteste  Theil  des 
Strassburger  Baues,  die  Fagade,  obwohl  auch  sie  theilweise in  die  nächste 
Epoche  hineinreicht,  schon  jetzt  berücksichtigt  werden. 

Schon  1277,  wie  eine  jetzt  nicht  mehr  vorhandene  Inschrift  am  Portale 
sagte,  hatte  Erwin  von  Steinbach  diesen  glorreichen  Frontbau  begonnen,  er 
widmete  sich  der  Arbeit  zuerst  als  Werkmeister  (magister  operis),  dann  aber 
wurde  ihm  auch  die  ganze  geschäftliche  Oberleitung  übertragen,  da  ihn  seine 
Grabschrift  gubernator  fabrice  nennt.  Nicht  nur  die  Erfindung,  sondern 
auch  die  Ausführung  der  Fagade,  soweit  sie  unter  Erwins  eigener  Leitung 
-geschehen,  gehört,  wenn  er  auch  erst  1318  starb,  wohl  noch  dem  letzten 
Viertel  des  dreizehnten  Jahrhunderts  an,  da  seit  dem  Brande  von  1298  ihn 
wohl  mehr  die  Herstellungsarbeiten  am  Langhause  beschäftigten.  Innen 
bildet  dieser  Vorbau  eine  Fortsetzung  des  Langhauses,  dessen  Höhe  er 
freilich  weit  überragt,  denn  der  Scheitel  des  Mittelschift's  reicht  nur  bis  zu 
dem  Mittelpunkt  des  Radfensters.  Das  Aeussere  erinnert  durch  die  Anord- 
nung der  HaupttheiJe,  die  Stellung  und  Einrahmung  der  Portale,  die  Sonderung 
der  Stockwerke  durch  Gallerien,  und  die  bedeutsame  Fensterrose  an  die 
Fagaden  der  französischen  Kathedralen,  etwa  an  die  von  Rheims  und  Amiens. 
Die  Ausführung  aber  hat  einen  anderen  Charakter.  Während  dort  die 
horizontalen  Abtheilungen  noch  sehr  stark  betont  sind,  die  Strebepfeiler  sich 
in  derben  Aufsätzen  zurückziehen  und  zu  kräftigen  Fialen  aufschiessen,  die 
Portale  mit  ihren  gewaltigen  Spitzgiebeln  mächtig  vortreten,  während  also 


392  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

alle  Theile  so   derb  gehalten  sind,   dass  sie  sich  selbständig  geltend  machen 
und  dem  Ganzen  eine  etwas  schwere  Haltung  geben,  hat  der  deutsche  Meister 
den  Gedanken  der  Einheit,    des  leichten  Emporspriessens  von  unten  an 
consequent  verfolgt.     Die  Horizontallinien   sind  zwar  unverhüllt,   aber   von 
massiger  Ausladung,  und  die  ganze  Fagade  ist  mit  Verticalstäben  bedeckt, 
welche  schon  neben  den  Portalen  anfangend  sich  durch  leichtes  Maasswerk 
den  Gesimsen  anschliessen,  dann  als  Gitterwerk  von  schlanker  und  über- 
raschender Kühnheit   vor  den  Mauern  und  Fensteröffnungen  sich  fortsetzen, 
und  so  das  Auge  beständig  beschäftigen  und   allmälig  und  sanft  nach  oben 
hinleiten.  Auch  dieser  glänzende  decorative  Gedanke  war  durch  französische 
Vorbilder  angeregt    worden,    sichtlich  ist  namentlich   der  Zusammenhang 
mit  der  Kirche  St.  Urbain  in  Troyes,   besonders   mit  ihrem  frei  vor   die 
Oberlichter  gestellten  durchbrochenen  Rahmenwerk  i).     Wie  jener  Johannes 
Anglicus ,   der  uns  als  Baumeister  von  St.  Urbain  genannt  wird ,  behandelt 
auch  Erwin  den  Stein  fast  wie  Metallguss,  er  geht  an  die  äusserste  Grenze 
dessen  was  das  Stylgefühl  erlaubt,  aber  er  übertrifft  sein  Muster  durch  den 
Geist,  mit  welchem  er  dies  Motiv  anwendet  und  durch  die  Wirkung,  die  er 
mit   demselben   erreicht.      Die  Kritik    mag    diese   Ausstattung    eine    ver- 
schwenderische nennen,  an  ihr   die  übermässige  Betonung  des  Verticalen, 
das  Vorwalten  des  Decorativen  über  das  Constructive  rügen,  aber  man  muss 
die  Reinheit  der  Formen,   die  Consequenz  in  der  Durchführung,  den  Geist 
und  die  technischen  Kenntnisse  des  Meisters  anerkennen,  und  wird  sich  dem 
bedeutenden  Eindruck  des  Werkes  nicht  entziehen  können.     Die  unverhält- 
nissmässige  Höhe,  in  welcher  jetzt  der  Frontbau  neben  der  Kirche  erscheint, 
kommt   nicht   ganz   auf  Erwins  Rechnung.     Nach   seiner  Absicht  sollte  der 
breite  Unterbau  der  Thürme  nur  aus  zwei  mächtigen  Stockwerken  bestehen 
und  darüber  das  Aufsteigen  der  beiden  getrennten  Thürme  zu  den  Seiten 
eines   Giebels  beginnen.     Erst  längere  Zeit  nach  seinem   Tode,  etwa  um 
1350,  als  an  die  Stelle  freier  künstlerischer  Empfindung  mehr  und  mehr  ein 
handwerklicher  Geist  getreten  war,  der  sich  in  Uebertreibungen  und  Künst- 
lichkeiten gefiel,  beschlossen  seine  entfernten  Nachfolger  eine  bedeutende 
Höhensteigerung,  welche  sie  dann  dadurch  bewirkten,  dass  sie  zwischen  die 
beiden  freistehenden  rechtwinkeligen  Thurmgeschosse,  auf  denen  sich  wahr- 
scheinlich auf  jeder  Seite  noch  ein  kurzes  Geschoss  als  Träger  des  Helmes 
erheben  sollte-),  einen  gleichen  Mauerkörper  einschoben,  durch  den  jene 
Anfänge  der  Thürme  verbunden  und  zu  einem  dritten  Stockwerke  der  Fagade 
umgestaltet    wurden,   welches   ziemlich  schwer  auf  dem  leichten   Stabwerk 
und   der  so   unvergleichlich  zart    ausgeführten  Fensterrose  lastet.      Noch 


1)  S.  oben  S.  108.  Dieser  Zusammenhang   ist  zuerst  nachgewiesen  von  Adler  a.a.O. 

2)  S.  Adler  a.  a.  0.  Nro.  52,  einen  Versuch,  Erwin's  Frontentwurf  herzustellen. 


St.  Peter  und  Paul  zu  Weissenburs 


39a 


Fig.   106. 


weniger  ist  der  zwar  mit  bewimderswerther  Technik  und  Eleganz  ausgeführte 
aber  an  sich  bizarre  und  geschmacklose  Thurm  mit  seinen  zierlich  durch- 
brochenen Schneckenstiegen  und  der  stufenförmig  gebildeten  Spitze  von  Erwin 
ausgehend ;  er  gehört  erst  der  Spätzeit  des  vierzehnten  Jahrhunderts  an,  und 
wurde  1439  vollendet.  Aber  auch  die  edleren,  von  ihm  herstammenden 
Theile  der  Fa^ade  beweisen,  dass  er  es  war,  der  die  spätere,  einseitige  und 
abstracte  Auffassung  des  gothischen  Princips  aus  Frankreich  nach  Deutsch- 
land einführte,  wo  sie  vermöge  der 
Eigenthümlichkeit  des  deutschen  Geistes 
weit  gefährlicher  war^). 

Der  Einfluss,  welchen  Erwins 
Werk  weithin  ausübte,  ist  erst  in  der 
folgenden  Epoche  bemerkbar.  Die 
Bauten  im  Elsass  aus  der  zweiten  Hälfte 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  zeigen 
zwar  den  gothischen  Styl  in  reiferer 
Anwendung,  aber  selten  mit  Zügen, 
die  auf  Strassburg  hinweisen.  In  der 
Stiftskirche  zu  Maure smtinster,  wo 
sich  dem  imposanten  romanischen  West- 
bau-) ein  Langhaus  frühgothischen 
Styls  anschliesst,  haben  die  Bündel- 
pfeiler noch  romanische  Anklänge, 
während  in  der  Ornamentik,  nament- 
lich im  Laubwerk  der  Kapitale,  der 
neue  Styl  mit  seltener  Jugendfrische 
undLebensfülle  hervortritt.  Im  üebrigen 
herrscht  im  Elsass  die  Form  des  kan- 

tonirten  Rundpfeilers  vor,  wie  in  dem  Langhause  der  St.  Martinskirche 
zu  Colmar^),   deren  Formen   aber   grösstentheils   noch   ziemlich   derb  und 


Abteikirche  zu  Weissenbnrg. 


^)  Nachrichten  und  Muthmassungen  über  die  Lebensverliähnissc  und  Studien  Erwin's 
s.  bei  Adler  a.  a.  U.  S.  368,  418  und  sonst.  Nach  Erwin  waren  noch  zwei  Archi- 
tekten gleichen  Namens  Werkmeister  des  Münsters;  der  Sohn  eines  dieser  Erwine  ist 
ein  Meister  Johannes,  der  1539  starb.  Als  Sohn  Erwins  wird  endlich  noch  ein  Archi- 
tekt genannt,  der  1330  als  Baumeister  der  Kirche  zu  Haslach  starb  und  dessen  Name 
auf  seinem  Grabsteine  offen  gelassen  ist,  vielleicht  aber  (Adler  a.  a.  0.  S.  370)  Winning 
lautete.     Schneegans  in  der  Revue  d'Alsace,  1852,  S.  78  ff. 

2)  Vgl.  Bd.  IV,  S.  402. 

•'')  Nach  Golbery  a,  a.  0.  wurden  seit  1263  Ablassbriefe  zu  Gunsten  des  Baues- 
erlassen.  Mertens  in  seinen  Tabellen  setzt  die  Haupttheile  um  1280.  Am  Portale  des 
südlichen  Kreuzschiffes  ist  eine  halbverlöschte  Inschrift ,  die  keine  Jahreszahl  ,  wohl 
aber  den  Namen  eines  Magister  Humbertus  augiebt.  Vgl.  Revue  d'Alsace,  1852,  S.  270. 


^Q^  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

unentwickelt  sind;  und  in  der  Abteikirche  St.  Peter  und  Paul  zuWeissen- 
burg^),  welche  nächst  dem  Strassburger  Münster  das  schönste  gothische 
Denkmal  dieser  Provinz  ist.  Die  Grundrissbildung  ist  eigenthümlich  mit 
den  unsymmetrisch  angelegten  Nebenchören  an  der  Ostseite  des  Querhauses, 
mit  der  westlich  eingebauten  Empore  und  der  Verdoppelung  des  südlichen 
Seitenschiffes,  die  aber  nur  in  den  vier  östlichen  Jochen  in  das  Innere  ge- 
zogen ist,  mit  den  drei  westlichen  aber  eine  offene  Vorhalle  bildet,  als  Ersatz 
für  die  Portalentwickelung,  welche  an  der  eng  gelegenen  und  verbauten 
Westseite  nicht  möglich  war.  Die  Behandlung  des  Laubwerks  an  den  Kapi- 
talen, und  die  derConsolen,  von  welchen  die  Dienste  der  stärkeren  Vierungs- 
pfeiler aufwachsen,  ist  von  hoher  Meisterschaft,  die  breiten  viertheiligen 
Oberlichter  mögen  erst  unter  Einfluss  von  Erwins  Herstellungsbau  in  Strass- 
burg  entstanden  sein;  sie  dienen  nur  zur  Belebung  der  Oberwand,  indem 
wegen  der  ungewöhnlichen  Höhe  der  Seitenschiffdächer  nur  der  oberste 
Theil  des  Maasswerks  mit  Verglasung  versehen  ist,  die  Pfosten  aber  nur  als 
Blenden  bis  zum  Arcadengesims  herabgeführt  sind.  Der  kräftige  achteckige 
Thurm,  der  über  der  Vierungskuppel  aufsteigt,  lässt  uns  ahnen,  welche 
Wirkung  einst  der  Vierungsthurm  in  Strassburg  machte.  Bei  sonst  gothischen 
Formen  kommen  noch  Lisenen  und  Rundbogeufriese  an  ihm  vor;  leider 
wächst  anstatt  des  Helmes  ein  plumpes  Zopfdach  aus  seinen  acht  Giebeln 
heraus,  von  denen  vier  durch  Fenstergruppen  belebt  sind,  während  vor  der 
Mitte  der  vier  anderen  schrägstehende  schlanke  Treppenthürmchen  ange- 
bracht sind. 


Ungefähr  gleichzeitig  mit  dem  Anfange  der  Arbeiten  von  Strassburg 
und  Freiburg  wurde  an  einer  anderen  Stelle  der  Rheinlande  ein  sehr  viel 
bedeutenderes  Werk,  die  höchste  Leistung  des  gothischen  Styles  in  Deutsch- 
land, begonnen,  der  Dom  zu  Köln. 

Die  Geschichte  des  berühmten  Monumentes  ist  nicht  unbestritten,  und 
die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  erfordert  ein  näheres  Eingehen  auf  die 
verschiedenen  Darstellungen.  Die  ältere,  welche,  im  Westlichen  schon  von 
den  früheren  Localschriftstellern  herstammend,  von  dem  hochverdienten  und 
begeisterten  Herausgeber  des  Domwerkes  Sulpiz  Boisseree")  weiter  aus- 
geführt und  vertheidigt  wurde,  nahm  folgenden  Hergang  an. 


^)  Für  alle  diese  Denkmäler  vgl.  Lübke  a.  a.  0.  Bl.  43. 

2)  Sein  Prachtwerk  über  den  Kölner  Dom ,  auch  als  mächtiges  Anregungsmittel 
der  Liebe  für  mittelalterliche  Kunst  höchst  wichtig,  erschien  nach  dreizehnjährigen 
Vorarbeiten  seit  1821,  der  Text  (Geschichte  und  Beschreibung  des  Kölner  Domes) 
1823,  und  im  Wesentlichen  wiederholt  in  dem  kleineren  Werke  gleichen  Titels  1842.  Eine 


Der  Dom  zu  Köln.  395 

Schon  im  Anfange  des  dreizehntenten  Jahrhunderts  habe  man  die  da- 
malige, aus  dem  neunten  Jahrhundert  stammende^  in  den  einfachen  Formen 
dieser  frühen  Zeit  und  nur  mit  hölzernen  Thürmen  errichtete  Kirche  unzu- 
reichend gefunden;  die  einflussreiche  Stellung  der  Erzhischöfe,  der  steigende 
Luxus  der  reichen  Handelsstadt,  das  Beispiel  anderer  Kathedralen,  endlich 
derZudrang  von  Pilgern,  welche  zu  den  seit  1166  hierher  gelangten  Reliquien 
der  heiligen  drei  Könige  wallfahrteteu ,  habe  den  Wunsch  nach  einem  neuen 
und  prachtvollen  Gebäude  erweckt.  Erzbischof  Engelbert  I.  (1216  — 1225) 
habe  daher  einen  solchen  Bau  beabsichtigt,  die  Domherren  dazu  zu  be- 
stimmen gesucht  und  selbst  einen  jährlichen  Beitrag  von  500  Mark  ver- 
heissen^).  Sein  früher  Tod  habe  die  Ausführung  verhindert,  indessen 
hätten  seine  Nachfolger  den  Gedanken  im  Auge  behalten.  Erzbischof  Conrad 
von  Hochstaden,  ein  kluger  und  mächtiger  Kirchenfürst,  dessen  politischer 
Einfluss  Deutschland  beherrschte,  habe  daher  den  Plan  zu  einem  Gebäude 
entwerfen  lassen,  welches  alle  anderen  Kathedralen  an  Grösse  und  Bedeutung 
übertreffen  sollte,  dessen  Ausführung  aber  vielleicht  verschoben  sein  würde, 
wenn  nicht  im  Jahre  1248  eine  zufällige  Feuersbrunst  die  alte  Domkirche 
bis  auf  die  Mauern  zerstört  und  den  Neubau  zur  dringenden  Nothwendigkeit 
gemacht  hätte.  Sehr  bald  nach  diesem  Brande,  schon  am  21.  Mai,  habe 
Papst  Innocenz  IV.  von  Lyon  aus,  ayo  er  damals  weilte,  eine  Ablas?sbulle 
erlassen,  welche  des  neuerlichen  Brandes  und  der  Absicht  einer  prachtvollen 
Herstellung  gedenkt;  und  sofort,  am  14.  August  desselben  Jahres,  Erzbischof 
Conrad  in  Gegenwart  König  Wilhelm's  von  Holland  und  vieler  weltlichen 
und  geistlichen  Fürsten  den  Grundstein  gelegt.  Allein  der  Fortschritt  der 
Arbeit  habe  diesem  beschleunigten  Anfange  nicht  entsprochen.  Der  alte 
Dom  der  dichtbevölkerten  Stadt  sei  von  Kapellen  und  Wohnhäusern  eng 
umgeben  gewesen ,  welche  anderen  kirchlichen  Instituten  und  Privaten  ge- 
hörten und  an  welchen  mancherlei  Rechte  hafteten,  und  deren  für  den 
beabsichtigten  Neubau  erforderliche  Fortschaffung  daher  langwieriger  Unter- 
handlungen bedurfte,  ehe  die  schon  an  sich  weitläufige  Fundamentirung  der 
beabsichtigten  kolossalen  Mauern  beginnen  konnte.  Ueberdies  seien  heftige 
Feindseligkeiten  zwischen  der  Stadt  und  dem  Erzbischofe  dem  friedlichen 
Unternehmen  störend  entgegengetreten,  und  die  Einnahmequellen  nicht  immer 
so  reichlich  geflossen ,  wie  es  der  immense  Bau  erforderte.     So  sei  es  ge- 


mustergiiltige  Publication  giebt  das  ueue  Werk  von  Franz  Schmitz:  Der  Dom  zu  Köln, 
seine  Construction  und  Ausstattung,  der  als  Text  eine  historische  Einleitung  von 
Dr.  Leonard  Ennen  dient.     Köln  und  Keuss  (1871). 

1)  Diese  Thatsache  ist  allerdings  richtig,  und  wird  durch  das  Zeugniss  des  wohl- 
unterrichteten Lebensbeschreibers  Engelbert's  Caesar  von  Heisterbach  (Vita  S.  Engelberti 
Lib,  I,  c.  9,  bei  Böhmer,  Fontes  rer.  Germ.  II,  304)  ausser  Zweifel  gesetzt. 


396  Gothischer  Slyl  in  Deutschland. 

kommen,  dass  man  erst  im  Jahre  1322  bis  zur  Vollendung  und  Einweihung^ 
des  Chores  gelangt  sei,  erst  dann  und  wiederum  langsam  die  westlichen 
Theile  und  die  Thürme  in  Angriff  genommen,  und  endlich,  nachdem  der  fromme 
Eifer  des  Mittelalters  erkaltet  war,  das  Ganze  so  unvollendet  gelassen  habe, 
wie  es  auf  unsere  Tage  gekommen  ist. 

Man  nahm  hiernach  für  gewiss  an,  dass  die  völlige  Zerstörung  des 
alten  Domes  auch  einen  totalen  Neubau  erfordert  und  die  Grundsteinlegung 
sich  auf  einen  solchen  bezogen  habe,  der  Plan  zu  demselben  aber,  da  seine 
Verabredung  und  Anfertigung  in  der  kurzen,  seit  dem  Brande  verflossenen 
Zeit  nicht  füglich  geschehen  können,  schon  vorher  ausgearbeitet  gewesen 
sein  müsse. 

Die  weiteren  Fortschritte  der  archäologischen  "Wissenschaft  und  be- 
sonders die  gründlichen  archivalischen  Forschungen,  welche  neuerlich  über 
diesen  Gegenstand  angestellt  wurden  i),  erweckten  jedoch  erhebliche  Bedenken 
gegen  diese  ganze  Annahme.  Selbst  der  Brand  von  1248  und  die  Grund- 
steinlegung erschienen  zweifelhaft.  Die  weiteren  Nachforschungen  scheinen 
nun  zwar  diese  wichtigen  Punkte  jener  älteren  Erzählung  zu  bestätigen,  aber 
sie  geben  doch  dem  ganzen  Hergang  eine  veränderte  Gestalt  und  zugleich 
höchst  lehrreiche  und  genaue  Anschauungen  von  dem  Betriebe  des  Dombaues 
selbst  und  von  der  Art,  wie  man  solche  Unternehmungen  damals  behandelte. 
Eine  kritische  Beleuchtung  der  einzelnen  Momente  des  Hergangs  wird  dies 
näher  zeigen. 

Ein  Brand  hat  im  Jahre  1248  wirklich  stattgefunden.  Die  Bulle  vom 
21.  Mai  1248  spricht  von  einem  neuerlich  stattgefundenen  Brande^).  Eine 
Urkunde  König  Heinrich's  HI.  von  England  vom  Jahre  1257,  in  welcher  er 
gestattet,  dort  für  den  abgebrannten  Dom  zu  sammeln,  nennt  zwar  das  Jahr 
des  Brandunglücks  nicht  s)^  wird  indessen  in   dieser  Beziehung  durch  den 


1)  Lacomblet,  zuerst  (1846)  im  Vorbericht  zum  zweiten  Bande  seines  Urkunden- 
buches  für  die  Geschichte  des  Niederrheins,  S.  XVI  —  XXVII,  dann,  nachdem  Boisseree 
"in  den  Jahrbüchern  der  rheinischen  Alterthumsfreunde  Heft  XII,  S.  130,  und  im  Dom- 
blatt 1846,  S.  21  seine  frühere  Ansicht  vertheidigt  liatte,  im  Archiv  für  die  Geschichte 
des  Niederrheins  Bd.  II,  Heft  I,  (1854)  S.  103,  Bd.  III  (1860)  S.  175.  —  Vgl.  auch  in 
demselben  Archiv  VI,  1867,  S.  9  eine  Uebersicht  und  weitere  Ausführung  der  durcli 
Lacomblel's  Forscliungen  gewonnenen  Resultate  von  Dr.  W,  Harless. 

-)  Lacomblet,  Urkundenbuch  II,  Nro.  332.  Innocenz  IV.  sagt  darin:  Sane  famosa 
et  honorabilis  Colonlensis  ecciesla  de  novo,  slcut  acceplmus,  casu  mlserabill,  per 
iacendlum  est  consumta.  Cum  autem  f rater  noster  venerabilis  Archiepiscopus  et 
dilecti  filli  capltulum  Col.  ecclesiam  ipsam,  in  qua  tria  beatorum  magorum  corpora 
requiescunt,  reparare  cupiunt  opere  sumtuoso  etc. 

•'')  Bei  Rymer,  Foedera  et  acta  publ.  regni  Angl.  Ed.  nov.  1816,  I,  P.  1,  pag.  88': 
Cum  ecciesla  Col.,  in  qua  corj)ora  trium  regum  requiescunt,  per  Incendium  sit 
consumpta. 


Geschichte  des  Kölner  Domes.  397 

■Geschichtsschreiber  Mathaeus  Parisiensis  ergänzt  i),  da  derselbe  ohne  Zweifel 
ebenso  wie  der  König  keine  andere  Quelle  über  den  Brand  hatte,  als  den 
Erzbischof  Conrad,  der  sich  in  diesem  Jahre  1257  in  England  befand,  um 
dem  Bruder  des  Königs,  Richard,  die  deutsche  Krone  anzutragen,  oder  seine 
Begleiter.  Unmöglich  kann  der  Erzbischof,  der  jene  beiden  Urkunden 
veranlasste  und  das  Material  dazu  lieferte,  die  Thatsache  des  Brandes  völlig 
erdichtet  haben.  Ueberdies  ist  aber  neuerlich  in  Köln  selbst  und  zwar  in 
den  sogenannten  Annales  Sti.  Gereonis  eine  offenbar  gleichzeitige  Notiz 
über  einen  Brand  und  zwar  des  Dom-Chores  entdeckt,  welche  das  Datum 
desselben  auf  den  Quirinstag,  das  ist  den  30.  April  feststellt  -).  Allein  dieser 
Brand,  den  schon  diese  Xotiz  auf  den  Chor  beschränkt,  war  keinesweges  ein 
so  zerstörender,  dass  er  einen  gänzlichen  Neubau  der  Kirche  nöthig  machte; 
er  muss  vielmehr  höchst  unbedeutend  gewesen  sein.  Die  gleichzeitigen 
deutschen  und  belgischen  Schriftsteller,  selbst  Gottfried  Hagen,  der  Verfasser 
der  Kölner  Reimchronik,  erwähnen  seiner  nicht;  auch  in  einer  ehemals  über 
der  Domkirche  befindlichen  Inschrift,  welche  die  Grundsteinlegung  und  Weihe 
des  Chores  ziemlich  ausführlich  referirt,  deutet  kein  Wort  auf  eine  Feuers- 
brunst. Urkundliche  Nachrichten  ergeben,  dass  selbst  die  hölzernen  Thürme 
des  alten  Domes  nicht  vom  Feuer  gelitten  hatten,  und  es  scheint  sogar,  dass 
im  Jahre  1252  der  Hochaltar  noch  bestand,  da  man  in  demselben  Münz- 
proben niederlegte^).     Wohl  aber  sehen  wir,  dass   die  Bauherren  diesen 


1)  Matth.  Paris,  (Hist.  maj.  p.  653.  Londin.  1684:)  bemerkt  zum  Jahre  1148,  dass 
damals  durch  den  Zorn  Gottes  mehrere  Feuersbrünste  entstanden  seien  und  in  Deutsch- 
land ausser  anderen,  cathedralis  eccl.  beati  Petri  in  Colouia,  quae  est  omuiuni  eccle- 
siarum  quae  sunt  in  Alemannia  quasi  mater  et  matrona,  usque  ad  muros  incendio 
consumta  est.  Schon  die  prunkende  Bezeichnung'  der  hierarchischen  Bedeutung  des 
Domes  weist  darauf  liin,  dass  der  Chronist  seine  Nachrichten  von  den  Begleitern  des 
Erzbischofs  erhalten  hat,  welche  Interesse  hatten,  die  Wichtigkeit  ihrer  Kirche  zu 
übertreiben. 

-)  Die  Notiz  lautet  wörthch:  Anno  Dni  MCCXL  octavo,  die  quirini  combustus  est 
summus  Colonie.  Vgl,  Lersch  in  den  angef.  Jahrb.  XIV,  S.  13.  Lacomblet,  Archiv 
a.  a.  0.  S.  117,  macht  es  mindestens  höchst  wahrscheinlich,  dass  unter  dem  Ausdi'ucke 
summus  Colonie  der  hohe  Chor  der  Domkirclie,  im  Gegensatz  gegen  die  chori 
parvi,  wie  man  gewisse  Kapellen  des  Domes  nannte,  verstanden  sei.  Da  summum 
(sc.  teraplum)  Colonie  sonst  häufig  zur  Bezeichnung  des  Domes  vorkommt,  ist  es  erklärlich, 
dass  jenes  Masculinum  auch  in  Aufzeichnungen-,  welche  sich  niciit  ausschliesslich  auf 
den  Dom  bezogen,  der  Kürze  halber  gebraucht  wurde.  —  Um  die  Zweifel  zu  häufen, 
ist  auch  noch  der  Quirinstag  unsicher.  Die  übrige*"  katholische  Kirche  feiert  ihn  am 
30.  März,  Köln  aber  am  30.  April,  und  man  wird  daher  dies  Datum  annehmen  müssen, 
obgleich  dadurch  der  Zeitraum  zur  Extrahirung  der  Bulle  vom  21.  Mai  ein  sehr 
kurzer  wird. 

^)  Lacomblet,  Archiv  S.  110  und  109.  Die  Niederlegung  geschah  zufolge  der 
Ui'kunde    „in    sacrario    S.    Petri    majoris    ecclesie    in    Colonia",    was    Boisseree    durch 


398  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

unbedeutenden  Brand  benutzten,  um  Theilnahme  für  den  Neubau  ihrer  Kirche 
zu  erwecken  und  Beisteuern  zu  erhalten. 

Der  Gedanke  eines  Neubaues  war  seit  der  Zeit  P^ngelbert's  I.  nicht 
aufgegeben;  es  bestand  darüber,  wie  wir  durch  eine  Urkunde  vom  25.  März 

1247  gelegentlich  erfahren,  ein  Beschluss  des  Domkapitels.  Freilich  wohl 
noch  ohne  nähere  Bestimmung  über  den  Umfang  oder  die  Art  des  Neubaues, 
nur  als  eine  Grundlage  für  Ansammlung  eines  Baufonds  ^).  Jene  400  Mark, 
welche  Engelbert  I.  jährlich  dazu  bewilligt  hatte,  werden  bei  seinem  frühen 
Tode  nicht  viel  ergeben  haben  und  freiwillige  Beiträge  sparsam  geflossen 
sein;  man  erwärmt  sich  nicht  für  unbestimmte,  noch  unreife  Pläne.  Indessen 
gab  es  eine  baulustige  Partei  unter  den  Domherren,  welche,  wie  jene  Urkunde 
von  1247  zeigt,  den  früheren  Beschluss  benutzten,  um  den  Thesaurar  des 
Doms  für  einige  Jahre  zu  einem  Beitrage  aus  seinen  Einkünften  zu  bestimmen, 
was  ihnen  dann  auch  trotz  seines  Sträubens  gelang.    Im  Januar  und  Februar 

1248  finden  wir-)  drei  Schenkungen  zusammen  von  175  Mark,  welche  von 
Geistlichen  des  Stiftes  dem  Baufonds  zuflössen.  Indessen  konnten  diese 
Mittel  noch  nicht  weit  geführt  haben,  als  jener  Brand  vom  30.  April  desselben 
Jahres  den  baulustigen  Domherren  die  günstige  Gelegenheit  zu  umfassenderen 
Sammlungen  bot.  Schon  am  2 I.Mai,  kaum  vier  Wochen  nach  dem  Unfälle, 
haben  ihre  Boten  den  zum  Glück  in  Lyon  weilenden  Papst  erreicht  und  zur 
Bewilligung  eines  Ablasses  bestimmt;  noch  nach  neun  Jahren,  bei  seinem 
Aufenthalte  in  England',  macht  der  Erzbischof  den  Brand  geltend,  um  eine 
erneuerte  Sammlung  wirksam  einzuleiten.  Bemerkenswerth  ist  auch,  dass 
schon  in  der  Bulle  vom  21.  Mai  der  Entschluss  einer  prachtvollen  Her- 
stellung (reparare  cupiuntopere  sumtuoso)  ausgesprochen  wird,  der  schwer- 
lich aufgekommen  sein  würde,  wenn  man  den  Brand  nur  als  einen  Unglücks- 
fall, nicht  als  einen  für  die  Ausführung  des  längst  beabsichtigten  Neubaues 
günstigen  Umstand  angesehen  hätte. 

Darauf  deutet  denn  auch  die  in  so  kurzer  Zeit  nach  dem  Brande  am 
14.  August  erfolgte  Grundsteinlegung.  Denn  auch  sie  kann  nicht  wohl 
bezweifelt  werden.     Die  schon   erwähnte  Inschrift,  welche  sich  über  einer 


„Sakristei"  übersetzt,  Lacomblet    aber  mit   überzeugenden  Gründen    durch    die  Worte: 
„im  Altare  des  h.  Petrus  in  der  Domkirche." 

')  Die  Urkunde  v.  25.  März  1247  ist  abgedruckt  bei  Pertz,  Monum.  Germ.  XVI, 
734,  bei  Ennen  und  Eckertz,  Quellen  zur  Gesch.  d.  St.  Köln  II,  Nro.  255,  und  bei 
Harless  a.  a.  0.  S.  23.  Jener  frühere  Beschluss  dös  Neubaues  ist  darin  nur  mit  den 
"Worten  erwähnt:  Cum  de  communi  consilio  diffinitum  esset,  ut  major  ecclesia  de 
novo  construeretur. 

2)  Harless  a.  a,  0.  S.  27,  28. 


Geschichte  des  Kölner  Domes.  399 

Thüre  des  Domes  befand ^),  giebt  diesen  Tag,  den  Tag  der  Himmelfahrt 
Mariae,  ausdrücklich  an  und  muss  für  glaubhaft  erachtet  werden,  zumal  sie 
ihrem  Inhalte  nach  im  Jahre  1320,  wo  der  Dienst  im  neuen  Chore  begann, 
noch  vor  der  Einweihung  geschrieben  zu  sein  scheint-;.  Sie  erhält  eine 
Bestätigung  durch"  Levolt  von  Northoff,  der  als  Domherr  von  Lüttich  und 
Stellvertreter  seines  Bischofs  der  Einweihung  des  Kölner  Domes  selbst  bei- 
wohnte und  daher  sehr  glaubwürdig  ist,  indem  er  in  seinem  Verzeichnisse 
der  Kölner  Erzbischöfe  von  Conrad  von  Hochstaden  an  bemerkt,  dass  dieser 
in"  der  neuen  Kirche  an  der  Stelle  begraben  sei,  wo  er  selbst  den  Grundstein 
gelegt  hatte '^).  Man  darf  annehmen,  dass  diese  Feierlichkeit  von  dem  stolzen 
und  prachtliebenden  Erzbischofe  wegen  der  Anwesenheit  vornehmer  Gäste ^) 
beeilt  wurde,  und  es  ist  nach  anderen  weiter  unten  auszuführenden  Umständen 
sehr  wahrscheinlich ,  dass  die  Vorbereitungen  zum  wirklichen  Bau  damals 
noch  sehr  im  Eückstande  waren.  Aber  irgend  welche  Vorbereitungen  müssen 
doch  vorhanden ,  eine  Stelle  des  neuen  Chores  muss  doch  schon  festgestellt 
gewesen  sein,  damit  der  Grundstein  gelegt  werden  konnte. 

Das  Dunkel,  welches  auf  diesem  Hergange  ruhet,  würde  völlig  beseitigt 
sein,  wenn  man  einer  neuerlich  aufgefundenen  Stelle  in  einer  noch  aus  dem 
sechzehnten  Jahrhundert  stammenden  Geschichte  der  Kölnischen  Erzbischöfe 
vollen   Glauben   beimessen   dürfte^).      Nach    dieser  Erzählung    ist  nämlich 


1)  Anuo  milleno  bis  C.  quatuoi-  X  dabis  octo 
Dum  colit  assiimptam  Clerus  populusque  Mariam 
Presul  Conradus  ab  Hochstaden  generosus 
Ampliat  hoc  teniphim,  lapidem  locat  ipse  primum 
Anno  milleno  ter  C.  vigenaque  junge 
Tunc  iiovus  iste  chorus  coepit  resonare  sonorus. 
-)  Vergleiche  Lacomblet  Archiv  a.  a.  0.  S.  104.     Nach  Crombach,  Historia  trium 
regum  S.  698,  war  die  Inschrift  in  Stein  gehauen  und  bestand  seiner  Zeit  (1654)  noch. 
Ihre  früheste  Erwähnung  ist  in  Koelhofi's   Chronica    van   der  hillige  Stad  von  Coellen 
vom  Jahr  1499. 

•■')  Sepultus  est  in  ecdesie  majoris  nova  domo,  eodem  in  loco  ubi presul  ejusdem 
operis  primum  posnit  fundamentum.  (Böhmer  Fontes  rer.  Germ.  II,  292.)  Er  bestätigt 
daher  wenigstens  eine  Grundsteinlegung  durch  Conrad,  wenn  er  auch  nicht  das 
Jahr  1248  nennt. 

■*)  Die  Beschreibung  der  Feierlichkeit  bei  Boisseree  ist  eine  imaginäre;  die  An- 
wesenheit Wilhelm's  von  Holland  und  der  andern  von  ihm  genannten  fürstlichen 
Personen  bei  der  Grundsteinlegung  ist  nicht  bloss  unerwiesen  sondern  auch  unwahr- 
scheinlich.    Lacomblet  Urkundenbuch  II,  p.  XVIII  und  Harless  a.  a.  0.  S.  13. 

5)  Diese  Erzählung  (von  Boisseree  im  Cölner  Domblatt  1846,  S.  21  und  in  den 
Jahrbüchern  der  rheinischen  Alterthumsfreunde  XII.  S,  130  und  bei  Ennen  luid  Eckertz 
a.  a,  0.  II,  S.  280  abgedruckt)  findet  sich  in  der  von  einem  gewissen  Conrad  Iseren- 
hoeft  um  1526  verfassten  Redaction  der  Cölner  Bischofschronik,  jedoch  nur  in  zwei 
(in  der  "Würzburger  Bibliothek  und  im  Kölner  Stadiarchive  befindlichen)  und  zwar  beide 
aus  dem  siebzehnlen  Jahrhundert  stammenden  Abschriften.     Harless  a.  a.  0.  S.  12. 


^QQ  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

jener  Brand  bei  den  Arbeiten  zum  Behufe  einer  prachtvollen  Erneuerung  des 
Domes  und  zwar  dadurch  entstanden,  dass  die  Werkleute,  welche  mit  dem 
Abbruche  der  östlichen  Mauern  beauftragt  waren,  den  Einsturz  derselben 
dadurch  herbeiführen  wollten,  dass  sie  den  Boden  aushöhlten,  mit  Holz  füllten 
und  dieses  anzündeten,  Ihre  Unvorsichtigkeit  und  ein  ungünstiger  "Wind 
hätten  dann  ein  Umsichgreifen  der  Flammen  verursacht,  durch  welches  das 
alte,  aber  edle  Gebäude  bis  auf  die  Mauern  abgebrannt  sei.  Diese  über- 
treibende Schilderung,  welche  sich  mit  der  durch  so  viele  Urkunden  bezeugten 
Fortdauer  des  Gottesdienstes  im  alten  Dom  bis  ins  14.  Jahrhundert  nicht 
vereinigen  lässt,  und  die  Unwahrscheinlichkeit,  dass  eine  so  pikante  Thatsachc 
von  allen  früheren  Localschriftstcllern  übergangen  und  erst  in  Handschriften 
des  17.  Jahrhunderts  uns  überliefert  sein  sollte,  lässt  uns  die  ganze  Erzählung 
nur  als  eine  späte,  unglaubwürdige  Sage  betrachten. 

"Wie  es  sich  aber  auch  damit  verhalten  möge,  gewiss  ist ,  dass  bald 
nach  1248  wenigstens  weitere  Vorbereitungen  zum  Neubau  des  Chores  ge- 
macht wurden.  Die  Nachrichten,  welche  wir  in  Ermangelung  einer  fort- 
laufenden Erzählung  aus  einzelnen  Urkunden  entnehmen,  sind  zwar  spärlich, 
lassen  aber  darüber  keinen  Zweifel.  Im  Jahre  1251  weist  das  Kapitel  die 
Vorsteher  des  Baues  (magistri  operis)  an,  die  Zinsen,  welche  die  Bewohner 
gewisser  Häuser  zur  Kirchenkasse  gezahlt  hätten,  da  diese  Häuser  wiegen 
des  Baues  niedergerissen  seien  (cum  propter  opus  et  edificium  ecclesie  nostre 
predicte  domuncule  per  nos  sint  deposite  et  destructe),  aus  dem  Baufonds 
(de  proventibus  edificii)  zu  zahlen  i).  Man  sieht  daraus,  dass  ein  besonderer 
und  wie  es  scheint  nicht  unzulänglicher  Baufonds  entstanden  war,  dass  das 
neue  Gebäude  sich  weiter  ausdehnte  als  das  alte,  und  dass  das  Abreissen 
jenerHäuser  schon  geschehen  war.  Im  Jahre  1256  finden  wir  eine  Schenkung 
zum  Baufonds  (ad  opus  ecclesiae).  Im  Jahre  1257  muss  schon  Bedeutendes 
geschehen  sein,  denn  das  Kapitel  beurkundet  dem  Gerardus,  der  als  Stein- 
metz und  Obermeister  des  Dombaues  bezeichnet  wird  (lapicida,  Rector  fabrice 
nostre),  dass  ihm  gegen  einen  gewissen  Zins  ein  Platz  überlassen  sei,  auf 
welchem  er  ein  grosses  steinernes  Haus  gebaut  habe,  und  zwar  erhält  er 
diese  Begünstigung  wegen  seiner  Leistungen  im  Dienste  des  Kapitels  (propter 
meritorum  obsequium  nobis  factum).  Da  er  ohne  Zweifel  das  Haus  nicht  ohne 
vorhergegangene  Einwilligung  des  Kapitels  gebaut  hatte  und  da  es  als  schon 
errichtet  bezeichnet  wird,  so  bezieht  sich  die  Urkunde  auf  eine  wenigstens 
zwei  Jahre  vorhergegangene  Thatsache,  welche  voraussetzt,  dass  die  Verdienste 
des  Meisters  damals  schon  erkennbar  gewesen  sein  müssen.  Offenbar  schritt 
man  indessen  langsam  vor  und  liess  die  Häuser,  welche  dem  ausgedehnten 


1)  Lacomblet,  Urkundeubuch  II,  Nro.  378. 
I 


Geschichte  des  Ki^er  Domes.  401 

Bau  weichen  mussten,  so  lange  als  möglich  stehen:  denn  erst  12G1  verzichtet 
das  Kapitel  der  benachbarten  Kirche  St.  Mariae  ad  gradus  (Mariengraden) 
zu  Ehren  des  Domes  auf  seine  Rechte  an  gewissen  Häusern  auf  der  Xord- 
seite  der  Kirche.  Diese  Häuser  standen  also  noch  und  die  Verzichtleistung 
lässt  sich  nur  dadurch  erklären,  dass  sie  zum  Zwecke  des  nunmehr  auf  dieser 
Seite  fortschreitenden  Neubaues  abgebrochen  werden  mussten.  Inzwischen 
sorgten  die  Erzbischöfe  von  Zeit  zu  Zeit  für  Vermehrung  der  Einkünfte  des 
Baufonds.  Wie  wir  gesehen  haben,  hatte  Erzbischof  Conrad  im  Jahre  1257 
seine  Verbindung  mit  dem  englischen  Königshause  benutzt,  um  im  fremden 
Lande  eine  Sammlung  für  den  Dombau  zu  veranstalten.  Sein  Nachfolger 
Engelbert  II.  wandte  sich  in  einem  Hirtenbriefe  vom  26.  April  1204  nur 
an  die  Geistlichkeit  der  Diöcese,  aber  dafür  mit  um  so  kräftigeren  Mitteln. 
Der  ausgedehnteste  Ablass  wird  den  Wohlthätern  der  Kirchenfabrik  bewilligt, 
an  jedem  Sonn-  und  Feiertage  während  der  Messe  soll  er  verkündet  und 
wegen  des  augenscheinlichen  Bedürfnisses  des  Baufonds  ein  Wort  der  Er- 
mahnung gesprochen  werden,  selbst  in  den  mit  Interdict  belegten  Kirchen 
kann  und  soll  dies  geschehen.  Der  Bau  wird  darin  als  fabrica  gloriosa, 
als  ein  glorreicher,  bezeichnet;  er  muss  also  doch  schon  so  weit  vorgeschritten 
gewesen  sein,  dass  sich  seine  Bedeutung  erkennen  liess.  Fast  um  dieselbe 
Zeit  beginnt  dann  eine  Reihe  von  Urkunden,  welche  sich  auf  einen  dem 
Kapitel  gehörigen  und  nach  ausdrücklicher  Bemerkung  für  den  Domban 
dienenden  Steinbruch  im  Siebengebirge  beziehen.  Im  Jahre  1267  überlässt 
der  Burggraf  von  Drachenfels  einen  Weg  von  diesen  Steinbrüchen  zum 
Rheine,  1273  arbeiteten  drei  Brecher  und  drei  Vorschläger  in  diesem  Stein- 
bruche. 1285  und  1294  werden  diese  Verträge  erneuert,  und  1306  erwirbt 
das  Kapitel  noch  einen  neuen  Steinbruch i).  Vom  Jahre  1271  haben  wir 
wenigstens  einen  mittelbaren  Beweis  für  das  Fortschreiten  des  Baues,  indem 
das  Siegel,  welches  der  Urkunde  der  Versöhnung  zwischen  dem  Erzbischofe 
und  der  Stadt  angehängt  und  in  derselben  ausdrücklich  als  neues  Siegel 
bezeichnet  ist,  die  edeln  Formen  reichen  gothischen  Maasswerks  enthält-). 
Im  Jahre  1279  gewährt  uns  der  am  1.  April  erlassene  Ablassbrief  ein  be- 
stimmteres Zeugniss.  Erzbischof  Sifried  erkennt  darin  an,  dass  der  neue 
Bau  durch  freigebige  Beisteuern  in  prachtvoller  und  würdiger  Schönheit  auf- 
gestiegen sei  (de  elleemosinarum  vestrarum  largitione  —  surrexit  in  decore 
magnifico  et  decenti),  aber  zu  seiner  Vollendung  noch  reicher  Beihülfe  der 
Gläubigen  (subventione  fidelium  copiosa)  bedürfe.  Er  fordert  unter  Anderem 
auf,  ungerecht  erworbenes  Gut,  wenn  man  den,  welchem  es  zurückzuerstatten 


^)  Vgl.    alle    diese  Urkunden    in  Lacomblet  Urkiindenbnch   Bd.  II,  Nro.  426,  446, 
603,  541,  570  und  652. 

-)  Eine  Abbildung  desselben  in  Lacomblel's  Urkundenbucli  Bd.  I. 
Schnaase's  Kunstgesch.  2.  Aufl.     V.  26 


402  Gothischer**tyl  in  Deutschland . 

sei,  nicht  kenne,  diesem  Zwecke  zuzuwenden.  Im  Jahre  1297  war  der  neue- 
Chor  so  weit  gediehen,  dass  Altäre  darin  gestiftet  werden  konnten,  und  seit 
1306  mehren  sich  die  Schenkungen  zu  Gunsten  des  Domes  und  finden  sich 
auch  sonst  Beweise  eines  rascheren  Betriebes  des  Baues.  Indessen  kam  es^ 
wie  wir  gesehen  haben,  erst  im  Jahre  1320  dahin,  dass  der  Chordienst 
beginnen  konnte,  und  erst  am  27.  September  1322  zur  feierlichen,  im  Bei- 
sein vieler  Bischöfe  vorgenommenen  Einweihung  i). 

Die  Langsamkeit  des  Baues  erklärt  sich  nicht  bloss  aus  der  Grossartig- 
keit der  Aufgabe,  sondern  auch  aus  den  Feindseligkeiten  zwischen  den  Erz- 
bischöfen und  der  Stadt.  Schon  unter  Conrad  von  Hochstaden  kam  es  zu 
Gewaltthätigkeiten ,  unter  seinem  Nachfolger  Engelbert  II.  rief  die  Glocke 
des  Domes  die  Bürger  zum  Sturm  auf  die  Befestigungen,  die  der  Erzbischof 
an  denThoren  errichten  lassen,  und  es  trat  ein  förmlicher  Krieg  ein,  in  Folge 
dessen  im  Jahre  1270  der  Erzbischof  von  dem  Grafen  von  Jülich  gefangen 
genommen  wurde.  Zwar  finden  wir  in  den  meisten  Urkunden,  mit  Ausnahme 
der  Ablassbriefe ,  nicht  die  Erzbischöfe ,  sondern  nur  das  Kapitel  oder  gar 
im  Namen  desselben  die  Verwalter  des  Baufonds  (procuratores  oder  provi- 
sores  fabrice)  handelnd,  und  eine  freilich  erst  von  1365  datirte  Urkunde 
ergiebt,  dass  das  Kapitel  sich  als  den  eigentlichen  Bauherrn  betrachtete  und 
in  dieser  Stellung  zuerst  durch  Erzbischof  Walram  (1332)  beeinträchtigt  zu 
sein  behauptete.  Auch  erkennt  Erzbischof  Sifried  in  der  erwähnten  Urkunde 
von  1279  ausdrücklich  die  Freigebigkeit  der  Stadt  in  Beziehung  auf  den 
Bau  an.  Die  Feindseligkeit  mit  dem  Erzbischofe  hatte  daher  nicht  unmittel- 
bare Unterbrechungen  der  baulichen  Unternehmungen  zur  Folge;  aber  bei 
der  Parteiung  des  Landes  mussten  die  Beiträge  sparsamer  fliessen  und  die 
Leiter  des  Baues  von  ihrem  friedlichen  Unternehmen  abgezogen  werden. 

Diese  Langsamkeit  des  Baues  wäre  aber  dennoch  unbegreiflich,  wenn 
der  alte  Dom  wirklich  ganz  niedergebrannt  oder  so  beschädigt  gewesen  wäre, 
dass  er  nicht  gebraucht  werden  konnte.  Allein  die  neuerlich  beigebrachten 
urkundlichen  Beweise-)  lassen  keinen  Zweifel  darüber,  dass  dies  nicht  der 
Fall  war,  dass  vielmehr  während  dieser  Bauzeit  von  1248  bis  1322  das 
ganze  Langhaus  desselben  noch  bestand.  Im  Jahre  1251  oder  1252  rettete 
sich  bei  einem  Kampfe  ein  Verfolgter  in  den  Dom,  im  Jahre  1261  wurde 
die  Leiche  Conrad's  von  Hochstaden  selbst,  wie  aus  der  schon  angeführten 
Stelle  des  Levolt  von  Northof  hervorgeht,  im  alten  Dome  bestattet  und  erst 
zur  Zeit  der  Einweihung  in   das  neue  Gebäude  versetzt.     Im  Jahre   1270 


1)  Wie  dies  der  Augenzeuge  Levolt  von  Northof  bei  Meibom  Scr.  I,  p.  399  {jetzt 
auch  in  Böhmer's  Fontes  Vol.  11)  berichtet.  —  Die  vorher  erwähnten  Urkunden  bei 
Lacomblet  a.  a.  0.  Nro.  723  u.  974. 

2)  Lacomblet  Archiv  a.  a.  0.  S.  107  ff. 


Geschichte  des  Kölner  Domes.  4()3 

war  der  Subdecan  des  Domes,  Wilhelm  von  Stailburg,  von  dem  päpstlichen 
Nuntius  beauftragt,  den  Bannspruch  gegen  die  Urheber  der  Gefangenschaft 
des  Erzbischofs,  die  Grafen  von  Jülich  und  Geldern  und  die  Stadt  Köln,  zu 
verkünden.  Er  führte  dies,  wie  sein  noch  vorhandener  Bericht  ergiebt,  im 
Dome  und  zwar  in  Gegenwart  einer  grossen  zusammengerufenen  Volksmenge 
aus  1),  obgleich  der  Procurator  der  Stadt  Köln  und  ihrer  Corporationen  seinen 
Protest  und  die  Appellation  au  den  päpstlichen  Stuhl  verlas.  Der  alte 
Dom  musste  daher  noch  in  seiner  vollen  Würde  bestehen,  da  sonst  die 
Geistlichkeit  eine  andere  Kirche  für  diese  feierliche  Handlung  gewählt  haben 
würde-).  Er  bestand  auch  noch  bei  der  Einweihung  des  Chores  im  Jahre  1322, 
da  erst  bei  dieser  Gelegenheit  der  Schrein  der  heiligen  drei  Könige,  wie  eine 
zwar  nicht  urkundlich  beglaubigte,  aber  alte  und  durchaus  glaubhafte  Be- 
schreibung der  dabei  beobachteten  Processionsordnung  ergiebt,  aus  der  alten 
Kirche  in  den  neuerbauten  Chor  feierlich  versetzt  wurde  =^). 

Erst  nach  der  Einweihung  des  neuen  Chores,  aber  auch  wohl  bald  nach 
derselben,  begann  der  Abbruch  des  alten  Langhauses.  Aus  einem  zwischen 
dem  Thesaurar  des  Domes  und  den  Verwaltern  der  Baukasse  über  ihre 
Ansprüche  auf  gewisse  Einkünfte  geschlossenen  und  vom  Erzbischofe  be- 
stätigten Vergleiche  vom  19.  Juli  1325  ersehen  wir  zunächst,  dass  der  Bau 
als  ununterbrochen  fortgesetzt  betrachtet  wurde  (fabrica  Coloniensis,  circa 
quam  continue  laboratur  magnis  laboribus  et  expensis),  dann  aber  auch 
dass  eine  Vorhalle  (porticus),  aus  welcher  der  Thesaurar  bisher  Einkünfte 
bezogen  hatte,  wegen  des  behufs  der  Erbauung  der  neuen  Kirche  zu  legenden 
Fundamentes  jetzt  abgebrochen  werden  sollte*).  Dies  kann  sich  nur  auf 
das  Langhaus  bezogen  haben,  da  der  Chor  vollendet  war,  das  südliche  Kreuz- 
schiff, wie  man  bei  der  gegenwärtigen  Fortsetzung  des  Baues  gefunden  hat, 
in  alter  Zeit  noch  gar  keine  Fundamente  erhalten  hat,  auf  der  Nordseite 
aber  nach  der  Localität  kein  Porticus  stehen  konnte '").  Ueberhaupt  entstand 


^)  Convocato  clero  et  populo  qui  haberi  poterant,  in  majori  ecclesia  Colouieusi  — 
in  presentia  copiose  multitudinis  tarn  clericorum  quam  populi  solempniter  publicavi. 

-)  Die  Verlesung  des  Banuspruches  und  der  Protestatiou  war  schon  ein  Mal  vor 
einer  Versammlung  der  Domgeistlichkeit  im  Kapitelhause  geschehen  (Urkundenbuch 
Nro.  603)  und  wnirde  demnächst  in  der  Domkirche  wiederholt  (Archiv  a.  a.  0.  S.  127). 
Hierdurch  erledigen  sich  die  von  Boisseree  in  den  Jahrbüchern  a.  a.  0.  gegen  die 
frühere  Ausführung  von  Lacomblei  erhobenen  Einwendungen. 

'^)  Bei  Crombach  a.  a.  0.  S.  816.  Completo  choro  novo  fabricae  maj.  eccl.  Col. 
deportabantur  corpora  SS.  trium  Regum  de  antiqua  ecclesia  S.  Petri  etc. 

*)  Lacomblet  Archiv  a.  a.  0.  S.  171:  „quam  porticum  propter  novum  jam  funda- 
mentum  pro  ecclesiae  nostrae  constructione  ponendum  expedit  demoliri". 

°)  Wie  an  den  französischen  Kirchen  legte  mau  das  Langhaus  eher  an  als  das 
Kreuzschifl". 

26* 


404  Gothischer  Styl  in  Deutsfhlaiul. 

um  diese  Zeit  eine  neue  und  stärkere  Begeisterung  für  den  Dombau.  Aus 
einem  Beschlüsse  des  im  Jahre  1327  zu  Köln  abgehaltenen  Diöcesankapitels  ^) 
erfahren  wir^  dass  sich  in  der  Diöcese  eine  Petri-Brüderschaft  gebildet  hatte, 
deren  Mitglieder  einen  jährlichen  Beitrag  zur  Baukasse  des  Domes  zahlten 
und  dafür  mancherlei  Privilegien  genossen;  eine  Bulle  Papst  Johanns  XXII. 
vom  1.  Juli  desselben  Jahres  deutet  an,  dass  die  Bereitwilligkeit  der  Diö- 
cesanen . durch  Betrüger  oder  Unberufene  gemissbraucht  wurde,  indem  sie 
vorschreibt,  dass  Niemand  ohne  schriftliche  Beglaubigung  des  Domkapitels 
für  den  Dom  sammeln  dürfe-).  Diese  eifrige  Stimmung  dauerte  auch  noch 
längere  Zeit,  so  dass  der  Erzbischof  Wilhelm  von  Gennep  im  Jahre  1357 
theils  deuZutrittzu  jener  Petri-Brüderschaft  erleichterte  und  auch  Aermeren, 
wenn  sie  nur  nach  Verhältniss  ihres  Vermögens  beisteuerten,  gestattete,  theils 
denen,  welche  für  den  Dombau  empfangene  Gelder  unterschlugen,  Strafen 
androhete  -^j.  Auch  finden  wir  darin  eine  Spur  rascheren  Fortschreitens,  dass 
das  Domkapitel  im  Jahre  1337,  obgleich  die  bisherigen  Steinbrüche  im 
Gebrauche  blieben,  ein  neues  Terrain  zu  diesem  Zwecke  erwarb,  dessen 
Steine  man  an  den  Fundamenten  des  südlichen  Thurmes  vorgefunden  hat, 
so  dass  bis  dahin  die  Fundamentirung  des  ganzen  gewaltigen  Langhauses  schon 
vollbracht  sein  musste. 

Steht  es  hiernach  fest,  dass  das  Langhaus  des  alten  Domes  bis  zur 
Einweihung  des  neuen  Chores  im  Gebrauche  blieb,  so  liesse  sich  doch  denken, 
dass  dies  nur  eine  provisorische  Maassregel  gewesen,  um  die  Fortdauer  des 
Dienstes  zu  sichern,  und  dass  man  bei  der  Grundsteinlegung  von  1248  den 
Neubau,  nicht  bloss  des  Chores,  sondern  der  ganzen  Kathedrale,  und  mithin 
auch  den  künftigen  Abbruch  des  Langhauses  im  Auge  gehabt  habe.  Allein 
unsere  urkundlichen  Nachrichten  widerstreiten  auch  dieser  Annahme.  Die 
Bulle  vom  21.  Mai  1248  spricht  nur  von  einer  durch  das  Kapital  beab- 
sichtigten prachtvollen  Reparatur  des  Domes*).  Die  Inschrift  vom  Jahre 
1320,  indem  sie  der  Grundsteinlegung  durch  Conrad  von  Hochstaden  erwähnt, 
schreibt  demselben  nur  das  Verdienst  der  Vergrösserung  (ampliat  hoc 
templum)  zu.  Nirgends  findet  sich  eine  Andeutung  des  schon  ursprünglich 
heabsichtigten  Neubaues.  Dazu  kommt,  dass  die  zahlreichen  Memorien- 
stiftungen  im  Dome,  die  wir  aus  den  Jahren  1274  bis  1319  besitzen^)  keine 
Spur  davon  enthalten,  dass  die  Stifter  derselben  den  Abbruch  des  alten 
Domes  vorhersahen.     Es  ist  zwar  richtig,  dass  das  blosse  Schweigen  dieser 


1)  Crombach  a.  a.  0.  p.  821. 

2)  Lacomblet  Archiv  a.  a.  0.  S.  121. 

3)  Crombach  a.  a.  0.  S.  823. 
*)  „Reparare  cupiunt." 

5)  Bei  Lacomblet  im  Archiv  a.  a.  0.  abgedruckt  und  S.   111   11'.  gewürdiget. 


Gescliiclito   des  Kölner  Doms.  405- 

Urkunden,  selbst  dann,  wenn  darin  bestimmte  Altäre  des  alten  Domes  erwähnt 
sind,  au  sich  nicht  entscheidend  sind,  da  die  Stifter  voraussetzen  durften, 
dass  die  Altäre  mit  den  daran  haftenden  Berechtigungen  in  dem  neuen 
Gebäude  wieder  aufgerichtet  werden  würden,  und  es  ihnen  gleich  sein  konnte, 
ob  ilire  Gedächtnissfeier  in  alten  oder  neuen  Mauern  vorgenommen  wurde  ^). 
Allein  gewisse  einzelne  Anordnungen  berechtigen  doch  zu  bestimmteren 
Schlüssen.  Wenn  der  Domvicar  Heinrich  von  Blankenburg  im  Jahre  1302 
in  der  als  Laienkirche  dienenden  und  „in  ambitu",  unter  den  Nebengebäuden 
des  Domes,  belegenen  Kirche  Maria  in  Pasculo  ausser  dem  bereits  bestehenden 
einzigen  Altare  einen  zweiten  stiftet,  wenn  sich  der  1306  verstorbene 
Thesaurar  Heinrich  von  Hagenberg  in  der  alten  Kirche  vor  dem  Altare  der 
Heiligen  Cosmas  undDamian  begraben  lässt  und  das  Domkapital  sich  gegen 
die  Testamentsvollstrecker  verpflichtet,  dem  an  diesem  Altar  messelesenden 
Vicar  eine  gewisse  Rente  zu  entrichten,  so  muss  man  doch  wohl  annehmen, 
dass  sie  noch  nicht  ahneten,  dass  jene  Nebengebäude  und  diese  Grabstelle 
so  wesentlich  alterirt  werden  würden,  wie  es  der  Neubau  des  Langhauses 
mit  sich  brachte.  Wenn  ferner  die  Testaments\ollzieher  des  Chorbischofs 
Johann  von  Rennenberg  und  der  Domvicar  Gerard  von  Xanten  in  den  Ur- 
kunden von  1296  und  1297,  dieser,  indem  er  zugleich  einen  neuen  Altar  im 
neuen  Chore  „in  novo  opere''  stiftet,  von  achtzehn  vorhandenen  Altären 
sprechen,  wenn  der  Domdechant  Hermann  von  Rennenberg  noch  im  Jahre 
1318  zugleich  einem  Altare  im  neuen  Chore  und  dreien  „in  ambitu",  in  den 
Nebengebäuden,  weil  sie  noch  nicht  hinlänglich  dotirt,  Vermächtnisse  zu- 
wendet, so  erscheint  es  doch  wohl  ausser  Zweifel,  dass  sie  den  neuen  und 
den  alten  Theil  des  Domes  mit  Einschluss  der  alten  Nebengebäude  als  ein 
Ganzes  betrachteten  und  dessen  nahe  Umgestaltung  nicht  voraussahen  -),  dass 
also ,  da  sie  als  Mitglieder  des  Domkapitels  wohl  unterrichtet  sein  mussten, 
eine  solche  noch  nicht  beschlossen  war. 

Man  kann  es  daher  als  gewiss  annehmen,  dass  in  der  ganzen  Zeit  von 
1248  bis  1318  nur  beabsichtigt  wurde,  den  älteren  Bau  durch  einen  grossen 
und  prachtvollen,  in  neuerem  Style  erbauten  Chor  zu  vergrössern  und  zu 
schmücken,  ganz  so,  wie  dies  das  ganze  Mittelalter  hindurch  an  so  vielen 
Kirchen,  wie  es  namentlich  auch  in  demselben  Jahrhundert  an  der  Kathedrale 
zu  Maus  (1217)  und  etwa  gleichzeitig  mit  dem  Kölner  Bau  an  der  Kathedrale 
zu  Tournay  mit  dem  glücklichsten  Erfolge  geschah. 

Der  Beschluss  des  weiteren  Neubaues  muss  ungefähr  mit  der  Vollendung 
des  Chores  zusammenfallen,  da  die   schon  erwähnte  Urkunde  vom  19.  Juli 


^)  Wie    dies  Spriuger    im    Archiv    der   rheinischen  AllerthuinsfVeunde  Heft  XXII, 
S.   105  gegen  Lacomblet's  weilergehende  Folgerungen  bemerkt  hat. 
-)  Vgl.  die  erwähnten  Urkunden  bei  Lacomblet  Archiv  a.  a.  0. 


406 


Gothischer  Styl  in  Deutschland. 


Fig.  107. 


1325,  welche  Anordnungen  über  neue  Fundamentirungen  enthält,  den  Bau 
als  ununterbrochen  (continue)  fortgesetzt  bezeichnet.  Ob  er  erst  bei  Gelegen- 
heit der  feierlichen  Einweihung,  wo  allerdings  die  Zustimmung  anwesender 
fremder  Prälaten  dazu  ermuthigen  konnte,  oder  schon  vor  derselben  gefasst 
ist,  muss  dahingestellt  bleiben.  Indessen  macht  eine  alte  Nachricht  es  wahr- 
scheinlich,  dass   die   massive,   stark  verklammerte  Mauer,   welche   noch  in 

unseren  Tagen  den  Chor  auf  der 
Westseite  abschloss,  und  deren  Anle- 
gung sich  nur  durch  den  beabsich- 
tigten Neubau  der  westlichen  Theile 
erklären  lässt,  schon  am  Tage  der 
Einweihung  bestand  i). 

Endlich  sprechen  auch  ge- 
wichtige innere  Gründe  dafür,  dass 
der  Plan  der  westlichen  Theile,  wie 
wir  ihn  kennen,  nicht  gleichzeitig, 
sondern  sehr  viel  später  und  von 
einem  anderen  Meister  angegeben 
ist,  als  der  Plan  des  Chores.  Dieser 
ist  nämlich,  wie  unzweifelhaft  fest- 
steht, im  Wesentlichen  eine  genaue 
Nachahmung  des  bei  der  Grund- 
steinlegung des  Kölner  Domes  im 
Bau  begriifenen  und  schon  weit  vor- 
geschrittenen Chores  der  Kathedrale 
von  Amiens  ^).  Die  westlichen  Theile 
dagegen  bilden  zwar  mit  diesem 
Chore  ein  sehr  harmonisches  Ganzes, 
aber  in  ganz  anderer  Weise  als  in 
Amiens  oder  an  anderen  gleich- 
zeitigen französischen  Kathedralen. 
Bei  diesen  ist  nämlich  der  gerade 
Theil  des  Chores,  als  Vorbereitung 


Kathedrale   von  Amiens. 


1)  Die  alte  Beschreibung  der  bei  der  Translation  des  Reliquienschreins  der  drei 
Könige  aus  der  alten  Kirche  in  die  neue  am  Tage  der  Einweihung  angeordneten  Pro- 
cession  (Crombach  a.  a.  0.  S.  817)  ergiebt  nämlich,  dass  diese  über  die  Strasse  ging, 
was  schwerlich  geschehen  sein  würde,  wenn  man  Chor  und  Langhaus  verbunden  hätte. 

■-)  Die  einzige  wichtige  Verschiedenheit  beider  Chöre  besteht  darin,  dass,  während 
in  Köln  alle  Kapellen  des  Kranzes  gleich  sind,  in  Amiens  die  mittlere  (als  Kapelle  der 
Jungfrau)  länger  gebildet  ist    und  weiter  hinaustritt.     Es    scheint    indessen,    das-s    dies 


Geschichte  des  Köluer  Domes. 


407 


anf  den  Umgang  und  Kapellenkranz  der  Rundung,  fünfschiffig,  das  Langhaus 
aber  dessenungeachtet  dreischiffig  gehalten,  und  das  Kreuzschiff  eben  des- 
halb nur  um  ein  Joch  über  die  Breite  des  fünfschiffigen  Chores  ausladend. 


Fig.  108. 


Dom  zu  Köln. 


Allerdings   ist   dadurch   im   gezeichneten  Grundrisse   die  Kreuzgestalt  nicht 
sehr  anschaulich,  allein  dieser  Mangel  verschwindet  bei  der  wirklichen  Aus- 


eine spätere,  wenn  auch  nicht  viel  spätere  Aenderung  ist.  Der  Chor  von  Amiens 
erhielt  erst  um  1269  Glasgemälde  ,  war  aber  schon  1220  begonnen  und  ohne  Zweifel 
unmittelbar  in  den  unteren  Theilen  ausgeführt,  so  dass  der  Kölner  Meister  ihn  wohl 
kennen  konnte.  —  Wer  die  Uebereinstimmung  dieser  Chöre  zuerst  entdeckt  hat,  wissen 
wir  nicht,  jedenfalls  war  sie  in  Deutschland  schon  bekannt ,    als  Felix  de  Verneilh  sie 


408  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

fühnmg  vollkommen;  da  das  Kreuzschiff  durch  seine  Höhe  sich  von  den 
Seiteuschiffen  ablöst  und  die  grössere  Breite  des  Chores  sich  augenscheinlich 
als  die  Vorbereitung  des  Umschwunges  darstellt.  Auch  lagen  die  Kapellen 
des  Langhauses,  welche  jetzt  die  westlichen  Seiten  der  Kreuzarme  verdecken, 
nicht  im  ursprünglichen  Plane.  Der  Meister  des  Kölner  Langhauses  folgerte 
dagegen  aus  der  fünfschiffigen  Anlage  des  Chores,  dass  auch  das  Langhaus 
fünfschiffig  sein  und  das  Kreuzschiff  nicht  bloss  mit  einer,  sondern  mit  zwei 
Arcaden  ausladen  müsse.  Auch  in  Frankreich  giebt  es  fünfschiffige  Kathe- 
dralen; die  von  Paris,  wo  das  Langhaus  bei  der  Gründung  des  Kölner 
Domes  schon  vollendet,  die  von  Bourges,  wo  es  aber  wahrscheinlich  erst 
nach  1280,  die  von  Troyes,  wo  es  im  Anfange  des  vierzehnten  Jahrhunderts, 
und  endlich  die  von  Clermont-Ferrand  in  der  Auvergne  und  von  Orleans, 
wo  es  ohne  Zweifel  später  als  an  unserem  Dome  begonnen  wurde.  Allein 
keine  dieser  Kirchen  hat  die  bedeutsame  Ausbildung  der  Kreuzform,  welche 
den  Kölner  Dom  auszeichnet.  In  Bourges  fehlt  das  Kreuzschiff  ganz,  in  Paris 
hat  es  gar  keine,  in  Clermont  und  in  Orleans  nur  eine  geringe  Ausladung, 
in  Troyes  ist  es  einschiffig.  Der  Plan  des  Kölner  Meisters  ist  daher  ganz 
eigenthümlich  und  entspricht  vermöge  seiner  grossartigen,  aber  etwas  ab- 
stracten  Consequenz  mehr  dem  Geiste  des  vierzehnten  Jahrhunderts,  als  der 
Frühzeit  des  gothischen  Styles.  Jedenfalls  wird  man  annehmen  dürfen,  dass 
der  Meister,  welcher  bei  der  Choranlge  dem  Vorbilde  von  Amiens  so  genau 
folgte,  auch  bei  der  Anlage  des  Langhauses  sich  den  Grundsätzen  der  da- 
maligen französischen  Schule  näher  angeschlossen  haben  würde,  wie  denn 
auch  die  weiter  unten  zu  erwähnende  Klosterkirche  zu  Altenberg  bei  Köln, 
welche  wir  als  ein  Werk  des  ersten  Dombaumeisters  betrachten  können, 
wirklich  wie  in  Amiens  den  fünfschiffigen  Chor  und  das  dreischiffige  Lang- 
haus hat^). 


in  den  Annales  arclieologiques  Yll,  57,  225,  und  VIII,  117  ausführlicli  nacliwies. 
OefFentlicli  ausgesprochen  wurde  dieser  Hinweis  auf  die  Abstammung-  der  Kathedrale 
von  Kühl  zuerst  durch  Reichensperger  im  Domblatt  1845,  Nro.  11. 

^)  Dr.  Ennen  in  seiner  vor  Kurzem  ausgegebenen  historischen  Einleitung  zu  dem 
Kupferwerke  von  Franz  Schmitz  glaubt  (S.  18)  gegen  meine  Ausführungen  die  An- 
sicht aufrecht  halten  zu  müssen  ,  dass  die  Zeichnungen  für  den  ganzen  Kölner  Dum 
schon  im  Laufe  des  Jahres  1247  entworfen  worden.  Er  giebt  dafür  aber  keine  neuen 
Beweise,  sondern  hält  es  nur  für  wahrscheinlich,  dass  das  Kapitel,  da  es  schon  am 
25.  März  1247  den  Beschluss  eines  Neubaues  gefasst  und  einen  Baufonds  begründet 
habe,  auch  für  einen  Plan  des  Neubaues  gesorgt  haben  werde.  Ich  gluube  diese 
Gründe  schon  oben  widerlegt  zu  haben.  Uebrigens  beschränkt  Herr  Dr.  Ennen  seine 
Behauptung  (im  Gegensatze  gegen  die  ähnlich  lautende  seiner  Vorgänger)  dadurch, 
dass  er  zugesteht,  dass  der  Plan  des  Langhauses  und  Querschiffes,  welcher  der  in 
unvollendetem  Zustande  auf  uns  gekommenen  Ausfiihrung  zum  Grunde  gelegen  habe, 
nicht  der  ursprüngliche,    sondern    ein    im  14.  oder  15.  Jahrhundert    nach  den  damals- 


Geschichte  des  Kölner  Domes.  409 

Besonders  diese,  aus  den  vorausgeschickten  historischen  Daten  fast 
mit  Xothwendigkeit  hervorgehende  Folgerung,  dass  der  Grundplan  des 
Kölner  Domes  nicht  das  Werk  eines,  sondern  zweier  durch  einen  Zeitraum 
von  etwa  70  Jahren  getrennten  Meister  sei,  hat  lebhaften  Streit  hervor- 
gerufen. Boisseree  war  zu  der  Annahme  eines  schon  im  Jahre  1248  ge- 
fertigten Gesammti)lanes  nicht  bloss  durch  die  historische  Voraussetzung 
der  totalen  Zerstörung  des  alten  Domes  bei  jenem  Brande,  sondern  auch 
durch  ästhetische  Gründe  bestimmt  worden.  Er  betrachtete  diesen  Gesamrat- 
plan  als  eine  so  vollendete,  so  harmonische,  so  unvergleichliche  Conception, 
dass  sie  nur  wie  die  gerüstete  Minerva  mit  einem  Male  aus  dem  Haupte 
eines  Meisters  hervorgegangen  sein  könne,  er  glaubte  in  diesem  einen  vor 
allen  seinen  Zeitgenossen  mächtig  hervorragenden  Genius,  einen  der  grössten 
Künstler  aller  Zeiten  zu  erkennen.  Die  stückweise  Entstehung  dieses  Planes 
schien  ihm  eine  Unmöglichkeit,  die  Annahme  einer  solchen  eine  Lästerung. 
Er  konnte  sich  daher,  auch  als  die  oben  erwähnten  urkundlichen  Ent- 
deckungen schon  zum  Theil  bekannt  geworden  waren,  nicht  von  seiner  älteren 
Ansicht  trennen,  und  vertheidigte  sie  auch  da  noch  mit  liebenswürdiger 
Wärme  '\ 

Ihm  sind  dann  auch  andere  bedeutende  Forscher  beigetreten,  indem 
sie  aus  technischen  Gründen  beweisen  zu  können  glaubten,  dass  der  Erbauer 
des  Chores  schon  auf  einen  völligen  Neubau  und  die  Errichtung  eines  fünf- 
schiifigen  Langhauses  von  den  gegenwärtigen  Dimensionen  gerechnet  habe, 
und  diesen  technischen  Beweis  für  gewichtiger  hielten,  als  die  aus  den  Ur- 
kunden entnommenen  Gründe.  Allein  die  unwidersprechliche  Thatsache, 
dass  im  Jahre  1319  oder  doch  1306  selbst  Mitglieder  des  Domkapitels 
keine  Ahnung  davon  hatten,  dass  das  Langhaus  des  alten  Domes  durch  einen 
Neubau  verdrängt  werden  sollte,  ist  mit  der  Annahme,  dass  damals  schon 
ein  Plan  für  einen  solchen  Neubau  vorlag,  unvereinbar,  und  jene  technischen 


zur  Geltung  gekommenen  Bauprincipien  veränderter  gewesen  sei.  Dadurch  vei'liert 
dann  die  Controvorse  den  wesenüichen  Theil  des  Interesses,  den  sie  bisher  hatte,  und 
die  Frage,  ob  die  Domherren  im  Jahre  1247  einen  uns  unbekannten,  verloren  ge- 
gangenen Plan  anfertigen  lassen  oder  nicht,  wird  eine  ziemlich  miissige.  Nach  den 
sehr  überzengenden  Ausführungen,  welche  einer  der  grössten  praktischen  Kenner  der 
gothischen  Baukunst,  der  Oberbaurath  Schmidt  in  Wien,  in  seinem  schon  oben  er- 
wähnten Vortrage  (Mitth.  d.  k.  k.  Centr.-Comm.  Bd.  XII,  1867,  S.  G)  giebt,  muss 
man  annehmen,  dass  man  im  13.  Jahrhundert  „Pläne,  wie  wir  sie  gegenwärtig  an- 
fertigen, gar  nicht  gekannt",  und  erst  im  14.  oder  15.  Jahrhundert  augefangen  habe, 
die  nach  unseren  Begriffen  sehr  unvollkommenen  Planzeichnungen,  wie  sie  in  Strass- 
burg,  Wien  u.  a.  a.  0.  gefunden  sind,  auf  Pergament  auszuführen.  Was  man  danach  unter 
einem  im  J.  1247  gefertigten  Plane  zu  verstehen  habe,  ist  noch  sehr  unklar,  und  wird 
sich  allenfalls  auf  die  einfaclie  Andeutung  einer  Grundrissform  beschränken. 
1)  Domblatt  1846,  Nro.  15. 


^JQ  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

Gründe  entbehren  der  chronologischen  Basis,  indem  die  Anlagen,  auf  welche 
sie  sich  beziehen,  gewiss  nach  dem  Jahre  1319,  wahrscheinlich  sogar  erst 
nach  1322  entstanden  sein  werden ').    Man  wird  daher,  bis  sich  eine  bessere 


1)  Dieser  bereits  in  der  ersten  Auflage  dieses  Bandes  (1856)  ausgesprochenen  An- 
sicht ist  zunächst  von  Kugler  in  s.  Gesch.  d.  Baukunst,  Bd.  III  (1859)  S.  221,  dann 
von  Springer  in  den  Mitth,  d.  k,  k.  Centr.-Comm.  Band  V  (1860),  S.  203  ff.  wider- 
sprochen worden.  Beide  beseitigen  den  Inlialt  jener  Urkunden  durch  eine  kurze  Be- 
merkung. Kugler  glaubt,  dass  sie  „eine  verschiedenartige  Auffassung  zulassen"  dürften. 
Springer  giebt  zwar  zu ,  dass  die  in  jenen  Urkunden  auftretenden  Personen  an  einen 
Neubau  des  Langhauses  nicht  geglaubt  hätten  ,  hält  aber  dafür ,  dass  es  auf  solche 
subjective  Meinungen  nicht  ankomme.  Auch  ihre  technischen  Gründe  sind  (wenn  ich 
Kugler's  kurze  Andeutungen  richtig  verstehe)  verwandt.  Kugler  findet  in  dem  mon- 
strösen Verhältnisse  der  Höhe  zur  Länge  des  Chorraumes,  Springer  in  der  statischen 
Nothwendigkeit  einer  diesem  kolossalen  Bau  entsprechenden  Gegenstülze  den  Beweis 
der  ursprünglichen  Absicht  eines  neuen  Langhauses.  Mir  scheint  dieser  Beweis  nicht 
ausreichend,  da  wir  über  die  Grösse,  Structur  und  selbst  Lage  des  alten  Domes  zu 
wenig  unterrichtet  sind,  um  zu  wissen,  welche  Mittel  des  Anschlusses  und  der  Stütze 
derselbe  dem  Baumeister  bot.  Man  braucht  nur  an  dem  schon  im  Texte  angeführten 
Dome  zu  Tournay  die  gewaltige  Differenz  der  Höhe  des  neuen  Chores  zu  dem  alten 
Langhause  zu  betrachten,  um  sich  zu  überzeugen,  dass  die  Baumeister  des  Mittelalters 
in  Beziehung  auf  Harmonie  und  auf  statische  Gründe  nicht  so  schwierig  und  ängstlich 
waren,  um  sich  die  Verschönerung  eines  einzelnen  Theiles,  wenn  sich  die  Gelegenheit 
dazu  bot,  zu  versagen.  Auch  giebt  das  fünfhundertjährige  fragmentarische  Bestehen 
des  Kölner  Domchores  einen  nicht  verächtlichen  Beweis  dafür ,  dass  der  Baumeister 
des  Chors  keinesweges  „ein  Stümper"  gewesen  zu  sein  braucht,  um  an  die  Haltbarkeit 
desselben  auch  ohne  ein  gleich  hohes  Langhaus  zu  glauben.  Ein  zweites  Argument, 
in  welchem  sich  beide  Forscher  begegnen,  scheint  auf  den  ersten  Blick  viel  gewichtiger. 
Es  ist  richtig,  dass  die  Ostwände  des  Querschiffes,  welche  neben  dem  Chore  schon  im 
14.  Jahrhundert  aufgeführt  waren,  und  noch  mehr,  dass  die  von  Zwirner  entdeckten 
alten  Fundamente,  welche  bis  zur  mittleren  Eingangshalle  des  südlichen  Querschiffes 
reichten,  die  Absicht  anzeigen,  dem  Querschiffe  die  gegenwärtige  Ausdehnung  zu  geben, 
was  wieder,  wie  im  Texte  auf  S,  408  gezeigt,  auf  ein  fünfschiffiges  Langhaus  schhessen 
lässt.  Allein  es  fehlt  jeder  Beweis  ,  dass  jene  Ostwände  und  diese  Fundamente  vor 
dem  Jahre  1319,  also  vor  der  ZeV  wo  man  den  Beschluss  fasste,  den  Neubau  weiter 
durchzuführen ,  entstanden  sind.  Zwirner  (im  Kölner  Domblatt  November  1843)  hat 
zwar  diese  Fundamente  des  Kreuzschiffes  denen  des  Chores  in  der  Steinbehauung  und 
Meisselführung  gleich  gefunden  und  schliesst  daraus,  dass  sie  g-Jeichzeitig  errichtet 
worden.  Allein  schwerlich  hat  er  die  Fundamente  der  östlichen  Theile  des  Chors  unter- 
suchen können;  seine  Vergleichung  bezieht  sich  daher  nur  auf  die  dem  Kreuzschiffe 
angrenzenden  Theile  des  Chors,  welche  ohne  Zweifel  nicht  der  ersten  Bauzeit  (etwa  bis 
ziun  Tode  des  Meisters  Gerhard,  1302),  sondern  der  letzten,  der  Einweihung  des 
Chores  vorhergehenden  Zeit  angehören.  Die  Bauweise  des  Mittelalters  war  eben  eine 
andere  wie  die  heutige;  man  arbeitete  nicht  mit  völlig  festgestelltem  Plane  und  zu- 
verlässig fliessenden  Mitteln.  Der  Architekt  musste  vor  Allem  streben,  sichtbare  über 
den  Boden  hinausragende  Leistungen  zu  schaffen,  um  zu  weiteren  Beiträgen  anzureizen. 
Die  Architekten    der    gothischen  Schule    kannten    zwar  die  Wichtigkeil  sorgfältig  aus- 


Geschichte  des  Köhier  Domes.  411 

Aufklärung  der  Sache  findet,  an  der  Annahme  festhalten  müssen,  dass  der 
ursprüngliche  Neubau  sich  nur  auf  den  Chor  beschränkt  habe  und  erst  im 
vierzehnten  Jahrhundert  der  Beschluss  zur  weiteren  Ausdehnung  des  Neu- 
baues gefasst  und  der  Plan  für  das  Langhaus  ausgearbeitet  sei. 

Der  künstlerische  Werth  des  Gebäudes  und  das  Verdienst  der  beiden 
dabei  mitwirkenden  Meister  wird  durch  diese  Annahme  keinesweges  geschwächt. 
Dies  letzte  erscheint  vielmehr  dadurch  erst  in  seinem  rechten  Lichte.  Erfinder 
des  bei  diesem  Dome  angewendeten  Systems  waren  sie  beide  nicht.  Es 
war  bereits  in  Frankreich  erfunden,  wenn  man  es  so  nennen  will.  Denn 
eigentlich  darf  man  bei  solchen  Systemen  von  Erfindung  nicht  sprechen; 
sie  entstehen  nicht  im  Kopfe  eines  einzelnen  Meisters,  sondern  sind  das 
organische  Resultat  der  geistigen  und  physischen  Verhältnisse,  das  nur  all- 
mälig,  durch  die  anhaltende  gleichartige  Thätigkeit  vieler,  im  Anschluss  an 
einander  arbeitender  Künstler  zu  Tage  gefördert,  erkannt  und  festgestellt 
wird.  Diese  Arbeit  war  nun  in  Frankreich  vollendet  und  es  kam  nur  darauf 
an,  ihre  Resultate  für  Deutschland  zu  gewinnen,  den  neuen  Styl  dem  deutschen 
Geiste  anzueignen.  LTnd  zu  dieser  künstlerischen  Aufgabe  haben  beide 
Meister  kräftig  und  in  gleichem  Maasse  mitgewirkt.  Der  von  1248,  indem 
er,  die  Erfahrungen  der  französischen  Bauhütten  an  Ort  und  Stelle  erforschte 
und  nicht  bloss  die  besten  Vorbilder  wählte,  sondern  sie  bereits  mit  kri- 
tischem Sinne  betrachtete,  und  sie  in  der  Consequenz  der  Anordnung  und  in 
der  Feinheit  der  Ausführung  zu  übertreffen  suchte.  Der  spätere  Meister 
aber,  indem  er,   statt  auf  die  französische  Praxis  zurückzugreifen,  auf  dem- 


gefiihrter  Fundamente  sehr  wohl;  sie  verfuhren  nicht  mehr  so  leicht,  wie  die  des 
romanischen  Styls  (vgl.  VioIlet-le-Duc  s.  v.  Fondation,  Vol.  V.  p.  524).  Aber  sie 
mussten  sich  doch  nach  den  Umständen  richten  und  hielten  sich  daher  wo  möglich 
nicht  lange  bei  den  Fundamenten  auf.  Auch  hier  wird  man  diese  keinesweges  gleich 
anfangs  vollständig  für  den  ganzen  Chor,  sondern  nur  nach  und  nach  für  einzelne, 
in  sich  zusammenhängende  Theile  gelegt  haben,  um  dann  erst  später,  wenn  diese  bis 
zu  gewisser  Höhe  gediehen,  weiter  mit  den  Grundbauten  fortzuschreiten.  Mertens  und 
Lohde,  welche  in  einem  sogleich  näher  anzuführenden  Aufsatze  in  der  Zeitschrift  für 
Bauwesen,  1862,  die  Thätigkeit  des  ersten  Dombaumeisters  genau  festzustellen  suchen, 
vermuthen  (S.  352)  gewiss  mit  Recht,  dass  man  zuerst  «ur  das  Rundhaupt,  die  sieben 
Kapellen  der  Rundung  des  Chores  nebst  den  ihnen  entsprechenden  acht  Pfeilern  funda- 
mentirt,  und  erst  sehr  viel  später,  nachdem  die  Kapellen  schon  überwölbt  und  über- 
dacht worden  ,  die  Langseite  des  Chores  und  zwar  auf  der  Nordseite,  in  Angriff  ge- 
nommen habe.  Sie  nehmen  an,  dass  dies  etwa  im  Jahre  1260  und  zwar  nur  auf  der 
Nordseite  gesciiehen  sei.  Ohne  Zweifel  geschah  aber  auch  dies  nur  stückweise  und 
mit  Unterbrechungen,  welche  theils  durch  die  Ausarbehung  der  oberen  Wände  des 
Rundpunktes,  theils  durch  die  öfPentlichen  Unruhen,  denen  Köln  unterlag,  herbeigeführt 
wurden,  so  dass  man  erst  spät  zur  Fundamentirung  der  westlichen  Theile  und  somit 
zu  dem  Anfange  des  Kreuzschiffes    gelangte. 


^22  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

selben  Wege  theoretischer  Ergründung  noch  weiter  fortschritt,  und  aus  den 
gefundenen  Principien  selbständige  neue  Consequenzen  zog.  Er  vollendete 
dadurch  die  Aneignung  des  neuen  Styls  und  die  Befreiung  der  deutschen 
Schule  aus  der  Abhängigkeit  von  der  französischen.  Obgleich  er  dabei 
theoretisch  nicht  mehr  ganz  auf  dem  Boden  seines  Vorgängers  stand,  ver- 
mochte er  bei  der  Fortsetzung  des  gemeinsamen  Werkes  sich  den  Anfängen 
desselben  so  genau  anzuschliessen ,  dass  seine  Fortsetzung  mit  ihnen  ein 
völlig  harmonisches  Ganzes  bildet.  Dies  Verdienst  ist  um  nichts  geringer, 
als  das  der  Erfindung  des  Ganzen,  mit  Einschluss  des  Chores,  der  dann  doch, 
da  dem  von  Amiens  nachgebildet,  nur  in  sehr  bedingter  Weise  das  Eigen- 
thum  des  ausführenden  Meisters  war.  Die  starke  Betonung  künstlerischer 
Selbständigkeit  und  völliger  Originalität  ist  nur  die  Folge  falscher,  unprak- 
tischer Theorien.  Die  Kunst  steht  stets  im  historischen  Zusammenhange; 
sie  ist  keine  Schöpfung  aus  dem  Nichts,  sondern  geht  überall  von  gegebenen 
Verhältnissen  aus.  Vor  Allem  aber  gilt  dies  von  der  Architektur;  ihre 
besten  Werke  sind  nicht  die,  in  welchen  die  künstlerische  Individualität 
hervortritt,  sondern  die,  in  welchen  sie  in  die  objective  Gestaltung  übergeht. 
Und  darin  bestand  hauptsächlich  der  Vorzug  der  mittelalterlichen  Baumeister, 
dass  sie  von  jener  falschen  Prätention  noch  nicht  berührt  und  vielmehr  nach 
besten  Principien  und  im  engsten  Schulzusammenhange  zu  arbeiten  gewohnt 
waren.  Diese  Gemeinsamkeit  ganzer  künstlerischer  Generationen  ist  aber, 
wenigstens  für  die  Architektur,  etwas  sehr  viel  Grösseres  und  Schöneres,  als 
die  Genialität  eines  vereinzelten,  seine  Zeitgenossen  weit  tiberragenden 
Künstlers,  so  dass  wir  auch  in  ästhetischer  Beziehung  diese  neue  Aufklärung 
des  Sachverhältnisses  nicht  zu  bedauern  brauchen. 

Diese  Betrachtung  führt  uns  auf  die  Frage  nach  den  Namen  der  Meister. 
Denn  wenn  wir  auch  dem  vermeintlichen  Schöpfer  des  Planes  nicht  die  für 
ihn  beanspruchte  Stellung  einräumen  können,  wenn  auch  das  Verdienst  sich 
unter  Mehrere  vertheilt  und  am  Chore  nicht  sowohl  in  der  Erfindung,  als 
in  der  Ausführung  besteht,  so  giebt  doch  eben  diese  unvergleichliche  Aus- 
führung, die  weise  Berechnung  und  Abwägung  der  Massen,  das  feine  Gefühl, 
welches  sich  in  jedem  Theile  äussert,  schon  dem  Chorbau  eine  ausgezeichnete, 
in  allen  Zeiten  anerkannte«  Bedeutung,  und  es  ist  von  hohem  Interesse,  die 
Namen  der  Urheber  desselben  kennen  zu  lernen.  Auch  hier  indessen  haben 
wir  zunächst  einige  Prätendenten  zurückzuweisen. 

Nicht  unbedeutende  Stimmen  haben  es  wenigstens  für  sehr  wahrschein- 
lich erklärt,  dass  kein  Geringerer,  als  der  berühmte  Albertus  magnus, 
Albert  von  Bollstädt,  der  grösste  deutsche  Gelehrte  und  Philosoph  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts,  den  seine  ungewöhnlichen  physikalischen  und  mathe- 
mathischen  Kenntnisse  in  den  Ruf  der  Zauberei  brachten,  der   Schöpfer 


Die  Baunieiäter  des  Kölner  Domchores.  413 

fines  so  bedeutenden  Werkes  gewesen  sein  könne  \).  Albert  lebte  von  1249 
bis  1260  als  Mönch  und  Lehrmeister  im  Dominikanerkloster  zu  Köln^  zog 
sich  auch,  nachdem  er  nur  drei  Jahre  die  bischöfliche  ^yürde  in  Kegensburg 
ertragen  hatte,  wieder  in  die  Stille  dieses  Klosters  zurück,  und  es  scheint 
auch,  dass  er  hinlängliche  architektonische  Kenntnisse  besass,  um  einen  ein- 
fachen Bau  anzuordnen-).  Allein  unmöglich  konnte  der  gelehrte,  viel- 
schreibende Mann  sich  auch  die  praktische  Uebung  erworben  haben,  welche 
zur  Ausführung  der  Details  nöthig  war-^j,  und  schwerlich  würde  er  sich  ent- 
schlossen haben,  den  Chor  von  Amiens,  wenn  er  ihn  überhaupt  kannte,  nach 
Köln  zu  übertragen.  Da  überdies  eine  bestimmte  Nachricht  über  seine  Mit- 
wirkung am  Dombau  nicht  existirt,  da  er  im  Jahre  1280  starb,  und  also  an 
der  Erfindung  des  Langhauses  keinen  Antheil  haben  kann,  da  die  Zahlen- 
symbolik, welche  man  auch  diesem  Dome  zuschrieb,  wenn  überhaupt  beab- 
sichtigt, von  Amiens  hierher  gelangt  war,  so  fallen  alle  Gründe  für  seine 
Betheiligung  fort  *).  Noch  geringer  sind  die  Ansprüche  des  Bischofs  von 
Paderborn,  Simons  von  der  Lippe,  da  sie  sich  bloss  auf  eine  dunkle  Notiz  aus 
später  Zeit  gründen^). 

"Wohl  aber  erfahren  wir  aus  einzelnen  Urkunden,  welche  in  den  so- 
genannten Schreiusbüchern  der  Stadt  Köln  enthalten  sind  und  au  sich,  da 
diese  Bücher  nur  die  amtliche  Feststellung  der  Besitzveränderungen  des 
Grundeigenthums  bezwecken,  keine  nähere  Beziehung  auf  die  Fortschritte 
des  Dombaues  haben,  eine  Reihe  von  Namen  der  aufeinanderfolgenden  Meister. 
Es  sind  keinesweges  hochgestellte  Geistliche,  sondern  schlichte  Steinmetzen, 


1)  Zuerst  der  Kanonikus  Böcker  mit  Wallraif's  Zustimmung  in  dessen  Beiträgen 
zur  Geschichte  der  Stadt  Köln,  1818,  S.  195,  dann  (1844)  mit  bestimmterer  Behauptung 
Krauser  in  den  Köhier  Dombriefen  S.  193  ö'. 

2)  Vgl.  was  weiter  unten  über  den  ihm  zugeschriebenen  Chor  der  Dominikaner- 
kirche zu  Köln  mitgetheilt  wird. 

^)  Weshalb  Kugler  in  dem  vortrefflichen  Aufsatze  iu  der  deutschen  Vierteljahrs- 
schrift 1842  (kl.  Sehr.  II,  131)  die  Hypothese  aufstellte  und  geistreich  ausführte,  dass 
Albertus  mit  einem  sclilichten  Steinmetzmeister  gemeinschaftlich  den  Plan  gefertigt 
liabe. 

*}  Welche  auch  schon  von  Boisseree  (Beschr.  1842,  S.  11)  und  von  Guhl  im  Texte 
des  Atlas  zu  Kugler's  Kunstgeschichte  mit  triftigen  Gründen  bestritten  worden  ist. 

°)  Kreuser,  Dombriefe  a.  a.  0.,  Melcher  freilich  von  der  ^'oraussetzung  ausgeht, 
<iass  nur  die  Geistliclikeit  damals  den  Plan  erdenken  konnte  und  musste,  gründet  diese 
Ansprüche  auf  die  Nachricht,  dass  Erzbischof  Conrad  am  15.  August  1248  den  Grund- 
stein „cum  consilio  et  industria  Simonis,  qui  tunc  in  arte  archhectouica  praecipue  cele- 
brabatur",  gelegt  habe.  Aliein  diese  au  sich  zweideutige  Nachricht  ist  nur  ein  hand- 
schriftlicher Zusatz  zu  der  im  Jahre  1418  verfassten  Clironik  des  Gobelinus  Persona. 
Vgl.  Domblatt  1842,  Nro.  26.  Auch  zeigen  die  im  Jahre  1262  begonnenen  Reparaturen 
des  Domes  zu  Paderborn  ,  bei  deuen  die  Annahme  einer  Einwirkung  dieses  Biscliofs 
viel  näher  lic2:t,  einen  ganz  anderen  Stvl  als  der  Kölner  Dom.    . 


414  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

unbekannte,  von  keinem  Geschichtsschreiber  überlieferte  Namen.  Zu  ihnen 
dürfen  wir  jedoch  nicht  den  Heinrich  Sunere  von  Köln  rechnen,  für  welchen 
man  den  Ruhm  der  Erfindung  des  Planes  in  Anspruch  genommen  hat,  da  die  Be- 
zeichnung als  „Petitor  structurae  majoris  ecclesiae",  welche  er  in  einer  Urkunde 
von  1248  erhält,  eher  auf  einen  angestellten  Einsammler  der  Beiträge  zum 
Dombau,  als  auf  einen  Baumeister  schliessen  lässt^).  Dagegen  dürfen  wir 
als  ersten  Meister  und  somit  als  Urheber  des  Chorplanes  jenen  Meister  Ger- 
hard betrachten,  welcher  in  der  schon  angeführten  Urkunde  vom  Jahr  1257 
und  zwar  rühmend  erwähnt  wird,  indem  das  Kapitel  ihm,  der  als  Steinmetz 
und  Obermeister  (Rector  fabrice)  bezeichnet  wird,  wegen  seiner  Verdienste 
um  den  Dombau  einen  schon  von  ihm  bebauten  Platz  gegen  massigen  Zins 
verleihet-).  Ueber  seine  früheren  Lebensverhältnisse  wissen  wir  nur,  dass 
schon  sein  Vater  von  dem  benachbarten  Dorfe  Riel  nach  Köln  gezogen  und 
anscheinend  ein  wohlhabender  Mann  war  ^),  dann,  dass  er  selbst  im  Jahre  1247, 
damals  noch  bloss  als  Steinmetz  bezeichnet,  einen  Bauplatz  erwarb  und  im 
folgenden  Jahre  ein  darauf  erbautes  Haus  verkaufte.  Im  Jahre  1302  wird 
er  als  verstorben  erwähnt,  und  mehrere  seine  Kinder  betreffende  Urkunden 
ergeben,  dass  er  ein  ziemlich  bedeutendes  Vermögen  hinterlassen  haben  muss. 


^)  Fahne,  dessen  fleissiger  Durchforschung  der  Schreinsbücher  wir  die  meisten 
der  weiter  unten  anzugebenden  Nachrichten  verdanken,  übersetzt  in  seinen:  Diplo^ 
matischen  Beirägen  zur  Geschichte  der  Baumeister  des  Kölner  Domes,  Düsseldorf  1849, 
jenen  Titel  als  „Bewerber  um  das  Amt  eines  Domwerkmeisters"  und  erklärt  den  Hein- 
rich Sunere  deshalb  für  den  Verfertiger  des  Planes.  Allein  es  wäre  unerhört ,  eine 
Bewerbung  zum  Titel  zu  erheben,  und  die  im  Texte  gegebene  Erklärung  ist  jedenfalls 
viel  wahrscheinlicher.  Vgl.  andere  Gründe  gegen  Fahne's  Meinung  bei  Merlo  ,  Nach- 
richten über  Kölnische  Künstler,  s.  v.  Sunere  S.  472.  Eine  Urkunde  vom  Jahr  1343 
(in  Mone,  Anzeiger  für  Kunde  des  Mittelalters  1838,  S.  185)  ergiebt,  dass  Petitio  der 
iiergebrachte  Ausdruck  für  die  CoUecten  zum  Kirchenbau  war  ,  und  es  ist  sehr  denk- 
bar, dass  statt  der  officiellen  Bezeichnung  Nuntius  petitionum,  welche  in  dieser  Urkunde 
vorkommt,  der  vulgäre  Sprachgebrauch  das  Wort  petitor  gebildet  hatte,  welches  dann 
auch  in  die  den  Ankauf  eines  Hauses  enthaltende  Notiz  des  Kölner  Schreinsbuches  über- 
gehen konnte.  — 

")  Die  Urkunde  ist  oft  abgedruckt,  von  Boisseree  in  der  Beschreibung  des  Domes, 
von  Fahne  a.  a.  0.  S.  56,  von  Merlo  u.  a. 

^)  Daher  führt  Gerhard  in  den  Urkunden  meistens  den  Namen  de  Rile,  zuweilen 
auch  nacli  einer  von  seinem  Vater  erworbenen  Besitzung  in  Köln  selbst,  auf  welcher 
er  vielleicht  geboren  war,  den  Namen  dictus  de  Ketwig.  Man  hat  ihn  früher  mit  einem 
Gerhard  von  St.  Tront  (de  Scto  Trudone),  der  ebenfalls  in  Schreinsurkunden  vorkommt, 
verwechselt,  Fahne  a.  a.  0.  weist  aber  nach,  dass  beide  nicht  identisch  sind.  —  Genaue 
Nachrichten  über  ihn  giebt  der  Aufsatz:  Die  Gründung  de«  CöinerDoms  und  der  erste 
Dombaumeister,  von  F.  Mertens  und  L.  Lohde  in  der  Zeitschrift  für  Bauwesen  Bd.  XII 
(1862)  Sp.  163  ff.  Die  Verfasser  versuclicn  durch  eine  Reihe  von  erwiesenen  That- 
sachen  und  Hypothesen  seine  künstlerische  Biographie ,  namentlich  die  Gebäude  fest- 
zustellen, an  welchen  er  seine  Studien  oder  für  welche  er  den  Plan  gemacht  habe. 


Der  Chor  des  Kölner  Domes.  415 

Vielleicht  hatte  seine  Wirksamkeit  am  Dome  schon  früher  aufgehört,  denn 
eine  Urkunde  von  1296  nennt  einen  gewissen  Arnold  als  Dombaumeister. 
Diesem  Arnold  folgte,  wahrscheinlich  bald,  sein  Sohn  Johannes,  welchen  wir 
seit  1308  als  magister  operis  majoris  ecclesiae  oder  als  magist  er  operis  de 
summo,  seit  1319  aber  stets  als  Rector  fabricae  aufgeführt  linden,  so  dass 
dies  eine  höhere  Stellung,  etwa  die  des  Obermeisters,  anzudeuten  scheint, 
neben  welchem  dann  muthmaasslich  noch  andere  Werkmeister  (magistri)  an- 
gestellt waren  1).  Er  starb  erst  1330  oder  1331,  war  daher  zur  Zeit  der 
Einweihung  des  Chores  im  Amte  und  ist  also  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
der  Erfinder  des  Gesammtplaues -).  Ihm  und  seinem  Vater  ist  aber  auch 
die  Ausführung  der  oberen  Theile  des  Chores,  der  Oberlichter,  der  feinen, 
in  vollendeter  Eleganz  aufsteigenden  Fialen  und  Strebebögen  zuzuschreiben, 
während  der  Plan  des  Chores  und  die  strengeren  Formen  des  unteren 
Stockwerkes  das  Verdienst  Meister  Gerhard's  sind. 

Nach  diesen  umständlichen,  aber  bei  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes 
nicht  zu  umgehenden  Untersuchungen  komme  ich  endlich  zum  Gebäude  selbst. 
Seine  wundervolle  Schönheit  ausführlich  zu  beschreiben,  kann  nicht  meine 
Aufgabe  sein.  Alle  Jahrhunderte  haben  sie  anerkannt;  schon  Petrarca,  ob- 
gleich klassisch  gebildeter  Italiener ,  widmet  ihr  bei  seiner  Durchreise  im 
Jahre  1331  einige  rühmende  W^orte^),  und  die  Ablassbriefe  der  Erzbischöfe 
sprechen  sich  noch  stärker  aus*).  Selbst  in  den  Zeltender  Renaissance  behielt 
der  Kölner  Dom  enthusiastische  Verehrer,   und  seit  dem  wiedererwachten 


^)  Neben  und  über  den  technischen  Werkmeistern  standen  gewisse  provisores  oder 
procuratores  (wie  in  den  Urkunden  von  1273  und  1285  bei  Lacomblet  Urkundenbuch 
Xro.  652  dieselben  Personen  abwechsehid  genannt  werden) ,  wie  es  scheint  immer 
(leistliclie,  gewöhnlicli  sogar  Domherren  ,  weiche  meistens  ebenfalls  Magister  genannt 
werden.  Vgl.  Fahne  a.  a.  0.  S.  73  Nr.  XXVIII,  wo  im  Jahre  1310  in  derselben  Ur- 
kunde die  magistri  seu  provisores  fabrice  und  der  magister  operis  seu  fabrice  vor- 
kommen. In  Xanten  war  magister  fabrice  stets  der  Vorstand  der  Kirchenfabrik  ,  also 
gleichbedeutend  mit  dem  provisor  fabrice  ,  während  der  Baumeister  magister  lapicida 
oder  schlechtweg  magister  genannt  wurde   (vgl.  die  unten  S.  428  citirte  Schrift). 

-)  Einen  Beweis  der  Achtung,  in  welcher  Meister  Johannes  stand,  giebt  das  Necro- 
logium  von  Gross-St.-Martin,  indem  ihm  darin  (wie  gewöhnlich  ohne  Jahresangabe)  die 
für  einen  Laien  ohne  bedeutenden  Rang  ungewöhnliche  Ehre  der  Autführung  zu  Theil 
geworden  ist:  15.  Mart.  Johannes  laicus  rector  operis  majoris  eccl.  Colon.  (Böhmer 
Fontes  hist.  germ.  III,  34:7). 

3)  In  dem  Briefe  an  den  Kardinal  Colonna,  Epistol.  famil.  IV:  Vidi  templum  arte 
media  pulcherrimum ,  quamvis  incompletum,  quod  liaud  immerilo  summum  vocant 
(Boisseree,  1842,  S.  20). 

*)  Wilhelm  von  Gennep  in  der  Urkunde  von  1357  bei  Crombacii  a.  a.  0.  S.  823: 
Opus  ditissimum  fabricae  nostrae,  cum  omni  exactissima  operariornm  diligentia,  miranda 
pretiositate  —  jamdudum  inceptum. 


.^IQ  Gotliischer  Styl  in  Deutscliland. 

Verständniss  mittelalterlicher  Kunst  haben  nicht  bloss  Deutsche,  sondern  auch 
Ausländer  ihn  für  die  glänzendste  Leistung  des  vollkommenen  gothischen  Styles 
aller  Länder  erklärt^),  ist  in  Deutschland  die  Riesenaufgabe  der  Vollendung 
des  gewaltigen  Monumentes  zur  Nationalsache  geworden.  Ueberdies  darf 
ich  darauf  rechnen,  dass  die  meisten  meiner  Leser  schon  unter  diesen  himmel- 
hohen Gewölben  und  zwischen  dem  Walde  von  Fialen  und  Bögen  der  oberen 
Theile  gewandelt  sind,  oder  sich  doch  aus  dem  Boisseree'schen  oder  dem 
Schmitz'schen  Prachtwerke  eine  lebendigere  Anschauung  verschaffen  werden, 
als  blosse  Worte  ihnen  zu  geben  vermögen.  Ich  beschränke  mich  also  auf 
wenige  Bemerkungen.  Im  Wesentlichen  hat,  wie  gesagt,  der  Meister  des 
Chores  den  Dom  von  Amiens  zu  seinem  Vorbilde  genommen;  die  ganze  An- 
ordnung, die  Grundverhältnisse  der  Schiffe  und  des  Pfeilerabstandes,  die  Höhen- 
verhältnisse, namentlich  auch  die  gewaltige  Höhe  des  Mittelschiffes,  welche 
sich  zu  der  der  Seitenschiffe  wie  5  zu  2  verhält,  die  Durchbrechung  dieses 
oberen  Theiles  durch  ein  durchsichtiges  Triforium  und  durch  hohe,  bis  an 
den  Rand  der  Scheidbögen  gehende  Oberlichter,  selbst  das  Maasswerk 
einiger  Fenster  sind  völlig  wie  dort.  Aber  es  ist  die  Nachbildung  eines  grossen 
Meisters,  der  nichts  ungeprüft  annahm ,  sondern  die  Intentionen  seines  Vor- 
gängers erforschte  und  besser  auszudrücken  suchte,  und  die  Details  so  glück- 
lich verbesserte,  dass  sein  Werk  neben  jenem  Vorbilde  wie  die  reife,  pracht- 
voll entwickelte  Blume  neben  der  nur  halbgeöffneten  Knospe  erscheint. 

Meister  Gerhard,  indem  er  den  Dom  zu  Amiens  benutzte,  kannte  doch 
auch  andere  französische  Bauten .  namentlich  den  Chor  der  Kathedrale  von 
Beauvais,  welcher  etwas  früher  als  der  von  Köln  ebenfalls  mit  genauem 
Anschluss  an  den  Plan  von  Amiens  errichtet  wurde  und  denselben  in  einigen 
Punkten  zu  verbessern  suchte.  Aber  gerade  indem  wir  beide  Nachbildungen 
vergleichen,  sehen  wir,  wie  viel  selbständiger  der  deutsche  Meister  ver- 
fuhr ,  als  '  der  von  Beauvais.  In  manchen  Beziehungen  stimmen  beide 
überein.  Die  Seitenwände  der  radianten  Kapellen,  welche  in  Amiens  diver- 
giren,  haben  sie  durch  Verstärkung  der  Strebepfeiler  parallel  gemacht; 
die  Pfeiler  des  Rundpunktes  sind  etwas  enger  gestellt,  die  Oberlichter  über 
denselben  nicht  mehr  viertheilig,  sondern  zweitheilig,  die  absolute  Höhe, 
der  Ausdruck  des  Schlanken  und  Aufstrebenden,  ist  gesteigert.  Aber  der 
Meister  von  Beauvais  übertrieb  das  Wagniss  leichter  und  luftiger  Anord- 
nung, indem  er  auch  die  Breite  des  Mittelschiffes  und  den  Pfeilerabstand 
vergrösserte ,  und  verstiess  dadurch  gegen  die  Harmonie  der  Verhältnisse 
und  sogar  gegen  die  Solidität,  so  dass  das  Gewölbe  einstürzte  und  man 
Zwischenpfeiler  einschieben  musste.     Der  Meister  von  Köln  behielt  dagegen 


1)  Z.  B.  Wliewel,  Arcliil.   Noles  of  Gcrman  chu-clies  p.  128.     Aelinlich  Hope. 


Der  Chor  des  Kölner  Domes. 


417 


Fig.   109. 


"T" 


die  eugere  und  regelmässigere  Pfeilerstelluiig  bei,  und  suchte  durcii  reinere 
und   bestimmtere  Verbältnisse   zu   wirken;   während  in  Amiens   die  inneren 
Seitenschiffe  etwas  breiter,  als  die  äusseren,  beide  zusammen  etwas  weiter 
als  das  Mittelschiff  sind,  gab  der  Kölner 
Meister  ihnen    in    beiden    Beziehungen 
völlige  Gleichheit  und  erreichte  dadurch 
eine  mehr  harmonische  "Wirkung. 

Vor  Allem  aber  tibertraf  er  seinen 
Vorgänger  in  den  Details.  In  Amiens 
ist  die  Bildung  der  Pfeiler  keine  sehr 
glückliche;  es  sind  kantonirte  Rund- 
pfeiler, an  denen  die  schlanke  Haltung 
der  Dienste  mit  der  Dicke  des  Kern- 
pfeilers, das  kleinere  Kapital  mit  dem 
grösseren  contrastirt,  deren  hohe  Dienste 
durch  die  Deckplatte  der  unteren  Ka- 
pitale, durch  ein  Kapital  am  unteren 
Gesims  des  Triforiums,  und  endlich 
durch  den  Fenstersims  der  Oberlichter 
durchschnitten  sind.  Meister  Gerhard 
hat  die  Function  des  Pfeilers  vollständig 
verstanden  und  aufs  Schönste  ausgedrückt. 
Den  runden  Kern  hat  er  zwar  beibe- 
halten, die  Dienste  noch  wie  dort  als 
Dreiviertelsäulen  an  ihn,  zum  Theil  so- 
gar, wie  bei  der  Herstellung  entdeckt 
ist,  frei  angelegt,  aber  er  hat  ihre  Zahl 
vermehrt,  zwischen  die  vier  grossen 
Dienste  an  den  Hauptpfeilern  je  zwei 
kleinere  eingeschoben,  so  dass  die  Ge- 
wölbgurten und  Scheidbögen  auf  jeder 
Seite  durch  drei  Dienste  getragen  werden, 
von  denen  die  der  Frontseite  ununter- 
brochen und  kühn  bis  zu  ihrem  Kapitale 
unter  den  hohen  Gewölben  hinauf- 
steigen *).  In  den  Seitenschiffen  sind 
statt  dieser  zwölf  nur  acht,  an  der 
Rundung,  wo   die  Pfeiler  wegen  ihrer 


Dom  zu  Köln. 


Boni  zu    Köln. 


^)    Pfeiler    dieser  Art    linden    sich    auch    in  [der  Kathedrale    von    le  .Maus  und  in 
St.  Denis,  vgl.  oben  S.  129  und  130. 

Sclmaase's  Kunstgescli.  2.  Aufl.  V.  27 


418 


Gothischer  Styl  in  Deutschland. 


Fig.  111. 


engen  Stellung  eine  mehr  längliche  Gestalt  erhalten  haben  und  eine  einfache 
Halbsäule  zum  hohen  Gewölbe  aufsteigt,  zehn  solcher  Dienste  angebracht. 
Bei  der  weiteren  Ausführung  ist  immer  das  schönste  Maass  der  Verschmelzung 
und  Sonderung  der  Theile  beobachtet.  Die  Basis  schliesst  sich  in  Amiens 
noch  an  den  Kern  und  die  einzelnen  Dienste  an.  Hier  bildet  sie  unten  eine 
einige  Gestalt;  im  Wesentlichen  rautenförmig,  aber  mit  vorspringenden  Ecken, 

aus  welchen  sich  dann  erst  die 
polygonförmigenFüsse  der  einzel- 
nen Dienste  entwickeln.  Das  Ka- 
pital des  Kernes  ist  verschwunden, 
nur  die  Dienste  haben  Kapitale, 
die  aber  säramtlich  von  gleicher 
Höhe  und  unter  sich  und  mit 
dem  Kerne  durch  den  in  gleicher 
Weise  herumgeführten  Ring  ver- 
bunden sind.  Endlich  besteht 
der  Schmuck  der  Kapitale  aus 
zwei  Reihen  freier  Blätter, 
welche  stets  wechselnd  und  in 
edelster  Ausführung  die  Formen 
einheimischer  Pflanzen  in  die 
Sprache  des  architektonischen 
Styles  übersetzen  1),  während  an 
den  Kapitalen  von  Amiens  und 
Beauvais  noch  der  Grundgedanke 
des  knospenförmigen  Blattwerkes 
erkennbar  ist.  Das  Maaswerk 
der  unteren  Fenster  ist  reich, 
aber  noch  in  strengerer  Weise 
ausgeführt ,  im  vorderen  Chore 
viertheilig ,  mit  regelmässigen, 
durch  rundbogige  Pässe  gefüllten 
Kreisen,  in  den  Kapellen  zwei- 
theilig, mit  drei  über  die  Bögen  gelegten  Dreipässen").  In  den  Oberlichtern 
wiederholt  sich  dieselbe  Anordnung,   aber   die  Behandlung  ist   überall  eine 


Domchor  zu  Köln. 


^)  Nur  an  einzelneu  Kapitalen  findet  sich  noch  fast  romanischer  Scliuiuck.  So  an 
einem  zwei  dichtgestellte  aus  einander  hervorwachsende  akanthusartige  Blätter,  an  einem 
anderen  statt  der  oberen  ßlätterreihe  menschliche  Köpfe ,  die  aus  einem  Blumenkelche 
hervorblicken. 

^}  Diese  Art  des  Maassvverkes  findet  sich  auch  in  der  Ste.  Cliapelle  von  Paris  und 
es  ist  allerdings  möglich,  dass  die  Kölner  Hütte,  bevor  sie  zur  Ausfiiiu-ung  der  Fenster 


Der  Clior  des  Kölner  Domes.  419 

andere,  die  Formen  sind  nicht  bloss  in  so  weit  reicher,  als  es  die  verschiedene 
Bedeutung  dieser  Theile  erforderte,  sondern  auch  minder  strenge  aufgefasst 
und  dem  Charakter  der  späteren  Zeit  entsprecliend,  in  welcher  man  zur 
Ausführung  des  Oberschiffes  gelangte  ^).  Auch  im  Aeusseren  zeigt  sich  die 
weitere  Entfaltung  des  Styles;  das  Vorbild  von  Amiens  ist  hier  in  allen  Be- 
ziehungen überboten.  Die  Spitzgiebel  über  den  Oberlichtern,  welche  sich 
auch  dort  finden,  sind  hier  mit  reicherem  Maasswerk  gefüllt,  mit  frei  ent- 
wickelten Blumen  besetzt,  die  Fenster  in  ihrer  Gliederung  mit  einem  reichen 
Blätterkranze  und  mit  zierlichen  Figürchen  geschmückt.  Vor  Allem  aber 
ist  die  Ausführung  des  Strebewerkes  gelungen.  Schon  in  Amiens  sind  die 
oberen  Strebepfeiler  kreuzförmig  gestaltet  und  die  Strebebögen,  aber  nur 
an  den  geraden  Theilen  des  Chores,  verdoppelt;  in  Köln  sind  diese  Siche- 
rungsraaassregeln  auf  allen  Seiten  durchgeführt.  In  beiden  Kirchen  tragen 
die  Strebebögen  Wasserrinnen,  in  Amiens  ist  aber  ihre  Verbindung  durch 
Maasswerk  bewirkt,  welches  die  Form  zweitheiliger  Fenster  hat,  die  unmittelbar 
auf  dem  Bogen  stehen  und  daher  seiner  Linie  folgend  theils  grösser  theils 
kleiner  sind.  In  Köln  ist  sehr  viel  schöner  und  zweckmässiger  rosenartiges 
Maasswerk  zwischen  parallelen  Linien  angebracht.  Vor  Allem  aber  ist  die 
prachtvolle  Ausführung  der  Fialen  zu  bewundern,  die  regelmässige  Ent- 
wickelung,  mit  der  sie  aus  dem  schweren  Körper  des  Strebepfeilers  hervor- 
wachsen, die  schlanke  Gestalt  ihres  Emporsteigens,  die  auf  die  Fernwirkung 
aus  ungeheurer  Höhe  so  schön  berechnete  Behandlung  des  Blumenschmuckes 
ihrer  Pyramide.  Man  kann,  wenn  man  auf  den  oberen  Gängen  zwischen 
diesem  Walde  von  edelsten  Gebilden  herumgeht,  nicht  genug  erstaunen,  mit 
welcher  Sicherheit  und  Kühnheit  diese  Steinmetzen  den  richtigen  Grad  der 
Ausführung  zu  treffen ,  die  wesentlichen  auch  von  unten  erkennbaren  Züge 
zu  betonen,  das  Kleinliche,  das  nicht  bloss  unwirksam,  sondern  selbst  nach- 
theilig werden  musste ,  zu  vermeiden  wussteu.  Nur  ein  höchst  einsichtiger 
und  zugleich  grosser  Meister  konnte  ein  so  feines  Stylgefühl  in  seinen 
Schülern  erwecken  und  zum  bleibenden  Erbtheil  der  nachfolgenden  Genera- 
tionen machen,  und  Meister  Gerhard  verdient  daher,  obgleich  erst  Meister 
Johannes  die  Ausführung  leitete ,  einen  Theil  des  Lobes ,  das  diesen  oberen 
Abeiten  gebührt. 

Die  Anlage  des  Langhauses  und  den  Entwurf  der  Fagade  und  Thürnie 
werde  ich  als  Werke  der  folgenden  Epoche  erst  künftig  näher  besprechen, 


kam  ,    von  diesem  Bau  Kenntniss    genommen    hat,  wie    dies  Felix   de  Venieilli  in  den 
Aunales  archeol.  a.  a.  0.  annimmt. 

1)  Dies  bemeriit  schon  Kugler  a.  a.  0.,  dem  ich  aber  in  sofern  nicht  beistimmen 
kann,  als  er  in  dieser  weicheren  Behandlung  ein  höheres,  mehr  durchgebildetes  Princip 
erblickt,  während  mir  jene  strengere  Weise  schöner  und  mehr  den  Anforderungen  des 
-architektonischen  Styles  entsprechend  scheint. 

27' 


420  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

und  gehe  sofort  zu  einigen  anderen  Gebäuden  über,  welche  während  des 
langsamen  Aufsteigens  des  Domchores  als  Nebenarbeiten  der  Kölner  Hütte 
oder  unter  ihrem  Einflüsse  entstanden.  Das  erste  derselben  ist  die  Kirche 
der  Cistercienserabtei  zu  Altenberg i).  Der  Stifter  und  der  erste  Abt  des 
Klosters  (1133)  waren  aus  dem  mächtigen  Geschlechte  der  Grafen  von  Berg,^ 
welches  hier  seine  Grabstätte  wählte  und  die  Stiftung  fortwährend  begünstigte. 
Auch  Erzbischof  Theodorich  von  Köln  (f  1214)  Hess  sich  hier  begraben, 
und  überhaupt  erscheinen  die  Erzbischöfe,  meistens  Verwandte  oder  doch 
Verbündete  des  benachbarten  Dynastenhauses,  als  Gönner  der  Stiftung.  Dies 
Alles  macht  es  dann  sehr  erklärlich,  dass  bei  dem  im  Jahre  1255  mit  Unter- 
stützung der  Grafen  begonnenen  Neubau  der  Kirche  die  Meister  der  Kölner 
Domfabrik  zu  Rathe  gezogen  wurden.  In  der  That  finden  wir  in  der  Anlage 
und  in  den  Details  die  grösste  Uebereinstimmung,  so  weit  sie  zwischen  der 
kolossalen  Metropolitane  und  der  einsamen,  im  entlegenen  Thale  errichteten 
Klosterkirche  stattfinden  konnte.  Der  Grundplan,  die  schlanken,  aufstre- 
benden Verhältnisse  namentlich  die  bedeutende  Höhe,  mit  der  das  Mittel- 
schiff  über  die  sehr  niedrig  gehaltenen  Seitenschiffe  emporragt,  sind  im 
kleineren  Maassstabe  dieselben.  Wie  dort  ist  auch  hier  der  Querarm  drei- 
schiffig  und  der  Chor,  mit  (fünf  Schiffen  ansetzend,  durch  einen  Kranz  von 
sieben  Kapellen  geschlossen.  Das  Langhaus  ist  dagegen  dem  Herkommen 
gemäss  dreischiffig.  Die  Details  sind  zwar  minder  reich  als  in  der  Kathe- 
drale, aber  dennoch  sehr  elegant  und  völlig  im  Geiste  des  neuen  Styles. 
Statt  der  Pfeiler  sind  hier,  wie  in  anderen  gothischen  Cistercienserkirchen, 
namentlich  wie  in  Villers  und  Longpont,  einfache  Säulen  angewendet,  welche 
auf  kelchförmigen ,  mit  einfachen  Blättern  belegten  Kapitalen  die  Gewölb- 
dienste tragen.  Die  Gewölbgurten  haben  die  ausgebildete  gothische  Profi- 
lirung,  die  meist  viertheiligen,  aber  am  Chorschlusse  auch  hier  zweitheiligen 
Fenster  wohlgebildetes,  zum  Theil  selbst  reiches  Maasswerk,  unter  ihnen  ist 
ähnlich  wie  in  Köln  eine  den  Pfosten  derselben  entsprechende,  viereckig 
eingerahmte  Gallerie  angebracht.  Die  Strebepfeiler  und  Strebebögen  sind 
zwar  schlicht,  aber  dennoch  giebt  auch  das  Aeussere  durch  die  verhältniss- 
mässig  bedeutende  Höhe  seines  schlanken  Oberschiffes  den  Eindruck  des 
Leichten  und  Kühnen,  [während  das  Innere  von  vollendeter  Eleganz  und 
Anmuth  ist.  Uebrigens  ist  nur  ^der  Chor  und  ein  Theil  des  Kreuzschiffes 
unmittelbar  nach  der  Gründung  ausgeführt,  während  das  Langhaus  in  den 
Details  spätere  Formen  zeigt,  und  [die  Weihe  erst  ihi  Jahre  1379  erfolgte. 
Auch  die  kolossalen  acht-  und  sechstheiligen  Fenster  der  Westseite  und  der 
Kreuzfagaden  werden  erst  dem  vierzehnten  Jahrhundert  angehören,  obgleich 
ihr  reiches  Maasswerk  noch  durchaus  regelmässige  geometrische  Bildung  hat. 


1)  Schimmel,  die  Cistercieiiserabte,  Altenberg-.  —  E.  fürster,  Denkmale,  Bd.  JX. 


Werke  der  Kölner  Hütte.  421 

Zu  den  Arbeiten ,  welche  unter  dem  P^influss  der  Bauhütte  des  Domes 
-entstanden  sind,  Ivönnen  wir  ferner  in  Köln  selbst  den  im  Jahre  1262  be- 
gonnenen und  dem  Albertus  magnus  zugeschriebenen^),  im  Anfange  dieses 
Jahrhunderts  abgebrochenen  Chor  der  Dominicanerkirche  rechnen,  der 
nach  Wallraff's  Versicherung  dem  Donichore  glich.  Auch  die  augeblich 
schon  1260  geweihete  Minoritenkirche  daselbst  wird  einem  solchen  Ein- 
flüsse zuzuschreiben  sein.  Sie  hat  einen  einfachen,  fünfseitig  geschlossenen 
Chor,  kantonirte  Rundscäulen,  Kelchkai3itäle,  die  zum  Theil  nackt,  zuffl  Theil 
mit  sehr  einfachen  Blättern  ausgestattet  sind,  birnförmig  profilirte  Gurten, 
aber  roh  und  plump  geschnittene  Scheidbögen;  die  Oberlichter  und  die 
Fenster  des  Chores  sind  mit  einfachem,  der  Elisabethkirche  von  Marburg 
ähnlichem  Maasswerk  ausgestattet.  Der  ganze  Bau  ist  zwar  licht  und  ge- 
räumig, aber  wie  die  Kirchen  dor  Bettelorden  zu  sein  pflegen,  bis  zur 
Dürftigkeit  schlicht  und  von  minder  edler  Form,  sogar  in  Einzelnheiten 
schon  an  den  späteren  entarteten  Styl  erinnernd.  Indessen  kann  uns  dies 
nicht  bestimmen,  die  Kirche  selbst  in  eine  spätere  Zeit  zu  setzen,  da  es  be- 
greiflich ist,  dass  diese  Ordensbrüder  den  neuen  Styl  nur  in  möglichst  spar- 
samer Weise  anwandten-).      In   der  Diöcese  Köln    giebt  die  Kirche  der 


1)  Die  älteste  Nachriclit  über  diese  Bauthätigkeit  des  gelehrten  Scholastikers  war 
in  einem  Glasg-emälde  des  Chores  selbst  gegeben,  wo  sicii  unter  dem  Rildniss  des 
Albertus  die  Inschrift  fand : 

Condidit  iste  chorum  Praesul  qui  philosopliorura 
Flos  et  Doctorum  fuit  Albertus,  scholaeque  morum 
Lucidus  errorum  destructor  obesque  malorum 
Hunc  rogo  Sanctorum  uumero  Dens  adde  tuorum, 

welche  es  allerdings  noch  zweifelhaft  lässt ,  ob  die  Mönche,  welche  sie  nach  seinem 
Tode  anfertigten ,  die  Bauthätigkeit  ihres  grossen  Mitbruders  uicht  übertrieben  haben. 
Auch  die  Chronik  der  Stadt  Köln  (1499)  schreibt  ihm  zu,  dass  er  diesen  Chor 
„meysterlich"  gebaut  habe,  Noch  bestimmter  sagt  sein,  freilich  erst  im  siebenzehnten 
Jahrhundert  lebender  Biograph,  Vincentius  Justinianus:  Chorum  —  tamquam  optimus 
architectus  juxta  normam  et  verae  Geometriae  leges  —  erexit ,  und  an  einer  anderen 
Stelle:  Chori  formam  et  ideam  suis  manibus  expressit.  Beide  späteren  Nachrichten  sind 
eigentlich  keine  Beweise,  da  sie  ohne  Zweifel  nur  auf  der,  schon  durch  jene  Inschrift 
begründeten  Tradition  rnheten.  Vgl.  Krenser  a.  a.  0.  und  Christlicher  Kirchenbau  I, 
376,  sowie  Merlo  Nachrichten  von  Kölnischen  Künstlern  S.  19. 

2)  Lassaulx  (zu  Klein's  Rheinreise  S.  496)  bezweifelt,  dass  die  gegenwärtige  Kirche 
ooch  die  um  1260  geweihete  sei,  ein  Zweifel,  der  durch  die  im  Text  aufgestellte  Be- 
merkung beseitigt  wird.  Auch  ist  (wie  v.  Quast  im  D.  Kunstbl.  1852  S.  196  anführt) 
die  ganz  ähnliche  Dominicanerkirche  in  Regensburg  ungefähr  gleichzeitig,  um  1273, 
gebaut.  Mertens  u.  Lohde  a.  a.  0.  S.  178  dagegen  vermutheu  auf  Grund  historischer 
Nachrichten  und  daraus  gezogener  Schlüsse,  dass  der  Chor  dieser  Kirche  schon  1246 
vollendet  gewesen,  und  wollen  (S.  183)  dem  späteren  Dombaumeister  Gerhard  eine 
Mitwirkung  an  demselben  zuschreiben. 


A.22  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

Benediktiner  -  Abtei  zu  München-Gladbach^)  ein  Beispiel  der  raschen- 
Wandelung  des  Styles  und  des  Einflusses,  welchen  der  Kölner  Donibau  aus- 
übte. Im  Jahre  1242  war,  wie  wir  urkundlich  wissen,  ein  Neubau  beab- 
sichtigt oder  vielleicht  schon  begonnen'^).  Im  Jahre  1275  erfolgte  und  zwar 
durch  den  berühmten,  damals  wieder  in  Köln  lebenden  Albertus  magnus  die 
Einweihung  des  Hochaltars  im  Chore.  Zwischen  diesen  Jahren  werden  also 
die  Theile  entstanden  sein,  welche  sich  nicht,  wie  die  Krypta,  als  älteren,  oder 
wie  das  Öbergeschoss  des  Thurmes  und  das  gegenwärtige  Gewölbe  des  Mittel- 
schiffes als  späteren  Ursprunges  zu  erkennen  geben.  Dennoch  tragen  gerade 
diese  Theile  ein  sehr  verschiedenes  Gepräge.  Das  Langhaus,  augenschein- 
lich auf  drei  Doppelgewölbe  angelegt ,  obgleich  diese  wie  es  scheint  damals 
unausgeführt  blieben,  ist  im  rheinischen  Uebergangsstyle  erbaut,  durchweg 
mit  rundbogigen  Fenstern,  aber  spitzen  Scheidbögen,  und  theils  runden  theils 
spitzen  Arcaden  des  Triforiums.  Es  zeigt  ähnliche  Formen,  wie  die  Kirchen 
zu  Neuss  und  Andernach,  wie  das  Langhaus  der  Apostelkirche  und  wie 
St.  Cunibert  zu  Köln.  Dieser  Bau  wurde,  vielleicht  weil  die  Zuschüsse  spar- 
sam flössen,  etwa  im  Jahre  1253  mit  einer  provisorischen  Holzdecke  bedeckt 
und  so  abgeschlossen,  bald  darauf  aber  wahrscheinlich  der  Bau  des  Chores 
begonnen,  da  er  im  Jahre  1275  schon  soweit  vollendet  war,  um  wie  die 
Consecrationsurkunde  ergiebt,  die  "Weihe  des  Altares  zu  gestatten.  Hier 
herrscht  nun  ein  ganz  anderer  Geist.  Der  Chor  ist  zwar  ohne  Umgang  und 
Kapellenkranz,  mit  fünf  Seiten  des  Zehnecks  geschlossen,  aber  er  ist  im 
entschiedenen,  wohlverstandenen  frühgothischen  Style  durchgeführt,  mit 
Strebepfeilern,  deren  Fialen  den  Dachrand  tiberragen,  mit  schlanken  zwei- 
theiligen Maasswerkfenstern ,  mit  Profilen  und  stylisirten  Blättern ,  welche 
die  Schule  des  Kölner  Domes  deutlich  zeigen.  Da  man  nun  überdies  im 
Kloster,  wie  die  Notiz  im  Nekrolog  desselben  ergiebt,  den  Todestag  des 
„Dombaumeisters  Gerhard"  feierte,  so  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  er 
den  Bau  des  Chores  von  Köln  aus  geleitet  oder  durch  einen  seiner  Gehülfen 
ausführen  lassen  und  dadurch  die  Dankbarkeit  der  Mönche  verdient  habe^).. 


1)  Organ  für  christl.  Kunst,  1859,  S.  269,  mit  Abbildungen.  —  Bock,  Rheinlands 
Baudenkmale  ,  Bd.  f. 

-)  Zum  Behufe  eines  Neubaues  der  aedificia  et  officinae  ecclesiae  Gladebacensis- 
verleiht  Erzbischof  Conrad  im  Jahre  1242  der  Abtei  die  Pfarrkirche  der  Stadt  (Lacom- 
blet  Urkundenbuch  II,  Nro.  276).  Die  kleine  Monographie  von  Eckertz  und  Növer  (die 
Benedictiner-Abtei  M,  Gl.  1853)   giebt  keine  weitere  Auskunft. 

3)  Die  von  Dr.  Eckertz  in  Erbkam  Zeitschrift  für  Bauwesen,  Band  XII,  1862 
Sp,  367  publicirte  Stelle  des  Nekrologs:  ,,VIII  Kai.  Maji  obiit  Magister  Gerardus  de 
Summo"  lässt  keinen  Zweifel  (vgl.  oben  S.  514,  Anm.  3),  dass  damit  der  Dombau- 
meister, eigentlich  der  Baumeister  des  Domchores,  gemeint  sei,  dessen  Todestag: 
wir    hierdurch     leider    ohne    Angabe    des    Todesjahres    erfahren.       Die    Mitwirkung 


Die  Stiftskirche  zu  Xanten. 


423 


Noch  wichtiger  ist  die  schöne  Stiftskirche  St.  Victor  in  Xanten. 
Schon  im  Jahre  1213  begannen  die  Stiftsherren  einen  Neubau,  aus  dem  die 
unteren  Stockwerke  der  westlichen  Thürme  mit  einem  dazwischen  gelegenen, 
im  Aeusseren  nicht  vortretenden  Chore  erhalten  sind;  sie  haben  im  "Wesent- 
lichen romanische  Formen  ^l  Fünfzig  Jahre  später,  1263,  wurde  dann  der 
alte,  nun  völlig  baufällige  östliche  Chor  abgebrochen  und  der  Grund  zu 
einem  neuen  gelegt,  dessen  Vollendung  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  erfolgt 
sein  kann,  während  das  Langhaus  und  die  Nebengebäude  erst  in  der  zweiten 


Fig.  112 


Stiftskirche  zu  Xanten. 


Hälfte  des  vierzehnten  und  bis  in  das  sechszehnte  Jahrhundert,  und  zwar 
wegen  des  sparsamen  Zuflusses  der  Mittel  sehr  langsam  erbaut  wurden.  Die 
■vollständig   erhaltenen   und   in   vieler  Beziehung  höchst  interessanten  Rech- 


Gerhards  im  Chore  von  Gladbach  ist  zuerst  von  Mertens  nnd  Lohde  (a.  a.  0.  Sp.  187 
behauptet ,  aber  in  die  Zeit  von  1242  —  1253  verlegt  und  als  eine  dem  Dombau  vorher- 
gehende Thätigkeit  des  jungen  Meisters  aufgefasst,  eine  Annahme,  welcher  schon  v.  Quast 
(ebenda  Sp.  497)  widersprach  und  welcher  die  Conseerationsurkunde  des  Altars  ent- 
gegensteht. Vgl.  diese  Urkunde  bei  Bock,  Rheinlands  Baudenkmale,  Lief.  4,  S.  11,  12. 
^)  Nach  der  Angabe  des  Vincentius  Justinianus  (wie  erwähnt  eines  Schriftstellers 
des  siebenzehnten  Jahrhunderts),  hat  Albertus  magnus  den  Chor  von  Xanten  geweihet 
fBinterim  Sutfraganei  Colonienses  p.  40,  und  Kreuser  Christlicher  Kirchenbau  I,  377). 
Da  der  Ostchor  nach  glaubhaften  alten  Notizen  des  Stiftes  erst  1263  begonnen  ist 
(Anno  1263  VI.  Kai.  Sept.  inchoata  est  nova  aedificatio  St.  Victoris) ,  und  Albertus 
schon  1280  starb,  kann  jene  Weihe  (wie  auch  Zehe,  BeschreibuDg  des  Domes  zii 
Xanten,  Münster  1851,  ainiimmt)  sich  nur  auf  den  westlichen  Chor  bezogen  haben. 


424 


Gothischer  Styl  in  Deutschland. 


nungen  dieser  späteren  Bauzeit^)  ergeben,  dass  man  auch  damals  stets 
fremde  Meister  zuzog,  aus  Mainz,  aus  Wesel,  und  wiederholt  aus  Köln;  bei 
schwierigen  Aufgaben  werden  auch  wohl  andere  Meister  von  Köln  zur  Be- 
rathung  herbeigerufen.  Geschah  dies  noch  im  fünfzehnten  Jahrhundert,  so 
wird  der  Bau  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  also  einer  Zeit,  wo  der  gothische 
Styl  in  diesen  Gegenden  noch  fremd  war,  gewiss  nicht  ohne  Beihülfe  von 
Köln  vorgenommen  sein,  wie  dies  denn  auch  die  Details  unzweideutig  erkennen 
lassen.  Dagegen  ist  die  Anlage  eine  abweichende  und  eigenthümliche  (Fig.  112). 
Die  Kirche  hat  nämlich  kein  Kreuzschiff  und  keinen  inneren,  durch  einen  Umgang 

Fig.    113. 


Kirclie  zu  Ahrweiler. 

umschlossenen  Chorraum ,  wohl  aber  fünf  Schiffe  und  neben  der  fünfseitig 
geschlossenen  Apsis  auf  jeder  Seite  zwei  aus  vier  Seiten  des  Achteckes  ge- 
bildete, diagonal  gestellte  Kapellen.  Es  ist  also  im  Wesentlichen  dieselbe 
Anlage  wie  an  St.  Yved  in  Braisne  und  an  der  Liebfraueukirche  in  Trier. 
Es  ist  sehr  merkwürdig,  dass  wir  diese  Anlage,  nur  vereinfacht,  gleich- 
zeitig auch  an  anderen  Stellen  finden.     So  zunächst  an  der  überhaupt  eigen- 


^)  Wir  verdaukell  die  Mittlieiluug  derselben  {Auszüge  aus  deu  ßaurechnuiigeu  der 
Victorskirche  zu  Xanten,  1852)  dem  zu  früh  verstorbenen  Dr.  Schölten.  Vgl.  darüber 
Lübke  im  D.  Kunstbl.  1852,  S.  426,  434.  Abbildungen  giebt  Schimmel  in  den  Denk- 
mälern Westphalens,  Lief.  2,  7. 


Stadtkirche  zu  Ahrweiler,  Katharinenivirche  zu  Oppenheim,  425 

thümlichen  Stadtkirche  zu  A  h  r  w  e  i  1  e  r.  Sie  ist  nämlich  (Fig.  113)  nur  dreischiffig 
und  ebenfalls  ohne  Kreuzschiff,  hat  aber  neben  dem  dreiseitig  geschlossenen, 
dem  Mittelschiffe  entsprechenden  Chore  am  Ende  jedes  Seitenschiffes  eine 
durch  fünf  Seiten  des  Achteckes  gebildete,  diagonal  gestellte  und  daher  tiber 
die  Linie  der  Seitenraauern  hinaustretende  Nische,  so  dass  diese  drei  Nischen 
ein  Ganzes  bilden  und  nahebei  die  Wirkung  eines  Chorumganges  geben.  In 
dieser  Gestalt  sehen  wir  deutlich,  dass  hier  der  Gedanke  der  radianten 
Stellung  im  französischen  Kapellenkranze  mit  einer  einheimischen  Remini- 
scenz  verschmolzen  ist.  Es  ist  die  Zusammenstellung  der  drei  Schlussnischen 
des  romanischen  Styles,  welche  in  der  Zeit  des  Uebergangsstyles  an  der 
Kapelle  zu  Ramersdorf  und  später  an  dem  schon  völlig  gothischen  Chore  der 
Petrikirche  zu  Soest  durch  eine  erweiterte  Haltung  des  Chores  und  engere 
Verbindung  der  Nischen  mit  demselben  bedeutsamer  gemacht  war  und  durch 
die  diagonale  Stellung  der  Seitenkapellen  noch  mehr  belebt  wird.  Der  Chor 
zu  Ahrweiler  scheint  in  den  Jahren  1254  —  1274  gebaut  zu  sein,  während 
das  Langhaus,  das  seltene  Beispiel  einer  Hallenkirche  in  den  Rheinlanden, 
in  den  niedrigen  runden  Säuleustämmen  mit  schönem  Blattwerk  an  den  Kapi- 
talen wohl  auch  noch  den  Charakter  dieser  Zeit,  aber  in  dem  Fenster- 
maasswerk schon  die  Formen  des  14.  Jahrhunderts  zeigt.  Die  eingebauten 
Emporen  gehören  der  spätesten  Gothik  an^). 

Ich  knüpfe  hieran  die  Erwähnung  einer  dritten,  bedeutenderen  Kirche, 
obgleich  sie  ausserhalb  der  Diöcese  von  Köln  liegt  und  der  Einfluss  der 
dortigen  Schule  auf  sie  zweifelhaft  ist,  der  St.  Kathar ine nki rohe  zu 
Oppenheim,  die  als  eine  der  schönsten  Leistungen  des  gothischen  Styles 
in  Deutschland  berühmt  ist-).  Der  grössere  Theil  des  Gebäudes  gehört 
zwar  einer  späteren  Zeit  an,  der  in  Trümmern  liegende  westliche  Chor  dem 
fünfzehnten ,  die  Ausschmückung  des  Langhauses ,  namentlich  der  pracht- 
vollen Maasswerkfenster  und  Spitzgiebel,  dem  vorgerückten  vierzehnten 
Jahrhundert.  Der  östliche  Chor  und  die  Anlage  des  Langhauses  stammen 
dagegen  aus  dem  Bau  von  1262  —  1317,  von  welchem  eine  handschriftliche 
Chronik  berichtet.     Dieser  östliche  Chor  hat  nun  im  Wesentlichen  dieselbe 


')  Abl)il<luiigen  uud  Beschreibung  dieser  interessanten  Kirche  bei  Müller,  Beiträge 
II,  Taf.  5  und  ff,  S.  36  und  53,  welcher  die  ganze  Kirche  in  das  vierzehnte  Jalir- 
hundert,  wie  Lassaulx  a.  a.  0.  S.  480  in  das  dreizehnte  Jahrhundert  setzt.  —  Organ  für 
Christi.  Kunst,  1863,  S.  269  mit  Abbildungen.  —  Dem  Chor  der  Kirche  zu  Ahrweiler 
ist  sehr  ähnlich  derjenige  der  Nicolaikirche  zu  Anclam  (Kallenbach ,  Chronologie, 
Taf.  59),  Kugler,  kl.  Schriften  I,  S.  783.  Der  Chor  von  Xanten  ist  in  dem  des 
St.  Martinsdoms  zu  Ypern  ^Mitth.  der  k.  k.  Ceutral-Commission,  II,  S.  245)  und  in  dem 
des  Doms  von  Kaschau  in  Ungarn  (ebenda  S.  241)  wiederholt. 

2)  Abbildungen  in  Moller's  Denkmälern  I,  Taf.  31  —  37,  und  in  dem  musterhaft 
ausgeführten  Prachtwerke  v.  F.  H.  Müller:  die  Katharinenkirche  zu  Oppenlieim. 


^26  Goihischer  Styl  in  Deutschland. 

Anlage  wie  der  von  Ahrweiler,  von  dem  er  sich  nur  dadurch  unterscheidet^ 
dass  die  Seitenkapellen  hier  nicht  wie  dort  von  gleicher  Höhe  mit  der  Chor- 
nische, sondern  bedeutend  niedriger  sind.  Das  Maasswerk  der  zweitheiligen 
Chorfenster  gleicht  dem  der  Kapellenfenster  im  Kölner  Dome,  auch  die 
Basis  der  Pfeiler  des  Langhauses  ist  der  dortigen  ähnlich,  die  Pfeiler  selbst 
haben  aber  nicht  mehr  den  runden  Kern,  sondern  sind  wirkliche  Bündel- 
pfeiler mit  tiefen  Höhlungen  zwischen  den  einzelnen  Diensten,  so  dass  dieser 
Bau  wie  in  geographischer,  so  auch  in  architektonischer  Beziehung  der 
Schule  von  Köln  und  der  von  Strassburg  gleich  nahe  steht  ^). 

Ausserhalb  der  Diöcese  können  wir  den  Eintiuss  der  Kölner  Schule 
nur  in  wenigen  Fällen  mit  Gewissheit  nachweisen.  Sehr  entschieden  und 
in  grossartiger  Weise  zeigt  er  sich  an  der  Kathedrale  von  Utrecht,  deren 
edle  Formen  auch  dem  flüchtigen  Reisenden  durch  ihre  Verschiedenheit  von 
dem  gewöhnlichen  Style  der  holländischen  Kirchen  auffallen  ^).  Seit  dem 
Einsturz  bei  einem  Sturme  im  Jahre  1674  ist  wenig  mehr  als  der  Chor 
übrig,  mit  welchem  dieser  Bau  begonnen  worden  war,  und  der  nicht  nur  in 
seiner  Anlage  mit  Umgang  und  Kapellenkranz  eine  directe  Nachahmung  des 
Kölner  Domchors  ist,  sondern  mit  diesem  auch  in  den  Einzelformen  über- 
einstimmt, die  ihr  Vorbild  allerdings  an  Vollendung  nicht  erreichen.  Der 
Zusammenhang  beider  Bauhütten  ist  sehr  erklärbar,  da  bald  nach  der  Mitte 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  Heinrich  von  Vianden,  Verwandter  des  Erz- 
bischofs Conrad  und  bis  dahin  Domprobst  zu  Köln,  den  bischöflichen 
Stuhl  bestieg  °),  und  den  Neubau  des  Chores  begann,  dem  dann  im  folgenden 
Jahrhundert  mit  fortdauernder  Verbindung  beider  Schulen  das  Langhaus 
folgte.  Auch  die  Kathedrale  von  Metz  hat  unläugbare  Verwandtschaft  mit 
dem  Kölner  Dome,  sie  gehört  aber  (mit  Ausnahme  gewisser  bedeutend  älterer 
Theile)  ganz  der  folgenden  Epoche  an  und  ist  daher  erst  später  näher  zu 
erwähnen. 

Als  ein  vereinzeltes  merkwürdiges  Beispiel  des  gothischen  Profanbaues 
aus  dem  13.  Jahrhundert  verdient  endlich  das  sogenannte  Grashaus  in 
Aachen  Beachtung,  welches  als  das  älteste  Rathhaus  der  Stadt  unter  der 
Regierung  Richards  von  Cornwall  (1257  —  1272),  laut  Inschrift  von  einen 
Meister  Heinrich  errichtet  wurde.  Das  unterste  Stockwerk,  jetzt  von 
einem  Thorweg  durchbrochen,  hatte   ehemals   nur   vermauerte  Rundbogen- 


^)  Ich  habe  schon  oben  S.  369  erwähnt,  dass  der  Chor  von  Xanten  an  St.  Bavon 
in  Gent  und  der  von  Oppenheim  an  St.  Gengoul  in  Toul  wiederholt  ist. 

-I  Abbildungen  bei  Wiebeking-  bürgerliche  Baukunst  Taf.  113  und  120.  —  Vgl. 
anch  F.  N,  Eijck  tot  Zuylichem,  kort  overzigt  van  den  Bouwtrant  der  middeleeuwsche 
kerken   in  Nederland,  aus  den  Berigten  van  het  Historisch  Gezeischap,   II,  S.  36. 

•'')  Noch  als  Bischof  bezog  er  gewisse  Einkünfte  seiner  Kölner  Stelle.  Lacdmblet 
Urkundenbuch  II,  396. 


Grasliaus  zu  Aachen.  427 

blenden  und  enthielt  in  seinen  von  schweren  Tonnengewölben  geschlossenen 
Räumen  die  bürgerlichen  Gefängnisse ,  während  die  Treppe  zum  Saal  wahr- 
scheinlich seitwärts  emporführte.  Vor  diesem  lag  eine  Bogenlaube,  deren 
Oeffnungen  gegen  die  Frontseite  des  Hauses  nicht  mehr  erhalten  sind,  und 
darüber  erhebt  sich  das  dritte  Stockwerk  des  Gebäudes,  der  reichste  Theil 
des  Ganzen,  sieben  von  Säulen  umschlossene  Spitzbogennischen  mit  den 
Standbildern  der  geistlichen  und  der  weltlichen  Kurfürsten.  In  der  kräftigen 
Behandlung  des  Blattwerks,  in  den  lebendigen  Profilirungen  tritt  uns  auch 
hier  die  Einwirkung  der  Bauhütte  von  Köln  entgegen^). 

Mit  dem  Beginne  des  Kölner  Dombaues  verschwand  auch  jene  Vorliebe 
für  den  Uebergangsstyl,  welche  bis  dahin  noch  bedeutende  Bauten  in  über- 
wiegend romanischer  Weise  hervorgebracht,  und  selbst  den  gothischen,  unter 
dem  Einflüsse  der  Trierer  Bauhütte  entstandenen  Werken  einzelne  roma- 
nische Reminiscenzen  aufgedrängt  hatte.  Um  1279^)  wurde  selbst  am 
Mainzer  Dome,  also  an  einer  Stelle,  wo  der  romanische  Styl  sich  durch  eins 
seiner  mächtigsten  Monumente  eingebürgert  hatte,  die  St.  Barbarakapelle 
in  den  edelsten  und  elegantesten  gothischen  Formen  errichtet,  und  wir  können 
im  Allgemeinen  diese  Zeit  als  die  Grenze  bezeichnen ,  wo ,  ganz  vereinzelte 
Ausnahmen  abgerechnet,  die  letzten  Nachklänge  des  rein  romanischen  Styles 
der  Rheinlande  verhallten.  Nicht  nur  wurde  die  Zahl  der  Meister  immer 
grösser,  welche  in  den  Hütten  von  Trier,  Köln  oder  Strassburg,  oder  an 
anderen,  von  diesen  abgeleiteten  Bauten,  oder  endlich  auf  selbständigen 
Wanderungen  in  Frankreich  die  Schule  gothischen  Styles  gemacht  hatten,- 
sondern  der  Ruf  von  der  Schönheit  und  von  den  technischen  Vorzügen 
dieses  Styls  war  auch  schon  so  gewachsen,  dass  die  Bauherren  ihn  ver- 
langten, und  die  Arbeit  nur  solchen  Meistern  anvertrauen  wollten,  die  in  ihm 
erfahren  waren. 

Ohne  Zweifel  wanderten  nicht  bloss  rheinische  Werkleute,  sondern  auch 
solche  aus  den  inneren  Gegenden  Deutschlands  nach  Frankreich.  Die  Ver- 
bindung dieser  Gegenden  mit  dem  Mutterlande  des  neuen  Styles  war  daher 
nicht  durch  die  Rheinprovinzen  vermittelt;  fanden  wir  ja  doch  eher  als  in 
diesen  am  Magdeburger  Dome  und  an  der  St.  Georgskirche  zu  Limburg 
entschiedene  Anklänge  an  französische  Bauten.  Daher  erklärt  sich,  dass 
der  gothische  Styl,  etwa  gleichzeitig  mit  dem  Beginn  der  Bauten  von  Strass- 

1)  Die  Annahme  von  Mertens  und  Lohde,  Zeitschr.  für  Bauwesen  1862,  Sp.  358, 
welclie  hier  englischen  Einfluss  erkennen  wollen,  wird  durch  die  Formen  nicht  im 
mindesten  unterstützt.  Abbilduagen  publicirt  von  R.  Cremer,  Zeitschrift  für  Bauwesen 
1861,  Taf   31  u.  32,  sowie  bei  Bock,  Rheinlands  ßaiidenkmale,  Bd.  1  (restaurirt). 

-)  Wie  Wetter  in  dem  Texte  zu  den  Photographien  des  Domes,  S.  9,  angiebt, 
seine  frühere  Annahme  in  dem  Buche  „Geschichte  und  Beschreibung  des  Domes  zu 
Mainz",  S.  54,  nach  neueren  Ermittelungen  berichtigend. 


428  Golliischer  Sly!  in   Deutschland. 

bürg  und  Köln^  in  allen  Gegenden  Deutschlands  bis  zu  den  östlichen  Marken 
hin  häufig  und  mit  eigenthümlicher,  nicht  durch  die  rheinischen  Bauten  be- 
dingter Auffassung  vorkommt.  Aber  gewiss  war  in  diesen  entfernteren 
Gegenden  der  Verkehr  mit  Frankreich  nicht  ein  so  reger,  die  Forderung 
<lo3  fran;^ösischen  Styles  nicht  eine  so  bestimmte,  die  Vorliebe  für  gewisse 
einheimische,  diesem  Style  fremde  Formen  eine  grössere.  Wenigstens  be- 
merken wir,  man  kann  fast  sagen  so  wie  wir  den  Rhein  überschreiten, 
nirgends  ein  so  genaues  Anschliessen  an  den  französischen  Styl,  als  im 
Chore  von  Köln  und  im  Langhause  von  Strassburg.  Vielmehr  macht  sich 
fast  überall  ein  mehr  oder  weniger  bewusstes  Bestreben  geltend,  den  neuen 
und  auch  hier  beliebten  Styl,  wie  es  schon  an  der  Elisabethkirche  in  Marburg 
geschehen  war,  einheimischen  Bedürfnissen  und  deutschem.  Geschmacke 
gemäss  umzugestalten.  Schon  am  Münster  zu  Freiburg  ist  das  Triforium 
fortgelassen  und  dagegen  die  Balustrade  unter  den  Fenstern  in  eigenthüm- 
licher  Weise  ausgebildet,  und  gewöhnlich  fehlen  dem  Chore  der  Umgang  und 
der  Kapellenkranz.  Noch  bedeutender  sind  diese  Abweichungen  in  den 
inneren  Gegenden  Deutschlands.  Während  der  gothische  Styl  in  Frankreich 
zu  einem  festen  Kanon  ausgebildet  war^  dem  sich  auch  die  entfernteren 
Gegenden  unterwarfen ,  wurde  er  in  Deutschland  fast  in  jeder  Provinz  selb- 
ständig bearbeitet  und  selbst  innerhalb  der  einzelnen  Landschaften  mit 
individueller  Freiheit  behandelt.  Daher  geben  denn  auch  die  deutschen 
Bauten,  welche  bis  zum  Schlüsse  des  dreizehnten  Jahrhunderts  entstanden, 
keineswegs  eine  chronologische  Reihe  zusammenhängender  Fortschritte,  und 
nur  eine  Uebersicht  über  die  einzelnen  Provinzen  kann  uns  eine  Anschauung 
von  der  Auffassung  und  Gestaltung  des  neuen  Styles  in  Deutschland  ge- 
währen. 

Nach  Westphalen  warder  gothische  Styl,  wie  wir  oben  gesehen  haben, 
schon  ziemlich  frühe  und  zwar  durch  die  hessische  Schule  gelangt,  mithin 
schon  mit  deutschen  Elementen  versetzt  und  namentlich  der  im  westphälischen 
I'ebergangsstyle  ausgebildeten  Form  der  Hallenkirchen  angepasst.  Allein 
dennoch  stand  ihm  die  zähe  Anhänglichkeit  an  den  allerdings  noch  nicht 
längst  aufgekommenen  Uebergangsstyl  noch  lange  entgegen,  bis  man  ihn  an 
einzelnen  bedeutenden  Werken  der  einheimischen  Anschauungsweise  noch 
mehr  genähert  hatte.  Dies  geschah  wahrscheinlich  zuerst  am  Dome  zu 
Minden^). 

Die  Nachrichten  über  dies  grossartige  Gebäude  sind  so  dürftig,  dass 
wir  seine  Geschichte  fast  ganz  aus  den  Formen  herauslesen  müssen.  Von 
dem  Chore  habe  ich  schon  gesprochen;  er  gehört  (mit  Ausnahme  des  erst 
in  der  zweiten  Hälfte   des   vierzehnten  Jahrhunderts  angefügten  polygonen 


')  Lübke  a.  a.  0.  S.  236,  Taf.  XVIU. 


Der  Dom  zu  Minden.  429 

Schlusses)  dem  Uebergangsstyle  au,  hat  wie  die  Domchöre  von  Münster  und 
Osnabrück  jene  früher  beschriebene  schöne  und  zweckmässige  Ausstattung 
mit  mehreren  reich  geschmückten  Arcadenreihen ,  und  mag  am  Anfange  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  entstanden  sein.  Das  Kreuzschiff,  mit  dicken 
Mauern,  starken,  eckig  gegliederten  Wandpfeilern,  romanischem  Pflanzen- 
schmuck der  Kapitale  und  Eckblättern  der  Basis,  scheint  dem  Chore  gleich- 
zeitig. Das  Laughaus  dagegen  zeigt  die  edelsten  Formen  des  frühgothischen 
Styles :  schlanke  Rundpfeiler  mit  vier  stärkeren  und  vier  schwächeren  Diensten, 
ihre  Basis  an  Kern  und  Diensten  rund,  die  Kapitale  von  zwei  Reihen  leicht- 
gebildeter Blätter  umgeben;  Gewölbgurten  mit  gothischer,  wenn  auch  noch 
dem  Herkommen  des  Uebergangsstjies  gemäss  etwas  derb  gehaltener  Profi- 
lirung,  hochgeschwungene  Gewölbe,  reiche  Maasswerkfenster.  Er  ist  eine 
Hallenkirche,  wie  St.  Elisabeth  in  Marburg,  aber  mit  anderer  Anordnung 
des  Grundplanes.  Während  in  dem  hessischen  Münster  der  Pfeilerabstand 
und  die  Seitenschiffe  die  halbe  Breite  des  Mittelschiffes  haben,  die  Gewölb- 
felder des  letzten  also  schmale  Rechtecke  bilden,  die  sich  von  der  Vorhalle 
bis  zum  Kreuze  sechsmal  wiederholen,  bestehen  hier  nur  drei  solcher  Felder, 
aber  von  bedeutender  Tiefe,  fast  Quadrate  (38:35).  Das  Herkommen  des 
Uebergangsstyles,  in  welchem  die  Hallenform  durch  Fortlassung  des  Zwischen- 
pfeilers ausgebildet  und  die  quadrate  Form  des  Mittelgewölbes  beibehalten 
war,  ist  also  mit  dem  gothischen  Style  verschmolzen,  der  westphälischen 
Neigung  für  breite  und  einfache  Verhältnisse  ist  Rechnung  getragen.  Diese 
Gewölbe  sind  dann  von  ungewöhnlicher  Höhe  und  kuppeiförmig  ansteigend, 
so  dass  der  Schlussstein  der  Diagonalen  sehr  viel  höher  liegt,  als  der  Scheitel 
der  Quergurten.  Während  im  Kölner  Dome,  in  St.  Elisabeth  in  Marburg 
und  in  den  meisten  französischen  Kirchen  die  senkrechte  Gewölbhöhe  vom 
Kapital  des  oberen  Dienstes  gerechnet  etwa  zwei  Siebentel  der  Gesammthöhe 
beträgt,  erreicht  sie  hier  bedeutend  mehr  als  drei  Siebentel,  fast  die  Hälfte. 
Allerdings  ist  dies  zum  Theil  nur  scheinbar,  indem  sämmtliche  Bögen  stark 
überhöht  sind,  so  dass  der  untere  Theil  der  dicht  gedrängt  aufsteigenden 
Rippen  in  der  That  nur  eine  senkrechte  Unterlage  der  erst  weiter  oben 
sich  abneigenden  Wölbung  bildet.  Allein  dies  ist  für  die  Wölbung  gleich- 
gültig, zumal  jener  wirkliche  Anfang  der  einzelnen  von  demselben  Pfeiler 
getragenen  Bögen  nach  Maassgabe  ihrer  grösseren  oder  geringeren  Span- 
nung tiefer  oder  höher  liegt,  und  daher  nicht  sehr  auffällt.  Der  Winkel,, 
den  der  Bogen  mit  dem  senkrechten  Theile  der  Rippen  bildet,  erscheint  dem 
Auge  daher  nur  als  kühne  und  unberechenbare  Schwingung  der  verschiedenen 
Bögen,  und  macht  sich  nur  in  den  Seitenschiffen,  wo  die  üeberhöhuug  sehr 
viel  grösser  ist ,  um  ungeachtet  der  sehr  viel  geringeren  Breite  den  Ge- 
wölben eine  annähernd  gleiche  Scheitelhöhe  mit  denen  des  Mittelschiffes  zu 
geben,  stärker  geltend.     Alles  dies   eriimert  noch  einigermaassen  an  den 


430 


Gothischer  Styl  in  Deutsclilaiui. 


Fig.    114. 


Uebergangsstyl,  der  in  Westphalen ,  wie  wir  gesehen  haben ,  oft  wirkliche 
Kuppelgewölbe,  oft  aber  auch,  z.  B.  im  Chore  der  Nicolaikapelle  zu  Ober- 
Marsberg  und  in  der  Klosterkirche  von  Barsinghausen  i),  quadrate  Kreuz- 
gewölbe hatte,  die  bei  der  grossen  Spannung  ihrer  halbkreisförmigen  Diago- 
nalen ein  ähnliches  Verhältniss  zur  Gesammthöhe  wie  hier  erreichten.  Auch 
ist  die  Praxis,  die  Bögen  nach  Maassgabe  ihrer  Spannung  an  verschiedenen 
Stellen  der  Höhe  anheben  zu  lassen,  dem  Uebergangsstyle  völlig  geläufig, 
nur  dass  er  dann  dies  Verfahren  nicht  wie  hier  verbarg,  sondern  mit  naiver 

Offenheit  zur  Schau  trug,  indem 
sich  auch  die  Höhe  der  tragen- 
den Säulen  und  die  Lage  der 
Kapitale  nach  dem  Bogenanfang 
richtete,  obgleich  der  Pfeiler, 
zu  dem  sie  gehörten,  dadurch 
eine  etwas  unregelmässigere 
Gestalt  bekam.  Allein  jeden- 
falls ist  der  Meister  von  diesen 
Reminiscenzen  nicht  beherrscht 
worden,  sondern  hat  sie  nur, 
und  zwar  mit  grosser  Gewandt- 
heit und  gründlicher  Kenntniss 
der  Wölbung,  bewussterweise 
benutzt, um  den  Schwierigkeiten, 
welche  aus  dem  Grundplane 
hervorgingen,  in  einer  dem 
Geiste  des  gothischen  Styles 
entsprechenden  Weise  zu  be- 
gegnen. Um  die  weiten  qua- 
draten  Felder  des  Mittelschiffes 
zu  überwölben  und  den  schma- 
leren Gewölben  der  Seiten- 
schiffe eine  annähernde  Hohe  zu  geben,  ohne  die  schlank  zu  haltenden  Pfeiler 
übermässig  hoch  hinaufzuführen,  musste  er  zu  solchen  Aushülfen  seine  Zu- 
flucht nehmen-),  und  es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  der  durch  die  Ueber- 
höhung  erreichte  kühne  Aufschwung  der  Gewölbe  dem  Ganzen  ein  leichteres 
Ansehen  giebt,  als  die  breite  Pfeilerstellung  erwarten  lässt.  Diese  Pfeiler- 
stellung hat  dann  ferner  auch  die  Behandlung  der  Fenster  und  ihres  Maass- 


Aus  dem  Domo  zu  Minden. 


1)  Lübke  Taf.   XII. 

2)  Auch    in    der  Elisabctlikirche    zu  Marburg    sind    die    Seitengewölbe    bedeutend 
überhöht. 


Der  Dom  zu  Minden.  431 

Werkes  bestimmt.  Sie  sindTiämlich,  obgleich  sie  nicht  den  ganzen  Raum 
zwischen  den  Wandpfeilern  und  Schildbögen  einnehmen,  ungewöhnlich  breit  und 
hoch  und  durch  Maasswerk  von  sehr  derber  Profilirung  und  eigenthümlicher 
Anordnung  gefüllt.  Starke,  theils  einfache,  theils  bündelartig  gruppirte, 
säulenartig  mit  Basis  und  Kapital  versehene  Pfosten  bilden  nämlich  unten 
vier,  fünf  oder  sechs  Abtheiluugen,  welche,  zu  zweien  oder  dreien  durch 
darübergespannte  Spitzbögen  verbunden,  vermöge  derselben  eine  gewaltige 
Rose  oder  doch  strahlenförmiges  Maasswerk  eines  halbirten  Kreises  tragen, 
welches  bis  an  den  oberen  Fensterbogen  reicht.  Die  Ausfüllung  dieser  Rosen 
durch  radialgestellte,  von  einem  inneren  Kreise  ausgehende,  durch  Spitzbögen 
mit  der  Peripherie  verbundene  Säulchen  erinnert  noch  sehr  an  romanische 
Radfenster;  der  grosse  Kreisbogen,  den  sie  unterhalb  der  Spitze  des  Fensters 
bilden  und  der  die  Ausfüllung  des  Zwischenraumes  durch  einige  ziemlich 
müssige  Figuren  erfordert,  contrastirt  mit  der  sonstigen  consequenten  Durch- 
führung des  gebrochenen  Bogens.  Das  zierliche  Nasenwerk  fehlt  gänzlich, 
und  man  kann  zugeben,  dass  die  ganze  Anordnung  keinesweges,  wie  die 
des  französischen  Styles,  eine  bis  ins  Einzelne  durchgeführte  organische  Ent- 
wickelung  darstellt.  Allein  bei  alledem  ist  die  Wirkung  dieser  praclitvoUen, 
stets  wechselnden  Muster,  namentlich  aucli  dieser  sonnenartig  ausstrahlenden 
Körper  in  dem  Lichtfelde  der  Fenster  eine  bezaubernde,  und  wir  fühlen, 
dass  eine  auf  Vergleich  ung  beruhende  Kritik  hier  nicht  angebracht  ist.  Das 
ganze  Gebäude  ist  wirklich  eine  in  sich  durchaus  harmonische  Conception, 
deren  Abweichungen  von  den  gothischen  Werken  anderer  Gegend  durch  die 
Hallenform,  die  weite  Pfeilerstellung,  die  quadraten  Hauptgewölbe  bedingt 
sind.  Die  Kreisform  innerhalb  der  Fenster  steht  in  voller  Analogie  mit 
den  Quadraten  der  Gewölbfelder,  der  hohe  Schwung  der  Gewölbe  nöthigt 
den  breiten  Grundverhältnissen  den  Ausdruck  des  Schlanken  und  Kühnen 
ab,  ihre  überhöhte  Form  giebt  durch  die  Mannigfaltigkeit  der  sich  durch- 
schneidenden Bogenlinieu  dem  perspectivischen  Durchblick  einen  eigenthüm- 
lichen  Reiz  und  bringt  ein  bewegteres  Leben  in  die  an  sich  einfache  und 
schwere  Haltung  des  Ganzen,  lieber  die  Entstehungszeit  dieses  herrlichen 
Baues  wissen  wir,  wie  gesagt,  nichts  Näheres.  Die  Wahrscheinlichkeit, 
dass  das  Langhaus  nicht  lauge  nach  der  Vollendung  des  Kreuzschiffes  in 
Angriff  genommen,  die  mannigfachen  Reminiscenzen  an  den  Uebergangsstyl 
und  die  Behandlung  der  gothischen  Details  rechtfertigen  indessen  die  An- 
nahme, dass  es  im  dritten  Viertel  des  Jahrhunderts  begonnen  sei. 

Ungeachtet  seiner  Schönheit  und  der  glücklichen  Verschmelzung  des 
neuen  Styles  mit  westphälischen  Eigenthümlichkeiten  scheint  auch  dieser 
Bau  noch  keinen  schnellen  Einfluss  gehabt  zu  haben.  Zwar  wurde  er  später- 
hin maassgebend  und  eine  Reihe  westphälischer  Kirchen  sind  ihm  nach- 
gebildet.   Allein  die  meisten  derselben  gehören  dem  folgenden  Jahrhundert 


432  Gothischer  Styl  iu  Deutschland. 

an,  und  nur  etwa  die  Minoritenkirche  zu  Soest i),  welche  in  kleinerem 
Maassstabe  die  Yerhältnisse  des  Grundplanes,  der  Gewölbhöhe,  der  Fenster 
wiederholt  und  dabei  einfache,  nur  mit  vier  Diensten  besetzte  Ruudpfeiler 
hat,  dürfte  noch  in  das  dreizehnte  fallen. 


Ganz  anders  verhielt  es  sich  in  Sachsen.  Der  Charakter  dieses  Volks- 
stammes lebhaft,  scharfsinnig,  gewissenhaft,  mehr  verständig,  als  im  Gefühle 
lebend,  gründlich  und  in  der  feineren  Ausführung  unübertrefflich,  geschmack- 
voll, aber  mehr  kritisch  als  schöpferisch,  fordert  auch  in  der  Kunst  vor  Allem 
die  feste  Basis  eines  Princips.  Das  Suchen  und  Streben  nach  einem  unbe- 
kannten Ziele  ist  nicht  seine  Sache.  Den  Gedanken  der  romanischen  Basilika 
mit  gerader  Decke  hatte  er  mit  so  viel  Glück  wie  Beharrlichkeit  ausgebildet, 
alle  möglichen  Consequenzen  und  Umgestaltungen  desselben  versucht,  ihn 
aber  nun  auch  völlig  erschöpft.  Ein  eigener  Uebergangsstyl  hatte  sich  nicht 
gebildet,  der  rheinische  nicht  Wurzel  gefasst.  Hier  war  also  in  der  That 
ein  Bedürfniss,  zu  dessen  Befriedigung  der  gothische  Styl  sehr  gelegen  kam. 
Zuerst  war  er  auch  hier,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  in  Nienburg  an  der 
Saale,  von  Hessen  aus  eingedrungen;  aber  sei  es,  dass  die  Hallenform  von 
der  alten  Gewohnheit  der  Basiliken  zu  sehr  abwich,  sei  es,  dass  man  lieber 
aus  der  Quelle  als  aus  zweiter  Hand  empfangen  wollte,  die  anderen  säch- 
sischen Bauten  gothischen  Styles  folgten  dieser  Richtung  nicht,  sondern 
scheinen  eher  aus  unmittelbaren  französischen  Studien,  wenn  auch  wiederum 
mit  manchen  Modificationen,  hervorgegangen  zu  sein.  Auch  zeigen  sie,  selbst 
in  nächster  Nachbarschaft,  grosse  individuelle  Verschiedenheiten. 

Zu  den  frühesten  gothischen  Bauten  in  Sachsen  gehört  die  Cistercienser- 
kirche  zu  Pf  orta  (Schulpforte)  bei  Naumburg^).  Die  Gebäude  dieses  Klosters 
geben  im  Kleinen  eine  Baugeschichte  vom  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts 
an.  Der  Kreuzgang  ist  überwiegend  romanisch,  mit  spitzbogigem  Gewölbe, 
aber  mit  runden  Arcaden  auf  viereckigen  Pfeilern  mit  eingeblendeten  Eck- 
säulchen.  Eine  abgesonderte  Kapelle,  die  sogenannte  Abtskapelle,  hat  schon 
weiter  entwickelte  Uebergangsformen,  rundbogige  oder  kreisförmige  Fenster, 
den  Ruudbogenfries  und  Lisenen,  aber  Rippengewölbe  auf  Säulenbündeln, 
welche  schon  ein  Gefühl  für  die  Betonung  des  verticalen  Princips  zeigen. 
Die  Kirche  endlich  ist  entschieden  gothisch  und  zwar  mit  ganz  anderer  Auf- 
fassung wie  in  der  hessischen  Schule.  Sie  hat  zwar  noch  wie  die  älteren 
Cistercienserkirchen  Pfeiler  viereckigen  Kernes  von  wechselnder  Stärke,  an 


1)  Lübke  a.  a.  0.  Taf.  XXI. 

2)  Puttrich  a.  a.  0.  Abtli.  II,  Bd.  I. 


Der  Dom  zu  Magdeburg.  433 

welchen  im  Langhause  Kragsteine  die  Quadraten  Gewölbe  tragen,  aber  die 
Bündelpfeiler  und  das  Maasswerk  der  zweitheiligen  Fenster  im  dreiseitig  aus 
dem  Achtecke  geschlossenen  Chore  gehören  schon  dem  neuen  Style  an,  das 
ganze  Gebäude  ist  mit  Strebepfeilern  bewehrt,  und  das  Oberschiff,  schlank 
über  die  niedrigen  Seitenschiffe  aufsteigend,  wird  von  kühn  geschwungenen 
Strebebögen  gestützt.  Der  Chor  wurde,  wie  die  darin  betindliche  Inschrift 
bezeugt,  im  Jahre  1251  begonnen;  eine  Weihe  erfolgte  im  Jahre  1268,  und 
nur  die  Ausschmückung  derFa^ade,  namentlich  des  ziemlich  reich  profilirten 
Portales,  mag  in  spätere  Zeit  fallen, 

Aelter  noch  mag  die  Cistercienser-Nonnenkirche  in  Stadt  Roda 
sein,  welche  an  den  Langwänden  die  in  dieser  Gegend  fremde  Form  gekup- 
pelter Lancetfenster ,  an  der  Giebelwand  des  rechtwinkelig  geschlossenen 
Chores  aber  schon  grössere,  mit  primitivem  Maasswerk  gefüllte  Fenster 
enthält^).  Endlich  zeigt  auch  die  Kirche  des  Benedictiner  -  Nonnenklosters 
Heiligenkreuz  bei  Meissen,  die  nach  der  imjahre  1217  erfolgten  Anlage 
schon  im  Jahre  1240  vollendet  gewesen  sein  soll,  das  Eindringen  gothischer 
Formbildung.  Die  Klostergebäude  haben  noch  den  zierlichen  spätromani- 
schen Styl  der  sächsischen  Gegend,  Pfeilerecken  mit  Auskehlungen,  Säulen 
mit  feineren  Würfelkapitälen,  die  hohe  Basis  mit  der  sie  umfassenden  Hülse. 
Auch  der  Grundriss  der  Kirche  ist  noch  romanisch,  aber  die  Kapitale  der 
Gewölbdienste,  die  Pappen  der  Gewölbe  und  die  schlanken  Fenster  verrathen 
schon  gothische  Tendenz-). 

Auch  bei  dem  Bau  des  Domes  zu  Magdeburg  näherte  man  sich  diesen 
Tendenzen  immer  mehr.  "Während  die  Kapellen  des  Chores,  wie  wir  gesehen 
haben,  auf  französisch-gothischem  Grundplane,  aber  mit  romanischen  Details 
und  gewaltigen  Mauern  errichtet  waren,  hat  die  Gallerie  schon  leichteres 
Mauerwerk  mit  Strebepfeilern,  das  Oberschiff  endlich  schlanke  zweitheilige 
Fenster,  die  jedenfalls  auf  Maasswerk  angelegt  waren,  obgleich  das  gegen- 
wärtig darin  befindliche  aus  späterer  Zeit  herstammen  mag.  Für  die  Ge- 
schichte des  Gebäudes  haben  wir  nur  wenig  leitende  Daten.  Eine  Weihe 
erfolgte,  so  viel  wir  wissen,  erst  im  Jahre  1363,  und  in  einer  Urkunde  von 
1274  klagt  der  Erzbischof,  dass  der  Bau  stocke,  die  Seitenwände  nicht 
höher  hinaufgeführt,  die  Kapitale  nicht  aufgesetzt,  die  Bögen  nicht  gewölbt 
würden.  Ohne  Zweifel  bezog  sich  diese  Klage  auf  das  Langhaus,  dessen 
Mauern  bis  zur  Fensterhöhe  von  derselben  Dicke  wie  die  der  Chorkapellen, 
dessen  Pfeiler  viereckigen  Kernes  und  mit  kräftigen  Halbsäulen  unter  den 
Scheidbögen  versehen  sind  und  in  so  weiten  Entfernungen  stehen,  dass  man 


1)  Puttridi,    .\btli.  I,    Bnud  II,  Serif  Altenburg,    Taf.  15.  —  Zeitschrift  für  Bau- 
wesen, 1860,  Taf.  57. 

2)  Puttrich,  Serie  Meisseu,  Taf.  20  —  23. 

Schnaase's  Kunstgosch.     2.  Aufl.     V.  28 


434  Gothischer  Slyl  in  Deutschland. 

bei  der  späteren  Ueberwölbung  über  jeder  Abtbeilung  zwei  schmale  Kreuz- 
gewölbe anbringen  musste.  Diese  im  Wesentlichen  romanische  Anlage  lässt 
darauf  schliessen,  dass  man  das  Langhaus  bald  nach  der  Vollendung  der 
unteren  Theile  des  Chores  begründete,  demnächst  zur  Vollendung  des  Chores 
schritt,  dann  aber,  da  den  Chorherren  wiederum  die  Stätte  des  Dienstes  ge- 
sichert war,  den  Bau  ruhen  liess,  bis  ihn  die  Klage  des  Erzbischofs  vom 
Jahre  1274  wieder  in  Gang  brachte.  Ein  Leichenstein  im  Osten  des  Lang- 
hauses trägt  die  Jahreszahl  1294,  ein  anderer  im  Kreuzschiffe  aber  schon 
die  von  1266,  so  dass  also  dieses  zur  Zeit  jenes  Klagebriefes  schon  bestan- 
den haben  muss.  Ohne  Zweifel  war  zu  dieser  Zeit  der  Chor  schon  längst 
vollendet,  da  man  seiner  zuerst  bedurfte,  so  dass  wir  wohl  annehmen  dürfen, 
dass  auch  die  oberen  Theile  nicht  später  als  um  1240 — 1250  entstanden 
sind.  Auch  ist  die  Gewölbanlage  der  oberen  Chorhaube  noch  sehr  primitiv 
und  zeigt,  dass  die  Bedeutung  der  Rippen  noch  nicht  verstanden  war,  indem 
diese  mit  der  übrigens  schon  sehr  leicht  gehaltenen  Wölbung  nicht  in  Ver- 
bindung stehen,  sondern  sie  nur  als  diagonale  Gurtbögen  stützen^). 

Jedenfalls  war  der  gothische  Styl  in  seiner  reineren  Form  in  dieser 
Gegend  schon  um  1249  bekannt,  wie  dies  der  Westchor  des  Domes  zu 
Naumburg  beweist,  dessen  Errichtung  Bischof  Dietrich  in  seinem  bereits 
oben  erwähnten  offenen  Briefe  angekündiget  hatte.  Obgleich  der  Bau  erst 
im  Jahre  1254  sich  der  Unterstützung  durch  eine  IndulgenzbuUe  Papst 
Innocenz  III.  erfreute  und  beim  Tode  des  Bischofs  im  Jahre  1272  noch 
nicht  vollendet  war,  lag  doch  beim  Erlasse  des  Briefes  wahrscheinlich  schon 
der,  wenigstens  für  die  Anlage  ausreichende  Plan  vor.  Der  Chor,  einschiffig 
und  mit  drei  Seiten  des  Achteckes  abschliessend,  hat  entwickelte  Strebe- 
pfeiler mit  kleinen  Fialen,  hohe  zweitheilige  Fenster  mit  wohlgebildetem 
Maasswerk,  Bündelpfeiler  mit  leichten  Blattkapitälen  und  birnförmig  profi- 
lirte  Gewölbrippen  -),  Er  gehört  in  allen  Beziehungen  dem  reifen  gothischen 
Style  an  und  ist  eine  wohlgelungene  Leistung  desselben. 

Während  dieses  Baues  erhob  sich  aber  an  der  Nordseite  des  Harzes 
ein  sehr  viel  schöneres  und  wichtigeres  Monument,  der  Dom  zu  Halber- 
stadt, von  dessen  unter  der  Leitung  des  Propstes  Semeca  (1237 — 1245) 
durch  Errichtung  der  Thürme  an  der  Fagade  in  den  Formen  des  Ueber- 
gangsstyles  begonnenem  Neubau  wir  früher  (S.  354)  gesprochen  haben.  Ohne 
Zweifel  war,  da  man  an  der  Westseite  begann,  der  ältere  Chor  und  ein  Theil 


1)  S.  über  die  Geschichte  des  Domes  Rosenthal  Geschichte  derBaultunst  in  Crelle's 
Journal  Bd.  26,  S.  72,  und  im  besonderen  Abdrucke  III,  759,  so  wie  den  Text  zu  dem 
schon  oben  angeführten  Kupferwerlie  von  Clemens,  Mellin  und  Rosenthal.  Fr.  Wiggert 
der  Dom  zu  Magdeburg,  1815. 

'-)  Puttrich  I,   1,  Serie  Naumburg,  Taf.  4,  22,  23. 


Der  Dom    zu  Halberstadt.  '  435 

•des  Schiffes  zum  Behufe  des  Dienstes  aufrecht  gelassen,  so  dass  die  Fort- 
setzung nicht  drängte  und  nach  dem  Tode  jenes  eifrigen  Propstes  eine 
Unterbrechung  eintrat,  nach  welcher  der  Bau  dann  vom  Jahre  1252  an  und 
zwar  mit  Hülfe  einer  Reihe  von  Ablassbriefen  des  Kardinal-Legaten  und 
näherer  und  entfernterer  Bischöfe,  welche  bis  in  das  Jahr  1276  fortläuft, 
eifrigst  und  im  neuen  Style  fortgesetzt  wurde.  Dann  stockte  er  aufs  Neue ; 
erst  im  Jahre  1341  schritt  man  zur  inneren  Ausstattung  und  im  Jahre  1345 
zur  völligen  Vollendung,  also  muthmaasslich  zur  Ueberwölbung  des  Chores. 
Die  mittleren  Theile  waren  aber  noch  unvollendet,  so  dass  der  Bischof  sich 
im  Jahre  1366  zu  der  Maassregel  entschloss,  den  Domherren  einen  Theil 
ihrer  Einkünfte  zu  Gunsten  der  Kirchenfabrik  abzunöthigen.  Aus  der  Bau- 
zeit von  1252 — 1276,  die  uns  hier  interessirt,  stammen  die  drei  westlichsten 
Abtheilungen  des  Langhauses  vollständig,  die  östlichen  Theile  des  Langhauses 
aber,  deren  Ausführung  im  Inneren  und  Aeusseren  eine  spätere  Zeit  verräth, 
nur  der  Anlage  nach,  welche  man,  schon  um  den  Zusammenhang  des  Grund- 
risses zu  sichern,  nicht  bis  nach  der  Vollendung  des  Chores  aufgeschoben 
haben  wird  ^).  Ungeachtet  der  vielfachen  Unterbrechungen  des  Baues  ist 
das  Ganze  und  zwar  vermöge  der  ursprünglichen  Anlage  eines  der  edelsten 
"Werke  des  gothischen  Styles  aus  seiner  ersten  und  frischesten  Zeit.  Der 
Meister  hat  sich  offenbar  an  den  besten  Mustern  gebildet,  aber  seine  geistige 
Freiheit  bewahrt.  Von  der  hessischen  Schule  weicht  er  völlig  ab  und  bleibt 
wie  die  französischen  Meister  den  älteren  Traditionen  treuer;  das  Kreuz- 
schiff hat  rechtwinkelige  Anlage,  die  Seitenschiffe  sind  niedrig  gehalten. 
Er  hat  ein  durchgeführtes  Strebesystem,  Strebepfeiler  mit  Tabernakeln  und 
Fialen,  Strebebögen,  welche  die  steilabfallende  Wasserrinne  tragen,  beide 
an  den  drei  westlichen  Abtheilungen  noch  sehr  einfach  und  denen  der  Ka- 
thedrale von  Rheims  ähnlich,  an  den  mehr  östlich  gelegenen  Theilen  des 
Langhauses  und  am  Chore  dagegen  reicher,  aber  weniger  geschmackvoll. 
Die  \iertheiligen  Fenster  mit  regelmässigem  Maasswerk  füllen  den  Raum 
zwischen  den  Pfeilern  vollständig  aus,  dagegen  ist,  wie  es  in  Deutschland 
häufig  geschah,  das  Triforium  fortgelassen.  Die  Plananlage  hält  gewisser- 
maassen  die  Mitte  zwischen  französischer  und  deutscher  Weise.  Der  Chor 
ist  nämlich  von  Seitenschiffen  und  einem  Umgange  umgeben,  aber  nur  mit 
drei  Seiten  des  Achteckes  geschlossen,  ohne  Kapellenkranz.  Die  vereinzelte 
Kapelle  auf  der  östlichen  Schlussseite  des  Umganges  hatte  wohl  nicht  einma 
im  ursprünglichen  Plane  gelegen,  da  das  Kapitel  erst  in  einer  Urkunde  von 
1345  dem  Bischof  gegenüber  die  Verpflichtung  übernahm,  sie  an  Stelle  einer 


')  Vgl.  über  diese  gescliiclitliclien  Daten  Lucanus,  der  Dom  zu  Halberstadt,  1837 
(mit  Abbildung-en),  und  die  kritischen  Bemerkungen  in  Kugler's  kleinen  Schriften  I 
S.  480,  489.  —  Abbildungen  auch  in  Förster's  Denkmalen,   Bd.  VIH. 

2S* 


436 


Gothischer  Styl  in  Deutschland. 


anderen  behufs  des  Baues  abgebrochenen  Kapelle  zu  errichten.  Das  Kreuz- 
schiff hat  nur  die  Breite  des  Mittelschiffes  und  ist  ohne  Seitenschiffe ;  die- 
ungewöhnliche  Länge  des  Chores  machte  eine  grössere  Ausdehnung  entbehr- 
lich. Der  Plan  unterscheidet  sich  daher  charakteristisch  von  dem  der  fran- 
zösischen Kathedralen;  er  verfolgt  fast  ausschliesslich"  die  Längenrichtung . 
ist  minder  reich  und  mannigfaltig.  Wenn  das  innere  Heiligthum,  der  Chor- 
raum, dort  wie  im  weiten,  faltigen  Gewände  auftritt,  sieht  man  es  hier 
schlicht,  mit  enganschliessendem  Kleide.  Aber  diese  Beschränkung  giebt 
dem  Ganzen  eine  schlankere  Haltung  und  eine  edele  Einfachheit,  welche  nicht 
minder  anspricht  und  den  deutschen  Traditionen  zusagt.  Im  Inneren  finden  wir 
Pfeiler  runden  Kernes  mit  angelegten  Diensten,  doch  so,  dass  zwischen  den  vier 
stärkeren  sechs  kleinere  und  frei  angelegte  Säulen'),  und  zwar  auf  der 
Frontseite  je  zwei,  nach  den  Seitenschiffen  je  eine,  angebracht  sind.     Es  ist 

Fig.  115. 


Dom  zn  Hallierstadt. 

mithin,  wie  im  Domchore  zu  Köln,  jene  weiter  ausgebildete  kantonirte- 
Säule,  die  wir  in  Frankreich  etwa  um  1230  an  mehreren  Orten  fanden,  hier 
jedoch  mit  eigenthümlicber  und  sorgfältiger  Berücksichtigung  des  Bedürf- 
nisses der  verschiedenen  Gewölbgurten  angewendet.  Die  Dimensionen  sind 
minder  bedeutend  als  an  den  Kathedralen  von  Rheims  und  Amiens,  die  Ver- 
hältnisse aber  ganz  ähnlich;  die  Gewölbhöhe  (84Fuss)  übersteigt  zwar  nicht 
wie  dort  das  Dreifache  der  Mittelschiffbreite  (32),  sondern  bleibt  nicht  uner- 
heblich darunter,  aber  sie  hat  fast  das  Fünffache  der  Linie,  welche  haupt- 
sächlich als  Maassstab  der  Höhe  dient,  des  Pfeilerabstandes  von  Kern  zu 
Kern  (18),  und  das  Ganze  erscheint  um  so  leichter  und  schlanker,  als  der 
Kaum  zwischen  den  Scheidbögen  und  den  mächtigen  Oberlichtern  sehr  gering 


^)  So  findet  es  sich  an  den  dieser  Epoche  angehörigen  drei  westlichen  ,  während 
an  den  übrigen  späteren  Pfeilern  die  Dienste  mit  dem  Stamme  aus  einem  Stücke  ge- 
arbeitet inid  die  nach  dem  Mittelschift'  zn  liervortretenden  durch  kleine  Hohlkehlen 
verbundeu  sind. 


Der  Dom  zu  Halbcrstadt. 


437 


ist.  Die  Details  endlich  zeigen  durchweg  ein  feines  Verständniss  des  Ver- 
ticalprincips  und  zum  Theil  schon  weitere  Consequenzen ,  als  in  den  meisten 
gleichzeitigen  französischen  Bauten.  Die  Frontsäulen  der  Pfeiler  steigen 
ununterbrochen  zum  oberen  Gewölbe  hinauf,  die  Kapitale  sind  niedrig  und 
mit  leichtem  Blattwerk  verziert,  die  Basis  steht   auf  rautenförmiger  Plinthe 

Fig.  116. 


, 1- 


^ -I 


eo  iöBh.r 


Dom  zu  Halberstadt. 


•die  Gewölbgurten  sind  durchweg  schon  mit  tiefer  Unterhöhlung  birnförmig 
profilirt. 

Endlich  gehört  auch  noch  der  Dom  zu  Meissen^),    wenigstens  seiner 

')  PuttricU,  a.  a.O.  I,  2.Lief.  10—12.  —  Schwechten,derDonizu  M.  —  Förster, Denkm.l. 


^3g  Golhischer  Styl  in  Deutschland. 

Anlage  nach  and  in  einzelnen  Theilen,  dieser  Epoche  an,  obgleich  er  vor- 
herrschend das  Gepräge  des  vierzehnten  Jahrhunderts  trägt.  Bischof 
Witigo  I.  begann  wahrscheinlich  bald  nach  seiner  Erhebung  auf  den  bischöf- 
lichen Stuhl  im  Jahre  1266  den  Neubau  und  betrieb  ihn  mit  grossem  Eifer 
und  mit  Hülfe  zahlreicher  Ablassbriefe.  Einer  derselben  vom  Jahre  1272 
bezeichnet  das  neue  Werk  schon  als  ein  prachtvolles  (fabricam  opere  novo 
tarn  sumtuoso  inchoatam),  ein  anderer  von  1290  setzt  sogar  eine  theilweise 
Vollendung  voraus,  indem  der  Ablass  nur  ertheilt  wird,  um  die  Kirche  zu 
ehren  und  ihren  Besuch  zu  steigern  (ut  congruis  honoribus  veneretur,  et  a 
cunctis  fidelibus  jugiter  frequentetur).  Wahrscheinlich  waren,  als  der  Bau  nach 
Witigo's  Tode  1293  unterbrochen  wurde,  der  Chor  und  das  Kreuzschiff  im 
Wesentlichen  vollendet,  das  Langhaus  angelegt.  Bald  darauf  erlitt  aber  die 
Kirche  in  der  Fehde  zwischen  Friedrich  mit  der  gebissenen  Wange  und 
Adolph  von  Nassau  im  Jahre  1295  eine  in  diesen  Zeiten  ungewöhnliche  Ver- 
wüstung, und  dies  mag  erklären,  dass  nicht  nur  das  ganze  Langhaus,  son- 
dern auch  manche  Details  des  Chores  und  Kreuzschiffes,  z.  B.  das  Fenster- 
maasswerk,  den  Charakter  des  vierzehnten  Jahrhunderts  tragen.  Nach  dieser 
Zerstörung  wurde  erst  unter  Witigo  IL  (1312 — 1342)  der  Bau  wieder  auf- 
genommen und  das  Langhaus  ausgeführt;  erst  am  Ende  des  vierzehnten  und 
am  Anfange  des  fünfzehnten  kam  man  zur  Errichtung  des  westlichen  Thurm- 
baues.  Auch  die  Zierde  des  Domes,  der  schlanke  durchbrochene  Helm  eines 
der  beiden  schon  von  Witigo  L  in  den  Ecken  zwischen  Chor  und  Kreuz 
angelegten  Thürme,  ist  erst  gegen  das  Ende  des  vierzehnten  Jahrhunderts 
entstanden.  Der  Grundplan,  der  wie  gesagt  wahrscheinlich  schon  der  ersten 
Bauperiode  angehört  ^) ,  gleicht  einigermaassen  dem  des  Halberstädter 
Domes;  ein  dreischiffiges,  hier  nur  um  eine  Abtheilung  kürzeres  Langhaus^ 
wenig  ausladende  einschiffige  Kreuzarme,  ein  sehr  langer,  dreiseitig  aus  dem 
Achteck  geschlossener  Chor,  dem  indessen  hier  die  Seitenschiffe  und  der 
Umgang  fehlen.  Ein  wichtigerer  Unterschied  ist,  dass  das  Langhaus  hier 
nicht,  wie  in  Halberstadt,  niedrige,  sondern  dem  Mittelschiff  an  Höhe  gleiche 
Seitenschiffe  hat ;  allein  offenbar  war  dies  bei  der  ersten  Anlage  nicht  beab- 
sichtigt, sondern  erst  im  vierzehnten  Jahrhundert  bei  der  Ausführung  dieses 
Theiles  auf  den  bereits  gelegten  Fundamenten  beschlossen.  Schon  die  Enge 
der  Seitenschiffe  und  des  Pfeilerabstandes,  beide  genau  von  halber  Mittel- 
■schiffbreite  -),  noch  mehr  aber  die  Gestalt  des  Pfeilerkernes,  der  nicht,  wie 


1)  Die  bedeutende  Stärke  der  Mauern  im  ganzen  Gebäude  mit  Ausnahme  von  vier 
Abtheilung-en  dernördlichen  Wand,  welche  leichter  gehauen  sind,  lässt  darauf  schliessen, 
dass  jene  bis  auf  diesen  kleinen  Theil  schon  unter  Witigo  I.  über  die  Fundamente- 
hinausgeführt waren. 

-)  Zwar  hat  die  Elisabelhkircbe  in  Marburg  dasselbe  Verhältniss,  allein  in  spätere» 
Hallenkirchen  gab  man  fast  immer  den  Seitenschiffen  und  dem  Abstände  grössere  Breite. 


Der  Dom  zu  Meissen.  439 

es  diesem  Systeme  entspricht,  rund  oder  poIygon  ist,  sondern  ein  im  Sinne 
der  Breitenrichtung  schmales  Rechteck  bildet,  deuten  darauf  hin,  dass  man 
bei  ihrer  Anlegung  nicht  an  eine  Hallenkirche  dachte.  Die  Aufgabe,  diese 
ungünstigen  Grundformen  zu  einer  solchen  zu  verwenden,  hat  daher  auch 
manche  Eigenthümlichkeiten  hervorgebracht,  welche  diesen  Bau  von  anderen 
Kirchen  dieses  Systems  unterscheiden,  auf  die  ich  aber  erst  in  der  nächsten 
Epoche  näher  eingehen  werde.  Der  gegenwärtigen  gehören  ausser  dem  Chore 
zwei  Kapellen  an,  die  Johanniskapelle  und  die  an  den  späteren  Kreuzgang 
anstossende  Magdalenenkapelle.  Jene  ist  offenbar  die  ältere ,  achteckig, 
äusserlich  durch  ein  einfaches  Gesims  in  zwei  Geschosse  getheilt  und  daher 
mit  zwei  Reihen  kleiner  Fenster  ausgestattet,  deren  Maasswerk  aus  zwei 
Kleeblattbögen  und  einem  einfachen  Kreise  besteht;  im  Innern  durch  wohl- 
gebildete Wandpfeiler  und  Gewölbrippen,  durch  eine  am  Fusse  der  Wand 
hinlaufende  Arcatur  mit  inneren  Kleeblattbögen  verziert,  mit  schlanken, 
kelchförmigen  Kapitalen  mit  zwei  Blattreihen,  durchweg  im  reinen  und  noch 
strengen  Style  früher  Gothik,  entspricht  sie  völlig  der  Zeit  um  1266.  Ganz 
ähnlich  ist  im  Inneren  des  Chores  die  Bildung  der  Wandpfeiler  und  der  als 
Rücklehnen  der  Chorstühle  dienenden  Arcaden.  Die  Magdalenenkapelle 
endlich,  die  schon  1274  als  bestehend  erwähnt  wird  ^),  hat  bei  übrigens  sehr 
strenger,  gothischer  Form  in  ihren  hohen  zwei-  und  viertheiligen  Fenstern 
völlig  ausgebildetes  Maasswerk  von  reinster  und  edelster  Art. 

Wir  sehen  daher  an  diesen  Domen  den  gothischen  Styl  zwar  nicht  mit 
der  genauen  Nachbildung  französischer  Weise,  wie  am  Rheine,  aber  doch 
mit  näherem  Anschluss  an  dieselbe,  als  in  Hessen  und  Westphalen,  und  mit 
vollstem  Verständniss  seines  Priucips  angewendet.  Nur  darin  bemerken  wir 
einen  wesentlichen  Unterschied,  dass  statt  des  Kapellenkranzes  (mit  Ausnahme 
des  frühen  Versuchs  in  Magdeburg)  stets  die  einfache  polygone  Chornische 
angewendet  und  das  Kreuz  einschiffig  gehalten  ist,  dass  also  statt  der  breiten 
und  massenhaften  Grundverhältnissc  der  französischen  Kirchen  die  Längen- 
richtung vorwaltet;  eine  Aenderung,  welche  wohl  zunächst  aus  Sparsamkeit 
und  aus  der  Gewöhnung  an  schlichtere  Formen  hervorging,  zugleich  aber 
doch  auch  wenigstens  in  der  Erscheinung  des  Aeusseren  dazu  beitrug,  das 
Moment  schlanken,  verticalen  Aufsteigens  zu  betonen. 

An  den  anderen  Kathedralen  und  Stiftern  des  Sachsenlandes  bestanden 
die  älteren  Kirchen  noch  in  guter  Erhaltung,  so  dass  an  ihnen  wenigstens 
keine  grösseren  Bauten  in  dieser  Zeit  unternommen  wurden.  Doch  zeigt  der 
schöne  Kreuzgang  am  Dome  zu  Erfurt  2),  wie  sich  hier  unmittelbar  an 
die  Ausübung  des  reichen  spätromanischen  Styles  eine  freie  und  elegante 


1)  Puttrich  a.  a.  0.  S.  24,  Taf.  4  und  5  a. 

2)  Puttrich  II,  2,  Lief   28  —  30,  Taf.  7,  8. 


440  Gotbischer  Styl  in  Deutschland. 

Gothik  anschloss.  Einzelne  der  viertheiligen  Lichtöffnungen  haben  nämlich 
noch  ganz  romanische  Säulen,  das  Eckblatt  der  Basis  und  die  üppig  aus- 
ladenden Kelchkapitäle  mit  romanischen  Ranken,  doch  ist  das  Bogenfeld 
schon  durch  offene  Kreise  durchbrochen.  Andere  und  zwar  an  derselben 
Seite  des  Kreuzganges  zeigen  dagegen  reinen  gothischen  Styl,  Säulchen  mit 
schlanken,  reizend  ausgeführten  Kapitalen,  freie  Blattkränze,  wohl  gebildetes, 
wenn  auch  noch  primitives  Maasswerk.  Der  gothische  Styl  scheint  daher 
während  der  Arbeit  eingedrungen  zu  sein. 

Die  Neigung  der  Städte,  sich  mit  grösseren  Kirchen  zu  schmücken, 
begann  hier  erst  im  folgenden  Jahrhundert ;  die  meisten  Bauten  gingen  jetzt 
noch  von  Klöstern  aus,  hauptsächlich  aber  von  den  Bettelorden,  welche  gleich 
nach  ihrer  Stiftung  auch  in  Deutschland  zahlreiche  Niederlassungen  grün- 
deten, und  in  der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  so  viel  Einiiuss 
und  Mittel  erlangt  hatten,  um  grössere  Kirchen  zu  errichten.  Wie  früher 
die  Cistercienser  schlössen  sie  sich  an  den  der  Entstehung  ihres  Ordens 
gleichzeitigen  Styl  an ;  hatten  diese  in  einem  mit  den  ersten  Elementen  des 
Gothischen  gemischten  Uebergangsstyle  gebaut,  so  nahmen  sie  den  reifen 
und  principiellen  gothischen  Styl  an.  Es  ist  bemerkenswerth,dass  die  italienischen 
Kirchen  dieser  Orden,  namentlich  zuerst  die  Kirche  des  h.  Franziscus  zu  Assisi, 
darin  den  Bauten  diesseits  der  Alpen  mit  ihrem  Beispiele  vorangingen.  Zwar 
bildeten  diese  Orden  nicht,  wie  die  strenger  disciplinirten  Cistercienser,  eine 
eigene  Bauschule  aus,  aber  schon  aus  ihren  Verhältnissen  ergaben  sich  auch  bei 
ihnen  gewisse  Modificationen  des  allgemeinen  baulichen  Herkommens.  Sie 
waren  völlig  demokratische  Institute,  aus  dem  Volke  hervorgegangen  und 
mit  demselben  in  engster  Berührung;  sie  standen  in  offener  Opposition  gegen 
den  Reichthum  des  Klerus  und  mussten  daher  selbst  den  Schein  der  Ueppig- 
keit  und  Eleganz  meiden ;  ihre  ganze  Richtung  war  eine  praktische,  alle 
Formen,  welche  mehr  eine  symbolische  Bedeutung  hatten  oder  nur  als 
herkömmlich  und  anständig  beibehalten  wurden,  erschienen  ihnen  überflüssig. 
Das  Kreuzschiff  blieb  daher  fort,  Thürme  erschienen  entbehrlich,  alle  Details 
wurden  auf  ihre  einfachste  Gestalt  reducirt  und,  da  sie  eilig  bauten,  meistens 
roh  ausgeführt.  Auch  die  herkömmlichen  Verhältnisse  der  gothischen  Plan- 
anlage erlitten  bei  ihnen  manche  Aenderungen.  Umgang  und  Kapellenkranz 
des  Chores  kommen  nicht  vor,  der  einfache  Polygonschluss  genügte;  auf  die 
schlanke  Gestalt  der  Wandfelder  verzichteten  sie  und  zogen  vor,  durch 
erweiterte  Pfeilerstellung  Raum  zu  gewinnen  und  Material  zu  sparen^).  Aber 
bei  alledem  machen  ihre  in  dieser  Frühzeit  des  gothischen  Styles  entstan- 


1)  Es  ist  nicht  unmöglich,  dass  diese  weite  Pfeilerstellung  von  den  Ordensbauten 
in  Italien,  wo  eine  solche  Anordnung  allgemein  vorherrschte,  auf  die  diesseitigen  Kloster- 
kirchen übergegangen  ist. 


Prpdifi;er-  iiiid  Barfiisserkirche  in  Erfurt.  441 

denen  Kirchen   durch  ihre   einfachen,  übersichtlichen  und  luftigen  Verliält- 
nisse  einen  sehr  günstigen  Eindruck. 

Zu  den  schöneren  Bauten  dieser  Orden  in  Deutschland  gehören  die 
einander  sehr  ähnlichen  Kirchen  der  Dominicaner  und  Franziscaner  (der 
Prediger  und  Barfüsser)  in  Erfurt.  Beide  stammen  zwar  gewiss  nicht 
aus  den  Stiftungsjahren  der  Klöster  (1228  und  1232),  wohl  aber  werden  sie 
um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  begonnen  sein,  wie  denn  die  Reihe  der 
Gräber  in  der  Predigerkirche  mit  einem  vom  Jahre  1266,  in  der  Barfüsser- 
kirche'mit  dem  des  im  Jahre  1260  verstorbenen  Erzbischofs  Gerhard  von 
Mainz  anhebt,  dessen  Bestattung  offenbar  nur  bei  vorhergegangener  Voll- 
endung wenigstens  eines  ansehnlichen  Theiles  der  Kirche,  etwa  des  Chores, 
erfolgen  konnte.  Dieser  Chor,  einschiffig  und  dreiseitig  aus  dem  Achteck 
geschlossen,  mit  wohlgebildeten  Wandpfeilern,  Gurtprofilen  und  Rippenkapi- 
tälen,  und  mit  schlanken  dreitheiligen  Fenstern,  die  oberhalb  der  drei  gleichen 
Lancetbögen  ziemlich  derbes  Maasswerk  haben  ^  i,  entspricht  in  jeder  Beziehung 
dieser  Bauzeit  und  scheint  etwas  älter  als  das  Langhaus.  Die  Anordnung 
ist  in  beiden  Kirchen  fast  dieselbe;  ein  Langhaus  ohne  Querschiff,  aber  von 
bedeutender  Länge,  die  nicht  durch  die  Zahl  der  Abtheilungen,  sondern  da- 
durch bedingt  ist,  dass  der  Pfeilerabstand  fast  die  Breite  des  Mittelschiffes 
erreicht.  Jede  Abtheilung  ist  daher  auch  bei  der  späteren  Ueberwölbung 
durch  zwei  schmale  Kreuzgewölbe  bedeckt,  deren  trennender  Quergurt  auf 
einer  über  der  Spitze  des  hochaufsteigenden  Scheidbogens  angebrachten 
Console  ruht,  welche  in  der  Barfüsserkirche  mit  den  an  den  eckigen  Pfeilern 
aufsteigenden  Diensten  alternirt,  während  in  der  Predigerkirche  schon  acht- 
eckige Pfeiler  vorkommen.  Die  ganze  Länge  besteht  also  in  beiden  Kirchen 
aus  sechszehn  sehr  schmalen  Gewölben,  und  zählt  auf  jeder  Seite  eben  so 
viele  Fenster.  Die  Seitenschiffe  haben  zwar  nur  halbe  Mittelschifl'breite, 
aber,  in  Folge  des  grossen  Aufschwunges  der  weiten  Schildbögen,  eine  mehr 
als  gewöhnliche  Höhe,  so  dass  die  Oberlichter  sehr  klein  sind.  Die  Anlage 
hält  also  gewissermaassen  die  Mitte  zwischen  der  hergebrachten  Basiliken- 
form und  der  Hallenkirche.  Das  bewegende  Motiv  ist  offenbar  die  durch 
die  weite  Spannung  der  Scheidbögen  erlangte  Ersparung  von  Pfeilern ;  die 
Kenntniss  von  der  Tragekraft  des  Spitzbogens  und  der  Wirkung  der  Strebe- 
pfeiler ist  also  hier  in  eigenthümlicher  Weise  zur  Verminderung  der  Mauer- 
massen benutzt.  Die  Profilirung  der  Scheidbögen  und  Gurten  und  die  Be- 
handlung der  Kapitale  ist  rein  gothisch,  wenn  auch  sehr  einfach  und  fast 
roh,  und  der  Totaleindruck  beider  Kirchen  durch  ihre  klaren  und  harmoni- 
schen Verhältnisse  ein  völlig  befriedigender.  —  Ganz  übereinstimmend  ist 
der  Chor  der  Seyeri-Stiftskirche  in  Erfurt,  vom  Jahre  1279,  behandelt, 


')  Eine  Iniieiiausiclit  bei   Puttricli  a.  a.  0.,  Taf.  16. 


4A2  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

an  welchen  im  14.  Jahrhundert  ein  Langhaus  in  Gestalt  einer  Hallenkirche 
gefügt  wurde. 

Die  Benedictiner  waren  meist  im  Besitze  älterer  Kirchen;  gothische 
Bauten  kommen  bei  ihnen  selten  vor.     Wo  sie  aber  nothwendig  wurden, 
bewährt  sich  auch  jetzt  noch  die  grössere  Prachtliebe  dieses  älteren  Ordens. 
Dies  beweist  die  Kirche  des  Benedictinerklosters   St.  Aegidien  zu  Braun- 
schweig, welche  nach  einem  zerstörenden  Brande  vom  Jahre  1278  sogleich  ^j 
in  Angriff  genommen  wurde.   Der  Chor  ist  augenscheinlich  der  älteste  Theil 
und  wahrscheinlich  nebst  dem  wenig  ausladenden  Kreuzschiffe   noch  in  die- 
sem Jahrhundert  vollendet;   er  hat    niedrige  Seitenschiffe,   den  Schluss  mit 
drei  Seiten  des  Achteckes,  aber  auch  einen  Umgang  und  Kapellen,  das  erste 
Beispiel   einer   solchen  Anlage  in   diesen    Gegenden.     Indessen  geben  diese 
Kapellen    keinen  wirklichen  Kapellenkranz,  sondern  werden  nur  durch  die 
in  das  Innere  gezogenen  Strebepfeiler  gebildet,  und  erscheinen  äusserlich 
wiederum  nur  als  dreiseitiger  Schluss  des  Umganges.     Da  der  Boden  hinter 
dem  inneren  Chore  sich  senkt  und  der  ganze  Umgang  tiefer  liegt,   so  mag 
dies  die  Veranlassung  für  diese  ungewöhnliche  Anordnung  gewesen  sein.  Die 
Pfeiler  sind  runden  Kernes  mit   vier  grösseren  und   vier  kleineren  Diensten, 
die   kelchförmigen  Kapitale  mit  freianliegendem   Blattwerk,   die   der  Chor- 
kapellen jedoch   noch  nach  romanischer  Weise   mit  phantastischen  Thierge- 
stalten  geschmückt.     Auch  die  Basis  hat  hier  noch  Formen  des  Uebergangs- 
styles,  indem  sie  aus  einem  Wulst  und  einer  Rinne  besteht.  Die  Pfosten  der 
Fenster  sind  noch  mit  Basis  und  Kapital  versehen ;  das  Maasswerk  ist  über- 
haupt noch  sehr  primitiv,  rund  profilirt  und   ohne  Nasenwerk.     Die  Strebe- 
pfeiler des  Chorumganges  sind  mit  schwerfälligen  Fialen  belastet  und  stützen 
den  oberen  Chor  durch  einfache  Strebebögen,  welche  mit  dem  Dachgesimse 
durch  rundgeformte  Lisenen  verbunden  sind.     Das  Portal   des  Kreuzschiffes 
ist  von   gothischen  Säulchen   und  birnförmig    profilirten   Gurten    eingefasst, 
über   demselben  befindet  sich   aber    noch   ein  Fries  von  gebrochenen,    auf 
Consolen  ruhenden  Bögen.  Das  Langhaus,  wahrscheinlich  erst  im  vierzehnten 
Jahrhundert  hinzugefügt 2),  hat  Hallenform,  schliesst  sich  aber  in  allen  Details 
dem  Chore  an,  nur  überall  mit  Veränderung  im  Geiste  der  Gothik  des  vier- 
zehnten Jahrhunderts.     Der  Sockel  ist  polygonförmig  gestaltet,   während  er 
dort  rund  ist,  die  anliegenden  Dienste  sind  durch   feinere  Glieder  mehr  mit 


1)  Beides  ergiebt  sich  daraus ,  dass  noch  in  demselben  Jahre  ein  Ablassbrief 
erlassen  wurde,  welcher  das  coenobium  als  cum  omnibus  aedificiis  et  officinis  suis  in- 
cendio  miserabiliter  lacrimabiüter  destructum  bezeichnet.  Nachrichten  über  diese  Kirche 
und  Beschreibung  derselben  bei  Dr.  Schiller,  die  mittelalterliche  Architektur  Braun- 
schweigs,  S.   119  ff. 

-)  An  der  letzten  Säule  nach  Westen  ist  sogar  die  Jahreszahl  1434  eingehauen, 
welche  indessen  vielleicht  auf  eine  Reparatur  hindeutet. 


Schwaben.  443 

dem  runden  Kerne  verschmolzen,  das  Maasswerk  der  Fenster  ist  scharf- 
kantig und  durch  Nasenwerk  und  eingelegte  Pässe  verziert.  Sehr  auffallend 
ist  die  Nachlässigkeit,  mit  der  man  bei  der  Ausführung  des  Grundplanes 
verfahren,  überall  finden  sich  Abweichungen  von  den  Maassen  oder  von  der 
Fluchtlinie  ^).  Dessen  ungeachtet  machen  die  schönen,  luftigen  Verhältnisse, 
die  schlanken  Formen,  die  zierlichen  Details  einen  überaus  günstigen,  heiteren 
Eindruck.  Wir  sehen  daher  hier  den  gothischen  Styl,  wenn  auch  mit  Bei- 
behaltung einiger  beliebter  romanischer  Details,  wie  des  Bogenfrieses  und 
der  Thiersculpturen,  mit  grosser  Sicherheit,  ja  selbst  schon  fast  mit  über- 
müthiger  Sorglosigkeit  angewendet. 


In  Schwaben-)  fand  der  gothische  Styl,  ungeachtet  des  Beispiels,, 
welches  das  Freiburger  Münster  gab,  keine  sehr  eifrige  Aufnahme.  Kurz 
vorher,  im  zweiten  Viertel  des  Jahrhunderts,  hatte  sich  hier  ein  Uebergangs- 
styl  gebildet,  welcher  zwar  in  der  Anordnung  und  in  den  Hauptgliedern 
ziemlich  nüchterne  Formen  annahm,  die  gerade  Decke,  einfache  achteckige 
Pfeiler,  den  Spitzbogen  in  strenger  Form  und  mit  eckiger  Leibung,  dabei 
aber  in  der  Ausschmückung  des  Aeusseren  mit  Arcaden  und  in  der  Ausstat- 
tung der  Kapitale  mit  phantastischen  Ornamenten  und  Thiergestalten 
malerische  Effecte  zu  erreichen  wusste,  welche  dem  mehr  poetisch  als  archi- 
tektonisch begabten  Stamme  zusagten  und  ihn  fesselten.  Beispiele  desselben 
sind  die  Dionysiuskirche  zu  Esslingen,  gegen  Ende  des  13.  Jahrhun- 
derts vollendet,  und  die  Regiswindenkirche  zu  Lauffen  am  Neckar.  Nur 
die  neugestifteten  Klöster  der  Bettelorden  errichteten  ihre  Kirchen  in  dem 
nach  ihrer  Weise  vereinfachten  gothischen  Style.  Die  Kirche  der  Domi- 
nicaner zu  Esslingen,  St.  Paul,  welche  nach  der  Gründung  des  Klosters 
im  Jahre  1233  begonnen  und  1268  vollendet  wurde,  ist  durchweg  gewölbt, 
mit  weitgespannten  Scheidbögen  auf  derben  Rundsäulen  und  mit  zweitheiligen 
Fenstern,  die  an  Stelle  des  Maasswerkes  nur  eine  kreisförmige  Oeffnung  im 
Bogenfelde  haben.  Edlere  Formen  hatte,  nach  dem  allein  noch  stehenge- 
bliebenen Chore  zu  urtheilen,  die  Franziscanerkirche  derselben  Stadt, 
die  wahrscheinlich  mehrere  Decennien  nach  der  im  Jahre  1237  erfolgten 
Stiftung  des  Klosters  erbaut  wurde.  Hier  zuerst  finden  wir  wirkliche  Maass- 
werkfenster und  das  scharfe,  elastische  gothische  Profil.  Das  Langhaus 
war  übrigens  auch   hier,   den   erhaltenen  Nachrichten   zufolge,   durch  Rund- 


1)  Wie  der  bei  Schiller  a.  a.  0.  mitgetheilte  Grundriss  erg-iebt.  Die  Fundamente 
sind  nur  einige  Fuss  tief  und  scheinen  immer  erst  allmälig  beim  Fortschreiten  des 
Baues  gelegt  zu  sein,  was  dann  jene  Unregelmässigkeit  erklärbar  macht. 

")  Heideloff' ,  die  Kunst  des  Mittelalters  in  Schwaben  ,  fortgesetzt  von  Fr.  Müller. 
Zusammenhängende  Nachrichten  giebt  aber  nur  der  Aufsatz  von  Merz  ,  Kunstbl.  1845, 
Nr.  84  S.  —  Vgl.  auch  Lübke,  im  Deutschen  Kunstbl.,  1855,  S.  410. 


AA^  Gothischer  Styl  in  Deutschlant!. 

Säulen  gestützt.  Dieser  Vorgänge  ungeachtet  behielt  man  aber  in  der  Nonnen- 
kirche Gnadenthal  bei  Schwäbisch-Hall  (begonnen  um  1245)  neben 
gothischen  Einzelheiten  und  Profilen  auch  jetzt  noch  die  gerade  Decke,  den 
achteckigen  Pfeiler,  den  Bogeufries  und  andere  romanische  Details  bei.  Man 
kann  diese  auffallende  Erscheinung  nur  dadurch  erklären,  dass  der  Volks- 
sinn mit  einer  fast  eigensinnigen  Anhänglichkeit  an  jenen  hergebrachten, 
schlichten  Formen  haftete  und  die  consequente  und  solide  Arbeit  derGothik 
als  eiteln  Prunk  betrachtete.  Endlich  hat  diese  Kirche  auch  den  geraden 
Chorschluss,  eine  Eigenthümlichkeit,  die  sie  mit  der  1247 — 1343  erbauten 
Marienkirche  zu  Reutlingen  ^)  theilt.  Diese,  vielfach  noch  streng  in 
den  Formen,  zeigt  doch  schon  eine  reine  und  ausgebildete  Gothik.  Die 
achteckigen  Pfeiler  sind  beibehalten,  die  schlanken,  einfachen  Fenster  sind 
im  Oberschiife  zu  zweien,  in  den  Seitenschiffen  und  am  Chorschluss  zu  dreien 
gruppirt,  und  unter  dem  Kranzgesimse  des  Mittelschiffs  zieht  sich  noch  ein 
Spitzbogenfries  hin,  aber  die  Bögen  der  Arcaden  sind  schon  reicher  geglie- 
dert, die  Strebepfeiler  mit  ihren  Fialen  von  eleganter  Behandlung. 

Einen  sehr  abweichenden  Charakter  trägt  die  Stiftskirche  St.  Peter  zu 
Wimpfen  im  Thal,  indem  wir  hier  statt  der  provinziellen  Eigenthümlich- 
keiten  Formen  antreffen,  welche  auf  einen  unmittelbaren  Einfluss  der  fran- 
zösischen Gothik  deuten.  Eine  Nachricht,  Avelche  wir  darüber  besitzen, 
giebt  nicht  nur  die  Erklärung  dieser  Erscheinung,  sondern  auch  einen  merk- 
würdigen Beweis,  dass  man  sich  hier  völlig  bewusst  war,  dass  der  gothische 
Styl  kein  deutsches  Erzeugniss  sei,  sondern  aus  Frankreich  stamme.  Richard 
von  Ditenstein,  Dechant  dieses  ritterlichen  Stiftes  Wimpfen  am  Neckar 
während  der  Jahre  1261 — 1278,  Hess  die  alte  und  baufällige  Kirche  ab- 
brechen und  eine  neue  erbauen;  einer  seiner  Nachfolger,  der  schon  im 
Jahre  1300  starb  und  folglich  sehr  genau  unterrichtet  sein  musste,  erzählt 
diesen  Hergang  in  seiner  Chronik  und  bemerkt,  dass  Richard  zu  diesem 
Zwecke  einen  Baumeister,  der  erst  kürzlich  aus  Frankreich  und  namentlich 
aus  Paris  gekommen,  herbeigerufen  habe,  um  sie  in  französischer  Arbeit 
auszuführen.  Das  Werk,  fügt  er  zu,  innen  und  aussen  mit  Bildsäulen  von 
Heiligen,  an  Fenstern  und  Säulen  mit  erhabener  Arbeit  kostbar  geschmückt, 
sei  von  dem  von  allen  Seiten  herbeiströmenden  Volke  bewundert  worden 
und  habe  dem  Künstler  Ruhm   verschafft  \     Die  Kirche   besteht  noch   und 


^)  Abbildungen  in  Laib  und  Schwarz,  Formenlehre  des  romanischen  und  gothischen 
Baustyls,  2.  Autl.,  1858,  Taf.  VII  u.  VIII.  —  Die  gerade  Decke  an  Stelle  der  urspriing- 
lichen  Kreuzgewölbe  in  den  Seitenschiffen  rührt  nur  von  der  Herstellung  nach  einem 
Brande  von  1726  her. 

-)  F.  H.  Müller  hat  das  Verdienst,  in  seinen  Beiträgen  zur  deutschen  Kunst-  und 
<ieschichtskunde,  Bd.  I,  S.  73,   zuerst  auf  diese,   in  Burchard's  de  Hallis  Chronicon  bei 


Stiftskirclie  zu  Wimpfen  im  Thal.  44& 

ist,  bis  auf  die  älteren  romanischen  Westthürme,  in  reinem  gothischem  Style 
und  in  edlen  Verhältnissen  gebaut,  mit  runden,  von  vier  stärkeren  und  vier 
schwächeren  Diensten  besetzten  Pfeilern,  mit  zierlichem  Laubwerk  an  den 
Kapitalen,  während  die  Arcaden  und  die  Vierungsbögen  von  glatten,  aber 
durch  Einschnitte  in  drei  Bänder  zerlegten  Gurten,  also  in  ungewöhnlicher 
Form,  unterspannt  sind.  Das  Strebewerk,  welches  freilich  erst  durch  eine  neuere 
Eestauration  vollendet  wurde,  ist  bereits  von  eleganter  Durchbildung,  indem 
die  Strebebögen  wie  in  Amiens  von  einer  Arcatur  durchbrochen  sind  ^).  Die 
Fenster  des  Langhauses  wie  des  Chors  und  der  kleinen  Nebenapsiden  sind 
zweitheilig  und  schmal,  und  nach  demselben  Systeme  ist  das  sechstheilige 
Fenster  des  südlichen  Querarmes  angeordnet,  das  hier  inmitten  einer 
reichen  Fa^adenarchitektur,  über  einem  schönen  Portal  mit  Sculpturen  und 
zwischen  Blenden  und  einer  Arcadenreihe  mit  Statuen  steht.  Diese  Chro- 
nikenstelle ist  allerdings  vereinzelt,  aber  ihr  Ton  und  ihre  Worte  lassen 
darauf  schliessen,  dass  sie  einen  sehr  gewöhnlichen  Hergang  erzählt,  der 
sich  aus  der  ganzen  Lage  der  Dinge  ergab,  und  in  anderen  Fällen  nur  des- 
halb verschwiegen  ist,  weil  er  alltäglich  war  und  weil  die  Geschichtsschrei- 
ber des  dreizehnten  Jahrhunderts  sich  mit  künstlerischen  Dingen  nicht  viel 
beschäftigten.  Dass  jener  Baumeister  ein  Franzose  gewesen,  ist  nicht  anzu- 
nehmen, der  Chronist  würde  es  seinem  Zwecke  gemäss  erwähnt  haben.  Seine 
Bemerkung,  dass  er  erst  kürzlich  aus  Frankreich  gekommen,  deutet  vielmehr 
auf  einen  deutschen  Künstler,  bei  dem  man  darauf  Werth  legte,  dass  seine 
Studien  frisch  und  nicht  durch  die  erneuerten  Eindrücke  der  Heimath  ver- 
wischt waren.  Wenn  also  die  Bauherren  den  fremden  Styl  ausdrücklich 
forderten,  wenn  sie  denen,  die  ihn  an  der  Quelle  kennen  gelernt  hatten,  den 
Vorzug  gaben,  so  war  es  natürlich,  dass  die  strebenden  Meister  und  Ge- 
sellen sich  die  Wanderung  nach  Frankreich  zur  Regel  machten,  sie  wo- 
möglich  wiederholten.     Auch   ergiebt   der  Umstand,   dass  unser  baulustiger 


Schannat  Vindemiae  litterariae  II,  p.  59  abgedruckte  Stelle  aufmerksam  gemacht  zu 
haben.  Sie  lautet:  Monasterium  nimia  vetustate  ruinosum  diruit,  acciloque  peritissimo 
architecturae  artis  latomo,  qui  tunc  noviter  de  villa  Parisiensi  e  partibus  venerat  Fran- 
ciae ,  opere  Francigeno  Basilicam  ex  sectis  lapidibus  construi  jus&it:  idem  vero 
artifex  mirabilis  ßasihcam,  iconis  Sanctorum  intus  et  exterius  ornatissime  distinctam, 
fenestras  et  columnas  anaglici  (ohne  Zweifel  für  anaglyphi)  operis  multo  sudore  et 
sumptuosis  fecerat  expensis,  sicut  usque  hodie  —  apparet.  Populis  itaque  undique 
advenientibus,  mirantur  tarn  opus  egregium,  laudant  artifieem  ,  venerantur  Dei  servum 
Richardum  etc. 

^)  An  den  restanrirten  Partien  hat  man  Maasswerk  statt  der  Arcatur  angewendet. 
Kurze  Bemerkungen  über  diese  Kiiche  giebt  auch  Kugler  kl.  Sehr.  I,  96,  und  Geschichte 
der  Baukunst,  111,  S.  296.  —  Vgl.  A  v.  Lorent,  Wimpfen  am  Neckar.  Geschichtlicli 
und  topographisch  dargestellt,  Stuttgart  1870,  nebst  photographischem  Album. 


446  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

Dechant  so  schnell  einen  Rückkehrenden  ermittelte,  dass  dergleichen  Stu- 
dienreisen sehr  häufig  gewesen  sein  müssen.  Daraus  erklärt  sich  denn  auch, 
dass  wir  am  Strassburger  und  Kölner  Dome  schon  eine  Beziehung  auf  kurz 
vorher  entstandene  oder  gar  noch  in  der  Ausführung  begriffene  französische 
Bauten,  an  den  oberen  Stockwerken  des  letzten  auch  auf  solche  Theile  jener 
Bauten  finden ,  welche  bei  der  Gründung  des  Chores  noch  nicht  ausge- 
führt waren. 

In  der  schönsten  und  reichsten  Entwicklung  finden  wir  endlich  den 
gothischen  Styl  in  der  Cistercienserkirche  zu  Salem  (oder  Salmansweiler) 
bei  Mörsburg  am  Bodensee.  Abt  Ulrich  IL  (1282 — 1311)  liess  die  vorhan- 
dene alte  Klosterkirche  abreissen  und  setzte  an  ihre  Stelle  einen  „edlen  und 
kunstvollen  Bau",  dessen  Grundstein  1297  gelegt  wurde.  So  eifrig  er  das 
Werk  betrieb,  so  war  es  doch  bei  seinem  Tode  noch  nicht  vollendet;  das 
reiche  achttheilige  Fenster  des  nördlichen  Queurhausarmes  trägt  das  Ge- 
präge vom  Anfange  des  vierzehnten  Jahrhunderts,  der  Chor  zeigt  sogar  noch 
spätere  Formen  und  die  Weihe  des  Ganzen  erfolgte  erst  1414  ^).  Aber  die 
Anlage  und  der  Aufbau  gehören  im  Wesentlichen  noch  der  ersten  Bauzeit 
an  und  geben  ein  neues  Beispiel  des  erfinderischen  (jeistes,  der  sich  in  der 
Bauschule  dieses  Ordens  auch  jetzt  noch  erhalten  hatte.  Die  Arcaden  werden 
von  höchst  eigenthümlich  gestreckten  fünfseitigen  Pfeilern  getragen,  welche 
wegen  ihrer  bedeutenden  Tiefe  unter  sich  durch  besondere  schmale  Kreuz- 
gewölbe verbunden  sind  und  welche  gegen  das  Mittelschiff  eine  glatte  Wand 
bilden,  an  der  erst  in  einer  gewissen  Höhe  die  Gliederung  der  Ecken  und 
das  Aufsteigen  der  ausgekragten  gewölbetragenden  Dienste  beginnt.  Auf 
ein  sehr  breites,  einschiffiges  Querhaus  folgt  dann  ein  Chor  mit  schlanken 
Pfeilern  und  von  fünfschiffiger  Anlage,  nach  Brauch  des  Cistercienserordens 
durch  eine  gerade  Wand,  die  von  einer  Rose  durchbrochen  ist,  geschlossen. 
Das  Fenstermaasswerk  und  die  Strebepfeiler  zeigen  "bei  der  Schlichtheit, 
welche  die  Ordenssitte  verlangt,  durchgängig  schöne  und  correcte  Ausbil- 


')  Jongelinus,  Notitia  abbatiarura  Ordinis  Cist.  Col.  1640,  II  p.  92,  93.  —  Nach- 
träge zu  den  Haus-Annalen  von  Salem,  herausgegeben  von  Bader  in  Bd.  24  der  Zeit- 
schrift für  Geschichte  des  Oberrheins,  Carlsruhe  1872:  „Anno  domini  MCCXCVII 
scriptus  est  Über,  in  quo  continentur  Actus,  Canonice  epistole  et  Apocalipsis  glossati. 
Eodem  anno  ,  in  mense  Martis  ,  scilicet  idus  Martii  que  tuuc  erat  proxima  feria  sexta 
pracedens  festum  sanctissimi  patris  nostri  Benedicti  abbatis,  positus  est  primus  lapis 
fuiMJamenti  noui  maioris  monasterii  ab  Ulrico  abbate  dicto  de  Seluingen  et  per  magnam 
industriam  eius  et  laborem ,  sicut  nunc  cernilur ,  est  promotus  alterius  et  eleuatus." 
Vgl.  die  Chronik  von  Salmansweiler,  Bad.  Quellensammlung  III,  S.  31,  wo  es  von  dem 
Abte  und  der  Kirche  heisst:  „nobili  et  subtili  opere  cum  maximis  sumptibus  construi 
fecit  et  procuravit."  —  Eine  Publication  von  Baurath  Lang  und  Warth  wird  demnächst 
in  der  Zeitschrift  für  Bauwesen  erscheinen. 


Cistercienserkirche  zu  Salem. 
Fig.  117. 


447 


Cistercienser-Kirche  .Salem    (nach  Stadler). 
Fig.   118. 


\     /  !  \  /Hill 

Aus  Salem. 


^4g  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

dang.  Dabei  sind  die  Verhältnisse  des  Inneren  von  einer  Schönheit,  gegen 
welche  selbst  die  berühmtesten  Dome  in  Süddeutschland  zurückstehen 
(Fig.  117,  118). 


In  Franken  können  wir  nur  wenige  Beispiele  frühgothischen  Styles 
nennen^).  Dem  Bamberger  Dome  wurde  um  1274^der  westliche  Chor 
nebst  dem  Querschiffe  und  den  beiden  Thürmen  angebaut.  Der  Spitzbogen 
ist  hier  consequent  durchgeführt,  die  Gewölbdienste  haben  schon  gothische 
Gliederung ;  aber  die  Consolen,  auf  welchen  sie  zum  Theil  ruhen,  die  Kapi- 
tale an  dem  nördlichen  Seitenportale  und  viele  andere  Details  zeigen  noch 
romanische  Reminiscenzen,  die  freilich  schon  durch  den  Anschluss  an  den 
so  glänzend  ausgeführten  Bau  aus  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  herbei- 
geführt werden  mussten.  Selbst  die  schönen  Westthürme,  mit  ihren  luftigen, 
von  schlanken  Säulen  getragenen  Treppen,  halten  noch  die  Mitte  zwischen 
romanischer  und  gothischer  Anordnung.  Die  Cistercienserkirche  zu  Ebrach, 
deren  ich  schon  früher  gedacht  habe,  im  Jahre  1285  vollendet  und  geweihet, 
erhielt  in  dieser  Zeit  das  prachtvolle  gothische  Rosenfenster  an  der  Kreuz- 
fayade.  In  den  Jahren  1263 — 1280  wurde  an  die  romanische  Cistercienser- 
kirche zu  Heilsbronn  ein  dreifacher  gothischer  Chor-)  gefügt,  der  in  dem 
'Mittelschiffe  dreiseitig,  in  den  Seitenschiffen  gerade  geschlossen  ist  und  in 
der  Profilirung  der  Scheidbögen  wie  in  den  eckig  gegliederten  und  mit  vor- 
gelegten Halbsäulen  versehenen  Bögen  noch  immer  einen  primitiven  Cha- 
rakter zeigt.  Der  Wilibaldschor  des  Domes  zu  Eichstädt  zeigt  bei 
ausgesprochen  gothischer  Wölbung  mit  streng  gegliederten  Rippen,  die  auf 
Gruppen  von  fünf  runden  Diensten  mit  höchst  einfachen  Blattkapitälen  ruhen, 
sogar  noch  rundbogige  Fenster  ^).  Auch  sonst  sind  es  Ordenskirchen,  wie 
die  Franziskanerkirche  zu  Rothenburg  a.  d.  Tauber,  die  Deutschherren- 
kirche zu  "Würzburg,  welche  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  als  hervor- 
ragendste Beispiele  einer  strengen  aber  völlig  ausgebildeten  Gothik  dastehen  *). 
Die  einzige  bedeutende  frühgothische  Kirche  in  Franken  ist  dieSt.  Lorenz- 


^)  Ueberreste  frühgothischen  Styls  sind  nocli  in  den  Kirchen  zu  Fraueuthal  bei 
Creglingen  (1231),  Marienburghausen  bei  Hassfurth  (1243)  und  Himmelpforten  bei 
Würzburg  (1251),  sämmtlich  früher  zu  Cistercienser-Nonnenklöstern  gehörig,  erhalten. 
Vgl.  Mertens  und  Lohrie  in  der  Zeitschrift  für  Bauwesen  Bd.  XII,  (1862)  S.  347. 

2)  R.  V.  Stillfried,  Alterthümer  und  Kunstdenkmale  des  Erlauchten  Hauses  Hohen- 
zoUern,  neue  Folge,  Heft  IV. 

')  Sighardt,  Geschichte  der  bildenden  Kunst  im  Königreich  Bayern  ,  S.  281  mit 
Abbildung. 

*    Sighardt  a.  a.  0. 


Frauken.  449 

kirche  in  Nürnberg,  deren  Erbauung  etwa  um  1274^)  und  zwar  wabr- 
scheinlicb  mit  dem  Unterbau  der  Tbürme  und  dem  Langbause  begann;  der 
Grundstein  des  Cbores  wurde  erst  nach  der  Mitte  des  fünfzehnten  Jahrhun- 
derts, nach  völliger  Vollendung  jener  Avestlichen  Theile  gelegt.  Die  Anord- 
nung der  Westseite  ist  überaus  regelmässig,  die  der  Thürme  enthält  sogar 
noch  romanische  Reniiniscenzen.  Sie  steigen  nämlich,  von  massig  starken 
Strebepfeilern  begrenzt,  in  der  Breite  der  Seitenschiffe  und  viereckig  mit 
sieben  uuverjüngteu  Stockwerken  auf,  jedes  nur  durch  ein  zweitheiliges  Fen- 
ster belebt  und  von  einem  Gesimse  mit  einem  spitzbogigen  Bogenfriese  be- 
deckt;  das  untere  etwas  höher  und  mit  seinem  grösseren  Fenster  die  Seiten- 
schiffe beleuchtend,  die  fünf  nächsten  von  geringerer  aber  zunehmender  Höhe, 
das  oberste  endlich  schlanker  und  von  zahlreichen  schmalen  Schallöifnungen 
durchbrochen,  auf  seiner  Plattform  mit  einem  kleinen,  achteckigen  Thürm- 
chen,  zwischen  dessen  acht  Giebeln  der  Helm  aufsteigt.  Um  so  reicher  ist 
dagegen  der  mittlere  Theil  ausgestattet ;  ein  hochgeschwungenes,  durch  einen 
]\littelpfeiler  getheiltes  Portal  mit  tigurenreichem  Relief  des  jüngsten  Gerichts 
im  Bogenfelde,  mit  Statuen  und  Statuetten  in  den  Höhlungen  der  Thür- 
gewände,  darüber  hinter  einer  Balustrade  ein  gewaltiges  Roseufenster  von 
reichster  Ausführung,  -welches  bis  zur  Gewölbhöhe  des  Mittelschiffes  reicht, 
endlich  ein  hoher  Giebel,  durch  Spitzsäulchen  senkrecht  getheilt,  durch  kleine 
Arcaden  belebt  und  mit  einem  ausgekragten  Mittelthürmchen  ausgestattet. 
Die  ganze  Kraft  reichsten  Schmuckes  ist  also  auf  diesen  mittleren  Theil 
concentrirt,  dessen  luftige  Erscheinung  in  den  ernsten  und  festen  Massen 
der  Thürme  eine  günstige  Einrahmung  und  die  sichersten  Stützen  hat. 

Das  Laughaus  selbst,  in  reinem,  aber  sehr  streng  und  schlicht  gehal- 
tenem frühgothischem  Style,  steht  gewissermaassen  in  der  Mitte  zwischen  der 
halbromanischen  Einfachheit  der  Thürme  und  der  reichen  Ausstattung  des 
Einganges,  Seine  Anlage  ist  die  herkömmliche  mit  Seitenschiffen  von  halber 
Breite  und  Höhe  des  Mittelschiffes;  die  Hallenform  hatte  in  dieser  Gegend 
noch  nicht  Aufnahme  gefunden.  Die  Pfeiler  sind  zwar  noch  eckigen  Kernes, 


1)  Uikuudliche  Nacluichleu  über  die  Entstehuugszeit  der  Kirclie  sind  gar  uicht 
bekauut  geworden;  die  gewöhnliche  Angabe,  dass  der  Jseubau  1274  auf  Betrieb  des. 
damals  in  Nürnberg  lebenden  kaiserlichen  Hofrichlers  Adolph  von  Nassau  begonnen 
und  1280  schon  das  schöne  Portal  (an  welchem  sein  Wappen  steht)  ausgeführt  sei, 
leidet  au  der  inneren  Uuwahrsclieiulichkeit ,  dass  mau  schon  sechs  Jahre  nach  dem 
Beginn  des  Baues  au  den  Schmuck  gedacht  habe.  Wahrscheinlicher  ist,  dass  mau 
schon  vor  dem  angegebenen  Jahre  mit  dem  Unterbau  der  Thürme  begann  ,  dann  das 
Langhaus  baute,  dessen  Styl  dem  Jahre  1274  sehr  wohl  entspricht,  erst  am  Ende  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  das  bisher  nur  im  Rohen  augelegle  Portal  weiter  ausführte, 
uud  noch  später  das  mächtige  Rosenfenster  über  demselben  hinzufügte.  —  Vgl.  R.  v. 
Rettberg,  Nürnberg's  Kunstleben,  Stuttgart  1854. 

Schnaase's  Kunstgesch.    2.  Aufl.    V.  '29 


^50  Gothischer  Styl  in  Deutsclilaud. 

aber  dicht  besetzt  mit  gothischen  Säulchen,  welche  auf  der  Frontseite 
ununterbrochen  bis  zum  Gewölbe  aufsteigen^  die  Kapitale  schmucklose  Kelche, 
die  Scheidbögen  von  reicher,  aber  derber  gothischer  Protilirung ;  der  hohen 
Wand  über  ihnen  fehlt  das  Triforium,  die  Fenster  endlich  haben  einfaches, 
regelrechtes  Maasswerk.  Durch  die  ziemlich  bedeutende  Höhe  des  Mittel- 
schiffes, die  einfachen  und  anschaulichen  Verhältnisse,  die  Reinheit  und 
Gleichheit  der  Formen,  den  Mangel  alles  Ueberflüssigen  macht  das  Innere 
einen  sehr  würdigen,  wahrhaft  kirchlichen  Eindruck,  dessen  Ernst  durch  die 
dunkele  Farbe  des  Steines  noch  erhöht  wird.  Auch  hier  finden  wir  also  ein 
vollkommenes  Verständniss  des  gothischen  Styles  sowohl  in  seiner  construc- 
tiven  Bedeutung,  als  im  Reize  seines  Schmuckes ;  aber  zugleich  eine  sehr 
freie  und  selbständige  Auffassung,  welche  in  einzelnen  Fällen  romanische 
Reminiscenzen  nicht  verschmähet,  und  durch  den  vorherrschenden  ernsten, 
gemässigten  und  schlichten  Sinn  bei  zweckmässiger  Betonung  der  wesent- 
lichen Verhältnisse  sehr  günstig  wirkt  und  dem  fremden  Style  ein  nationales, 
deutsches  Gepräge  giebt. 


In  Bayern  war  Regensburg  der  Schauplatz  eifriger  Bauthätigkeit. 
In  dem  prächtigen  Kreuzgange  von  S.  Emmeram  i)  mischen  sich  die  For- 
men einer  ausgebildeten  Gothik  mit  denen  eines  effectvollen  und  phantasti- 
schen Uebergangsstyls.  Ein  anderes  Werk,  welches  ebenfalls  noch  bedeu- 
tende Nachwirkungen  des  älteren  Styls  verräth,  ist  die  nach  1250  begonnene 
St.  Ulrichs kir che  oder  Alte  Pfarre,  die  sich  auch  durch  eine  sehr  auf- 
fallende Anlage  auszeichnet-).  Sie  bildet  nämlich  ein  einfaches  Rechteck 
von  174  Fuss  Länge  bei  74  Fuss  Breite,  das  aus  einem  höheren,  durch 
Balken  gedeckten,  ebenfalls  rechteckigen  Mittelraume,  und  aus  niedrigeren 
Seitentheilen  mit  einer  Empore  besteht,  welche  denselben  auf  allen  vier  Seiten 
umgiebt  und  nur  auf  der  Mitte  der  Ostseite  durch  einen  schmalen,  hoch 
hinaufreichenden  Spitzbogen  unterbrochen  ist,  unter  welchem  sich  der  sehr 
enge  Altarraum  befindet.  Es  ist  also  eine  Anlage,  welche  bei  einer 
hauptsächlich  auf  das  Anhören  der  Predigt  berechneten  protestantischen 
Kirche  sehr  begreiflich  sein  würde,  die  aber  dem  katholischen  Gottesdienste, 


1)  Abbildungen  bei  Sighardt  a.  a.  0.,  S.  222  ff. 

'^)  Abbildungen  bei  Popp  und  Bülau,  Heft  4,  bei  Grueber,  vergleichende  Samm- 
lungen II,  Tafel  16,  18,  bei  Sighardt  a.  a.  0.  S.  220.  —  Vgl.  übrigens  in  Betreff 
aller  hier  erwähnter  Kirchen  z\i  Regensburg  die  scliarfsinnigeu  kritischen  Bemerkungen 
in  dem  Aufsatze  von  F.  v.  ÜLiast  im  D.  Kunsilil.  1852 ,  S.  1G4  ff. ,  namentlich  über 
die  alte  Pfarre  S.  195  und  207. 


r>ie  alte  Pfarre  zu  Re»ensl)urg^.  451 

in  welchem  das  Sakrament  des  Altars  den  Hauptinhalt  bildet ^  und  dem  Ge- 
brauche cles  dreizehnten  Jahrhunderts  wenig  entspricht.  Auch  ergiebt  die  An- 
ordnung der  Emporen  auf  den  vier  Seiten  Verschiedenheiten,  welche  es  sehr 
■wahrscheinlich  machen,  dass  die  ganze  Anordnung  nicht  ursprünglich  beab- 
sichtigt, sondern  erst  durch  eine  spätere  Aenderung,  über  welche  wir  freilich 
keine  ausführliche  Auskunft  haben,  entstanden  ist.  Auf  den  Langseiten  des 
inneren  Raumes  ruhet  nämlich  die  durch  spitzbogige  Oberlichter  unter- 
brochene Wand  auf  stämmigen,  achteckigen  Pfeilern,  deren  mit  frühgothischem 
Laubwerk  verzierte  Kapitale  durch  derbe,  spitze  Arcaden  verbunden  sind, 
während  die  dazwischen  eingebaute,  nur  15  Fuss  hohe  Empore  rundbogige 
Kreuzgewölbe  hat  und  mit  jenen  Pfeilern  und  Arcaden  durchaus  nicht  har- 
monirt.  Hier  scheint  also  eine  ursprünglich  nur  auf  einfache  Seitenschiffe 
berechnete  frühgothische  Anlage  erst  später  die  Empore  aufgenommen  zu 
haben.  Der  westliche  Theil,  in  welchem  die  Empore  sogar  die  Tiefe  zweier 
Kreuzgewölbe  hat,  scheint  auf  eine  frühere  Zeit  zu  deuten ;  das  Portal  ist 
rundbogig,  in  der  Empore  linden  sich  Rundsäulen  mit  Eckblättern  und  aus- 
gezeichnet schön  gearbeiteten,  aber  romanischen  Kapitalen.  Dagegen  lässt 
die. Anordnung  der  östlichen  Emporen  und  besonders  das  hohe,  zweitheilige 
Maasswerkfenster  der  Altarnische  auf  eine  spätere  Entstehung  schliessen. 
In  der  That  findet  sich  hier  auch  eine  inschriftliche  Notiz  über  eine  im 
Jahre  1440  vorgenommene  Herstellung,  die  freilich  nach  ihrem  Wortlaute 
nur  das  bereits  bestandene  Gewölbe  betroffen  zu  haben  scheint  ^).  Aber  auch 
ausser  der  ungewöhnlichen  Anlage  deutet  der  Umstand,  dass  der  mittlere 
Raum  nur  mit  einer  Balkendecke  versehen  ist,  während  die  hoch  iiinauf- 
gehenden  Wandpfeiler  des  Inneren  und  die  Strebepfeiler  des  Aeussern  eine 
beabsichtigte  Ueberwölbung  anzeigen,  auf  eine  während  des  Baues  einge- 
tretene Veränderung  des  Planes  hin.  Vermuthlicli  war  während  des  Baues 
oder  bald  nach  der  Vollendung  desselben  ein  Brand  oder  ein  anderer  Un- 
fall eingetreten,  von  dem  freilich  keine  urkundlichen  Nachrichten  erhalten 
sind,  welcher  vielleicht  eine  früher  bestandene  Chornische  zerstörte  und  eine 
Herstellung  veranlasste,  bei  der  man  aus  Geldmangel  diesen,  sonst  für  unent- 
behrlich gehaltenen  Theil  fortliess,  dagegen  aber  die  im  Westen  schon  be- 
stehende Empore  auch  auf  den  anderen  Seiten  herumführte,  und  eine  An- 
ordnung traf,  um  auch  ohne  jene  zerstörten  Theile  dem  Bedürfnisse  der 
•Gemeinde  zu  genügen.  Nur  in  dem  Avestlichen  Theile  der  Kirche  haben  wir 
daher  den  ursprünglichen,  frühgothischen,  aber  noch  mit  romanischen  Remi- 
niscenzen  gemischten    Bau  aus   dem   zweiten  Viertel   des   dreizehnten  Jahr- 


')  Anno  dorn.  MCCCCXL  lioc  opus  trium  testudüumi  est  renovatum  tempore  Wolf- 
hardi  plebani  hujus  eccl.  Vgl.  aucl:  Sciuiegraf,  Gesch.  d.  Doms  zu  Reyeasburg  II.  192. 
Sighart  a.  a.  0.  S.   121. 

29* 


452  Gotliisclier  Styl  in  Deutschland. 

hunderts  unentstellt,  während  in  den  übrigen  Theiien  das  Alte  durch  Ueber- 
arbeitung  unkenntlich  geworden  ist  ^).  Indessen  auch  so  ist  das 
Gebäude  kunsthistorisch  wichtig,  weil  es  einen  der  ersten  Fälle  der  Anwen- 
dung des  gothischen  Styles  in  dieser  östlichen  Gegend  und  an  einer 
Pfarrkirche  giebt,  da  er  sonst  fast  nur  an  Kathedralen  und  Klosterkirchen 
vorkommt. 

Der  zweite  gothische  Bau  Regensburgs,  die  Dominica nerkir che 
im  Jahre  1273  hegonnen  -),  aber  durch  kräftige  Ablassverleihungen  und 
durch  den  Eifer  der  Brüder  gefördert,  und  wahrscheinlich  schon  in  dem 
kurzen  Zeiträume  von  vier  Jahren  vollendet,  ist  wie  die  meisten  gleichzeitigen 
Kirchen  der  Bettelorden  ein  völlig  regelrechtes,  aber  einfaches  gothisches 
Werk,  geräumig,  aber  ohne  Kreuz,  das  Mittelschiff  35  Fuss  breit  und  gegen 
90  hoch,  die  niedrigen  Seitenschiffe  je  20  Fuss  breit.  Sechs  Gewülbfelder 
bilden  das  Langhaus,  vier  den  dreiseitig  aus  dem  Achtecke  geschlossenen, 
nur  die  Breite  des  Mittelschiffes  haltenden  Chor.  Die  Pfeiler  sind  hier,  wie 
in  der  gleichzeitigen  Kirche  desselben  Ordens  in  Erfurt,  achteckig,  mit 
Halbsäulen  an  den  vier  Stirnseiten,  die  Kapitale  schlanke,  doch  unverziertc 
Kelche.  An  den  Chorwänden  fehlen  diese  Halbsäulen,  und  die  ihnen  ent- 
sprechenden Gewölbdienste  ruhen  auf  etwa  halber  Höhe  aufConsolen,  welche 
die  ungewöhnliche,  bei  Gelegenheit  der  St.  Sebaldkirche  zu  Nürnberg  und 
der  Klosterkirche  zu  Riddagshausen  geschilderte  Gestalt  eines  gekrümmten 
Hornes  haben.  Die  schlanken  zweitheiligen  Fenster  des  Chorschlusses  haben 
regelmässiges,  die  meisten  übrigen  Fenster  dagegen  unausgeführtes  Maass-. 
werk,  indem  nur  Kreise  oder  Drei-  oder  Vierpässe  in  das  Bogenfeld  einge- 
hauen sind.  Das  Hauptportal  wird  durch  zwei  innere  Spitzbögen  gebildet, 
welche  von  einem  durch  eingelegte  Kleeblattbögen  verzierten  Rundbogen  um- 
schlossen sind,  was  offenbar  nicht  sowohl  eine  romanische  Reminiscenz,  als 
ein  Versuch  vereinfachter  und  leicht  ausführbarer  Ausstattung  des  gothisch 
angelegten  Eingangs  ist.  Man  hat  schon  öfter  die  Bemerkung  gemacht  ■^),, 
dass  in   den   frühgothischen  Kirchen   der  Bettelorden   sich  manche  Formen 


^)  t'.  V.  Quast  a.  a.  0.  sclieint  das  ganze  Gebäude  für  ursprünglich  zu  hallen. 
Auch  er  glaubt  indessen,  dass  der  mittlere  Raum  zur  liöheren  Hinaufführung  bestimmt 
gewesen,    und    erkennt  somit   an,    dass    das    Ganze    nicht    vollendet    sei. 

2)  Wie  dies  v.  Quast  a.  a.  0.  S.  19G  If.  mit  überzeugender  Wahrscheinlichkeit 
nachgewiesen  hat.  Abbildungen  bei  Niedermayer,  die  Dominicanerk.  z.  R.,  Verhand- 
lungen des  liistor.  Vereins  für  den  Regenkreis,  18,  S.  1,  bei  Kalienbach  a.  a.  0.. 
Taf.  32,  Details  bei  Sighardt,  S.  307  If. 

")  Namentlich  ausführlich  v.  Quast  a.  a.  0.,  übrigens  auch  viertens  u.   A. 


Der  Dom   zu  Regensburg-.  453 

finden,  die  erst  beim  Verfalle  der  gothischen  Kunst  herrschend  wurden;  der 
Mangel  an  feinerem  Gefühl,  die  Eile  des  Baues  und  das  Streben  nach 
Wohlfeilheit  und  Einfachheit  brachten  schon  frühe  dasselbe  Resultat 
hervor,  wie  später  die  allgemeine  Erschlaifung  des  architektonischen 
^Sinnes.  Auch  dieser  Bau  giebt,  ebenso  wie  die  Minoritenkirche  zu  Köln 
und  die  Predigerkirche  zu  Erfurt,  eine  Bestätigung  dieser  Bemerkung;  die 
achteckigen  Pfeiler,  die  Profilirung  der  Gewölbrippen  mit  geschweiften 
Viertelkehlen  nebst  anhängender  Platte,  die  sich  hier  finden,  wurden  erst  in 
viel  späterer  Zeit  verbreitet.  Bei  alledem  geben  aber  die  schlanken  und 
wohlgewählten  Verhältnisse  einen  sehr  günstigen  Eindruck. 

Während  dieser  anspruchslose  Bau  rasch  seiner  Vollendung  entgegen- 
schritt, wurde  in  seiner  Nähe  ein  eben  so  prachtvolles,  als  weitaussehendes 
Werk  begonnen,  der  Neubau  des  Domes  zu  Regensburg  ^).  Die  Geschichte 
desselben  hat  eine  entfernte  Aehnlichkeit  mit  der  des  Kölner  Domes.  Nach- 
dem nämlich  wegen  Baufälligkeit  der  alten  Kathedrale  bedeutende  Repara- 
turen unternommen  und  zu  ihren  Gunsten  in  den  Jahren  1250  und  1254 
bischöfliche  und  päpstliche  Ablassbriefe  erlassen  waren,  entstand  im  Jahre 
1273  ein  durch  Blitz  verursachter  Brand,  welcher  den  Bischof  zur  Vornahme 
eines  gänzlichen  Neubaues  bestimmte.  Er  benutzte  seine  Anwesenheit  auf 
dem  im  folgenden  Jahre  abgehaltenen  Concile  zu  Lyon,  um  sich  von  nahen 
und  entfernten  Amtsgenossen  Ablassverleihungen  zu  verschaffen,  mit  deren 
Hülfe  dann  die  Vorbereitungen  so  schnell  getroffen  werden  konnten,  dass 
schon  im  Jahre  1275  die  Grundsteinlegung  erfolgte.  Unter  ihm  und  seinem 
Nachfolger  wurden  die  Arbeiten  mit  gleichem  Eifer  fortgesetzt,  später 
stockten  sie,  im  Jahre  1380  bestand  noch  die  kleine  alte  Kirche  St.  Johann 
Baptista  auf  einer  Stelle  des  jetzigen  Langhauses,  und  an  der  Fagade  finden 
sich  die  Jahreszahlen  1482  und  1486.  Nur  der  Chor,  das  Kreuzschiff,  die 
Fundamente  und  vielleicht  theilweise  die  Aussenmauern  des  Langhauses  ge- 
hören daher  dem  dreizehnten  Jahrhundert  an;  die  weitere  Ausführung  des 
letzten  liegt  ganz  ausserhalb  desselben,  und  ist  daher  erst  später  zu  wür- 
digen. Der  Erbauer  hat  es  offenbar  auf  eine  grossartige  Kathedrale  im 
•Geiste  der  neuen  Zeit  und  im  neuen  prachtvollen  Style  abgesehen  ;  die  Breite 
des  Mittelschiffes  kommt  der  des  Kölner  Domes  fast  gleich  und  die  weiten 
•dadurch  gebildeten  Hallen,  der  reiche  Schmuck  des  Maasswerkes  und  der 
Pfeiler  verfehlen  nicht,  ungeachtet  der  zum  Theil  späten  und  ungleichen 
Ausführung,  einen  bedeutenden  Eindruck  auf  den  Beschauer  zu  machen.  Bei 
näherer  Betrachtung  aber  finden  wir  uns  weniger  befriedigt.     Wie  in  den 


^)  Vgl.  wieder  das  grosse  Kupfervverk  von  Popp  und  Bülau  und  v.  Quast  a.  a.  0., 
■dem  ich  bei  der  Beschreibung  und  kritischen  Beurtheilung  im  Wesentllclien  folge,  — 
Publicirt  bei  E.  Förster,  Denkmäler,  B.  III. 


454  Goiliisclier  Styl  in  Deutschland. 

meisten  bisher  betrachteten  gothischen  Kathedralen  der  inneren  deutschen 
Lande  hat  man  auch  hier  auf  Umgang  und  Kapellenkranz  verzichtet,  der 
Chor  endigt  mit  fünf  Seiten  des  Achtecks  und  ist  von  zwei  kürzeren,  polygen 
geschlossenen  Nebenchören  umgeben.  .lUein  während  man  sich  in  anderen 
Fällen  für  diese  Beschränkung  durch  eine  grössere  Längenausdehnung  des 
Chorraumes  entschädigte,  enthält  er  hier  ausser  dem  Polygonschlusse  nur 
zwei  Gewölb felder,  und  auch  die  Kreuzarme,  denen,  wie  es  freilich  dieser 
einfache  Chorschluss  forderte,  keine  Seitensclüffe  beigegeben  sind,  treten 
nicht  einmal  über  die  Fluchtlinie  der  Aussenmauern  des  Langhauses  hinaus. 
Offenbar  ist  also  die  Anlage  der  östlichen  Theile  zu  beschränkt  für  die 
anspruchsvolle  Breite  des  Mittelschiffes.  Im  Widerspruche  damit  hat  nun 
aber  der  Meister  den  Versuch  gemacht,  die  reichere  Anordnung  französischer 
Chöre  wenigstens  anzudeuten  und  ihrer  Wirkung  nachzustreben.  Er  hat 
nämlich  an  der  Chorwand  die  Doppelgeschosse  der  Fenster,  welche  dort 
durch  den  Umgang  entstehen,  ohne  solchen  beibehalten,  zwei  Fensterreihen 
übereinander  gestellt,  und  sogar,  während  die  obere  sich  in  der  glatten 
Wandfläche  belindet,  die  untere  in  die  Vertiefung  kleiner  Nischen  gelegt 
welche  durch  einen  am  Eingange  angebrachten  durchbrochenen  Spitzbogen 
noch  bemerkbarer  gemacht  werden.  Die  Oberlichter  sind  tiberdies  durch  ein 
darunter  angebrachtes  durchbrochenes  Triforium  vergrössert,  um  so  die 
malerische  Wirkung,  welche  bei  der  reicheren  Anordnung  durch  den  Gegen- 
satz des  hellbeleuchteten  oberen  Geschosses  und  der  beschatteten  Räume  des^ 
Umganges  hervorgebracht  wird,  annähernd  zu  erreichen.  Allein  in  der  That 
ist  dies  Auskunftsmittel  kein  glückliches.  Der  einfache  Polygonschluss 
gestattet,  ja,  man  kann  fast  sagen,  fordert  die  Anlage  grosser  und  schlanker 
Fenster,  welche  durch  ihre  Lichtfülle  dem  Chore  die  ihm  gebührende  Aus- 
zeichnung geben,  und  die  Höhe  des  Raumes  und  das  Princip  des  Aufstrebens 
bedeutsam  betonen.  Man  hatte  daher  auch  da,  wo  das  Langhaus  niedrige 
Seitenschiffe  und  mithin  doppelte  Fensterreihen  erhielt,  im  Chore  diese  hohen 
Fenster  angebracht,  wie  dies  noch  neuerlich  in  Regensburg  an  der  Domini- 
canerkirche  mit  günstigem  Erfolge  geschehen  war.  Der  Meister  des  Domes- 
verscherzte diesen  Vortheil,  ohne  die  Wirkung  der  reicheren  Anordnung  zu 
erreichen ;  seine  Fenster  erscheinen  breit,  ihre  Wiederholung  bedeutungslos^ 
Noch  weniger  ist  ihm  eine  ähnliche  Nachahmung  des  Strebesystems  am- 
Aeusseren  gelungen ;  er  lässt  nämlich  die  Strebepfeiler  oberhalb  jener 
Nischen  nicht  auf  der  äusseren,  sondern  auf  der  inneren  Seite  abnehmen 
und  sich  zuspitzen,  und  verbindet  sie  hier  mit  der  Wand  des  oberen  Chores 
durch  eine  schmale  Zwischenwand,  deren  schräge  Oberkante  mit  einer  durch- 
brochenen Gitterverzierung  gekrönt  ist.  Allein  er  verfehlt  auch  hier  seinen 
Zweck  völlig;  was  in  grossen  Verhältnissen  und  bei  constructiver  Nothwen- 
digkeit  imponirt  und  zur  schönsten  Zierde  wird,  erscheint  hier  als  kleinliche 


Bijlimeii.  455 

iiiul  überflüssige  Decoration.  Auch  in  dev  Anlage  des  Laughauses  bemerken 
wir  ein  ähnliches  Verkennen  der  wahren  Principien  des  gothischen  Styles. 
In  den  Hallenkirchen  hatte  man  aus  guten  Gründen,  in  den  Kirchen  der 
Bettelorden  aus  Sparsamkeit  oft  die  Breite  der  Seitenschiffe  und  der  Pfeiler- 
stellung erweitert,  in  Kathedralen  mit  niedrigen  Seitenschiffen  aber  stets  das 
normale  Verhältniss  der  halben  Breite  des  Mittelschiffs  festgehalten.  So 
namentlich  in  Köln  und  in  Halberstadt.  Der  Meister  von  Regensburg  ent- 
fernte sich  dagegen  gerade  hier  von  dem  Herkommen  des  reicheren  Stjies 
und  gab  beiden  breitere  Verhältnisse,  wodurch  denn  seinem  Werke  der  Reiz 
der  schlanken  Wandfelder  und  kühngeschwungenen  Bögen,  der  gedrängten, 
wirkungsreichen  Perspective  entging.  Im  ganzen  Werke  sehen  wir  daher  den 
Meister  zwischen  dem  ursprünglichen  Systeme  der  Gothik  und  der  ein- 
facheren deutschen  Auffassung  schwanken,  vor  Allem  aber  ist  es  merkwür- 
dig, dass  hier^  während  die  Architektur  des  dreizehnten  Jahrhunderts  auch 
in  Deutschland  fast  überall  an  constructiver  Wahrheit  festhält,  schon  so 
frühe  ein  Versuch  gemacht  wird,  bei  sparsamer  Anlage  die  Wirkung  des 
reicheren  Styles  durch  bloss  decorative  Mittel  zu  erreichen. 


Auch  in  Böhmen,  dessen  architektonische  Blüthezeit  freilich  erst 
unter  der  Regierung  Kaiser  Karls  IV.  eintrat,  tiuden  sich  interessante  Spuren 
frühgothischen  Styles.  In  sehr  anmuthiger  Anwendung  zeigt  ihn  das  aufge- 
hobene Agneskloster  zu  Prag,  namentlich  in  demselben  die  Kirche  selbst 
und  die  von  ihr  gesonderte  St.  Barbarakapelle,  beide  jetzt  zu  Fabrikzwecken 
benutzt,  aber  noch  wohl  erkennbar.  Es  sind  einschiffige  Räume  mit  wohlge- 
gliederten Wandpfeilern,  Ringsäulen  und  Knospenkapitälen,  die  erstgenannte 
mit  dreiseitigem  Schlüsse  aus  dem  Achteck.  Alle  Formen  haben  die  kernige 
Frische  der  ersten  Gothik  ^}.  Die  Gewölbrippen  sind  zwar  noch  aus  Rundstäben 
und  dazwischen  gelegten  Ecken  gebildet,  ohne  birnförmige  Profilirung,  in  den 
zweitheiligen  schlanken  Fenstern  ist  dagegen,  wiewohl  grösstentheils  zer- 
stört, einfaches,  wohlgebildetes  Maasswerk  zu  erkennen.  Das  Kloster  ist 
1233  gegründet,  und  zwar  für  die  Prinzessin  Agnes,  Tochter  des  ersten  Kö- 
nigs von  Böhmen,  Przemysl  Ottokars  L;  es  ist  daher  nicht  wohl  denkbar, 
dass  der  Bau  der  Kirche  lange  verschoben  worden,  und  die  Formen  gestatten 
uns  auch  die  Annahme,  dass  er  bald  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts,  ohne 
Zweifel  durch  einen  herbeigerufenen  fremden  Baumeister,  ausgeführt  sei.  In 
demselben  Jahre  1233  gründete  die  Mutter  dieser  Prinzessin,  Königin  Con- 


1)  Vgl.  ß.  Graeber   in  den  Mittheilungea    der  K.  K.  L'entralconimission,  1,  S.  214, 
mit  Abbildungen  einiger  Kapitale. 


A^Q  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

stantia,  das  Cistercienserinnen-Kloster  Tisclinowitz  in  Mähren,  dessen 
Kirche  bereits  1239  vollendet  war  i).  Sie  ist  eine  Basilika  mit  langge- 
strecktem Chor  und  zwei,  wie  dieser,  polygon  geschlossenen  Capellen  an  der 
Ostseite  der  Querhausarme.  Die  quadraten  Pfeiler  mit  gekehlten  Ecken, 
mit  drei  Diensten  gegen  das  Mittelscliiff  und  einer  Halbsäule  an  der  Mitte 
jeder  anderen  Seite  sind  in  der  Anlage  noch  romanisch,  aber  der  Spitz- 
bogen geht  in  der  Wölbung  durch  und  die  anfangs  derbe  Bildung  der  Gurten 
und  Rippen  wird  im  Chor  etwas  entwickelter,  der  auch  schon  ganz  einfaches 
Maasswerk  in  den  Fenstern  zeigt.  In  dem  Ornament  tritt  uns  ein  Schwan- 
ken zwischen  romanischer  und  frühgothischer  Bildung  entgegen,  und  während 
die  Formen  sonst  von  strengerem  Gepräge  sind,  herrscht  ein  grösserer  lieich- 
thum  nur  in  dem  Kreuzgang  und  in  dem  Portale,  das  wir  wegen  seiner  Ver- 
Avandtschaft  mit  den  decorativen  Glanzstücken  der  Uebergangs-Zeit  bereits 
oben  erwähnt  haben  ^),  das  aber  schon  durchgängig  den  Spitzbogen  und  Sta- 
tuen zwischen  den  Ringsäulen  der  Wandungen  zeigt.  Derselben  Zeit  gehört 
der  Chor  an,  welcher  die  ältere  Kirche  zu  Mü  hl  hausen,  von  der  wir  spra- 
chen, abschliesst  •"').  Ein  verwandtes  Bauwerk  ist  die  Decanatskirche 
St.  Stephan  zu  Kaurzim,  die  in  der  Pfeilerbildung  an  Tischnowitz  erin- 
nert, aber  in  dem  realistisch-gothischen  Blattwerk  der  Kapitale  und  des 
Nordportals  bereits  entwickelter  erscheint^),  und  als  die  wichtigste  Leistung 
dieser  Epoche  steht  das  Langhaus  der  Bartholomäuskirche  zu  Kolin  ■'') 
da,  welches  dem  schlanken  späteren  Chor  des  Peter  von  Gmünd  vorhergeht 
und  wohl  in  der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  errichtet  ist 
Es  ist  das  erste  Beispiel  einer  Hallenkirche  in  Böhmen,  die  Pfeiler  sind  wie 
bei  den  eben  erwähnten  Bauwerken  Quadrate  mit  einer  Halbsäule  vor  jeder 
Seite  und  vier  Ecksäulen,  nur  die  Vierung  ist  rundbogig  überwölbt,  sonst 
geht  der  Spitzbogen  durch,  die  Fenster  sind  schmal  und  lanzetförmig,  die 
Strebepfeiler  aussen  von  einem  Umgang  durchbrochen,  das  Blattwerk  an 
Kapitalen  und  Schlusssteinen,  an  dessen  Stelle  nur  manchmal  phantastische 
Thiergestalten  treten,  ist  hie  und  da  primitiv  und  knospenförmig,  noch  häu- 
figer aber  entschieden  gothisch,  in  vortrefflicher  Nachbildung  einheimischer 
Pflanzen,  behandelt. 

Aber  nicht  nur  an  christlichen  Kirchen,  auch  an   einem  Bau  der  hier 
früh  zu  grossem  Ansehen   und  Reichthum  gelangten  Judenschaft  tritt   die 


1)  .1.  E.  Wocel    in  dem  Jahrbuch    der   K.    K.   Centralcommission,   III,   S.  251,  mit 
Abbildungen. 

2)  S.  287. 

«)  S.  289.  Mittheilungen  B.  VIII,  S.  37. 

1)  Mitth.  B.  II,  S.  63. 

s)  Mitth.  B  I,  S.  214,  B.  VI,  S.  228. 


Oesterreich.  457 

Gothik  in  Böhmen  auf,  an  der  alten  Synagoge  (^^Altneuschul^^)  zu  Prag, 
einem  kleinen  rechteckigen  Raum,  dessen  Gewölbe  von  zwei  Mittelsäulen  und 
von  voi'gekragten  Wandsäuleu  auf  Knäufen  mit  Blattwerkornament  getragen 
werden.  Es  fehlt  sowohl  an  Nachrichten  wie  an  feineren  Eigenthümlich- 
keiten,  welche  zu  genauerer  Bestimmung  der  Entstehungszeit  führen  könn- 
ten, es  wäre  denkbar,  dass  mancherlei  Rücksichten  die  jüdischen  Bauherren 
und  den  wahrscheinlich  christlichen  Meister  bewegen  konnten,  hier  auch 
noch  etwas  später  ungewöhnlich  einfache  und  alterthümliche  Formen  anzu- 
wenden, aber  der  Charakter  der  Architektur  weist  doch  am  ehesten  auf  das 
Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts  hin. 

Auffallend  lange  hielten  die  deutsch-österreichischen  Länder  am 
romanischen  Style  fest,  obgleich  wir  bereits  neben  dem  Streben  nach  glän- 
zender Decoration  auch  schon  constructive  Neuerungen,  selbst  mit  Aufnahme 
des  Spitzbogens  hier  Platz  greifen  sahen.  Manche  der  früher  geschilderten 
Denkmäler  ^)  reichten  bereits  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  hinein,  welche  Dauer  aber  die  alten  Formen  in  einigen  ent- 
legeneren Gegenden  haben,  zeigt  namentlich  die  Kirche  zu  Inichen  in 
Tyrol  (Pusterthal),  nach  urkundlichen  Nachrichten  1257  im  Bau  begriffen 
und  1284  geweiht-).  Die  Seitenschiffe  sind  in  Kuppeln  überwölbt,  Mittel- 
schiff, Querhaus  und  Chor  in  Kreuzgewölben,  und  wie  hier  in  constructiver 
Beziehung,  so  spricht  sich  auch  in  decorativer  Hinsicht  ein  überschwäng- 
liches  Streben  nach  Mannigfaltigkeit  aus.  Nur  die  Vierungspfeiler  bilden 
schlichte  Quadrate,  von  den  übrigen  Pfeilern  entsprechen  sich  die  gegen- 
überstehenden, aber  jedes  Paar  ist  von  den  andern  verschieden.  Das 
östlichste  ist  achteckig,  das  nächstfolgende  kreuzförmig  mit  vier  Halbsäulen 
und  stärker,  um  rhythmischen  Wechsel  herzustellen,  das  westlichste  ein 
Bündel  von  acht  Säulen  %  die  in  ein  gemeinsames  Kapital  übergehen.  Die 
Oberlichter  hatten  ursprünglich  die  Gestalt  der  halben  Radfenster. 

Dann  treten  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  vereinzelte  Erscheinungen 
einer  sehr  reinen  und  eleganten  Gothik  auf,  wie  der  schöne  Kreuzgang  zu 
Klosterneuburg  (1270 — 1292)^),    mit    zweitheiligen  Maasswerkfenstern, 


i)  Vgl.  oben  S.  351. 

-)  G.  Tinkliauser,  Mittheilungen  der  K.  K.  Centralcommission  Bd.  III,  S.  225  if. 
Tf.  X. 

^)  So  nacli  der  Abbildung  a.  a.  0.  Der  etwas  unverständliche  Text  spricht  von 
zwölf  Säulen. 

^)  Ernst  und  Oescher,  Baudenkmale  des  Mittelalters  im  Erzherzogthum  Oesterreich, 
Heft  I.  Offenbar  kann  die  Anlage  ihren  Formen  nach  nicht,  wie  die  Verfasser  bei 
der  Erklärung  ihrer  Details  annehmen,  vom  Anfange  des  13.  Jahrhunderts  stammen. 
Auch  ergiebt  die  historische  Einleitung,  dass  der  Propst  ßabo  (1270 — 1292)  den  Kreuz- 
gang gebaut  hat. 


^^g  Güthisclier  Styl  in  Deutschland. 

schlanken  Bündelsäulclien,  leichtem  einheimischem  Laubwerk  an  Kapitalen 
und  Consolen,  polygonen  Säiilenfüssen  und  birnförmiger  Profilirung  der 
Gurten.  Im  Ganzen  wurde  aber  der  gotbische  Styl  in  Oesterreich  erst  im 
vierzehnten  Jahrhunderte  als  der  herrschende  und  allein  geltende  aner- 
kannt 1). 


Auch  in  den  norddeutschen  Provinzen,  im  Gebiete  des  Ziegelbauesj  fand 
der  gotbische  Styl  ungefähr  gleichzeitig  Eingang,  indessen  geschah  es  hier 
doch  mehr  an  einzelnen  Stellen,  und  noch  am  SchUisse  des  Jahrhunderts 
war  seine  Herrschaft  nicht  in  dem  Grade  entschieden,  wie  in  den  südlicheren 
Gegenden.  Zwar  war  ihm  hier  nicht  weniger  vorgearbeitet,  die  Wölbung, 
der  Spitzbogen  und  selbst  in  gewissem  Sinne  das  Verticalprincip  waren,  wie 
wir  gesehen  haben,  dem  Material  zusagend  und  leicht  und  mit  Geschick  an- 
gewendet. Auch  war  an  eine  Vorliebe  für  den  romanischen  Styl,  welche  der 
Gothik  entgegentreten  konnte^  hier  weniger  als  irgendwo  zu  denken.  Es 
war  ein  Kolonistenland,  eben  erst  aufblühend  und  gewohnt,  dem  Vorgange 
anderer  Gegenden  zu  folgen.  Allein  so  sehr  dem  Backsteinbau  jene  eben 
genannten  Bestandtheile  des  gothischen  Styles  zusagten,  so  wenig  entsprach 
ihm  der  eigentliche  Grundgedanke  desselben,  das  Strebesystem,  Dies 
System,  welches  die  ganze  Last  der  Wölbung  auf  einzelne  Pfeilermassen  ver- 
theilt  und  die  Zwischenräume  durch  leichte  Wände  verschliesst,  setzt  mäch- 
tige Werkstücke  natürlichen  Steines  voraus,  die  sich  durch  ihre  Schwere 
und  Elasticität  im  Gleichgewichte  halten.  Der  ßacksteinbau  dagegen  hat 
kleine  Steine  durch  die  Kraft  des  Mörtels  zu  verbinden,  und  eignet  sich 
mithin  für  starke,  glatte  Mauern,  welche  allenfalls  durch  Verstärkung  an 
besonders  belasteten  Stellen  gesichert  werden  konnten,  aber  doch  auch  neben 
denselben  zu  ihrer  Haltbarkeit  einer  grösseren  Stärke  bedurften.  Die  grosse 
Ausladung  der  Strebepfeiler  war  daher  überflüssig,  die  Bedeutung  der  Strebe- 
bögen fiel  fast  ganz  fort.  Ueberdies  war  der  ganze  Schmuck,  der  sich  aus 
jenem  System  entwickelte,  die  plastisch  belebten,  durchbrochenen  Formen 
der  Fialen,  Spitzgiebel,  Strebebögen,  die  zierliche  Ausbildung  des  freien 
Maasswerkes,  theils  zwecklos,  theils  schwierig  und  nur  unvollkommen  herzu- 
stellen. Dennoch  wusste  man  diese  Hindernisse  durch  Kunst  und  Fleiss  zu 
überwinden  und  mit  Hülfe  von  Formsteinen  gotbische  Bauten  hervorzubringen, 
welche  mit  den  in  natürlichem  Steine  ausgeführten  wetteiferten.     Allein  das 


')  In  dem  Jalubuch  der  Cenlralcüramission  II.  S.  36  erkennt  Heider  an,  da.ss  viele 
Denkmäler,  die  er  früher  nocli  dem  13.  Jahrhundert  zuwi-'s,  z,  ß.  auch  der  Cluir  von 
Heiligenkreuz,  aus  späterer  Zeit  sind. 


Das  Gebiet  dei^  Ziegelbaues.  459 

widerstrebende  Material  verursachte  doch,  dass  man  meistens  noch  lange  die 
strengen  und  einfachen  Formen  des  bisherigen  Uebergangsstyles  theilweise 
beibehielt  und  sie  mit  einzelnen  gothischen  Gliederungen  mischte.  Erst 
allmälig  und  nach  vielfachen  Versuchen  kam  der  gothische  Styl  auch  hier 
zu  allgemeiner  und  ausschliesslicher  Geltung,  musste  sich  dabei  aber  man- 
chen Moditicationen  unterwerfen,  manche  seiner  Schönheiten  aufopfern,  manche 
Zierden  mit  anderen,  dem  Steinbau  fremden  vertauschen,  wurde  im  Ganzen 
einfacher,  strenger,  erlangte  aber  auch  zuweilen  eine  ungewöhnliche  einfache 
und  grossartige  Würde.  Die  Strebei^feiler  sind  minder  stark,  weniger  ab- 
gestuft, schliessen  sich  in  einfacher  Abschrägung  oder  mit  einer  Reliefver- 
zierung an  der  Stirnseite  dem  Dachgesimse  au,  und  werden  später  auch  wohl 
ganz  fortgelassen  oder  doch  in  das  Innere  hineingezogen.  Der  Schmuck  der 
Fialen  und  der  freistehenden  Spitzgiebel  musste  aufgegeben  werden,  dagegen 
sind  die  Friese  reicher  gehalten,  mit  mehreren  Verzierungsreihen,  noch  spät 
mit  Bogenfriesen,  namentlich  mit  sich  durchkreuzenden,  auch  wohl  mit  Laub- 
werk in  edel  gebildeter  Form  geschmückt.  Anstatt  der  Balustraden  hat  die 
Mauer  am  Fusse  des  Daches  oft  eine  Zinnenbekrönung,  deren  kriegerischen 
Ursprung  man  vergass,  weil  sie  in  Ziegeln  leicht  herzustellen  und  durch 
vertiefte  Felder  und  Stabwerk  zu  schmücken  war.  Eine  andere  solchen 
Schmuckes  fähige  Stelle  gaben  die  Giebel,  die  daher  hier  reicher,  oft  sehr 
zierlich  ausgestattet,  auch  wohl  vermehrt  und  übei'  den  Kapellen  und  Abthei- 
lungen der  Seitenschiffe  angebracht  sind.  Das  Maasswerk  der  Fenster  ist 
anfangs  zuweilen  durch  Formsteine  sehr  geschickt  im  Geiste  der  reinen  Gothik 
ausgeführt,  später  aber  meist  sehr  vereinfacht,  ja  dürftig,  indem  es  mit  Ver- 
zichtung auf  die  freiere  Entwickelung  mannigfacher  Bogenlinien  und  auf 
das  Xasenwerk  nur  im  spitzbogigen  Abschluss  der  Pfosten,  oft  durch  con- 
centrische  Bögen  besteht,  die  man  allenfalls,  wie  in  England,  nur  freilich  in 
sparsamer,  nüchterner  Weise,  sich  durchschneiden  Hess.  Die  Leibungen  der 
Fenster  und  Portale  sind  nicht  selten  reich  gegliedert,  aber  freilich,  da  man 
diese  Gliederung  durch  Forrasteine  bewirkte  und  die  Zahl  verschiedener 
Formen  nicht  zu  sehr  vergrössern  wollte,  mit  oft  wiederholtem  Wechsel  der- 
selben Rundstäbe  und  Höhlungen.  Das  Bogeufeld  der  Portale  entbehrt  des 
Bildwerkes  und  ist  höchstens  durch  Arabesken  in  Formsteinen  verziert ; 
dagegen  wurde  in  späterer  Zeit  der  Portalbogen  oft  durch  Herumleitung  des 
Kämpfergesimses  mit  einer  viereckigen  Pjinrahmung  versehen,  die  dann  mit 
Rosetten,  Blumen  und  Mustern  von  glasirten  oder  durchbrochenen  Form- 
steinen reich  ausgeschmückt  ist.  Im  Anfange  wandte  man  überall  die  her- 
gebrachte Anordnung  mit  niedrigen  Seitenschiffen  an;  in  einigen  Gegenden 
erhielt  sich  dieselbe  auch  bleibend.  In  anderen  lernte  man  dagegen  schon 
frühe  die  Hallenform  kennen  und  fand,  dass  diese  allen  jenen  Beschränkun- 
gen der  Details,  welche  das  Material  forderte,  mehr  zusagte;  sie  wurde  daher 


^QQ  GüUiisclier  Styl  in  Deutschland. 

«päter  hier  vorherrschend  und  mit  günstigstem  Erfolge  ausgebildet.  Diese 
Form  bedurfte,  weil  sie  jeder  Abstufung  in  sich  entbehrt  und  am  Schiffe 
gleiche  hohe  Mauern  giebt,  mehr  als  die  andere  des  Abschlusses  durch  einen 
oder  mehrere  Thürme.  Zwar  konnten  diese  nicht  die  mannigfache  und  be- 
wunderungswürdige Gliederung  des  Ueberganges  aus  dem  Viereck  zur 
Spitze,  nicht  den  glänzenden  Schmuck  durchbrochener  Helme  erhalten;  sie 
haben  festere  Mauern,  schwache  Strebepfeiler,  und  steigen  senkrecht  in 
wenig  verjüngten  Stockwerken,  nur  durch  Gesimse,  Fenster,  Schallöffnungen, 
durch  Stabwerk  und  vertiefte  Felder  belebt,  bis  zu  der  Höhe  empor,  wo  sich 
<lie  in  Holz  erbaute  Spitze  erhebt.  Allein  dennoch  ist  ihr  kräftiges  Auf- 
steigen höchst  nöthig,  um  den  grossen  Mauermassen  der  Kirche  den  Clia- 
rakter  der  Schwere  zu  nehmen  und  den  Ausdruck  verticalen  Aufstrebens  zu 
verstärken,  weshalb  denn  Thurmbauten  hier  sehr  beliebt  waren,  so  dass  man 
■selbst  einfachen  Pfarrkirchen,  gegen  das  Herkommen  anderer  Länder,  wo 
dies  nur  bei  Domen  und  grossen  Abteien  üblich  war,  Doppelthürme  auf  der 
Westseite  gab.  Das  Innere  ist  zwar  ebenfalls  einfacher  gehalten,  aber  durch 
seine  wohlgewählten  Verhältnisse  meist  sehr  wirksam  und  durch  die  Ein- 
fachheit der  Anordnung  vor  manchen  Missgriffen  bewahrt,  die  im  Systeme 
des  Steinbaues  vorkommen.  Die  schlankgehaltenen  Pfeiler  sind  meist  achteckig^ 
seltener  rund,  mit  schwachen  Diensten  versehen,  deren  hochgelegene  Kapitale 
selten  reicher  verziert,  oft  fortgelassen  und  durch  blosse  Gliederung  ersetzt 
sind.  Eigentliche  Triforien  kommen  nicht  vor,  wohl  aber  statt  ihrer  in 
einzelnen  Fällen  (meist  des  vierzehnten  Jahrhunderts)  Gänge  mit  Balustraden. 
Die  Gewölbe  sind  in  der  Regel  minder  hochaufsteigend,  niemals,  wie  im 
französischen  Style  gewölinlich,  gestelzt,  dagegen  kommt  hier  die  Bildung 
reicherer,  mit  künstlich  zusammengefügten  Rippen  ausgestatteter  Gewölbe 
ziemlich  frühe  im  vierzehnten  Jahrhundert  in  Aufnahme.  Sie  wurden  später 
so  beliebt,  dass  sie  in  manchen  Gegenden  das  einfache  Kreuzgewölbe  fast 
ganz  verdrängten.  Man  fand  in  den  zierlichen  Stern-,  Netz-  oder  Fächer- 
formen, welche  sich  in  dieser  Weise  an  der  Decke  bildeten,  einen  Ersatz 
für  den  versagten  Schmuck  der  Wände,  und  wusste  in  der  That  vermittelst 
ihrer  zuweilen  den  Räumen  eine  grosse  und  eigenthümliche  Schönheit  zu 
verleihen. 

Wenn  das  Material  der  plastischen  Ausstattung  Hindernisse  in  den  Weg 
legte,  so  gab  es  dagegen  die  Gelegenheit  zu  cigenthümlichen  Farbenwir- 
kungen. Die  moderne  Sitte,  den  Ziegelbau  ganz  mit  Bewurf  zu  bedecken 
und  ihm  dadurch  eine  ihm  fremde  Färbung,  wohl  gar  den  täuschenden  Schein 
eines  Steinbaues  zu  geben,  kannte  man  noch  nicht.  Die  Mauern  sind  viel- 
mehr gänzlich,  wie  man  jetzt  sagt,  im  Rohbau  ausgeführt  und  zwar  niciit 
bloss  im  Aeusseren,  sondern  auch  im  Inneren,  so  dass  nur  die  wirkliche 
Farbe  der  Ziegel  und  die  Steinfugen  ihre  Zierde  bilden.     Selbst  Malereien 


Die  Güthik  im  Zit'golbau.  461 

wurden  meistens  auf  die  blosse  Wand  gesetzt.  Nur  einzelne  Tbeile,  die  man 
sondern  wollte,  oder  bei  denen  ein  Verbauen  der  Ziegel  und  daber  ein 
unregelmässiger  Verband  eintrat,  wie  Gewülbfläcben,  Bögen,  Mauerblendeu 
und  Niscben,  wurden  mit  Verputz  überzogen.  Dagegen  liebte  man,  das 
Aeussere  durcb  wecbselnde  Farben  der  Steine  zu  beleben,  und  verwandte  die 
glasirten  Ziegel  uicbt  bloss  zu  Ornamenten,  sondern  aucli  in  der  glatten 
Mauer,  wo  sie  bald  in  horizontalen  Lagen,  bald  schachbrettartig  mit  rauhen 
Steinen  wechseln,  zuweilen  auch  verticale,  gebrochene  oder  im  Zickzack 
bewegte  Streifen  bilden ;  eine  Verzierungsart,  die,  nur  in  dunkleren  Farben 
und  daber  milder,  eine  ähnliche  Wirkung  hervorbringt,  wie  der  Wechsel  ver- 
schiedener Marmorarten  an  südlichen  Bauten 

Wir  sehen  nach  allem  diesem,  dass  der  Ziegelbau  seine  selbständige 
Entwickelung,  seinen  eigenthümlichen  Styl  hat,  der  aus  gewissen  Elementen 
des  Gothischen,  aber  mit  Berücksichtigung  des  Materials  und  mit  Entfernung 
alles  dessen,  was  ans  der  Beschaffenheit  des  Hausteins  erwachsen  war,  sieb 
bildete.  Die  Gothik  steht  vermöge  ihrer  Vereinfachung  hier  nicht  in  so 
scharfem  Gegensatze  zu  dem  romanischen  oder  gar  zu  dem  Uebergangsstyle, 
als  in  anderen  Gegenden;  sie  trägt  allgemeinere  Züge,  war  daher  auch  we- 
niger wechselnd,  weniger  abhängig  von  dem  jedesmaligen  Zeitgeiste  und 
daher  auch  weniger  der  Entartung  unterworfen,  die  in  anderen  Gegenden 
später  eintrat.  Dies  mag  es  rechtfertigen,  wenn  ich  in  der  eben  vorausge- 
schickten Schilderung  zum  Theil  über  die  Grenzen  dieses  Jahrhunderts 
hinausgegriffen  und  auf  Einzeluheiten  hingewiesen  habe,  die  sich  erst  später 
entwickelten. 


Ungeachtet  der  sehr  entschiedenen  Einwirkung  des  Materials  und  der 
wenigstens  im  Allgemeinen  gleichartigen  Geistesrichtung  der  Bewohner  sind 
die  Leistungen  der  einzelnen  Landschaften  des  weiten  Gebietes  der  nord- 
deutschen Backsteinarchitektur  doch  sehr  abweichend.  Wir  müssen  sie  daher 
einzeln  betrachten  und  beginnen  unseren  Ueberblick  auf  der  westlichen 
Grenze.  Für  das  Wesen  der  Holländer  ist  es  in  vielen  Beziehungen 
charakteristisch,  dass  sie  den  niederdeutschen  Volksgeist  und  zwar  in 
höchster  Steigerung  seiner  Zähigkeit  und  Nüchternheit  mit  einer  entschie- 
denen Hinneigung  zu  der  Weise  der  westlichen  romanischen  Völker  ver- 
einigen. Die  geographische  und  dynastische  Verbindung,  in  welcher  sie  seit 
uralten  Zeiten  mit  den  .belgischen  Provinzen  standen,  und  die  durch  die 
Eigenthümlichkeit  ihres  Landes  gegebene  Richtung  nach  Aussen,  nach  den 
anderen  Küsten  der  Nordsee,  mag  diese  Erscheinung  erklären.  Von  dieser 
Vereinigung  zeugen  auch  ihre  mittelalterlichen  Kirchen.  Sie  haben  die  Ein- 
fachheit und  Schmucklosigkeit,  welche  allen  niederdeutschen  Bauten  gemein 


462  Gotliischer  Styl  in  Deutschland. 

ist,  und  zwar  im  höchsten  Maasse,  und  sind  dennoch  in  der  Anordnung 
Nachbildungen  der  französischen  Kathedralen.  Sie  sind  meistens  in  geräu- 
migen Dimensionen  angelegt,  in  Kreuzgestalt,  mit  niedrigen  Seitenschiffen, 
im  Chor  mit  Umgang  und  Kapellenkranz,  aber  von  schwerfälligen,  breiten 
Verhältnissen,  ohne  organische  Durchbildung  und  feineres  Detail.  Die 
Leichtigkeit  des  "Wassertransportes  bewirkte,  dass  man  statt  der  mühsamen 
Formsteine  die  Gewände  von  Thüren  und  Fenstern,  die  Gesimse  und  Ecken 
der  Strebepfeiler  von  Sandstein  bildete,  aber  auch  dies  geschah  ohne  feinere 
Steinmetzarbeit,  Der  Schmuck  der  Fialen  und  Strebebögen  fehlt,  das 
Maasswerk,  freilich  häufig  bei  späteren  Restaurationen  ganz  herausgeschla- 
gen, ist  in  der  Regel  flach  und  bedeutungslos.  Zum  Theil  erklärt  sich  diese 
mangelhafte  Behandlung  des  Styles  daraus,  dass  ihm  ausser  dem  Material 
auch  das  architektonische  Lebensprincip  fehlte,  die  Wölbung.  Denn  nur 
die  Seitenschiffe  haben  wirkliche  Kreuzgewölbe,  während  das  Mittelschiff, 
das  Kreuz  und  selbst  der  Chor  mit  einer  Holzdecke  versehen  sind,  welche 
in  einigen  Fällen  die  Gestalt  einer  Wölbung  nachahmt.  Auch  lassen  die 
nackten,  ungegliederten,  meistens  nur  durch  eine  Reihe  von  Mauerblenden  unter 
den  Fenstern  belebten  Oberwände  keinen  Zweifel  darüber,  dass  eine  Wölbung 
nie  beabsichtigt  worden.  Der  innere  Grund  für  die  Ausbildung  der  streben- 
den und  tragenden  Formen  fehlt  also ;  nur  der  Schein,  nicht  das  Wesen  ist 
gegeben.  Diese  Oberwände  werden  dann  endlich  nicht  von  gegliederten 
Pfeilern,  sondern  —  wie  in  Belgien  —  von  schlanken  Rundsäulen  mit  acht- 
eckiger Basis  und  mit  einem  runden,  durch  Blattwerk  verzierten  Kapital 
getragen,  was  bei  manchen  Durchsichten  nicht  ungünstig  wirkt,  und  den 
späteren  holländischen  Architekturmalern  möglich  machte,  den  Innenan- 
sichten ihrer  einheimischen  Kirchen  einigen  Reiz  abzugewinnen,  aber  doch 
nicht  den  Mangel  constructiver  Kraft  ersetzen  kann. 

Manche  Bauwerke,  die  von  holländischen  Gelehrten  wahrscheinlich  zu 
früh  datirt  werden  und  doch  wohl  erst  dem  vorgerückten  13.  Jahrhundert 
angehören,  zeigen  noch  eine  Art  Uebergangsstyl  und  sind  auch  grösstentheils 
noch  in  Sandstein  oder  in  Tuffstein  gehalten.  So  das  Langhaus  der 
St.  Simon-  und  Judaskirche  zu  Ootmarsum,  eine  dreischiffige  Hallen- 
kirche, nicht  ohne  Verwandtschaft  mit  westphälischeu  Anlagen,  mit  wesent- 
lich romanischen  Einzelforraen,  aber  mit  durchgehenden  Spitzbögen  in  Arca- 
den  und  Wölbung.  Zwischen  gut  gegliederten  Hauptpfeilern  stehen  schwä- 
chere Nebenpfeiler,  welche  die  niedrige  fensterlose  Oberwand  tragen. 
St.  Nicolaus  zu  Deventer,  1198  gestiftet,  ist  in  seinen  älteren  Partien 
noch  Tuffsteinbau;  die  dreischiffige,  kreuzförmige  Kirche  enthält  einen 
schmalen  Umgang  um  den  polygon  geschlossenen  Chor,  die  Arcaden,  im 
Langchor  rund,  im  Schiff  und  Chorschluss  aber  spitz,  werden  von  runden 
Säulen  mit  breiten  Deckplatten  getragen,  von   denen   die  Vorlagen   der  — 


Holland.  463 

nur  noch  in  Erneuerung?  vorhandenen  —  Ge'.völbe  aufwachsen.  Dagegen  ist 
der  Unterbau  des  Westthurms,  welcher  sich  vor  der  St.  Johanneskirche 
zu  Herzogenbusch^);  einem  der  prcächtigsten  Werke  der  späteren  hollän- 
dischen Gothik,  erhebt,  vorherrschend  in  Backsteinen  mit  Details  des  Ueber- 
gaugsstyls  ausgeführt.  Den  Ziegelbau  in  Verbindung  mit  Sandstcindetails  lin- 
den wir  dann  in  der  Walpurgiskirche  zu  Zütphen,  von  welcher  Mittel- 
schiff und  Chor  aus  dieser  Epoche  stammen.  Sie  zeigt  noch  immer  den 
Wechsel  von  stärkeren  und  schwächeren  Pfeilern,  sonst  aber  bereits  gothische 
Details  und  sechstheilige  Gewölbe,  Aus  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts 
mag  die  Buurkirche  zu  Utrecht,  eine  Hallenkirche,  stammen,  welche 
runde  Schäfte,  mit  vier  runden  Diensten  besetzt,  Blattkapitäle  und  steinerne 
Rippengewölbe  aufweist.  Später  wurden  noch  zwei  äussere  Seitenschiffe 
hinzugefügt  und  im  16.  Jahrhundert  wurden  die  beiden  Chöre  abgebrochen. 
Vielleicht  gehören  auch  noch  einige  andere  Hallenkirchen,  das  Langhaus  der 
St.  Martinskirche  zu  Groningen,  die  St.  Cunerakirche  zu  Rhenen, 
mit  weitabstehenden  Pfeilern  in  Gestalt  übereckgestellter  Vierecke  und  mit  aus- 
gekragten Diensten  unter  der  Wölbung,  in  diese  Zeit. 

Den  Chor  der  Kathedrale  zu  Utrecht  haben  wir,  als  eine  von  der 
Schule  von  Köln  beeinflusste  Schöpfung,  schon  früher  erwähnt,  und  es  ver- 
steht sich,  dass  sie  von  der  obigen  Schilderung  nicht  betroffen  wird.  Auch 
muss  ich  zugeben ,  dass  meine  Anschauungen  sich  auf  die  Kirchen  der  grös- 
seren holländischen  Städte  beschränken^  die  meistens  erst  aus  dem  vier- 
zehnten und  fünfzehnten  Jahrhundert  zu  stammen  scheinen  -),  dass  ferner 
die  Xüchternheit  ihres  Anblickes  durch   die  Strenge  des  holländischen  Pro- 


1)  Die  Kirche,  über  welche  historische  Untersuchungen  im  Organ  für  christiicUe 
Kunst  1854,  Nrü.  3  If.  mitgetlieilt  sind,  scheint  zwar  noch  Ueberreste  aus  der  Bau- 
periode von  1280—1312  zu  enthalten,  ist  aber  jedenfalls  durch  den  nach  dem  Brande 
von  1419  begonnenen  und  später  fortgesetzten  Bau  so  umgestaltet,  dass  man  über  den 
architektonischen  Werth  jenes  früheren  Gebäudes  nicht  urtheilen  kann. 

-)  Niederländische  Briefe  S.  168  und  174,  vergl.  mit  den  im  Wesentlichen  über- 
einstimmenden Bemerkungen  F.  v.  Quast's  in  Kugler's  Museum  1834,  Nr.  37  imd  38 
und  Kugler,  Geschichte  der  Baukunst,  Bd.  III  von  S.  428  an.  —  Dankenswerthe  No- 
tizen gibt  F.  N.  Eijck  tot  Zuylichem  ,  kort  ovei'zigt  van  den  bouwtrant  der  middel- 
euwsche  Kerken  en  Nederland  ,  in  den  Berigten  van  het  historisch  Gezelschap,  II,  I, 
1849.  Aber  auch  die  von  ihm  unter  dem  13.  Jahrhundert  angeführteu  Denkmäler 
gehören  meist  wesentlich  einer  späteren  Zeit  an.  Die  (mir  unbekannt  gebliebene) 
Martinskirche  zu  Bommel,  von  holländischen  Schriftstellern  (Kijst,  De  Kerkelijke  Archi- 
lekture  en  de  Dodendansen,  Leyden  1844,  S.  31)  als  ausgezeichnetes  Werk  gepriesen, 
ist  auch  erst  ein  Bau  des  14.  Jahrhunderts,  1300  begonnen  und  1304  geweiht,  was, 
wie  Kugler  bemerkt,  wohl  nur  vom  Chore  gelten  mag.  Schon  der  .Slangel  an  For- 
schungen einheimischer  Gelehrten  über  den  holländischen  Kirchenbau  des  Mittelalter? 
spricht  dafür,  dass  er  überaus  wenig  Interesse  haben  muss. 


4^4  Gotliischer  Styl  in  Deutschland. 

testantismus  gesteigert  ist,  der  nicht  bloss  jeden  malerischen  Schmuck  sorg- 
fältig zerstört,  sondern  auch  bei  der  Zertrümmerung  der  Glasgemälde  zugleich 
in  vielen  Fällen  das  Maasswerk  der  Fenster  geopfert  hat.  Aber  die  Werke 
des  vierzehnten  Jahrhunderts,  die  sonst  überall  die  des  vorhergegangenen 
an  Keichthum  und  Schmuck  übertreffen,  berechtigen  uns  zu  dem  Schlüsse, 
dass  schon  dieses  dieselbe  Richtung  eingeschlagen  habe. 


In  den  östlich  von  Holland  gelegenen  Landschaften  finden  wir  das  auch 
dort  schon  auftretende  System  der  Hallenkirchen,  welches  ohne  Zweifel  von 
Westphalen  hieher  gelangt  war.  Schon  auf  dem  linken  Ufer  der  Weser,  im 
Oldenburgischen,  hat  die  Kirche  des  Fleckens  Berne,  mit  eckig  gebildeten 
Pfeilern,  romanischen  Blattkapitälen,  kleinen  rundbogigen  Fenstern  und 
flachzugespitzten  Scheidbögen,  also  wahrscheinlich  um  die  Mitte  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  entstanden^),  drei  gleichhohe,  spitzbogig  überwölbte 
Schifte,  obgleich  die  nicht  weit  entfernte  schöne  Cistercienserkirche  von 
Hude  —  jetzt  Ruine  ■ —  kurz  vorher  (bald  nach  1234)  noch  die  alte  An- 
ordnung mit  niedrigen  Seitenschiffen  in  Erinnerung  gebracht  hatte.  Diese 
ist  ein  Backsteinbau  von  hoher  Eleganz,  aber  zugleich  dadurch  merkwürdig, 
dass  sie  von  den  übrigen  norddeutschen  Backsteinbauten  gothischen  Styles 
abweicht  und  gewisse  Anklänge  an  die  französische  Gothik  wahrnehmen 
lässt;  so  in  dem  Vorherrschen  der  Horizontallinien,  in  dem  Aufsteigen  in 
gesonderten  Stockwerken,  endlich  auch  in  der  Form  mancher  Consolen  und 
Profile.  Ueber  den  Arcaden  ist  die  Wand  jedesmal  durch  ein  Paar  schlanke 
Blendbögen  belebt,  welche  aber  mit  den  Arcaden  in  einen  gemeinschaft- 
lichen Rahmen  gefügt  sind.  Vor  allen  Pfeilern  steigen  nämlich  breite  Wand- 
streifen zwischen  Rundsäulchen  ungebrochen  in  die  Höhe,  wo  ein  kräf- 
tiges Gesims  die  unteren  Partien  vollständig  von  den  obern  sondert  und 
die  Rippen  des  Gewölbes  trägt,  dessen  Joche  stets  die  Breite  von  zwei 
Arcaden  haben.  Jeder  Schildbogen  enthält  nur  ein  schlankes  Oberlicht,  das 
also  über  den  unteren  Zwischenpfeilern  steht  und  beiderseits  von  zwei  nie- 
drigeren Blendbögen  eingeschlossen  wird.  Es  ist  mithin  eine  eigenthümliche 
Mischung  der  baulichen  Traditionen  des  Ordens  mit  den  Anforderungen  des 
Backsteinbaues. 


1)  Wülil  erst  nach  1260,  dem  Text  von  \\.  Stock  in  Heft  IX  der  „mittelalter- 
lichen BaudeukmiUer  Niedersachsens"  zufolge,  wo  sowohl  Berne  als  auch  Hude  publi- 
cirt  sind.  Die  Kirche  in  Berne  ist  in  Hausteinen  gebaut  und  hier  nur  angeführt,  um 
das  Vordringen  des  westphälischen  Systems  nach  Norden  zu  erweisen.  Vgl.  auch 
H.  A.  Müller  im  deutschen  Kunstblatt  1854,  S.  25G. 


Der  Ziegelbau.  465 

Noch  entschiedener  herrscht  die  Hallenkirche  jenseits  der  Weser,  im 
Herzogthunie  Lüneburg.  Das  älteste  gothische  Werk  dieser  Gegend,  von 
bestimmtem  Datum,  der  nach  einem  Brande  von  1281  im  Jahre  1290  ge- 
gründete Chor  des  Domes  zu  Verden^),  erinnert  insofern  noch  an  hollän- 
dische Bauten,  als  auch  hier  bei  übrigens  vorherrschender  Anwendung  von 
Ziegeln  die  Einfassungen  der  Fenster  und  Strebepfeiler  in  Sandstein  gear- 
beitet sind.  Das  Kreuzschiff  ist  sogar  ganz  in  Quadersteinen  gebaut.  Allein 
die  Anlage  ist  sehr  abweichend  von  holländischer  Weise ;  der  Chor  hat  näm- 
lich keinen  Kapellenkranz,  wohl  aber  einen  Umgang  und  zwar  von  gleicher 
Höhe  mit  dem  inneren  Räume,  so  dass  die  Absicht  der  Errichtung  einer 
Hallenkirche  ausser  Zweifel  ist,  die  dann  auch  in  dem  freilich  erst  1473  bis 
1490  hinzugefügten  Langhause  zur  Ausführung  kam.  Die  Pfeiler  im  Chore 
wie  in  diesem  späteren  Langhause  sind  kantonirte  Rundsäulen  mit  schmalen 
Kapitalen  und  runder,  zweimal  abgestufter  Basis ;  das  Maasswerk  der  grossen 
Fenster  erinnert,  wenn  auch  bei  minder  bedeutender  Wirkung,  an  das  des 
Mindener  Domes.  Auch  die  übrigen  Kirchen  des  Landes  sind,  so  viel  ich 
weiss,  mit  einer  einzigen,  intei-essanten,  aber  erst  in  der  folgenden  Epoche 
zu  erwähnenden  Ausnahme,  durchweg  in  Hallenform  errichtet,  meist  in  ge- 
räumigen Dimensionen,  aber  in  sehr  schlichter  Form,  welche  die  Unterschei- 
dung älterer  Theile  und  späterer  Zusätze  erschwert.  Mehrere  derselben, 
namentlich  die  Klosterkirchen  von  Ebsdorf  und  Lüne  und  vielleicht  selbst 
die  jetzt  fünfschiffige  Johanniskirche  in  Lüneburg,  mögen  noch  Theile  aus 
dem  dreizehnten  Jahrhundert  enthalten. 


Weiter  östlich,  jenseits  der  Elbe,  hört  die  Herrschaft  der  Hallenkirche 
wieder  auf;  wir  finden  vielmehr  eine  Reihe  von  Backsteinkirchen  mit 
niedrigen  Seitenschiffen  und  im  Style  der  französischen  Gothik,  aber  nun 
nicht  mehr  in  der  verkümmerten  Weise  wie  in  Holland,  sondern  in  reicher 
und  glänzender  Gestalt,  wenn  auch  mit  manchen  durch  das  Material  beding- 
ten Eigenthümlichkeiten.  Der  älteste  Bau  und  das  Vorbild  dieser  Gruppe 
ist  die  Pfarrkirche  zu  St.  Marien  in  Lübeck.  Diese  Stadt,  seit  Heinrich 
des  Löwen  Zeiten  eine  Ansiedehmg  deutscher  Kaufleute  im  wendischen 
Lande,  war  durch  die  Gunst  der  Umstände  und  den  Unternehmungsgeist  ihrer 


1)  Bergmann,  der  Dom  zu  Verden,  1833.  Die  Gründung  und  die  erst  im  Jalire 
1390  erfolgte  Weihe  sind  durch  eine  Inschrift  beglaubigt.  Ohne  Zweifel  war  aber 
auch  hier  der  Chor  lange  vor  dieser  "Weihe  schon  im  Gebrauche  gewesen,  da  der  alte 
Dom  so  gänzlich  durch  Feuer  zerstört  war,  dass  man  nicht  einmal  die  Reliquien 
retten  können. 

Schnaase's  KuEstgesch.    2.  Aufl.    V.  '  30 


466 


Gothischer  Styl  in  Deutschland. 


Fig.  119. 


Bewohner  rasch  zu  dem  Range  eines  bedeutenden  Handelsplatzes  gestiegen. 
Im  Jahre  1266  als  freie,  nur  dem  Kaiser  unterworfene  Reichsstadt  anerkannt, 
siegreich  gegen  ihre  Nachbarn,  mit  ihren  Schiffen  die  Meere  bedeckend, 
spielte  sie  in  der  Ostsee  ungefähr  dieselbe  Rolle,  wie  zweihundert  Jahre 
vorher  Amalfi,  Pisa,  Genua  im  mittelländischen  Meere.  Nur  mit  dem  gün- 
stigen Unterschiede,  dass,  während  diese  italienischen  Städte  ihre  Kräfte  in 
Kämpfen  miteinander  vergeudeten,  unsere  deutsche  Kolonie  sich  durch 
Bündnisse  mit  anderen  Städten  verstärkte,  aus  denen  bald  die  mächtige 
Hansa,  deren  Haupt  sie  wurde,  hervorging.  Wie  dort  wurde  auch  hier  der 
Reichthum  und  das  Selbstgefühl  der  Kaufherren  ein  Antrieb,  ihre  Stadt  durch 
grossartige  Bauten  zu  schmücken,  zu  denen  sich  eine  Veranlassung  ergab, 
als  im  Jahre  1276  die  bisherige,  wahrscheinlich  kleine  Pfarrkirche  abbrannte. 
Lübeck  hatte  damals  schon  ansehnliche  Factoreien  in  Brügge,  Antwerpen 
und  London;  Frankreich  und  die  prachtvolle  Architektur  der  westlichen 
Länder  war  den  reisenden  Kaufleuten  nicht  unbekannt  geblieben,  und  diese 
wurde  das  Vorbild,  mit  dem  sie  bei  der  Ausführung  ihrer  städtischen  Kirche 

wetteiferten,  wie  einst  die  Pisaner  bei 
Erbauung  ihres  Domes  mit  den  Kup- 
pelbauten des  Orients.  Der  Bau  muss 
unmittelbar  nach  dem  Brande  begon- 
nen und  sehr  rasch  betrieben  sein, 
denn  schon  in  den  Jahren  1304  und 
1310  wurden  die  beiden  westlichen 
Thürme  begonnen,  wie  darin  befind- 
liche Inschriften  bezeugen.  Er  ist 
ganz  in  Backsteinen  ausgeführt,  und 
daher  ohne  jene  reichen  Verzierun- 
gen namentlich  des  Aeusseren,  welche 
nur  in  natürlichen  Steinen  gelingen, 
aber  von  so  schönen  Verhältnissen 
und  so  luftigem  und  freiem  Auf- 
schwünge, dass  man  diesen  Mangel 
vergisst.  Die  Anlage  ist  mächtig  und 
von  bedeutenden  Dimensionen.  Zwei 
Thürme,  gleichmässig  vollendet,  stei- 
gen auf  der  Westseite  in  unverjüng- 
ten  und  nur  durch  ihre  Fensterpaare 
verzierten  viereckigen  Stockwerken, 
mit  schlankem,  voiv  vier  Giebeln  ein- 
geschlossenem, allerdings  undurchbrochenem  Helme  bis  zu  der  ansehnlichen 
Höhe   von   431  Fuss  empor,  und   begrenzen   den  Giebel   des  Mittelschiffes. 


Die  Marienkirche  zn  Lübeck. 


Dom  zu  Lübeck.  467 

"VVie  in  Nürnberg  an  der  St.  Lorenzkirche  setzte  sicli  also  auch  hier  das 
bürgerliche  Selbstgefühl  über  das  Herkommen  fort  und  gab  der  blossen 
Pfarrkirche  den  stolzen  Thurmschmuck,  der  gewöhnlich  nur  den  Kathedralen 
und  reichen  Stiftskirchen  zu  Theil  wurde.  Höchst  wahrscheinlich  geschah 
es  in  Lübeck  gerade  im  Wetteifer  mit  dem  Dome.  Hinter  den  Thürmen 
•erstreckt  sich  die  Kirche  in  Kreuzgestalt,  deren  Mitte  nur  durch  ein  kleines 
Thürmchen,  einen  sogenannten  Dachreiter,  bezeichnet  ist,  bis  zur  Schluss- 
kapelle 354  Fuss  lang,  in  den  Kreuzarmen  197  Fuss  breit.  Das  Mittelschiff, 
im  Langhausc  ausser  der  Vorhalle  unter  dem  Thurme  sechs,  im  Chore  vier 
schmale  Gewölbfelder  enthaltend,  erscheint  ungeachtet  seiner  Breite  von 
40  Fuss  sehr  schlank,  weil  es  sich  zu  der  gewaltigen  Höhe  von  134  Fuss 
erhebt,  und  überdies  die  ziemlich  nahe  gestellten  Pfeiler  schlanke  ^Vand- 
fclder  bilden.  Es  ragt  mit  Oberlichtern  von  bedeutender  Höhe  über  die 
73  Fuss  hohen  Seitenschiffe  empor,  welche  auch  das  Kreuzschiff  umgeben 
«nd  den  im  halben  Achteck  geschlossenen  Chor  als  Umgang  mit  einem  Ka- 
pellenkranze, jedoch  von  etwas  vereinfachter  Gestalt,  umschliesscu.  Die 
Pfeiler  sind  im  Kerne  viereckig  mit  durchgehenden  hohen  Diensten,  beson- 
ders im  Chore  sehr  reich  gegliedert,  die  Kapitale  klein,  mit  feinem  Blatt- 
werk verziert.  Oberhalb  der  Scheidbögen  ist  die  Wand  dünner  gehalten,  so 
dass  ein  Umgang  unter  den  Oberlichtern  entsteht,  der  statt  der  Triforieu 
■durch  eine  wiederum  im  Chore  besonders  reich  gegliederte  Maasswerkgallerie 
geschlossen  ist.  Das  Maasswerk  der  Fenster  ist  freilich  überall  sehr  ein- 
fach, nur  durch  die  Verbindung  jedes  Pfostenpaares  zu  einem  an  die  Ein- 
fassung anstossendcn  Spitzbogen  gebildet ;  die  Strebepfeiler  sind  zu  niedrigen 
Begräbnisskapellen  benutzt  und  insoweit  in  das  Innere  gezogen ;  die  Strebe- 
bögen lehnen  sich  unverziert  an  die  ebenfalls  schmucklosen  lisenenartigen 
Wandverstärkungen  des  Oberschiffes  an.  Aber  ungeachtet  dieser  Einfach- 
heit erscheint  schon  das  Aeussere,  besonders  durch  die  schlanke  Höhe  des 
JNIittelschiffes,  höchst  imposant,  während  das  Innere  in  der  That  zu  den 
schönsten  gothischen  Kirchenschiffen  zu  zählen  ist. 

Für  jetzt  blieb  dieser  bedeutendste  Bau  an  der  Ostseeküste  noch 
■einsam;  erst  nachdem  er  vollendet  war,  imvierzehnten  Jahrhundert,  erweckte 
•er,  hauptsächlich  im  JMecklenburgischen,  dann  aber  auch  theils  in  Lüneburg, 
theils  in  Vorpommern;  zahlreiche  Nachfolge,  und  wir  werden  hier  in  der 
folgenden  Epoche  eine  Reihe  von  bedeutenden  Kirchen  kennen  lernen,  welche 
sich,  wenn  auch  mit  einigen  weiteren  Modificationen,  genau  an  das  Vorbild 
des  Lübecker  Baues  anschliessen. 


Wenden  wir  uns  jetzt   dem  ßinnenlande  zu,   so   ist  zunächst  die  Mark 
Brandenburg  zu  nennen,  welche  seit  der  Mitte  des  Jahrhunderts  unter  der 

:J0* 


468  Gothischer  Slvl  in  Deutschland. 

kräftigen  Herrschaft  der  anhaltinischen  Markgrafen,  Johann's  I.  und  Otto's  III.^ 
und  durch  die  weitere  Entwickelung  des  deutschen  und  städtischen  Elemen- 
tes mächtig  aufblühete.  Ein  so  plötzliches  und  entschiedenes  Anlehnen  an 
französische  Gothik,  wie  in  der  weitblickenden  Handelsstadt  Lübeck,  konnte_ 
hier  nicht  stattfinden;  es  machten  sich  vielmehr  in  dem  ausgedehnten  und 
durch  verschiedene  Colonisation  bevölkerten  Lande  mancherlei  Einflüsse 
geltend.  Der  Uebergangsstyl  erhielt  sich  noch  lange,  bis  dann  um  1270, 
reiner  frühgothischer  Styl  in  Aufnahme  kam ;  aber  die  Mönchsorden 
bauten  ihren  Traditionen  gemäss  mit  niedrigen  Seitenschiffen,  während 
städtische  Kirchen,  wie  die  St.  Nikolauskirche  zu  Frankfurt  an  der  Oder  ^), 
in  frühgothischem,  noch  mit  älteren  Reminiscenzen  gemischtem  Style,  schon 
die  Hallenform  zeigten.  Frühgothische  Motive,  mit  solchen  des  Uebergangs- 
stylcs  gemischt;  hatten  wir  bereits  in  dem  Langhause  der  Klosterkirche  zu 
Lehnin  kennen  gelernt-).  Eine  weitere  und  charakteristische  Entwickelung 
des  gothischen  Backsteinbaues  giebt  die  Cistercienserkirche  zu  Chorin ^) 
die  jetzt  freilich  nur  als  Ruine  erhalten  ist.  Das  Kloster,  schon  1233  gestif- 
tet, wurde  im  Jahre  1273  an  diese  Stelle  verlegt,  wo  man,  da  es  schon 
früher  begütert  war  und  gerade  jetzt  reichlich  beschenkt  wurde,  den  Kirchen- 
bau sehr  bald  begann.  Er  hat  in  gewohnter  Weise  Kreuzgestalt,  den  Chor 
nicht  mehr  gerade,  sondern  mit  fünf  Seiten  des  Zehneckes  geschlossen,  die 
Kreuzarme  ohne  Seitenschiffe,  aber  nach  der  Sitte  des  Ordens  mit  östlichen 
Kapellen  versehen,  welche  indessen,  so  wie  das  südliche  Seitenschiff,  jetzt 
abgebrochen  sind,  das  Langhaus,  wie  auch  sonst  in  den  Ordenskirchen,  über- 
aus lang  und  schmal,  aus  eilf  Gewölbfeldern  bestehend.  Die  niedrigen  Seiten- 
schiffe sind  mit  starken  Strebepfeilern  bewehrt,  lehnen  sich  aber  ohne 
Strebebögen  an  das  Mittelschiff  an,  dessen  schlanke  zweitheilige  Maasswerk- 
fenster darüber  hinausragen.  Sehr  eigenthümlich  ist  die  Westfagade,  deren 
mittlerer  Theil  von  zwei  thurniartigen  Vorlagen  begrenzt,  durch  zwei  Strebe- 
pfeiler in  drei  schlanke  Felder  getheilt,  mit  ebensoviel  hohen  Fenstern  ver- 
ziert, oben,  weit  über  den  abfallenden  Seiten  des  Daches,  mit  drei  kleinen 
Giebeln  abschliesst,  und  sich  so  von  den  niedrigen,  von  Mauerblenden  be- 
deckten AVänden  der  Seitenschiffe  völlig  sondert.  Diese  Verzierung  mit 
schlanken  Mauerblenden,  welche  dem  Backsteinbau  so  natürlich  ist  und  ge- 
wissermaassen   für   die  Entbehrung   der  kräftigen  Strebepfeiler   und  Fialen 


')  V.  Quast  in  dem  bereits  aiigefnlirten  Aufsätze  im  deutschen  Kuiistblatte  1850, 
S.  241. 

2)  Vgl.  oben  S.  335. 

■'')  Einige  Nachrichten  und  gute  Zeichnungen  sind  iu  der  Zeitschrift  fi)r  Bauwesen,^ 
1854,  milgellieilt.  —  Pubücirt  bei  Adler,  miltelalterliclie  Backstein-Bauwerke,  Bl.  LXVIl 
bis  LXIX,   bis  jetzt  noch  ohne  Text. 


Die  Klosterkirche  zu  Chorin. 


469 


•entschädigt,  ist  dann  auch  an  den  Giebeln  der  Kreuzfagaden  und  der  Kloster- 
gebäude reichlich  und  sehr  geschmackvoll  angewendet.  Im  Inneren  sind 
besonders  die  Pfeiler,  namentlich  im  östlichen  Theile  der  Kirche,  bemerkens- 
werth.     Während  nämlich  die  der  westlichen  Hälfte  sämmtlich  sehr  einfach, 


Fig.  120. 


A   1-   A 


Westfa^ade  von  Chorin. 

quadratisch  mit  Einkerbungen  der  Ecken  gebildet  sind,  wechseln  dort  solche 
einfache  Pfeiler  mit  reichgegliederten,  deren  Peripherie  aus  grösseren 
Kreistheilen  und  Rundstäben  oder  Ecken  mannigfach  zusammengesetzt  ist, 
so  jedoch,  dass   die  Frontseite  nach   dem  Mittelschiffe  zu,  den  viereckigen 


470  Gothischer  Styl  in  Deulseliland. 

Pfeilern  entsprechend,  stets  eine  eckige  Vorlage  hat.  Es  ist  offenbar  ein 
Versuch,  ohne  grossen  Aufwand  die  Wirkung  des  gegliederten  Bündelpfeilers 
durch  Formsteine  zu  erreichen.  Die  Basis  hat  noch  fast  die  Gestalt  der 
attischen,  und  folgt  mit  ihrem  senkrechten  Untersatze  dem  Profile  des  Pfei- 
lers ;  die  Kapitale,  fast  wie  ein  dorischer  Echinus  ausladend,  sind  mit  flach 
anliegenden,  auf  jedem  der  grossgebildeten  Formsteine  sich  wiederholenden^ 
ziemlich  stumpf  stylisirten,  aber  doch  zum  Theil  an  einheimische  Pflanzen 
erinnernden  BLättern  verziert.  Diese  Kapitale  haben  aber  rings  umher 
gleiche  Höhe  und  tragen  nur  in  den  Seitenschiffen  die  Gewölbrippen,  wäh- 
rend für  die  oberen  Gewölbe  breite  und  kräftig  gegliederte  Dienste  von 
Consolen  aufsteigen,  welche  über  den  Pfeilern  angebracht,  alle  verschiedener 
Gestalt  und  ähnlich  wie  die  Kapitale  mit  Blattwerk  verziert  sind.  Die 
Scheidbögen  sind  einfach  und  derb,  die  Gewölbrippen  feiner  nnd  birnförmig 
profilirt,  aber  beide  stehen  auch  in  den  Seitenschiffen,  wo  sie  unmittelbar 
von  den  Kapitalen  aufsteigen,  in  keiner  organischen  Verbindung  mit  der 
Gliederung  der  Pfeiler.  An  einem  Portale  im  Inneren  der  Klostergebäude 
sind  Gewände  und  Archivolten  mit  fünf  Ordnungen,  also  ziemlich  reich,  mit 
wechselnden,  theils  runden,  theils  birnförmig  profilirten  Stäben  und  dazwi- 
schen gelegenen  Höhlungen  gegliedert,  die  aber  nur  aus  zwei  Formen  her- 
vorgegangen sind  und  mithin  sich  wiederholen.  Die  Balustraden  einiger 
Giebelwände  des  Klosters  und  das  Maasswerk  der  Fenster  sind  in  gutem 
Style  aus  leichten  Formsteinen  zusammengesetzt,  aber  die  Pfosten,  welche 
die  Fenster  theilen,  wieder  einfach  und  derb  profilirt.  Man  sieht,  die  orga- 
nische Durchbildung  der  gothischen  Bauten  natürlichen  Steines  ist  nicht  völlig- 
erreicht, es  mischen  sich  überall  wieder  schwere  Gliederungen  ein,  welche  der 
Wirkung  nach  denen  des  romanischen  Styles  gleichen;  aber  das  Ganze  giebt, 
vermöge  seiner  schlanken  und  richtigen  Verhältnisse  und  des  massigen  und 
wohlgewählten  Schmuckes,  einen  sehr  würdigen  und  befriedigenden  Eindruck, 
und  selbst  jene  Härten  und  Ungleichheiten  finden  eine  harmonische  Auf- 
lösung, wenn  man  erkennt,  dass  sie  nicht  aus  Willkür  oder  Stumpfheit  des 
Sinnes,  sondern  aus  der  Natur  des  Stoffes  hervorgegangen  sind.  Sie  tragen 
das  Gepräge  der  Wahrheit  und  erscheinen  daher  als  organischer  Ausdruck 
des  Materials.  Gleichzeitig  und  ebenfalls  in  gutem  frühgothischem  Style, 
mit  geringen  romanischen  Reminiscenzen,  sind  die  Klosterkirche  zu  Neuen- 
dorf in  der  Altmark  und  zu  Gramzow,  letztere  nur  noch  Ruine  ^),  und  die 
schöne  Kirche  Maria  Magdalena  zu  Neustadt-Eberswalde ''^).  In  dem 
letzten  Viertel  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  nach  einem  Brande  von  1269,. 


1)  Adler  a.  a.  0.,  Bl.  LXXXXI  f. 

-)  F.  V.  Quast  a.  a.  0.,  Adler  Cl.  LXXXVIII. 


Klosterkirche  zu  Berlin.  471 

wurde  endlich  auch  das  alte  romanische  Langhaus  des  Domes  zu  Havel- 
berg umgebaut^).  Die  schlichten  kreuzförmigen  Pfeiler  erhielten  nach  dem 
3Iittelschiflfe  zu  eine  starke  Vorlage,  aus  einem  grösseren  halbkreisförmigen 
Dienste  und  kleineren  Rundsäulen,  welche  meist  durch  Hohlkehlen  verbun- 
den sind,  bestehend.  Diese  Vorlagen  schliessen  sich  in  höchst  eigenthüm- 
licher  Weise  unter  den  Fenstern  der  erneuerten  Oberwand  in  schwach  spitz- 
bogigen  Blenden,  die  einen  Umgang  tragen,  zusammen. 

Ein  Beispiel  der  eigenthümlichen  Erscheinungen,  zu  welchen  die  Verbin- 
dung gothischer  Elemente  mit  Uebergangsformen  führen  konnte,  giebt  die 
Klosterkirche  zu  Berlin  2).  Die  Stelle  wurde  schon  im  Jahre  1271  einem 
Franciscanerkloster  verliehen,  aber  erst  1290  erhielt  das  Kloster  das  Geschenk 
eines  Ziegelofens,  und  da  die  noch  vorhandene  Inschrift  den  Geschenkgeber 
ausdrücklich  mit  zu  den  Stiftern  zählt,  so  wird  der  Bau  erst  in  dieser  späteren 
Zeit  begonnen  sein.  Der  Chor,  welcher  sich  ohne  Kreuzschiff  an  das  Langhaus 
anschliesst,  und  offenbar  erst  etwas  später,  im  vierzehnten  Jahrhundert,  ange- 
fügt wurde,  ist  durch  sieben  Seiten  des  Zehneckes  gebildet  (Fig.  121),  hält  da- 
her mehr  als  die  Hälfte  eines  Kreises,  so  dass  er  sich  über  das  Maass  seiner 
östlichen  Oeffnung  hinaus  erweitert;  eine  sehr  vortheilhaft  wirkende  Anord- 
nung, die  sich  später  in  diesen  Gegenden  Öfter  findet  und  offenbar  wie  die 
rheinischen  Choranlagen  von  Xanten  nnd  Oppenheim  den  Zweck  hat,  den 
Mangel  des  Chorumganges  zu  ersetzen  und  auch  ohne  ihn  dem  Chorraume 
eine  freiere  und  luftigere  Haltung  zu  geben.  Auch  das  westliche  Haupt- 
portal ist  ganz  dem  edelsten  gothischen  Style  entsprechend,  reich  profilirt 
und  mit  einem  zierlichen  Raukenornameut  als  Kapital  geschmückt.  Dage;.rn 
ist  das  Langhaus  in  schweren,  düsteren  Verhältnissen  angelegt,  im  IMittel- 
schifte  54,  in  den  beiden  Seitenschiffen  nur  28  Fuss  hoch,  mit  niedrigen, 
theils  vier-,  theils  achteckigen  Pfeilern,  welche  durch  weitgespannte,  einfach 
und  eckig  gegliederte  spitze  Scheidbögen  verbunden  sind.  Ihre  Kapitale, 
sehr  einfach  in  Form  einer  Welle  oder  auch  bloss  cylindrisch  gebildet,  aber 
mit  Rankengewinden  in  flachem  Relief,  unter  anderem  mit  ^Wein-  und 
Eichenlaub  in  ziemlich  freier  Xaturnachahmung  verziert,  tragen  die  schwer, 
aber  doch  meistens  gothisch  profilirten  Gewölbrippen.  Der  Anblick  dieses 
Langhauses  überrascht,  wenn  man  es  mit  dem  Gedanken  an  die  Zeit  seiner 
Entstehung  betritt;  mau  erwartet  das  leichte  Aufstreben  gothischer  Bauten, 
mindestens  eine  Stufe  der  Entwickelung,  wie  sie  sich  in  dem  gleichzeitigen 
Bau  von  Chorin  zeigt,  und  findet  stämmige,  gedrückte  Pfeiler,  breitge- 
spannte, stumpfe  Bögen,  dunkle  und  niedrige  Gewölbe,  Formen,   welche  den 


1)  Adler  a.  a.  0.,  II,  S.  3  S.,  BI.  LI,  LH. 

-)  Kugler,  kleine  Schriften  zur  Kunstgeschichte  I,   102  ff.,  wo  auch  Zeichnungen 
einzelner  Details  gegeben  sind.  —  Adler  Bl.  LXXI  f. 


472 


Gothischer  Slvl  in  Deuischland. 


Fig.  121. 


Eindruck  einer  viel  früheren  Zeit  machen.  Allein  bei  näherer  Betrachtung 
sind  auch  sie  im  Wesentlichen  aus  gothischen  Elementen  gebildet,  und  nur 
die  Art  ihrer  Verwendung  lässt  sie  so  alterthümlich  erschemen.  Es  war  für 

diese  Gegenden  noch  eine  Zeit 
des  Suchens,  man  kannte  den  go- 
thischen Styl  und  wollte  ihn  an- 
wenden; man  war  auch  in  der 
Kunst  des  Formens  weit  genug 
vorgeschritten,  um  selbst  feinere 
Details  und  manche  Art  des 
Schmuckes  darzustellen.  Aber  diese 
Einzelheiten  erhöhten  die  Kosten 
und  wollten  doch  nicht  recht  mit 
der  einfachen  Haltung  der  grös- 
seren Glieder  harmoniren,  und 
man  hatte  noch  nicht  das  Mittel 
gefunden,  diese  Gegensätze  aus- 
zugleichen. Uebrigens  darf  nicht 
unbemerkt  bleiben,  dass  die  fin- 
stere Haltung  des  Schiffes  die  Wir- 
kung des  Chores  erhöht,  der  sich 
wie  von  einem  Zwange  befreit  nach 
beiden  Seiten  erweitert  und  durch 
grössere  Fenster  hell  beleuchtet  ist. 


Grundriss  der  Klosterkirche  in  Berlin. 


Schlesien  ^),  obgleich  nicht 
bloss  ein  ursprünglich  slavisches 
Land,  sondern  noch  immer  von 
polnischen  Fürstengeschlechtern 
beherrscht,  war  dennoch  in  seinen 
niederen  Gegenden  von  deutschen 
Colonisten  so  dicht  besetzt,  dass 
es  allmälig  als  ein  deutsches  Land 
betrachtet  werden  konnte.  Diese 
Colonisten  stammten  grossentheils 


^)  Die  ältere,  von  Büsching  ausgehende  bändereiche  Literatur  ist  in  künstlerischer 
Beziehung  unbrauchbar.  Neuerdings  ist  die  Kenntniss  der  mittelalterlichen  Kunst  in 
Schlesien  durch  einheimische  Gelehrte    vortrefflich  gefördert    worden,    durch  H.  Luchs, 


Die  heil.  Kreuzkirche  in  Breslau.  473 

aus  Niederdeutschland,  und  ihrem  Einflüsse  mag  es  zuzuschreiben  sein,  dass 
auch  hier  der  Backsteinbau  aufkam,  während  man  in  dem  oberen  Landes- 
theile  entweder  mit  natürlichen  Steinen  baute  oder  gar  hölzerne  Kirchen, 
den  norwegischen  nicht  unähnlich,  errichtete,  von  denen  noch  einige  und 
zwar  aus  dem  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts  erhalten  sind').  Die 
Hauptstätte  architektonischer  Thätigkeit  ist  Breslau,  wo  der  Bischof  Thomas 
(l232 — 1267)  seit  dem  Jahre  1244  den  noch  jetzt  vorhandenen  Chor  des 
Domes,  zwar  nach  rechtwinkeligem  Plane  und  zum  Theil  mit  der  Ornamen- 
tation  des  Uebergangsstyles,  aber  im  Wesentlichen  in  frühgothischen  Formen 
gründete  und  bis  zum  Dache  vollendete  -).  Die  Wandsäulenbündel  zeigen 
schlanke,  durch  Hohlkehlen  verbundene  Rundstäbe  und  die  schmalen,  zwei- 
theiligen Oberfenster  gewähren  Beispiele  frühgothischen  Maasswerkes.  Ver- 
wandte Formen  treten  in  den  älteren  Theilen  der  Dominicanerkirche 
St.  Adalbert  auf. 

Ein  anderer  wichtiger  Bau  ist  die  Stiftskirche  zum  heiligen  Kreuze, 
welche  durch  den  frommen  Herzog  Heinrich  IV.  im  Jahre  1288  gegründet 
und  bei  seinem  bald  darauf  im  Jahre  1290  erfolgten  Tode  durch  ein  ansehn- 
liches Legat  befördert,  so  rasch  fortschritt,  dass  sie  schon  im  Jahre  1295 
eine  Weihe  erhalten  konnte-^).  Diese  hatte  indess  sicher  nur  auf  den  Chor 
Bezug  und  das  Langhaus  wurd«  wohl  erst  im  vierzehnten  Jahrhundert 
errichtet.  Die  Anlage  der  Kirche  ist  sehr  eigenthümlich.  Sie  enthält  näm- 
lich gewissermaassen  zwei  Kirchen,  indem   die   20  Fuss  hohe  Krypta  *)  sich 


besonders  iu  der  Sclirift  „romanische  und  gothisclie  Stylproben  aus  Breslau  und  Treb- 
nitz,  Breslau  1859,  und  durch  Dr.  Alwin  Schultz,  Schlesiens  Kunstlebeu  im  dreizehnten 
und  vierzehnten  Jahrhundert,  Breslau  1870.  Vgl.  über  Breslau  auch  Lübke  in  der 
Zeitschrift  für  Bauwesen  1859,  S.  54  ff. 

1)  Vgl,  Zeitschrift  für  Bauwesen  1852,  S.  212  und  Taf.  44,  L.  Dorst  Reise- 
skizzen I  ,  Bl.  3,  und  Dr.  H.  Luchs,  die  obersclilesischen  Holzkirchen  und  Verwandtes, 
Rübezahl  (Schlosische  Provinzialblätter),  X.  B.,  3.  Heft,  1871. 

-)  Vgl.  K.  Drescher,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Kirchenbaues  in  Schlesien, 
Mitth.  der  k.  k.  Centralcomniission,  IX  p.  47  ff.  Hier  das  System  des  Domchors  und 
einige  Details  in  Holzschnitt.  Aber  es  ist  dem  Verfasser  nicht  beizustimmen,  wenn  er 
den  Chor  theilweise  noch  dem  Bau  des  Bischofs  Walther  (1149 — 1169)  zuschrei- 
ben will. 

3)  Dr.  Hermann  Luchs,  über  einige  mittelalterliche  Kunstdenkmäler  Breslau's 
(Schulprogramm  von  1855  und  besonders  abgedruckt),  giebt  S.  24  ff.  sehr  gründliche 
Nachrichten  über  die  obengenannte  Kirche ,  Abbildungen  in  den  Stylproben,  Tf.  H 
und  bei  E.  Förster,  Denkmale,  B,  VL 

*)  Es  ist  in  der  That  nur  eine  solche,  da  die  Stiftungsurkimde  nur  von  einer 
Kirche  spricht.  Die  oft  wiederholte  Sage,  dass  Heinrich  zuerst  den  Bau  einer  Bartho- 
lomäuskirche vorgehabt,  und  nur  durch  eine  bei  der  Fundamentirung  gefundene  kreuz- 
förmig gestaltete  Wurzel  bestimmt  worden  sei,  darüber  eine  obere,  nach  dem  heiligen 
Kreuze  benannte  Kirche  zu  bauen,  ist  ohne  historischen  Grund. 


^1A  Gothischer  Styl  in  Deutschland. 

nicht  wie  gewöhnlich  nur  unter  einem  Theile  des  Hauptgebäudes,  sondern 
unter  der  ganzen  Oberkirche  nach  allen  Dimensionen  hin  erstreckt,  so  dass 
diese  nur  durch  eine  hohe  Freitreppe  zugänglich  ist.  Auch  der  beiden  ge- 
meinsame Grundplan  weicht  von  dem  Gewöhnlichen  ab.  An  das  dreischiffige 
Langhaus  schliessen  sich  nämlich  der  Chor  und  die  Kreuzarme,  beide  ein- 
schiffig und  von  der  Breite  des  Mittelschiffes,  an,  und  zwar  so,  dass  diese 
letzten  nur  wenig  ausladen,  während  der  Chor  überaus  lang,  sogar  noch 
länger  als  das  Schiff  ist  (81  zu  76^2  Fuss),  dass  aber  ferner  alle  drei  öst- 
lichen Arme,  der  Chor  und  beide  Seiten  des  Querschiffes  polygonförmig,  mit 
drei  Seiten  des  Achteckes,  geschlossen  sind.  Wahrscheinlich  war  bei  dieser 
Abweichung  von  der  gewöhnlichen  rechteckigen  Gestalt  der  Kreuzarme,  da 
die  Länge  des  Chores  eine  Gesammtwirkung  der  drei  Conchen,  eine  kiee- 
blattartige  Form,  wie  an  der  Elisabethkirche  in  Marburg,  nicht  gewährte, 
nur  die  Absicht  bestimmend,  durch  diese  ungewöhnliche  Form  die  Gestalt 
des  Kreuzes,  dem  die  Kirche  geweihet  war,  schärfer  zu  betonen.  Das  ganze 
Gebäude  ist  in  reinem  gothischem  Style;  die  Krypta  hat  zwar  ziemlich 
schwere  Pfeile  und  flache  Kreuzgewölbe  mit  halbkreisförmigen  Diagonalen, 
was  aber  bei  der  geringen  Höhe  dieses  Unterbaues  von  nur  20  Fuss  fast 
nicht  anders  sein  konnte.  Das  Langhaus  der  Oberkirche  hat  gleichhohe 
Schiffe  von  60  Fuss  Scheitelhöhe  und  zwar  so,  dass  die  Gewölbfelder  im 
Mittelschiffe  quadrat,  in  den  Seitenschiffen  länglich  sind.  Die  Pfeiler  sind 
eckig  gestaltet,  nur  mit  Dreiviertelsäulen  in  den  eingekerbten  Ecken,  also 
in  einer  dem  Backsteinbau  bequemen  Form,  das  Maasswerk  der  Fenster  und 
die  künstlichen  Gewölbe  lassen  aber  schliessen,  dass  dieser  Theil  der  Kirche, 
wie  oben  erwähnt  wurde,  erst  im  vierzehnten  Jahrhundert  entstanden  ist.  Im 
Chor  und  Kreuz  sind  dagegen  schmale,  einfache  Kreuzgewölbe  und  über- 
haupt schlichtere  Formen.  Ungefähr  gleichzeitig,  vielleicht  selbst  etwas 
früher,  wird  auch  die  freilich  später  verwüstete  und  restaurirte  St.  Mar- 
tinikirche  entstanden  sein.  Sie  war  ursprünglich  Kapelle  der  herzoglichen 
Burg,  wodurch  sich  ihre  unregelmässige  polygonförmige  Anlage  erklärt,  und 
hat  im  Chore  an  der  Backsteinwand  in  Sandstein  ausgeführte  Blendarcaden 
mit  reichen  Ornamenten  in  den  Zwickeln,  welche  als  die  reinste  und  schönste 
Leistung  des  frühgothischen  Styles  in  Breslau  geschildert  werden  ^).  Aussei'- 
halb  der  Hauptstadt  Schlesiens  sind  neben  einigen  kleineren  Pfarrkirchen  -) 
noch  die  elegante,  1268  gegründete  Hedwigskapelle  neben  dem  Chor  der 
Klosterkirche  zuTrebnitz^)   und   die  Schlosskapelle  zu  Ratibor  zu  nen- 


1)  Luchs  über  einige  mittelalterl.  Kunstdenkm.,  S.  15. 

-)    Luchs,     zur    Kunsttopograpliie    Schlesiens     (Schlesiens    Vorzeit     in  Bild     und 
Schrift,  II). 
•    3)  A.  Schultz,  die  Klosterkirche  zu  Trebuitz,  p.  300. 


Pommern.  475 

neu,  welche  wahrscheinlich  um  1287  gebaut,  sehr  einfacher  Anlage,  ein- 
schiffig und  rechteckig,  aber  mit  einer  reichen  Gallerie  von  Blendarcaden 
und  mit  Maasswerkfenstern  im  edelsten  gothischen  Style  erbaut  ist  ^). 


Auch  in  Pommern-)  begann  man  vielleicht  bald  nach  der  Mitte  des 
Jalirhunderts  gothische  Formen  anzuwenden,  doch  wiederum  in  eigenthüm- 
licher  Weise,  wie  denn  überhaui^t  das  Bestreben,  den  gothischen  Styl  den 
Anforderungen  des  Ziegelbaues  anzupassen  und  mit  den  bequemeren  Formen 
des  bisherigen  Uebergaugsstyles  zu  verschmelzen,  in  allen  diesen  Provinzen 
selbständige  Versuche  veranlasste.  Namentlich  war  man  zu  einer  solchen 
Verschmelzung  geneigt,  wenn,  wie  es  häufig  geschah,  der  gothische  Styl  bei 
der  Fortsetzung  eines  im  Uebergangsstyle  begonnenen  Baues  hinzutrat.  So 
sollte  an  der  Klosterkirche  zu  Colbatz  den  östlichen,  im  Uebergangsstyle 
und  bis  gegen  die  Mitte  des  Jahrhunderts  erbauten  Theilen  das  Langhaus 
angefügt  werden ;  da  behielt  man  dann  im  Wesentlichen  die  eckige  Grund- 
form der  bereits  vorhandenen  Pfeiler  bei,  aber  an  Stelle  der  vorgelegten 
Halbsäule  tritt  ein  halber  achteckiger  Pilaster,  die  stumpfen  Bögen  werden 
spitzer  und  die  Fenster  mit  Ecken  und  Säulchen  reicher  gegliedert,  zum 
Theil  schon  zweitheilig  angelegt  und  mit  einer  Kreisöffnung  in  dem  übrigens 
noch  undurchbrochenen  Bogenfelde  versehen.  Entschieden  und  eigenthüra- 
licher  ist  der  gothische  Formgedanke  im  Langhause  des  Domes  zu  Cammin 
durchgeführt,  welches  ebenfalls  nur  eine  Fortsetzung  der  älteren  östlichen 
Theile  war.  Es  hat  nach  alter  Weise  niedrige  Seitenschiffe  und  quadrate 
Gewölbfelder  mit  stärkeren  und  schwächeren  Pfeilern.  Jene,  viereckig  und 
in  der  Längenrichtung  breiter,  haben  auf  der  Frontseite  eine  einfache  Drei- 
viertelsäule, welche,  bis  zum  Gewölbe  aufsteigend,  mit  einem  gothischen 
Blätterkapitäl  die  Rippen  trägt,  während  die  Ecken  abgeschrägt  und  mit 
drei  Halbsäulen  verziert  sind,  die  sich  oben  ohne  Kapital  zu  einem  Schild- 
bogen zusammenziehen  und  so  das  ganze  Wandfeld  mit  den  beiden  Arcaden- 
bögen  und  einem  darübergestellten  dreitheiligen  Fenster  uraschliessen,  das 
aber  nur  drei  Lancetbögen,  den  mittleren  höher,  und  ein  undurchbrochenes 
Bogenfeld  enthält.  Das  Ganze  ist  sehr  strenge  und  schlicht,  aber  auch  sehr 
organisch  und  befriedigend. 


1)  Abbildungen  in  der  Zeitschrift  für  Bauwesen  1852,  Taf.  43,  S.  210.  Die  Ge- 
wölbe, quadrate  und  sechstheilig-e  Kreuzgewölbe,  macheu  durch  die  Vertiefung  der 
schmalen  einschneidenden  Stichkappen  eine  sehr  günstige  Wirkung.  —  Vgl.  Luchs, 
Kunsttopographie,  S.  29. 

-)  Vgl.  überall  Kugler's  Pommersche  Kunstgeschichte,  jetzt  in  den  kleinen  Schrif- 
ten I,  namentlich  S.  G72,  686,  699  ff. 


A'JQ  Gotliischer  Siyl  in  Deutschland. 

"Während  in  diesen  Bauten  die  Anlage  niedriger  Seitenschiffe  und  die 
€ckige  Grundform  der  Pfeiler  beibehalten  sind,  kommt  auch  hier  an  städti- 
schen Kirchen  schon  gleichzeitig  die  Hallenform  mit  anders  gebildeten 
Stützen  vor.  So  an  der  St.  Katharinenkirche  zu  Stralsund  (jetzt  Arsenal),  in 
welcher  die  Pfeiler  abwechselnd  rund  und  achteckig,  und  der  Jacobi- 
kirche  zu  Greifswald,  in  welcher  sie  durchweg  rund  sind.  Offenbar  ist 
diese  Gestalt  der  Pfeiler  gewählt,  weil  sie  der  Gleichheit  der  Schiffe  besser 
•entsprach,  als  die  in  den  bisher  erwähnten  Kirchen  angewendete  oblonge 
Bildung,  und  doch  in  Ziegeln  eher  ausführbar  war,  als  der  gothische  Bündel- 
pfeiler. In  der  Marienkirche  zu  Greifswald,  welche  dem  Ende  des  Jahr- 
hunderts angehört,  versuchte  man  dieser  reicheren  Form  näher  zu  treten, 
indem  die  Pfeiler  theils  zwar  viereckig  mit  angelegten  Halbsäulen,  theils 
aber  achteckig  mit  acht  zierlichen  Säulchen  in  den  eingekerbten  Ecken, 
theils  auch  aus  zahlreichen  verschiedenartigen  Rundungen  oder  Ecken,  ähn- 
lich wie  einige  Pfeiler  in  Chorin,  zusammengesetzt  sind.  An  den  meisten 
dieser  Kirchen  finden  wir  auch  ziemlich  reiche,  aus  Formsteinen  gebildete 
Portale,  freilich  stets  mit  häufiger  Wiederkehr  von  ein  oder  zwei  Formen. 
Wir  sehen  daher  auch  hier  ein  Schwanken  zwischen  der  bequemen  Einfach- 
heit des  bisherigen  Uebergangsstyles  und  dem  Bestreben,  sich  immer  mehr 
den  reicheren  Formen  des  westlichen  Styles  anzuschliessen,  und  es  blieb  dem 
folgenden  Jahrhundert  vorbehalten,  das  rechte  Maass  und  die  dem  Ziegelbau 
günstigste  Form  der  Gothik  zu  finden. 

Preussen,  das  in  der  Architekturgeschichte  des  folgenden  Jahrhunderts 
■eine  bedeutende  Rolle  einnehmen  wird,  war  für  jetzt  noch  ein  Land  wilden 
Kampfes. 

Wir  haben  das  ganze  Gebiet  deutscher  Civilisation,  so  weit  es  sich  jetzt 
erstreckte,  durchwandert  und  können  zurückblicken,  um  das  Resultat  zusam- 
menzufassen. Da  sehen  wir  dann  am  Schlüsse  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
in  ganz  Deutschland,  von  den  Alpen  bis  zum  Meere  und  von  der  lothringi- 
schen Grenze  bis  zu  den  äussersten  Ostmarken,  die  Herrschaft  des  gothischen 
Styles  überall  entschieden;  wir  haben  keine  Provinz,  die  ihm  ein  hart- 
näckiges Widerstreben  entgegensetzte,  wie  in  Frankreich  die  südlichen  Land- 
schaften. Er  war  nicht  bei  uns  entstanden,  aber  er  entsprach  schon  vor- 
handenen Tendenzen,  gewährte  ein  Mittel,  sie  zu  fördern  und  zum  Abschluss 
2ü  bringen,  wurde  daher  mit  Gunst  aufgenommen  und  nicht  wie  ein  Fremd- 
ling, sondern  wie  eigenes  Erzeugniss  mit  Freiheit  und  Meisterschaft  be- 
handelt. Darum  ist  denn  auch  das  Resultat  ein  sehr  befriedigendes.  Zwar 
können  wir  nicht  eine  so  grosse  Zahl  genügend  ausgeführter  Kathedralen 
aufzeigen,  wie  das  nördliche  Frankreich  auf  kleinerem  Räume;  zwar  hat 
unsere  Architektur  nicht  einen  so  scharf  ausgeprägten  nationalen  Charakter, 
nicht    die  verschwenderische  Fülle   zierlicher   Details,  wie    die   englische. 


Ueberblick.  477 

Aber  sie  übertrifft  beide  Länder  in  der  "Vielseitigkeit  und  Individualität  ver- 
schiedenartiger Leistungen.  Selbst  die  französische  Schule,  deren  Energie 
und  Consequenz  wir  die  Ausbildung  des  Systems  verdanken,  deren  allgemein 
verbreiteter;  man  möchte  sagen  unfehlbarer  feiner  Geschmack  allen  Werken 
der  Zeit  Ludwig's  IX.  ein  so  bestimmtes  Gepräge  verleiht,  bewegt  sich  doch 
in  einem  viel  engeren  Gedankenkreise.  Vergleichen  wir  nur  den  Kölner 
Dom,  der  an  Grossartigkeit  der  Conception  und  in  gediegener  Ausführung 
mit  den  reichsten  der  französischen  Kathedralen  wetteifert  und  sie  über- 
trifft, mit  der  schlichten  Anmuth  der  Elisabethkirche  in  Marburg,  mit  der 
ausgebildeten  Halienform  der  Kathedrale  von  Minden,  mit  der  strengen 
Backsteinarchitektur  von  Chorin,  so  haben  wir  schon  eine  Fülle  von  ver- 
schiedenartigen, zum  Theil  der  deutschen  Kunst  ausschliesslich  angehörigen 
und  höchst  fruchtbaren  Motiven.  Namentlich  ist  die  Mannigfaltigkeit  der 
Choranlagen  bedeutsam;  während  man  in  Frankreich  an  allen  grösseren 
Bauten  nur  das  freilich  fruchtbare  Thema  des  Kapellenkranzes  variirte, 
finden  wir  bei  uns  auch  diese  Form,  nicht  bloss  am  Rhein,  sondern  selbst 
im  entfernten  Osten  in  Lübeck,  daneben  aber  den  blossen  Umgang  ohne 
Kapellenkranz,  wie  am  Dome  zu  Halberstadt,  den  einfachen,  aber  durch  die 
vorwaltende  Läugenrichtung  der  Vorlage  und  durch  die  lichte  Höhe  seiner 
schlanken  Fenster  wirksamen  Polygonschluss,  die  kleeblattförmige  Anord- 
nung von  Marburg,  die  anmuthige  Verbindung  verschiedener  Nischen  wie  in 
Xanten  und  Oppenheim,  die  Erweitei'ung  des  Raumes  innerhalb  des  sieben- 
seitigen Umfanges  wie  in  der  Klosterkirche  zu  Berlin,  und  können  selbst 
die,  wenn  auch  bizarre  und  nicht  gelungene,  doch  eigenthümliche  Anordnung 
des  Regensburger  Domchores  als  einen  Beweis  der  Vielseitigkeit  und  erfin- 
derischen Thätigkeit  anführen,  welche  der  deutschen  Kunst  noch  eine  weite 
Zukunft  verhiess. 


Achtes  Kapitel. 

Die  Malerei  in  ihren  verschiedenen  Zweigen. 

Im  rein  natürlichen  Entwickelungsgange,  wie  wir  ihn  bei  den  Griechen 
in  seiner  normalsten  Weise  wahrnehmen,  beginnt  die  Blüthe  der  darstellen- 
den Künste  erst  dann,  wenn  die  der  Architektur  bereits  ihr  volle  Reife 
erlangt  hat  und  sich  zu  entblättern  anfängt.  In  dieser  Epoche  war  es  an- 
ders, sie  halten  vielmehr  mit  jener  gleichen  Schritt,  nehmen  seit  der  Mitte 
des  zwölften  Jahrhunderts   einen  neuen  Aufschwung,   durchlaufen  eine  Zeit 


Aip,  Die  darstellenden  Künste. 

der  Gährung  und  des  Ueberganges,  und  gewinnen  etwa  hundert  Jahre  nach 
jener  ersten  Erregung  einen  festen  wohlgeregelten  Styl.  Diese  ungewöhnliche 
Erscheinung  beruht  darauf,  dass  beide  Künste,  die  darstellenden  und  die 
Architektur,  eine  ungewöhnliche  Stellung  zu  einander  hatten.  In  jenem  bloss 
natürlichen  Zustande  bilden  sie  in  gewissem  Sinne  Gegensätze.  Sie  sind 
verwandt  und  bedürfen  eine  der  anderen ;  die  Baukunst  fordert  zu  ihrer 
vollendeten  Erscheinung  die  Hülfe  der  darstellenden  Kunst,  und  diese  ge- 
deihet nur  auf  der  Grundlage  des  architektonischen  Styles.  Allein  dennoch 
können  sie  nicht  lange  mit  voller  Kraft  neben  einander  bestehen;  die  Archi- 
tektur bringt  ihre  edelsten  Erzeugnisse  hervor,  während  das  individuelle 
Leben  noch  unter  der  Herrschaft  strenger  Gesetzlichkeit  beschlossen,  die 
darstellende  Kunst  gedeihet  erst,  wenn  ihm  eine  grössere  Freiheit  gestattet 
ist.  Ihre  Blüthe  öffnet  sich  am  schönsten,  wenn  jene  schon  den  Keim  des 
Verfalles  in  sich  aufgenommen  hat.  Beide  gehören  zwei  auf  einander  fol- 
genden Epochen  des  Volkslebens  an;  die  eine  der  früheren,  in  welcher  die 
Gemüther  vorzugsweise  von  den  höchsten  Dingen  beschäftigt  werden,  die 
andere  der  späteren,  wo  individuelle  Verhältnisse  grösseres  Interesse  in  An- 
spruch nehmen. 

In  unserer  Epoche  erscheint  dieser  Gegensatz  wie  im  Leben  so  auch 
in  der  Kunst  gemildert.  Das  christliche  Gesetz  hat  nicht  die  Sprödigkeit 
des  natürlichen,  die  christliche  Freiheit  löst  das  Gesetz  nicht  auf.  Die  ganze 
mächtige  Erhebung  des  Zeitalters  ging  von  dem  Freiheitsgefühl  der  Völker 
aus,  aber  dies  Gefühl  war  zugleich  religiöse  Begeisterung,  war  von  der 
Kirche  selbt  genährt  und  gab  ihr  neue  Belebung.  Beide  schritten  ein- 
müthig  fort. 

Ebenso  auf  künstlerischem  Gebiete ;  die  christliche  Kunst  hat  nicht  eine 
einmalige  Blüthe,  sondern  ist  der  Erneuerung  fähig;  sie  stellt  der  Archi- 
tektur nicht  die  unerlassliche  Forderung  reinster  architektonischer  Gesetz- 
lichkeit, sondern  gestattet  ihr  auch  plastische  und  malerische  Elemente  in 
reichem  Maasse  in  sich  aufzunehmen.  Und  von  diesen  ging  die  ganze 
künstlerische  Bewegung  dieses  Zeitraumes  aus.  Was  die  ruhige  Würde  des 
romanischen  Styles  störte  und  ihm  eine  decorative  Tendenz  o,ufnöthigte,  war 
eben  die  Regung  des  plastisch-malerischen  Sinnes,  aber  das  Resultat  dieser 
Gährung  war  nicht  der  Verfall,  sondern  eine  höhere  Blüthe  der  Architektur, 
ein  neuer  Styl,  der  jenes  hinzutretende  Element  in  sich  aufgenommen  und 
bewältigt  hatte.  Der  gothische  Styl  ist  von  plastischen  und  malerischen  Mo- 
tiven durchdrungen.  Seine  ganze  Erscheinung,  besonders  die  wunderbar 
belebte  Perspective  des  Inneren  erstrebt  malerische  Wirkung;  seine  frei 
aufsteigenden  Fialen,  seine  reichgestalteten  Bündelpfeiler  sind  plastische  Ge- 
bilde; die  weichgeschwungenen  Profile,  das  Maasswerk  der  Fenstei-,  der 
überall  hervorbrechende  Blätterschmuck  atlimen  freies,  organisches  Leben. 


Einleitung.  —   Verhältniss  zur  Natur.  479 

Die  Leistungen  der  anderen  Künste  sind  ihm  nicht  bloss  ein  zufälliger 
Schmuck,  sondern  Theile  seines  Organismus;  die  tiefen  Höhlungen  der  Por- 
tale, die  Tabernakel  der  Strebepfeiler,  die  Nischen  der  Gallerien  fordern 
mit  Nothwendigkeit  Statuen,  die  weiten  Oeffnungen  der  Maasswerkfenster 
figurenreiche  Glasgemälde,  Die  Architektur  kam  also  den  darstellenden 
Künsten  mehr  als  je  entgegen. 

Eben  so  sehr  aber  waren  diese  zu  ihrem  Dienste  bereit  und  geeignet. 
Was  sie  in  anderen  Zeiten  der  Architektur  entfremdet,  der  Sinn  für  die  be- 
lebte Natur,  hatte  jetzt  eine  Richtung,  die  sich  noch  enge  dem  Architekto- 
nischen anschloss.  Allerdings  war  das  Selbstgefühl  erwacht ;  der  Mensch  in 
seiner  Kraft  und  Schwäche,  in  seinen  Empfindungen  und  sittlichen  Aeusse- 
rungen  war  der  Gegenstand  eines  warmen  Interesses  geworden,  welches  den 
Blick  schärfte  und  zu  Beobachtungen  führte.  Dies  erkennen  wir  denn  auch 
an  den  künstlerischen  Darstellungen,  so  viel  es  die  Eigenthümlichkeit  der 
verschiedenen  Kunstzweige  gestattet;  die  menschlichen  Gestalten  werden 
lebendiger  und  ausdrucksvoller  als  bisher,  zeigen  feinere  moralische  Züge, 
höheres  dramatisches  Leben,  selbst  ein  besseres  Verständniss  des  Glieder- 
baues, und  die  häufigere  Anwendung  der  gleichzeitigen  Tracht  verräth,  dass 
der  Zeichner  mehr  aus  der  Wirklichkeit  als  aus  früherer  Kunsttradition 
schöpfte.  Auch  für  die  äussere  Natur  war  das  Gefühl  empfänglicher  ge- 
worden; die  Minnesänger  schwelgten  in  Frühlingswonnen,  und  die  Frömmig- 
keit war  sich  einer  erhöheten  Stimmung  bewusst,  wenn  sie  Gott  nicht  bloss 
in  Worten,  sondern  in  den  Wundern  seiner  Schöpfung  erkannte.  Aber  diese 
Regungen  des  Natursinnes  gingen  nicht  weiter  als  das  Interesse,  w^elches  sie 
hervorbrachte,  sie  waren  subjective,  flüchtige  Gefühle  und  gaben  keine  blei- 
bende Anschauung.  Der  Glaube  an  die  Richtigkeit  der  eigenen  Empfindung 
juid  an  die  W^ahrheit  der  von  der  Kirche  ausgelegten  Offenbarung  war  so 
stark,  dass  man  in  den  Erscheinungen  der  Dinge  nichts  als  die  Bestätigung 
beider  suchte,  und  nicht  ahnete,  dass  sie  einen  selbständigen,  objectiven 
Gehalt  hätten.  Man  ging  von  dem  schönen  und  in  gewissem  Sinne  annehm- 
baren Gedanken  aus,  dass  die  ganze  Natur  mit  dem  Zwecke  geschaffen  sei, 
den  Menschen  im  Glauben  zu  bestärken  i),  aber  man  fühlte  nicht,  dass  es 
dazu  vor  Allem  eines  richtigen  Verständnisses  der  Schöpfung  bedürfe ;  man 
erwartete  auch  diese  Glaubensstärkung  nur  aus  schriftlicher  Ueberlieferung 
und  es  war  fast  unbekannt,  dass  man  das  Auge  zu  eigener  Beobachtung 
öffnen  könne.  Dies  Verhältniss  zur  Natur  ist  ein  uns  so  fremdes,  dass  es 
wohl  der , Erläuterung  durch  ein  ohnehin  hieher  gehöriges  Beispiel  bedarf. 


1)  Wie  es  Peter  der  Picarde  in  seinem  sogleich  näher  zu  erwähnenden  Physio- 
logus  naiv  ausdrückt:  Car  totes  les  creatures  que  Diex  cria  en  tere,  cria  11  par  home 
et  par  prendre  essample  de  foi  en  eles  et  de  creance. 


4gQ  Die  darstellenden  Küiibie. 

Wir  besitzen  eine  Reihe  von  Handschriften  sogenannter  Bestiarien, 
in  welchen  Thiere  freilich  nicht  sowohl  beschrieben  als  wegen  gewisser  ihnen 
beigelegter  Eigenschaften  als  Symbole  theologischer  oder  moralischer  Sätze 
betrachtet  werden ;  wahrscheinlich  liegt  ihnen  ein  älteres  und  zwar  griechi- 
sches Werk  zum  Grunde,  das  aber  fortwährend  bis  in's  fünfzehnte  Jahrhun- 
dert neue  und  sehr  abweichende  Bearbeitungen  erhalten  hat  und  an  das  nur 
dadurch  erinnert  wird,  dass  die  Bearbeiter  sich  stets  auf  den  unbekannten 
Verfasser  des  ursprünglichen  Werkes  beziehen,  den  sie  schlechtweg  als  Phy- 
siologus,  als  Naturlehrer,  bezeichnen  ^).  Da  kann  es  nun  nicht  überraschen, 
wenn  sie  diesem  Gewährsmanne  bei  fabelhaften  oder  orientalischen  Thieren 
unbedingt  folgen;  allein  auch  bei  denen  unserer  Gegend  und  selbst  bei  ge- 
wöhnlichen Hausthieren  beziehen  sie  sich  in  gleicher  Weise  auf  ihn  und 
sprechen  ihm  die  unglaublichsten  Dinge  nach.  Sie  kennen  also  nur  die 
Autorität  und  haben  noch  keine  Ahnung  von  der  Pflicht  eigener  Prüfung 
und  Beobachtung.  Zwar  gab  es  einzelne  schärfer  blickende  Männer;  Albert 
der  Grosse  bezweifelt  manche  dieser  Fabeln  des  Physiologus  als  unglaub- 
lich, stützt  seinen  Widerspruch  bei  anderen  auf  die  Erfahrung,  etwa  auf  die 
Berichte  der  Jäger ;  Roger  Baco  erklärt  sogar  in  Worten,  deren  Klang  in 
ganz  andere  Zeiten  versetzt,  die  Erfahrung  (experimentum)  für  die  beste 
Weise  des  Erkennens.  Allein  diese  Männer  standen  noch  allein.  Von  einem 
Schüler  Alberts,  dem  Thomas  Cantipratanus,  besitzen  wir  ein  Buch:  de  rerum 
natura,  welches  ohne  die  in  den  Bestiarien  vorwaltende  symbolische  Be- 
ziehung eine  ziemlich  nüchterne  Beschreibung  von  Thieren  und  Pflanzen  ent- 
hält. Dennoch  sind  in  einer,  auf  der  Universitäts-Bibliothek  zu  Prag  be- 
wahrten, in  der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  gefertigten 
Abschrift  die  zahlreichen  Miniaturen  ohne  die  mindeste  Rücksicht  auf  Natur- 
wahrheit, selbst  da,  wo  sie  sich  aufdringen  musste;  namentlich  sind  die 
Bäume  fast  alle  gleich,  mit  etwas  gebogenem  Stamme  und  einer  birnförmig 
zugespitzten  Krone,  ohne  die  entfernteste  Andeutung  der  verschiedenen  Bil- 
dung ihrer  Aeste  gezeichnet.  Die  Fichte  unterscheidet  sich  von  der  Eiche 
nur  durch  etwas  höheren  Stamm  und  kleinere  Krone  und  gleicht  sowohl  dem 
Mandelbaum  als  der  Cypresse.  Nur  dadurch  kommt  der  Maler  zuweilen  der 
Phantasie   des  Lesers   zu  Hülfe,    dass    er   auf  jener   stets   gleichgestalteten 


1)  Vgl.  besonders  Cahier  und  Martin,  M<5Ianges  d'Archeoiogie,  Paris  1847  ff., 
Vdl.  II,  fi.  85,  106  —  232,  Vol.  III,  p.  203  ff.,  wo  Auszüge  aus  mehreren  Bearbeitungen 
zusammengestellt  sind,  namentlich  aus  der  prosaischen  Peters  aus  der  Picardie  und  der 
gereimten  Wilhelms  aus  der  Normandie,  beide  vom  Anfange  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts. Die  letzte  ist  später  (Hippeau,  le  bestiaire  divin  de  Guillaume,  clerc  de 
Normandie,  Paris  1852)  ganz  edirt.  Vgl.  ferner  Dr.  Heider,  Physiologus  nach  einer 
Handschrift  aus  GoUweih  im  Arcliiv  für  Kunde  Österreich.  Geschichtsquellen  1850 
Bd.  2,  Heft  3  u.  4. 


Ihr  Verhältniss  zur  Architektur,  481 

Krone  Einzelnheiten  der  wirklichen  Pflanze,  bei  der  Eiche  Blätter  und 
Eicheln,  bei  dem  Apfelbaum  Früchte,  bei  dem  Rosenstock  Blumen  aufge- 
zeichnet hat.  Freilich  geht  diese  Nichtbeachtung  der  Wirklichkeit  bei 
Thieren  nicht  ganz  so  weit  wie  bei  Pflanzen;  schon  die  Thierfabel  zeigt  ein 
reges  Mitgefühl,  welches  auf  die  Darstellung  einwirken  musste.  Aber  wenn 
auch  die  Bewegungen  verständlich  und  lebendig  sind,  ist  doch  die  Form 
noch  überall  sehr  ungenau,  selbst  bei  dem  Lieblingsthiere  dieser  ritterlichen 
Zeit,  dem  Pferde,  auch  für  das  nachsichtigste  Auge  anstössig.  Villard  de 
Honnecourt  rühmt  sich  zwar,  den  Löwen  nach  der  Natur  gezeichnet  zu 
haben,  aber  wahrscheinlich  hielt  er  dies  nur  bei  dem  fremden  Thiere  für 
nothwendig,  nicht  bei  den  einheimischen,  die  jeder  vor  Augen  hatte;  und 
auch  bei  dem  Menschen  bleiben  seine  Naturstudien,  wenn  es  überhaupt 
solche  sind,  nur  bei  dem  allgemeinen  Umrisse  stehen.  Man  zeichnete  nach 
der  Erinnerung  oder  nach  älteren  Kunstwerken,  die  ja  auch  in  Villard's 
Skizzenbuche  vorherrschen,  gönnte  der  äusseren  Erscheinung  nur  eine  flüch- 
tige und  befangene  Betrachtung,  und  begnügte  sich  daher  auch  in  der  Kunst 
mit  unbestimmten  oder  unrichtigen  Formen.  Gerade  aber  hier,  bei  dem 
edelsten  und  schwierigsten  Theile  der  künstlerischen  Aufgabe,  bei  der 
menschlichen  Gestalt,  kam  etwas  Anderes  zu  Hülfe;  das  warme  Gefühl,  die 
poetisch  angeregte  Stimmung  der  Zeit  ersetzte  in  gewissem  Grade,  was  an 
objectiver  Kenntniss  fehlte,  und  lehrte  die  Künstler  die  angemessene  und 
selbst  schöne  Form  finden.  Und  so  wurde  dieser  Mangel  fast  zu  einem  Vor- 
zuge. Denn  da  der  Körper  von  innen  heraus  nach  geistigen  Motiven  ent- 
stand, wurde  der  Ausdruck  derselben  sehr  viel  inniger  und  wahrer;  die^ 
Künstler  konnten  ungehemmt  durch  kleinliche  Details  unmittelbar  auf  ihr 
geistiges  Ziel  hinarbeiten  und  sich  mancher  Mittel  bedienen,  welche  einer 
naturalistisch  mehr  durchbildeten  Kunst  versagt  gewesen  wären  und  doch 
die  Phantasie  mächtig  erregen,  so  dass  diese  in  mancher  Beziehung  unvoll- 
kommenen Kunstwerke  durch  die  Wärme  des  Gefühls  und  durch  den  Ernst 
der  religiösen  Ueberzeugung  ihrer  Urheber  oft  stärker  wirken,  als  die  Er- 
zeugnisse einer  viel  vollendeteren  Technik. 

Ausserdem  gewährte  aber  diese  Schwäche  des  Naturalistischen  den 
Vortheil  einer  innigeren  Verschmelzung  der  darstellenden  Kunst  mit  der 
Architektur.  Eine  völlig  gereifte  selbständige  Plastik  und  Malerei  wäre 
nicht  fähig  gewesen,  so  in  die  architektonischen  Zwecke  einzugehen,  wie  es 
der  gothische  Styl  forderte;  die  unbestimmten  und  flüssigen  Formen  dieser 
jugendlichen  Kunst  schmiegten  sich  leicht  der  architektonischen  Gliederung 
an  und  verschmolzen  mit  ihr  zu  einem  Ganzen.  Diese  Verbindung  war  der 
Architektur  günstig,  indem  die  diagonalen  und  gerundeten  Linien  der  Plastik 
die  Strenge  rechtwinkeliger  Anordnung  milderten;  sie  war  aber  auch  für  die 
darstellende  Kunst  kein  feindlicher  Zwang,  sondern  ihr  eigenes  Bedürfniss. 

Schnaase's  Kunstgesch.    2.  Aufl.     V.  31 


^QO  Die  darstellenden  Künste. 

Der  Formensiun  war  hinlänglich  gereift,  um  die  Haltungslosigkeit  ihrer 
schwankenden  Gestalten  zu  fühlen  und  eine  Regel  zu  suchen,  die  er  nur  in 
der  Architektur  finden  konnte.  Daher  gab  man  den  Bildwerken,  auch  da, 
wo  sie  nicht  mit  den  Gebäuden  zusammenhingen,  gern  eine  architektonische 
Einrahmung  und  bildete  die  Gestalten  selbst  unter  dem  Einflüsse  des  archi- 
tektonischen Styles.  Dies  geschah  sogar  anfangs  mit  einer  einseitigen 
Strenge,  welche  das  Leben  fast  zu  byzantinischer  Starrheit  herabdrückte. 
Aber  allmälig  erlangte  die  Kunst  durch  diese  strenge  Schule  ein  feines  Ge- 
fühl für  räumliche  Verhältnisse  und  Reinheit  der  Linie,  für  Klarheit  der 
Anordnung  und  Harmonie  des  Ganzen,  und  endlich  unter  wachsender  Erstar- 
kung des  Naturgefühls  einen  edlen,  wirklich  plastischen  Styl  und  jene  maass- 
volle, schlichte  Haltung,  welche,  gleichweit  von  kalter  Gleichgültigkeit  und 
weichlicher  Sentimentalität,  bei  der  Darstellung  religiöser  Gegenstände  un- 
entbehrlich und  auch  für  die  künstlerische  Auffassung  des  Lebens  so  günstig 
ist.  Dies  Entgegenkommen  der  |Verschiedenen  Künste,  das  Vorherrschen 
des  Stylistischen  in  der  Darstellung  und  des  Plastisch-Malerischen  in  der 
Architektur  war  eben  nicht  ein  zufälliges  Ereigniss,  eine  Folge  der  Schwäche 
und  Unklarheit,  sondern  eine  Aeusserung  des  mächtigen  Bestrebens  dieser 
Zeit  nach  voller  Einheit  des  Subjectiven  mit  dem  Allgemeinen  des  geistigen 
Lebens.  Es  gewährte  daher  auch  den  unschätzbaren  Vorzug  eines  Zusam- 
menwirkens der  Künste,  wie  es  keiner  anderen  Zeit  gegeben  war  und  das 
zu  den  herrlichsten  Resultaten  führte. 

Eine  Wirkung  dieses  einenden  Strebens  war  dann  auch,  dass  das  sym- 
l^olische  Element  in  dieser  Epoche  eine  neue  Gestalt  annahm.  Jene  rohe 
und  dunkle  Thiersymbolik,  die  stets  wiederkehrenden,  nur  sehr  unbestimmter 
Deutung  fähigen  Kämpfe  von  Menschen  und  Ungeheuern,  welche  an  Wänden 
und  Kapitalen  hervorbrachen  ohne  in  innerem  Zusammenhange  mit  der  Archi- 
tektur zu  stehen,  verschwinden  sofort.  Nur  die  bekanntesten,  durch  alte  Tradition 
ehrwürdigen  thierischen  Symbole,  die  Taube,  die  Zeichen  der  Evangelisten,  der 
Pelikan,  der  Drachen  unter  den  Füssen  der  Jungfrau  und  ähnliche  werden  bei- 
behalten ;  ausserdem  wird  die  thierische  Gestalt  wohl  zuweilen  in  einer,  dem 
Symbolischen  verwandten  Weise  bald  als  leichter,  phantastischer  Schmuck, 
bald  in  humorislischer  oder  satirischer  Bedeutung  gebraucht,  meistens  aber 
dient  sie  vermöge  einer  natürlichen  und  rein  künstlerischen  Symbolik  zur 
Belebung  gewisser  Stellen  des  architektonischen  Gerüstes  und  gewissermaassen 
zur  Erläuterung  ihrer  Function.  Dahin  gehört  es,  wenn  die  Regenrinnen, 
welche,  um  das  Gebäude  gegen  Beschädigung  zu  sichern,  weit  hinausragen 
müssen,  die  Gestalt  von  ungeheuerlichen  speienden  Thieren  annehmen,  dahin 
ferner,  wenn  an  der  Kathedrale  zu  Laon  aus  den  obersten  Arcaden  der 
Thürnie  kolossale  vierfüssige  Thiere  die  langen  Hälse  vorstrecken,  gleichsam 
neugierig  in   die  Tiefe  hinabblickend,  dahin  auf  anderem  Gebiete  die  Ver- 


Neue  Gestaltung  des   Symbolischen.  483 

Wendung  von  Drachen,  Schlangen  und  anderen  biegsamen  Thierleibern  zu 
den  Initialen  der  Handschriften.  Dagegen  bleibt  die  Personification  abstrac- 
ter  Begriffe  beliebt;  die  hergebrachten  Figuren  dieser  Art  werden  meistens 
beibehalten  und  durch  neue  vermehrt,  aber  auch  bald  in  handelnde  Bewe- 
gung gesetzt,  und  es  entsteht,  an  Stelle  der  bloss  traditionellen  Symbolik, 
durch  eine  Verbindung  scholastischer  und  poetischer  Elemente  die  bewusste 
Allegorie.  Yor  Allem  aber  ist  jene  feine  Symbolik  des  Raumes,  von  der 
ich  schon  früher  gesprochen  habe  ^),  für  diese  Epoche  charakteristisch,  in- 
dem sie  ganz  auf  der  innigen  Verbindung  des  Architektonischen  und  Bild- 
lichen beruhet  und  besonders  an  Werken  der  decorativen  Kunst  ein  sehr 
eigenthümliches  Mittel  gewährt,  durch  abstracto  Eaumverhältnisse  feinere 
geistige  Beziehungen  auszudrücken. 

Der  Zusammenhang  der  einzelnen  Zweige  der  darstellenden  Kunst  war 
nicht  mehr  derselbe  wie  in  der  vorigen  Epoche.  "Während  sie  dort  alle  in 
den  nämlichen  Klosterschulen  gelehrt,  häufig  von  denselben  Händen  geübt 
wurden,  war  jetzt  die  härtere  Arbeit,  namentlich  die  Steinsculptur,  fast  aus- 
schliesslich auf  die  Laien  übergegangen,  die  Miniaturmalerei  dagegen,  welche 
noch  immer  die  Schule  der  gesammten  malerischen  Technik  bildete,  den 
Klöstern  oder  der  Geistlichkeit  verblieben.  Dies  schloss  nun  zwar  nicht 
aus,  dass  die  verschiedenen  Künste  auf  allen  Entwickelungsstufen  eine  ge- 
wisse Gleichförmigkeit  behielten ;  dieselben  geistigen  Einflüsse  machten  sich 
in  allen  geltend;  die  Bildung  war  schon  eine  mehr  verbreitete  und  allge- 
meinere, und  ein  reger  "Wetteifer  trieb  zur  Beachtung  der  Schwesterkünste. 
Aber  jene  technische  Trennung  und  die  nähere  oder  entferntere  Beziehung 
der  einzelnen  Kunstzweige  zur  Architektur  bedingte  doch  einen  verschie- 
denen Gang  der  Entwickelung,  welcher  uns  auch  hier  nöthigt,  sie  gesondert 
zu  überblicken. 


Ich  beginne  hiebei  mit  den  verschiedenen  Zweigen  malerischer 
Technik  und  zunächst  mit  der  Miniaturmalerei,  weil  sie  am  freiesten 
von  dem  Einflüsse  des  architektonischen  Elementes  war  und  daher  deutlicher 
erkennen  lässt,  wie  die  geistigen  Regungen  und  das  Gefühlsleben  der  Zeit 
an  und  für  sich  auf  die  darstellende  Kunst  einwirkten  -). 

Man  wird  natürlich  keine  plötzlichen  und  durchgreifenden  Veränderun- 
gen  erwarten.     Während    des  ganzen  Laufes    der  Epoche  bestanden  •  die 


1)  Band  IV,  S.  291  11'. 

2)  Auch  über  die  Miniaturen  dieser  Epoche  vgl.  besonders  das  bereits  oben  ange- 
führte Prachlwerk  von  Jules  Labarie  ,  Histoire  des  arts  industriels  au  moyen  dgc.  et 
ä  l'epoque  de  la  renaissance,  Paris  1864,  4  vol.  und  2  vol.  Album. 

31  • 


484  Miniaturmalerei. 

Malereien  noch  immer  in  blossen  Zeichnungeil  mit  mehr  oder  weniger  star- 
ken, meist  schwarzen  Umrisslinien,  in  welche  die  Lokalfarben  ohne  oder  mit 
geringer  Schattirang  eingetragen  waren.  Architekturen  und  Bäume  sind 
noch  immer  conventionell  gestaltet,  die  Hintergründe  einfarbig,  golden  oder 
teppichartig  gemustert.  Die  Zeichnung  der  Figuren  ist  namentlich  anfangs 
keinesweges  correcter;  die  Füsse  sind  meistens  zu  klein,  die  Hände,  beson- 
ders bei  bedeutsamer  Bewegung,  oft  zu  gross,  die  Körper  mager,  die  Bewe- 
gungen eckig  und  gewaltsam,  die  Gesichter  von  regelmässig  ovaler  Form 
mit  sehr  grossen  Augen,  geschwungenen  Brauen,  kleinem  Munde,  starken 
Backenknochen,  gerader,  noch  mit  fast  kalligraphischen  Zügen  gezeichneter 
Nase.  Aber  mehr  und  mehr  macht  sich  ein  Gefühl  für  Ordnung,  Regelmäs- 
sigkeit und  natürliche  Bewegung  geltend.  Die  Linien  werden  fester  und 
einfacher,  die  Falten  der  Gewänder  weniger  gehäuft,  knapper  dem  schon 
besser  verstandenen  Körperbau  angefügt.  Der  erstarrte  Mosaikentypus  wird 
aufs  neue  zu  feierlicher  "Würde  belebt.  Der  Gedanke  tritt  deutlicher  hervor, 
die  herkömmlichen  Momente  der  heiligen  Geschichte  werden  ausführlicher 
charakterisirt,  neue,  bisher  noch  nicht  dargestellte  hinzugefügt,  die  ethischen 
Motive  stärker  betont.  Allegorische  oder  aus  dem  Leben  genommene  Ge- 
genstände werden  mit  Liebhaberei  eingeschaltet,  in  dem  den  heiligen  Schrif- 
ten vorausgehenden  Kalender  werden  immer  häufiger  neben  den  Sternbildern 
auch  die  genreartigen  Scenen  der  häuslichen  Beschäftigungen  jedes  Monats 
angebracht.  Auch  bei  den  Darstellungen  aus  der  heiligen  Geschichte  haben 
die  Nebenfiguren  schon  oft  das  Kostüm  der  Zeit. 

Vor  Allem  regt  sich  der  Farbensinn.  In  den  zum  kirchlichen  Ge- 
brauche oder  zur  Privatandacht  vornehmer  Personen  bestimmten  Manu- 
scripten  sind  die  Bilder  in  einer  sehr  sorgsam  behandelten  Guaschmalerei 
ausgeführt,  mit  pastos  aufgetragenen,  auf  der  Oberfläche  geglätteten  kräf- 
tigen Farben,  deren  Gegensätze  durch  die  Anwendung  eines  glänzenden 
Goldgrundes  gemildert  und  harmonisch  verschmolzen  werden.  Daneben  bildet 
sich  dann  eine  andere,  leichtere  Manier,  die  besonders  in  wissenschaftlichen 
oder  poetischen  Werken  angewendet  wird,  indem  die  Zeichnung  hier  nur 
leicht  und  mit  wenigen  Farben  angetuscht,  in  den  Lichtern  das  Pergament 
ungedeckt  gelassen  ist.  Und  gerade  bei  dieser  leichteren,  mehr  dilettan- 
tischen Behandlung  bewegt  sich  die  Empfindung  am  freiesten;  wir  sehen  ein 
oft  erfolgreiches  Bestreben,  das  dramatische  Leben,  die  geistigen  Motive 
eindringlich  darzustellen. 

In  Deutschland^)  war  das  wichtigste  Denkmal  aus  der  Frühzeit  der 


^)  Für  deutsche  Malerei  vgl.  G.  F.  Waagen,  Handbuch  der  deutschen  und  nieder- 
ländischen Malerschulen,  Bd.  I,  Stuttgart  1862,  von  S.  16  an,  und  Sighart,  Gesch.  der 
bilil.  Künste  im  Königreich   Bayern,  S.  261  S.  u.  340  ff. 


Hortus  (leliciarum.  485 

Epoche  der  von  der  Herrad  von  Landsperg,  Aebtissin  des  elsassischen 
Klosters  Hohenburg  oder  St.  Odilien,  in  den  Jahren  1159  bis  1175  geschrie- 
bene, lange  in  der  städtischen  Bibliothek  zu  Strasburg  bewahrte,  leider  im 
Jahre  1870  verbrannte  Hortus  deliciarum,  eine  Art  Encyklopädie  des 
Wissenswürdigsten,  welche  die  Verfasserin  ohne  Zweifel  zum  Gebrauche  ihrer 
Nonnen  aus  vielen  Schriftstellern  zusammengetragen  hatte  ^).  Wenn  der 
Text  daher  auch  keine  selbständige  Arbeit  der  Herrad  2)  ist,  so  waren  um  so 
mehr  die  zahlreichen  und  ausführlichen  Bilder  ihr  eigenes  Werk,  und  man 
sieht  deutlich,  dass  sie  diese  als  den  wesentlichsten  und  nützlichsten  Theil 
ihrer  Arbeit  betrachtete.  Sie  dienen  nicht  nur  zur  Belebung  des  trockenen 
Wortes,  sondern  recht  eigentlich  zur  Erklärung  der  darin  enthaltenen 
Lehren.  Sie  begleiten  daher  jedes  Einzelne;  so  werden  z.  B.  bei  dem 
Gleichnisse  vom  Gastmahle  die  Gegenstände,  durch  welche  die  Geladenen 
sich  entschuldigen,  der  verkaufte  Meierhof,  die  fünf  Joch  Ochsen,  das  Weib, 
welches  der  Eine  freien  will,  dargestellt.  Oft  aber  geht  die  Malerin  auch 
weit  über  den  Text  hinaus  und  giebt  durch  ausführliche  Beischriften  erklärte, 
neue  Gedanken.  Die  Anordnung  des  Werkes  folgt  der  Bibel,  beginnt  mit 
der  Schöpfung,  geht  von  da  durch  das  alte  und  neue  Testament  bis  zum 
jüngsten  Gerichte  und  schliesst  mit  philosophischen  Betrachtungen.  Wissens- 
werthes  mehr  weltlicher  Art  ist  dann  gelegentlich  eingeschaltet;  so  wird  bei 
dem  Thurmbau  zu  Babel,  als  dem  Anfange  menschlicher  Thätigkeit,  von  den 
sieben  Künsten  und  den  neun  Musen  gehandelt,  beim  Durchgange  durch  das 
rothe  Meer  ein  Verzeichniss  der  Meere,  Meerbusen  und  Flüsse,  bei  der 
Apostelgeschichte  eine  Aufzählung  der  römischen  Kaiser,  bei  Erwähnung 
des  himmlischen  Jerusalems  die  Lehre  von  den  zwölf  vornehmsten  Edel- 
steinen und  ihrer  mystischen  Bedeutung  vorgetragen.  Sehr  reich  und  neu 
ist  die  Verfasserin  in  symbolisch  allegorischen  Vorstellungen.  Die  Einheit 
des  alten  und  neuen  Testaments  wird  durch  eine  Gestalt  mit  zwei  Köpfen, 
der  eine  des  Moses,  der  andere  Christi,  versinnlicht,  die  Heilung  der  Sünde 
durch  die  Geschichte  eines  siebenfach  Aussätzigen,  der  durch  siebenfache 
Busse  Genesung  erlangt,  die  fortdauernde  Wirksamkeit  Christi  in  der  Kirche 
durch  einen  Weinkelter,  in  welchem  Christus  steht,  während  alle  Glieder  der 
Kirche  Trauben  zuschütten.  Nicht  müde  wird  die  Verfasserin,  den  Kampf 
mit  dem  Laster  darzustellen.  Da  sieht  man  in  einer  Reihe  von  Bildern  die 
Tugenden  und  Laster  als  bewaffnete  Frauen  mit  einander  streiten,  dann 
wieder  erscheint  der  angefochtene  Mensch  als  Ulysses,  den  die  Sirenen  locken. 


')  Eine  gründliche  Beschreibung  und  zahlreiche  Abbildungen  giebt  Chr.  H.  Eugel- 
hardt,  Herrad  von  Landsperg,  Stuttgart  1818. 

-)  Sie  selbst  sagt:  .  .  .  „Hüne  libruoi  qui  intitulatur  hortus  deUciarum  ex  diversis 
sacrae  et  philosophicae  scriptiirae  floribus,  quasi  apicula,    Deo  inspirante,  comportavi". 


AQQ  Deutsche  Miniaturen. 

Besonders  interessant  ist  die  Darstellung  der  Himmelsleiter,  die  zu  derfoone 
des  Lebens  führt.  Ritter  und  Weltdame,  Geistliche  und  Mönche  mancher 
Art  sind  schon  auf  höheren  oder  niederen  Stufen  angelangt,  werden  aber 
durch  die  Lockungen  der  Welt,  der  Ritter  durch  Ross  und  Reisige,  die  Dame 
durch  Kleiderpracht,  der  Priester  durch  Tafelfreuden  und  sein  Liebchen,  die 
Nonne  durch  die  buhlerischen  Reden  des  Priesters,  die  Mönche  durch  ihren 
verborgenen  Schatz  und  durch  die  weichliche  Ruhe  des  Bettes  herabgezogen. 
Selbst  der  Einsiedler,  der  schon  hoch  oben  steht,  erliegt  der  letzten  Ver- 
suchung, der  übermässigen  Freude  an  seinem  Gärtchen.  Sie  fallen  alle  den 
lauernden  Teufeln  entgegen,  während  nur  die  christliche  Liebe,  die  Caritas, 
von  Engeln  geschirmt,  zum  höchsten  Lohne  gelangt.  Die  Herrlichkeit  der 
triumphirenden  Kirche,  die  Thaten  des  Antichrists,  das  jüngste  Gericht  mit 
Hölle  und  Himmel  werden  dann,  jeder  dieser  Gegenstände  auf  mehreren 
Blättern,  dargestellt,  und  andere  vielfach  interessante  Allegorien  hinzu- 
gefügt. 

Der  künstlerische  Werth  dieser  Malereien  ist  freiüch  sehr  bedingt. 
Die  Zeichnung  ist  dilettantisch  ungleich  und  unvollkommen,  die  Gesichter 
sind  oft  ausdruckslos,  die  Augen  gross  und  stier,  die  Gewandfalten  nach 
byzantinisirender  Weise  gehäuft  und  oft  unrichtig  gelegt.  Die  ziemlich 
dunklen  Farben,  mit  denen  die  Blätter  gedeckt  sind,  machen  keinen  Anspruch 
auf  Kraft  oder  Harmonie.  Von  Individualität  hat  die  Malerin  noch  keine 
Vorstellung-,  auf  dem  Schlussblatte,  wo  alle  zu  ihrer  und  ihrer  Vorgängerin 
Zeit  im  Kloster  lebenden  Nonnen  brustbildlich  und  mit  Beischrift  des  Namens 
dargestellt  sind,  gleicht  eine  völlig  der  andern  ohne  eine  Spur  von  Charak- 
teristik. Aber  dennoch  erkennt  man  an  ander  en  Stellen  eine  scharfe  Beob- 
achtung des  Lebens,  und  ein  Gefühl  für  die  ethische  Bedeutung  der  Formen. 
Die  heiligen  Gestalten  sind  in  alterthümlicher  Tracht  und  Haltung  nicht 
ohne  Würde  dargestellt,  bei  anderen  Gegenständen  dagegen  Kleidung  und 
Geräthe  nach  damaligem  Gebrauche  sehr  kenntlich  gegeben.  Die  Gebehrden 
und  Bewegungen  des  Körpers  sind  durchweg  sehr  lebendig  und  sprechend; 
oft  findet  man  feine,  der  Natur  abgelauschte  Züge,  oft  eine  gelungene  Dar- 
stellung schwieriger  und  ungewöhnlicher  Erscheinungen.  Dahin  gehört  z.  B. 
die  Gestalt  eines  Besessenen,  der  mit  unbekleidetem  Oberkörper  dahin- 
taumelt,  das  lange  Haar  über  das  Gesicht  fallend,  die  Hände  gebunden.  So 
ist  ferner  die  Superbia,  der  weltliche  Stolz,  sehr  eigenthümlich  und  lebendig; 
eine  weibliche  Figur  in  phantastischer  Tracht  mit  fliegenden  Gewändern, 
auf  gallopirendem  Rosse  sitzend,  mit  geschwungenem  Speere.  In  den  Kämpfen 
ist  das  Gefühl  für  ritterliche  Haltung  unverkennbar,  auf  der  oben  erwähnten 
Darstellung  der  Tugendleiter  das  Herabfallen  charakteristisch  verschieden 
und  lebendig  dargestellt.  Die  reiche  Phantasie  und  die  Auffassungsgabe 
der  Verfasserin  machen  sich  überall  geltend,  und  das  Ganze  giebt,  ungeachtet 


Hurtus  deliciarum. 


487 


der  mangelhaften  Technik,  ein  sehr  anschauliches  Büd  von  dem  geistigen 
Zustande  der  Zeit.  Namentlich  sehen  wir  darin  recht  deutlich ,  wie  die 
neuen  Gedanken,  welche  Scholastik  und  Poesie  erzeugten,  auch  neue  Mittel 
der  Versinnlichung  forderten  und  dadurch  zu  Vorstellungen  führten,   für 


Hortus  deliciaruin. 


welche  die  ältere  Kunst  keine  Vorbilder  gab  und  die  nur  aus  dem  Leben 
genommen  werden  konnten. 

Aehnlich  in  der  Kühnheit  allegorischer  Erfindung  sind  die  Miniaturen 
eines  aus  dem  Kloster  Niedermünster  bei  Regensburg  stammenden  Evan- 


488  Deutsche  Miniataren. 

geliariums  in  der  köuiglichen  Bibliothek  zu  München  i),  vom  Ende  des 
zwölften  Jahrhunderts.  Sehr  merkwürdig  ist  darin  namentlich  eine  Darstel- 
lung der  Kreuzigung  als  des  Sieges  über  den  Tod.  Christus  am  Kreuze, 
aber  mit  der  Königskrone  und  dem  Purpurgewande  bekleidet,  neigt  sein 
Haupt  zur  Rechten  zu  einer  bekrönten  weiblichen  Gestalt  in  reichem  Ge- 
wände, die  als  Vita,  das  ewige  Leben,  bezeichnet  ist,  während  auf  der  anderen 
Seite  des  Kreuzes  Mors,  der  Tod,  schlecht  bekleidet,  mit  zerbrochener  Lanze 
und  Sichel,  am  Halse  verwundet,  umsinkt.  Dabei  ist  aber  die  künstlerisclie 
Ausführung  sehr  viel  vollendeter;  die  Zeichnung,  obgleich  noch  durchweg 
byzantinisirend ,  verräth  Schönheitssinn  und  feines  Gefühl,  die  Farbe  ist 
sauber  und  harmonisch  behandelt. 

Eines  der  reichsten  und  bedeutendsten  Werke  der  deutschen  Miniatur- 
malerei ist  ein  Evangelienbuch,  welches^der  Mönch  Herimanus  aus  der 
Benediktinerabtei  Helmershausen  |an  der  Diemel  (coenobium  Helwardense) 
auf  Befehl  seines  Abtes^Konrads  H.  (1170  —  1180),  .'für  Herzog  Heinrich 
den  Löwen  verfertigt'^).  Von  Karl IV.  nach  Prag  entführt,  befand  es  sich 
dort  im  Doraschatz,  bis  es  1861  in  den  Besitz  des  Königs  Georg  von  Han- 
nover überging  =^).  Es  ist  in  der  That  ein  goldenes  Buch  (fulgens  über 
auro)  mit  der  prächtigsten  Ornamentik,  mit  zahlreichen  Initialen  und  mit 
Bildern  ausgestattet,  welche  in  den  langen  Gestalten,  in  dem  Faltenwurf  und 
in  dein  Typus  der  Köpfe  zwar  noch  byzantinischen  Einfluss  zeigen,  aber 
durch  Verständniss  der  Bewegungen,  durch  Mannigfaltigkeit  des  Ausdrucks 
überraschen.  Die  Gemälde  sind  biblischen  und  zum  Theil  allegorischen  In- 
halts (Tugenden,  welche  die  Laster  besiegen).  Besonders  merkwürdig  ist 
ein  grosses  Blatt,  welches  [eine  allegorische  Krönung  Heinrichs  des  Löwen 
und  seiner  Gemahlin  darstellt.  Oben  thront  Christus  zwischen  Heiligen,  aus 
den  "Wolken  zu  seinen  Füssen  ragen  zwei  Hände  vor  und  setzen  Kronen 
auf  die  Häupter  von  Heinrich  und  Mathilde,  welche  sie,  von  ihren  fürst- 
lichen Vorfahren  umgeben,  knieend  empfangen"*). 

Vom  Ende  des  zwölften^ Jahrhunderts  an  mehren  sich  die  Spuren  tech- 


1)  Kugler  Museum  1834,  S.  164  (kl.  Sehr.  I,  83),''und  Förster  Gesch.  d.  d.  Kunst 
I,  104.  Das  im  Text  beschriebene  Blatt  publicirt  bei  E.  Förster,  Denkmale,  Bd.  II, 
zu  S.   13. 

Q-)  Ambros,  der  Dom  von  Prag ,-1858,^8.  293  ff._  und  F.  Culemann,  das  Evau- 
geliarium  Herzog  Heinrichs  des  Löwen!,  Neue  Hannoversche  Zeitung  1861,  Nro.  222, 
224,  und  in  besonderem  Abdruck. 

^)j(iSicht  im  Weifenmuseum  sondern  im  Privatbesitze  des  Königs  (jetzt  zu  Hitzing) 
befindlich.' 

*)  Mit  Recht  legt  Culemann,  im  Widerspruch  zu  Höfler,  dieser  Krönung  keine 
politische  sondern  eine  religiöse  Bedeutung  bei,  die  sich  auf  die  Thatea  des  Herzogs 
für  das  Reich  Gottes  bezieht. 


1150  —  1200. 


489 


nischer  und  geistiger  Verbesserungen.  Man  trennte  sich  zögernd  vom  Alten. 
In  [einem  Poutificale  des  Erzbischofs  zu  Mainz  vom  Jahre  1183  in  der 
grossen  Bibliothek  zu  Paris  ^)  und  in  einem  Evangeliarium  der  herzoglichen 
Bibliothek  zu  Wolfenbüttel  vom  Jahre  11 94-)  zeigen  sich  bei  noch  sehr 
roher  und  ungelenker  Zeichnung  schon  glänzende  Guaschfarben.     In  einem 

Fig.  123. 


Initiale  aus  dem  Psalter  des  Landgrafen  Hermann, 

Gebetbuche  aus  dem  Kloster  der  h.  Ehrentrud  zu  Salzburg  vom  Anfange 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  in  der  Bibliothek  zu  München  finden  wir  sogar 
die  Jungfrau  noch  mit  der  Bleischrift:   Sca  Theotocos.     Aber  die  Würde  der 


^)  Waagen,  Künstler  und  Kunstwerke  in  England  und  Frankreich  III,  292. 
-)  Schönemann,  Hundert  Merkwürdigkeiten  der  Herzoglichen  Bibliothek  zu  Wolfen- 
büttel, 1849.     S.  36. 


490  Deutsche  Miniaturen. 

altchristlichen  Typen  ist  besser  verstanden  und  oft  so  grossartig  wiederbelebt, 
dasswir  an  die  Madonnen  des  Cimabue  und  des  Guido  daSiena  erinnert  werden^). 
Daneben  macht  sich  dann  der  Geist  der  neuen  Zeit  vornehmlich  in  den  Ini-' 
tialen  geltend ,  welche  jetzt,  meistens  mit  schönem  Schwünge  der  Linie  und 
kühner  Phantasie,  statt  des  Riemenwerks  aus  Pflanzen  oder  Thieren  gebildet 
und  mit  darin  angebrachten  Figuren  in  bedeutungsvolle  Verbindung  ge- 
bracht sind,  wie  es  das  in  der  Abbildung  mitgetheilte,  aus  einem  geflügelten 
Drachen  gebildete  S  aus  dem  unten  zu  erwähnenden  Psalter  des  Landgrafen 
Hermann  ;'zeigt-).  In  einem  Manuscript  in  Wolfenbüttel  enthalten  die 
Pflanzenwindungen  des  Buchstaben  B  den  Stammbaum  Christi,  der  aus 
Abrahams  Lende  hervorwächst  ^);  in  einer  Handschrift  der  Confessionen 
des  h.  Augustin  in  der  öffentlichen  Bibliothek  zu  Stuttgart  giebt  der  Buch- 
stabe M  eine  auch  sonst  häufig  vorkommende  Darstellung  der  Sünde,  indem 
zwei  Säuleu  und  ein  zwischen  sie  gestelltes  nacktes  Weib  die  senkrechten 
Grundstriche,  zwei  Schlangen,  welche,  um  jene  geschlungen,  sich  zu  den 
Brüsten  des  Weibes  herabbiegen  und  daran  nagen,  die  oberen  Verbindungs- 
striche bilden.  In  einem  Breviarium  derselben  Bibliothek  aus  dem  Kloster 
Zweifaltern  ist  vor  der  Legende  der  h.  Margaretha  der  Anfangsbuchstaben 
B  sehr  sinnreich  zur  Darstellung  ihrer  Geschichte  benutzt,  indem  die  runden 
Theile  des  Buchstabens  durch  einen  Drachen  gebildet^ sind,  der  in  der 
unteren  Abtheilung  mit  geöffnetem  Rachen  die  kniende  Heilige  bedroht, 
während  im  oberen  Felde  der  Tyrann  stolz  auf  einer  römischen  Selhi 
curulis  sitzt,  indem  er  sich  mit  den  Armen  an  den  herumgeschlungenen 
Ranken  festhält*). 

Auch  das  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  angehörige  Psalte- 
rium  nocturnum  aus  dem  Cistercienserinuenkloster  zu  Trebnitz,  jetzt 
in  der  königlichen  und  Universitätsbibliothek  zu  Breslau,  in  welchem  die 
zwanzig  Darstellungen  aus  der  Geschichte  des  neuen  Testamentes,  alle  in 
ganzer  Grösse  der  Blätter,   sich   trotz  vieler  Mängel  in  der  Auffassung  der 


1)  So  Waagen  im  deutschen  Kiinstbl.  1850,  S.  147  u,  Handbuch  I,  S.  20  bei 
einem  wahrscheinlich  aus  de»  Rheingegenden  stammenden  Psaherium  in  der  Stadi- 
bibliothek zu  Hamburg. 

2)  Der  Buchstabe  selbst  kommt  ganz  ähnlich  in  eiuem  Psaherium  rheinischen 
Ursprungs  in  der  Bibliothek  zu  Paris  (fonds  de  l'oratoire  Nro.  32",  vgl.  Labarte,  Album, 
Bd.  H,  Taf.  91)  vor,  welches  noch  starke  byzantinische  Anklänge  enthält  und  daher  noch 
dem  An  Fange  des  XH.  Jahrhunderts  angehören  mag.  Erst  in  dem  im  Texte  ange- 
führten Codex  ist  aber  der  Mann  hinzugefügt,  welcher  in  den  Rachen  des  Ungeheuers 
mit  der  Lanze  stösst,  und  so  ist  dies  ein  interessantes  Beispiel  der  Bereicherung  über- 
lieferter Typen  durch  die  allmälige  Arbeit   der  Phantasie. 

^)  Schönemann  a.  a.  0.,  Nro.  47,  S.  39. 
■1)  Kugler  a.  a.  0.  I,  59. 


1200  —  1250. 


491 


Form  durch  die  feierliche  Würde  der  heiligen  Personen  auszeichnen,  über- 
rascht durch  die  ornamentale  Schönheit  der  Initialen^).  In  dieser  phanta- 
sievollen Ausschmükung  der  Initialen  steht  endlich  eine  im  böhmischen  Museum 
zu  Prag  bewahrte  Handschrift  der  sogenannten  Mater  verborum,  d.  h. 
eines  lateinischen  Universal-Lexicons ,  unerreicht  da.  Die  Malereien  be- 
stehen nur   darin,   dass  jedesmal  bei  Beginn  eines  Buchstabens  in  der  lexi- 

Fig.  124. 


Ititials  ans  «lem  Codex  Mater  verliornm  zu  Prag. 


calischen  Folge  eine  Initiale  aus  Pflanzengewinden  und  Thieren  eintritt, 
welche  oft  bildliche  Darstellungen  ebne  Beziehung  auf  den  Inhalt  des  Lexi- 
cons  enthält.     Die  Figuren  sind  unter  Einwirkung  byzantinischer  Vorbilder 


1)  A.  Schulz,  Schlesiens  Kunstlebeu,    S.  9,    und   Abbildungen    auf  Tat.  1    und  11, 
ders.,  Urkundliche  Geschichte  der  Breslauer  Malerinnung,  Breslau  1866.  S,   183. 


AQ2  Deutsche  Miniaturen, 

lang  gezogen  und  schwach  in  der  Zeichnung,  manchmal  aber  erwacht  dennoch 
ein  selbständiges,  sogar  anmuthiges  Naturgefühl  und  fast  immer  ist  die 
Bildung  der  Buchstaben  aus  Pflanzen-  und  Thiergestalten  und  die  Verbindung 
der  historischen  Scenen  mit  der  Form  der  Initialen  höchst  sinnreich  und 
geschmackvoll.  Der  erste  Buchstabe  A  füllt  eine  ganze  Blattseite  und  hebt 
sich  in  prächtigen  Farben  von  dem  goldenen  Grunde  ab  ^).  Sein  Arabesken- 
geflecht geht  in  geflügelte  Drachen  aus,  und  innerhalb  der  Ornameut-Ver- 
schlingungen  tauchen  figürliche  Bildungen  auf:  eine  Halbtigur  der  Ceres ,  ein 
lustiger  Geigenspieler  in  eleganter  Tracht,  ein  Teufelchen,  das  einen  männ- 
lichen Kopf  an  den  Haaren  reisst,  eine  Eule  zwischen  zwei  Affen.  Zwei 
Priestergestalten  stehen  zu  beiden  Seiten  des  Buchstabens.  In  dem  N  erscheint 
die  Heimsuchung,  in  dem  Q  der  Erzengel  Michael,  welcher  auf  den  Drachen 
tritt;  die  Form  des  R  ist  benutzt,  um  in  der  oberen  Abtheilung  den  reichen 
Mann  bei  Tafel,  in  der  unteren  den  armen  Lazarus  darzustellen.  Das  darauf 
folgende  S  giebt  dann  die  Fortsetzung  der  Geschichte,  unten  den  reichen 
Mann  im  Höllenpfuhle,  oben  den  Armen  in  Abrahams  Schoosse,  wobei  der 
Buchstabe  selbst  noch  eine  Art  Commentar  enthält,  indem  die  beiden  Enden 
Oeffnungen  bilden,  in  deren  oberen  eine  menschliche  Gestalt  hineinsteigt,  und 
aus  deren  unterer  eine  Schlange  herauszischt.  An  den  Yerzierungen  des 
Y  hängen  Weintrauben  und  auf  den  Gewinden  wiegen  sich  ein  naschender 
Affe  und  eine  pflückende,  halbnackte  Gestalt  mit  langem  Haar.  (Fig.  124.)  Mit- 
unter ist  das  Historische  bloss  durch  die  Arabeske  des  Buchstabens  gegeben,  so 
bei  dem  D,  wo  neben  den  Worten :  Salva  me  doraine  in  den  Rankengewinden 
eine  betende  weibliche  Gestalt  und  ein  Mönch,  der  mit  einem  Fuchs  ringt, 
vorkommen,  und  bei  dem  L,  wo  einem  Manne,  der  aus  dem  Rachen  eines 
Ungeheuers  herausgezogen  wird,  die  Worte  beigeschrieben  stehen:  Ab  in- 
feris  educe  me.  Einige  Male  bestehen  die  Initialen  auch  bloss  aus  Thier- 
körpern,  so  dass  dieselbe  phantastische  Richtung,  welche  noch  in  dem 
Alphabet  des  Meisters  E.  S.  von  1466  die  Kupferstichliebhab^-  anzieht, 
schon  so  frühe  eintritt.  Von  Bedeutung  ist  endlich  der  Buchstabe  P,  weil 
er  uns  die  Namen  des  Schreibers  und  des  Malers  sowie  die  Entstehungszeit 
mittheilt.  In  der  oberen  Rundung  erscheint  die  Madonna,  unten  zwei  ver- 
ehrende Mönche,  der  Scriptor  Vacerodus  und  der  Illuminator  Mirozlaus 
nebst  der  Jahrzahl  1202"). 

Wie  das  phantastische  Element  tritt  auch  das  symbolische  in  neuer 


1)  V.  Quast  u.  Otte,  Zeitschrift,  I,  Taf,  XI. 

-)  Nicht  1102,  denn  dass  Zeichen  über  der  mittleren  Ziffer  der  Jahrzalil  MCII 
bedeutet  deren  Verdoppelung.  Beschrieben  von  Wocel  in  den  Mittheilungen  der  k.  k. 
Centralcommission,  Bd.  V.,  S.  33  ff.,  nebst  Holzscluiitten.  Vgl.  auch  Passavant  bei 
V.  Quast  u.  Otte  a.  a.  0.,  S.  193  f. 


1200  —  1250.  493 

Weise  hervor.  So  ist  in  einem  Psalterium  aus  dem  Kloster  Wöltingerode 
bei  Goslar  (Bibliothek  zu  Wolfenbüttel)  Christus  am  Kreuze  in  bedeutsamer 
Einrahmung  gegeben;  neben  den  Kreuzesarmen  stehen  nämlich  zur  Rechten 
Maria  und  Johannes  der  Täufer,  zur  Linken  Johannes  der  P^vangelist  und 
Melchisedek  mit  dem  Kelche;  beide  Gruppen  in  kleiner  Dimension  und  auf 
der  Aussenseite  in  runder  Einfassung,  so  dass  sie  mit  zwei  Medaillons,  am 
oberen  und  unteren  Rande  des  Rahmens,  das  eine  die  Gestalt  der  Kirche, 
das  andere  die  der  Synagoge  enthaltend ,  wieder  ein  Kreuz  andeuten.  Die 
Gegensätze  einerseits  des  alten  und  neuen  Bundes,  andererseits  des  Fleisches 
und  Blutes  Christi,  der  Verheissung  und  Erfüllung  sind  also  sinnreich  mit 
einander  verflochten.  Dazwischen  sind  dann  noch  friesartig  oberhalb  des 
Kreuzes  Moses  mit  der  ehernen  Schlange  und  die  Träger  mit  der  Traube 
von  Eskol,  unten  Abrahams  Opfer  und  das  Passahlamm  vor  dem  Auszuge 
aus  Aegypten,  also  symbolische  Beziehungen  auf  den  Opfertod  Christi,  an- 
gebracht, deren  Verschiedenheit  wieder  an  jene  ersten  Gegensätze  erinnert. 
Andere  Vorzüge  hat  ein  noch  reicher 'ausgestattetes,  aus  Mainz  stammendes 
Evangeliarium  in  der  Bibliothek  zu  Aschaffenburg  ^).  Der  Maler  steht 
hier  so  sehr  auf  dem  Boden  der  alten  Kunst,  dass  er  das  Wasser  des 
Jordan  bei  der  Taufe,  des  Sees,  auf  dem  Christus  wandelt,  nur  durch  ein- 
förmige Schnörkel  angedeutet  hat.  Aber  die  Bewegungen  der  Figuren  sind 
ungeachtet  einzelner  Mängel  der  Zeichnung  frei  und  leicht,  die  Köpfe  aus- 
drucksvoll, und  die  sehr  vollständige  Reihe  von  Bildern  aus  der  evangelischen 
Geschichte  enthält  eine  Fülle  neuer  und  Avohl  beachtenswerther  Motive. 
Nahe  verwandt  ist  ein  in  Bamberg  befindliches  und  wahrscheinlich  auch 
dort  entstandenes  Psalterium-),  in  welchem  sich  bei  gleicher  technischer 
Vollendung  der  neue  Geist  schon  deutlicher  ausspricht.  David,  die  Lyra 
spielend ,  sitzt,  wie  wir  es  auch  sonst  bei  der  Darstellung  Musicirender  im 
dreizehnten  Jahrhundert  finden,  mit  zierlich  gekreuzten  Füssen,  Goliath 
giebt  den  Ausdruck  plumpen  Uebermuthes  sehr  treffend,  Christus  empfängt 
die  Taufe  in  einer  fast  ritterlichen  Haltung,  und  entsteigt  dem  Grabe  so 
triumphirend,  wie  es  dem  Besieger  des  Todes  geziemte.  Nicht  minder  be- 
deutend und  den  beiden  eben  genannten  Werken  ähnlich  ist  das  in  der 
königlicheu  Privatbibliothek  zu  Stuttgart  befindliche,  für  den  Landgrafen 
Hermann  von  Thüringen  (1196  —  1216)  geschriebene  Psalterium"),  welches 
uns   auch  wegen  seiner  sichern  Zeitbestimmung   wichtig  ist.     In  der  Zahl 


^)  Waagen,  Kunstwerke  in  Deutschland  I,  376  ff. 

-)  Waagen  a.  a.  0.  I,  103  ff. 

^)  Waagen  a.  a.  0.  II,  199,  sowie  Handbuch  S.  20  und  besonders  Kugler  kl- 
Sehr.  I,  69,  mit  Zeichnungen.  Auch  Dibdin,  a  bibliographical  tour  in  France  and 
Germany,  1821,  giebt  eine  Abbildung. 


494  Deutsche  Miniaturfin. 

der  Bilder  und  in  der  Mannigfaltigkeit  neuer  Motive  steht  diese  Hand- 
schrift zwar  den  beiden  obenerwähnten,  wahrscheinlich  etwas  jüngeren,  nach, 
übertrifft  sie  dagegen  in  der  Ausführung,  und  besonders  im  Schönheits- 
gefühle. Sehr  eigenthümlich  ist ,  wie  hier  nach  der  Verschiedenheit  der 
Gegenstände  ältere  byzantinisirende  und  neuere  Formen  wechseln.  Der 
Kalender  enthält  bei  jedem  Monate  in  der  architektonischen  Einrahmung 
nuten  einen  Apostel,  oben  wie  gewöhnlich  die  angemessene  Wirthschafts- 
beschäftigung;  jene  sind  von  überaus  langen  Proportionen,  in  der  Gewand- 
behandlung und  im  Schnitte  des  Kopfes  völlig  typisch ,  diese  haben  kurze 
Gestalten  und  sehr  genremässige  Haltung.  In  den  Bildern  des  Textes  hält 
die  Zeichnung  geMussermaassen  die  Mitte:  sie  schliesst  sich  an  die  typische 
Auffassung  an ,  v(  rräth  aber  durch  grosse  Einfachheit  und  Bestimmtheit 
einen  Einfluss  dei  Sculptur.  Am  Schlüsse  des  Buches  endlich  befinden 
sich  die  Bildnisse  des  Landgrafen  und  der  Könige  von  Böhmen  und  Ungarn, 
jeder  mit  seiner  Gemahlin,  und  zwar  mit  augenscheinlichem  Bestreben  nach 
Porträtähnlichkeit. 

Neben  diesen  Miniaturen,  in  welchen  der  neue  Geist  sich  nur  gleichsam 
verstohlen  und  schüchtern  äussert,  kommt  dann  jene  zweite  Klasse  auf,  in 
welcher  er  frei  und  ungehemmt,  fast  gewaltsam  hervorbricht.  Sie  gehören 
alle  zu  Handschriften  ritterlicher  oder  geistlicher  Gedichte,  oder  beziehen 
sich  auf  Legenden  von  poetischer  Tendenz  oder  endlich  auf  die  Apokalypse, 
durchweg  also  auf  Schriften,  bei  denen  der  Maler  nicht  durch  die  Ehrfurcht 
vor  der  Tradition  oder  durch  die  Pflicht  kirchlicher  Pracht  gebunden  war, 
und  mit  Gegenständen  zu  thun  hatte,  welche  das  Gefühl  erregten.  Die 
technische  Behandlung  dieser  Bilder  ist  sehr  anspruchlos,  es  sind  blosse 
Federzeichnungen,  zwar  in  farbiger  Einrahmung  und  auf  farbigen  Hinter- 
gründen, aber  theils  nur  durch  den  Wechsel  schwarzer  und  rother  Tinte  der 
Umrisse  belebt,  theils  mehr  oder  weniger,  aber  immer  nur  leicht,  colorirt. 
Auch  die  Zeichnung  ist  nicht  vollendeter,  als  in  jenen  anderen  Manuscripten, 
die  Gesichter  sind  statt  des  hergebrachten  Ovals  mehr  eckig,  mit  hervor- 
tretendem Untertheile,  übrigens  aber  auch  hier  ausdruckslos,  oder  von  zu 
starkem,  übertriebenem  Ausdruck,  die  Augen  zu  gross,  die  Gewänder  weniger 
steif,  aber  dafür  flatternd.  Ein  wesentlicher  Vorzug  dieser  Zeichnungen 
besteht  dagegen  in  ihrer  dramatischen  Lebendigkeit  und  in  der  wirksamen 
Benutzung  der  Gebehrden  für  den  Ausdruck  des  Leidenschaftlichen,  nament- 
lich des  Schmerzes.  Man  wird  oft  überrascht,  wie  diese  Zeichner  bei  aller 
Unvollkommenheit  ihrer  Körperkenntniss  mit  wenigen  Strichen  durch  die 
Biegung  des  Körpers,  durch  die  Bewegung  der  Hände  das  Gefühl  des  Mo- 
ments in  sprechender,  ergreifender  Weise  auszudrücken  vermögen.  Sie  stehen 
darin  völlig  auf  dem  Standpunkte  der  Dichter,  von  welchen  sie  angeregt 
sind,  die  feinere  psychologische  Motivirung,  die  ihren  Ausdruck  im  Gesichte 


■  Eindringen  des  poetischen  Elements.  495 

finden  müsste,  ist  schwach^  dagegen  das  Phantastische,  Unvorbereitete, 
Leidenschafth'che  oft  höchst  wirksam.  Wie  es  scheint,  wurde  diese  Kunst- 
weise vorzugsweise  in  Bayern  geübt,  also  in  Süddeutschland,  wo  auch  die 
Poesie  vorzugsweise  blühte;  wenigstens  stammen  mehrere  der  Handschriften, 
in  denen  wir  sie  kennen  lernen,  aus  diesen  Gegenden.  So  zwei  Manuscripte 
der  Berliner  Bibliothek:  zuerst  die  deutsche  Eneidt  des  Heinrich  von 
Veldegk,  wo  jene  Gebehrdeusprache  neben  der  Unvollkommenheit  der 
Zeichnung  überrascht.  Die  Phantasie  des  Künstlers  zeigt  sich  ungemein 
thätig;  ruhige  Vorgänge,  Gespräche,  Liebesscenen  haben  in  der  That  den' 
Ausdruck  von  Zartheit  und  ritterlicher  Sitte,  bei  lebhaften  Momenten,  wie 
bei  dem  Sturm  auf  Troja  und  den  Darstellungen  von  Kämpfen  tritt  das 
energische  Ringen  nach  lebendiger  Schilderung  in  kühnen  Bewegungen  zu 
Tage,  bei  denen  es  freilich  an  Verrenkungen  und  an  Zügen  von  Lahmheit 
und  Ungeschick  nicht  fehlt.  Dann  das  Gedicht  des  Mönchs  Wernher  von 
Tegernsee  vom  Leben  der  Maria,  bei  welchem  die  Lebendigkeit  der 
Darstellung  sich  mit  dem  Ausdrucke  sanfter  Anmuth,  den  der  Stoff  erfor- 
derte, verbindetji),  mögen  auch  die  Figuren  zu  lang,  die  Extremitäten  oft 
nach  Art  kalligraphischer  Schnörkel  verzogen  sein.  In  einzelnen  Fällen,  be- 
sonders in  der  Klage  der  Frauen  nach  dem  Kindermord,  treten  sogar  eine 
überraschende  Poesie  der  Auffassung,  ein  kühnes  Pathos  auf.  Beide  scheinen 
am  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts  entstanden. 

Sehr  verwandter  Art  sind  die  Arbeiten  des  Mönchs  Conrad  aus  dem 
ebenfalls  bayerischen  Kloster  Scheyern,  jetzt  in  der  Bibliothek  zu 
München.  Der  Text  ist  hier  nicht  eigentlich  poetischen,  sondern  wissenschaft- 
lichen oder  religiösen  Lihalts ;  eine  mater  verborum,  also  ein  Lexikon,  eine 
Abhandlung  über  die  freien  Künste,  die  Werke  des  Josephus,  die  Historia 
scholastica  des  Comestor,  endlich  die  Evangelien,  denen  aber  zwei  phan- 
tastische Legenden  beigegeben  sind,  die  eine  von  einer  sündigen,  aber 
durch  ihre  Busse  und  den  Schutz  der  Jungfrau  geretteten  Aebtissin,  die 
andere  die  auch  sonst  oft  dargestellte  Geschichte  des  Theophilus,  eine  Art 
Faustsage.  Die  Bilder  beziehen  sich  meistens  auf  diese  Legenden  oder  sind 
apokalyptischen^Inhalts.TDie  Zeichnung  ist  hier  sicherer,  mehr  naturgemäss, 
nicht  ohne  Styl-^und  Schönheitsgefühl,  hat  aber  die  eckigen  Formen  des 
Gesichts,  die  flatternden  Gewänder  und  die  dramatische  Lebendigkeit  mit 
jenen  gemein.     Auch  reicht  die  Zeit  der  Arbeit  schon  bis  in  das  zweite 


1)  Kugler  in  seiner  Dissertation:  De  Werinhero,  saeculi  XII.  Monacho  (1831)  und  in 
den  kl.  Sehr.  I,  S.  12  und  38,  mit  Zeichnungen.  —  Vgl.  Sighart,  Geschichte  der 
bildenden  Künste  im  Königreich  Bayern,  S.  271  ff.  und  266  ff.  Dass  der  Mönch  von 
Tegernsee  der  Autor  des  „Liet  von  der  Maget"  sei,  wurde  zuerst  bestritten  von  Fei- 
falik,  in  der  Publication  des  Textes,  Wien,  1860. 


496 


Deutsche  Miniaturen. 


Viertel  des  Jahrhunderts  ^).  Der  Mönch  schrieb  und  malte  im  Auftrage  des 
Abtes  Conrad  (1206 — 1216)  und  seines  Nachfolgers  Heinrich  (1216—1259) 
und  kommt  im  Jahre  1251  zum  letzten  Male  vor. 

In  denCarminaBenedictoburana  der  Münchner  Hofbibliothek,  einer 
aus  dem  Kloster  Benediktbeuern  stammenden  Sammlung  weltlicher  Lieder,  ist 
die  Schlankheit  der  Gestalten  übertrieben,  sonst  aber  das  Naturgefühl 
lebendiger,  die  Ausführung  sauber  und  zierlich.     Darstellungen  des  Glücks- 


Fig.  125. 


Miniatur  aus  dem  Tristan  der  Bibliothek  zn  München. 

rades,  des  Waldes  mit  seinen  Thieren,  einzelnes  Mythologische,  Trinkgelage, 
Liebesscenen ,  zum  Beispiel  die  anmuthige  Gruppe  eines  Jünglings,  welcher 
einem  Fräulein  Blumen  überreicht,  sind  herauszuheben 2). 


1)  Kugler  a.  a.  0.,  S.  84,  wieder  mit  Zeichnungen.  Sighart,  a.  a.  0.  S.  274  fl'., 
desgl.  Aehnlich,  nur  minder  bedeutend  sind  die  Miniaturen  einer  dritten  Handschrift 
der  Berliner  Bibliothek  (Ms.  theol.  latin.  4»,  140),  welche  Legenden  und  am  Schlüsse 
die  Paraphrase  des  hohen  Liedes  von  "Willeram  enthält.  Auch  sie  scheint  aus  den 
bayerischen  Gegenden  zu  stammen,  wenigstens  nennt  sich  darin  in  etwa  gleichzeitiger 
Schrift  als  Besitzer  ein  Gotscalcus  aus  Lambach.     Kugler  daselbst,  S.  7  und  37. 

2)  Sighart,  a.  a.  0.  S.  272.  —  Herausgegeben  von  Schneller  in  den  Publicationen 
des  Literar.  Vereins,  Stuttgart,  1847,  Bd.  XVI,  mit  Abbildungen. 


Böhmische  Sdiule.  497 

Den  fortschreitenden  Einfluss  der  ritterlichen  Poesie  erkennen  wir  in 
den  Bildern  des  in  der  Schweiz  geschriebenen  Tristan  der  Münchener 
Bibliothek^),  wo  die  langgestreckten  Figuren,  die  etwas  geschlitzten  Augen, 
die  zierlichen  und  maassvollen  Bewegungen  schon  einen  Ausdruck  der  Sen- 
timentalität des  Geistes  und  ritterlicher  Courtoisie  geben  (Vgl.  die  Abbil- 
dung). Sehr  merkwürdig  ist  endlich  eine  Bilderbibel  in  der  fürstlich 
Lobkowitz'schen  Bibliothek  zu  Prag,  in  welcher  sich  ein  Laie  Welleslaus 
als  Stifter  oder  Maler  nennt,  und  in  der  bei  einer  phantastischen  Auffassung 
der  heiligen  Gegenstände  auch  jene  leichte  und  phantastische  Zeichnungs- 
manier durchgeführt  ist.  Das  Werk  besteht  nur  aus  Bildern  mit  Inschriften, 
ohne  weiteren  Text,  im  Ganzen  in  der  Ordnung  der  Bibel,  doch  so,  dass 
nach  dem  Buche  der  Könige  eine  unbiblische  Geschichte  des  Antichrists, 
eine  Art  Merlinssage,  eingeschaltet  ist.  Satan  äfft  darin  das  göttliche  Er- 
lösungswerk  nach,  ein  Engel  der  Verkündigung,  aber  mit  Krallenfüssen, 
erscheint  nicht  einer  reinen  Jungfrau,  sondern  einem  schon  in  sündlicher 
Umarmung  begriffenen  Liebespaare;  in  Babylon  wird  dann  der  Antichrist 
geboren,  Teufel  leisten  die  Geburtshülfe,  er  unterwirft  sich,  aber  schon 
erwachsen,  der  Beschneidung,  lässt  sich  als  Gott  anbeten  u.  s.  f.  Dann 
werden  wir  sogleich  in  die  Mitte  der  evangelischen  Geschichte  eingeführt, 
welche  mit  apokalyptischen  Scenen  schliesst,  und  an  die  sich  die  Geschichte 
der  Einführung  des  Christenthums  in  Böhmen  und  das  Martyrium  des 
h.  Wenceslaus  anschliesst.  Der  Codex  ist  also  in  Böhmen  entstanden  und 
zeigt,  da  man  in  der  grossen  Zahl  von  mehr  als  700  Bildern  verschiedene 
Hände  erkennt,  dass  sich  hier  eine  jener  benachbarten  bayerischen  ver- 
wandte Schule  gebildet  hatte.  Es  sind  leichte,  aber  flüssige  Federzeich- 
nungen, die  durch  stärkere  und  schwächere  Linien  den  Unterschied  des 
äusseren  Umrisses  und  der  inneren  Gliederung  andeuten,  mit  höchst  leben- 
diger dramatischer  Bewegung,  im  Naturalistischen  schon  weitergehend  als 
jene  ersterwähnten  Werke.  Der  Schönheitssinn  ist  auch  hier  keineswegs 
vorwaltend,  Hände  und  Köpfe  sind  oft  zu  gross,  der  Mund  meist  klein,  und 
dann  wieder,  wo  er  zum  Reden  geöffnet  ist,  zu  gross.  Die  Pferde  sind  sehr 
lebendig,  die  Reiter  mit  gesenkten  Fussspitzen  in  guter,  ritterlicher  Hal- 
tung. Die  Erfindung  ist  phantastisch  keck,  doch  auf  möglichste  Verständ- 
lichkeit berechnet.  Das  rothe  Meer  ist  wirklich  dunkelroth  gefärbt,  die 
dreihundert  Wölfe  mit  brennenden  Schwänzen  in  der  Geschichte  des  Samson 
sind  wenigstens  durch  sechszehn  in  vier  Reihen  aufgestellte  Thiere  reprä- 
sentirt,   an  denen   die  Flammen    durch   weisse  Streifen  mit  rothen  Rändern 


')  Kugler  a.  a.  0.,    S.  88,     Sig-hart  a.  a.  0.    S.  344.     Da    die    Haudsclirift    nicht 
nur  das  Gedicht  Gottfrieds  von  Strassburg,  sondern    auch  die  Fortsetzung   des  Ullrich 
von  Türheim  enthält,  wird  sie  erst  nach  dem  13.  Jahrhundert  entstanden  sein. 
Schnaase's  Knnstgcsch.  2.  Aufl.  V.  32 


498  Deutsche  Miniatiireii. 

dargestellt  sind.  Die  Färbung  ist  im  Anfange  und  P^nde  des  Codex  sehr 
leicht  und  oft  graciös,  in  der  Mitte  voller  aber  schwerer.  Tracht  und  Zeich- 
nung lassen  darauf  schliessen,  dass  die  Arbeit  noch  vor  1250  gefertigt  sei  ^). 
Sehr  anschaulich  wird  der  Gegensatz  zwischen  der  Zeichnuugsmanier  und 
den  wirklichen  Malereien,  wenn  Arbeiten  beider  Art  in  demselben  Manu- 
script  zusammenstehen,  wie  in  dem  grossen  Antiphonale  des  St.  Petersstiftes 
zu  Salzburg,  wo  die  Federzeichnungen  als  zart  und  geistvoll  geschildert 
werden,  während  die  auf  planirtem  Goldgrunde  mit  fetten  Guaschfarben 
ausgeführten  Gemälde  ihnen  nachstehen-). 

Bald  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  trat  indessen  eine  Veränderung 
ein,  welche  ohne  Zweifel  mit  dem  Aufkommen  des  gothischen  Styles  zusam- 
menhängt, aber  keinesweges  unbedingt  vortheilhaft  ist.  Sowohl  diese 
kecken,  dilettantischen  aber  ausdrucksvollen  Federzeichnungen,  als  die 
kräftige,  harmonische  Guaschmalerei  verschwinden,  und  an  ihre  Stelle  tritt 
eine  neue  Manier,  welche  gewissermaassen  zwischen  beiden  die  Mitte  hält. 
Die  mit  festen,  breiten  Strichen  angegebenen  Umrisse  sind  mit  stark 
deckenden,  aber  glanzlosen  und  oft  grell  neben  einander  gestellten  Lokal- 
farben ausgefüllt,  in  welche  dann  wieder  die  einzelnen  Theile  und  die  Ge- 
wandfalten mit  leichteren  schwarzen  Linien,  ohne  weitere  Schattirung  hinein- 
gezeichnet sind.  Die  Fleischtheile  sind  weisslich  gefärbt,  mit  rothen  Flecken 
der  Wangen,  der  Farbeneindruck  ist  meist  unruhig  und  bunt.  Die  Zeichnung 
ist  noch  immer  mangelhaft,  aber .  doch  sicherer,  gleichmässiger  und  freier 
von  auffallenden  Unrichtigkeiten,  die  Haltung  der  Figuren  meist  gerade,  oft 
schon  mit  leichter  Biegung  der  Hüften,  die  Füsse,  fast  immer  zu  klein  und 
stets  schwarz  bekleidet,  sind  auswärts  gestellt,  das  Oval  des  Gesichts  ist 
voll,  der  Mund  klein,  das  Auge  zu  gross;  das  Haar,  mit  kräftigen  Feder- 
strichen gezeichnet,  fällt  auf  beiden  Seiten  des  Kopfes  mit  gleicher,  voller 
Locke  herab.  Die  letzten  Ueberreste  des  byzantinisirenden  Styles  sind  ver- 
schwunden, aber  dafür  die  Anklänge  an  die  Würde  der  altchristlichen  Typen 
sehr  viel  seltener  und  schwächer  geworden.  Die  Gewänder  sind  nicht  mehr 
flatternd,  die  Falten  weniger  gehäuft,  mehr  geradlinig;  die  Bewegungen 
ruhiger,  aber  auch  nicht  mehr  so  sprechend  und  dramatisch  wie  in  jenen 
früheren  Federzeichnungen;  die  Gesichter  ohne  oder  mit  grellem  conven- 
tionellem  Ausdruck.  Die  Bäume  behalten  ihre  bisherige,  pilzartige  Gestalt, 
die  Gebäude   noch  bis    gegen  das  Ende  des  Jahrhunderts  meist  romanische 


^)  Vgl.  Waagen  im  deutschen  Kunsthl.  1850,  S.  148,  von  dem  ich  in  so  weit 
abweiche,  als  er  die  Jahre  1260  —  1280  annimmt, 

'-)  Vgl.  über  diesen  Codex,  der  nach  ziemlich  zuverlässigen  historischen  Zeichen 
um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  entstanden  sein  muss,  eine  ausführliche  Beschreibung 
von  G.  Petzold  im  deutschen  Kuustbl.,  1852,  S.  301. 


1250  —  iboo.  499 

Formen.  Die  Hintergründe  sind  nicht  mehr  einfach  blau  oder  roth  ge- 
färbt, sondern  entweder  mit  starkem  Blattgold  belegt  oder  mit  tapetenartigen 
Mustern  verziert,  meist  schachbrettartig.  Im  Ganzen  ist  der  Gewinn  ein 
sehr  zweideutiger;  die  dilettantischen  und  unbeholfenen  Aeusserungen  leben- 
diger Empfindung  und  typischer  Würde,  die  Schönheit  kräftiger  Farbc]i 
sind  einer  mehr  gleichmässigen,  aber  auch  oft  handwerksmässig  gleichgül- 
tigen, stylgerechten  Behandlung  geopfert,  ölan  muss  diese  Aenderung 
zunächst  der  Richtung  zuschreiben,  welche  die  Architektur  und  die  von  ihr 
geleitete  Plastik  dem  Geschmacke  gaben;  doch  mögen  auch  andere  Um- 
stände darauf  eingewirkt  haben.  Die  Klöster,  in  denen  die  Miniaturmalerei 
bisher  ihren  Sitz  gehabt  hatte,  waren  nicht  mehr  die  Stätten  der  regsten 
Kuustthätigkeit ;  das  städtische  Gewerbe  hatte  sie  überflügelt,  sie  empfingen 
aus  zweiter  Hand.  Ueberdies  waren  die  Benediktiner  erschlafft,  die  Cister- 
cienser  der  Kunst  weniger  geneigt,  sogar  von  eigener  Ausübung  derselben 
durch  ein  ausdrückliches  Verbot  abgehalten,  die  Bettelorden  durch  ihre 
ganze  Stellung  nicht  dazu  geeignet.  Endlich  hatte  auch  die  Wissenschaft 
statt  der  der  Kunst  günstigen  Richtung  auf  klassische  Literatur  die  scho- 
lastische angenommen  und  beschäftigte  die  begabten  Geister  auf  einem 
anderen  Felde.  Daher  erklärt  sich  auch,  dass  die  Zahl  deutscher  Miniatur- 
werke aus  dieser  Zeit  geringer  ist  und  dass  nur  wenige  sich  durch  reichere 
Pracht  auszeichnen.  Zu  den  grösseren  und  bestimmt  datirten  Handschriften 
dieser  Art  gehört  eine^Bibel  in  vier  Bänden  in  der  Bibliothek  zu  Würzburg 
(fol.  max.  Nro.  9),  welche  nach  der  darin  enthaltenen  Inschrift  im  Jahre 
1246  von  den  Mönchen  des  dortigen  Dominikanerklosters  geschrieben  und 
auf  Kosten  des  Abtes  mit  derben,  aber  geistlosen  Miniaturen  auf  Goldgrund 
geschmückt  wurde,  dann  eine  andere  Bibel  in  zwei  Foliobänden  auf  der 
Gymnasialbibliothek  zu  Coblenz,  die  im  Jahre  1281  vollendet  wurde,  und 
deren  Miniaturen  Kugler  einfach,  strenge,  meist  geradlinig,  statuarisch  in 
gothischer  Weise,  aber  ziemlich  roh  fand  ^).  Etwas  besser  sind  die  Zeich- 
nungen in  der  Sammlung  von  Minneliedern  aus  Kloster  Weingarten 
in  der  königlichen  Privatbibliothek  zu  Stuttgart,  die  jedenfalls  älter  ist  als 
der  Manesse'sche  Codex  in  Paris  und  vielleicht  schon  in  das  dritte  Viertel 
des  Jahrhunderts  fällt-).  In  einem  böhmischen  Werke  aus  dieser  Zeit,  in 
der  Breznicer  Bibel  im  vaterländischen  Museum  zu  Prag,  wo  sich  der  Maler 


1)  Kleine  Schriften  II,  344. 

-)  Waagen,  Kunstwerke  in  Deutschland  11,  200,  Handbuch  I,  S.  41  und  Kugler 
a.  a.  0.  I.  75,  76.  —  Herausgegeben  von  F.  Pfeifer  u.  F.  Fellner  in  der  Bibliothek 
des  Literar.  Vereins,  Bd.  ^',  Stuttgart  1843,  mit  den  Bildern.  Pfeiffer  setzt  die  Hand- 
schrift in  den  Anfang  des  14.  Jahrhunderts,  während  Fellner,  nach  Styl  und  Tracht  in 
den  Bildern,  das  Ende  des  13.  Jahrhunderts  annimmt. 

32* 


gQQ  Französische  Miniaturmalerei. 

Bohusse  aus  Leitomischl  mit  der  Jahreszahl  1259  genannt  hat,  ist  zwar  die 
Zeichnung,  namentlich  des  Nackten,  schwach,  aber  die  Haltung  der  Figuren 
weniger  statuarisch  als  in  jenen  deutschen  Arbeiten,  vielmehr  weich,  sogar 
ziemlich  graciös,  aber  unkräftig  ^).  Die  Hintergründe  sind  hier,  das  erste 
Beispiel  dieser  Art  in  Deutschland,  tapetenartig  gemustert,  und  die  ganze- 
Behandlung  nähert  sich  mehr  der  gleichzeitigen  französischen,  als  der  deut- 
schen "Weise,  so  dass  man  versucht  wird,  einen  unmittelbaren  Einfluss  der 
französischen  auf  diese  slavische  Schule  anzunehmen.  In  dieselbe  Zeit  mag 
ein  Missale  deutschen  Ursprungs  gehören,  das  vor  wenigen  Jahren  für  das 
germanische  Museum  erworben  worden-).  Die  Initialen,  deren  Ornamentik 
im  Geist  des  romanischen  Styls  gehalten  ist,  zeigen  im  Blattwerk  doch 
schon  gothische  Motive  und  sind  vielfach  mit  bildlichen  Darstellungen  aus 
der  heiligen  Schrift  von  grosser  Anmuth  und  Reinheit  des  Styles  gefüllt. 


Die  französische  Miniaturmalerei  hat  im  Ganzen  denselben  Ent- 
wickelungsgang  wie  die  deutsche,  aber  mit  etwas  anderem  Erfolge.  Auch 
hier  unterscheiden  wir  jene  beiden  Klassen  von  Miniaturen,  die  eine  mit  an- 
spruchslosen, leicht  colorirten,  aber  lebensvollen  und  naiven  Federzeichnun- 
gen, die  andere  schwächer  im  geistigen  Ausdrucke,  aber  mit  ausgeführten- 
Malereien  in  Guaschfarben  und  Gold.  Allein  auch  jene  Arbeiten  in  Zeich- 
nungsmanier sind  hier  eleganter,  mit  feinerer  Behandlung  der  Farben^ 
geringeren  Verstössen  der  Zeichnung  ^i ,  dagegen  aber  auch  minder  aus- 
drucksvoll und  lebendig.  Das  Bestreben  nach  formaler,  technischer  Eleganz 
ist  hier  stärker  als  in  Deutschland,  das  Bedürfniss  individueller,  geistiger 
Aeusserung  geringer.  Die  Guaschmalerei  ist  hier  gleich  vom  Anfang  der 
Epoche  an  häufiger  angewendet  und  besser  ausgebildet,  aber  die  typischen 
Gestalten  haben  nicht  die  ergreifende  Würde,  die  allegorischen  Darstellungen 


^)  Waagen  (deutsclies  Kunstblatt  1850,  S.  149)  glaubt  die  Arbeit  um  1300  setzen 
zu  müssen;  allein  auf  Fol.  296  des  Codex,  wo  der  Schreiber  Spignaus  von  Ratibor 
und  der  Maler  Bohusse  dargestellt  und  genannt  sind,  findet  sich  ganz  deutlicli  die  oben 
angegebene  Jahreszahl.  Beide  sind  ihrer  Tracht  zufolge  Laien.  Der  Maler  ist  mit 
einer  langen  Tunica,  einem  nach  antiker  Weise  umgeworfenen  Mantel  und  einer  herab- 
fallenden Mütze  bekleidet. 

-)  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit,  1867,  Nro.  4,  mit  zwei  Holzschnitten 
(Nro.  21,    897  des  Museums). 

•'')  Einen  Psalter  von  1200 —  1250,  der  in  Frankreich,  aber  nach  den  darin  vor- 
kommenden Heiligen  für  England  gemalt  ist ,  jetzt  im  britischen  Museum  (Addit. 
16,975)  schildert  Waagen  in  der  englischen  Bearbeitung  seines  Reisewerks  (Treasures 
of  Art  in  Great  Britain,  London  1854.  Vol.  I,  p.  111)  als  eine  ausgezeichnete  Leistung 
dieser  Art. 


Gevverbliclier  Betrieb.  501 

nicht  die  Tiefe,  die  Initialen  nicht  den  phantastischen  Reichthum  und  freien 
Schwung  der  Linien,  wie  in  den  deutschen  Miniaturen.  Dagegen  bemerkt 
man  in  der  Haltung  der  Figuren  frühe  das  Gefühl  für  Anstand  und  Zierlich- 
keit, in  den  Genrebildern  und  komischeu  Figuren,  welche  hier  schon  häufiger 
vorkommen,  eine  behagliche  Heiterkeit.  Dies  alles  finden  wir  schon  in  der 
Chronik  des  Klosters  Cluny,  welche  von  1188 — 1215  fortgesetzt  ist,  in 
«iuem  aus  dem  ersten  Drittel  des  dreizehnten  Jahrhunderts  stammenden 
Psalter,  welcher  der  Mutter  Ludwigs  IX.  angehört  haben  soll,  in  einem 
etwas  späteren  Psalter,  wo  die  statuarische  Haltung  der  Figuren  und  die  den 
Glasgemälden  ähnliche  Anordnung  der  Gruppen  schon  einen  Eiufluss  der 
gothischen  Architektur  zeigt,  und  endlich  in  einer  etwa  um  1250  geschrie- 
benen französischen  üebersetzung  der  Apokalypse  i).  In  dieser  ist  etwas 
mehr  dramatisches  Leben,  aber  wir  vermissen  doch  auch  hier  eine  tiefere 
Auffassung  der  phantastischen  Gegenstände;  die  hell  und  grell  gemalten 
Bilder  gehen  nur  auf  grobe  Versinnlichung  der  Textesworte  aus,  und  die 
graciöse,  oft  affectirte  Haltung  der  Figuren  contrastirt  gegen  den  Ernst  der 
apokalyptischen  Geschichte. 

Aus  diesen  Anfängen  entwickelte  sich  jedoch  eine  feste  Schule.  Dante 
bringt  in  einer  bekannten,  oft  angeführten  Stelle  die  Miniaturmalerei  in  eine 
besondere  Verbindung  mit  Paris;  bei  der  Begegnung  mit  einem  italienischen 
Miniaturmaler  bezeichnet  er  nämlich  dessen  Kunst  als  die,  welche  in  Paris 
Illuminiren  genannt  werde ^).  Diese  Worte  scheinen  anzudeuten,  dass  zu 
Dante's  Studienzeit  noch  vor  dem  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts  die 
Miniaturmalerei  in  Paris  vorzugsweise  blühete  und,  abweichend  von  anderen 
Orten,  einen  eigenen  technischen  Namen  hatte,  ein  wirkliches  Gewerbe 
bildete.  Und  dies  ist  auch  aus  anderen  Gründen  sehr  wahrscheinlich.  In 
Paris,  der  einzigen  Universität  diesseits  der  Alpen,  wo  die  Wissbegierigen 
aller  Länder  zusammenströmten,  musste  nothwendig  auch  der  stärkste  Um- 
satz von  Büchern  statt  finden.  Durch  die  längere  Pflege  der  Wissenschaften 
war  hier  ein  Vorrath  von  Handschriften  aufgehäuft,  wie  an  keinem  anderen 
Orte,  während  andererseits  das  literarische  Bedürfniss  der  Lehrer  und  Stu- 
direnden  und  der  Wunsch  der  Fremden,  sich  bei  ihrer  Rückkehr  in  ihre 
Heimath  das  nöthige  Material  zur  Fortsetzung  oder  Anwendung  ihrer  Studien 
zu  verschafi"en,  eine  Nachfrage  erzeugte,  welche  durch  diesen  Vorrath  nicht 


^)  Vgl.  über  diese  und  die  später  erwähnten  Manuscripte  ausführlichere  Nach- 
richten ,  freilich  aber  auch  zum  Theil  von  den  mehligen  abweichende  Urtheile  bei 
Waagen,  K.  und  K.  in  Frankreich  III,  284  ff.  Die  zweite  der  genannten  Handschrifteu 
befindet  sicli  in  der  Bibliothek  des  Arsenals,  die  übrigen  sind  in  der  grossen  Bibliothek 
zu  Paris. 

^)  Purgat.  XI.  76:  Non  se'  tu  Oderisi  —  L'onor  d'Agobbio,  e  l'ouor  di  quell' 
arte  —  Ch'  alluminare  e  chiamata  in  Parisi. 


502  Französische  Miniaturmalerei. 

befriedigt  werden  konnte.  Der  Besitz  von  Büchern  war  sehr  bald  auch  ein 
Gegenstand  der  Prunksucht  und  Eitelkeit  geworden;  schon  im  Jahre  1189^ 
klagte  man  darüber,  dass  einzelne  Studenten  mit  ihren,  durch  goldene  Buch- 
staben geschmückten  Büchern  den  Platz  auf  den  Bänken  der  Hörsäle 
beschränkten^).  Dieser  gesteigerten  Nachfrage  konnte  daher  nur  durch  neue 
Abschriften  genügt  werden,  deren  Anfertigung  ausschliesslich  oder  doch  vor- 
zugsweise den  Klöstern  anheimfiel,  da  sie  allein  den  dazu  nötliigen  Bücher- 
vorrath  besassen  und  an  die  Arbeit  des  Abschreibens  gewöhnt  waren.  Es 
lag  nahe,  aus  dieser  Thätigkeit,  wie  aus  anderen  minder  geistigen,  eine  Quelle 
der  Einnahme  zu  bilden.  Auch  fehlte  es  dazu  nicht  au  Aufmunterung. 
Ludwig  IX.,  durch  das  Beispiel  eines  saracenischen  Fürsten  bewogen,  legte 
gleich  nach  seiner  Rückkehr  von  dem  ersten  Kreuzzuge  eine  Bibliothek  zum 
Gebrauche  der  Studirenden  an ,  in  welche  er  jedoch,  um  den  Vorrath  vor- 
handener Bücher  nicht  zu  vermindern,  nicht  aufgekaufte,  sondern  nur  für 
diesen  Zweck  neu  abgeschriebene  Exemplare  aufnahm-).  In  seinem  Testa- 
mente vertheilte  er  diese  Bücher  an  vier  verschiedene  Klöster,  und  diese 
werden  nicht  ermangelt  haben,  daraus  dem  Sinne  des  Königs  entsprechend 
den  Vortheil  zu  ziehen,  dass  sie  Abschriften  für  den  Verkauf  anfertigten. 
Hieraus  erklärt  sich  auch,  dass,  ungeachtet  jener  Nachfrage,  noch  kein 
eigentlicher,  freier  Buchhandel  entstand.  In  der  Sammlung  von  Statuten  der 
Pariser  Gewerbe  vom  Jahre  1258  kommt  noch  keine  solche  Innung  vor;  in 
der  Steuerrolle  von  1313  werden  zwar  mehrere  Buchhändler  genannt,  die 
aber  alle  noch  mit  einem  anderen  Gewerbe,  namentlich  als  Schenkwirthe 
oder  Trödler,  aufgeführt  sind  ■^).  Auch  waren  sie,  wie  ein  Beschluss  der  Uni- 
versität vom  Jahre  1275^)  ergiebt,  eigentlich  nur  Mäkler  (Stationarii  qui 
vulgo  librarii  appellantur),  bei  welchen  diejenigen,  welche  Bücher  verkaufen 
wollten,  dieselben  mit  Bestimmung  des  Preises  niederlegten,  damit  sie  von 
ihnen  durch  Anschlag  angezeigt  und  demnächst  den  sich  Meldenden  verkanft 
würden.  Das  gewerbliche  Unternehmen  ging  also  von  den  Abschreibern, 
muthmasslich  den  Klöstern,  aus,  welche  eben  als  Gewerbtreibende  den  Absatz 
durch  eine  dem  Geschmacke  der  Käufer  entsprechende  Ausstattung  zu  be- 
fördern suchten.  Ueberall  aber  war  dieser  Geschmack  schon  auf  eine 
gewisse  Eleganz  gerichtet.  In  Bologna,  das  für  Italien  ebenso  den  Bücher- 
markt bildete  wie  Paris  für  die  nördlichen  Länder,  sah  man  vorzugsweise 


*)  Wood,  Hist.  Ullivers.     Oxon.  bei  Meiners,     Historische  Vergleichung  II,  538. 
2)  Duboulay,  Hist.  Univ.  Paris.  III,  p.  122,  392. 

^)  Depping,  Reglements    sur    les    arts    et    metiers  de  Paris    (,iu    der  CoUection  de- 
documents  inedits  pour  l'histoire  de  France)  Introductioa  p.  LXXVIII. 

^)  Duboulay,    Hist.  Univ.  Par.  III  419,  und  Crevier,    Hist.  de  l'Univ.  .de  P.  II,  66. 


Der  Psalter  Ludwigs  des  Heiligen,  503 

auf  kostbare,  gleichsam  gemalte  Schrift  ^),  in  Paris  dagegen ,  wie  Dante's 
Aeiisserung  imd  die  vorhandenen  Manuscripte  beweisen,  auf  Miniaturen. 
Dieser  gewerbliche  Betrieb  musste  natürlich  auch  auf  die  Behandlung  dieser 
Malereien  einwirken.  Sie  waren  nicht  mehr  die  langsame  Arbeit  eines 
müssigen  Mönchs,  der  seine  zurückgehaltenen  Empfindungen  darin  für  künf- 
tige Klostergenossen  niederlegte,  sondern  wurden  für  Fremde  und  ohne 
besonderes  Interesse  angefertigt  •).  Dagegen  kam  diesem  Gewerbe  zu  statten, 
dass  es  in  einer  Zeit  aufblühete,  wo  die  gothische  Architektur  dem  Ge- 
schmacke  eine  feste  Richtung  gab  und  die  Plastik  und  Glasmalerei  anschau- 
liche Vorbilder  gewährten.  Schon  in  einem  Manuscript  vom  Jahre  1266 
über  die  Wunder  der  h.  Jungfrau  (Mss.  franc,  Nr.  7987)  finden  wir  den 
Styl,  der  hierdurch  entstand,  ganz  ausgebildet,  seine  höchste  Leistung  ist 
aber  ein  bilderreicher  Psalter  (Suppl.  lat.  636),  welcher  nach  einer  darin 
befindlichen,  späteren,  aber  sehr  glaubhaften  Notiz  für  Ludwig  den  Hei- 
ligen gefertigt  war-^).  Das  Manuscript,  ein  Octavband,  enthält  zunächst  auf 
76  Blättern  die  biblische  Geschichte  von  Abel  und  Kain  bis  zur  Krönung 
Saals,  gleichsam  als  Einleitung  zu  den  Psalmen,  deren  Text  darauf  folgt  und 
nur  mit  zum  Theil  historiirten  Initialen  verziert  ist.  Alle  jene  Bilder  haben 
denselben  Hintergrund,  eine  zierliche  Architektur  reinsten  gothischen  Styls, 
in  den  Details  auffallend  an  die  Sainte  Chapelle  von  Paris  erinnernd,  zwei 


^)  Der  Jurist  Odofredus  in  Bologna  klagt  im  Anfange  des  13.  Jahrhunderts,  dass 
die  Schreiber  zu  Malern  würden  und  die  Kostbarbeit  der  Schrift  die  Bücher  vertheuere. 
Meiners  a.  a.  0. 

-)  Die  Steuerrolle  v.  J.  1292  (CollÄtion  de  doc.  ined.  sur  l'histoire  de  France) 
zählt  13  Enlumineurs  auf,  deren  gewerbliches  Verhältniss  schon  daraus  hervorgeht,  dass 
9  in  einer  und  derselben  Strasse  wohnen,  12  wenigstens  im  Stadtiheile  der  Universität. 
Es  gab  ausserdem  ein  rue  aux  ecrivains,  in  welcher  19  parcheminiers  wohnten.  Springer, 
Paris  im  13.  Jahrhundert,  Leipzig  1856,  S.  110. 

')  Die  wesentlichen  Worte  dieser  Notiz  lauten:  Cest  Psaultrier  fu  saint  Loys  et 
le  donna  la  royne  Jehanne  d'Evreux  au  roy  Charles  filz  du  roy  Jehan  l'an  de  nre. 
S.  mil  troys  cens  soissante  e  nuef  et  le  roy  Charles  present ,  fils  dud't  roy  Charles, 
le  donna  a  madame  Marie  de  France  sa  fille  religieuse  ä  Poyssi,  le  jour  Saiut-Micliel 
l'an  mil  IIIIC.  Die  Notiz  stammt  aus  dieser  letzten  Zeit  (1400),  und  es  ist  diuxliaus 
glaubhaft,  dass  sich  im  Königlichen  Hause  eine  richtige  Tradition  über  die  Schicksale 
des  kostbaren  Buches  erhalten  hatte.  Auch  giebt  der  Styl  der  Miniaturen,  wenn  er 
auch  einen  üebergang  von  dem  des  dreizehnten  zu  dem  des  vierzehnten  Jahrhunderts 
bildet,  keine  dringende  Veranlassung,  ihre  Anfertigung  mit  Waagen  a.  a.  0.  S.  301 
erst  gegen  1300  zu  setzen,  da  man  annehmen  darf,  dass  für  den  König  ein  aus- 
gezeichneter Arbeiter  ausgewählt  wurde ,  dessen  Weise  später  Nachahmung  fand. 
Mehrere  Gründe,  welche  die  Annahme  des  Ursprungs  unter  Ludwig  IX.  unterstützen, 
werde  ich  im  Texte  anführen.  Waagen  hat  dann  auch  selbst  diese  Ansicht  später 
zurückgenommen,  wie  dieNotizen  für  seine  beabsichtigte  Geschichte  der  Miniaturmalerei 
in  seinem  handschriftlichen  Nachlasse  ergeben.  —  Proben  in  Labarte,  Album,  11,  pl.  92. 


gQ^  Französische  Miniaturmalei'ei. 

Spitzbögen,  deren  Mittelpfeiler  dazu  dient,  die  zwei  historischen  Momente, 
die  auf  den  meisten  Blättern  zusammengestellt  sind,  zu  scheiden.  Die  Leisten 
dieser  Architektur  und  die  Gründe  hinter  den  Figuren  sind  golden,  die 
Farben  harmonisch  und  von  kräftigem  dunklem  Ton,  aber  in  geringer  Zahl 
und  oft  wiederholt.  So  ist  jene  Architektur  stets  azurblau  und  bräunlichroth 
und  zwar  dergestalt  von  Blatt  zu  Blatt  wechselnd,  dass  jede  beider  Farben 
einmal  den  Fenstern,  und  dann  den  Füllungen  gegeben  ist,  und  ebenso  kehren 
dieselben  Farben  mit  gleicher  Abwechselung  an  den  Gewändern  wieder.  Die 
Gesichter  sind  weisslich  mit  aufgesetzter  Wangenröthe  und  sehr  pastos  auf- 
getragenen Lichtern,  die  Locken  stets  mit  zierlichem  Sch^^alnge.  Die  Zeich- 
nung ist  sicher  und  gewandt,  die  Darstellung  stets  auf  wenige  Figuren 
beschränkt,  deren  Haltung  ein  Bestreben  nach  Anstand  und  ritterlicher  Ele- 
ganz verräth.  In  den  Kämpfen  und  an  einzelnen  Nebenfiguren,  namentlich 
an  Mönchen  und  Nonnen,  finden  wir  Spuren  eigener  Beobachtung  des  Lebens, 
im  Ganzen  hat  aber  die  Darstellung  eher  etwas  Conventionelles.  Der  Aus- 
druck ist  verständlich,  aber  matt,  Jacob  ringt  mit  dem  Engel  sehr  sanft  und 
Samson  bricht  die  Säule  mit  Grazie ;  die  „vaillant  Dame  qui  a  nom  Debora", 
wie  sie  in  der  auf  der  Rückseite  des  Blattes  befindlichen  Inschrift  heisst, 
sitzt  sehr  zierlich  auf  demselben  Pferde  mit  einem  wohlgerüsteten  Ritter, 
Ueberall  ist  die  möglichste  Decenz  beobachtet;  nicht  bloss  Cain  und  Abel, 
sondern  auch  der  trunkene  Noah  sind  vollständig  bekleidet,  Potiphar  ist  in 
vollem  Kostüme  und  stehend,  als  sie  dem  keuschen  Joseph  den  Mantel  ent- 
reisst.  Selbst  das  geplagte  Aegypten,  oberhalb  nackt,  um  an  den  Umrissen 
seine  Beulen  zu  zeigen,  ist  am  unteren  Theile  des  Körpers  durch  einen  Mantel 
züchtig  verhüllt.  Die  Initialen  der  Psalmen  enthalten  Hergänge  aus  dem 
Leben  Davids  auf  gemusterten  Hintergründen,  welche  bei  geeigneten  Momen- 
menten,  z.  B.  bei  dem  27.  Psalm,  wo  das:  Dominus  est  illuminatio  mea  et 
Salus  mea  durch  einen  auf  den  König  herabfallenden  goldenen  Regen  ver- 
sinnlicht  ist,  oder  da  wo  er  anbetet,  mit  einer  Hindeutung  auf  König  Ludwig 
selbst,  seine  gewöhnlichen  Wappenzeichen,  nämlich  die  Lilien  abwechselnd 
mit  dem  Thurme,  dem  Wappen  seiner  Mutter  Blanka  von  Kastilien,  ent- 
halten 1). 

Wir  sehen  also  hier  im  Wesentlichen  dieselbe  Richtung,  die  wir  auch 
in  Deutschland  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  gefunden  haben,  aber 
mit  besserem  Erfolge  ausgeübt.     Die  Miniaturmalerei  hat  den  Anspruch  auf- 


^)lGanz  ähnlichen  Styls  sind  die  Miniaturen  in  dem  in  der  anibrosianischen 
BibUothek  zu  Mailand  (sub  H.  106.)  bewahrten  Codex  moralischer  Abhandlungen, 
welcher  nach  der  Inschrift  für  König  Philipp  III.  im  J.  1279  vollendet  und  ihm  wie 
das  Dedicationsbild  ergiebt,  überreicht  wurde.  Der  Verfasser,  ein  Dominikanermönch 
Laurentius,  hat  darin  die  daizustellenden  Gegenstände  dem  Maler  vorgeschrieben. 


Englische  Miniaturen.  505 

gegebeu,  die  Tiefe  des  in  der  Schrift  ausgesprochenen  Gedankens  zu 
erreichen  oder  gar  weiter  auszuführen;  sie  will  nicht  mehr  belehren,  sondern 
dem  Auge  schmeicheln,  sie  strebt  nach  glatter,  leichtfasslicher  Form  und 
gefälliger  Färbung.  Die  Ursachen  dieser  Geschmacksveränderung  sind  sehr 
klar;  aus  einer  Zeit  unruhigen  Strebens  sind  wir  in  eine  Zeit  fertiger  und 
selbstzufriedener  Bildung  gelangt.  Durch  den  gothischen  Styl ,  die  scho- 
lastische ^Yissenschaft  und  das  Kitterthum  hatte  man  feste  Geschmacks- 
regeln, Begriffe  und  Sitten,  die  alles  beherrschten,  und  den  schwankenden 
aber  lebendigen  und  individuellen  Dilettantismus  der  ersten  Hälfte  dieser 
Epoche  weder  brauchten  noch  duldeten.  Alle  diese  Ursachen  wirkten  in 
Frankreich  viel  früher  und  mächtiger,  und  es  ist  daher  natürlich,  dass  die 
Erfolge  hier  auch  eher  reiften  als  in  Deutschland. 


In  den  englischen  Miniaturen  bemerken  w^r  schon  am  Aufauge  der 
Epoche  eine  Annäherung  an  den  französischen  Styl;  jene  phantastische 
Zeichnungsmanier  der  angelsächsischen  Schule  verschwindet,  die  Köpfe 
erhalten  das  völlige  Oval  wie  in  Frankreich,  die  Zeichnung  wird  fester  und 
lehnt  sich  mehr  an  antike  Motive  an,  endlich  kommt  auch  die  solide  Guasch- 
malerei auf  Goldgrund,  wie  man  sie  jenseits  des  Kanals  übte,  mehr  und  mehr 
in  Anwendung.  Es  war  ein  Sieg  der  mehr  formellen  Sinnesweise  der  fran- 
zösisch gebildeten  Normannen  über  das  mehr  innerliche  und  phantastische 
Wesen  des  sächsischen  Stammes.  Indessen  erkennen  wir  noch  Ueberreste 
jeuer  älteren  Weise;  die  Gestalten  sind  noch  schlanker  als  dort,  die  Ge- 
wänder oft  flatternd,  die  Bewegungen  heftiger  und  ausdrucksvoller.  Auch 
äussern  sich  schon  jetzt  manche  britische  Eigenthümlichkeiten ;  die  reali- 
stische Tendenz  in  den  genreartigen  Bildern  des  Kalenders  und  in  der  häu- 
figen Anwendung  der  einheimischen  Tracht,  die  starke  Betonung  von  Motiven 
der  Herzlichkeit  und  Innigkeit,  der  ausgelassene  Humor  neben  dem  Ernst 
der  religiösen  Darstellungen.  Andererseits  aber  erhalten  sich  die  Spuren  der 
byzantinisch-antiken  Tradition,  die  hier  erst  so  spät  eingedrungen  war,  auch 
länger  als  in  anderen  Gegenden.  Beispiele  des  Uebergangs  von  jener  älteren 
zu  dieser  neueren  Weise  geben  mehrere  Miniaturwerke  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts,  namentlich  eine  Bibel  (Cotton.  Nero. 
C.  lY.),  und  ein  reich  mit  sehr  eleganten  Initialen  geschmücktes  Psalterium 
(Regia  I.  D.  X.),  beide  im  britischen  Museum  zu  London,  und  der  Kom- 
mentar des  h.  Hieronymus  über  den  Propheten  Jesaias  in  der  bodleyanischen 
Biblothek  zu  Oxford,  von  etwa  1170,  wo  aber  der  Maler  Hugo  (denn  er  hat 
sich  darin  porträtirt   und  geuaimt)   einen   ungewöhnlichen  Sinn  für  Formen- 


5Qg  '  Englische  Miniaturen. 

Schönheit  entwickelt^).  Später  finden  wir  dann  die  Guaschmalerei  voll- 
ständig ausgebildet  und  mit  einer  Schönheit  und  Mannigfaltigkeit  der  Far- 
ben, wie  bei  keiner  anderen  Nation,  freilich  aber  nun  auch  mit  mehr  schema- 
tischer  Zeichnung  und  mit  geistlosen  und  lahmen  Motiven.  Beispiele  dieser 
Kunstrichtung  sind  ein  Psalter  des  britischen  Museums  (Arundel,  Nro.  157); 
etwa  um  1210,  wo  die  Schwäche  des  geistigen  Theiles  der  Arbeit  mit  der 
geschmackvollen  Farbenbehandlung  auffallend  contrastirt,  und  die  etwas 
spätere  Bibel  in  der  Bibliothek  des  Arsenals  zu  Paris,  in  der  sich  ein  Laie 
Manerius  aus  Canterbury  als  Schreiber  nennt 2).  In  einem  schon  gegen  1250 
geschriebenen  Psalter  des  britischen  Museums  (Landsdown,  Nro.  420) 
interessirt  uns,  bei  starker  Rohheit  der  Zeichnung  und  grosser  Schönheit  der 
Farben,  das  frühe  Hervortreten  des  humoristischen  Elements.  So  enthält 
von  zwei  gegenüberstehenden  Initialen  die  eine  den  singenden  und  von  einem 
Yiolinspieler  begleiteten  König  David,  die  andere  aber  ein  Concert,  in 
welchem  Esel,  Ochse,  Hase,  Schwein,  Ziegenbock  und  andere  Tliiere  ver- 
schiedene, mit  bizarrer  Absicht  ausgewählte  Instrumente  spielen. 

Die  ausgezeichnetesten  Leistungen  englischer  Miniaturmalerei  finden 
wir  endlich  in  zwei  Manuscripten  des  britischen  Museums,  beide  mit  Schriften 
des  bekannten  englischen  Historikers  Matthaeus  Parisiensis.  Das  eine,  das 
grössere  Geschichtswerk  des  von  1241  bis  1259  arbeitenden  Mönches  und 
zwar  vielleicht  in  eigenhändiger  Schrift  (Mss.  Regia,  14,  C.VII),  enthält  ausser 
anderen  Malereien  ein  grosses  Blatt,  auf  welchem  der  Verfasser  selbst  nebst 
der  von  ihm  angebeteten  Jungfrau  dargestellt  ist,  zwar  nur  in  leicht  colo- 
rirter  Federzeichnung,  aber  von  grosser  Schönheit  und  edler  Bildung  der 
Jungfrau  und  des  sie  liebkosenden  Kindes.  In  der  zweiten  Handschrift  (Gott. 
Nero,  D.  I)  sind  die  kleineren  Werke  des  Matthaeus  von  überaus  lebendigen 
Federzeichnungen  historischen  Inhalts  begleitet,  während  eine,  die  ganze 
Folioseite  einnehmende  Gestalt  Christi  als  Weltrichter,  obgleich  nur  mit  der 
Feder  gezeichnet  und  leicht  illuminirt,  von  so  würdiger  Auffassung,  Haltung 
und  Gewandbehandlung  ist,  dass  sie  an  italienische  Kunst  erinnert.  Der 
Urheber  des  Bildes  nennt  sich  darauf  als  frater  Wilhelmus,  von  Geburt  ein 
Engländer,  aber  zweiter  Genosse  des  heil.  Franciscus,  so  dass  es  nicht 
unwahrscheinlich  ist,  dass  italienische  Vorbilder  auf  seinen  Geschmack  ein- 
gewirkt haben. 

Einigen  Einfluss  auf  diese  Blüthe  der  englischen  Miniaturmalerei, 
namentlich  auf  die  Ausbildung  des  Farbensinnes,  können  wir  der  Kunstliebe 
des  Königs  Heinrich  IH.  (1216  —  1272)  zuschreiben,  der,  wie  wir  weiter 
unten  sehen  werden,  die  Plastik  und  noch  mehr  die  Wandmalerei  vielfach 


1)  Waagen,  Treasures  of  Art.  Vol.  I,  p.  147,  149,  153.     Vol.  III,  p.  91. 

2)  Waagen,  K.  und  Kw.  in  England  und  Frankreich  III,  288. 


Die  Wandmalerei.  507 

beschäftigte,  und  auch  die  Miniaturmalerei  nicht  vergass,  wie  wir  denn 
namentlich  wissen,  dass  er  für  die  Kapelle  zuWindsor  schöne  Antiphonarien 
bestellte  i). 


Die  Wandmalerei  stand  in  dieser  Epoche  der  Miniaturmalerei  noch 
sehr  nahe;  sie  unterschieden  sich  in  der  That  nur  durch  die  Dimensionen. 
Selbst  die  Technik  war  fast  dieselbe;  auch  jene  gab  nur  eine  Zeichnung  in 
schwarzen  Umrissen  auf  einfarbigem  Hintergrunde  mit  Lokalfarben  und 
geringer  Schattirung;  auch  sie  arbeitete  mit  Wasserfarben,  vielleicht  mit 
einem  Zusätze  von  Leim,  auf  trockenem  Grunde.  Die  Frescomalerei  war 
noch  unbekannt.  Nicht  minder  glich  sich  die  geistige  Aufgabe;  das  Beleh- 
rende oder  Erbauliche  war  die  Hauptsache,  und  die  Malerei  gab  an  den 
Wänden  ebenso  wie  in  den  Büchern  meist  nur  eine  Uebersetzung  gewisser 
Textesworte.  Ohne  Zweifel  war  daher  auch  die  Miniatur  die  Schule  der 
Wandmaler.  Die  Ausschmückung  der  Kirchen  mit  heiligen  Gestalten  Avar 
noch  nicht  ein  schwer  zu  erlangender  kostbarer  Schmuck,  sondern  ein 
Erforderniss,  auf  das  man  nur  bei  höchster  Dürftigkeit  verzichtete  und  dem 
man  mit  den  bereiten  Mitteln  ohne  ängstliche  Kritik  genügte.  Gewiss  wurde 
daher  oft  der  bewährteste  der  Miniaturmaler  ohne  Weiteres  auf  das  Gerüste 
berufen. 

Allein  aus  der  Sache  selbst  ergaben  sich  doch  wichtige  Unterschiede. 
Die  dilettantische  Keckheit,  mit  welcher  die  Miniatoren  ihr  noch  unsicheres 
Naturgefühl  auszusprechen  wagten,  die  dramatische  Lebendigkeit,  welche  sie 
ihren  Zeichnungen  zu  geben  wussten,  die  phantastischen  und  humoristischen 
Aeusserungen,  welche  sie  sich  erlaubten,  waren  hier  ausgeschlossen;  die 
Grösse  der  Gestalten,  die  Heiligkeit  der  Räume,  die  Verbindung  mit  der 
Architektur  nöthigten  zu  grösserem  Ernste  und  zu  einer  einfacheren  mehr 
statuarischen  Haltung.  Indessen  auch  so  war  die  Malerei  vermöge  ihrer 
leichteren  3Iittel  und  ihrer  loseren  Verbindung  mit  der  Architektur  nicht 
so  gebunden  wie  die  Sculptur,  und  konnte  eher  als  diese  der  Empfindung 
Raum  geben  und  die  typische  Strenge  der  Gestalten  mildern  und  beleben. 
Sie  erlangte  auf  diesem  Wege  wirklich  bedeutende  Erfolge. 

Vor  Allem  können  wir  dies  von  Deutschland  rühmen,  wenigstens 
sind  hier  die  meisten   und    bedeutendsten  Ueberreste   aufgefunden-).     Der 


1)  Pauli,  (leschiehte  von  Eugland,  III,  S.  855. 

^)  Eine  sehr  reiche  Sammhing  von  Zeichnungen,  Aquarellen  und  Durchzeichnungen 
mittelalterlicher  Wandgemälde    ist    für    das  Kupferstichcabinet    des    Berliner   Museums 


508 


Deutsche  Wandmalerei. 


rasche  Fortschritt  des  gothischen  Styles  entzog  der  französischen  Malerei 
die  ihr  nothwendigen  Wandflächen,  während  in  Deutschland  das  lange 
Beharren  bei  den  romanischen  Formen  entweder  schon  eine  Folge  der 
malerischen  Neigung  oder  doch  ein  dieser  Kunst  günstiger  Umstand  war, 
indem  es  ihre  Ausbildung  in  eine  Zeit  reiferen  Stylgefühls  hinein  ver- 
längerte. Die  Zahl  solcher  Wandmalereien  muss  in  Deutschland  überaus 
gross  gewesen  sein*,  fast  in  allen  alten  Kirchen,  wo  man  die  spätere  Tünche 


Fisr.   12-5. 


Zwei  Evangelisten.     Schwarzrheindoi-t'. 

ZU  entfernen  versucht  hat,  sind  wenigstens  Sjyiren  derselben  zum  Vorschein 
gekommen. 

Sehr  bedeutend  sind  schon  die,  welche  in  der  früher  erwähnten 
Kirche  von  Schwär z-Rheindorf  bei  Bonn,  und  zwar  in  der  unteren 
Kirche,  aufgefunden  und,  da  sie  sich  nur  über  den  ursprünglichen  Theil 
der  Anlage,  der  die  Gestalt  eines  griechischen  Kreuzes  hatte,  nicht  über 
die  westliche  Verlängerung  erstrecken,  nach  der  uns  bekannten  Ge- 
schichte des  Monumentes  vor  dem  Tode  des  Stifters,  also  in  den  Jahren 
von  1151  bis  1156,    entstanden    sein    müssen.     Dem  entspricht  auch  ihr 


angelegt    vvordeu.    —    Ausführliche    Würdigung     der    deutschen    Wandmalereien     bei 
H.  G.  Hotho,  Geschichte  der  christlichen  Malerei ,  Stuttgart  18G7. 


Schwarz -Rheindorf.  509 

Styl  völlig.  Die  Chornische  enthält  oben  Christus  in  der  Herrlichkeit^ 
umgeben  von  den  zwölf  Apostehi,  einem  heiligen  Bischöfe  und  zwei  Engeln, 
während  an  der  abschliessenden  Wand  darunter  die  vier  Evangelisten,  an 
ihren  Schreibpulten  sitzend,  und  ausserdem  in  einer  Nische  noch  eine 
etwas  grössere  schreibende  Gestalt  zu  sehen  sind.  Die  südliche  Halbkuppel 
zeigt  die  Verklärung,  die  nördliche  die  Kreuzigung  Christi,  die  westliche, 
(damals  über  dem  Eingänge  des  Gebäudes)  die  Vertreibung  der  Wechsler 
aus  dem  Tempel.  Die  je  vier  Felder  der  rechteckigen  Gewölbjoche  in  allen 
Ki'euzarmen  sowie  das  Mittelquadrat  enthalten  zwanzig  Darstellungen,  die 
aus  dem  Buche  des  Propheten  Ezechiel  geschöpft  sind  und  sich  auf  dessen 
Visionen  von  der  dritten  Zerstörung  Jerusalems  und  von  dem  neuen  Jeru- 
salem beziehen.  In  den  Bildern  des  östlichen  Kreuzarmes,  von  denen 
zwei  leider  fehlen,  und  in  denen  des  südlichen,  sind  verschiedene  Offen- 
barungen Gottes  an  den  Propheten  dargestellt ,  in  dem  westlichen  seine 
Visionen  von  den  Greueln  des  Götzendienstes  in  dem  Heiligthum  des  Herrn, 
die  der  Prophet  durch  ein  Loch  in  der  Wand  erblickt,  und  von  der  Ver- 
ehrung der  Baalstatue  in  dem  Vorhofe;  in  dem  nördlichen  sein  Gesicht  von 
dem  hereinbrechenden  Strafgerichte  Gottes.  Die  grösseren  Bildfelder  der 
Vierung  sind  den  Weissagungen  von  dem  neuen  Jerusalem  gewidmet: 
der  Prophet  erblickt  am  Eingang  der  heiligen  Stadt  den  Engel  des  Herrn, 
er  misst  auf  dessen  Geheiss  ihre  Ringmauern,  er  sieht  das  neue  Versöhnungs- 
opfer am  Altar,  der  Herr  zieht  durch  das  Ostthor  in  sein  Heiligthum  ein, 
während  erhabene  Engelgestalten  zu  beiden  Seiten  schweben.  Endlich 
enthalten  noch  vier  Nischen  in  den  Schmalwänden  des  südlichen  und  des 
nördlichen  Kreuzarmes  thronende  Kaiser  oder  Könige  und  die  Fenster- 
wandungen des  westlichen  Armes  bärtige  Gestalten,  welche  von  gewapp- 
neten Kriegern  niedergestossen  werden.  An  den  vier,  das  mittlere  Gewölbe 
einschliessenden  Gurtbögen  endlich  ist  die  Unterseite  an  dem  nach  Osten 
gelegenen  mit  fünf  Medaillons,  deren  eines  das  Brustbild  eines  stattlichen 
Flitters  enthält,  an  den  drei  anderen  mit  Eankengewinden  und  städtischer 
Architektur  verziert.  Der  Styl  dieser  Gemälde  ist  sehr  imponirend,  die 
Figuren  sind  von  strenger,  noch  byzantinisirender  Zeichnung,  die  Gewänder 
mit  Faltenstrichen  überhäuft,  die  Rankengewinde  vom  schönsten  Schwünge 
der  Linien.  Der  häufig  vorkommende  Mäander  zeigt  noch  das  Vor- 
herrschen antiker  Form,  während  die  durch  den  typisch  gehaltenen  Christus 
aus  dem  Tempel  verjagten  Handelsleute  in  ihren  heftigen,  karikirten  Be- 
wegungen schon  eine  naturalistische  Regung  zeigen.  Auch  die  Evangelisten- 
gestalten (vgl.  die  Abbildung)  zeichnen  sich  durch  die  Lebendigkeit  der 
Motive,  die  sprechenden  Bewegungen  aus,  wenn  auch  die  Beinstellung  meist 
noch  conventioneil  ist.  Auffallend  ist,  wie  entschieden  überall  die  Umrisse 
der  nackten  Körperformen    durch    die  Gewandung  hindurchscheinen.     Der 


520  Deutsche  Wandmalerei. 

Farbenton  ist  dunkel,  die  Hintergründe  sind  blau  mit  grüner  Einrahmung, 
auch  in  den  Arabesken  sind  diese  beiden  Farben  vorherrschend  ^l 

Noch  wichtiger  sind  die  bereits  vor  einer  Reihe  von  Jahren  von  der 
Uebertünchung  befreiten,  wohl  erhaltenen  Deckengemälde  im  Kapitelsaale 
des  Klosters  zu  Brauweiler,  unfern  von  Köln.  Der  Saal  ist  von  sechs, 
durch  zwei  Säulen  getragenen  und  so  in  zwei  Reihen  getheilten  Kreuz- 
gewölben bedeckt,  deren  Kappen  die  Gemälde  enthalten  (Fig.  127).  Auf  dem 
mittleren  Gewölbe  der  zweiten,  hinteren  Reihe,  dem  Eintretenden  gerade 
gegenüber,  sieht  man  das  Brustbild  des  Erlösers  in  kolossaler  Dimension 
mit  aufgehobener  segnender  Rechten,  umgeben  von  Propheten  und  kriegeri- 
schen Helden.  Auf  den  fünf  anderen  Gewölben  erkennt  man  Einsiedler, 
Märtyrer  verschiedener  Art,  kämpfende  Helden  und  eine  Reihe  anderer 
Scenen,  welche  dem  oberflächlichen  Beschauer  kaum  zusammenzugehören 
scheinen,  dennoch  aber  einen  sehr  bestimmten  Zusammenhang  haben-). 
Das  Ganze  bildet  nämlich  eine  Predigt  von  der  Kraft  des  Glaubens  zur 
Ueberwindung  der  Welt,  und  zwar  nach  Anleitung  einer  bestimmten  Schrift- 
stelle, des  elften  Kapitels  im  Hebräerbriefe.  Der  Maler  folgt  fast  Wort 
für  Wort  seinem  inhaltsschweren  Texte,  und  hat  sich  aus  dem  ganzen 
Schatze  legendarischer  Ueberlieferung  die  Belege  für  denselben  gesucht. 
Da  sieht  man  zunächst  auf  zwei  Gewölben  solche,  welche  durch  den  Glauben 
gesiegt  haben;  dann  Magdalena  und  den  guten  Schacher,  welche  „Ver- 
heissungen  erlanget"  (v.  33);  Daniel  und  die  h.  Thekla,  welche  „der  Löwen 
Rachen  verstopfet";  Cyprian,  den  wunderthätigen  Magus,  und  Justina, 
welche  „des  Feuers  Kraft  ausgelöscht"  (v.  34);  den  h.  Aemilian,  welcher 
„des  Schwertes  Schärfe  entronnen",  indem  das  Schwert  der  Legende  zu- 
folge durch  ein  Wunder  sich  in  der  Hand  des  Henkers  zurückbog:  den 
König  Ezechias,  welcher  durch  seinen  Glauben  und  Jesaias  Fürbitte  noch 


^)  Vg-1.  Andreas  Simons,  die  Doppell;irche  zu  Sclnvarz-Rheindorf,  1846,  und  in 
dem  Jahrb.  der  rhein.  Alterthumsfreunde  Heft  X  ,  welcher  jedoch  nur  das  von  ihm 
-enldeckle  Bild  der  Vertreibung  kannte ,  während  die  übrigen  erst  später  durch  Herrn 
Hohe  aufgedeckt  sind.  Die  Erklärung  der  Wandgemälde  ist  geliefert  worden  von 
P.  J.  Peiffer  in  der  Bonner  Zeitung,  1863,  Nr.  221,  227,  239,  285.  —  Einige  Ab- 
bildungen auch  bei  Guhl  u.  Caspar,  Atlas,  Taf.  49  a,  aber  zum  Theil  nach  früheren 
incorrecten  Zeichnungen  von  Hohe,  die  dieser  später  berichtigt  hat,  z.  B,  ist  einer  der 
Engel  des  zuletzt  beschriebenen  Deckenbildes  in  eine  Maria  mit  dem  Kinde,  der  Evan- 
gelist Fig.  126  links  in  eine  Spinnerin  verwandelt. — Die  Malereien  der  Unterkirche  sind 
stark  restaiirirt ,  die  in  der  Oberkirche  später  zum  Vorschein  gekommenen  ,  stehende 
Heilige  in  der  Chornische  u.  s.  w.,  sind  fast  noch  gänzlich  durch  die  Tünche  ver- 
borgen. 

^)  Wir  verdanken  die  Erklärung  dem  Scharfsinne  A.  Reichensperger's,  der  sie  in 
•den  Jahrbüchern  der  rheinischen  Alterthumsfreunde  Bd.  XI  (1847)  bekannt  gemacht 
hat.     Einzelnes  auch  bei  Guhl  u.  Caspar  a.  a.  0.' 


Kapitelsaal  zu  Brauweiler.  511 

Lebenserhaltung  erlangt,  und  mithin  „kräftig  wird  aus  der  Schwachheit"; 
Simson  mit  dem  Eselskinnbacken,  der  „stark  geworden  im  Streite",  und 
einen  anderen  alttestamentarischen  Helden,  welcher  „der  Fremden  Heere 
darniederlegt."  Dann  folgen  auf  zwei  anderen  Gewölben  die  Märtyrer, 
welche  für  den  Glauben  muthig  geduldet  haben,  der  h.  Simeon,  der  ge- 
kreuzigt, der  h.  Hippel} t,  der  von  Pferden  geschleift  wurde,  und  andere, 
welche  „sich  haben  lassen  zerschlagen,  auf  dass  sie  eine  bessere  Auf- 
erstehung erlangten"  (v.  35).  Petrus,  welcher  „Bande  und  Gefängniss  erlitt" 
(v.  .36),  Stephanus  und  der  Prophet  Jesaias,  welche  „gesteiniget  und  zer- 
säget" sind  (v.  37),  Hiob,  der  „umhergegangen  in  Schafpelzen  und  Ziegen- 
fellen, mit  Mangel,  mit  Trübsal  und  Ungemach".  Das  fünfte  Gewölbe  end- 
lich enthält  die,  „deren  die  Welt  nicht  werth  war,  die  umhergeirrt  in  Wüsten, 
auf  Bergen  und  in  den  Klüften  und  Löchern  der  Erde",  die  Anachoreten, 
welche  als  vollkommenste,  die  ganze  Welt  überwindende  Sieger  ausführlicher 
behandelt  sind.  Selbst  die,  vielleicht  malerisch  weniger  günstige  Menge 
der  dargestellten  Glaubenshelden  entspricht  dem  Texte;  es  ist  die  „Wolke 
von  Zeugen",  welche  sich  um  den  Erlöser  als  Anfänger  und  Vollender  des 
Glaubens  sammelt.  Die  Deckengemälde  werden  durch  grosse  Bilder  in  den 
Schildbögen  ergänzt,  von  denen  aber  nur  vier  erhalten  sind,  so  dass  es  nicht 
möglich  ist,  ihre  Bedeutung  und  ihren  Zusammenhang  zu  erkennen.  Schon 
die  Anordnung  dieser  Gemälde  ist  wieder  ein  höchst  merkwürdiges  Beispiel 
der  mittelalterlichen  Auffassung ;  wir  sehen,  die  Künstler  rechneten  auch  bei 
den  Wandmalereien  nicht  auf  momentane  Wirkung,  sie  verlangten  sinnende 
Betrachtung,  sie  setzten  einen  Text  voraus ,  den  der  Beschauer  mitbringen 
oder  ablesen  und  unter  ihrer  Führung  langsam  durchdenken  sollte.  Die 
Anordnung  unterscheidet  sich  aber  von  späteren  Compositionen  durch  ihre 
Einfachheit;  sie  ist  nur  schriftgemäss ,  ruhig  forterzählend,  nicht  nach 
scholastisch  -  architektonischen  Gegensätzen  gegliedert.  Eben  so  wenig  be- 
merkt man  den  Hang  zum  Phantastischen  und  Ungeheuerlichen,  oder  die 
naturalistische  Naivetät  der  Miniaturen.  Der  Künstler  ist  durchaus  ernst 
und  seiner  Aufgabe  auf  geradestem  Wege  folgend.  Die  Raumvertheilung 
ist  ihm  nicht  überall  geglückt;  die  einzelnen  Compositionen  sind  oft  ziemlich 
ungeschickt  in  die  freilich  unbequemen  dreieckigen  Felder  der  Gewölb- 
kappen gedrängt.  Aber  die  Zeichnung  ist  fest,  verständig  und  durch  ihre 
Einfachheit  grossartig,  das  Nackte  zwar  steif  und  mager,  aber  keineswegs 
schematisch;  die  Gewänder  sind  faltenreich,  doch  ohne  Ueberladung,  die 
Bewegungen  lebendig  und  sprechend.  Die  Verhältnisse  sind  nicht  über- 
mässig lang,  die  Gesichter  haben  wohl  das  mehr  zugespitzte  Oval  bei  brei- 
terem Oberkopfe,  aber  doch  nicht  die  charakteristisch  hervorstehenden  Backen- 
knochen des  byzantinischen  Styles;  überhaupt  ist  ein  eigentlich  byzantinischer 


512 


Deutsclie  Wandmalerei. 


Einfluss  nicht  bemerkbar  ^).  Wohl  aber  zeigen  die  knappe^  lakonische  Weise 
des  Ausdrucks,  die  oft  reliefartige  Anordnung,  die  Gewandmotive,  noch 
Ueberreste  antiker  Tradition.  Die  Gestalt  des  Simson  ist  fast  die  eines 
antiken  Heros  und  die  Gruppe  des  von  den  Rossen  geschleiften  Märtyrers 
Hippolyt  (vgl.  die  Abbildung)  könnte,  mit  Ausnahme  der  steifen  Gestalt  des 
Heiligen  selbst,  von  einem,  den  Sohn  des  Theseus  darstellenden  Bildwerke 
abstammen.  Ueber  die  Entstehungszeit  dieser  Malereien  besitzen  wir  keine 
Nachricht;  die  Architektur  des  Saales  deutet  auf  die  letzten  Decennien  des 

Fig.  127. 


St.  Hippolyt.     Kapitelsaal  zn  Branweiler. 


zwölften  Jahrhunderts,   und   der  Styl   der  Malereien  entspricht  dieser  Zeit 
sehr  wohl. 

Später  (1855)  hat  man  auch  in  der  Chornische  der  Kirche  desselben 
Klosters  sehr  bedeutende  Wandgemälde  gefunden  und  aufgedeckt.  In  der 
Halbkuppel  der  Nische  sieht  man  Christi  kolossale  Gestalt  in  der  Glorie  auf 
einem  Throne  sitzend,  zwischen  den  Zeichen  der  vier  Evangelisten,  darunter 
knieend  in  kleiner  Dimension  einen  Abt  mit  dem  Bischofsstabe  und  einen 
Mönch,  wahrscheinlich  den  Stifter  und  den  Maler,  zu  beiden  Seiten  in  ganzer 


1)  Reicliensperger  glaubt  an  der  aufgehobenen  Hand  des  Erlösers  den  grie- 
chischen Ritus  des  Segnens  zu  erkennen-,  mir  scheint  auch  hier  die  gewöhnliche 
lateinische  Form  beabsichtigt  und  nur  durch  eine  ungeschickte  Verkürzung  undeutlich 
geworden  zu  sein. 


Kirche  zu  Brauweiler, 


513 


Gestalt  je  drei  Heilige.  Das  Ganze  ist  von  Ornamentstreifen  eingerahmt, 
welche  sich  den  Fenstern  und  den  dieselben  verbindenden  kleineren  Nischen 
anschliessen  und  mit  Medaillons  von  geflügelten  Engeln  ausgestattet  sind. 
Weiter  unten  sieht  man  noch  zehn  alttestamentarische  oder  allegorische 
Figuren  unter  spitzen  Kleeblattbögeu,  mit  Spruchbändern  und  mit  dem  Zeige- 
finger der  erhobenen  Rechten  nach  oben  weisend,  in  sehr  mannigfaltigen, 
durch  die  Rundung  der  Chornische  motivirten  Wendungen.     Die  eine  dieser 


Fig.  128. 


Aus  der  Kirche  zu  Brauweiler. 


Figuren  ist  als  Sapientia  bezeichnet.  Dem  Styl  nach  ist  die  Arbeit  jünger 
als  die  des  Kapitelsaales  (vgl.  die  Abbildung).  Die  Figuren,  namentlich  die 
Heiligen  neben  der  Glorie,  sind  übermässig  lang,  mit  kleinen  Köpfen  und 
dünnen  Armen,  die  Gesichter  haben  ein  gefälliges  Oval  und  nicht  sehr  grosse 
Augen.  Die  durchweg  langen  Haare  fallen  in  der  im  dreizehnten  Jahrhundert 
üblichen  wellenförmigen  Weise  herab.  Der  Wurf  des  Mantels  ist  bei  allen 
Gestalten  charakteristisch  verschieden  und  erinnert  schon  an  die  Plastik  der 
gothischen  Schule.     Die  Falten  sind  massig  und  dem  Körperbau  wohl  ent- 


Schnaaso's  Kunstgesch.    2.  Aufl.     Y- 


33 


514 


Deutsche  Wandmalerei. 


sprechend.  Besonders  die  Gestalt  Christi  ist  in  jeder  Weise  würdig  und 
imponirend,  gerade  aufblickend,  ruhig  und  noch  an  den  Mosaikentypus  erin- 
nernd, und  das  Ganze  macht  durch  die  geschickte  Benutzung  des  Baumes 
und  den  ernsten  Ausdruck  der  Gestalten  eine  grossartige  und  befriedigende 
Wirkung.    Der  Grund  der  oberen  Darstellung  ist  blau  mit  goldenen  Sternen, 


Au-;  dT  Taufkapelle  zu   St.  Üereon. 

in  den  Einfassungen  herrscht  die  grüne  Farbe,  doch  kommt  auch  schon  das 
Mennigroth,  das  erst  in  der  Zeit  des  gothischen  Styles  beliebt  wurde,  in  den 
Gewändern  und  Randverzierungeu  häufig  vor.  An  der  Lehne  des  Sessels 
steigen  Spitzen  empor,  welche  den  Fialen  gleichen,  und  die  Epheublätter, 
von  welchen  die  Rauten  und  Medaillons  der  Einrahmung  durchzogen  sind, 
erinnern  au  gothische  Behandlung.     Wir  dürfen   daher   die  Entstehungszeit 


Rheinlande,  515 

■^ohl  erst  in   die  zweite  Hälfte  des  Jahrhunderts   setzen,  wo   die  gothische 
Architektur  schon  einigen  Einfluss  auf  die  Malerei  hatte  ^). 

Ausser  diesen  bedeutenden  Werken  finden  sich  in  den  Rheinlanden  noch 
vielfache,  wenn  auch  an  sich  geringe  Spuren  der  ehemals  vollständigen  Be- 
malung  von  Kapellen  und  ganzen  Kirchen  aus  dieser  Epoche-).  So  in  Köln 
ia  den  Krypten  von  St. Maria  im  Kapitol  und  St. Gereon,  in  einer  Neben- 
Itapelle  an  St.  Severin  und  am  Triumphbogen  in  St.  Ursula.  In  der 
Meinen  achteckigen  Taufkapelle  von  St.  Gereon  in  Köln  ist  sogar  die  voll- 
ständige, sehr  geschickt  der  unregelraässigen  Architektur  angepasste  Wand- 
malerei aufgedeckt;  Gestalten  von  Heiligen,  theils  einzeln,  theils  paarweise, 
von  Säulen  und  Bogenumrahmung  im  Uebergangsstyl  eingeschlossen:  Catha- 
rina,  Helena,  zwei  Bischöfe,  zwei  ritterliche  Heilige,  Kaiser  Constantinus, 
Laurentius  und  Stephanus,  über  dem  Eingang  ein  Engel,  in  den  Gewölb- 
feldern  über  dem  flachen  dreiseitigen  Schluss  der  segnende  Christus  zwischen 
Maria  und  Johannes  dem  Täufer,  von  schlichter,  aber  sehr  edler  Haltung, 
mit  geradliniger  Gewandung,  an  den  Mänteln  noch  mit  ziemlich  gehäuften 
Falten.  Sie  werden  bald  nach  der  Beendigung  der  Kapelle  selbst,  im  Jahre 
1227,  ausgeführt  sein^).  Auch  St.  Cunibert  war  ganz  übermalt;  die  noch 
an  einigen  Pfeilern  erhaltenen  überlebensgrossen  statuarischen  Gestalten 
mehrerer  Heiligen  im  reichen  bischöflichen  Ornat  zeigen  eine  feste  Zeich- 
nung mit  freiem,  lebendigem  Faltenwurf  und  gehören  etwa  der  Zeit  um  1270 
^n;  ebenso  die  imposante  Composition  des  Weltgerichts  in  der  Chornische 
«nd  einige  Darstellungen  aus  der  Legende  der  Heiligen  Nicolaus  und  Anto- 
nius'*). Zu  den  Wandmalereien  dürfen  wir  auch  die  zehn  auf  einzelne 
Schiefertafeln  gemalten  Apostel  in  St.  Ursula  zu  Köln  rechnen,  welche 
zufolge  der  auf  einer  derselben  befindlichen  Inschrift  im  Jahre  1224  aus- 
geführt sind  und  höchst  wahrscheinlich  zur  Bekleidung  der  Brüstung  des 
•Orgelchores,  mithin  zu  architektonischer  Verwendung,  bestimmt  waren.  Die 
Köpfe  sind  später  übermalt,  die  Vei'hältnisse  der  Figuren  breit  und  kurz, 
4lie  Gewandung  aber,  wie  immer  nur  colorirte  Zeichnung  ohne  Schatten,  ist 
ziemlich  stylvoll  und  würdigt).  Ausserhalb  Köln  sind  noch  in  St.  Castor  zu 
'Coblenz  eine  Verkündigung  und  mehrere  Köpfe,   in  roherer  Zeichnung  aber 


^)  Auch  diese  Malereien  hat  Herr  Hohe  aufgedeckt.  Vgl.  seine  Nachrichten  im 
•deutschen  Kiiustblatt  1855,  S.  326  und  355. 

2)  Vg-1.  Kugler,  kl.  Sehr.  H,  283. 

3)  Vg-l.  auch  Organ  für  christl.  Kunst,  1860,  S.  250,  Abbildungen  auch  bei  Gulil 
«ttsd  Caspar  ,  und  farbig  bei  Gailhabaud ,  l'architecture  et  les  arts  qui  en  dependent, 
Ed.  II. 

■*)  Hotho  a.  a.  0.  S.  193  und  Organ  für  chri&tl,  Kunst,  1863.  Nr.  9. 
^)  Eine  Abbildung  im  Organ  für  christl.  Kunst,  1858,  Nr.  7. 

33* 


fy\R  Deutsche  Wandmalerei. 

mit  weiss  aufgesetzten  Lichtern,  im  Dome  zu  Worms   mehrere  Figuren^, 
darunter  eine  Madonna  von  kolossaler  Grösse,  erhalten. 

Nächst  den  Rheinlanden  hat  Westphalen  die  bedeutendsten  Wand- 
gemälde aufzuweisen  ^),  sämmtlich  erst  in  neuester  Zeit  aufgedeckt.  Die 
ältesten  derselben  scheinen  die  im  Chore  und  in  den  Seitennischen  des 
Patroclus-Münster  in  Soest  zu  sein;  sie  werden  als  überaus  grossartig,, 
dem  Mosaikentypus  entsprechend  geschildert  und  gehören  ohne  Zweifel  noch 
dem  zwölften  Jahrhundert  an.  In  der  Halbkuppel  Christus  auf  dem  Regen- 
bogen thronend,  von  einem  riesigen,  mandelförmigen  Nimbus  umgeben,  mit 
den  Zeichen  der  Evangelisten;  darunter  kolossale  Figuren  von  15  bis  16 
Fuss  Länge,  in  welchen  die  volle  Beherrschung  der  Form  bei  so  gewaltigen 
Dimensionen  ein  wichtiges  Zeugniss  für  die  Technik  dieser  Zeit  giebt.  Weiter 
entwickelt  sind  die  Malereien  in  dem  Marienchörchen  am  nördlichen  Kreuz- 
arme: die  thronende  Madonna  nebst  den  anbetenden  Königen,  Engeln  und 
Heiligen,  unter  denen  auch  St.  Patroclus  auftritt  -),  und  vor  Allem  die  Bilder 
der  zu  demselben  Stifte  gehörenden,  aber  allein  stehenden  St.  Nicolaus- 
kapelle^).  In  der  Halbkuppel  des  Chores  der  thronende  Heiland  mit 
Maria,  Johannes  dem  Täufer  und  den  Bischöfen  Ulrich  und  Patroclus,  darun- 
ter, zwischen  und  in  den  Fensterleibungen  der  Nische  und  an  der  daran 
stossenden  nördlichen  Wand,  die  zwölf  Apostel,  an  der  südlichen  dagegen 
der  h.  Nicolaus  von  Engeln  und  verehrenden  Personen  kleinerer  Dimension 
umgeben.  Die  Apostel  stehen  jeder  in  einer  gemalten  kuppeiförmigen  oder 
mit  einem  Kleeblattbogen  gedeckten  Nische,  welche  oberhalb  von  Thürmcheö 
geschlossen  ist,  aus  denen  kleine  bartlose  und  also  weibliche  oder  jugend- 
liche Gestalten  in  halber  Figur  heraustreten.  Diese  sind  ungeflügelt,  doch 
mit  dem  Heiligenscheine,  führen  Reichsapfel,  Scepter,  Kelch  oder  Palmzweig 
in  der  Hand,  und  sollen  daher  Engel  oder  Tugenden  darstellen.  Die  Aus- 
führung besteht  wieder  nur  in  colorirter  Zeichnung,  ohne  Spur  von  Schat- 
tirung,  mit  Vergoldung  an  den  Nimben  und  einzelnen  Ornamenten.  Die 
Zeichnung  ist  sehr  eigenthümlich.  Die  Hauptfiguren,  sämmtlich  ganz  von 
vorn  dargestellt,  ihre  unter  den  Gewändern  hervorstehenden  Füsse  etwas 
auseinander  gerückt,  erscheinen  fast  wie  schwebend.  Das  Oval  des  Gesichtes 
ist  unten  fein  zugespitzt,   die  Augen  sind  nicht  zu  gross,  die  Haare  frei- 


1)  Vgl.  W.  Lübke,  die  mittelalterliche  Kunst  in  Westphalen,  Leipzig  1853,  S.  321  ff. 
Der  Verfasser  selbst  hat  durch  die  Entdeckung  mehrerer  dieser  Wandgemälde  die 
Reihe  der  späteren  Nachforschungen  eröffnet. 

-)  Im  Organ  für  christl.  Kunst  1864,  von  S.  200  an,  genau  beschrieben. 

3)  Abbildungen  einiger  Figuren  aus  dieser  Kapelle  bei  Lübke  a.  a.  0.  Taf.  29, 
bei  E.  Förster ,  Denkmale,  Bd.  V,  in  Guhl  und  Caspar's  Atlas,  und  endlich  in  grösserer 
Zahl  im  Organ  für  christliche  Kunst  1851  und  1852.  —  Beschreibung  im  Organ  für 
clu-istl.  Kunst,  1863  von  S.  88,  und  1864  von  S.  115  an. 


Nicolaikapelle  in  Soest.  —  Methler.  •  517 

wallend,  noch  ohne  die  spätere  conventionelle  Wellenlmie.  Der  ümriss  des 
Körpers,  dem  sich  die  Gewandung  eng  anschliesst,  bildet  eine  weiche  Bie- 
gung, die  Gewänder,  gut  fallend  und  dem  Körper  entsprechend,  sind  in  viele 
Falten  gebrochen,  und  haben  nach  unten  zu  etwas  Flatterndes.  Einigemal 
ist  diese  Häufung  der  Falten,  besonders  wo  die  geringe  Kenntniss  des 
Körperbaues  den  Maler  auf  Abwege  führte,  unschön  und  überladen,  im 
Ganzen  geben  aber  diese  weichen,  ich  möchte  sagen  ätherischen  Formen  den 
Gestalten  einen  grossen  Reiz.  Der  Künstler  liebt  das  Jugendliche,  unter  den 
Aposteln  sind  mehrere  bartlos,  aber  auch  sonst  ist  er  bestrebt  gewesen^ 
ihnen  sowohl  in  den  Köpfen  als  in  den  Gewandmotiven  Mannigfaltigkeit  und 
Individualität  zu  geben.  Besonders  sind  die  Engelköpfchen  über  den 
Aposteln  mit  dem  schön  geschwungenen  Fall  ihres  Lockenhaares  überaus 
jzart  und  reizend,  offenbar  ist  die  Arbeit  um  einige  Decennien  jünger  als 
<iie  des  Kapitelsaales,  aber  etwas  älter  als  die  der  Chornische  von  Brau- 
weilcr.  Schon  bei  den  Miniaturen  konnten  wir  wahrnehmen,  und  bei  den 
Sculpturen,  namentlich  der  Grabmonumente,  werden  wir  diese  Wahrnehmung 
bestätigt  finden,  dass  in  Deutschland  zwischen  der  byzautinisirenden  Behand- 
lung im  Anfange  der  Epoche  und  der  geradlinigen,  statuarischen  Haltung, 
welche  unter  dem  Einflüsse  der  gothischen  Architektur  aufkam,  eine  Zeit- 
lang ein  Geschmack  an  bewegteren  Formen,  an  mehr  rundlichen  Linien  und 
üatternden  Gewändern  herrschte.  Dieser  Uebergangszeit  gehören  auch  diese 
Malereien  an,  nur  dass  sie  ei^ie  der  schönsten  Leistungen  derselben  sind. 
Nach  einer  urkundlichen  Notiz  haben  Dechant  und  Kapitel  des  Patroclus- 
«tiftes  im  Jahre  1231  einem  Maler  Everwin  ein  Haus  vergeben;  es  ist 
daher  nicht  unmöglich,  dass  dieser  Maler,  der  hiernach  mit  dem  Stifte  in 
Verbindung  stand,  auch  der  Meister  dieser  Kapelle  gewesen. 

Dass  diese  Schule  nicht  auf  Soest  beschränkt  war,  ergeben  die  nicht 
minder  bedeutenden  Wandmalereien  in  der  Dorfkirche  zu  Methler  bei 
Dortmund  ^).  Wahrscheinlich  waren  die  Wände  der  ganzen,  aus  drei  unge- 
fähr gleichhohen  Schiffen  von  je  zwei  Kreuzgewölben  bestehenden  Kirche 
mit  Malereien  bedeckt,  indessen  haben  nur  die  des  Chores  und  der  die 
beiden  Seiteuschiffe  abschliessenden  Seitennischen  aufgedeckt  werden  können. 
Die  letzten  haben  nur  je  eine  Figur  oder  Gruppe,  die  eine  St.  Johannes  den 
Täufer  mit  dem  Lamme,  die  andere  einen  Localheiligen  mit  Schutzflehenden. 
In  dem  quadratisch  gebildeten  Chorraume  waren  dagegen  die  Gewölbkappen 
ebenso  wie  die  drei  Wände  bemalt.  Am  Gewölbe  sieht  man  Christus  in  der 
'Glorie  von  Engeln  getragen,  St.  Johannes,  den  Lieblingsjünger  des  Herrn, 
und  zwei  andere  Heilige ;  an  den  Wänden  sind  die  Malereien  um  das  Fenster 
jeder  Wand  in  zwei  Reihen  gruppirt.    Die  untere  enthält  die  Apostel,  paar- 


')  Einzelne  Köpfe  und  Halbfiguren  bei  Lübke  a.  a.  0.  Taf.  XXX. 


5Jg  Deutsche  Wandmalerei. 

weise  zusammengestellt;  die  obere  auf  der  östlichen  Wand  die  Verkündigung-^ 
der  Engel  durch  das  Fenster  von  der  Jungfrau  getrennt,  auf  den  andereß 
Wänden  einzelne  HeiUge.  In  technischer  Beziehung  sehen  wir  hier  insofern 
einen  Fortschritt,  als  die  Köpfe  und  Gewänder  mit  dunkleren  Tönen  der- 
selben Farbe  schattirt  sind;  an  der  Zeichnung  vermissen  wir  das  feine  Schön- 
heitsgefühl der  Nicolaikirche  in  Soest;  die  Umrisslinien  sind  gröber,  die- 
Augen  grösser,  die  Bewegungen  eckig  und  gewaltsam,  der  Faltenwurf  von; 
kleinlichen  Brüchen.  Dagegen  übertrifft  der  Maler  jenen  älteren  Kunstge- 
nossen in  der  Mannigfaltigkeit  der  künstlerischen  Motive  und  in  der  Bedeut- 
samkeit der  Köpfe.  De-r  Engel  der  Verkündigung,  welcher  mit  fliegendem 
Gewände  und  ausgebreiteten  Flügeln  seinen  Eifer  in  der  Ausführung  des 
göttlichen  Befehls  ausdrückt  und  den  Raum  an  der  Seite  des  Fensters  sehr 
geschickt  ausfüllt,  die  Jungfrau,  die  mit  prachtvollem  Purpurgewande  be- 
kleidet die  offenen  Hände  erschrocken  oder  in  demüthiger  Abwehr  vorstreckt^ 
sind  gelungene  Gestalten ;  St.  Johannes  der  Evangelist,  mit  edler  Gesichts- 
linie, grossen,  dunklen  Augen,  hochgeschwungenen  Brauen  und  fliegenden: 
Locken,  ist  eine  wirklich  überraschende  Conception.  üebrigens  waren  auck 
die  Gewölbgurten,  Gesimse  und  Fenstereinfassungen  und  die  untere  Arcatur 
bemalt,  die  Kimbeu  mit  ihren  Mustern  in  dem  weichen  Stuck  vertieft  ein- 
gedrückt, sie  sowie  die  Diademe,  Säume  und  Verzierungen  der  Gewänder 
reich  vergoldet,  so  dass  man  über  die  Pracht  dieser  Ausstattung  einer 
blossen  Dorfkirche  im  hohen  Grade  erstaunen  muss.  Die  Kirche  selbst 
stammt  erst  aus  dem  zweiten  Viertel  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  die- 
Malereien  werden  daher  um  die  Mitte  desselben  ausgeführt  sein. 

Dem  künstlerischen  Werthe  nach  untergeordnet,  aber  seines  Inhaltes- 
wegen  merkwürdig,  ist  ein  grosses,  aus  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts 
stammendes  Wandgemälde  im  Nordarme  des  westlichen  Kreuzschiffes  des 
Domes  zu  Münster^).  Es  hat  nämlich  mehr  eine  politische  als  religiöse 
Bedeutung,  indem  es  die  Unterwerfung  der  Friesen  unter  die  Landeshoheit 
des  Bischofs  von  Münster,  der  hier  durch  den  h.  Paulus  als  Patron  des  Donar- 
Stiftes  repräsentirt  wird,  darstellt,  und  ist  durch  das  Kostüm  der  darauf 
abgebildeten  friesischen  Landleute  und  durch  die  Gegenstände,  welche  sie 
als  Tribut  darbringen,  interessant. 

Ausserdem  finden  sich  noch  in  vielen  Kirchen  Westphalens,  selbst  in- 
übrigens  schmucklosen  Dorfkirchen-),  grössere  oder  geringere  malerische 
Ueberreste,  welche,  obgleich  meistens  nur  von  handwerksmässiger  Ausführung, 
doch  zeigen,  wie  verbreitet  das  Bedürfniss  malerischen  Schmuckes  hier  war^ 


1)    Vg-1.    Kiinsiblatt    1843 ,     S.    123.    —  Abbildung    bei    E.    Förster ,     Deiilim»Ie- 
Band  VII. 

-)  Die  Aufzählung-  bei  Lübke  a.  a.  0.  S,  333. 


Liebfrauenkirche  zu  Halberstadt.  519 

In  den  sächsischen  Gegenden  sind  in  der  Krypta  der  Stiftskirche  zu 
Quedlinburg  nur   geringe   Spuren  des    ehemaligen    reichen    malerischen 
Schmuckes  erhalten,  welche   auf  historische  Compositionen   apokalyptischen 
Inhaltes  schliessen   lassen.     In   der  Klosterkirche  Neuwerk  zu  Goslar  ent- 
hält die  Halbkuppel  der  Chornische  die  Gestalt  der  Himmelskönigin,  thronend 
mit  Krone  und  Scepter,  das  bekleidete  Kind  auf  dem  Schoose,  von  sieben 
Tauben,   den   Gaben   des  heiligen   Geistes,  umgeben;   daneben  Petrus   und 
Paulus  und  zwei  kniende  Donatoren.     Der  Kopf  der  Jungfrau  ist  nicht  ohne 
Würde,    die   Gewandung   noch  mit   vielen   Strichen  ausgeführt,   aber   doch 
grosse  Formen  andeutend,   das  Ganze,  wahrscheinlich  bald  nach  Vollendung 
der  Kirche  um  1200  ausgeführt  i),  nicht  ohne  Grossartigkeit.     Viel   umfas- 
sender waren  die  Wandgemälde  der  Liebfrauenkirche   zu   Halberstadt -). 
Die  ältesten  derselben  sind  die  der  sogenannten  Capella  sub  claustro,  einer 
abgesonderten  Kapelle  neben  dem  Chore,  Maria  mit  dem  Kinde  stehend  im 
blauen  Kleide  und  Purpurmantel,   neben  ihr  vier  Apostel,   diese  in  weissen 
Untergewändern   und   verschiedenfarbigen   Mänteln.     Die   gerade,  ziemlich 
steife  Haltung  der  Figuren ,  die  prachtvollen ,  zierlich  gelegten  Gewänder 
die  Farbenwahl  und   ein  Mäander  in   der  Einfassung  deuten  auf  eine  frühe 
Entstehung,   etwa   gegen  Ende   des  zwölften  Jahrhunderts.     Jüngeren  und 
vollendeteren  Styles  waren  die  Gemälde  der  Kirche  selbst,  welche  wir  jedoch 
seit  der  im  Jahre  1845  erfolgten  Restauration  des  Gebäudes  nur  noch  in 
modernen,   wenn   auch   mit  Hülfe   von  Durchzeichnungen   gefertigten  Nach- 
bildungen besitzen.    Die  Chornische  war  vollständig  ausgemalt;  in  der  Halb- 
kuppel  die  Jungfrau   mit   dem  Kinde   thronend  zwischen  je   drei  Heiligen; 
darunter  zwischen  und  neben  [den  drei  rundbogigen  Fenstern  vier  Heilige. 
Alle   diese  Figuren   hatten  jedoch  mehrfache,  auf  einander  gelegte  Ueber- 
malungen,   die  letzte  noch  im   fünfzehnten  Jahrhundert,   erhalten,  während 
nur  die  darunter  befindlichen  vier  Rundbilder,  historischen,  aber  nicht  mehr 
erkennbaren  Inhalts,  unberührt  geblieben   waren.     In  den  übrigen  Theilen 
der  Kirche  waren  die  Gemälde  nur  zwischen  den  Oberlichtern  angebracht 
und  zwar,  wie  sich  aus  der  Verbindung  des  Rankenornamentes  mit  dem  au 
den  Gewölben   ergab ,   erst  nachdem   diese  statt  der  bisherigen  Holzdecken 
eingefügt  waren,  was  wahrscheinlich  von  1274  bis  1284  geschah,  da  damals, 
wie  Ablassbriefe  dieser  Zeit  ergeben,  ein  bedeutender  Bau  stattfand.     Auf 


1)  Ohne  Zweifel  sind  die  Donatoren  des  Genaäldes,  welche  wahrscheinlich  (s.  oben 
S.  239)  um  1200  lebten,  auch  die  Gründer  der  Kirche. 

2)  Vgl.  die  ausführliche  Beschreibung  v.  Quast's ,  der  diese  Bilder  noch  vor  der 
Restauraüoü  sah,  im  Tüb.  Kunstbl.  1845,  S.  222,  Publicationen  bei  Quast  u.  Otte, 
Zeitschrift  für  christl.  Archäologie  u.  Kunst,  Bd.  II,  Taf.  XII.  —  Der  Prophet  Daniel, 
grösser,  bei  E.  Förster,  Denkmale,  Bd.  I. 


520  Deutsche  Wandmalerei. 

einem  unter  den  Fenstern  fortlaufenden,  mit  romanischem  Blattwerk  ver- 
zierten Bande  stehen  zwischen  den  auf  die  Ecke  der  Fenster  und  als  Ein- 
fassung derselben  gemalten  Säulen  einzelne  Gestalten,  im  Langhause  die 
kleinen,  im  Vorchore  die  vier  grossen  Propheten.  Der  Beschauer  gelangte 
also  zwischen  den  Sehern,  welche  die  Jungfrau  vorherverkündigten,  zu  ihrer 
Herrlichkeit,  welche  von  christlichen  Heiligen  gefeiert  wird.  Von  der  Regel, 
stets  eine  einzelne,  ganze  Figur  zu  geben,  machen  nur  die  westlichsten 
Fensterpfeiler  eine  Ausnahme,  indem  hier  je  zwei  Halbfiguren  über  einander 
stehen,  und  zwar  Salomon  über  der  Königin  des  Morgenlandes  (Regina 
Austriae),  David  über  einer  weiblichen,  nur  durch  ihre  Locken  geschmückten 
Gestalt,  welche  die  Inschrift  als  Ecclesia  bezeichnet.  Die  Beziehung  auf 
die  Jungfrau  ist  freilich  bei  der  Königin  von  Saba  nicht  so  klar  als  bei  der 
von  dem  Sänger  der  Psalmen  vorausgeschauten  Kirche,  offenbar  liegt  aber 
die  Absicht  zum  Grunde ,  dem  weiblichen  Element ,  welches  am  Ziele  der 
Prophetenreihe  erscheinen  sollte,  schon  hier  einen  Ausdruck  zu  geben,  das 
Ende  am  Anfange  schon  malerisch  anklingen  zu  lassen.  Die  Propheten 
erscheinen  als  ernste,  würdige,  meistens  bärtige  Männer,  fast  alle  in  ruhiger 
Haltung,  doch  auch  einige  in  lebhaftem  Vorschreiten,  mit  stets  veränderten 
Motiven  der  Stellung  und  des  Faltenwurfes,  dessen  Bedeutsamkeit  und 
Schönheit  bewundernswürdig  ist.  Nur  eine  der  Gestalten  hat  nicht  die  langen, 
weiten,  feierlichen  Gewänder  der  übrigen,  sondern  enganschliessende,  bis  zu 
den  Fussspitzen  hinabreichende,  mit  goldenen  Stickereien  verzierte  Bein- 
kleider, einen  kurzen,  über  der  Hüfte  gegürteten  Rock,  der  sich  über  dem 
Schenkel  des  zurücktretenden  rechten  Beines  öffnet,  und  einen  goldgesäumten 
Mantel  von  gleicher  Länge,  das  Haupt  mit  einer  niederen  Tiara  bedeckt. 
Es  ist  der  Prophet  Daniel  und  seine  Tracht,  ganz  wie  an  der  goldenen  Pforte 
in  Freiberg,  ein  Nachklang  der  sogenannten  phrygischen,  also  eine  antike 
Reminiscenz,  aber  in  einer  dem  Geschmacke  ritterlicher  Eleganz  angemessenen 
Auffassung.  Durchweg  zeigen  also  diese  Malereien  in  der  stylvollen,  ruhigen 
Haltung  der  Figuren,  in  den  einfachen  und  statuarisch  geradlinigen  Umriss- 
linien schon  einen  Einfluss  des  gothischen  Styles,  zugleich  aber  den  feinen 
Schönheitssinn  der  sächsischen  Schule  und  Spuren  antiker  Tradition,  welche 
diese,  wie  wir  es  auch  in  der  Sculptur  finden  werden,  länger  als  irgend  eine 
andere  bewahrte. 

Deutlicher  und  in  anderer  Weise  bemerken  v/ir  den  Einfluss  des  gothi- 
schen Styles  in  den  gekrönten  Gestalten ,  welche  je  eine  auf  jedem  Pfeiler 
der  Klosterkirche  zu  Me  ml  eben,  Männer  an  der  Nord-  und  Frauen  an 
der  Südseite ,  unmittelbar  auf  den  Stein ,  ohne  Bewurf  gemalt  sind  ^).     Das 


1)  Abbildungen  bei  Puttricli,    II.  Abtiieilung,  Bd    I,   und    in  Kugler's    kl.  Sehr.  I, 
175  f. 


Deckenaremälde  in  Hildesheim. 


521 


etwas  vollere  Oval  des  Gesichtes,  die  schlanken  Taillen,  die  geraden  Falten- 
linien, die  ganz  ritterliche  Haltung,  endlich  auch  die  Linien  auf  den  Kronen 
und  selbst  die  sparsamen  Ueberreste  der  Ornamente  am  Fusse  der  Bildfelder 
lassen  keinen  Zweifel,  dass  auch  sie   erst  nach  der  Mitte  des  dreizehnten 


Fig.  130. 


Aus  dem  Deckengemälde  der  Micliaeliskirclie  zu  Hildeslieim. 


Jahrhunderts  entstanden  sind.  Wahrscheinlich  sollen  sie  fürstliche  Personen, 
"NVohlthäter  des  Klosters,  darstellen,  bei  denen  das  neue  Element  ritterlichen 
Anstandes  stärker  als  bei  heiligen  Gestalten  hervortrat. 

Etwas  älter  wird  ein  anderes,  bedeutenderes  Werk  dieser  Gegenden 


^22  Deutsche  Wandmalerei. 

sein,  die  Malerei  an  der  Balkendecke  der  St.  Michaeliskirche  zu  Hildesheim, 
merkwürdig  auch  als  das  einzige  erhaltene  grössere  Beispiel  dieses  den 
Nachrichten  zufolge  so  oft  angewendeten  prachtvollen  Schmuckes.  Sie  be- 
steht aus  drei  neben  einander  herlaufenden  Reihen,  die  von  einem  äusseren 
Rande  umgeben  sind.  Dieser  enthält  zwischen  romanischen  Rankengewinden 
Medaillons  mit  den  Halbfiguren  von  Propheten  und  Patriarchen,  welche  die 
Geburt  des  Heilandes  verkündigten  oder  vorbildlich  andeuteten.  Ihnen  schliessen 
sich  in  den  beiden  Seitenstreifen  die  Einzelgestalten  von  Evangelisten,  Engeln, 
Heiligen  an.  Zwei  solche  Figuren  auf  jeder  Seite  entsprechen  einem  der 
acht  Mittelfelder,  die,  theils  kreis-  oder  vierpassförmig ,  theils  in  Gestalt 
übereck  gestellter  Quadrate  und  mit  kleineren  Medaillons  als  Füllung  der 
Ecken,  den  Stammbaum  Christi  enthalten:  Adam  und  Eva  machen  den  An- 
fang, es  folgt  der  ruhende  Abraham,  von  welchem  der  Stammbaum  erwächst, 
der  thronende  David  und  drei  andere  Könige  seines  Geschlechtes,  die  feier- 
liche Gestalt  der  thronenden  heiligen  Jungfrau  (vgl.  die  Abbildung),  endlich 
Christus  selbst  auf  dem  Regenbogen.  Die  architektonische  Gliederung  ist 
streng  und  wirkungsvoll,  die  Farbe  überaus  schön  und  reich  und  doch  wieder 
nicht  bunt,  die  Zeichnung  fest  und  schon  mit  den  geradlinigen  Umrissen 
und  breiten  Formen,  weiche  auf  einen  entfernten  Einfluss  des  gothischen 
Styles  hindeuten,  die  Arbeit  wird  daher  etwa  gegen  die  Mitte  des  Jahr- 
hunderts ausgeführt  sein^). 

Hieran  mag  sich  die  Erwähnung  einer  andern,  wenigstens  der  Wand- 
malerei verwandten  Arbeit  anschliessen,  welche  in  noch  höherem  Grade  wie 
jenes  Deckengemälde  einzig  in  ihrer  Art  ist.  Im  Klosterhofe  des  Domes 
zu  Magdeburg  sieht  man  nämlich  an  den  oberen  Stockwerken  des  Kreuz- 
ganges Gruppen  von  je  drei  Figuren,  von  denen  die  mittlere,  Kaiser  Otto 
zwischen  seinen  Gemahlinnen  Adelheid  und  Edith  thronend,  erhalten  ist, 
während  die  übrigen,  Erzbischöfe  von  Magdeburg  darstellend,  meist  zer- 
stört sind.  Es  ist  für  achtzehn  Raum ,  und  der  achtzehnte  Erzbischof  war 
Adalbert,  Graf  von  Kafernberg,  gestorben  1234,  was  vielleicht  auf  die 
Entstehungszeit  deutet.  Unten  zieht  sich  ein  Thierfries,  mit  der  Fabel  vom 
Fuchs   und   vom  Storch  nebst  andern  ähnlichen   zwischen  Blattwerk  hin-). 


^)  Publiciit  von  J.  M.  Kratz,  Deckengemälde  der  St.  Mlchaelsk.  zu  H. ,  1  Blatt  in 
Farbendruck ,  1856.  —  Zwei  Mittelfelder  auch  bei  E.  Förster ,  Denkmale  B.  V.  Ein 
anderes  kleineres  Deckengemälde  fand  Passavant  in  einem  Saale  des  Hospitals  zu 
üent,  der  1228  erbaut  ist;  es  stellt  Christus  und  die  Jungfran  nebst  Engeln  dar,  und 
ist  von  roher ,  den  Tafelbildern  in  St.  Ursula  iu  Köln  ähnlicher  Zeichnung.  Tüb. 
Kunstbl.  1843,  Nr.  54. 

2)  Rosenthal,  Dom  zu  Magdeburg  ,  Lief.  5 ,  Taf.  6  ,  Nr.  17.  —  Mittelgruppe  bei 
E.  Fürster,  Denkm.  B.  V.  —  Zeichnungen  im  Berliner  Museum. 


Dom  zu  Braunschweig.  523 

Die  Art  der  Ansführung,  blosse  Umrisszeichnungen ,  die  in  den  Mörtelgrund 
geritzt  sind ,  gestattete  allerdings  keine  feineren  Züge ,  aber  sie  zeigt 
die  Handfestigkeit,  den  Muth  und  die  bildnerische  Lust  dieses  Jahrhunderts^ 
welches  alle  Mittel  und  jede  [Stelle  benutzte  und  überall  keine  nackten 
Wände  duldete. 

Das  grösste  Werk  deutscher  Wandmalerei  ist  im  Dome  zu  Brauu- 
schweig  gefunden^).  W^ahrscheinlich  war  die  ganze  Kirche  bemalt,  da  man 
auch  an  einzelnen  Pfeilern  des  Langhauses  Gestalten  oder  Farbenspuren 
wahrnimmt;  jedenfalls  war  der  ganze  östliche  Theil  der  Kirche  mit  Male- 
reien geschmückt,  leider  aber  sind  die  der  Chornische  bei  der  im  Jahre 
1815  nothwendig  gewordenen  Erneuerung  ihres  Gewölbes  unerkannt  zu 
Grunde  gegangen,  und  auch  im  nördlichen  Kreuzflügel  blieben  nur  einzelne 
Fragmente  bestehen.  Dagegen  sind  die  Gemälde  des  [Chorquadrates  vor 
der  Nische,  des  Gewölbes  der  Vierung  und  des  südlichen  Kreuzarmes  erhal- 
ten ,  freilich  aber  ^durch  eine  viel  zu  weit  gehende  Restauration ,  welche 
manchmal  eine  völlige  Erneuerung  war',  [entstellt.  Wir;  finden  hier  nicht, 
wie  in  den  meisten  bisher  betrachteten  Kirchen,  einzelne  statuarische  Ge- 
stalten, sondern  durchweg  historische  Hergänge  die  in  innere  Verbindung 
gebracht  sind.  Im  Mittelpunkte  der  Vierung  als  Schlussstein  des  Ganzen 
sehen  wir  in  einem  Medaillon  das  Lamm  mit  Kreuzesfahne  und  Kelch;  ihm 
entsprechend  am  Rande  dieses  Gewölbes  einen  Mauerkranz  mit  zwölf  Thür- 
men ,  aus  welchen  die  Apostel  hervortreten ,  auf  ihren  Spruchbändern  die 
Worte  des  Glaubensbekenntnisses;  unterhalb  derselben,  in  den  Ecken  des 
Gewölbes,  acht  Propheten  mit  Schriftstellen  von  der  Herrlichkeit  Zions.  Sie 
stehen  daher  hier  als  Grundsteine  des  himmlischen  Jerusalems,  das  durch 
jenen  Mauerkranz  versinnlicht  wird.  Der  Raum  zwischen  dem  Lamm  und 
der  Mauer  ist  dann  noch  in  sechs  Felder  getheilt,  in  welchen  Anfang  und 
Ende  der  Heilslehre  dargestellt  sind;  die  Geburt,  die  Präsentation  im  Tem- 
pel, die  drei  Marien  am  Grabe,  Christus  auf  dem  Wege  nach  Emmaus  und 
demnächst  mit  den  beiden  Jüngern  am  Tische,  und  endlich  die  Ausgiessung 
des  heiligen  Geistes.  Das  Gewölbe  des  Chorquadrates  zeigt  dann  den  Stamm- 
baum Christi,  noch  an  dem  trennenden  Gurtbogen  Adam  und  Eva,  darauf 
in  von  Weinlaub  umrankten  ilVIedaillons  Abraham,  David  und  endlich  die 
Mutter  des  Herrn.  Von  den  daran  stossenden  Wänden  enthält  die  nördhche 
zunächst  die  Geschichte  Abels  und  Cains,  Opfer,  Mord  und  Strafe,  die  süd- 


^)  Eine  ausführliche  Beschreibung  gibt  Dr.  Schiller  in  seinem  angeführten  Werke 
über  die  mittelalterlichen  Bauten  Braunschweigs ,  S.  26 — 47.  —  Zwei  Figuren  bei 
E.  Förster ,  Denkmale ,  Bd.  I ,  ein  Prophet  und  eine  der  tliprichtea  Jungfrauen.  In 
Gailhabaud ,  l'architecture  et  les  arts.  Bd.  II,  eine  Tafel  in.  Farben:  die  Enthauptung 
des  Johannes  und   die  Geschichte  der  Herodias,  in  Bd.  IV  Ornamentales. 


^24  Deutsche  Wandmalerei. 

liehe  theils  Moses,  wie  er  den  Herrn  im  feurigen  Busche  schaut  und  wie  er 
die  eherne  Schlange  aufrichtet,  theils  Abraham,  der  die  Engel  bewirthet 
und  seinen  Sohn  zu  opfern  bereit  ist.  Auf  beiden  Seiten  im  Scheitel  des 
Bogenfeldes  Gott  Vater,  dort  vom  Regenbogen  umstrahlt  das  Opfer  Abels 
annehmend,  hier  im  feurigen  Busche.  Im  südlichen  Kreuzarme  enthält  das 
Gewölbe  in  seinen  vier  Kappen  Christus  mit  der  Jungfrau  gemeinschaftlich 
thronend  nebst  den  vierundzwanzig  Aeltesten  und  Engelchüren.  An  der 
östlichen  Wand,  über  der  Seitenapsis,  sind  neben  und  zwischen  den  beiden 
Fenstern  die  Auferstehung,  die  Himmelfahrt,  die  Niedersteigung  zur  Hölle 
dargestellt ,  und  zwar  so ,  dass  der  zum  Himmel  auffahrende  Heiland  in  die 
Spitze  des  Bogens  gerückt  ist;  an  der  südlichen  Wand  die  klugen,  an 
der  westlichen  die  reuig  klagenden  thörichten  Jungfrauen,  denen  zwei 
kolossale  Engelsgestalten  den  Eingang  in  die  Himmelspforte  versagen. 
Diese  oberen  Theile  lassen  hiernach  einen  Gedankeninhalt  erkennen, 
dessen  Zusammenhang  freilich  durch  den  Untergang  der  Chornische  lücken- 
haft wird,  sich  aber  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  ergänzen  lässt.  Da 
der  Stammbaum  Christi  am  Gewölbe  des  Chorquadrates  schon  mit  der 
Jungfrau  schloss ,  kann  die  Halbkuppel  der  Chornische  kaum  etwas  an- 
deres als  den  thronenden,  in  seiner  Gemeinde  gegenwärtigen  Erlöser 
enthalten  haben.  Auf  ihn  bezogen  sich  dann  die  sämmtlichen  Gemälde 
des  Chorquadrates  als  alttestamentarische ,  vorbildliche  Hinweisungen  auf 
den  Messias,  während  die  Vierung  ihn  in  seiner  Zukunft  und  Verklärung 
im  hinimlischen  Jerusalem  zeigte,  auf  welches  sich  im  südlichen  Kreuzarme 
die  Lenre  von  der  Auferstehung  und  von  der  Berufung  der  durch  die  klugen 
Jungfrauen  angedeuteten  Seligen  bezog.  Im  nördlichen  Kreuzflügel  war 
dann  vielleicht  (da  Norden  in  der  Symbolik  des  Mittelalters  stets  die  Be- 
deutung des  Finstern  hatte)  das  Gericht  mit  seinen  Schrecken  weiter  aus- 
gemalt ,  während  im  Langhause ,  Avie  die  an  dem  ersten  Pfeiler  aufgefunde- 
nen Kaiserbilder  vermuthen  lassen,  die  weltliche  Pilgerfahrt  zum  himmlischen 
Jerusalem  versinnlicht  war.  Ausser  diesen  oberen  in  sich  zusammenhängen- 
den Gemälden  befanden  sich  an  den  Wänden  des  Chorquadrates  und  des 
südlichen  Kreuzarmes  andere,  mehr  historischen  Inhalts  und  zwar  in  mehre- 
ren durch  Gurte  getrennten  über  einander  stehenden  Reihen,  reliefartig,  in 
chronologischer  Folge  ohne  architektonische  Gliederung.  Unter  der  Ge- 
schichte Abels  ist  die  Johannes  des  Täufers  sehr  ausführlich  gegeben,  auf 
der  gegenüberstehenden  Wand  unten  Moses  und  Abraham  in  den  beiden 
oberen  Reihen  die  Legende  des  h.  Blasius,  des  Schutzheiligen  der  Kirche, 
dessen  Reliquien  Heinrich  der  Löwe  aus  dem  Orient  hierhergebracht  hatte, 
in  der  unteren  dagegen  die  kürzer  vorgetragene  Geschichte  des  Thomas 
Becket,  der  jenem  später  als  Mitpatron  beigegeben  wurde.  In  gleicher 
Weise  sind  an  den  unteren  Wänden  des  südlichen  Kreuzflügels  die  Legende 


Dom  zu  Braunsclnveig.  525 

der  Auffindung  des  h.  Kreuzes  durch  die  Kaiserin  Helena  und  Scenen  aus 
der  Leidensgeschichte  mehrerer  Märtyrer,  des  h.  Stephanus  und  Sebastian 
und  anderer,  dargestellt.  Endlich  befinden  sich  an  den  Pfeilern  der  Vierung 
kolossale  Gestalten,  an  dem  nordöstlichen  Johannes  der  Täufer,  mit  Be- 
ziehung zugleich  auf  das  himmlische  Jerusalem  im  Gewölbe  und  auf  sein  da- 
neben dargestelltes  irdisches  Leben ,  an  den  beiden  südlichen  Pfeilern  da- 
gegen der  heilige  Blasius  neben  seiner  Legende,  und  dann  nach  dem  Kreuz- 
arme  gewendet,  einander  gegenüber,  eine  weibliche  und  eine  männliche  fürst- 
liche Figur.  Die  Gegenüberstellung  des  Täufers  und  des  Bischofs  deutet 
auf  die  Verbindung  alttestamentarischer  und  christlicher  Seligen  in  dem 
Reiche  des  Herrn;  übrigens  ist  eine  nähere  Beziehung  dieser  historischen 
Gegenstände  auf  die  darüber  dargestellten  symbolischen  wenigstens  nicht 
klar.  Nur  wer  —  wie  der  Verfasser  dieses  Buches  —  die  Bilder  des  süd- 
lichen Kreuzarmes  von  der  Tünche  befreit  und,  wenn  auch  beschädigt,  doch 
noch  vor  der  jetzigen  Ueberarbeituug  gesehen  hat ,  kann  einen  Begriff  von 
der  ursprünglichen  Formauffassung,  der  Farbe  und  der  Wirkung  der  schö- 
nen ornamentalen  Umrahmungen  haben.  Die  Malereien  bestanden  in  wenig- 
mehr als  in  Umrissen,  die  leicht,  fast  nur  andeutungsweise,  mit  Farbe  ge- 
füllt waren ,  und  nicht  den  Eindruck  des  Harten  und  Grellen  machten ,  der 
jetzt  das  Auge  verletzt.  Den  Hintergrund  bildete  meistens  ein  einfacher 
blauer  Farbenton,  auf  dem  sich  die  Umrisse  der  Figuren  leicht  absetzten 
und  der  die  Localfarben  nicht  herabdrückte,  sondern  ihnen  Relief  gab.  Die 
feinen  und  edlen  Typen  der  Köpfe,  die  hier  indess  etwas  spitz  Zulaufendes 
haben,  die  schlanken  Gestalten,  die  Verzierungen  erinnern  vielfach  an  die 
Decke  von  St.  Michael  zu  Hildesheim,  nur  dass  diese  in  der  Eintheilung 
noch  schöner,  imChai'akter  noch  strenger  und  würdevoller  ist^).  Die  Zeich- 
nung der  verschiedenen  Theile  lässt  darauf  schliessen,  dass  sie  nicht  bloss, 
wie  schon  der  Umfang  der  Arbeit  annehmen  lässt,  von  mehreren  Händen, 
sondern  auch  nicht  völlig  aus  gleicher  Zeit  herstammen.  In  den  s3'mboli- 
schen  Darstellungen  des  Chorquadrates  und  in  der  Geschichte  Johannes  des 
Täufers  sind  altchristliche  Typen  und  byzantinisirende  Anklänge  vorherr- 
schend; die  legendarischen  Hergänge,  besonders  die  Auffindung  des  Kreuzes, 
zeigen  dagegen  eine  freiere,  naive  Auffassung,  ohne  jene  typische  Strenge 
und  zugleich  ohne  den  gewaltsamen  Lebensdrang  der  Uebergangszeit.  Die 
sehr  grossartigen  Gestalten  der  klugen  und  thörichten  Jungfrauen  und  die 
Kolossalfiguren  an  den  Pfeilern  scheinen  einer  mittleren  Zeit  anzugehören, 
indem  sie  noch  strenge,  aber  doch  schon  höchst  bewegt  und  mit  freier 


^)  Damit    übereinstimmende    Bemerkungen    finden     sich    in    den    liandsclirifilichen 
Notizen    in  Waagen's  Nachlass.  —  Vergl.  auch  Hotho,  a.  a.  0.,  S.  179  ff. 


526  Deutsche  Wandmalerei. 

Linienführung  gezeichnet  sind.  Wo  die  Handlung  im  Innern  eines  Gebäu- 
des vorgeht^  ist  dies  durch  eine  Architektur  angedeutet,  welche  den  Durch- 
schnitt eines  Gebäudes  mit  seinen  Dächern  und  Thürmchen  in  einem  schlan- 
ken Rundbogenstyl  7  mit  Einmischung  von  Kleeblattformen  zeigt.  Unterhalb 
der  historischen  Malereien  des  Chors  fand  man  einen  gemalten  Teppich, 
und  zwar  in  bunten  prismatischen  Farben,  die  wohl  bezweckten,  den  Ge- 
mälden selbst  eine  mehr  harmonische  und  ruhige  Haltung  zu  sichern.  Xach 
allem  diesem  dürfen  wir  annehmen ,  dass  die  früheren  dieser  Gemälde  viel- 
leicht schon  im  ersten  Viertel,  die  aus  dem  Leben  der  Schutzpatrone  etwa 
um  die  Zeit,  wo  auch  der  h.  Thomas  als  solcher  anerkannt  war,  was  zuerst 
in  einer  Urkunde  von  1238  ersichtlich  ist,  endlich  die  Auffindung  des  h. 
Kreuzes  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  ausgeführt  sind.  Die  ruhige  Hal- 
tung der  Gestalten,  die  geradlinig  fallenden,  breiteren  Massen  der  Gewänder, 
die  schlichte,  immer  unumwunden  auf  das  Ziel  gerichtete  Darstellung  des 
Historischen ,  die  Technik ,  endlich  der  Charakter  des  Architektonischen 
sprechen  hiei'  für  diese  spätere  Zeit. 

Auch  in  Holland  sind  wenigstens  iu  einem.  Falle  Wandgemälde  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  dem  zerstörenden  Eifer  der  dortigen  Reformation 
entgangen.  Sie  befanden  sich  in  der  1212  gegründeten  und  1263  geweihe- 
ten  Johanuiskirche  zu  Gorkum,  und  sind  vor  dem  Abbruche  derselben  im 
Jahre  1845  entdeckt  und  uns  in  anscheinend  treuen,  in  der  königlichen 
Bibliothek  im  Haag  bewahrten  Kopien  erhalten.  Ihre  Anordnung  war  sehr 
einfach;  sie  gaben  nur  eine  Chronik  der  Heilslehre,  welche  in  sechs  Reihen 
von  je  acht  Bildern  an  der  Wand  des  Chores  erzählt  war.  Nur  dreizehn 
dieser  Bilder,  theils  aus  dem  ersten  Buche  Mosis,  theils  aus  dem  Leben 
des  Heilands  waren  kenntlich.  Die  Formen  sind  derb  und  ohne  Schön- 
heitssinn ,  die  Umrisse  in  starken ,  schwarzen  Linien  gezeichnet ,  die  nack- 
ten Körper  fast  ohne  Details,  die  Gewandung  ist  einfach  und  dem  Körper 
ziemlich  entsprechend,  aber  styllos,  der  Ausdruck  oft  roh  und  hart,  die  Farbe 
ohne  Schattirung  aufgetragen.  Der  Urheber  stand  also  auf  keiner  hohen 
Stufe  der  Kunst.  Bemerkenswerth  ist  aber  der  heitere  und  naive  Naturalis- 
mus, der  schon  hier  die  künftige  Richtung  der  holländischen  Kunst  andeutet. 
Nur  in  den  Zügen  Gottes  und  Christi  ist  ein  Anklang  an  die  typischen  Züge, 
übrigens  schliesst  sich  der  Maler  an  die  Erscheinungen  seines  Landes  und 
seiner  Zeit  an.  Die  Thiere  der  ersten  Schöpfung  geben  sich  deutlich  als 
Schafe,  Schweine,  Gänse  und  Kaninchen  zu  erkennen,  die  Bäume  des  Para- 
dieses tragen  gemeine  Aepfel,  am  Boden  sind  Blumen  und  Blätter  von  unver- 
hältnissmässiger  Grösse  zerstreut.  Einige  Male  mischen  sich  auch  scherz- 
hafte Züge  ein,  wie  die  spätere  niederländische  Malerei  sie  liebte,  bei  der 
Scene  des  trunkenen  Noah  und  seiner  Söhne  nascht  hinter  dem  Rücken 
seiner  Herren   ein  Bock  an  den  Trauben  des  Stockes ,  bei  der  Vertreibung 


Franken  und  Schwaben.  527 

aus   dem  Paradiese  unterhält  sich  die  einsam  zurückgebliebene  Schlange 
durch  Abnagen  der  Blätter^). 

Im  südlichen  Deutschland  ist  die  Zahl  erhaltener  Wandmalereien 
dieser  Epoche  geringer.  In  Franken  und  Schwaben  finden  wir  figurenreiche 
Darstellungen  des  dreizehnten  Jahrhunderts  nur  in  zwei  kleineren  kirch- 
lichen Gebäuden.  In  der  Schlosskapelle  zu  Forchheim'-)  unfern  Bamberg 
die  Verkündigung,  einige  Propheten,  das  jüngste  Gericht,  jedoch  in  kleine- 
rer Dimension,  endlich  als  Hauptdarstellung  die  Anbetung  der  Könige.  Die 
Ausführung  ist  roh,  aber  die  Motive  sind  bedeutend,  und  die  stylgeraässe, 
noch  nicht  durch  das  gothische  Formprincip  beherrschte  Zeichnung  lässt 
auf  die  Mitte  des  Jahrhunderts  schliessen.  Einen  bessern  Zusammenhang 
bilden  die  Malereien  des  Chors  der  Waldkapelle  zu  Kentheim  an  der 
Nagold  im  Schwarzwalde  =^);  über  dem  Chorbogen  die  Verkündigung,  am  Ge- 
wölbe Christus  und  die  Zeichen  der  Evangelisten  in  fünf  Medaillons,  an  der 
Hinterwand  Christus  mit  erhobener  Rechten,  neben  ihm  knieend  Moses  die 
Gesetztafeln,  Johannes  der  Täufer  das  Lamm  darreichend,  welche  ungewöhn- 
liche Darstellung  die  Vereinigung  von  Gesetz  und  Gnade  in  Christus  mit 
manchen  sinnreichen  Nebenbeziehungen  andeuten  dürfte.  Die  Gestalten  sind 
hier  übermässig  schlank  und  die  Köpfe  gross,  das  Ganze  ist  aber  nicht  ohne 
Würde  und  anscheinend  noch  in  das  dreizehnte  Jahrhundert  fallend.  Ausser- 
dem kommen  noch  mehrere  Apostelgestalten,  die  aber  schon  sehr  verblichen 
sind,  am  Peterschore  imBambergerDom  vor.  Dem  Ende  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  gehören  zwölf  Wandgemälde  aus  dem  Kreuzgange  des  Klosters 
Rebdorf  bei  Eichstädt  an,  welche  jetzt  auf  dreizehn  Tafeln  in  dem  bayeri- 
schen Nationalrauseum  zu  München  bewahrt  werden.  Sie  erzählen  die  Ge- 
schichte des  Daniel  und  der  drei  Männer  im  Feuerofen  höchst  lebendig  und 
in  grosser  Ausführlichkeit.  In  ihnen  herrscht  die  reinste  Gothik  in  den 
architektonischen  Motiven,  und  die  langgezogenen  Figuren  mit  weicher  Kopf- 
neigung in  graziöser  Haltung  erinnern  an  die  Handschriften-Malereien  aus 
der  genannten  Zeit^). 

Manche  Reste  sind  in  der  Oberpfalz  vorhanden:  in  der  Damenstifts- 
kirche Obermünster   zu   Regens  bürg  war  die  östliche  Apsis  mit  einem 


1)  Eine  ausführliche  Beschreibung  dieser  Malereien  habe  ich  im  Tüb.  Kunslbl. 
1847 ,  S.  29  gegeben.  Seitdem  in  Farbendrücken  pubhcirt  von  L.  J.  F.  Jansen ,  de 
muurschiiderijen  der  S.  Janskerk  te  Gorinchem. 

-)  Waagen,  Kunstw.  und  K.  in  Deutschland  I,  146. 

')  Grüneisen  ,  Uebersichtliche  Beschreibung  älterer  Werke  der  Malerei  in  Schwa- 
ben, Tüb.  Kunstbl.  1840,  Nro.  96  ff. 

^)  Ausführlich  beschrieben  in  dem  von  Messmer  und  Kuhn  verfassten  Führer 
durch  das  bayr.  Nationalmuseum,  München  1868.  Eine  Abbildung  bei  Sighart  a.  a.  0. 
zu  S.  340, 


^28  Deutsche  Wandmalerei. 

grossen  jüngsten  Gericht  bemalt,  von  welchem  noch  eine  Reihe  höchst  würde- 
voller Figuren  —  wahrscheinlich  aus  dem  Ende  des  12.  Jahrhunderts  — 
übrig  ist^).  Ein  besser  erhaltenes,  wohl  etwas  späteres  Werk  ist  die  in  der 
Annakapelle  derselben  Kirche  aufgedeckte  Ausgiessung  des  heiligen  Geistes. 
Nicht  weit  von  Regensburg,  in  der  runden  Todtenkapelle  zu  Perschen  ist 
die  Kuppel  mit  zwei  Reihen  einzelner  Gestalten  bemalt;  der  thronende 
Christus  in  der  Glorie,  umgeben  von  den  Aposteln  auf  goldenen  Stühlen, 
darüber  die  Madonna  mit  Engeln  und  weiblichen  Heiligen.  Die  langgezo- 
genen Figuren  in  strenger  Haltung  scheinen  etwas  alterthümlicher  als  die 
zuletzt  geschilderten  Arbeiten,  zeichnen  sich  aber  durch  eine  edle  Gross- 
artigkeit aus. 

In  Oesterreich  sind  mehrere  kleinere  Kapellen  mit  Wandbildern  ge- 
schmückt. Dem  Ende  des  12.  Jahrhunderts  mögen  diejenigen  im  Chor  der 
erhaltenen  Kapelle  zu  Sie  ding-)  angehören,  der  ersten  Hälfte  des  13.  die 
sehr  pathetische  Anbetung  der  Könige  in  der  Concha  des  Rundbaues  zu 
Mödling-')  und  die  neuentdeckten  Gemälde  der  Dreikönigskapelle  zu 
Tulln*).  Die  bedeutendsten  Schöpfungen  dieser  Gattung  in  den  österreichi- 
schen Provinzen  befinden  sich  aber  an  einer  der  südlichsten  Stellen  des 
deutschen  Ostens,  in  dem  Dome  zu  Gurk  in  Kärnthen.  Die  Bilder  in  der 
unteren  Vorhalle  rühren  erst  aus  dem  14.  und  15.  Jahrhundert  her,  weit 
älter  und  werthvoUer  sind  dagegen  diejenigen  des  darüber  gelegenen  Non- 
nenchores, der  aus  der  ursprünglichen  Bestimmung  der  Kirche  zu  einem 
Jungfrauenstifte  herzustammen  scheint-'').  Hier  sieht  man  zunächst  auf  der  öst- 
lichen Stirnwand,  über   den  Bogenöffnungen  nach  dem  Mittelschiffe,    die 


^)  Vgl.  über  die  oben  erwähnten  und  noch  einige  Arbeiten  in  Bayern  Sighart 
a.  a    0.  mit  Abbildungen  auf  S.  601  und  662  f. 

")  Miitheilungen  der  k.  k.  Centralcommission,  III.  S.  221. 

3)  Ebenda,  S.  263  ff,  mit  Abbildungen, 

■*)  Mittheilungen  B.  XVI ,  p.  CXXIX.  —  Eine  Zusammenstellung  noch  anderer 
österreichischer  Monumente  mit  Wandgemälden  ebenda  S.   131. 

'"')  Vgl.  die  Beschreibung  der  Kirche  und  der  Malereien  ,  welche  der  Entdecker 
derselben,  F.  v.  Quast,  in  Otte's  Grundzügen  der  kirchlichen  Kunst-Archäologie  1855, 
S.  69  gegeben  hat.  Schon  1071  war  das  ehemalige  Nonnenkloster  in  einen  Bischof- 
sitz mit  einem  Chorherrenstifte  verwandelt;  wie  es  zugegangen,  dass  dennoch  der 
Nonnenchor  noch  im  dreizehnten  Jahrhundert  mit  so  prachtvollen  Malereien  geschmückt 
ist ,  bedarf  einer  näheren  Aufklärung.  Vielleicht  war  ungeachtet  jener  Umwandlung 
dennoch  ein  Nonnenkloster  neben  dem  Chorherrenstifte  beibehalten ,  vielleicht  diente 
die  Loge  nur  für  die  Aufnahme  fürstlicher  Personen  und  erhielt  in  dieser  Eigenschaft 
jenen  Schmuck.  Ausführliche  Beschreibungen  und  Würdigungen  von  Schellander  und 
von  .\nkershofen  in  den  Miitheilungen  der  Central-Commission,  II,  S.  289  ff.  und  von 
C.  Haas  in  den  Denkmalen  des  österr.  Kaiserstaates ,  II,  S.  166  ff.  Neuerdings  sind 
ffute  Publicationen  erschienen  in  den  Mittheilunsren  B.  XVI,  S.  126 — 141. 


Wandmalerei  in  der  Kirche  zu  Gurk, 


529 


Jungfrau  mit  dem  Christuskinde  unter  prächtiger  Architektur  mit  schlanken 
Säulen,  auf  einem  Throne,  zu  dessen  Füssen,  wie  bei  dem  Salomonischen, 
Löwen   stehen.     Von  dem  Bogen  der  Architektur    fliegen   sieben   Tauben 

Fig.  131. 


Wandmalerei  aus  dem  Dome  zu  Guik. 


die  Gaben  des  heiligen  Geistes,  ihrem  Haupte  zu,  und  neben  ihr,  theils  an 
der  hohen  Rücklehne   ihres  Sitzes,   theils   in   drei  Arcaden   auf  jeder  Seite 

Schnaase's  Kunstgesch.  2.  Aufl.     V.  34 


530  Deutsche  Wandmalerei, 

stehen  oder  sitzen  reichgekleidete  Frauengestalten  mit  dem  Nimbus  und 
meist  mit  einer  Krone,  acht  an  der  Zahl,  durch  die  Inschriften,  soweit  solche 
noch  vorhanden,  als  Tugenden  bezeichnet.  Auch  ihnen  zu  Füssen  sind 
Löwen  angebracht,  die  auf  den  Stufen  einherschreiten  und  emporklettern. 
Alle  diese  Gestalten  haben  eine  gewisse  Grossartigkeit  der  Haltung  und 
Strenge  der  Zeichnung,  welche  auf  einen  stärkeren  byzantinischen  Einfluss 
hinzudeuten  scheint.  Die  Bilder  der  Schildbögen  auf  der  Nord-  und  Südseite 
in  dem  östlichen  Joche  des  Nonnenchors  sind  nicht  mehr  mit  Sicherheit  zu 
erkennen,  das  Gewölbe  enthält  die  Erschaffung  des  Adam,  Gottes  Gebot 
an  das  erste  Menschenpaar,  und  den  Sündenfall,  während  das  letzte  Bild, 
die  Vertreibung  aus  dem  Paradiese,  erloschen  ist.  Ein  Gurtbogen  zeigt  dann 
auf  seiner  Unterseite  die  Leiter  Jakobs,  auf  welcher  Engel  zu  dem  in  der 
Mitte  befindlichen  Bilde  des  Herrn  aufsteigen.  Das  westliche  Kuppelgewölbe 
giebt  die  Darstellung  des  himmlischen  Jerusalem  in  ganz  ähnlicher  Weise, 
wie  wir  sie  im  Dome  zu  Braunschweig  kennen  gelernt  haben ;  in  den  Zwickeln 
die  vier  grossen  Propheten,  dann  ein  mächtiger  Mauerkranz  von  verschie- 
denfarbigen Steinen  mit  Aposteln  und  Engeln  in  seinen  Rundbögen,  und  in 
den  vier  Ecken  mit  höher  hinaufsteigenden  Thürmen,  welche  in  der  Mitte 
des  Gewölbes  einen  Doppelkreis  tragen,  das  Lamm  mit  der  Siegesfahne  im 
inneren  Kreise,  im  äusseren  Ringe  die  Zeichen  der  Evangelisten.  Die  drei 
Schildbögen  dieses  Joches  endlich  enthalten  historische  Darstellungen,  die 
heil,  drei  Könige,  welche  zu  Rosse  zum  Christkinde  ziehen,  den  Einzug 
Christi  in  Jerusalem  und  die  Verklärung  des  Heilandes,  während  unter  'den 
Hauptbildern  ein  Fries  mit  Medaillons  von  Kirchenvätern  und  weiblichen 
Heiligen  angebracht  ist.  Auch  dieser  Bildercyklus  ist  nicht  nur  der  Räumlich- 
keit mit  bewundernswürdigem  Geschick  angepasst,  sondern  auch  in  geistiger 
Hinsicht  tiefsinnig  angeordnet  und  entwickelt.  In  dem  knappen  Räume 
sind  die  Hauptmomente  der  Heilslehre,  Sündenfall  und  Erlösung,  sowie  das 
Walten  der  Kirche  zusammengedrängt,  und  über  dem  Leben  Christi  auf 
Erden  baut  die  Zukunft  des  himmlischen  Reiches  sich  auf.  In  den  Gewän- 
dern kommen  scharfe,  eckige  Brüche  vor,  die  Beinstellung  ist  hie  und  da 
gesucht,  im  Wesentlichen  aber  sind  Haltung  und  Geberden  edel  und  aus- 
drucksvoll, mitunter  von  tiefer  Empfindung,  was  besonders  die  thronende 
Madonna  zeigt,  die  das  Kind  an  sich  schmiegt  und  liebkost.  Auch  die  guten 
Proportionen  der  Figuren  sind  bemerkenswerth ,  und  der  Künstler  wusste 
sogar  mit  der  Schilderung  des  Nackten  fertig  zu  werden.  Leider  haben 
auch  diese  Malereien  bedeutend  gelitten,  dennoch  macht  der  Ernst  der  Ge- 
stalten, die  grossartige  Anordnung  der  Räume,  die  durch  das  tiefe  Blau  der 
Hintergründe  harmonisch  gestimmte  Farbenpracht  einen  tief  ergreifenden 
Eindruck.  Obgleich  die  Anordnung  der  Gruppen  und  Farben  noch  einen 
alterthümliehen  Charakter  trägt,  beweist   doch  die  Gestalt  der  wiederholt 


Tafelmalerei.  gß  i 

angebrachten  Vierblätter  und  Vierpässe,  so  wie  der  schon  gothisch  stylisir- 
ten  Blumen  an  den  Gewölbgräten,  endlich  die  spitzbogige  Form  der  West- 
fenster, dass  die  Gemälde  erst  im  dreizehnten  Jahrhundert  ausgeführt  sind. 
Nähere  Auskunft  geben  uns  zwei  Stiftergestalten ,  welche  in  den  Zwickeln 
der  grossen  Bogeuöffnungen  unter  dem  Throne  der  heiligen  Jungfrau  Platz 
gefunden  haben;  sie  sind  als  Otto  electus  und  als  Dietrich  episcopus  be- 
zeichnet. Der  Erste  kann  nur  der  Salzburger  Dompropst  Otto  sein ,  der 
1214  zum  Bischof  gewählt  wurde,  aber  noch  im  selben  Jahre  vor  der  Weihe 
starb,  der  zweite  ist  offenbar  Dietrich  II,  der  1254—1279  die  bischöfliche 
Würde  bekleidete^),  und  so  ist  uns  durch  diese  beiden  Persönlichkeiten 
-wohl  Anfang  und  Ende  der  Arbeiten  nachgewiesen.  Damit  stimmt  überein, 
dass  gerade  vom  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  bis  zum  Jahr  1226  zahl- 
reiche Maler  in  Gurker  Urkunden  vorkommen'^). 

In  der  Schweiz  linden  sich  alte  Deckenmalereien,  w^ohl  noch  aus 
dem  12.  Jahrhundert,  in  der  Kirche  zu  Zillis,  im  Canton  Graubündten 3). 
Die  flache  Decke  enthielt  ursprünglich  in  153  Feldern,  von  denen  aber  meh- 
rere nicht  mehr  erhalten  sind,  Darstellungen  aus  der  Geschichte  Christi, 
nach  der  Bibel  und  nach  den  apokryphen  Evangelien,  und  in  der  äussersten 
Reihe  auf  allen  Seiten  Sirenen,  Meerungeheuer  und  andere  fabelhafte 
Thiere.  Die  Figuren  sind  auffallend  gedrungen,  der  Charakter  ist  durch- 
weg ein  alterthümlicher ,  in  Tracht  und  Geberden  tauchen  zahlreiche  byzan- 
tinische Reminiscenzen  auf. 


Die  Tafelmalerei  war  in  dieser  Epoche  noch  von  sehr  geringer  Be- 
deutung. Schon  die  Technik,  wie  wir  sie  in  Miniaturen  und  Wandmalereien 
kennen  lernen,  musste  davon  zurückhalten;  diese  einfachen,  gefärbten  Umriss- 
zeichnungen ohne  Schattirung  und  Relief  der  Gestalten  genügten  wohl  in  dem 
kleineren  Maassstabe  des  Buches  oder  bei  der  architektonischen  Einrahmung 
und  der  Entfernung  der  Wandgemälde,  nicht  aber  für  die  mittlere  Dimension 
und  die  nähere  Betrachtung  der  Tafelbilder.  Auch  waren  Altargemälde,  welche 
später  die  wichtigste  Aufgabe  der  Tafelmalerei  bildeten,  damals  noch  nicht 
üblich  oder  doch  nur  sehr  selten  angewendet.  Die  Rückseite  des  Altars  diente 
gewöhnlich  zur  Aufbewahrung  von  Reliquien  und  erhielt  daher  ihren  Schmuck 
durch  das  in  Metall  oder  Stein  gearbeitete  Behältniss  derselben.  Zwar  ist 
auch  jetzt  häufig  von  gemalten  Altartafeln  (tabulae  altaris)  die  Rede,  allein 
in  den  meisten  Fällen  ersieht  man,  dass  damit  entweder  die  Platten  des  Altar- 


1)  Dietrich  I.  (1179—1194)  ist  wohl  zu  früh. 

2)  Vgl.  V.  Ankershofen  a.  a.  0. 

^)  R.  Rahn   in   den    Mittlieilungen  der  Antiquarischen  Gesellschaft,  zu  Zürich,  Heft 
XXXVI,  (1872),  mit  Abbildungen. 

34* 


532  Tafelmalerei. 

tisches  oder  die  Tafeln  bezeichnet  sind,  mit  welchen  man  an  Stelle  der 
sonst  gebräuchlichen  Vorhänge  (Antependia)  den  unteren  Theil  des  Altar- 
tisches bedeckte  %  welche,  wenn  sie  gemalt  waren,  doch  eine  einfachere,  mehr 
architektonische  Behandlung  erforderten. .  Allerdings  wird  dann  in  anderen 
Fällen  ausdrücklich  von  gemalten  Tafeln  über  dem  Altare  gesprochen;  allein 
Avahrscheinlich  dachte  man  dabei,  wie  wenigstens  aus  einigen  Urkunden  klar 
hervorgeht,  nicht  an  eigentliche  Gemälde,  sondern  an  colorirte  Reliefs-).. 
Zwar  giebt  Theophilus,  der  sein  Buch:  Diversarum  artium  schedula,  wahr- 
scheinlich schon  in  der  vorigen,  spätestens  aber  im  Anfange  dieser  Epoche 
schrieb  ■") ,  eine  ausführliche  Anleitung  zu  Malereien  auf  glatten  Holzplatten 
und  zwar  ausdrücklich  mit  Erwähnung  figürlicher  Darstellungen  auf  densel- 
ben und  mit  Beziehung  'auf  Tafeln  der  Altäre.  Allein  er  setzt  diese  Tafeln 
mit  blossen  Thüren ,  sowie  mit  Schilden,  Sätteln,  Faltstühleu  und  Bänken  in 
eine  Kategorie,  so  dass  man  dabei  wohl  nicht  an  sehr  geschätzte  künstle- 
rische Arbeiten  denken  darf**).  Dies  wird  auch  durch  die  im  Jahre  1258 
verzeichneten  Statuten  der  Pariser  Innungen  bestätigt.  Hier  kommen  näm- 
lich die  Maler  zwei  Mal  vor,  im  Titel  78  mit  den  Sattlern  verbunden,  wo- 


^)  Ducange,  Gloss.  s.  v.  tabula  altaris. 

-)  Dies  gilt  namentlich  von  dem  Beschlusse  des  Generalkapitels  der  Cistercienser 
vom  Jahre  1240:  „Quoniam  de  curiositate  tabularum,  quae  altaribus  ordinis  super- 
ponuntur,  clamosa  insinuatio  venit  ad  capitulum  generale,  praecipitur,  ut  omnes  tabulae 
depictae  diver sis  coloribus  amoveantur  aut  colore  albo  colorentur."  Marlene  et 
Durand,  Thesaur.  anecdot  IV,  137,  3.  Wäre  hier  an  eigentliche  Gemälde  gedacht,  so 
würde  ganz  einfach  die  FortschafFung  angeordnet  sein,  da  ein  „Coloriren"  mit  weisser 
Farbe  bei  dem  Mangel  der  Schattirung  hier  keinen  Sinn  gehabt  und  ein  blosses  Ueber- 
streichen  die  Kirche  entstellt  haben  würde.  Man  dachte  also  an  colorirte  Reliefs  und 
verlangte,  da  nur  die  bunte  Farbe,  nicht  das  Bildwerk  Anstoss  erregte,  ihre  Ueber- 
weissung.  Guill.  Durandus  im  Rationale  divinorum  officiorum  Lib.  I,  cap.  3,  Nro.  17 
spricht  zwar  ausdrücklich  davon  ,  dass  man  die  Bilder  der  Ku'chenväter  Zuweilen  auf 
der  Rücktafel  des  Altars  male  (Generaliter  autem  SS.  Patrum  imagines  quandoque  in 
parietibus  ecclesiae  quandoque  in  posteriori  altaris  tabula  quandoque  in  vestibus 
sacris  pinguntur).  Allein  da  es  ihm  nur  auf  die  Gegenstände  ankam  ,  ist  schwerlich 
anzunehmen  ,  dass  er  die  Technik  wirklicher  Malerei  und  bemalter  Plastik  sorgfältig 
sondern  wollen. 

3)  Vgl.  B.  IV.  S.  241. 

■*)  Er  beginnt  lib.  III,  c.  17  (ed.  de  l'Escalopier,  p.  31)  mit  den  Worten:  Tabnlae 
altariorum  sive  ostiorum  sie  componuntur,  und  spricht  dann  in  den  nächsten  Kapiteln 
von  einfachem  Anstrich  der  Thüren  und  von  Sätteln  und  der  Malerei  von  Figuren, 
Thieren  ,  Vögeln  oder  Blattwerk ,  welche  an  ihnen  üblich  war.  Im  folgenden  Kapitel 
kommt  dann  die  berühmte  Stelle ,  aus  welcher  man  früher  und  wiederum  neuerlich 
gefolgert  hat ,  dass  die  Oelmalerei  schon  vor  den  Eyck's  bekannt  gewesen.  Der  Ver- 
fasser si  rieht  nämlich  von  Oelfarben ,  die  auf  Holz  gebraucht  werden  können;  allein 
er  bemerkt  auch  ,  dass  diese  Farben  wegen  der  Nothwendigkeit  des  Trocknens  in  der 
Sonne  in  imaginibus  zu  lanffwiericr  und  desshalb  nicht  wohl  anwendbar  seien. 


Ursachen  ihrer  Seltenheit.  533 

bei  dann  natürlich  mir  an  Wappeunialerei  zu  denken  ist^j,  und  im  Titel  62 
mit  den  Bildschnitzern.  Diese  Innung  der  Paintres  et  taillieres  ymagiers 
beschäftigte  sich  ausschliesslich  oder  vürzugs^Yeise  mit  heiligen  Bildern,  und 
ihre  Mitglieder  waren  von  der  Ptlicht  des  Wachtdienstes  befreit,  weil  ihr 
Gewerbe  im  Dienste  des  Herrn  und  seiner  Heiligen  und  zur  Ehre  der  Kirche 
ausgeübt  werde-).  Sie  dürfen  nach  dem  Inhalt  des  Statuts  in  allen  Arten 
von  Holz,  Stein,  Knochen,  Horu  und  Elfenbein  und  in  allen  Arten  redlicher 
Malerei  arbeiten,  allein  die  näheren  Vorschriften  über  die  Ausübung  des 
Handwerkes  beziehen  sich  nur  auf  plastische  Werke,  so  dass  auch  hierdurch 
wahrscheinlich  wird,  dass  der  Kirchendienst  nur  solche  forderte,  imd  der 
Unterschied  zwischen  den  Malern  dieser  Innung  und  den  mit  den  Sattlern 
verbundenen  darin  bestand,  dass  jene  die  reichere  Bemalung  kirchlicher 
Statuen  und  Reliefs  ausführten ,  während  diese  auf  kleinere  Flachnialereien 
und  zwar  meistens  heraldischer  Art  angewiesen  waren,  lieber  die  Gliederung 
dieser  Gewerke  in  Deutschland  haben  wir  nicht  so  genaue  Nachrichten,  in- 
dessen finden  wir  wenigstens  zahlreiche  Fälle,  in  denen  dieselbe  Person  als 
Maler  und  Bildschnitzer  bezeichnet  wird^).  Auch  wissen  wir,  dass  die  Maler 
hier  gewöhnlich  mit  den  Schildmachern  (Clipeatores)  verbunden  waren*),  und 
desshalb  schon  im  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts  mit  dem  Namen 
Schilderer  bezeichnet  wurden.  Eine  bekannte,  oft  angeführte  Stelle  im 
Parcival  des  Wolfram  von  Eschenbach  ergiebt  nun  zwar,  dass  diese  ur- 
sprünglichen Wappenmaler  schon  eine  gewisse  künstlerische  Bedeutung 
hatten,  indem  der  Dichter  die  Schönheit  seines  jugendlichen  Helden  bei  sei- 
nem ersten  Ausritte  durch  die  Bemerkung  preist,   das  kein  Schilderer  von 


^)  Depping ,  in  den  bereits  angeführten  Reglements  sur  les  arts  et  metiers  de 
Paris,  p.  206. 

2)  Depping  a.  a.  0.  p.  158:  „par  la  raison  que  leurs  mestiers  u'apartient  fors 
que  au  Service  de  nostre  seigneur  et  de  ses  sains ,  et  ä  la  honnerance  de  sainte 
Yglise." 

3)  Z.  B.  Alexander,  incisor  imaginum  et  pictor,  welcher  im  Jahre  1230  das  Stadt- 
siegel von  Lübeck  sticlit.  MithofiF,  mittelalterliche  Künstler  Niedersachsens.  Hannover, 
1866,  S.  7. 

*)  Wahrscheinlich  war  dies  schon  mn  1205  in  Magdeburg  der  Fall-,  Fiorillo  II, 
168.  Jedenfalls  wird  es  für  Köln  .und  Maestricht  durcli  die  sogleich  anzuführenden 
Verse  im  Parcival  in  Verbindung  mit  den  Bezeichnungen  in  den  kölnischen  Schreins- 
büchern (Merlo,  die  Meister  der  altkölnischeu  Malerschule)  nachgewiesen.  Bekanntlich 
erhielten  sich  ähnliche  Verbindungen  noch  lange.  Die  im  J.  1348  von  Karl  IV.  be- 
stätigte Prager  Innung  umfasste  Malerj,  Bildhauer,  Glaser,  Schildmacher  und  Gold- 
schläger (Wackernagel,  die  deutsche  Glasmalerei,  S.  66),  und  die  Statuten  der  Maler 
gilde  von  Padiia  vom  Jahre  1441  legen  ihr  noch  das  ausschliessliche  Recht  bei,  Schilde 
mit  Leder  zu  bedecken  (Gaye  Carteggio  d'Artisti  II,  p.  44). 


534  Tafelmalerei. 

Köln  oder  Maestricht  ihn  besser  gemalt  haben  -würde  ^).  Indessen  darf  man 
diese  Aeusserung  nicht  zu  hoch  anschlagen,  und  namentlich  nicht  daraus 
folgern,  dass  diesen  Schilderern  auch  schon  höhere,  namentlich  religiöse 
Aufgaben  übertragen  wurden.  Denn  unserem  ritterlichen  Dichter  mag 
schon  die  Erinnerung  an  eine  ziemlich  heraldische,  aber  straff  zu  Rosse 
sitzende  und  in  frischen  Farben  ausgemalte  ritterliche  Gestalt,  wie  sie  viel- 
leicht nur  als  Träger  des  Wappens  auf  dem  schon  nach  damaliger  Sitte  an 
der  Grabstelle  aufgehängten  Schilde  vorgekommen  sein  mochte-),  genügt 
haben.  Wohl  aber  geht  daraus  hervor,  dass  keine  höhere,  etwa  von  Geist- 
lichen betriebene  Tafelmalerei  blühcte,  indem  dann  der  Name  des  niederen, 
handwerksmässigen  Betriebes  nicht  zur  Bezeichnung  einer  höheren  Leistung 
gebraucht  worden  wäre. 

Nach  allem  diesem  dürfen  wir  uns  wenigstens  nicht  wundern,  wenn 
die  Zahl  und  der  Kunstwerth  der  auf  uns  gekommenen  Tafelgemälde  aus 
dieser  Epoche  überaus  gering  ist.  Das  älteste  derselben  möchte  ein 
s.  g.  Antependium  sein,  welches  aus  dem  Walpurgiskloster  zu  Soest  in 
das  Provinzialmuseum  zu  Münster  gekommen  ist,  der  Heiland  in  der 
Glorie  mit  vier  Heiligen,  Augustinus  nebst  Johannes  dem  Täufer,  Walpurgis 
und  Helena,  einfache,  schwach  colorirte  schattenlose  Umrisse  von  stren- 
gem und  herbem  Style  ^).  Sehr  viel  bedeutender  ist  ein  grosses  Altar- 
werk der  Wiesenkirche  in  Soest,  welches  im  Jahr  1858  aufgefunden 
wurde,  nachdem  es  bis  dahin  durch  ein  grösseres  Gemälde  verdeckt 
war.  Das  _Mittelbild  enthält  den  Heiland  am  Kreuz,  oben  Gruppen  von 
Engeln  und  die  Gestalten  der  Kirche  und  der  Synagoge,  unten  Johan- 
nes mit  den  klagenden  Frauen  und  die  bestürzten  Widersacher.  Jeder- 
seits  ein  kreisförmiges,  von  einem  Quadrat  umrahmtes  Seitenfeld:  Christus 
vor  den  beiden  Hohenpriestern  und  die  Marien  am  Grabe.  Leise,  feierlich 
gemessenen  Schrittes  nahen  sie  und  erblicken  die  grossartige  Erscheinung 
des  Engels  mit  dem  Scepter  und  mit  ausgebreiteten  Flügeln ,  der  auf  dem 
fortgewälzten  Steine  sitzt  und  auf  das  leere  Grab  zeigt;  seitwärts,  in  kleinerer 
Dimension  ein  Knäuel  schlafender  Krieger.  Strenges  Blattwerk  bildet  die 
Umrahmungen,  in  den  Zwickeln  befinden  sich  kleinere  Halbfiguren.  Alle 
Darstellungen  heben  sich  in  gediegener  Färbung  mit  schwärzlichen  Umris- 
sen vom  Goldgrund  ab.  Die  Scene  am  Grabe,  besonders  die  Gestalt  des 
Engels,  ist  nicht  eine  vollständig  neue  Erfindung,  sie  kommt  in  ähnlicher 
Weise  wiederholt  in  Italien  vor  und  wird  auf  ein  byzantinisches  Vorbild  zu- 


1)  Von  Kölne  noch  von  Mästricht  kein  Schiltaere   entwerfe    im    baz  ,    denn    als  er 
üfem  orse  saz.     Parz.  158,  14. 

2)  Vgl.  Ducange  Glossarium  s.  v.  Clypeiis  sepulchris  militum  appensus. 
2)  Lübke  a.  a.  0,,-S.  334.  —  Aquarelle  im  Berliner  Kupfersticbcabinet. 


Tafelgemälde  zu  Soest. 


535 


rückgehen  1).  Aber  das  Verdienst  des  Künstlers,  der  das  überlieferte  Motiv 
so  zart  und  vollendet  durchgeführt,  ist  darum  nicht  minder  gross.  Die 
noch  ziemlich  gestreckten  Figuren  sind  voll  Erhabenheit  und  Adel,  in 
ruhig  fliessende,  fein  gefaltete  Gewänder  gehüllt,  jede  Geberde  hat  den 


Fig.  132. 


-rj^g^^Ap^(:o'c'"^'itoclJ''^r3/^5^^ 


WfT&<^'<i:z^'^(5^'^' 


Tafelgemälde  aus  der  Wiesenkirche  zu  Soest. 

Charakter  des  individuell  Beseelten  und  überall  wacht  inmitten  des  alten 
Styls  ein  neues  geistiges  Streben  auf. 

Ungefähr    gleichzeitig,    vom  Anfange    des    dreizehnten    Jahrhunderts 


')  Vgl.  V.  Quast  in  der  Zeitschrift  f.  christl.  Arch.  und  Kunst ,  II ,  S,  283  ,  mit 
Abbildungen,  die  auch  im  8.  Bande  von  E.  Försters  Denkmalen  wiederhoU  sind.  Auch 
auf  einem  Buchdeckel  in  vergoldetem  Silber  von  byzantinischer  Arbeit ,  das  aus  der 
Abtei  von  St.  Denis  stammend,  sich  jetzt  im  Louvre  befindet,  kommt  dieselbe  Gestalt 
des  Engels  vor.     Vgl.  Labarte  a,  a.  0.  Album  I.  pl.  26. 


536  Zeichnende  Künste. 

mögen  zwei  Tafeln  in  der  Nicolaikapelle  des  Domes  zu  "Worms  sein,  ein- 
zelne Heilige  auf  gemustertem  Goldgrunde ^j ,  etwas  jünger,  etwa  um  die 
Mitte  des  Jahrhunderts  entstanden,  eine  Tafel  mit  Momenten  aus  der  Pas- 
sionsgeschichte in  der  Klosterkirche  von  Heilsbronn  bei  Nürnberg-).  Aus 
der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  scheint  endlich  ein  Antependium  in  der 
Klosterkirche  zu  Lüne  bei  Lüneburg  zu  stammen ,  auf  welchem  Christus  in 
der  Glorie  und  daneben  in  acht  kleineren  Bildern  Scenen  aus  der  Kindheit 
und  aus  der  Passionsgeschichte  des  Heilandes  unter  Spitzbögen  und  in  steifer 
aber  fester  Zeichnung  dargestellt  sind^).  Endlich  können  wir  hieher  noch 
die  Malereien  rechnen,  mit  welchen  die  Thüren  eines  Schrankes  in  der 
Kathedrale  von  Noyon  verziert  sind*);  einfache  Figuren  auf  gemustertem 
Grunde  vom  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  ohne  erheblichen  Kunst- 
werth,  wohl  aber  bei  der  Seltenheit  solcher  Möbeln  aus  dieser  Epoche  als 
ein  Beispiel  ihrer  Ausstattung  merkwürdig. 

Wichtiger  waren  mehrere  andere  Zweige  der  zeichnenden  Kunst,  nament- 
lich das  Graviren  in  Metall  und  die  Teppichstickerei.  Schon  Theophilus 
giebt  ausführliche  Anleitung  zum  Graviren;  er  beschreibt  die  Instrumente, 
durch  welche  man  Figuren,  Vögel,  Thiere  und  Blumen  in  dieser  Weise  dar- 
stellen und  demnächst  durch  farbige  Ausfüllung  der  Umrisse  als  Nigelluni 
anschaulich  machen  könne.  Meistens  diente  diese  Technik  nebst  der  mit 
ihr  verbundenen  Emailmalerei  und  in  Verbindung  mit  der  Plastik  zur  Aus- 
stattung von  Kirchengeräthen ,  in  welcher  Beziehung  ich  weiter  unten  auf 
sie  zurückkommen  muss.  Indessen  wurde  sie  doch  auch  schon  auf  grösse- 
ren Tafeln,  zu  Altarvorsätzen  oder  ähnlichen  Zwecken,  oder  gar  zu  Grab- 
platten verwendet.  Die  meisten  solcher  gravirten  Grabplatten  stammen 
zwar  erst  aus  dem  vierzehnten  Jahrhundert,  indessen  kamen  sie  im  west- 
lichen Frankreich  schon  früher  vor,  und  auch  in  Deutschland  beweist  die 
des  Bischofs  Yvo  in  St.  Andreas  zu  Verden,  dass  man  sich  schon  in  der 
Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  an  eine  so  grosse  Arbeit  wagte. 

Häufiger  war  der  Gebrauch  der  Teppiche,  welche  theils  als  Dorsalia 
die  Rücklehnen  der  Chorstühle  bedeckten,  theils  an  Festtagen  die  Wände 


1)  Kugler,  Gesch.  d.  Malerei,  zweite  Ausg.  I,  167,  und  D.  Kunstblatt  1854,  S.  41. 

2)  Waagen,  Kunstwerke  und  Künstler  in  Deutschland  I,  310.  Dagegen  dürfte  das 
(überdies  sehr  übermalte)  Altarbild  in  der  Jakobskirche  zu  Niirnberg  (daselbst  S.  264) 
schwerlich  schon  in  das  dreizehnte  Jahrhundert  gehören:  die  undeutliche,  in  Ziffern 
geschriebene  Jalireszahl  scheint  bei  einer  Restauration  im  15.  Jahrh.  hinzugefügt. 

3)  Waagen,  im  D.  Kunstbl.  1850,  S.  148. 

4)  Vgl.  Vitet,  Descr.  de  la  Cath.  de  Noyon-,  Didron,  Annales  archeol.  IV,  369, 
und  Viollet-le-Duc,  Dictionaire  du  mobilier  I,  p.  10,  wo  auch  eine  farbige  Abbildung 
gegeben  ist.  Die  Malereien  sind  übrigens  nicht  unmittelbar  auf  dem  Holze ,  sondern 
auf  einer  an  demselben  befestigten  Leinwand  ausgeführt. 


Teppiche.  537 

der  Kirchen  schraückteu.  Verzeichnisse  aus  dem  zwölften  Jalirhundert  und 
der  grosse  Vorrath,  welcher  trotz  aller  Beraubungen  und  Zerstörungen  sich 
noch  jetzt  in  einzelnen  Kirchen  erhalten  hat^),  können  uns  eine  Vorstellung 
von  ihrer  vielfachen  Anwendung  geben.  Die  feinsten  und  elegantesten  Ar- 
beiten dieser  Art  waren  im  Orient ,  im  byzantinischen  Reiche  oder  in  muha- 
medanischen  Gegenden,  verfertigt  und  durch  den  Handel  hierher  gebracht, 
und  enthielten  zuweilen  historische  Darstellungen,  meistens  aber  mannigfache 
Muster  mit  Thiergestalten  und  Pflanzengewinden  2);  der  Geschmack  daran 
hatte  sich  so  sehr  im  Abendlande  eingebürgert,  dass  noch  im  dreizehnten 
Jahrhundert  in  Paris  zwei  besondere  Innungen  von  Teppichwebern  bestan- 
•den,  von  denen  die  eine  vornehmere,  saracenische ,  die  andere  nur  einhei- 
mische Teppiche  lieferte^).  Aber  schon  längst  hatten  sich  auch  die  Klöster 
mit  dieser  Art  von  Arbeit  beschäftigt  und  nach  dem  vorherrschenden  Triebe 
der  Zeit  sie  auch  zu  historischen  Darstellungen  benutzt.  Vor  allem  geschah 
dies  in  den  Nonnenklöstern,  denen  es  die  ihnen  am  Meisten  zusagende  Be- 
schäftigung gewährte,  aber  auch  von  Mönchen  wurde  es  mit  strenger  Tech- 
nik betrieben,  wobei  man  zum  Theil  besonders  dafür  ausgebildete  Arbeiter 
(tapetiarii)  hatte,  w^elche  sich  an  die  ausgedehntesten  Gegenstände  wagten, 
so  dass  z.  B.  ein  Teppich  im  Kloster  Wessobrunn  die  apokalyptischen  Visio- 
nen enthielt*). 

Ich  begnüge  mich  hier ,  ein  Werk  dieses  Nebenzweiges  der  zeichnen- 
pen  Kunst  anzuführen,  weil  dasselbe  für  die  Richtung  des  deutseben  Kunst- 
sinnes bezeichnend  ist:   die    in  dem  Schatze  der  Stifskirche  von  Quedlin- 


^)  Vgl.  über  die  Teppiche  im  Dome  zu  Mainz  in  der  Mitte  des  zwölften  J;thr- 
huuderts,  Kugler  Gesch.  d.  Mal.,  2.  Ausg.  1,  171.  —  Im  Dome  zu  Halberstadt  (Kngler 
kl.  Sehr.  I,  131)  und  in  der  Lorenzkirche  zu  Nürnberg  finden  sich  jetzt  noch  bedeu- 
tende Sammlungen  von  Teppichen,  von  denen  einzelne  dort  wohl  aus  dem  elften  oder 
zwölften,  hier  aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert  stammen. 

-)  Die  Literatur  über  diesen  Gegenstand  (vgl.  Bd.  IV,  S.  246)  ist  durcii  die  Mit- 
theilungen über  die  ,,t§lofFes  historiees"  von  Cahier  und  Martin  in  den  Melanges  d'Ar- 
cheologie  (Vol.  II,  p.  101  und  233  ff.,  III,  116  und  289)  und  besonders  durch  die 
auf  37  Blättern  gegebenen  höchst  vortrefflichen  farbigen  Abbildungen  ,  so  wie  durch 
das  wichtige  Werk  von  Francisque  Michel,  Recherches  sur  le  commerce,  la  fabrication 
et  l'usage*  des  etoffes  de  soie ,  d'or  et  d'argent  et  autres  tissus  precieux  en  occident, 
principalement  en  France,  pendant  le  moyen  äge,  Vol.  I,  Paris  1852,  bedeutend  be- 
reichert. 

3)  Depping  a.  a.  0.,  S.  126.  Die  „Tapissiers  de  tapis  sarrasinois"  sind  ,  wie  die 
Peintres  ymagiers,  vom  Wachtdienste  befreit,  weil  sie,  wie  wiederum  ausdrücklich  an- 
geführt ist,  nur  für  die  Kirche  und  für  hohe  Personen,  für  den  König,  Grafen  und 
Edelleute ,  arbeiteten.  Den  „Tapissiers  de  tapiz  nostrez"  ist  solche  Gunst  nicht  ver- 
liehen. 

■*)  S.  die  näheren  Anfülu-ungen  und  Belege  bei  Fiorillo,  Deutschland  I,  298. 


gog  Zeiclmeiide  Künste. 

bürg  aufbewahrten,  wahrscheinlich  unter  der  Leitung  einer  um  1200  leben- 
den Aebtissin  Agnes  gewirkten  Teppiche^)  mit  Darstellungen  aus  der  Ver- 
mählung des  Mercurius  mit  der  Philologie  [nach  dem  schon  früher  erwähn- 
ten Werke  des  Marcianus  Capeila.  Der  Gegenstand  war  noch  aus  den 
klassischen  Bestrebungen  der  Ottonenzeit  her  beliebt  und  schon  damals  auf 
Teppichen  behandelt-),  vielleicht  hatte  daher  der  Zeichner  ein  älteres  Vor- 
bild, aus  dem  er  das  Kostüm  entlehnte;  aber  nicht  bloss  dieses,  sondern  die 
ganze  Auffassung  und  Haltung  verräth  Verständniss  und  Sinn  für  die  Schön- 
heit der  antiken  Kunst.  Die  Zeichnung  des  Nackten  ist  frei,  richtig  und 
massig,  der  Faltenwurf  einfach  und  entsprechend,  die  Gebehrden  sind  an- 
muthig  und  würdig,  einige  Gestalten  von  wahrhaft  überraschender  und  aus- 
gezeichneter Schönheit.  Besonders  gilt  dies  von  zwei  Stücken  dieses  Tep- 
pichs, von  dem,  auf  welchem  sich  Mercur  selbst  und  unter  anderen  Gestal- 
ten auch  die  Psyche  (hier  Sichem  genannt),  und  von  dem,  worauf  sich  Pudi- 
citia,  Fortitudo  und  Prudentia  befinden,  während  die  anderen  zu  demselben 
Teppich  gehörigen  Stücke  jweit  geringer  und  offenbar  nach  Vorzeichnungen 
eines  anderen  Meisters  gearbeitet  sind.  Die  Behandlung  ist  auch  dadurch 
interessant  und  lehrreich,  dass  sie  zeigt,  wie  diese  vorübergehende  Belebung 
der  antiken  Form  dazu  dienen  konnte,  den  Uebergang  von  der  byzantinisiren- 
den  Weise  zu  dem  späteren,  am  Ende  der  Epoche  aufkommenden  Style  zu 
bilden.  Indem  nämlich  der  Künstler  die  unnatürliche  und  unerfreuliche 
Trockenheit  jenes  älteren  Styles  vermeiden,  frischeres  und  volleres  Leben 
geben  will,  indem  er  hierbei  die  Antike  im  Auge  hat,  geht  er  doch  schon 
über  das  Maass  derselben  hinaus,  und  streift  an  jene  breitere,  sinnlichere 
Form,  die  in  der  Sculptur  des  gothischen  Styles  ihre  Ausbildung  erhielt. 


Frankreich  und  England  sind  an  Ueberresten  der  Malerei  aus  dieser 
Epoche  viel  ärmer  als  Deutschland,  vielleicht  nur  aus  dem  Grunde,  dass 
in  beiden  Ländern  der  spätere  Zeitgeschmack  und  die  Stürme  der  Religions- 
kriege und  der  Revolution  gründlicher  zerstörend  gewirkt  haben.  Wenig- 
stens belehren  uns  in  Beziehung  auf  England  eine  Reihe  urkundlicher 
Nachrichten,  dass  die  Wandmalerei  hier  unter  der  Regierung  Heinrich's  III. 


^)  Vgl.  Kugler  und  Ranke ,  Beschreibung  der  Schlosskirche  zu  Quedlinburg, 
S.  147  und  S.  75,  auch  (mit  einer  Abbildung)  in  Kugler's  kl.  Sehr,  I,  635.  Eine 
andere  Abbildung  in  den  Kunst  -  Denkmälern  in  Deutschland ,  5.  Lief.  (Schweinfurt 
1845). 

2)  In  Ekkehard's  Casus  Sti.  Galli  (Pertz  Monumenta,  Vol.  II)  wird  erzählt,  dass 
die  Herzogin  Hedwig  im  zehnten  Jahrhundert  dem  Kloster  einen  Teppich  mit  demsel- 
ben Gegenstande  geschenkt  habe. 


England.  539 

(1216 — 1272)  blühete  und  in  grossem  Umfange  betrieben  wurde.  Heinrich 
war  ein  schwacher,  unzuverlässiger  Fürst,  aber  der  Kirche  ergeben  und  ein 
so  eifriger  Gönner  und  Beförderer  der  Kunst,  wie  ihn  das  Mittelalter  bisher 
noch  nicht  gehabt  hatte.  Er  hatte  beständig  in  äusseren  Kriegen  und  mit 
inneren  Unruhen  zu  kämpfen  und  war,  wie  die  meisten  Fürsten  seiner  Zeit, 
fast  immer  in  Geldverlegenheit.  Aber  gerade  jetzt  nahm  der  Handel  der 
britischen  Insel  einen  ausserordentlichen  Aufschwung,  neueutdeckte  Gold-, 
Silber-  und  Kupferminen  vermehrten  den  Nationalreichthum  in  unerwarteter 
Weise ^),  und  diese  Gunst  der  Umstände  machte  es  ihm  möglich,  die  Mittel 
für  die  Befriedigung  seiner  Kunstliebe  von  seinem  Volke  zu  erlangen.  Eine 
Reihe  von  Befehlen,  die  in  den  Archiven  erhalten  sind-),  giebt  uns  eine  An- 
schauung von  dem  Umfange  dieser  königlichen  Kunstpflege.  Gleich  nach 
seiner  Grossjährigkeit,  im  zwölften  Jahre  seiner  Regierung,  finden  wir  den 
ersten  Auftrag  zur  Ausmalung  eines  königlichen  Zimmers,  in  späteren  Jah- 
ren, besonders  von  etwa  1248  an,  werden  die  Bestellungen  häufiger  und 
umfassender.  Die  meisten  betreffen  Kapellen  und  Gemächer  des  Königs 
und  der  Königin  in  den  Schlössern  zu  Winchester,  Westminster  und  Wiud- 
sor,  im  Tower  zu  London  und  in  Guildford,  doch  wird  auch  die  von  Heinrich 
neuerbaute  Kirche  der  Westminsterabtei  und  das  Kloster  zu  Glastonbury 
reichlich  bedacht.  Die  Aufträge  sind  zum  Theil  sehr  unbestimmt;  des  Königs 
Gemach  in  Winchester  soll  mit  denselben  Geschichten,  welche  früher  darin 
dargestellt  waren,  ein  anderes"  Zimmer  daselbst  mit  Geschichten  des  alten 
und  neuen  Testamentes,  die  nicht  näher  bezeichnet  sind,  ausgemalt  werden^). 
Später  werden  wenigstens  die  Gegenstände  genauer  angegeben,  einige  Male 
auch  mit  näherer  Aeusserung  über  die  Art  der  Ausführung.  Häufig  wird 
die  Anwendung  guter  Farben  (bonis  oder  optimis  coloribus)  oder  eine  wür- 
dige Ausführung  (uti  melius  et  decentius  fieri  potest)  anempfohlen,  bei  zwei 
Cherubim  sogar  ausdrücklich  vorgeschrieben,  dass  sie  heiteren  und  freund- 
lichen Antlitzes  sein  sollen  (cum  hilari  vultu  et  'jocoso).  Die  Gegenstände 
sind  meist,  auch  in  den  Wohnzimmern,  religiösen  Inhalts;  doch  kommt  auch 


1)  Siehe  darüber  Lappenberg's  von  Pauli  fortgesetzte  Geschichte  von  England,  III, 
S.  843  ff. 

-)  Diese  Urkunden  von  Vertue  gesammelt  und  aus  seinen  Notizen  bei  Walpole, 
in  den  Anecdotes  of  painting,  iheils  in  Vol.  I  der  ersten,  theils  iu  der  späteren  Pracht- 
ausgabe angeführt,  sind  bei  Fiorillo,  Gesch.  d.  z.  K.  Bd.  V,  S.  91  tf.  gut  zusammen- 
gestellt. Einige  Nachträge  dazu  liefert  noch  Pauli  a.  a.  0.  Dass  ein  ßilderhandel 
existirte ,  wird  durch  eine  interessante  Notiz  bewiesen.  Im  Jahr  1233  befiehlt  der 
König ,  Bilder  des  heiligen  Johannes  des  Evangelisten  und  Stephanus  machen  zu 
lassen  ,  oder ,  wenn  solche  vorhanden  ,  zu  kaufen  (vel  emi  si  prompte  invenianlur), 
Eastlake,  materials  for  the  history  of  oil  painting,  S.  560. 

3)  Fiorillo  a.  a.  0.  S.  91  und  94. 


g40  Englisclie  Wandmalerei. 

die  Darstellung  eines  Spieles  oder  Wahlspruches '),  die  von  Sceuen  aus  der 
Historie  von  Antiochien ,  einer  damals  beliebten  Romanzensammlung  über 
den  Kreuzzug  König  Richard's-),  und  endlich  die  Geschichte  Alexander's 
vor.  Besonders  berühmt  war  das  im  Jahre  1834  durch  Brand  zerstörte  ge- 
malte Zimmer  („Painted  Chamber")  im  Palast  von  Weslminster,  des  unter 
Heinrich  HI,  seinen  Schmuck  erhalten  hatte.  Der  Saal  war  80  Fuss  lang, 
26  Fussbreitund  31  Fuss  hoch.  Die  Malereien  waren  später  durch  Teppiche 
aus  der  Zeit  Carls  K.  bedeckt  und  wurden  est  im  Jahre  1800  bei  Gelegen- 
heit einer  Herstellung  wieder  aufgefunden^).  Die  Befehle,  welche  sich  auf 
künstlerische  Arbeiten  beziehen,  sind  meistens  an  die  gewöhnlichen  Beamten 
des  Königs,  an  die  Vicegrafen,  Sheriffs,  Kastellane  oder  an  den  Schatzmeister 
gerichtet,  und  bezeichnen  keinen  bestimmten  Maler,  so  dass  die  Wahl  des- 
selben und  die  weitere  Anordnung  der  Malereien  anscheinend  dem  Beamten 
überlassen  war.  Doch  kommen  auch  besondere  Aufseher  der  Arbeiten  vor, 
an  welche  die  Zahlungen  geleistet  werden  sollen  und  denen  die  künstlerische 
Leitung  eher  anvertraut  werden  konnte.  So  anfangs  der  Goldschmidt  Odo, 
wie  man  vermuthet  hat  ein  Deutscher,  dann  dessen  Sohn  Edward,  welcher 
Abt  von  Westminster  geworden  war.  Bei  den  Malereien  aus  der  Historia 
Antiochiae  wird  dieser  noch  weiter  an  Thomas  Espervir  verwiesen,  der  ihm 
das  Nähere  sagen  soll,  und  also  mündliche  Instructionen  des  Königs  haben 
musste.  Vom  Jahre  1250  an  finden  sich  dann  auch  namhaft  gemachte 
Maler,'  mit  denen  der  König  selbst  Rücksprache  genommen  hatte  und  sich 
darauf  in  seinem  Befehle  bezieht  (sicut  rex  ei  injunxit),  offenbar  um  den 
Malern  dem  Beamten  gegenüber  grössere  Freiheit  zu  gewähren.  Diese  Maler 
sind  gleichzeitig  ein  Bruder  Wilhelm,  Mönch  zu  Westminster,  ein  anderer 
Willielmus,  der  den  Beinamen  Florentinus  hat*),   und  endlich  ein  Magister 


1)  Bei  Walpole  a.  a,  0.  S.  G  ,  aus  dem  Jahre  20  der  Regierung.  Der  Auftrag 
lautet  wörtlich  dahin,  das  Spiel  (ludum):  Wer  nicht  giebt,  was  er  hat,  erlangt  nicht 
was  er  wünscht,  zu  malen;  sehr  wahrscheinlich  sagte  aber  der  Spruch  dem  freigebigen 
Könige  zn,  so  dass  er  ihn  als  seine  Devise  behandelte. 

2)  Wie  es  scheint,  wurden  dabei  Miniaturen  benutzt,  wenigstens  lässt  sich  der 
König  einige  Zeit  vorher  ,,librum  magnum  Gallico  idiomate  scriptum,  in  quo  continen- 
tur  gesta  Antiochiae  et  regum  aliorum"   übersenden.     Fiorilio  a,  a.  0.  S.  99  und  103. 

^)  Eme  Beschreibung  des  Saals  haben  zwei  Franziskanermönche  aus  Irland  ge- 
liefert, welche  auf  einer  Reise  nach  Jerusalem  im  Jahr  1322  auch  London  besuchten 
(Manuscript  jetzt  in  der  Bibliothek  von  Benet's  College  in  Cambridge).  Nach  ihnen 
waren  darin  alte  Kriegsgeschichten  der  Bibel  „ineffabiliter  depictae".  In  der  That 
war  dort  die  Geschichte  der  Makabäer ,  dann  aber  auch  die  Eduards  des  Bekenners 
dargestellt.     Vgl  Brailey  and  Britton,  History  of  Westminster  Palace  S.  419. 

•*)  Walpole,  Cap.  24,  und  nach  ihm  Fiorilio  (S.  100)  halten  beide  Wilhelm,  den 
Möncli  von  Westminster  und  Wilhelm  den  Florentiner,  für  dieselbe  Person;  wohl  mit 
Unrecht,  da  beide  Maler  fast  gleichzeitig  (im  Jahre  44  der  Regierung  des  Königs)  mit 


Friiiizösische  Wandmalerei.  541 

Walter.  Alle  drei  erbalten  die  Bezeichnung  als  Maler  des  Königs,  und 
jener  Wilhelm  von  Florenz  wurde  auch  später  zum  Aufseher  der  Arbeiten  im 
Schlosse  zu  Guildford  ernannt.  Meistens  handelt  es  sich  um  Wandmalereien^ 
doch  ist  anch  die  Tafelmalerei  nicht  unberücksichtigt;  die  Geschichten  der 
Heiligen  Nicolaus  und  Catharina  und  die  Jungfrau  Maria  sollen  für  ver- 
schiedene Stellen  der  Wcstminsterkirche  auf  Tafeln  gemalt  werden^).  Von 
dem  künstlerischen  Werthe  dieser  Arbeiten  oder  anderer  englischer  Male- 
reien aus  dieser  Epoche  können  wir  freilich  nicht  näher  urtheilen,  da  es  an 
erheblichen  Ueberresten  gänzlich  fehlt-),  indessen  zeigt  die  veränderte  Form 
der  Aufträge,  die  Namhaftmachung  der  Maler  und  die  Zuziehung  eines 
Italieners  die  wachsende  Theilnahme  des  Königs,  auch  geben  sowohl  die 
Sculpturen ,  die  wir  weiter  unten  kennen  lernen  werden ,  als  die  oben  er- 
wähnten Miniaturen  ein  Zeugniss  von  bedeutenden,  Fortschritten  des  Kuust- 
sinnes,  die  sich  auch  in  der  Wand-  und  Tafelmalerei  geäussert  haben  müssen. 
In  Frankreich  ist  äusserst  Weniges  erhalten.  Aus  dem  zwölften 
Jahrhundert  stammen  ihrem  Style  nach  die  Gestalten  Christi  und  einiger 
Heiligen  an  den  Wänden  der  uralten  Kirche  St.  Jean  in  Poitiers^),  aus 


Malereien  an  verschiedenen  Orten,  der  eine  in  Windsor,  der  andere  in  Guildford  be- 
auftragt wurden.  Ueberdies  wird  der  Florentiner  auch  später  niemals  als  Frater  be- 
zeichnet, was  bei  einem  Mönche  nicht  leicht  unterblieben  wäre,  und  endlich  mag  die 
stets  wiederholte,  umständliche  Benennung  des  Frater  Wilhelmus  als  Mönch  von  West- 
minster  gerade  darauf  deuten  ,  dass  man  ihn  von  jenem  anderen  gleichnamigen  Maler 
unterscheiden  wollte.  Eher  wäre  denkbar,  dass  jenerFrater  Wilhelmus  natione  Anglus, 
S.  Francisci  socius  secundus,  den  wir  als  den  Maler  einer  Miniatur  in  den  Schriften 
des  Math.  Parisiensis  kennen  'gelernt  haben  ,  mit  dem  Mönch  von  Westminster  iden- 
tisch ist.  Die  Verschiedenheit  jener  beiden  William  ist  bewiesen  bei  John  Gage 
Rokewode,  Account  of  the  Painted  chamber,  in  ,,Vetusta  Monumenta ,  London  1842, 
namentlich  dadurch,  dass  Wilhelm  der  Florentiner  täglich  nur  6  Denare,  William  von 
Westminster  aber  2  Schillinge  erhält. 

1)  Fiorillo  a.  a.  0.  S,  93  und  97.  Die  Anweisung  von  drei  Eichen  an  den  Sa- 
cristan  von  Glastonbury  „ad  imagines  inde  faciendas  et  pouecdas  in  ecclesia  sua"  ist 
gewiss  nicht  (wie  Fiorillo  a.  a.  0.  annimmt)  auf  Gemäldetafeln,  sondern  auf  plastische 
Arbeilen  zu  beziehen. 

2)  In  der  Galilaea  der  Kathedrale  von  Durham  und  im  Chore  der  Wcstminster- 
kirche einige,  jedoch  kaum  noch  kenntliche  Figuren.  Auch  die  in  den  Vetusta  monu- 
menta, Vol.  III,  tab.  3,  mitgetheilten  Abbildungen  der  wahrscheinlich  um  1280  in  der 
Magdalenenkapelle  bei  Winchester  gefertigten  Malereien  sind  unbedeutend.  Eine  voll- 
kommene Serie  ist  1858  in  Chalgrave  Church,  Oxfordshire,  aufgedeckt  worden,  rührt 
aber  wohl  kaum  noch  aus  dem  XIII.  Jahrhundert  her.  Der  geringe  Sinn  für  decora- 
tive  Anordnung  und  Theilung  der  Wandflüchen  ist  hier  auffallend*  Archaeologia,  vol. 
XXXVIII,  S.  421,  mit  Abbildungen. 

")  Merimee,  Voyage  dans  l'Ouest,  p.  380.  Publicirt  in  den  Archives  de  la  comm. 
des  mon.  bist. 


Py^2  Französische  niid  niederländische  Wandmalerei. 

dem  dreizelinten  die  umfangreichen,  aber  sehr  zerstörten  "Wandmalereien 
in  der  Krypta  der  Kathedrale  von  Chartres,  geringere  Ueberreste  in  der 
Kirche  zu  Fretigny  derselben  Diocese,  in  der  Dreifaltigkeitskapelle  von 
St.  Emilion  zu  Bordeaux,  in  einer  Kapelle  der  Kathedrale  von  Autun, 
ein  Bild  der  Jungfrau  über  dem  Portale  einer  alten  Kapelle  im  Dome  zu 
Rh  ei  ms.  Vielleicht  gehören  auch  die  Gemälde  im  Chore  der  kleinen  Wall- 
fahrtskirche Notre-Dame-de-Presles  in  der  Champagne;  der  Heiland 
als  "Weltrichter  mit  Heiligen  und  Engeln,  noch  in  diese  Epoche^).  Unter 
den  Wandmalereien  in  der  Kirche  S.  Philibert  in  Tournus  rühren  nur 
einige  Fragmente  in  der  Krypta  und  die  Bemalung  der  Gurtbögen  mit  Or- 
namenten und  Thierbildungen  aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert  her,  und 
jedenfalls  war  die  Kirche  nicht  ganz,  sondern  nur  stellenweise  bemalt^).  In 
Lothringen  weist  das  Refectorium  der  Templer  in  Metz,  ein  zweischiflfi- 
ger  Saal,  heut  ein  Magazin  der  Citadelle,  Malereien  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts auf^),  in  Belgien  sind  solche  in  den  Kreuzschiffen  der  Kathedrale 
von  Tournay  entdeckt  worden.  Ein  Bild  scheint  eine  Darstellung  des 
himmlischen  Jerusalems  zu  sein,  eine  Gruppe  von  Engeln,  unter  welchen 
■ —  laut  Beischrift  —  Michael  und  Gabriel  in  reichen  Tuniken;  in  der  Ferne 
Mauern  und  Thürme.  Ein  zweites  enthält  eine  Scene  aus  der  Legende  der 
heiligen  Margaretha,  die,  mit  der  Spindel  im  Arme  Schafe  hütend,  von  dem 
Präfecten  Olybrius  von  Antiochien  erblickt  und  weggeführt  wird*). 

Die  geringe  Zahl  dieser  Ueberreste  lässt  sich  nicht  bloss  dadurch  er- 
klären, dass  die  Richtung,  welche  die  Architektur  seit  dem  Anfange  der 
Epoche  nahm,  der  Wandmalerei  in  den  Kirchen  die  Fläche  entzog.  Denn 
in  Kapitelsälen,  Kreuzgängen  und  Schlössern  blieb  noch  Raum  genug, 
und  doch  haben  wenigstens  die  französischen  Archäologen  uns  keine  Nach- 
richten gegeben,  welche,  wie  in  England,  auf  grössere  Unternehmungen  dieser 


1)  Org-an  für  christl.  Kunst,  1855,  S.  288.  Der  Berichterstatter  findet  die  Male- 
reien denen  von  Ramersdorf  ähnlich,  welche  nach  meiner  Meinung  erst  dem  vierzehn- 
ten Jahrhundert  zuzurechnen  sind. 

2)  Vgl.  Archives  de  la  comm.  des  mon.  hist.,  Text,  S.  13.  Andere  dort  vorhan- 
dene "Wandbilder,  z.  B.  das  in  den  Archives  publicirte  jüngste  Gericht,  gehören  erst 
dem  vierzehnten  Jahrhundert  an. 

3)  VioUet-le-Duc ,  dict.  de  l'archit.  VII,  S,  94  ff.^,  Revue  archeologique ,  B.  X, 
1853. 

*)  Näher  beschrieben  ,  mit  Abbildungen  ,  durch  ''Abbe  Voisin  im  Bulletin  des 
commissions  royales  d'art  et  d'archeologie,  1865.  Vgl.  Michiels,  2.  Aufl.  II,  S.  401. 
—  Die  älteren  romanischen  Partien  zeigen  auch  noch  Spuren  malerischer  Aus- 
schmückung. Auch  im  Höpital  de  la  Biloque  in  Gent  und  im  Schlosse  Nieuport  sind 
Malereien  entdeckt  worden,  ziemlich  grob,  mit  schwarzen  Umrissen,  ohne  wesentliches 
Interesse.     Michiels,  2.  Aufl.,  I,  S.  412. 


Glasmalerei.  543 

Art  schliessen  lassen.  Man  darf  daher  wohl  annehmen,  dass  die  Wand- 
malerei vernachlässigt  war.  Auch  ist  dies  sehr  wohl  erklärlich.  Die  raschen 
Fortschritte  der  Architektur,  die  Begeisterung,  mit  der  sie  verfolgt  wurden, 
nahmen  die  künstlerischen  Gemüther  so  sehr  in  Anspruch,  dass  eine  Kunst, 
welche  ausserhalb  dieser  Strömung  lag,  keine  grosse  Anziehungskraft  üben 
konnte.  Dies  musste  um  so  mehr  die  Wandmalerei  treffen,  als  inzwischen 
eine  andere  Art  der  Malerei  aufgekommen  war,  die  mit  dem  gothischen 
Style  so  enge  zusammenhing,  dass  sie  für  ihn  fast  eine  noth wendige  Ergän- 
zung,  er  für  sie  wenigstens  die  natürliche  Einrahmung  bildete. 

Ich  spreche  von  der  Glasmalerei.  Allerdings  war  sie  nicht  eine 
neue,  dem  gothischen  Style  gleichzeitige  Erfindung,  vielmehr  hatte  sie  bei 
seinem  Entstehen  schon  eine  gewisse  Ausbildung  erlangt.  Aber  er  ergriff 
sie  mit  Eifer  und  wandte  sie  in  ausgedehnterem  Maasse  an. 

Ihre  Erfindung  fällt  vielmehr  in  eine  ziemlich  frühe  Zeit  und  ist  wie 
die  ^meisten  Erfindungen  in  ein  gewisses  Dunkel  gehüllt.  Wie  es  scheint, 
wurde  sie  durch  die  mangelhafte  Technik  der  Glasfabrikation ,  welche  von 
den  Römern  auf  das  Mittelalter  übergegangen  war,  erleichtert  und  befördert. 
Farbloses  Glas  war  schon  bei  den  Kömern  seltener  und  theuerer  gewesen, 
als  farbiges,  auch  war  die  Zubereitung  desselben  so  unvollkommen,  dass  es, 
wo  wir  es  an  antiken  Geräthen  finden,  meist  einen  blauen  oder  grünen  An- 
flug hat.  Im  [früheren  Mittelalter  verstand  man  noch  w^eniger  es  zu  berei- 
ten und  kannte  nur  farbiges  dunkles  Glas,  so  dass  noch  ein  Dichter  des 
zwölften  Jahrhnnderts  bei  der  Schilderung  des  Sardonyx  den  Vergleich 
brauchen  konnte,  das  er  „schwarz  wie  Glas"  sei.  Glasfenster  waren  den 
Römern  und  ebenso  den  Erbauern  der  alten  christlichen  Basiliken  unbe- 
kannt gewesen;  erst  seit  dem  vierten  Jahrhundert  werden  sie  erwähnt,  und 
zwar  immer  als  [etwas  Kostbares  und  Seltenes.  Das  Bedürfniss  der  nordi- 
schen Gegenden,  wo  man  nicht  einmal  wie  in  Italien  ihre  Stelle  durch  durch- 
scheinenden Marmor  oder  Alabaster  ersetzen  konnte,  begünstigte  ihre  Ver- 
breitung; allein  man  war  in  der  Bereitung  grösserer  Tafeln  eben  so  uner- 
fahren, wie  in  der  des  farblosen  Glases,  so  dass  diese  Fenster  nur  aus  ver- 
schiedenfarbigen kleinen  Stücken  bestanden.  Daher  war  es  denn  fast  eine 
Nothwendigkeit,  dass  man  diese  Vielfarbigkeit  zu  regeln  und  eine  Art  von 
musivischem  Muster  hervorzubringen  suchte,  was  dann  wieder  bei  dem  vor- 
herrschenden Drange  nach  Darstellungen  heiliger  Gegenstände  den  Wunsch 
anregen  musste,  in  gleicher  Weise  Figuren  zusammensetzen  zu  können^}. 


^)  Vgl.  ausser  den  Bd.  IV  S.  243  angeführten  Werken:  Abbe  Texier,  Hist.  de 
la  peinture  sur  verre  en  Limousin;  Marcliand,  Verrieres  de  la  catli.  de  Tours,  Hucher, 
Vitraux  de  la  cath.  de  Mods;    Capronnier,    Vitraux  de  la  cath.  de  Tournai,    mit  Text 


P\AA  Glasmalerei. 

Indessen  war  dieser  letzte  Schritt  keineswegs  leicht,  indem  man  denn 
doch  im  Besitze  wenigstens  einer  mit  dem  Glase  verschmelzbaren  Farbe 
sein  musste,  um  die  Gesichtszüge  und  andere  Details  hineinzeichnen  zu 
können. 

Wo  diese  wichtige  Erfindung  gemacht  ist,  steht  nicht  völlig  fest.  Jeden- 
falls weder  in  England,  wo  man  sie  erst  um  1200  nachweisen  kann,  und 
wo  die  Glasfabrikation  auch  später  noch  so  zurückblieb,  dass  man  farbige 
Gläser  aus  Ronen  verschrieb^),  noch  in  Italien,  wo  sie  wahrscheinlich  nicht 
vor  dem  vierzehnten  Jahrhundert  in  Anwendung  kam-).  Die  ältesten  sol- 
chen Fenslerschmuck  erwähnenden  Nachrichten  sind  vom  Ende  des  zehnten 
Jahrhunderts  und  weisen  auf  Deutschland,  Lothringen  und  das  östliche 
Frankreich.  Der  Danksagungsbrief  des  Abtes  von  Tegernsee  in  Bayern  an 
den  Stifter  des  Klosters,  in  welchem  er  den  Farbenreichthum  und  die 
Malereien  der  neuen  Fenster  rühmt,  lässt  es  zwar  zweifelhaft,  ob  dabei  an 
wirkliche  Gemälde,  oder  nur  an  Muster,  welche  durch  blosse  Zusammen- 
setzung farbiger  Glasstücke  gebildet  waren,  zu  denken  ist 3).  Dagegen 
enthielten  die  Fenster  der  Klosterkirche  von  St.  Remy  in  Rheims,   welche 


von  Decamps  und  le  Maisire  d'Austaing;  E.  Didron,  Histoire  de  la  peinture  sur  verre 
en  Europe ,  Annales  archeol.  B.  XXIII;  E.  Levy ,  Histoire  de  la  peinture  sur  verre 
en  Europe,  et  particulierement  en  Belgique,  Brüssel  1854 — 1860.  Viollet-le-Duc,  Dict. 
IX,  373,  s.  v.  vitrail. 

1)  Fiorillo,  V,  135;  vgl.  mit  Gessert,  Gesch.  der  Glasmalerei,  S.  65. 

2)  Wenn  Leo  von  Ostia  von  dem  Abt  Desiderius  von  Monte  Casino  unter  anderem 
rühmt:  Illud  (den  Kapitelsaal)  vitreis  fenestris  consternens  colorum  varietate  depinxit, 
spricht  er  offenbar  nicht  (wie  Lasteyrie,  Histoire  de  la  peinture  sur  verre,  annimmt) 
von  wirklichen  Glasmalereien  ,  sondern  nur  von  dem  farbigen  Scheine  ,  mit  welchem 
die  Gläser  das  Innere  des  Raumes  bemalten. 

^)  Der  Brief  des  von  983  bis  1001  dem  Kloster  vorstehenden  Abtes  Gozbert  an 
einen  nicht  näher  bekannten  Grafen  Arnold  nach  Pez  Thesaurus  Auecdotorum  Tom.  VI, 
Pars  1,  p.  122,  bei  Gessert,  a.  a.  0.  S.  25  ganz  abgedruckt,  sagt  nämlich:  Merito  pro 
vobis  Deo  supplicamus,  qui  locum  nostrum  talibus  honoribus  sublimastis,  qualibus  nee 
priscorum  tempox'ibus  comperti  sumus,  nee  nos  visuros  esse  sperabamus.  Ecclesiae 
nostrae  fenestrae  veteribus  pannis  usque  nunc  fuerunt  clausae.  Vestris  felicibus  tem- 
poribus  auricomus  sol  primum  infulsit  basilicae  nostrae  pavimenta  per  discoloria  pic- 
turarum  vitra,  cunctorumque  inspicientium  corda  pertentant  mnltiplicia  gaudia,  qui 
inter  se  mirantur  insoliti  operis  varietates.  Der  Abt  spricht  also  von  einem  unge- 
wöhnlichen Schmucke  ,  von  welchem  er  noch  nicht  einmal  durch  Erfahrung  Kenntniss 
gehabt  habe.  Indessen  kann  sich  dies ,  da  die  Ausstattung  der  Kirche  in  Tegernsee 
und  wahrscheiulich  auch  in  den  benachbarten  Klöstern  so  ärmlich  gewesen  war,  dass 
man  sich  begnügt  hatte ,  die  Fenster  mit  alten  Lappen  zu  schliessen ,  recht  wohl  auch 
auf  bloss  farbige  mosaikartige  Muster  des  Glases  bezogen  haben.  Und  eben  so  wenig 
lässt  der  Ausdruck:  discoloria  picturarum  vitra,  mit  Sicherheit  auf  Figurenmalerei 
schliessen,  vielmehr  würde  der  dankbare  und  volltönende  Worte  liebende  Abt  schwer- 
lich  eine  Anspielung   auf  die   heiligen   Gestalten  ,    wenn    die  Fenster   solche   enthalten 


Ihre  Entstehung-.  545 

der  neue  Erzbischof  Adalbcrt  stiftete,  bereits  Historien ,  so  dass  das  erste 
Beispiel  wirklicher  Glasmalerei  in  Frankreich  vorkommt ,  aber  als  Stiftung 
des  deutschen  von  Metz  hierher  berufenen,  kunstliebenden  Erzbischofs  M. 

Eine  andere  frühzeitige  Erwähnung  führt  uns  nach  Burgund ,  indem 
der  Verfasser  einer  Chronik  von  St.  Benigne  in  Dijon  bei  Erwähnung  der 
h.  Pascasia,  deren  Reliquien  hier  bewahrt  wurden,  bemerkt,  dass  das  Mar- 
tyrium derselben  auf  einem  im  Kloster  bewahrten  alten  Glasfenster  gemalt 
sei.  Hier  wird  also  von  wirklicher  Glasmalerei  gesprochen,  indessen  steht 
weder  die  Lebenszeit  des  Chronisten  noch  der  Zeitpunkt  der  Anfertigung 
des  von  ihm  erwähnten  Gemäldes  fest,  so  dass  beide  erst  in  das  zwölfte 
Jahrhundert  fallen  können-). 

Zuverlässig  ist  nur,  dass  Theophilus  die  Glasmalerei  und  zwar  ganz  in 
dem  Umfange,  wie  sie  in  dieser  Epoche  geübt  wurde,  kannte,  da  er  voll- 
ständige Anleitung  zu  ihrer  Ausführung  giebt.  Da  er  im  zwölften  Jahrhun- 
dert und  zwar  in  Deutschland  schrieb,  so  steht  dadurch  fest,  dass  damals 
diese  Kunst  hier  bekannt  war.  Allein  freilich  ist  dann  sogleich  zu  erwäh- 
nen, dass  er  in  wiederholten  Aeusserungen  in  Beziehung  auf  Farbenreich- 
thum  und  Farbenschönheit  der  Fenster  Frankreich  den  Vorzug  giebt ^),  dass 
also  diese  neue  Kunst,  wenn  in  Deutschland  erfunden,  jedenfalls  frühzeitig 
nach  Frankreich  übergegangen  sein  und  dort  einen  dankbaren  Boden  ge- 
funden haben  musste. 

Auch  haben  wir  andere  Spuren,  dass  sie  hier  frühe  verbreitet  war. 
Schon  im  elften  Jahrhundert  erhielt  das  Kloster  St.  Hubert  in  den  Arden- 
nen,  also  an  der  damaligen  Westgrenze  Deutschlands,  seine  als  schön  ge- 
rühmten Fenster  durch  einen  zu  diesem  Zwecke  aus  Rheims  berufenen 
Künstler^).     In  der  Provinz  von  Limoges,   welche  durch  die  schon  längst 


hätten,  unterdrückt  haben.  Vgl.  Gessert  und  Wackernagel  a.  a.  0.,  welche  in  dem 
Briefe  wirklich  ein  Zeugniss  für  vollständige  Glasmalerei  zu  finden  glauben,  mit  Kug- 
1er,  Gesch.  d.  Mal.  I,  174,  der  nur  den  Beweis  der  Buntfarbigkeit  darin  findet. 

1)  Vgl.  oben  IV,  S.  244.  —  Pertz,  Mouum.  Scr.  III,  p.  613. 

2)  Chron.  S.  Benign.  Divion.  bei  d'Achery,  Spicil.  tom.  II,  p.  383:  Ut  quaedam 
vitrea  antiquitus  facta  et  usque  ad  nostra  perdurans  tempora  eleganti  praemunstra- 
bat  pictura.  Die  Chronik  schiiesst  zwar  mit  dem  Jahre  1052,  allein  sie  deutet  keines- 
weges  an,  dass  der  Chronist  um  diese  Zeit  lebte,  und  noch  weniger  sagt  dieser,  wie 
Emeric  David,  Hist.  de  la  peinture  au  moyen  äge,  ed.  Jacob.,  p.  79,  annimmt,  dass 
dies  Glasgemälde  aus  der  älteren ,  durch  Karl  den  Kahlen  restaurirten  Kirche  her- 
stamme. Es  liegt  daher  gar  kein  Grund  vor,,  das  unbestimmte  „antiquitus  facta"  auf 
die  Zeit  dieses  Königs ,  oder  gar ,  wie  die  Benedictiner  von  St.  Maure  in  der  Hist. 
litt,  de  la  France  VI,  66,  und  ihnen  beistimmend  der  neuere  Herausgeber  des  Theo- 
philus, Robert  Hendiie  p.  XI  der  Vorrede,  auf  die  Karl's  des  Grossen  zu  bezieheo. 

3)  Vgl.  Bd.  IV  S.  241  und  S.  243.     Anm.  2. 

*)  Historia  Andagienis  monast.  c.  12,  bei  Marlene  ei  Durand  Amplissima  colleclio 
I,  423:    Illuminavit    quoque   oratoria   pulcherrimis  fenestris,    quodam  Rogerio  couducto 
Schnaase's  Kunstgosch.   2.  Aufl.  V.  35 


546 


Glasmalerei. 


betriebene  verwandte  Teclinik  der  Emaümalerei  dazu  befähigt  war,  hat  man 
Glasmalereien  vom  Anfange  des  zwölften  Jahrhunderts ,  wenn  auch  nur  mit 
Mustern,  nicht  mit  Figuren  gefunden^).  Im  zweiten  Viertel  des  Jahrhun- 
derts giebt  die  Regel  der  Cistercienser  vom  Jalire  1134,  indem  sie  Glas- 
gemälde in  den  Kirchen  des  Ordens  verbietet,  ein  Zeugniss,  dass  diese  schon 
sehr  verbeitet  sein  mussten-),  und  gleich  darauf,  um  1140,  wussten  die 
Mönche  der  Klöster  Bonlieu  (Creuzej  und  Obasine  (Correze)  dieser  Regel 
und  zugleich  ihrem  Geschmack  dadurch  zu  genügen,  dass  sie  die  Fenster 
ihrer  Kirchen  in  grauem  Glase  mit  Blattverschlingungen  und  Mustern  aus- 
füllten, welche  milderes  Licht  und  einen  gefälligen  Anblick  gewährten^). 
Um  dieselbe  Zeit  Hess  aber  auch  der  schon  oft  genannte  Abt  Suger  für 
seine  Kirche  zu  St.  Denis  eine  Reihe  von  gemalten  Fenstern  ausführen,  von 
denen  nach  dem  ausführlichen  Berichte  seines  Lebensbeschreibers  jedes  eine 
ziemlich  grosse  Zahl  chronologisch  oder  symbolisch  verbundener  historischer 
Gegenstände  enthielt.  Die  meisten  dieser  Fenster  sind  bei  den  späteren 
Herstellungen  der  Kirche  untergegangen,  einige  jedoch  erhalten,  welche  uns 
Auskunft  über  die  Behandlung  und  Anordnung  des  anscheinend  überreichen 
Stoffes  geben.  In  jedem  derselben  befinden  sich  nämlich  auf  blauem,  von 
rothen  Streifen  rautenförmig  durchkreuzten,  und  von  einer  helleren  Ein- 
rahmung umschlossenen  Grunde  neun  Medaillons,  drei  in  der  Spitze  des 
Bogens,  die  sechs  unteren  je  zwei  neben  einander  zwischen  den  geraden 
Fensterwänden,  jene  nur  mit  Arabesken,  diese  mit  historischen  Darstellungen. 
Die  Figuren  sind  darin  von  sehr  kleiner  Dimension  und  die  historischen 
Momente,  so  inhaltreich  sie  erscheinen,  vermöge  der  dem  Mittelalter  geläu- 
figen andeutenden  Sprache,  immer  nur  durch  wenige  Gestalten  dargestellt. 
So  enthält  das  eine  dieser  Fenster  die  Geschichte  Mosis,  darunter  auch  den 
Durchgang  durch  das  rothe  Meer,  mit  symbolischer  Deutung  auf  die  Taufe*). 
Der  Bericht  macht  ausdrücklich  geltend,  dass  Pharao's  Reiter  im  Meere  ertrin- 
ken^]; auf  dem  Bilde  sehen  wir  das  Medaillon  in  seiner  unteren  Hälfte  durch 
eine  gelb  und  roth  gefärbte  Linie  getheilt,  oberhalb  welcher  fünf  Juden  von 
Jehova  geleitet,  dessen  Haupt  im  kreuzförmigen  Nimbus  am  Scheitel  des 


ab  urbi  Remensi,  hujus  arlis  peritissimo.  Stenzel,  Goscliiclite  der  fränkischen  Kaiser  I, 
141,  und  Lasteyrie  a.  a.  0. 

1)  Caiimont,  Bulletin  monumental  XII,  441. 

-)  Art.  82:  Vitreae  albae  iiant  et  sine  crueibus  et  pioturis.     Bei  Lasteyrie  a.  a   0 
S.  44. 

^)  Texier   in  Didron's  Annales   arclieologiques  X,   81,    in  einem  Auszuge  aus  sei 
ner  Histoire  de  la  peinture  sur  verre  en  Limousin.  —  Vgl.  oben  S.  316. 

*)  Quod  baptisma  bonis,  hoc  militia  Pharaonis 
Forma  facit  similis  causaque  dissimilis. 

^)  Ubi  Pharao  cum  equitatu  suo  in  mare  demcrgilur. 


Suger  in  St.  Denis.  547 

Kreises  erscheint,  ruhig  schreiten,  während  darunter  Pharao,  das  Rad  eines 
"Wagens  auf  seinem  Gewände,  der  Kopf  eines  Pferdes  und  der  einer  zwei- 
ten menschlichen  Gestalt  genügen ,  um  den  Untergang  seines  Heeres  anzu- 
deuten. Ein  anderes  Fenster  zeigt  uns  Christus  und  die  Jungfrau  in  man- 
nigfachen mystischen  Beziehungen,  darauf  in  einem  Medaillon  auch  Suger 
selbst,  im  Mönchskleide,  aber  durch  die  Beischrift  bezeichnet,  vor  der  Jung- 
frau am  Boden  liegend^).  Ein  drittes  enthält  nur  Arabesken.  Die  Zeich- 
nung der  Figuren  ist  ziemlich  roh  und  steif,  die  Gewänder  sind  aus  winzi- 
gen Glasstücken  zusammengesetzt  und  wenig  schattirt,  die  starken  Eisen- 
stäbe^  welche  bei  der  Grösse  des  ungetheilten  Fensters  unentbehrlich  waren, 
durchschneiden  zwar  nicht  die  Medaillons,  wohl  aber  den  Grund;  aber  den- 
noch macht  das  Ganze  durch  die  überaus  klare  Anordnung  und  durch  die 
glückliche  Wahl  der  kräftigen  Farben  einen  sehr  befriedigenden  Eindruck  -). 
Suger  legte  grossen  "Werth  auf  diese  Malereien,  die  sein  Lebensbeschreiber 
Werke  von  wunderbarer  Arbeit  und  grosser  Kostbarkeit  nennt;  er  hatte  zu 
ihrer  Verfertigung  Meister  aus  verschiedenen  Nationen,  die  er  nicht  näher 
bezeichnet,  wahrscheinlich  aus  dem  Limousin  und  aus  Deutschland  versam- 
melt; er  bestellte  nach  ihrer  Vollendung  einen  eigenen  Aufseher  zu  ihrem 
Schutze  und  zu  etwanigen  Herstellungen  ■^),  aber  er  deutet  mit  keinem  Worte 
an,  dass  diese  Kunst  noch  eine  neue  sei. 

In  der  That  steht  sein  Unternehmen  auch  nicht  allein.  An  mehreren 
Orten ,  durchweg  im  westlichen  Frankreich ,  sind  historische  Glasmalereien 
erhalten,  welche  nach  dem  Style  ihrer  Zeichnung  und  übereinstimmenden 
Kachrichten  theils  älter,  theils  nicht  viel  jünger  zu  sein  scheinen.  So  in 
der  Kathedrale  St.  Maurice  in  Angers,  welche  von  1125  bis  1149  ge- 
wölbt wurde  und  wahrscheinlich  bei  dieser  Gelegenheit  ihre  älteren  Fenster 
erhielt,  welche  abgesehen  von  ihrer  minder  klaren  Anordnung,  im  Style  denen 
von  St.  Denis  völlig  gleichen  und  sich  vor  den  späteren,  sehr  eleganten  Glas- 
malereien durch  ihre  harmonische  Farbenbehandlung  günstig  auszeichnen*). 
Aehnlich  sind  andere  in  St.  Pere  in  Chartres,  Ste.  Radegonde  in  Poitiers, 
im  romanischen  Schiffe  der  Kathedrale  von  Mans.  In  St.  Trinite  in  Ven- 
dome stammt  eine  Jungfrau  mit  dem  Kinde  in  der  Glorie  von  sehr  grosser 
Dimension  und   bewundernswürdig  fester  Zeichnung,  nicht   ohne   feierliche 


1)  Bei  Labane,  Album  II;  pl.  XCiV. 

-)  Abbildungen  bei  Lasteyrie  a.  a.  0.  Taf.  3—7,  bei  Levy  Tf.  III,  IV,  bei  Gail- 
habaud,  l'architecture  et  les  arls  qui   en  dependent,  Bd.  II. 

•')  Sugerius  de  rebus  in  administratione  sua  gestis,  bei  Duchesne,  Hist.  Francor. 
Script.  IV,  348  ff.:  Vitrearum  etiam  novarum  praeclaram  varietatem  —  tarn  superius 
quam  iuferius  magistrorum  multorum  de  diversis  nationibus  manu  exquisita  de- 
pingi  fecimus,  —  Tuitioni  et  refectioni  earum  ministerialem  magistrum  constituimus. 

*)  Merimee,  Voyage  dans  l'Ouest,  S.  333. 

35» 


548 


Blüthe  der  Glasmalerei 


Würde  aber  im  strengsten  byzantinisirenden  Style,  nach  begründeten  Ver- 
muthungen  aus  dem  Jahre  1180^).  Schon  1155  stifteten,  wie  wir  urkund- 
lich wissen,  der  Graf  Robert  von  Dreux  und  seine  Gemahlin  in  der  Abtei- 
kirche zu  Braine-le-Comte  Fenster,  auf  denen  ihre  Bildnisse  zu  sehen  waren^ 
und  welche  sie  von  der  Königin  Eleonore  von  England ,  ihrer  Verwandten, 
zum  Geschenke  erhalten  hatten.  Ohne  Zweifel  hatte  diese,  deren  Gemahl 
erst  im  Jahre  vorher  den  englischen  Thron  bestiegen  hatte,  sie  nicht  in 
England,  sondern  in  ihren  angestammmten  französischen  Provinzen,  vielleicht 
in  Limoges,  fertigen  lassen  2).  Auch  besitzen  wir  im  Chore  der  Kathedrale 
von  Poitiers  einige  Fenster,  welche  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  von 
diesem  Königspaare  geschenkt,  und  wenn  auch  nicht  vor  dem  Tode  Hein- 
rich's  (1189),  so  doch  vor  dem  seiner  Gemahlin  (1204)  hierher  gestiftet  sind. 
Namentlich  gilt  dies  von  dem  mittleren  der  Ostwand.  Es  unterscheidet 
sich  von  den  Fenstern  in  St.  Denis  vortheilhaft  durch  grössere  Dimension 
der  Figuren  und  durch  eine  sinnreichere  Eintheilung.  Oben  in  der  Spitze 
sehen  wir  nämlich  den  Heiland  in  der  von  Engeln  getragenen  Glorie,  in  der 
Mitte  die  Kreuzigung  mit  mannigfachen  Nebenfiguren,  unten  in  den  ver- 
schiedenen Theilen  eines  Vierblattes  die  Marien  am  Grabe  und  die  Marty- 
rien der  Apostel  Petrus  und  Paulus,  und  schliesslich  die  Bilder  der  beiden 
königlichen  Stifter.  Die  Zeichnung  ist  überaus  strenge,  Christus  noch  ganz 
im  Mosaiken typus,  die  Haltung  der  Engel  und  anderer  Nebenfiguren  höchst 
bewegt,  fehlerhaft  doch  ausdrucksvoll,  aber  die  ganze  Anordnung  zeigt  ein 
feineres  rhythmisches  Gefühl,  und  das  Störende  der  unerlässlichen  Eisen- 
barren ist  sehr  geschickt  dadurch  gehoben,  dass  sie  theils  als  Scheidung 
der  verschiedenen  Bildflächen ,  theils  in  Zusammenhang  mit  den  Balken  des 
Kreuzes  angebracht  sind  und  die  Figuren  ungeachtet  ihrer  grösseren  Dimen- 
sionen niemals  durchschneiden^). 

Mit  dem  Beginn  des  dreizehnten  Jahrhunderts  wurde  der  Betrieb  die- 
ses Kunstzweiges  sehr  viel  lebendiger  und  erfolgreicher;  man  kann  etwa 
zwanzig  französische  Kirchen  aufzählen,  in  denen  Fenster  aus  den  ersten 
Decennien  erhalten  sind,  und  jedes  weitere  Jahrzehent  fügt  eine  grössere 
Zahl  hinzu.  Ungeachtet  der  Zerbrechlichkeit  des  Materials  und  der  grossen 
Verheerungen,  welche   die  Zeit,  der  Vandalismus  der  Aufklärungsperiode 


^)  Abbildungen  einiger  dieser  Fenster  bei  Lasteyrie  a.  a.  0.  ,  der  eben  beschrie- 
benen Madonna  bei  Gailhabaud  l'architecture  et  les  arts  qiü  en  dependent,  Bd.  II. 

")  Gessert  a.  a.  0.  S.  63  und  85  hält  sie  ohne  Grund  für  englische  Arbeit.  Wir 
haben  schon  oben  (S.  197)  bemerkt,  dass  Heinrich  II,  und  seine  Gemahlin  gern  die 
Kunstfertigkeit  ihrer  französischen  Unterthanen  beschäftigten ,  und  nichts  berechtigt 
uns,  eine  so  frühe  Ausübung  der  Glasmalerei  in  England  anzunehmen. 

•■')  Eine  Abbildung  dieses  Fensters  in  Auber,  Hist.  de  la  cath.  de  Poltiers. 


iu  Frankreich.  549 

uud  die  Revolution  angerichtet  haben,  fällt  noch  jetzt  selbst  dem  flüchti- 
gen Reisenden  die  grosse  Zahl  prachtvoller,  grossentheils  noch  aus  diesem 
Jahrhundert  herrührender  Glasmalereien  in  den  französischen  Kirchen  auf. 
Offenbar  hängt  die  Blüthe  dieser  Kunstgattung  mit  der  fortschreitenden  Ent- 
vvickelung  des  gothischen  Styls  zusammen,  der  bei  seinen  weiten  Fenster- 
öffnungen ihrer  nothwendig  bedurfte.  Es  würde  unmöglich  und  überflüssig 
sein,  alle  noch  erhaltenen  Glasgemälde  dieser  Epoche  oder  auch  nur  alle 
Kirchen  aufzuzählen,  in  denen  sich  solche  finden.  Die  Kathedrale  von 
Bourges  hat  allein  183  Fenster  dieser  Art  von  unvergleichlicher  Farben- 
pracht i),  die  von  Chartres  146  und  darunter  noch  viele  aus  diesem,  einige, 
wie  sich  aus  der  Lebenszeit  der  darauf  genannten  Stifter  ergiebt,  noch  aus 
den  ersten  Decennien  desselben  Jahrhunderts  2).  Von  gleicher  Schönheit 
sind  die  im  Chore  der  Kathedrale  von  Maus.  In  der  Kathedrale  von  Rheims 
sind  die  unteren  Fenster  zwar  unter  Ludwig  XIV.  zerstört,  die  oberen  aber 
noch  in  ihrer  alten  Pracht  erhalten;  in  der  von  Amiens  bestehen  wenigstens 
noch  die  des  Chors,  darunter  das  eine  mit  dem  Namen  des  Stifters  und 
der  Jahreszahl  1269.  In  den  Kathedralen  von  Troyes,  Tours,  Ronen ^), 
Chalons-sur-Marne ,  Soissons  und  Clermont  in  der  Auvergne  sind  meistens 
in  den  Chören  noch  prachtvolle  Fenster  aus  dieser  Zeit,  in  der  Ste.  Chapelle 
zu  Paris  noch  bedeutende  Ueberreste  aus  der  Zeit  Ludwig  IX.  erhalten. 
Die  Kathedrale  der  Hauptstadt,  einst  durchgängig  mit  Glasmalereien  ge- 
geschmückt, hat  sie  leider  mit  einem  Schlage  verloren,  nicht  durch  Kriegs- 
wuth  oder  den  Fanatismus  einer  rohen  Volksmasse,  sondern  auf  Befehl  des 
Kapitels,  das  im  Jahre  1741  sie  durch  weisse  Scheiben  ersetzen  Hess.  Pierre 
Levieil,  selbst  Glasmaler  und  Geschichtschreiber  der  Glasmalerei,  war  mit 
der  Ausführung  dieser  Maassregel  beauftragt  und  berichtet  darüber  iu  sei- 
nem Werke  ^),  ohne  auch  nur  ein  Bedauern  auszusprechen.  Das  mittlere 
Fenster  des  Chors  enthielt  Christus  zwischen  der  Jungfrau  und  Johannes 
dem  Täufer,  die  der  Seitenwände  unter  jedem  der  zwei  Bögen  kolossale  18 
Fuss   hohe  Gestalten  von  Bischöfen,  Patriarchen  und  Propheten.     Glück- 


^)  Vgl.  das  ausgezeichnete  Prachtwerk  Martin  et  Caiiier ,  Monographie  (Vitraux) 
de  la  Cath.  de  Bourges. 

-)  Ein  Fenster  mit  Scenen  aus  der  Sage  Carl's  des  Grossen  und  Rolands  bei 
Lassus,  Monographie  de  la  cath.  de  Chartres  und  in  den  Annales  archeol.  Bd.  24,  p. 
349.     Anderes  bei  Levy,  Tf.  X,  XI,  bei  Gailhabaud  a.  a.  0.  B.  II. 

^)  Auf  einem  Fenster  ist  der  Name  des  Verfertigers  genannt  nud  zwar  als  aus 
Chartres  gebürtig:  Clemens  Vitrierius  Carnotensis.  Lasteyrie,  Taf.  33.  Bemerkens- 
werth  ist,  dass  die  Einfassung  des  Bildes  hier  noch  genau  das  Arabeskenmuster  hat, 
wie  auf  einem  der  Fenster  des  Suger ,  die  mehr  als  hundert  Jahre  früher  entstan- 
den waren. 

*)   Levieil,  Traite  pratique  et  historique  de  la  peiuture  sur  verre. 


R^Q  Blüthe  der  Glasmalerei  in  Frankreich. 

licherweise  sind  indessen  die  grossen  Rosenfenster  der  drei  Fagaden  dieser 
Zerstörung  entgangen  und  geben  uns  noch  eine  Probe  der  alten  Pracht. 
Sie  enthalten  in  kleinen,  den  inneren  und  äusseren  Strahlen  der  Rose  einge- 
zeichneten Medaillons  auf  tiefblauem  Grunde,  im  Anschlüsse  an  die  Bedeu- 
tung der  darunter  befindlichen  Portalsculpturen ,  das  westliche  und  nörd- 
liche die  Jungfrau  mit  dem  Kinde  dort  von  Propheten ,  Zeichen  des  Thier- 
kreises,  Monatsarbeiten  und  Tugenden,  hier  von  alttestamentarischen  Königen 
und  Propheten  umgeben  i),  das  südliche  die  Glorie  der  Märtyrer.  Sie  sind 
da  die  Kreuzfagaden  erst  um  1257  erbaut  wurden,  eine  Arbeit  der  zweiten 
Hälfte  des  Jahrhunderts.  Die  Fenster  der  Sainte-Chapelle  sind  sämmtlich 
während  der  Revolution  abhanden  gekommen,  und  nur  einzelne  Fragmente 
finden  sich  noch  im  Privatbesitze^).  Schöne  Proben  aus  der  zweiten  Hälfte 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  enthält  der  Chor  der  Kirche  St.  Urbain  in 
Troyes,  hier  aber  wird  die  Auffassung  bereits  realistischer,  und  die  Behand- 
lung nähert  sich  dem  Styl  der  Miniaturen'^). 

Dieser  frühe  und  eifrige  Betrieb  der  Glasmalerei  erstreckte  sich  in 
Frankreich  genau  so  weit  wie  die  Herrschaft  des  gothischen  Styles.  Nächst 
den  Provinzen  Ile- de -France  und  Champagne  ist  er  besonders  in  Burgund 
verbreitet,  aber  die  Fenster  in  den  Kirchen  Notre-Dame  zu  Dijon  undNotre- 
Dame  zu  Semur,  obwohl  schon  aus  der  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts, 
sind  noch  etwas  alterthümlicher  im  Charakter;  ebenso  das  schöne  Radfenster 
im  südlichen  Kreuzarm  der  Kathedrale  von  Lausanne^).  In  Lothringen 
und  in  Belgien  finden  sich  grösstentheils  nur  Glasgemälde  aus  dem  vierzehnten 
Jahrhundert-^),  in  den  südlichen  Provinzen  sind  sie  sogar  auch  da  noch 
selten. 

Deutschland  kann  sich  bei  Weitem  nicht  gleichen  Reichthums  rüh- 
men, wie  Frankreich.  Aus  jener  Zeit,  von  der  der  Brief  des  Abtes  Goz- 
bert  spricht,  ist  uns  begreiflicherweise  nichts  geblieben;  aber  auch  dem 
zwölften  Jahrhundert,  und  zwar  seiner  Spätzeit,  können  wir  nur  fünf  Ober- 
lichter im  Dome  zu  Augsburg  zuschreiben,  einzelne  alttestamentarische  Ge- 
stalten von  sehr  steifer  Haltung  mit  breiten  von  vorn  gesehenen  Gesichtern, 
verzierten   Gewändern   und  jüdischen  Mützen*^).     Selbst  Glasmalereien   des 


^)  Dieses  abgebildet  bei  Lasteyrie,  Taf.  21. 

2)  Labarte,  Album  II,  Taf.  XCV. 

3)  Viollet-le-Duc,   Vol.  IX,  S.  431  und  434  mit  Abbildungen. 

•*)  Lübke,  die  alten  Glasgemälde  der  Schweiz,  abgedruckt  in  dessen  kunsthist. 
Studien,  Stuttgart  1879,  S.  407. 

^)  SpärUche  Fragmente  von  Glasbildern  des  XIII.  Jahrhunderts  in  der  Kathedrale 
von  Tournay  und  in  Ste.  Gudule  zu  Brüssel  bei  Levy,  pl.  VIII. 

^)  In  der  Südwand  des  Mittelschiffes.  —  Vgl.  Theodor  Herberger,  die  ältesten  Glas- 
gemälde im  Dom  zu  Augsburg,  1860,  mit  färb.  Abbildungen. 


Deutsche  Glasmalerei.  551 

dreizehnten  besitzen  wir  nur  in  sehr  massiger  Zahl,  aus  früherer  Zeit  und 
in  rundbogigen  Fenstern  fast  nur  am  Rheine  und  in  Westphalen.  Hier  in 
der  Chornische  des  Patroclus  -  Münsters  zu  Soest  einzehie  Gestalten  als 
Ueberreste  grösserer  Compositionen ,  in  der  kleineren  Kirche  zu  Legden 
im  Münsterlande  dagegen  ein  vollständiges  Fenster,  in  rhythmisch  geordne- 
ten Kreisbildern  der  Stammbaum  Christi,  ausgehend  von  dem  als  Kreuz  ge- 
stalteten paradiesischen  Baume  des  Lebens,  schliessend  mit  dem  thronenden 
von  den  sieben  Tauben  des  heiligen  Geistes  umgebenen  Christus  ^).  In  der 
Stiftskirche  zu  Büken  an  der  Weser  sind  sodann  drei  sehr  schöne  Chor- 
fenster, freilich  mit  starken  neueren  Ergänzungen,  erhalten,  welche  in  zahl- 
reichen Darstellungen  die  Geschichte  Christi,  des  heiligen  Nicolaus  und  des 
heiligen  Maternianus  erzählen.  Die  beiden  Seitenfenster  schliessen  schon 
im  Spitzbogen,  aber  in  den  architektonischen  Umrahmungen  und  im  Blatt- 
werk überwiegen  noch  die  Formen  des  romanischen  Styles-).  Bedeutender 
sind  die  Fenster  der  Chornische  von  St.  Cunibert  in  Köln,  drei  grössere 
und  mehrere  kleinere,  ohne  Zweifel  um  die  Zeit  der  Einweihung  1247  ent- 
standen und  vollkommen  dem  edlen  spätromanischen  Style  dieser  Zeit  ent- 
sprechend. An  dem  mittleren  Fenster,  dessen  Inhalt  die  über  einander  dar- 
gestellten Hauptmomente  der  Geschichte  Christi,  Verkündigung,  Geburt, 
Kreuzigung,  Auferstehung  und  Himmelfahrt  mit  begleitenden  Engeln  und 
Propheten  bilden,  ist  ausser  der  Farbenschönheit  auch  die  räumliche  An- 
ordnung zu  rühmen,  die  geschickte  und  künstliche  Verbindung  von  Medail- 
lons und  Halbmedaillons  mit  gewissen ,  den  schlanken  Fensterwänden  paral- 
lelen senkrecht  aufsteigenden  Linien,  und  die  Verwendung  des  Eisengerüstes 
zu  einer  kräftigen  Betonung  dieses  architektonischen  Grundgedankens  ^).  Die 
beiden  anderen  grösser  en  Fenster  zur  Seite  enhalten  Scenen  aus  dem  Leben 
des  heiligen  Cunibert,  die  kleineren  Fenster  einzelne  Heilige,  unter  denen 
namentlich  die  weiblichen  sich  durch  Schlankheit  und  Zartheit,  verbunden 
mit  feierlicher  Haltung,  auszeichnen.  Dass  man  dies  Fenster  schon  da- 
mals als  etwas  Ausgezeichnetes  anerkannte,  beweist  der  Umstand,  dass  es 
in  einem  der  beiden  Chorfenster  der  Kirche  zu  Heim  er  s  heim  an  der  Ahr 
in  verkleinerter  Nachbildung  vorkommt,  indem  dasselbe  nicht  nur  jene  fünf 
geschichtlichen  Scenen  mit  ganz  ähnlichen  Motiven  wiederholt,  sondern  auch 
in   seiner   Einrahmung    eine   Abbreviatur   der   dort   angewandten   reicheren 


1)  Lübke  a.  a.  0.,  S.  335. 
■2)  Farbig   pubJicirl    in    den    mitlelalt.  Baudenkmälern  Niedersachsens,    Heft  11   und 
12,  Hannover,  1866. 

')  Boisseree,  Niederrhein,  Taf.  72.  —  Aquarelle  der  übrigen  Fenster  in  dem  Kupfer- 
sticluabinet  zu  Berlin. 


552  Deutsche  (ilasmalerei 

Formen  giebt^j.  Auch  die  Glasmalereien  in  den  rundbogigen  Fenstern  der 
Kirche  zu  Neuweiler  im  Elsass,  starre  Gestalten  in  einfacher  Haltung, 
■werden  noch  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  angehören-).  Die  meisten 
übi'igen  Glasmalereien  dieser  Provinzen  sind  dagegen  jünger  und  finden  sich 
in  gothischen  Maasswerkfenslern.  Die  der  Klosterkirche  zu  Altenberg 
bestehen,  soweit  sie  noch  aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert  herrühren,  der 
Cistercienserregel  gemäss  nur  aus  grau  in  grau  ausgeführten,  aber  sehr  ge- 
schmackvollen Mustern  und  Blumengewinden^),  die  in  der  Kirche  zu  Wim- 
pfen  im  Thale,  jetzt  im  Museum  zu  Darmstadt,  geben  dagegen  auf  farbi- 
gem, teppichartig  oder  mit  Raukengewinden  verziertem  Grunde  in  einzelnen 
Medaillons  die  Geschichte  Christi  mit  alttestamentarischen  Parallelen  in 
derber,  kräftiger  Zeichnung^).  Bedeutender  ist  im  Strassburger  Mün- 
ster die  Reihenfolge  deutscher  Könige  und  Wohlthäter  des  Stiftes,  welche, 
an  ihrer  Spitze  die  anbetenden  heiligen  drei  Könige  und  das  Christuskind, 
die  Fenster  des  nördlichen  Seitenschiffes  füllen.  Es  sind  einzelne  statua- 
rische Gestalten,  je  eine  in  jedem  Bogenfelde  unter  einem  gothischen  Balda- 
chin, aber  in  edler  Form  und  styl  voller  Gewandung  und  in  prachtvollen 
wohlgewählten  Farben  ausgeführt^).  Einige  Ueberreste,  Darstellungen  der 
thronenden  Madonna,  Brustbilder  Christi  und  der  heiligen  Jungfrau  in  Blatt- 
werkumrahmung,  welche  eine  Mischung  romanischer  und  frühgothischer  Be- 
handlung zeigen,  befinden  sich  in  dem  nördlichen  Arm  des  Kreuzganges  der 
Klosterkirche  Wettingen  bei  Baden  in  der  Schweiz '5).  Ausserhalb  dieser 
westlichen  Provinzen  kommen  Glasgemälde  noch  seltener  und  fast  nur  spo- 
radisch vereinzelt  vor.  So  finden  sich  in  österreichischen  Klöstern  einige 
werthvolle  Arbeiten,  selbst  aus  früher  Zeit.  Heiligenkreuz  besitzt  herrliche 
Fenster  theils  mit  Teppichmustern  theils  mit  farbigen  Gestalten  einiger  Für- 


^)  Müller,  Beiträge  zur  deutsclieu  Kunst  uiul  Geschichtskunde,  I,  Tai.  9. 

2)  Lasteyrie,  a.  a.  0.,  Taf.  1. 

^)  Abijildungen  bei  Scliimmel,  Altenberg. 

-»)  Müller  a.  a.  0.,  Taf.  18. 

"'')  Mit  Recht  nimmt  Kugler,  Gesch.  d.  Malerei  I,  2.  Auflage,  205  an,  dass  dem 
Johann  von  Kirchheim,  pictor  vltrorum  in  ecclesia  Argentinensi,  welchen  man  in  eine"" 
Urkunde  vom  Jahre  1348  entdeckt  hat ,  nur  die  in  der  1331  gestifteten  Katharinen- 
kapelle  vorhandenen  Glasgemälde  (vgl.  Schreiber,  das  Münster  z.  Strassburg,  S.  69), 
und  nicht  (wie  bei  Lasteyrie  a.  a.  0. ,  Taf.  40)  die  jener  Königsreihe  zuzuschreiben 
sind,  wogegen  ich  seinem  ungünstigen  Urtheil  über  diese  (vgl.  auch  kl.  Sehr.  II,  517) 
keineswegs  beistimmen  kann.  —  VioIlet-le-Duc,  Dict.  IX,  p.  444  geht  von  Vorstellun- 
gen aus,  die  er  nur  auf  Grund  der  französischen  Stylentwickelung  gewonnen,  wenn  er 
diese  Strassburger  Fenster  schon  in  das  XII.  Jahrhundert  setzt. 

^)  Publicirt  von  Lübke ,  Mitliieilungen  der  antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich, 
Band  XIV,  Heft  5. 


in  Kirchen  gothiscliea  Styles.  553 

steil  aus  dem  Babenberger  Hause,  in  ümrahmungea  und  mit  Blattwerk,  das 
noch  entschieden  romanischen  Styls  ist^).  Auch  in  Klosterneuburg 
werden  von  den  Glasmalereien,  welche  den  1279 — 1291  gebauten  Kreuz- 
gang schmückten  noch  einige  jetzt  an  anderer  Stelle  willkürlich  zusam- 
mengefügte Reste  bew^ahrt,  die  an  der  Grenze  dieser  Epoche  stehen  2). 
Die  zweitheiligen  Maasswerkfenster  enthielten  Darstellungen  aus  dem  alten 
und  dem  neuen  Testamente  sowie  aus  Legenden  der  Heiligen,  mitunter  in 
sichtlicher  Nachahmung  des  berühmten  in  demselben  Kloster  betindlichen 
Verduner  Email-Altars ,  von  dem  später  die  Rede  sein  wird ,  gut  componirt, 
anmuthig  in  den  Typen  der  weiblichen  und  jugendlichen  Köpfe ,  wie  in  den 
Bewegungen,  dabei  doch  in  reiner,  strenger  und  schöner  Zeichnung. 

Im  mittleren  Deutschland  können  wir  noch  weniger  aufweisen.  In  der 
Elisabethkirche  zu  Marburg  in  sehr  zerstörten  Fenstern  äusserst  geschmack- 
volle Muster  auf  farbigem  Grunde-^j,  im  Dome  zu  Halberstadt  wenig  be- 
deutende Ueberreste,  ferner  noch  ein  Fenster  mit  dem  gekreuzigten  Heiland 
und  den  Stiftern  im  Chor  der  Klosterkirche  zu  Heilsbronu*),  das  ist  wohl 
ziemlich  Alles,  was  wir  dem  dreizehnten  Jahrhundert  mit  Sicherheit  zuschrei- 
ben können.  Allerdings  ist  auch  bei  uns  Vieles  durch  Unfälle,  falschen  Ge- 
schmack oder  Vernachlässigung  zerstört,  allein  schwerlich  mehr  als  in  Frank- 
reich, und  selbst  die  Nachrichten  über  Arbeiten  aus  dieser  Epoche -^j,  lassen 
nicht  auf  eine  grosse  Thätigkeit  dieses  Kunstzweiges  schliessen.  Dass  diese 
Erscheinung  nicht  durch  Mangel  an  technischem  Geschicke  oder  an  Farben- 
sinn zu  erklären  ist,  beweist  ebensosehr  die  Vortrefflichkeit  der  wenigen 
erhaltenen  Glasgemälde  als  die  lange  Blüthe  der  Wandmalerei.  Wir  kom- 
men daher  zu  dem  bemerkenswerthen  Resultate,  dass  in  Frankreich  die  neue 
Gattung,  in  Deutschland  die  ältere  Kunst  der  Wandmalerei  die  grössere 
Neigung  für  sich  halte.  Und  dies  erklärt  sich  denn  auch  schon  vollkommen 
aus  der  Baugeschichte  beider  Nationen,  obgleich  es  noch  tiefere  Gründe 
haben  mag.  Der  gothische  Styl  forderte  und  begünstigte  die  Fenstermalerei 


^)  Publicirt  von  Camesina,  Jahrbuch  der  k.  k.  Centralcommission ,  Bd.  III,  S.  190 
und  Taf.  XXIII — XXVII,  farbig  in  den  miuelaherl.  Kunstdenkmalen  des  österr.  Kaiser- 
staates, Taf.  V.  Die  Grisaiileu  ebenda,  Taf.  VI  und  Jahrljuch,  Bd.  II,  S.  279  und 
Tafel. 

-)  Publicirt  vou  Camesiua,  Jahrbucli  der  k.  k.  Centralcommission,  Bd.  il,  S.  170 
und  Tafeln ,  in  sehr  schöner  und  correcter  Darstellung.  Vgl.  dort  die  urkuMdlichen 
Kachweise  im  Text  über  das  Vorkommen  vou  Glasmalern  in  Klosterneuburg  schon 
seit  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  und  die  Notizen  S.  186,  welche  darthun,  dass 
wenigstens  einige  Fenster  noch  aus  den  Schlussjahren  dieses  Jahrhunderts  herrühren. 

•■■•)  Moiler,  Denkmäler,  II,  Taf.   16. 

*)  Von  Stiilfried,  Alterthümer  des  Hauses  Hohenzülieru. 

^)  Gessert,  a.  a.  0.,  S.  70  tf.  meist  nacli  Fiorillo's  zerstreuten  Allegaten. 


gFj^  Glasmalerei  in  England. 

während  er  jener  anderen  Kunst  die  Wandflächen  entzog.  Dem  romanischen 
Gebäude  war  dagegen  der  Farbenglanz  der  Glasgemälde  nur  ein,  wenn  auch 
erwünschter,  doch  entbehrlicher  Schmuck,  während  er,  abgesehen  von  der 
Schwierigkeit,  das  Glas  unbeschadet  der  Zeichnung  in  den  grossen  unge- 
theilten  Fenstern  zu  festigen,  mit  der  hergebrachten  Wandmalerei  nicht  wohl 
harmonirte.  Neben  den  durchglänzten  prachtvollen  Farben  des  Glases  er- 
scheinen Wandgemälde,  namentlich  nach  der  Technik  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts, matt  und  trübe,  während  wiederum  ihre  strengere,  besser  durchge- 
bildete Zeichnung  die  Unvollkommenheiten  jener  schwierigen  Technik  auffälli- 
ger macht.  Es  ist  daher  begreiflich,  dass  die  Deutschen,  so  lange  ihre 
Bauwerke  mehr  den  romanischen  Charakter  trugen,  die  Kosten  reicher  aus- 
gestatteter Fenster  sparten  und  sich  mit  den  trüben  kleinen  Scheiben,  welche 
die  damalige  Glasfabrikation  bot,  begnügten,  um  ihre  Wände  mit  ernsteren 
Kunstleistungen  zu  schmücken. 

In  England  hat  der  puritanische  Eifer  von  Cromwell's  Soldaten  so 
gründlich  aufgeräumt,  dass  man  sich  nicht  wundern  kann,  wenn  die  Zahl  der 
Ueberreste  dieser  zerbrechlichen  Gattung  gering  ist.  Indessen  ist  es  wahr- 
scheinlich, dass  schon  unter  Heinrich  II.  und  Eleonore,  welche  wir  bereits  als 
Stifter  von  Glasgemälden  kennen  gelernt  haben,  diese  Kunst  aus  ihren  fran- 
zösischen Provinzen  auch  nach  England  übertragen  wurde,  auch  finden  wir  in 
den  Seitenschiffen  des  Chors  der  Kathedrale  von  Canterbury  Glasmalereien 
auf  tiefblauem  Grunde,  welche  denen  von  St.  Denis  und  Angers  gleichen  und 
mithin  wohl  schon  bald  nachder  Vollendung  dieses  Chors  um  1180  entstanden 
sein  mögen.  Aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert  haben  wir  die  Bestellungen 
Heinrich's  III.  für  ausgedehnte  Glasmalereien  in  einigen  Kapellen  in  West- 
minster  und  in  seinem  Schlosse  in  Northampton  und  zwar  in  einer  Weise, 
welche  darauf  schliessen  lässt,  dass  diese  Kunst  damals  in  England  schon 
sehr  verbreitet  war^).  Auch  sind  in  den  Kathedralen  von  York  und  Lin- 
coln, in  Beckets  Crown  in  Canterbury  und  an  einigen  anderen  Orten  noch 
schöne  Glasgemälde  erhalten,  die  dem  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
angehören  dürften.  Dennoch  aber  scheint  der  ganze  Kunstzweig  nicht  sehr 
geblüht  zu  haben,  da  man,  wie  schon  angeführt,  noch  im  vierzehnten  Jahr- 
hundert farbige  Gläser  gern  aus  Eouen  kommen  lies. 

Die  Technik  der  Glasmalerei  blieb  übrigens  in  Deutschland  und  Frank- 


*)  Fioriilo,  Gesell,  d  z.  K.,  Bd.  5,  S.  92  und  103.  Aullallend  ist  namentlicii  die 
eine  dieser  Bestellungen  Liberal.  36,  Henr.  III,  Mandatum  vic.  Northampton,  qnod 
fieri  faciat  in  Castro  Norlli.  fenestras  de  albo  vitro,  et  in  eisdem  historiam  F^azari 
et  Divitis  de[)ingi),  indem  daraus  hervorzugehen  scheint,  dass  auf  weisses  Glas  ge- 
malt werden  sollte.  Wahrscheirdich  aber  wollte  der  König  nur  anordnen ,  dass  die 
P^enster  im  Ganzen  aus  farblosem  Glase  bestehen,  aber,  etwa  in  einem  Medaillon,  jene 
Malerei  enilialtcn  sollten. 


Technik  dieser  Epoche.  555 

reich,  und  also  gewiss  auch  in  England  während  des  ganzen  Laufes  dieser 
Epoche  dieselbe,  wie  sie  schon  Theophilus  beschreibt.  Man  kannte  nur 
eine  Farbe,  welche  sich  durch  Brennen  mit  dem  Glase  vereinigte,  und  zwar 
eine  schwarzgraue,  das  s.  g.  Schwarzloth ,  man  rausste  daher  das  Bild  aus 
so  vielen  verschiedenen  Stücken  schon  in  der  Fritte  gefärbten  Glases  zu- 
sammensetzen, als  es  Farben  enthalten  sollte,  und  benutzte  jenen  Farbstoff 
nur  zur  Hineinzeichnung  der  Details  und  der  Schatten.  Man  entwarf  zu 
diesem  Zwecke ,  wie  Theophilus  lehrt ,  das  Bild  des  ganzen  Fensters  auf 
einem  dazu  vorbereiteten  Brette,  schnitt  dann  die  einzelnen  Glasstücke,  indem 
man  sie  auf  jenes  Brett  legte,  nach  den  durchscheinenden  Umrissen,  bemalte  und 
brannte  sie,  und  verband  sie  endlich  mit  Blei  zu  einem  Ganzen.  Bei  Ornamenten 
in  der  Einfassung  des  Bildes  und  in  Gewändern  oder  bei  Spruchzetteln  bestrich 
man  auch  wohl  den  ganzen  Streifen  mit  jener  Farbe  und  zeichnete  dann  die 
Verzierungen  oder  die  Buchstaben  mit  dem  Stiele  des  Pinsels  hinein.  Dazu 
kam  nun  noch,  dass  die  damalige  Glasfabrikation  nicht  leicht  grosse  Tafeln 
gewährte,  so  dass  der  Maler  grössere  Felder  derselben  Lokalfarbe  aus  meh- 
reren, oft  sehr  kleinen  Stücken  zusammensetzen  und  durch  Blei  verbinden 
musste.  Man  gab  deshalb  auch  selten  historische  Darstellungen  von  grossen 
Dimensionen,  sondern  brachte  lieber  mehrere  kleinere  ;,n,  oder  richtete  sich^ 
wenn  doch  grössere  Figuren  gegeben  werden  sollten,  so  ein,  dass  die  Ver- 
bindung durch  Blei  auf  Theile  traf,  wo  sie  weniger  auftiel,  etwa  auf  den 
Gürtel  oder  auf  tiefer  beschattete  Falten.  Man  liebte  deshalb  auch  ver- 
zierte Gewänder  und  gab  meistens  teppichartige,  nicht  einfache  Hintergründe, 
um  die  Farbenflächen  zu  brechen  und  das  Blei  weniger  auffallend  anbringen 
zu  können.  Die  Zahl  der  Farben  ist  nicht  gross,  Blau,  Roth  und  Gelb, 
alle  in  mehreren  Tönen,  auch  wohl  Violett,  Grün  und  Braun.  Farbloses  Glas  ist 
w^nig  gebraucht  und,  obgleich  schon  an  sich  trübe,  meist  noch  durch  Far- 
benaufstrich gemildert;  am  meisten  kommt  es  in  den  Kandverzierungen  vor. 
Gesichter  und  andere  Fleischtheile  sind  zuweilen  weiss,  häufiger  von  einem 
gelblichen,  lederfarbigen  Tone. 

Bei  dieser  geringen  Zahl  von  Farben  war  es  durchaus  nöthig,  mit  ihnen 
so  abzuwechseln,  dass  die  einzelnen  Gegenstände  sich  von  einander  ablösten 
und  das  Ganze  einen  gefälligen  Eindruck  machte.  Schon  Theophilus  giebt 
eine  darauf  hindeutende  Vorschrift;  er  räth  auf  hellen  Gründen  saphirblaue 
rothe  oder  grüne  Gewänder,  auf  Gründen  von  dunkler  Farbe  weisse  Gewän- 
der anzubringen.  In  den  Monumenten  finden  wir  dies  Princip  noch  mehr 
ausgebildet  und  sehr  sorgfältig  beobachtet.  Die  Einrahmung  hat  einen 
tiberwiegend  hellen  Ton,  die  Gründe  sind  fast  immer  dunkel,  in  den  franzö- 
sischen Glasmalereien  meistens  blau,  in  den  deutschen  mehr  roth.  In  den 
historischen  Bildern  werden  dann  die  Farben  des  Grundes  vermieden  und 
die  demnach  übrig  bleibenden  Farben  in  wiederkehrender  Abwechselung  des 


556  Ginsmalerei. 

Hellen  und  Dunklen  angewendet.  So  ist  auf  dem  Fenster,  welches  Suger's 
Bild  enthält ,  der  Grund  tiefblau  mit  rothen  sich  durchkreuzenden  Streifen, 
die  Einfassung  der  Medaillons  ein  breiter,  sich  stark  absetzender  Streifen 
desselben  Roth,  dafür  kommen  aber  diese  Farben  im  Inneren  der  Medail- 
lons gar  nicht  mehr  vor;  sie  haben  vielmehr  einen  dunkelgrünen  Grund,  auf 
dem  die  Figuren  und  anderen  Gegenstände  abwechselnd  braun,  hellgrün,  gelb, 
grau  und  weiss  gehalten  sind.  In  einem  derselben,  wo  sieben  Reiter  er- 
scheinen, wechselt  dies  in  der  Art,  dass  je  drei  neben  einander  stehende 
Pferde  weiss,  gelb  und  grün  in  derselben  Folge,  das  siebente  allein  stehende 
wieder  weiss ,  und  die  Gewänder  abwechselnd  gelb ,  grau ,  weiss  und  braun 
sind.  Man  sieht,  dass  die  Maler  sich  um  naturalistische  Wahrheit  selbst 
nach  den  bescheidenen  Anforderungen  dieser  Epoche  nicht  viel  kümmerten, 
sondern  lediglich  auf  Deutlichkeit  der  Zeichnung  und  gefälligen  Wechsel  der 
Farbe  bedacht  waren. 

Gegen  das  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts  traten  einige  Aeude- 
rungen  ein,  indem  man  theils  grössere  Tafeln  zubereiten  lernte,  theils  aus- 
ser dem  Schwarzloth  noch  einige  andere,  zur  Verglasung  geeignete  Farben 
entdeckte,  die  aber  doch  nur  selten  angewendet  wurden.  Dazu  kam,  dass 
die  bisherige  Anordnung  der  Compositionen  den  breiteren,  durch  mehrere 
Pfosten  in  schmale  und  hohe  Felder  getheilten  Maasswerkfenstern  nicht 
völlig  entsprach.  Man  wagte  daher  in  diesen  Feldern  einzelne,  statuarische 
Gestalten  von  grösserer  Dimension  (in  Notre-Dame  von  Paris  waren  sie  18 
Fuss  hoch)  anzubringen,  gab  ihnen  hellere  Gewandfarben  und  statt  des  tep- 
pichartigen einen  einfarbigen  Grund,  dessen  Fläche  man  durch  einen  gothi- 
schen  Baldachin  verminderte.  Indessen  waren  jene  Verbesserungen  der 
Technik  nicht  allgemein  bekannt,  diese  Aenderungen  der  Anordnung  von 
zweideutigem  Werthe,  und  wir  finden  daher  noch  immer  Fenster,  in  denen 
man  dem  alten  Principe  treu  blieb.  Im  Ganzen  unterscheiden  sich  daher 
die  Arbeiten  der  verschiedenen  Abschnitte  dieser  Epoche  nur  durch  die 
Zeichnung,  durch  die  gewaltsameren  Bewegungen  oder  die  steifere  Haltung 
der  früheren  und  den  mehr  statuarischen  und  einfacheren  Styl  der  späte- 
ren Zeit. 

Bei  den  technischen  Schwierigkeiten ,  mit  denen  die  Glasmalerei  zu 
kämpfen  hatte,  musste  sie  nicht  bloss  auf  naturalistische  Wahrheit,  sondern 
auch  auf  den  tieferen  Ausdruck  und  die  Bedeutsamkeit,  welche  die  Wand- 
malerei und  Plastik  ihren  Gestalten  geben  konnten,  verzichten.  Aber  in 
der  That  war  dieser  scheinbare  Mangel  eher  ein  Vorzug,  indem  er  sie  ganz 
von  selbst  in  den  eigentlichen  Grenzen  ihrer  Aufgabe  hielt.  Die  Wandmalerei 
und  die  Plastik  haben  die  feste  Mauer  hinter  sich,  sind  daher  von  ihr, 
wenigstens  dem  Gedanken  nach,  ablösbar  und  können  ohne  Verletzung  des 
architektonischen  Gefühls  mit  selbständiger  Bedeutsamkeit  auftreten.     Bei 


Polychromie.  557 

der  Glasmalerei  fällt  diese  Sonderung  fort;  das  Glas  des  Fensters  ist  ein 
Theil  der  umschliessenden  "Wand  mit  einer  bestimmten  architektonischen 
Function;  es  hat  dem  Inneren  das  Licht  zuzuführen,  und  muss  diese  Auf- 
gabe in  einer  Weise  lösen,  welche  dem  Geiste  und  der  Stimmung  des  ge- 
sammten  Bauwerks  und  seiner  Glieder  entspricht,  ohne  sich  durch  allzube- 
stimmte und  concentrirte  Zeichnung  diesem  Zusammenhange  zu  entziehen. 
Wie  sich  diese  Aufgabe  in  der  Kirche,  und  zwar  in  der  Kirche  des  Mittel- 
alters näher  gestaltete,  kann  keinem  Zweifel  unterliegen.  Sie  durfte  das 
Licht  nicht  als  das  weisse  und  kalte  geben,  welches  die  Dinge  der  Welt  in 
ihrer  verständigen ,  selbstsüchtigen  Trennung  beleuchtet ,  sondern  als  das 
Himmelslicht,  als  Quelle  aller  Schönheit,  zur  Farbenpracht  des  Regenbogens 
entfaltet.  Sie  durfte  und  musste  auf  diesem  Farbengrunde  auch  das  Höchste 
der  Schöpfung,  den  Menschen  in  seiner  Heiligung  erscheinen  lassen,  aber 
immer  so,  dass  er  der  göttlichen  Ordnung,  die  hier  durch  die  architektonische 
repräsentirt  wird,  sich  unterordne. 

Allerdings  setzte  die  Lösung  dieser  Aufgabe  voraus ,  dass  die  übrige 
Architektur  in  demselben  Geiste  behandelt  war,  und  namentlich  das  Element 
der  Farbe,  das  sich  an  den  Fenstern  in  seinem  höchsten  Glänze  zeigen  sollte, 
in  sich  aufgenommen  hatte.  Neben  weissen  Wänden  erscheint  die  Glas- 
malerei als  ein  bunter,  willkürlicher  Flecken,  neben  bemalten  das  weisse 
Fenster  wie  eine  Lücke.  Der  Gebrauch  farbiger  Fenster  hing  daher  in  der 
romanischen  Architektur  mit  der  Gewohnheit  durchgeführter  Wandmalereien 
zusammen  und  erlangte  im  gothischen  Style  um  so  höhere  Bedeutung,  weil 
derselbe  die  Wandmalereien,  für  die  er  keine  Flächen  besass,  aufgab,  aber 
die  Farbe  beibehielt  und  sie,  indem  er  sie  als  das  Mittel  nicht  historischer 
Darstelhmg,  sondern  architektonischen  Ausdruckes  benutzte,  nur  um  so  inni- 
ger mit  dem  Ganzen  verschmolz.  Er  färbte  die  feinen  Glieder  ,  in  welche 
sich  die  Massen  auflösten,  mit  verschiedenen  ihren  Functionen  entsprechen- 
den Tönen,  die  tragenden  mit  helleren,  die  blos  füllenden  und  verbindenden 
mit  dunkleren,  die  verticalen  mit  aufsteigenden,  die  horizontalen  mit  band- 
förmigen Mustern ,  das  Blattwerk  der  Kapitale  mit  Gold.  Auch  die  Sculp- 
tur  war  von  dieser  Regel  nicht  ausgenommen,  auch  sie  prangte  in  Gold  und 
Farben,  nicht  bloss  im  Innern  der  Kirchen,  sondern  auch  an  den  Portalen. 
Neben  dieser  durchgeführten  Polychromie  erschien  dann  die  Glasmalerei  als 
die  höchste  Steigerung  des  alle  Theile  durchdringenden,  aber  an  den  un- 
durchsichtigen Steinen  nur  in  elementarer  und  architektonischer  Bedeutung 
entwickelten  farbigen  Lebens.  Allerdings  können  wir  nicht  behaupten,  dass'in 
allen  gothischen  Gebäuden  eine  vollständige  Färbung  bestand;  häufig  mag  sie 
sich  auf  den  Chor  beschränkt,  häufig  ganz  gefehlt  haben.  Aber  sie  war  doch 
als  Postulat  gedacht  und  jedenfalls  waren  die  Wände  nicht  überweisst,  son- 
dern behielten  die  natürliche,  durch  die  Zeit  erhöhete  und  durch  die  Schatten 


Rgg  Polycliromie. 

der  reichen  Gliederung  belebte  dunkle  Farbe  des  Steines,  die  schon  an 
sich  in  einem  bestimmten  harmonischen  Verhältnisse  zu  den  farbigen  Fen- 
stern stand. 

Das  Mittelalter  ist  in  ästhetischen  Dingen  schweigsam;  die  geistlichen 
Schriftsteller  besprechen  die  Malereien  nur  in  Beziehung  auf  ihre  Gegen- 
stände,  die  Chronisten  und  Biographen  sind  nur  bemüht,  die  Freigebigkeit 
des  Stifters  oder  die  reiche  Ausstattung  ihrer  Kirche  zu  rühmen.  Um  so 
wichtiger  ist  es,  dass  wir  wenigstens  eine  Aeusserung  eines  Künstlers  haben, 
der  zu  Kunstgenossen  spricht  und  die  Auffassung  schildert,  mit  der  man 
diese  Vielfarbigkeit  betrachtete.  Es  ist  wieder  der  so  oft  erwähnte  Theo- 
philus.  Nachdem  er  nämlich  in  den  beiden  ersten  Büchern  seines  Werkes 
von  der  Malerei  auf  Wänden,  Tafeln  und  Fenstern  gehandelt  hat,  leitet  er 
das  dritte,  in  welchem  er  von  der  Bereitung  des  Kirchengeräths  sprechen 
will,  durch  eine  feierliche  Vorrede  ein,  in  welcher  er  die  Künstler,  für  die 
er  sein  Werk  bestimmt,  über  etwanige  Zweifel  zu  beruhigen  und  in  ihrem 
Streben  zu  ermuthigen  sucht.  Durch  den  Mund  Davids,  so  beginnt  er,  habe 
Oott  uns  belehrt,  dass  er  an  der  Pracht  seines  Tempels  Gefallen  finde. 
Darum  solle  der  Künstler  fest  glauben,  dass  der  Geist  Gottes  sein  Herz  er- 
füllet habe  und  durch  die  sieben  Gaben  des  heiligen  Geistes  ihn  leiten  werde. 
Von  diesen  beseelt,  redet  er  ihn  dann  weiter  an,  schmückst  du,  vertrauens- 
voll zum  Werke  schreitend,  das  Haus  Gottes  mit  aller  Zierde,  stattest  Wände 
und  Decke  mit  verschiedener  Arbeit  und  mannigfachen  Farben  aus  und 
giebst  dem  Beschauer  ein  Bild  des  himmlischen  Paradieses,  das  in  bunten 
Blumen  blühet,  in  Gras  und  Blättern  grünet,  damit  er  Gott  den  Schöpfer  in 
seinen  Geschöpfen  preise  und  als  wunderbar  in  seinen  Werken  rühme.  Das 
Auge,  fährt  er  fort,  weiss  nicht,  wohin  es  sich  wenden  soll;  die  Decke  glänzt 
wie  ein  reiches  Gewand,  die  Wände  sind  ein  Bild  des  Paradieses;  wenn  es 
die  leuchtenden  Fenster  betrachtet,  ist  es  von  der  unaussprechlichen  Schön- 
heit des  Glases  und  von  der  Mannigfaltigkeit  prächtiger  Farben  entzückt  i). 
Er  schliesst  hieran  die  Ermahnung,  nun,  nachdem  das  Haus  des  Herrn  ge- 
schmückt sei,  das  noch  Fehlende  zu  ergänzen  und  auch  die  Geräthe  zum 
Dienste  des  Altars  in  gleicher  Weise  auszustatten. 


1)  His  virtutum  stipulalionibus  (durch  die  Gaben  des  h.  Geistes)  aaimatus,  donuim 
Dei  ,  fiducialiter  ag-gressus ,  tanto  lepore  decorasti  et  laquearia  seu  parietes  diverso 
opere  diversisque  coloribus  distinguens  paradysi  Dei  speciem  tloribus  variis  vernantem, 
gramine  foliisque  virentem  et  Sanctorum  animas  diversi  meriti  coronis  fovenTfem  quo- 
danimodo  aspicienlibiis  ostendisti ,  quodque  creatorem  Daum  in  creatura  laudant ,  et 
mirabilem  in  operibus  suis  praedicaiit,  efl'ecisti.  Nee  enim  perpendere  humanus  oculus 
cui  operi  primum  aciem  infinget;  si  respicit  laquearia,  vernant  quasi  pallia;  si  consi- 
derat  parietes,  est  paradysi  species;  si  luminis  abundantiam  ex  fenestris  iutuetur ,  in- 
estimabilem  vilri  decorem  et  operis  preliosissimi  varietatem  miratur. 


Ilire  Bedeutung.  559 

Ich  weiss  keine  Stelle,  welche  wie  diese  uns  eine  so  befriedigende,  so 
sehr  durch  die  Kunstwerke  bestätigte  Auskunft  über  die  Stimmung  der 
mittelalterlichen  Künstler  gewährte.  Sie  gingen,  wie  es  nicht  anders  zu 
erwarten  und  zu  wünschen  war,  von  religiösen  Empfindungen  aus,  stützten 
sich  auf  ^Yorte  der  Schrift ,  erwarteten  ilire  Begeisterung  von  den  Gabeg 
des  heiligen  Geistes.  Aber  diese  Religiosität  war  nichts  vreniger  als  asce- 
tisch  strenge  oder  trübe;  jene  moderne  Auffassung,  welche  an  den  Glas- 
gemälden die  mystische,  ehrfurchterweckende  Dunkelheit  bewundert,  war 
ihnen  fremd.  Ueberall,  wo  derselben  erwähnt  ist,  wird  vielmehr  die  Mannig- 
faltigkeit ihrer  Farben,  die  Menge  des  durchscheinenden  Lichtes  gerühmt. 
Wenn  Albrecht  von  Scharfenberg  in  seiner  Bearbeitung  des  Titurel  bei  der 
Beschreibung  des  Tempels  von  Monsalwatsch  alle  Theile  mit  den  kost- 
barsten Edelsteinen  verziert  darstellt,  wenn  er  die  Fenster  aus  Beryllen  und 
Krystallen  zusammensetzt ,  die  soviel  Tag  eiuliessen ,  dass  das  Auge  davon 
verletzet  sei  ^),  wenn  er  die  „Reichheit"  des  ganzen  Gebäudes  überall  rühmt, 
so  sind  das  zum  Theil  Uebertreibungen  eines  schwülstigen  Dichters  des  vier- 
zehnten Jahrhunderts.  Aber  es  liegt  ihnen  doch  noch  das  Gefühl  der  älteren 
Generation  zum  Grunde,  welches  Theophilus  schildert;  auch  er  möchte  alle 
Pracht  und  allen  Glanz  in  der  Kirche  vereinigen.  Offenbar  hängt  seine 
künstlerische  Begeisterung  mit  einem  warmen  Gefühle  für  die  heitere  Schön- 
heit der  Natur  zusammen.  Freilich  ist  sie  nicht  Gegenstand  und  Aufgabe 
seiner  Kunst,-  diese  beschäftigt  sich  nicht  mit  der  gemeinen,  irdischen  ^yelt, 
sondern  mit  einer  verklärten,  deren  Vorstellung  sie  in  der  Seele  des  Be- 
schauers hervorrufen  will.  Aber  die  Farben  dieser  verklärten  Natur  nimmt 
sie  eben  aus  der  wirklichen.  Theophilus  will  ausdrücklich,  dass  der  Be- 
schauer der  Kirche  die  Wunder  Gottes  in  der  Schöpfung  preise;  er  erinnert 
an  die  Blumen  des  Frählings,  an  das  Grün  in  Wäldern  und  Thälern,  er 
verschmähet  es  nicht,  den  Glanz  eines  schillernden  Gewandes  zur  Vergleichung 
heranzuziehen.  Wenn  das  Äüttelalter  kein  scharfes  Auge  für  das  Einzelne 
der  Natur  hatte,  weil  es  darin  nur  symbolische  Beziehungen  suchte,  so  war 
es  doch  höchst  empfänglich  für  das  Ganze  der  natürlichen  Erscheinung,  für 
den  reichen  Farbenglauz,  der  mit  tausendstimmigem  Chore  den  Schöpfer 
preist  und  die  Menschenseele  erfreut,  und  wusste  die  leuchtendsten  Farben, 


^)  San  Marte,  Leben  und  Dichten  Wolfram's  von  Eschen bacli,  Tli    II,  S.  122: 
Berillen  und  Cristallen 
Waren  da  für  Glas  gesetzet; 
Dadurch  begunde  fallen 

Des  Tags  so  viel,  das  leicht  da  war'  geletzet 
Ein   Aug',  ob  es  die  Länge  freveulicher 
Darin  sehende  war'. 


RßQ  Mosaik  der  Fussböden. 

die  kräftigsten  Töne  aus  der  Natur  in  das  künstlerische  Werk  zu  übertragen. 
Diese  Farbenlust  war  das  vermittelnde  Element  zwischen  der  kirchlichen 
Strenge  und  der  überströmenden  Jugendkraft  des  Zeitalters.  Gerade  durch 
diese  Verbindung  wurde  dieKunst  des  Mittelalters  so  stark  und  so  wirksam; 
sie  war  erhaben  und  doch  populär,  der  strenggläubige  ernste  Mönch  und  der 
lebensfrohe,  jugendlich  kräftige  Laie,  die  scholastische  Kirchenlehre  und 
Symbolik  und  die  Naturgefühle,  welche  den  ritterlichen  Sänger  erfüllten  und 
im  Volksliede  einen  ahnungsvollen  Ausdruck  hatten^  fanden  in  ihr  gleiche 
Befriedigung;  alle  Extreme  waren  in  dem  wunderbaren  Accorde  ihrer  viel- 
farbigen Pracht  verschmolzen  und  versöhnt. 

Selbst  an  den  Fussböden,  bei  denen  die  neuere  Zeit  seit  dem  sieben- 
zehnten Jahrhundert  sich  fast  immer  mit  farblosen  oder  höchstens  mit  ein- 
fach wechselnden  Fliesen  begnügte,  äusserte  sich  dies  allgemeine  Gesetz  der 
Vielfarbigkeit.  Allerdings  stammte  der  Gebrauch  musivischer  Auslegung 
des  Bodens  aus  der  antiken  Welt,  war  von  ihr  auf  die  italienischen  Basiliken 
und  demnächst  in  die  der  nördlichen  Länder  übergegangen.  Während  aber 
die  dazu  erforderliche  Technik  dort  bald  so  vergessen  wurde,  dass  man,  wie 
wir  durch  Leo  von  Ostia  wissen,  im  elften  Jahrhundert  byzantinische  Arbeiter 
herbeirufen  musste,  erhielt  sie  sich  diesseits  der  Alpen  länger  und  wurde 
theils  zu  bloss  decorativer  Ausstattung,  theils  aber  auch  zu  historischen  oder 
symbolischen  Darstellungen  benutzt.  Schon  im  elften  Jahrhundert  wird  der 
vielfarbige  Schmuck  des  Bodens  rühmend  erwähnt  %  und  eine  tadelnde 
Aeusserung  des  h.  Bernhard  beweist,  dass  im  folgenden  auch  figürliche 
Darstellungen  hier  gewöhnlich  waren  ^).  Auch  haben  sich  aus  dieser  Zeit 
manche  Ueberreste  oder  Beschreibungen  erhalten,  welche  diese  Darstellungen 
als  sehr  umfassend  erweisen.  Im  Dome  zu  Hildesheim  fand  man  einen 
solchen  Mosaikboden,  auf  welchem  die  Tugenden  und  zwei  historische 
Scenen,  von  denen  das  Opfer  Abrahams  noch  erkennbar,  von  einer  Ein- 
rahmung umschlossen  waren,  welche  auf  der  oberen  Seite  das  Symbol  der 
Dreieinigkeit,  ein  dreifaches  Gesicht,  unten  die  Personiticationen  der  vier 
Elemente,  an  den  Seiten  aber  Vita  und  Mors,  also  das  menschliche  Leben 
zwischen  Gott  und  der  Natur  enhielt-^).  Verwandte  Gedanken  waren  in 
dem  Mosaikboden  des  Chores  von  St.  Remy  in  Ehe  im  s  ausgeführt;  denn 


')  Abt  Eberhard  von  Tegernsee  (f  1091)  „pavimentum  in  choro  et  in  ecclesia 
vario  lapidum  artificio  decoravit".  Pez,  Tiiesaiir.  III,  3,  315,  bei  Wackernagel  a.  a.  0. 
S.  135. 

^)  Ep.  ad  Wilhelmum  Abb.  (Opp.  I,  544):  At  quid  saltem  sanctornm  imagines 
non  venerentur,  quibus  utique  hoc  ipsum,  quod  pedibus  conculcatur,  nitet  pavimentum -^ 
saepe  spuitur  in  os  angeli  ,  saepe  alicujus  sanctornm  facies  caicibus  tunditur 
transeuntium. 

■')  Piper,  Christi.  Kniistmytliol.  II,   700. 


Mosaik.  561 

auch  hier  sah  man  zunächst  dem  Altare  Abraham's  Opfer  und  andere  alt- 
testamentarische Symbole  für  den  Tod  Christi,  im  vorderen  Räume  aber  die 
Erde,  eine  männliche,  auf  dem  Okeanos  sitzende  Gestalt,  umgeben  von  den 
vier  Paradiesesflüssen,  Jahreszeiten  und  Tugenden,  so  wie  weiterhin  von  den 
zwölf  Monaten  und  Sternbildern ^j.  Auch  das  Mosaik,  welches  im  drei- 
zehnten Jahrhundert  in  der  Kathedrale  von  Canterbury  vor  dem  Schreine 
des  Thomas  Becket  angebracht  wurde,  enthält  durch  Zusammensetzung  von 
farbigen  Steinen  auf  Medaillons  von  dunklem  Marmor  die  Gestalten  und 
Zeichen  von  Tugenden  und  Lastern,  Sternbildern  und  Monaten. 

Anfangs  bediente  man  sich  zu  diesem  Zwecke ,  ganz  nach  römischem 
und  italienischem  Vorbilde,  des  natürlichen  Steines,  so  gut  man  ihn  hatte; 
noch  die  Gestalt  des  Abtes  Gilbertus  vonLaach,  auf  seiner,  jetzt  im  Museum 
zu  Bonn  befindlichen  Grabplatte  aus  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahr- 
hunderts und  einige  nicht  mehr  erkennbare  Darstellungen  legendarischer 
Hergänge  in  der  Krypta  von  St.  Gereon  in  Köln,  welche  um  1200  ent- 
standen zu  sein  scheinen,  sind  mit  grossen  \Yürfeln  natürlichen  Steines 
ziemlich  roh  ausgeführt  -).  In  England ,  wo  man  schon  frühe  nach  dem 
Auslände  hinblickte  und  fremde  Künstler  und  Stoffe  benutzte,  suchte  man 
sogar  in  der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  die  erneuerte 
italienische  Technik  des  Mosaiks  sich  anzueignen.  Das  im  Jahre  1260 
oder  1270  errichtete  Grabmal  Eduard's  des  Bekenners  in  der  Westminster- 
abtei  ist  von  einem  Petrus  %  der  sich  römischer  Bürger  nennt,  in  der  "Weise 
der  Cosmaten  und  in  Marmor  musivisch  geschmückt,  und  in  dem  Marmor- 
mosaik, unter  welchem  der  im  Jahre  1283  verstorbene  Abt  Richard  de 
Ware  ruhet,  rühmt  die  Inschrift  wortspielend,  dass  er  die  Steine,  welche 
er  jetzt  trage,  aus  Rom  hierher  getragen  habe^j. 

An  anderen  Orten,  wo  man  die  Kunst  mit  einheimischen  Mitteln  be- 
friedigen musste ,  kam  man  indessen  schon  im  zwölften  Jahrhundert  darauf, 
den  Mangel  an  Marmorstücken  durch  glasirte  Ziegel  zu  ersetzen,  denen 
man  vor  dem  Brennen  durch  Aufstreichen  anderer  Erdarten  verschiedene 
Farben  gab.  Man  begnügte  sich  dabei  aber  nicht  mit  dem  blossen  Farben- 
wechsel viereckiger  Platten,  sondern  gab  den  Steinen  nach  Maassgabe  einer 


1)  Dom  Marlot,  Hist.  de  la  Ville  de  Rlieims  II,  542,  bei  Didron  Anual.  archeol. 
X.  61  ff. 

-)  Kugler  kl.  Sclir.  II,  284. 

5)  Dass  es  nicht  (wie  Vertue  und  Walpole  annehmen)  Pietro  Cavallini  gewesen 
sein  kann  ,  ist  ausser  Zweifel ,  da  dieser  später  lebte.  Fiorillo,  G.  d.  z.  K.  Bd.  V, 
S.  108.  In  der  Inschrift  ist  das  Jahrzehent  (sexageno  oder  septuageuo)  nicht  mehr 
deutlich. 

■*)  Abbas  Richardus  de  W'ara,  qui  requiescit  hie,  portal  lapides,  quos  huc  porta- 
vii  ab  urbe. 

Schnaase's  Kunstgesch.     2.  Aufl.     V.  36 


562 


Zieffelmosaik 


zum  Grunde  gelegten  Zeichnung  verschiedene   ineinandergreifende  Formen 
und  erlangte  so  sehr  mannigfaltige  Muster.     Die  älteste  uns  bekannte  Arbeit 
dieser  Art ,    wiederum    in    dem   Bau   des    Suger  im  Öhore  von  St.   Denis, 
zeigt  eine  fortgeschrittene  Technik  und  einen   grossen  Reichthum   der  Er- 
findung.    Der  Boden  jeder  einzelnen  Kapelle  besieht  nicht  aus  einem  ein- 
zigen, sondern  aus  vielen,  streifenförmig  nebeneinander  herlaufenden  ,   sehr 
originellen   Mustern.     Bald   sind  es   gelbe    und  schwarze,    verschiedenartig 
zusammengesetzte  Polygone  oder  Dreiecke,  bald  rothe  und  schwarze  Kreis- 
linien, die  sich  auf  einem  Grunde  von  unglasirten  Steinen  durchschneiden, 
bald    endlich   eiförmige  Figuren,   welche  zu  dreien   aneinandergestellt  ein 
sphärisches  Dreieck  umschliessen.   Eines  dieser  Muster  besteht  aus  schwarzen 
Quadern  mit  der  französischen  Lilie  in  gelber  Farbe,  wobei  aber  jede  dieser 
Quadern  aus  sieben  Stücken  zusammengesetzt  ist,  von  denen  drei  die  Lilie, 
vier  den  Grund  bilden.     Mehrmals  sind  auch  grössere  Ziegel,  kreisförmige, 
viereckige,  polygone  oder  künstlicher  gestaltete,  in  der  Mitte  durchbrochen 
und  durch  einen  entsprechenden  Stein  von  anderer  Farbe  ausgefüllt.    Einige 
Male   wurde   dies  Verfahren   auch   zur  Ausführung   von  Figuren   auf  Grab- 
steinen benutzt;   so   in  St.  Bertin  in  St.  Omer  auf  dem  Grabe  des  schon  im 
Anfange  des  zwölften  Jahrhunderts  verstorbenen  Sohnes  des  Grafen  Robert 
von  Flandern,   und  im  Kapitelsaale   zu  Jumieges  sogar  bei  einer  Reihe  von 
Aebten.     Die  Körper   sind   dabei  aus  einzelnen,  durch  Mastix  verbundenen 
farbigen  Ziegelstücken   zusammengesetzt,   also  in  ganz  ähnlicher  Weise  wie 
in  der  Glasmalerei.     Dagegen  erhielten  die  Fussböden  nun  durchgängig  nur 
Muster,  wahrscheinlich  weil  man  die  Kostspieligkeit  figurirter  Darstellungen 
scheute,   da   sie  nur  durch  eigends  dazu  gefertigte  Formen  gebildet  werden 
konnten.     Im  dreizehnten  Jahrhundert   erfand   man  jedoch   ein  Mittel ,   die 
Procedur  zugleich  zu  vereinfachen   und   zu  vervollkommnen.     Man   drückte 
nämlich  in  den  weichen  Thon  des  geformten  Ziegels  eine  in  Holz  geschnittene 
Figur  von  beliebiger  Zeichnung  ein,  füllte  dann  diese  Vertiefung  mit  anders 
gefärbte  Erde,  und  erlangte  so  auf  demselben  Steine  ein  mehrfarbiges  Bild, 
dem  man  auch  freiere  Zeichnung  geben   konnte   als   vermittelst  blosser  Zu- 
sammensetzung einzelner  Steine.    Daher  bestehen  die  Fussböden  nun  meistens 
aus  Blumen  und   zierlicheren  Arabesken,   abwechselnd    mit  Löwen,  Adlern, 
Greifen  und  ähnlichen  Thieren,  welche,  in  beliebiger  Ordnung  wiederkehrend, 
einen  sehr  reichen  und  würdigen  Steinteppich  bilden.    Die  geschmackvollste 
Leistung  dieser  Art  ist  der  Boden   des  Quadraten  Kapitelsaales  im   Kloster 
St.  Pierre-sur-Dive  in  der  Normandie.     Die  Anordnung  ist  nämlich  so, 
dass   um  ein  Medaillon   in    der  Mitte   des  Saales  acht  concentrische  Kreise 
sich   herumlegen ,   jeder  aus   Steinen  gleicher  Zeichnung   zusammengesetzt, 
aber  von  den  anderen  verschieden,  während  endlich  die  Ecken  wieder  andere 
Motive  enthalten.     Die  Farben   sind  nur  Schwarzbraun  und  ein   weissliches 


im  nördlichen  Frankreich  und  in  England.  563 

Gelb  ^),  und  zwar  so,  dass  in  den  inneren  Kreisen  stets  gelbe  Zeichnung  auf 
schwarzem  Grunde,   in  den  äusseren,  anfangs  abwechselnd,  nachher  über- 
wiegend, schwarze  Zeichnung  auf  gelbem  Grunde   steht,   so   dass  sich  dann 
die   Ecken,   in   welchen   wieder   die   dunkle    Farbe   vorherrscht,    von   dem 
nächsten  Kreise   scharf  absetzen  und  durch  ihre  Farbenverwandtschaft  mit 
den  inneren  das  Ganze  zusammeuschliessen.    Zuweilen  finden  sich  auch  statt 
dieser  bedeutungslosen   Figuren  symbolische,  das  Kreuz,   das  Lamm,   der 
Pelikan,   die  Zeichen  der  Evangelisten,   einige  Male   auch  menschliche  Ge- 
stalten.    Unter   den   Fragmenten  eines  Fussbodens,   welche  jetzt    in   einer 
Seitenkapelle  der  Kathedrale   von  St.  Omer  gesammelt  sind,   erkennt    man 
die  sieben  freien  Künste  mit  ihren  Attributen,  die  Monate,  mancherlei  Thiere, 
einen  Elepbanten,  einen  Centaur,   endlich  auch  die  Bilder  mehrerer  Ritter 
zu  Ross  und  in  voller  Rüstung,  mit  einer  Umschrift,  welche  sie  nennt  und 
als  Gescheukgeber   und   zwar    einzelner   Steine    bezeichnet-).      Dem   Style 
nach  ist  die  Arbeit  vom  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts.     Im  Priorate 
der  Kathedrale  von  Ely,  in  der  Kapelle  des  Priors  John  von  Crowdon  sind 
vor  dem  Altar  Adam  und  Eva,  ihre  Figuren  lederfarbig  und  aus  mehreren 
Ziegeln  zusammengesetzt,  nebst  dem  Baume  der  Erkenntniss  und  mehreren 
Thieren  dargestellt  ^).     In  der  längst  abgebrochenen  Kathedrale  zu  Hamburg 
war   sogar   ein  Denkmal  des  Papstes   Benedict   V.   mit    seiner   Gestalt    in 
natürlicher  Grösse  und  mit  Heiligengestalten  an  den  Seiten  derselben  ganz 
in  Ziegeln  ausgeführt,  deren  zwölf  jene  grosse  Gestalt  bildeten,   dem  Style 
nach  im  dreizehnten  Jahrhundert*). 

Der  Hauptsitz  dieser  Technik  scheint  das  nördliche  Frankreich,  be- 
sonders die  Xormandie  gewesen  zu  sein,  wenigstens  sind  hier  die  zahlreichsten 
und  bedeutendsten  Ueberreste^);   auch  findet   man  in  englischen  Urkunden, 


^)  Das  Gelb  ist  in  allen  diesen  Ziegelmustern  vorherrschend  und  /.war  deshalb, 
weil  der  weisse  Pfeifenlhon ,  welcher  als  ein  vorzugsweise  geeigneter  Stoff  überall 
angewendet  wurde,  durch  die  Glasur  eine  gelbliche  Farbe  erhält. 

2)  Z.  B.  Fulco  ülius  Johannis  de  Sancta  Adelguiida  dedit  istum  lapidem  in  honorem 
Sancti  Audomari.  —  Vgl.  Gailhabaud    l'architecture    etc.    Bd.    11     und     Ann,    archeol. 
Vol.  Xir,  S.   137  mit  Abbild. 
'     ^)  Allerdings  wahrscheiulich  erst  vom  Anfange  des  vierzehnten  Jahrhunderts. 

•*)  Acta  Sanct.,  Pro|iy!aeon  Maji  p.  164. 

^)  Die  französische  Literatur  über  diesen  Gegenstand  ist  nachgerade  sehr  reich- 
haltig. Vgl.  zunächst  Caumont,  Bull,  momum.  1848 ,  p.  712 ,  und  im  Abecedaire 
d'Archeologie  ,  sowie  eine  Reihe  von  Aufsätzen  iu  Didron's  Annales  archeologiques, 
Vol.  IX,  X,  XI  und  XII.  Ausserdem  sind  mehrere  bilderreiche  Werke  angekündigt 
«nd  theilweise  erschienen:  Wallet,  Descr.  du  pave  de  l'ancienue  Cath.  de  St.  Omer; 
Emile  Ame,  les  carrelages  emaillees  du  moyen  &ge  et  de  la  renaissance  dans  le  dep. 
de  l'Yonue,  mit  50  farbigen  Tafeln;  Ed.  Fleury,  Etüde  sur  le  pavage  emaille  dans  le 
dep.  de  TAisne,  mit  200  Zeichnungen;  endlich  Alfred  Rame,  Etudes  sur  les  carrelages 

:56* 


PyQA  Ziegel  mosaik. 

dass  solchen  Ziegeln  noch  spät  der  Name  der  normannischen  beigelegt  wird. 
Indessen  hat  man  auch  in  England  an  mehreren  Orten  vereinzelte  Ueber- 
reste  und  neuerlich  im  Kapitelhause  von  Westmünster  einen  fast  ganz  er- 
haltenen Boden  von  Ziegelmosaik  entdeckt  ^),  welche  sämmtlich  noch  aus  dem 
dreizehnten  Jahrhundert  zu  stammen  scheinen  ^). 

Nicht  minder  sind  fast  in  allen  Gegenden  Deutschlands  Ueberreste  ent- 
deckt. Zu  den  ältesten  gehören  die  aus  dem  Kloster  Altenzelle  stam- 
menden, welche  jetzt  im  vaterländischen  Museum  zu  Dresden  bewahrt  werden, 
indem  sie,  obgleich  schon  dem  dreizehnten  Jahrhundert  angehörig,  wie  jene 
französischen  Mosaikböden  des  zwölften,  durch  sinnreiche  Zusammenfügung 
verschiedengeforrater  Ziegelstücke  ein  sehr  geschmackvolles  Muster  bilden. 
Aus  derselben  Zeit  stammen  dann  auch  die,  mit  welchen  der  Chor  der  Kirche 
zu  D  ob  er  an  in  Mecklenburg  ausgelegt  ist,  und  die  in  der  benachbarten 
Kapelle  zu  Althof  gefundenen.  Sie  sind  schon  nach  der  zweiten  Ver- 
fahrungsweise  gearbeitet  und  enthalten  auf  einzelnen  viereckigen  Tafeln  von 
rothbraunem  Grunde  Centauren,  Drachen,  Löwen  und  andere  Thiere.  Die 
jetzige  Kirche  zu  Doberan  ist  erst  im  vierzehnten  Jahrhundert  erbaut,  die 
Ziegel  sind  aber  aus  dem  älteren  Bau  beibehalten,  indem  einige  derselben 
Art  sogar  in  der  schon  1219  —  1232  errichteten  Fürstengruft  gefunden 
sind.  Auch  weist  der  Styl  auf  das  dreizehnte  Jahrhundert.  Sehr  merk- 
würdig ist,  dass  einige  dieser  Ziegel  mit  denen  der  romanischen  Kirche  des 
114  7  gestifteten  Cistercienserklosters  zuHovedöe  bei  Christiania  in  Norwegen 
so  genau  übereinstimmen,  dass  sie  nothwendig   mit  denselben  Formen'^)  ge- 


historiees  du  XII.  au  XVII.  siecle.  Decorde,  pavage  des  eglises  dans  le  pays  de  Bray^ 
1858.  Einen  sehr  lehrreichen  Artikel  enthält  auch  das  Dictionnaire  de  TArchitecture 
von  Viollet-le-Duc,  Vol.  II,  p.  259  ff. 

"  M  Vgl.  den  Bericht  über  diese  Entdeckung  in  der  Archaeologia  brit.  XXIX ,  p. 
390.  —  Die  Zeitschrift  The  Reliquary,  vol.  XI,  1870  —  71,  theilt  ein  schönes  Ziegel- 
mosaik in  der  Kirche  zu  Wirksworth ,  Derbyshire  mit ,  neu  entdeckt  durch  Herrn 
Llevvellyn  Jewitt,  der  im  Texte  angiebt,  dass  solche  Ziegel  zu  Repton  fabricirt  wurden. 

-)  Vgl.  den  Artikel  Tiles  for  paving  in  Parker's  Glossary  of  Architecture  und  die 
daselbst  gegebenen  Abbildungen. 

■■')  Lisch  (Blätter  zur  Geschichte  der  Kirchen  zu  Doberan  und  Althof,  Schwerin 
1854) ,  welcher  diese  merkwürdige  Thatsache  mittheilt  und  mit  Abbildungen  belegt, 
will  darin  ein  Argument  zu  Gunsten  der  früher  erwähnten  Hypothese  einer  Einwirkung 
norwegischer  Kunst  auf  die  südlicheren  Länder  finden.  Allein  offenbar  ist  der  Zu- 
sammenhang ein  anderer.  Hovedöe  war  eine  Stiftung  des  erst  kurz  vorher  ge- 
gründeten Klosters  Kirkstall  in  England ,  und  bekanntlich  standen  die  Cistercienser- 
klöster  in  der  ersten  Zeit  des  Ordens  in  enger  Verbindung  mit  den  Mutterklöstern. 
Ohne  Zweifel  hat  daher  das  norwegische  Kloster  bei  jenen  Ziegeln  nicht  norwegische, 
sondern  französisch-englische  Technik  angewendet.  Auch  Doberan  war  aber  ein  Cister- 
cienserkloster,  und  so  ist  es  sehr  denkbar,  dass  es  nicht  bloss  die  Arbeit  von  Hovedöe 


Labyrinthe.  565 

macht  sein  müssen.  Auch  in  Lübeck  \)  hat  man  bedeutendere,  und  an 
mehreren  Orten  des  südlichen  Deutschlands  geringere  Ueberreste  dieser 
Technik  gefunden. 

Wahrscheinlich  schmückte  man  mit  solchen  glasirten  Ziegeln  haupt- 
sächlich die  Chöre,  Kapitelsäle  und  überhaupt  solche  Räume,  welche  dem 
Zulaufe  des  Volkes  und  mithin  der  Abnutzung  durch  schwere  Tritte  weniger 
ausgesetzt  waren ,  und  begnügte  sich  im  Schiffe  der  Kirchen  entweder  mit 
einfarbigen,  gemusterten  oder  mit  abwechselnden  glasirten  und  rauhen 
Steinen.  Ueberdies  führte  die  im  dreizehnten  Jahrhundert  aufkommende 
Sitte,  das  Schiff  mit  Grabsteinen  zu  belegen,  zur  Zerstörung  der  älteren  Fuss- 
böden,  so  dass  wir  von  denselben  hier  überall  keine  Spuren  gefunden  haben. 
Indessen  hat  sich  bis  auf  die  neueste  Zeit  im  Mittelschiffe  mehrerer  Kathe- 
dralen oder  Hauptkirchen  eine  eigenthümliche  Fussbodenverzierung  musi- 
vischer  Art  erhalten,  welche  man  Labyrinth  oder  Bittgang  genannt  hat, 
und  die  aus  einer  durch  dunkleren  Stein  in  der  Fläche  des  Fussbodens  be- 
zeichneten spiralförmig  oder  sonst  künstlich  gewundenen  und  dem  Mittel- 
punkte zulaufenden  Linie  besteht.  Das  einzige  noch  erhaltene  Exemplar, 
im  Dome  zu  Chartres,  ist  kreisförmig-),  die  von  St.  Quentin,  Arras,  Amiens 
waren  achteckig,  das  von  Rheims  in  gleicher  Form,  aber  mit  vier  kleineren 
achteckigen  Figuren  daneben,  das  von  St.  Bertin  in  St.  Omer  viereckig  und 
endlich  das  in  der  Kathedrale  zuPoitiers  nach  einer  erhaltenen  Zeichnung-^) 
oval.  Man  vermuthet,  dass  der  Zweck  dieser  sonderbaren  Verzierung  ge- 
wesen, den  Gläubigen  als  Wallfahrtsweg  zu  dienen,  den  sie,  sei  es  als  Surro- 
gat für  eine  Pilgerung  nach  Jerusalem,  sei  es  zur  Erinnerung  an  den  schweren 
Gang  des  Heilandes  vom  Hause  des  Pilatus  zum  Calvarienberge ,  den 
Schlangenwindungen  der  Linien  folgend,  betend  und  vielleicht  auch  auf  den 
Knien  in  etwa  einer  Stunde  zurücklegen  konnten.  Dass  sie  dazu  an  einigen 
Orten  benutzt  worden,  ist  sehr  wahrscheinlich*),  indessen  ist  bei  keinem  eine 
bildliche  Andeutung  dieses  Zweckes  gefunden,  vielmehr  war  in  dem  von 
Amiens  das  Bildniss  des  Stifters  der  neuen  Kirche ,  des  Bischofs  Eberhard, 
und  des  Baumeisters,  und  in  dem  zu  Rheims  der  Architekt  nebst  vier  Werk- 
meistern dargestellt,  was  eher  darauf  hindeutet,  dass  es  ein  Kunststück  der 
Arbeiter  bei  Vollendung  des  Baues  gewesen  sei.     Uebrigens  scheint  dieser 


naoligeahmt,  sondern  wirklich  selbst  die  hölzernen  Formen  der  Figuren  von  dort ,    wo 
sie  nicht  mehr  g-ebraucht  wurden,  erhalten  hat. 

1)  Milde,  Denkmäler  bild.  Kunst  in  Lübeck,  Heft  2,  1848. 

2)  Dies  und  einige  der  unten  erwähnten   publicirt  bei  Gailhabaud  a.  a.  0.    Bd.  II. 

3)  Auber,  Bist,  de  la  cath.  de  Poitiers,  Vol.  I,  p.  296. 

*)  Wenigstens  versichert  dies  Wallet,  description  de  la  crypte  de  St.  Berti n  ,  in 
Beziehung  auf  das  Labyrinth  von  Arras.  Ob  dies  aber  ihre  ursprüngliche  Bestimmung 
gewesen  und  ob  es  kirchlich  gebilligt  worden,  ist  mindestens  sehr  zweifelhaft. 


566  Französische  Plastik. 

räthselhafte  Schmuck  von  Frankreich  ausgegangen  zu  sein,  da  er  in  Deutsch- 
land nur  ein  Mal,  und  zwar  in  St.  Severin  zu  Köln^),  in  England,  soviel  mir 
bekannt,  gar  nicht  entdeckt  worden. 


Neuntes  Kapitel. 

Die    Plastik. 

Im  Anfange  der  Epoche  eilte  die  Malerei  derSculptur  voraus;  durch  die 
Miniatur  von  den  neuen  geistigen  Regungen  belebt,  als  Wandmalerei  heil- 
samer architektonischer  Zucht  unterworfen,  schien  sie  im  Besitze  aller 
Mittel  zur  Ausbildung  eines  neuen ,  den  Bedürfnissen  des  Zeitalters  ent- 
sprechenden Styls.  Allein  das  natürliche  Gesetz,  welches  der  Sculptur  den 
Vorrang  giebt,  war  wohl  modificirt,  aber  nicht  aufgehoben;  ein  fester^ 
bleibender  und  maassgebender  Styl  konnte  nur  durch  die  Darstellung  in 
voller  körperlicher  Rundung  erlangt  werden.  Sobald  diese  ihn  ausgebildet 
hatte,  etwa  um  1250,  zögerte  die  Malerei  nicht,  sich  ihm  zu  unterwerfen, 
wie  wir  denn  dies  bei  der  Betrachtung  ihrer  einzelnen  Zweige  wahr- 
genommen haben. 

Freilich  hatte  die  Sculptur  einen  längeren  Weg  zu  durchschreiten,  eine 
strengere  Schule  durchzumachen.  Ehe  sie  es  wagen  durfte,  sich  der  Natur 
zu  nähern,  musste  sie  sich  völlig  der  ursprünglichen  Rohheit  entwinden^ 
Maass  und  Verhältnisse  an  der  Architektur  erlernen,  sich  den  geraden 
Linien  und  den  scharf  geschnittenen  Profilen  dieser  herrschenden  Kunst 
anbequemen.  Dadurch  erklärt  sich  die  auffallende  Erscheinung,  dass 
während  die  Malerei  schon  freieren  Regungen  Raum  giebt,  die  Sculptur  sich 
nach  der  entgegengesetzten  Seite  hinwendet,  und  eine  Strenge  des  Styls 
ausbildet,  welche  die  des  früheren  byzantinisirenden  der  Malerei  noch 
übertraf. 

Am  auffallendsten  ist  dies  gerade  in  dem  Lande,  in  welchem  bald 
darauf  die  Sculptur  freieren  Styls  ihre  reichsten  Blüthen  trug,  im  nördlichen 
Frankreich 2).  In  derselben  Zeit,  wo  die  Baukunst  den  Weg  kühner 
Neuerungen  mit  Entschiedenheit  betrat,  an  denselben  Bauwerken,  welche 
dazu  die  erste  Anregung  gaben,  bildete  sich  hier  eine  plastische  Schule  der 
alterthümlichsten  Art.     Zu   ihren   frühesten  Leistungen  gehören  die  Portale 


^)  Kreuser,  der  christl,  Kirehenbau,  I,  145. 

2)  Vgl.  Viollet-le-Duc,  Dict,  VIII,    S.  96,    s.  v.  Sculpture.  —  W.  Liibke,  Gesch. 
der  Plastik,  2.  Auflage.     Leipzig  1871,  Buch  IV,  Cap.  II  u.  III. 


Strenger  Slyl. 


567 


Fig.  133 


an  der  Kirche  zu  St.  Denis  und  an  der  Kathedrale  zu  Chartres,  deren 
Bildwerke  aus  der  Zeit  des  Baues  selbst  (1140  und  1145)  stammen.  Hier, 
wo  zuerst  das  Beispiel  vollständiger  plastischer  Ausschmückung  der  ver- 
tieften Seitenwäude  mit  Statuen,  des  Bogenfeldes  mit  Reliefs,  der  Archivolten 
mit  Statuetten  gegeben  wurde,  finden  wir  Gestalten  von  übermässiger  Länge, 
mit  hagerem,  fast  geradlinig  gestrecktem 
Körper,  mit  kleinen,  etwas  vorgebogenen 
Köpfen  und  herabhängenden  Füssen,  die  Ge- 
wandung von  scharfen  parallelen  Falten  fast 
gänzlich  bedeckt,  auch  wohl  an  den  Rändern 
verziert  und  mit  Edelsteinen  geschmückt,  mit 
einem  Worte  alle  Kennzeichen  des  früheren 
byzantinisirenden  Styls.  Die  Sculptur  war 
bisher  in  diesen  Gegenden  noch  wenig  ge- 
übt, ihre  Leistungen  scheinen  sich  auf  die 
rohen  Thiergestalten  und  Köpfe,  welche  als 
Consolen  dienten ,  beschränkt  zu  haben.  Es 
ist  daher  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die  Er- 
bauer jener  Kirchen,  indem  sie  das  Bedürfniss 
plastischen  Schmuckes  empfanden,  sich,  wie 
dies  wenigstens  Suger  nach  seinem  Berichte 
in  allen  Kuustzweigen  that,  der  Hülfe  fremder, 
herbeigerufener,  in  der  Plastik  erfahrener 
Künstler  bedient,  und  diese  ans  der  nächsten 
plastischen  Schule,  also  aus  Burgund  und  dem 
südlichen  Frankreich  genommen  haben  wer- 
den, wo,  wie  wir  früher  gesehen  haben, 
strenge,  byzantinisirende  Formen  üblich  waren  1). 
Allein  jedenfalls  kann  dies  die  Eigenthüm- 
lichkeiten  dieser  nordischen  Sculpturen  nicht 
völlig  erklären,  da  ihr  Styl  in  der  That  ein 
anderer  und  noch  strengerer  ist,  als  jener 
südliche.  Auch  lassen  die  Formen  keinen 
Zweifel,  unter  welchem  Einflüsse  sie  entstanden 
sind;  der  architektonische  Sinn,  der  jetzt  in 

diesen  Gegenden  vorhei'rschte,  bemächtigte  sich  hier  auch  der  Plastik.  Die 
übermässige  Länge  der  Gestalten  hängt  damit  zusammen,  dass  die  Säulen  der 
Portalwände  schlanker  geworden  sind,  sie  sind  gleichsam  mit  diesen  empor- 
geschossen; die  Falten  der  Gewänder  sind  entweder  senkrecht  oder  parallel. 


Kathedrale  zu  Chartres. 


1)  Vgl.  Bd.  IV,  S.  680. 


5ßg  Französische  Plastik. 

wie  die  Canneluren  der  Säulenschäfte,  oder  fast  horizontal  sich  wiederholend. 
Es  waren  Bauleute,  welche  den  Meissel  handhabten,  und  auch  hier  sich  von 
dem  Gesetze  des  Winkelmaasses  nicht  losreissen  konnten.  Freilich  machen 
nun  diese  dünnen,  ausgereckten  Gestalten  mit  ihren  wenig  belebten ,  herab- 
hängenden Köpfen  auf  uns  den  Eindruck  ascetischer  Abtödtung;  aber  gewiss 
war  dieser  nicht  beabsichtigt.  Weder  Sugcrs  Bericht  lässt  darauf  schliessen, 
noch  dürfen  wir  es  bei  den  Arbeitern  voraussetzen.  Allerdings  war  die 
Tradition  typischer  Würde  bei  ihnen  noch  vorherrschend,  wie  dies  die  Ge- 
stalt des  Erlösers  zwischen  den  etwas  gewaltsam  bewegten  Thieren  der 
Evangelisten  im  Bogenfelde  des  Hauptportals  zu  Chartres  zeigt ,  daneben 
aber  erkennt  man  an  den  Köpfen,  besonders  an  weiblichen,  schon  ein  leb- 
haftes Betonen  des  Individuellen,  das  zu  der  Starrheit  der  Körper  und  zu 
ihrer  mumienartige  Einhüllung  in  eigenthümlichem  Gegensatze  steht,  und 
unter  den  kleineren  Statuetten  sind  Engel  von  lieblicher  Bildung. 

Die  Beispiele  dieses  Styls  sind  nicht  so  zahlreich,  wie  man  glauben 
sollte ,  sei  es ,  dass  er  in  geringerem  Umfange  geübt  wurde,  als  die  spätere, 
mehr  volksthümliche  Sculptur,  oder  dass  seine  Werke  durch  spätere  Arbeiten 
verdrängt  oder  sonst  zerstört  sind.  Die  bedeutendste  Leistung  desselben 
sind  die  schon  erwähnten  drei  Portale  der  Westseite  von  Chartres^);  an 
der  Kirche  zu  St.  Denis  sind  die  Statuen  aus  Sugers  Zeit  nur  an  einem 
Portale  des  Seitenschiffs,  an  der  Frontseite  aber  nur  die  Reliefs  erhalten^). 
Ausserdem  gehören  hierher  Portale  der  Kathedralen  zu  Mans^)  und  zu 
Bourges  *),  dort  das  südliche  der  Fagade ,  hier  ein  wahrscheinlich  aus  einer 
älteren  Bauzeit  beibehaltenes  Nebenportal,  beide  noch  rundbogig;  dann  die 
ausgezeichneten  plastischen  Arbeiten  an  der  Kathedrale  St.  Maurice  zu 
Angers,  Portale  an  der  Kirche  zu  St.  Loup  bei  Provins  und  zu  Ram- 
pillon  (Seine  et  Marne),  so  wie  an  der  Abteikirche  Bertancourt-les- 
Dames  in  der  Diöcese  von  Amiens,  und  endlich  zwei  Statuen  eines  Königs 
und  einer  Königin  aus  der  Kirche  der  alten  Abtei  Notre-Dame-de-Corbeille^), 


1)  Die  oben  beig-efügten  Zeiclinungen  sind  vom  Mittelportale  entlelint;  die  Arbeit 
des  nördlichen  Portals  ,  mit  welchem  vielleicht  der  Anfang-  gemacht  wurde  ,  ist  eine 
noch  strengere.  Vorzüglich  publicirt  bei  Gailhabaud  ,  l'architecture  et  les  arts  qui  en 
dependent,  ßd.  I.     Paris  1858. 

-)  Die    Statuen,    welche    man    jetzt  an  dieser  Stelle  sieht,    sind  Erfindungen  der 
Restauratoren  des  Gebäudes  im  vermeintlich  alten  Style. 
■■')  Merimee,  Voyage  en  Oaest,  p.  48. 

*)  Abbildungen  bei  Gailhabaud,  monuments  anciens  et  modernes  ,  Vol.  II ,  und  in 
Chapuy  moyen  Sge  monum.  num.  6.  Obgleich  rundbogig,  dürfte  dies  Portal  jünger 
sein  als  das  von  Chartres  ,  mit  dem  es  in  seiner  Anordnung  grosse  Aehnliclikeit  hat. 
^)  Eine  Abbildung  des  ganzen  Portals  in  der  voyage  dans  l'ancieune  France, 
Picardie,  einzelner  Statuen  bei  Willemin,  monumens  francais  ,  sowie  bei  Lacroix  ,  les 
arts  au  moyen  äge  et  ä  l'epoque  de  la  renaissance. 


Freier  Styl.  569 

welche  nach  dem  Abbruche  derselben  in  die  Gruft  zu  St.  Denis  gelangt  sind. 
An  der  Kathedrale  von  Senlis  und  an  den  beiden  älteren  Portalen  der  Stifts- 
kirche zu  Man t es  sehen  wir  gewissermaassen  einen  Uebergang,  indem  die 
strengere  Gewandbehandlung  noch  beibehalten,  aber  gemässigt  und  der 
Natur  genähert  ist.  An  Xotre-Dame  von  Paris  und  zwar  an  dem  Portal 
St.  Anna,  dem  südlichen,  finden  wir  beide  Style,  jenen  strengeren  und  den 
späteren  freieren,  neben  einander,  indem  man  bei  dem  unter  dem  Bischöfe 
Pierre  de  Nemours  (1208  —  1219)  begonnenen  Ausbau  der  jetzigen  Fagade 
Reliefs  und  Statuetten  des  zwölften  Jahrhunderts  verwendet  hat,  die  ent- 
weder aus  einem  älteren  Gebäude  beibehalten  oder  beim  Beginne  des  Neu- 
baues unter  Moritz  von  Sully  (1163)  vorgearbeitet  waren  ^).  Bemerkens- 
werth  ist  dabei  die  Statue  des  h.  Marcellus  am  Pfeiler  dieses  Portals,  indem 
sie,  obgleich  schon  dem  dreizehnten  Jahrhundert  angehörig,  eine  Accomo- 
dation  an  jene  älteren  Arbeiten  zeigt. 

Jedenfalls  dauerte  die  Herrschaft  dieses  strengeren  Styles  nur  bis  zum 
Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts.  Die  Künstler,  welche  jetzt  an  die 
Eeihe  kamen,  gehörten  nun  schon  den  städtischen  Corpora tionen  an  und 
theilten  den  Geist  der  Freiheit,  der  sich  in  den  Communen  regte.  Sie 
arbeiteten  an  den  Kathedralen,  in  denen  nicht  bloss  der  bischöfliche  Klerus, 
sondern  auch  die  Städte  ein  Zeugniss  ihrer  Macht  und  Selbständigkeit  ab- 
legen wollten,  und  brachten  ein  Gefühl  für  Lebenskraft  und  Naturvvahrheit 
mit,  dem  jene  befangene,  ängstliche  Behandlung  nicht  mehr  zusagte.  Wie 
das  Blattwerk  der  Kapitale  die  conventioneile  Form  ablegte  und  sich  ein- 
heimischen Pflanzen  näherte,  wurden  auch  die  menschlichen  Gestalten  freier 
und  natürlicher  aufgefasst.  Die  Architektur  kam  ihnen  dabei  entgegen, 
denn  auch  sie  hatte  nun  breitere  und  vollere  Formen  angenommen;  die 
Statuen  der  Portale  brauchten  nicht  mehr  den  schlanken,  enggestellten  Säulen 
angeheftet  zu  werden,  sondern  fanden  ihre  Stelle  in  geräumigen  Höhlungen, 
und  statt  des  gedrückten  Tympans  begünstigte  ein  hoch  aufsteigendes  Bogeu- 
feld  die  Entwickeluug  des  Reliefs.  Der  ganze  Bau  athmete  Luft  und  Frei- 
heit, und  die  Plastik  folgte  daher  auch  hier  nur  dem  Impulse  der  Architektur. 
Auch  die  Gegenstände  wurden  andere;  während  jener  strengere  Styl  sich 
mit  einfacher  Nebeneiuanderstellung  der  Figuren  begnügt  hatte,  gab  jetzt 
der  ganze  Umfang  des  Portals  einen  reichen  zusammenhängenden  Gedankeu- 
inhalt,  in  welchem  auch  die  Monatsbilder  der  bürgerlichen  Beschäftigungen 
und  Scenen   von    verständlich    moralischer   Bedeutung  Raum    fanden.     Es 


*)  Viollet-le-Diic,  Dictionii.  de  l'Arcli.  II ,  285  glaubt ,  dass  diese  Ueberreste  von 
der  abgebrochenen  Kirche  St.  Elienne,  an  welcher  um  1140  bedeutende  Arbeiten  statt- 
gefunden hatten,  hergenommen  seien;  Guilherniy,  Itineraire  archeologique  de  Paris, 
p.  G!),  stellt  die  andere  im  Texte  erwähnte  Vernnithung  auf. 


570 


Französische  Plastik, 


konnte  nicht  ausbleiben,  dass  diese  neue  Generation  sich  in  einem  Gegen- 
satze gegen  die  ältere  fühlte  und  demselben  Ausdruck  gab.  Daher  sehen 
wir  nun  plötzlich  statt  jener  hageren  und  steifen  Glieder  Gestalten  von 
dreister,  breiter  Haltung,  statt  der  matt  oder  demiithig  gesenkten  Köpfe  ein 
frei  gehobenes,  muthiges  Antlitz,  statt  der  mühsam  gelegten  Falten  volle, 
weite,  fliessende  Gewänder,  und  alles  dies  mit  einer  Derbheit  und  Naivetät, 
die  den  schroffsten  Kontrast  gegen  jene  Befangenheit  bildet,  und  die  nach- 
her in  mannigfacher  Weise  gemildert  wurde. 

Eine  Uebersicht  über  den  chronologischen  Gang  dieser  Entwickelung 
gewähren  uns  die  Bildwerke  auf  den  Grabsteinen^).  Die  Gestalten  der 
englischen  Könige  Heinrich  IL  (f  1189)  und  Richard  Löwenherz  (f  1199), 
beide  in  der  Abtei  von  Fontevrault  im  Anjou,  sind  noch  von  starrer  Haltung 
und  mit  scharf  gefalteter  Gewandung;  aber  schon  die  Gestalt  der  Gemahlin 
Heinrichs,  der  Eleonore  von  Guyenne  (f  1204)  ist  belebter,  und  die  der 
Wittwe  des  Richard  Löwenherz,  Berengaria  (f  1219),  in  der  Abtei  L'Esp  an 
bei  Mans,  gehört  schon  im  Wesentlichen  dem  neuen  Style  an.  Einen 
weiteren  Fortschritt  bemerken  wir  dann  an  den  Grabmälern  zweier  Bischöfe 
in  der  Kathedrale  von  Amiens,  des  Eberhard  von  Fouilloy  (f  1223)  und 
des  Gottfried  von  Eu  (f  1237),  die  auch  als  Beispiele  des  Erzgusses  in 
dieser  Gegend  bemerkenswerth  sind.  Beide  scheinen  gleichzeitig  gefertigt^ 
und  ihre  Züge  gleichen  sich  so ,  dass  an  eine  genaue  Portraitähnlichkeit 
nicht  zu  denken  ist,  aber  sie  zeigen  doch  das  Bestreben  nach  einer  grösseren 
Lebenswahrheit  im  allgemeineren  Sinne  des  Worts.  Sehr  anziehend  und 
belehrend  ist  demnächst  die  reiche  Sammlung  von  Grabsteinen  aus  der  Zeit 
Ludwigs  IX.  in  der  Gruft  von  St.  Denis.  Bei  der  Herstellung  dieser  Kirche 
wurden  nämlich  die  Gräber  der  früheren  Könige,  Merowinger,  Karolinger 
und  Kapetinger,  welche  wahrscheinlich  blosse  Denksteine  ohne  Sculptur  ge- 
habt hatten,  mit  Grabsteinen  nach  neuerer  Weise  versehen,  die  in  den 
Jahren  1263  und  1264  in  die  erneuerte  Kirche  übertragen  wurden.  Die 
darauf  ruhenden  Gestalten  sind  offenbar  in  Ermangelung  von  Vorbildern 
willkürlich  von  den  Künstlern  erfunden  und  alle  einander  ähnlich,  nur  mit 
beliebiger  Veränderung  der  Gewandmotive.  Die  Könige  in  langer,  bis  zum 
Knöchel  herabgehender,  weiter  Tunica,  mit  einem  Mantel,  der  durch  eine 
Schnur  auf  der  Brust  gehalten  ist,  das  Haupt  von  einer  mit  Lilien  verzierten 
Krone  bedeckt.  Die  Rechte  trägt  das  Scepter,  die  Linke  ist  immer  be- 
schäftigt, die  Schnur  oder  irgend  eine  Stelle  des  Mantels  zu  fassen.  Das 
Haar  fällt  in  einer  Locke,  die  ungefähr  einem  S  gleicht,  auf  beiden  Seiten 
gleichmässig  herunter.     Die  Frauen  sind  alle  in  langen  Gewändern,  mit  dem 


')  Vgl.  Viollet-Ie-Duc,  Dlct.  d<;  l'arciiitecture,  Bd.  IX,  Artikel  Tombeau,  besonders 
von   S.  31   an. 


Grabsteine.  571 

Gürtel  über  den  Hüften ,  das  Haupt   mit  einem  Schleier  bedeckt,  der  bald 
gerade  herunterfällt,  bald  über  der  Brust  zusammengelegt  ist;   das  Haar  in 
dünneren  Locken  herabhängend.    Körper  und  Gesichter  sind  voll  und  kräftig 
gebildet,   das  Gewand  in  starke  geradlinige  Falten  gelegt.     Man  sieht,  dass 
die  Künstler  ihre  Aufgabe   nicht   sehr    schwer  genommen,  sich  namentlich 
nicht  bemüht  haben ,  einen   grossen  Gedankenreichthum  zu  zeigen.     Dass 
dennoch  alle  diese  Gestalten  so  würdig,  so  frei  und  natürlich  sind,  beweist, 
wie   gross   schon   jetzt   die  Festigkeit  und  Gleichmässigkeit   des  Styls  war. 
Die  ersten  Gräber,   bei   denen   die  Künstler  die  Bestatteten  gekannt  haben 
konnten ,   sind   die   der  beiden  jung  verstorbenen  Prinzen  Philipp ,  Bruder, 
und  Ludwig,   Sohn  Ludwigs  IX.   (fl221  und  1224).     Sie   sind  offenbar  mit 
grösserer  "Wärme    behandelt,    der   Contrast    der  jugendlichen   Köpfe   und 
reichen  Gewänder  mit  der  Ruhe   des  Todes,  die  Innigkeit,  namentlich  des 
letzteren,  der  mit  gefalteten  Händen  betend  dargestellt  ist,  geben  den  Ein- 
druck,  den   die  Aufgabe   forderte;   das  Trauergefolge   an  den  Wänden  der 
Sarkophage   zeigt  den  Schmerz   in   lebendigen   und  mannigfaltigen   Aeusse- 
rungen.     Aber  die  Köpfe  der  Prinzen  selbst  sind  ziemlich  unbestimmt;    das 
Schönheitsgefühl   war   mehr   gefördert   als   das  Streben  nach  Individualität, 
Die  ersten  Gräber,   welche  den  Eindruck  von  Porträtwahrheit  geben,  sind 
die  Philipps  IH.,   des  Kühnen   (f  1285),   und   seiner  Gemahlin  Isabella  von 
Aragonien  (f  1271).     Die  Tracht  des  Königs  ist  noch  fast  dieselbe  wie  auf 
den  Gräbern  der  früheren  Dynastien,  aber  der  Kopf  spricht  bei  nicht  gerade 
schönen  Zügen ,    starken  Backenknochen ,  grossem  Munde  und  gespaltenem 
Kinne  den  Charakter  des  Königs,  Festigkeit,  Eechtlichkeit  und  Güte  sehr 
bestimmt  aus,  und  der  mehr  belebte  Faltenwurf  des  Mantels  zeigt,  dass  der 
Künstler    sich    der  Bedingungen   einer   natuiireuen    Auffassung    wohl    be- 
wusst  war.  ' 

Der  Styl  dieser  Grabmonumente  war  ohne  Zweifel  immer  nur  der  Reflex 
von  dem  der  kirchlichen  Sculptur  und  kann  uns  daher  als  chronologischer 
Führer  bei  diesen  dienen;  indessen  können  wir  auch  hier  ungefähr  dieselben 
Stufen  der  Entwickelung  verfolgen.  Zu  den  frühesten  Aeusserungen  des 
neuen  Styls  dürfen  wir  die  Statuetten  der  Archivolten  am  Westportale  der 
Kathedrale  vonLaon  rechnen,  welche  etwa  um  1210  gearbeitet  sein  mögen  i). 
Laon  war  damals  eine  reiche,  dichtbewohnte  Stadt,  deren  Bürger  ihre  Frei- 
heiten mit  bewaffneter  Hand  vertheidigten ,  und  durch  einen  von  Philipp 
August  bestätigten  Friedensschluss  (1191)  deren  Bestätigung  erhielten.  Man 
glaubt  in  diesen  etwas  später  entstandenen  kleinen  Figuren  den  kecken, 
trotzigen  Geist  der  Bürgerschaft  zu  erkennen;  so  breit  und  fest  sitzen  die 
Gestalten,  so  dreist  heben  sie  ihre  Häupter,  so  derb  und  unausgeführt,  aber 


^)  Die  unteren  Statuen  sind  zerstört. 


572 


Französische  Plastik. 


Fig.  135. 


doch  verständlich  und  natürlich   fallen  die  Gewänder.     Mildere   und   besser 
durchgebildete  Formen  haben  die  wenige  Jahre  darauf  entstandenen   Portal- 
sculpturen   der  Fagade   von  Notre-Dame  von  Paris; 
der  heilige  Ernst  der  Apostel  und  Bischöfe  und  die 
Anmuth  der  Engel  und  ähnlicher  Gestalten  sind  hier 
schon  feiner,  auch  in  der  Gewandbehandlung  besser 
charakterisirt ,  und  daneben  macht  sich  in  den  Re- 
liefs  sowohl  die   Naivetät    und   Lebensfrische    der 
reichen    Commune   als   die   gelehrte   Richtung    der 
Universitätsstadt  geltend.  Fast  bei  jedem  grösseren 
kirchlichen   Sculpturwerke    dieser    Epoche    kommt 
der  Thierkreis  vor,  als  Andeutung  der  Entwickelung 
des   menschlichen   Lebens    aus    den   Einrichtungen 
der  Schöpfung,    aber   nirgends   ist  dies  Thema   so 
systematisch   und   so   lebendig  behandelt,   wie  hier, 
wo  der  Reihe  der  Monatsarbeiten   noch  eine  zweite 
hinzugefügt  ist,  welche  die  Erholungen  der  Menschen 
in  jedem  Monate  schildert.  Ebenso  sind  am  Haupt- 
portale  die  Tugenden  und  Laster   sehr   ausführlich 
dargestellt,  jene  als  bekleidete   weibliche  Gestalten, 
welche   auf  einer   Scheibe   irgend    ein    ihnen    ent- 
sprechendes Thicr  oder  anderes  Attribut,  gleichsam 
ihr   Wappenzeichen ,   tragen ,    diese   dagegen  nicht 
personificirt,  sondern  durch  Handlungen  versinnlicht 
und  zwar  in  sehr  lebendiger  Weise,   oft  nicht  ohne 
Humor.     Die  Feigheit  z.  B.  ist  durch  einen  laufen- 
den, sich  ängstlich  umblickenden  Mann  repräsentirt, 
der  sein  Schwert  verloren  hat,  während  ihn  nur  ein 
Hase  verfolgt ').     Neben  dieser  grösseren  Freiheit 
erhielten   sich   aber   noch  Reminiscenzen  des  stren- 
geren Styles.     An   der  Fagade   der  Kathedrale  von 
Aniiens,   etwa  um  1238,    sind  die  Köpfe  der  Sta- 
tuen verhältnissmässig  klein,  die  Gewänder  in  engen, 
senkrechten  Falten  gebrochen,  die  Haare  zu  regel- 
mässigen Reihen   gleichgeformter  Locken  gebildet,  die  Züge   des  Erlösers 
und  der  Apostel  noch  an  die  traditionellen  Typen   erinnernd.     Aber   dabei 
sind  die  Verhältnisse  selbst  bei  kolossalen  Dimensionen  richtig,   die  Motive 


Kreuzschiif  zu  Chartres 


1)  Die  Sculpturen  der  Facade  hatten  theils  durch  eine  unter  Soufflot's  Leitung; 
(1771)  vorgenommene  bauliche  Aenderung,  iheils  in  der  Revolution  sehr  gelitten,  sind 
aber  jetzt  im  Ganzen  sehr  stylgemäss  restanrirt. 


Die  Zeit  Lndwig's  IX.  573. 

einfach,  ausdrucksvoll  und  würdig,  die  Bewegungen  mannigfaltig  und  mit 
Geist  behandelt,  so  dass  das  Ganze  einen  höchst  imposanten  Eindruck 
macht  1). 

Die  Zeit .  Ludwigs  IX.  war  auch  an  kirchlichen  Sculpturen  überaus 
fruchtbar,  von  denen  wir  als  bestimmt  datirt  die  an  den  Kreuzfa^aden  von 
Notre-Dame-j  und  die  der  Ste.  Chapelle  zu  Paris  anführen  können. 
Hier  finden  wir  die  Anforderungen  des  Natürlichen  und  Stylistischen  schon 
vollständig  ausgeglichen,  die  herben  und  spröden  Züge  des  älteren  Styls  vöUig 
verschwunden,  alles  mit  Feinheit,  Sicherheit  und  Geschmack  behandelt.  Die 
Apostel  im  Innern  der  Kapelle  sind  sehr  lebendig  charakterisirt,  ihre  Ge- 
wandbehandlung ist  musterhaft,  frei,  mannigfaltig  und  doch  einfach;  die 
kleinen  Engel,  welche  in  den  Bogenzwickeln  zwischen  reichem  Blattwerk 
knien ,  sind  zugleich  anmuthig  und  in  dem  vollen,  breiten  Wurf  ihrer  Ge- 
wänder nicht  ohne  kirchliche  Würde.  Noch  schöner  und  vollendeter  sind 
indessen  die  Sculpturen  an  den  Vorhallen  der  Kreuzschiffe  der  Kathedrale 
von  Chartres  und  an  den  Portalen  der  Kathedrale  von  Rheims,  die  beide 
zwar  bald  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  in  Angriff  genommen  wurden, 
aber  ihren  plastischen  Schmuck  wohl  erst  gegen  das  Ende  desselben  erhielten. 
Hier  ist  in  der  That  eine  Reinheit  des  Styls,  eine  Verbindung  von  Naivetät 
und  Frische  der  Auffassung  mit  durchgebildetem  Schönheitsgefühl,  wie  sie 
nur  besonders  begünstigten  Epochen  gegönnt  ist  ^). 

Die  Fruchtbarkeit  dieser  Epoche  und  das  Bedürfniss  plastischen 
Schmuckes  war  so  gross,  dass  er  fast  an  keiner  ihrer  Kirchen  ganz  fehlt. 
Selbst  die  Pfarrkirchen  kleinerer  Städte,  wie  Villeneuve-rArcheveque 
bei  Sens,  oder  blosser  Dörfer,  wie  Chaudes  bei  Saumur^)  und  Sains  bei 
Amiens,  sind  zuweilen  damit  versehen,  und  auch  bürgerlichen  Gebäuden,  wie 
der  sogenannten  Maison  des  Musiciens  in  Rheims^),  wurde  er  nicht  ver- 
sagt. Bei  der  grossen  Zahl  der  noch  jetzt  erhaltenen  Sculpturen  und  bei 
dem  Mangel  an  genügenden  Vorarbeiten,  welche  eine  Sonderung  des  Bedeu- 
tenderen gestatteten ,  habe  ich  mich  begnügen  müssen ,  diejenigen  Kirchen 
zu  nennen,  welche  die  vorzüglichsten  und  umfassendsten  plastischen  Arbeiten 


1)  Vgl.  den  Christus  bei  Viollet-ie-Duc,  III,  S.  244  f. 

-)  Das  Tympanon  des  Portals  am  südlichen  Querarm,  von  Jean  de  Chelles,  bei 
Didron,  Annales  archeol.  vol.  XXII,  S.  309  ff. 

'')  Die  Sculpturen  von  Chartres  und  Rheims  vorzüglich  publicirt  bei  Gailhabaud, 
a.  a.  0.,  Bd.  I.  —  Die  mitgetheilte  Figur  (Fig.  135)  ist  eine  der  Tugenden  an  der  Halle 
vor  dem  nördlichen  Querarm. — Vgl.  die  Schilderung  des  gesammten  CycUis  von  Bild- 
werken  Bd.  IV  S.  297. 

*)  Merimee,  Ouest.  pag.  370. 

^   Verdier  et  Cattois,  Arch.  civile  et  domestique,  Bd.  I.  —  Vgl,  oben  S.  114. 


fy'lA  Französische  Plastik. 

-enthalten  ^).     Auch   eine   ncähere   Schilderung   dieser  grossen  Portalgruppen 
ihrer  Anordnung  und   ihrem  Gedankeninhalte   nach   würde   zu  weit  führen, 
zumal  ich   einige   solcher  Werke  grossartiger  Raumsymbolik   schon  früher 
(Bd.  IV,   S.  296  fif.)  beschrieben  "habe.     Der  Grundgedanke  und  die  Haupt- 
bestandtheile  dieser  grossen  plastischen  Gedichte,   die  stets  auf  mehr  oder 
weniger  sinnreiche  Weise  den  ganzen  Inbegriff  der  Heilslehre  mit  Beziehung 
auf  locale  Verhältnisse  und  Localheilige  umfassen,  wurde  ohne  Zweifel  nicht 
von  den  Meistern  der  Bauhütte,   sondern  von  gelehrten  Geistlichen  festge- 
stellt;   aber  dennoch  blieb  der  Ausführung  noch  ein  weites  Feld  der  Erfin- 
dung,  und  man  muss  die  geistige  Kraft  und  künstlerische  Gewandtheit  be- 
wundern ,  mit  welchen  diese  schlichten  Werkleute  auf  den  Gedanken  einzu- 
gehen ,  ihn   in   räumliche  Verhältnisse  zu  übersetzen  und  jeder  Gestalt  die 
richtige  Stelle  und  den  ihr  zukommenden  Ausdruck  zu  geben  wussten.  Dazu 
kommt   der   gewaltige  Umfang   dieser  Arbeiten.     Jedes  der  grösseren  Por- 
tale enthielt  in  kolossalen  Statuen,   Statuetten  und  Reliefs  an  zweihundert 
Figuren  2);   erwägt  man  nun,   dass  an  den  Kathedralen  zu  Paris  und  Rheims 
fünf,   an  der  zu  Amiens,   weil  das  eine  unausgeführt  geblieben  ist,   vier,   an 
den  Kreuzfagaden   der  Kathedrale   zu  Chartres  aber   sechs  solcher  Portale, 
und  zwar   diese   noch   mit  weiten  Vorhallen,  innerhalb  dieses  Jahrhunderts 
plastisch  geschmückt  sind,   dass  dazu  ausserdem  die  vielen  und  kolossalen 
Statuen  der  Gallerien  an  der  Fagade  und  der  Strebepfeiler,   die  plastischen 
Thiergestalten   der  Regenrinnen  und  Anderes  hinzukam ,   so  kann  man  nur 
über   die   Fülle     künstlerischer  Kräfte    und    die  Leichtigkeit   der   Concep- 
tion    erstaunen ,    welche   dieser   Zeit  zu  Gebote   stand.     Freilich   kam   den 
Künstlern  dabei  Manches  zu  statten;   sie  waren  nicht  von  dem  Ehrgeiz  be- 


^)  Die  fVanzösischen  Archäologen  haben  sich  mit  der  Sculptur  bisher  fast  nnr  in 
Beziehung-  auf  Iconograpliie,  d.  h.  auf  den  Gedaiikeninhalt  und  das  künstlerische  Her- 
kommen bei  der  Darstellung  der  heiligen  Momente  und  Gestalten  beschäftigt.  Ein 
Werk,  welches  die  Entwickeiung  des  Siyles  durch  Zeichnungen  belegte,  wie  wir  Aehn- 
liches  über  die  Glasmalerei  besitzen,  fehlt  noch  gänzlich.  Willemin's  monumens 
francais  geben  nur  Vereinzeltes,  Viollet-le-Duc ,  in  dem  citirlen  Artikel  Sculpture,  ent- 
wirft eine  geistvolle  Skizze,  welche  weiterer  Ausführung  werlh  wäre.  Aber  selbst  bei 
ihm  erweist  sich  die  Unzulänglichkeit  der  Zeichnung  zur  Wiedergabe  von  Sculpturen 
so  gross,  dass  sie  von  solchen  Unternehmungen  abschrecken  kann  ,  welche  vielleicht 
mit  Hülfe  der  Photographie  eher  gelingen  werden. 

^)  Die  Berechnung  ist  leicht.  Schon  bei  einem  Portale  mit  nur  vier  Archivolten 
enthalten  diese  62  Statuetten,  von  denen  manche  auch  aus  zwei  Figuren  gebildet  sind; 
dazu  kommen  dann  die  Figuren  der  Reliefs  und  die  Statuen  ,  welches  alles  z.  B.  an 
dem  Portal  des  südlichen  Kreuzschiff'es  der  Kathedrale  von  Amiens  (Jourdaiu  et  Duval, 
le  portail  St.  Honore,  1844)  183  menschliche  und  15  thierische  Gestalten  ergiebt.  Bei 
sechstheiligen  Portalen,  wie  an  den  Westfacadeu  von  Amiens  und  Rheims,  ist  die 
Zahl  natürlich  grösser  und  über  200. 


Fruchtbarkeit  und  Mannigfaltigkeit.  575 

unruhigt,    Ausserordentliches  und  Tadclfreies  zu  leisten,   sondern  arbeiteten 
unbefangen  und  mit  der  Bescheidenheit  des  Handwerks  nach  wohlbekannten 
und  vielgeprüften  Regeln  eines  festen  Styles.    Auch  bewegten  sich  ihre  Auf- 
gaben in  dem  Kreise  hergebrachter  Gedanken  und  Gestalten  und  forderten 
weder  die  Ausbildung  heroischer  Formen,  noch  die  von  Idealen,  wie  sie  die 
griechische  Kunst  erzeugte.     Die  Art   der  Compositionen   hätte  solche  Ge- 
stalten nicht  einmal  geduldet;  der  christliche  Gedanke  sowohl,  als  die  archi- 
tektonische Einrahmung  gaben   dem  Ganzen   immer,   wie  ich  schon  früher 
gezeigt  habe,   einen  mehr  malerischen  Zusammenhang,    in  welchem  die  ein- 
zelnen Gestalten  sich  nicht  in  freier  Kraft  isoliren  durften,  sondern  stets  in 
hinweisender  Beziehung  auf  einander  und  auf  den  heiligsten  Mittelpunkt  der 
ganzen  Gruppe  stehen  mussten.  Die  Künstler  waren  daherauftheils  typische, 
theils    doch    wiederkehrende    Motive    und    Charaktere    geistlicher  Würde, 
frommer  Demuth,   hingebender  Innigkeit  hingewiesen.     Aber  dennoch  war 
der  Abstand  von  der  Erhabenheit  des  Erlösers  und  der  Reinheit  der  Jung- 
frau  bis   zu   den  Verdammten   und  Teufeln,  und   die  Schwierigkeit,  diese 
Gegensätze   in  Harmonie  zu  bringen,  so  gross,  dass  man  den  Muth  und  die 
Umsicht,  mit  welcher  diese  Künstler  ihre  Aufgabe  zu  lösen  und  selbst  die 
stets   wiederkehrenden   Motive    mannigfaltig    und   individuell   zu    behandeln 
wussten,  nur  bewundern  kann.     Es  ist  wahr,  dass  sie  dabei  in  manchen  Be- 
ziehungen nicht  so  tief  und  gründlich  zu  Werke  gingen,  wie  die  antiken  und 
modernen  Künstler.     Sie  hatten  weder  wie  jene  ein  durch  die  Anschauungen 
eines  freien  Volkslebens  geübtes  Auge,   noch  machten  sie  wie  diese  anato- 
mische und  psychologische  Studien.     Die  Körperverhältnisse  ihrer  Gestalten 
sind  nur  im  Allgemeinen  richtig,   die  Arme  oft  zu  dünn  oder  zu  klein,   die 
Hüften  zu  hoch  oder  zu  niedrig;   im  Ausdrucke  des  Leidenschaftlichen  fehlt 
ihnen  das  richtige  Maass,  in  der  Ausprägung  der  Charaktere  die  volle  Be- 
stimmtheit.    Aber  diese  Mängel  werden  durch  die  Verbindung  der  Gestalten 
zu  grossen  Gesammtbildern   weniger   auffallend  und   sind  jedenfalls   wieder 
mit  manchen  Vorzügen  verbunden.     Sind  diese  Künstler  nicht  durch  Studien 
gefördert,   so   sind   sie   auch  nicht  dadurch   gehemmt.     Wir  finden  sie  nie- 
mals von   falscher  Reflexion  irre  geleitet,   niemals  nach  Effecten  haschend 
und  kokett,  niemals  in  kalter  Correctheit  ermattet;    sie  sind  immer  wahr, 
unbefangen,   frisch,   nur  mit  ihrem  Gegenstande  beschäftigt.     Didron  nennt 
irgendwo  die  Kathedrale  von  Rheims  den  Parthenon  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts, und  in  der  That  sind  diese  Sculpturen  in  ihrer  ruhigen  Objectivi- 
tät   denen    des   Parthenon    zu   vergleichen.     Stylgefühl  und   Schönheitssinn 
fehlen   ihnen   nicht   leicht  und  wirken  auch  abgesehen  von  dem  Inhalte  der 
Darstellung.     Die  Linienführung,   die  Art,   wie  die  Figuren  sich  tragen  und 
auf  ihren  Hüften  ruhen,   die  Verhältnisse  der  Körpermassen,   der  Wechsel 
von  lichten   und  von  beschatteten  Stellen,  die  Contraste  der  nebeneinander 


576 


Französische  Plastik. 


Fig.  136. 


Kathedrale  zu  Rheiras. 


Fig.  137. 


gestellten  Figuren  sind  durchweg  wahrhaft  plastisch  und  künstlerisch.     Die 
Gewandbehandlung  erinnert  oft  im  Wurfe  des  Mantels  an  die  Antike,  ist 

aber  noch  häutiger  bei  den  bald  lose  herabflies- 
senden;  bald  durch  den  Gürtel  mannigfaltig  moti- 
virten  Gewändern  von  einer  dem  Mittelalter 
eigenthümlichen  Grazie.  Im  Ausdrucke  der 
Empfindungen,  von  welchen  ihre  Zeit  vorsugs- 
weise  bewegt  war,  sind  sie  oft  unübertrefflich; 
die  bescheidene  Anmuth  der  Frauen,  die  Innig- 
keit und  Reinheit  der  Engel  sind  kaum  in  irgend 
einer  anderen  Zeit  besser  geschidert. 

Wir  haben  keinen  Bericht,  der  uns  von  dem 
künstlerischen  Verfahren  bei  diesen  umfangreichen 
Sculpturen  Kunde  gebe;  ohne  Zweifel  waren  über- 
all viele  Gehülfen  beschäftigt,  denen  schwerlich 
vollständige  Zeichnungen  oder  Modelle  vorlagen, 
sondern  die  nur  unter  der  Leitung  des  erfinden- 
den Meisters  arbeiteten.  Und  da  ist  dann  die 
Uebereinstimmung  aller  Theile  ein  merkwürdiger 
Beweis  von  der  grossen  Sicherheit  des  Styl- 
gefühls. 

Unsere  Zeitgenossen  haben  für  diese  Werke 
meist  nur  flüchtige  Blicke;  die  Unscheinbarkeit 
des  rauhen  Sandsteins,  in  welchem  sie  ausgeführt 
sind,  die  nur  durch  ruhige  Betrachtung  und  Er- 
klärung zu  entwirrende  Menge  der  Gestalten, 
selbst  die  Objectivität  und  der  Mangel  an  starken 
Effecten  halten  sie  meistens  ab,  genauer  auf  das 
Einzelne  einzugehen;  sie  würden  dabei  oft  eine 
Fülle  von  Schönheit  finden,  welche  den  Ver- 
gleich mit  den  gerühmten  Werken  des  Alterthums 
nicht  zu  scheuen  braucht. 

Die  Ausbildung  dieses  plastischen  Styles  ist, 
■wie  gesagt,  ausschliesslich  das  Verdienst  der  nörd- 
lichen Provinzen,  welche  den  gothischen  Styl 
hervorbrachten ;  erst  im  Gefolge  desselben  gelangte 
er  auch  in  das  südliche  Frankreich,  wo  wir  ihn  dann 
in  der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
an  verschiedenen  Orten  angewendet  finden.  So  in  St.  Severin  in  Bordeaux 
an  einem  südlichen  Seitenportale,  welches  zufolge  seiner  Inschrift  im  Jahre 
1260  durch  den  Canonicus  Raimundus  a  fönte  gestiftet  ist,  im  Cistercienser- 


Kathedrale  zu  Rheiras. 


Deutsche  Plastik.  577 

kloster  Obasine  im  südlichen  Limousin  an  dem  Denkmale  des  Stifters 
St.  Stephan  (fllÖS),  das  in  der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
entstanden  zu  sein  scheint  und  an  welchem  der  liebliche  Ausdruck  der 
Gestalten  und  die  Natürlichkeit  der  Pflanzen  gerühmt  wird^),  in  der  Kathe- 
drale von  Narbonne  an  dem  Grabe  des  Erzbischofs  de  la  Jugie  (f  1274); 
das  als  ein  Werk  von  höchster  Schönheit  gepriesen  wird,  endlich  an  der 
Fa^ade  der  Kathedrale  zu  Lyon.  Im  Allgemeinen  aber  kam  dieser  neue 
plastische  Styl  in  diesen  Gegenden  erst  im  vierzehnten  Jahrhundert  zur 
rechten  Geltung. 


In  Deutschland  war  der  Entwickelungsgang  der  Plastik  ein  ähnlicher 
wie  in  Frankreich,  aber  doch  mit  wesentlichen  Verschiedenheiten.  Auch 
hier  nämlich  entstand  durch  das  Bedürfniss  besserer  Regelung  der  unbe- 
stimmten Formen  und  durch  den  Einfluss  der  Architektur  ein  strengerer 
Styl  mit  eckigen  Körperformen  und  gehäuften  geradlinigen  oder  ge- 
brochenen Falten,  der  auch  von  Reminiscenzen  der  byzantinisirenden 
Weise  nicht  frei  blieb.  Allein  er  wurde  doch  keinesweges  so  starr  und 
mumienhaft  wie  dort;  die  Verhältnisse  sind  mehr  der  Natur  entsprechend, 
und  ein  Bestreben  nach  Ausdruck  und  dramatischem  Leben  macht  sich  auch 
in  den  spröden  Formen  geltend.  Der  tiefere  Grund  dieser  Verschiedenheit 
mag  im  Nationalcharakter  liegen,  der  in  Frankreich  zu  einer  rücksichts- 
losen Anwendung  des  formellen  Princips  hinneigte,  in  Deutschland  dagegen 
stets  Wahrheit  und  Ausdruck  forderte.  Eine  näher  liegende  Erklärung  giebt 
aber  schon  das  verschiedene  Verhältniss  der  Plastik  zur  Architektur  Wäh- 
rend in  Frankreich  gleich  am  Anfange  der  Epoche  diese  die  herrschende 
Kunst  wurde  und  es  zur  Hauptaufgabe  der  Sculptur  machte,  sich  in  den 
engen  Raum  neben  den  aufsteigenden  Gliedern  der  Portale  zu  fügen,  behielt 
man  in  Deutschland  den  romanischen  Styl  bei,  dessen  breite  Wandfelder 
der  vorzugsweise  im  Innern  angewendeten  Plastik  gestatteten,  sich  freier 
und  nach  ihren  eigenen  Erfordernissen  auszubilden. 

Das  bedeutendste  Werk  dieses  deutschen  plastischen  Styles  sind  die 
Reliefs  an  der  Brüstung  des  Georgenchores  im  Dome  zu  Bamberg, 
Avelche  höchst  wahrscheinlich  längere  Zeit  vor  der  Weihe  vom  Jahre  1237, 
vielleicht  noch  im  zwölften  Jahrhundert  entstanden  sind.  Es  sind  vierzehn 
Reliefs,  in  eben  so  vielen  spätromauischen ,  mit  dem  Kleeblattbogen  über- 
deckten Nischen,  auf  der  einen  Seite  die  Verkündigung  und  die  paarweise 
zusammengestellten  zwölf  Apostel,  auf  der  anderen  der  Erzengel  Michael 


')  Texier  in  den  Ann.  archeol.  XII,  385,  mit  Abbildung 
Schnaase's  Kunstgeseh.    2.  Aufl.    V. 


578 


Deutsche  Plastik. 


mit  dem  Drachen  nebst  zwölf  P  ropheten  ^).  Die  Zeichnung  ist  durchaus  strenge ; 
das  Profil  des  Gesichts  rechtwinkelig  geschnitten,  die  Gewänder  fallen  schwer, 
bald  straff  angezogen  und  mit  vielen  Falten,  bald  einfacher  aber  am  Rande 
in  regelmässige  Wellenlinien  auslaufend,  auch  wohl  flatternd.  Einzelne 
Figuren,  namentlich  die  der  Verkündigung,  erinnern  auffallend  an  den  hieratischen 
Styl  der  altgriechischen  Kunst,  mit  dem  sie  auch  eine  gewisse  feierliche  Würde 
gemein  haben.  Die  Paare  der  Apostel  undPropheten  sind  zugleich  in  lebendigem 
Gespräche  und_doch  auch  fortschreitend  dargestellt,  und  diese  Aufgabe  überstieg 
zuweilen  die  Körperkenntniss  des  Künstlers;  dafür  aber  hat  er  diesen  Gruppen 
eine  grosse  Mannigfaltigkeit  und  viel  dramatisches  Leben  gegeben;  an  den 


Fig.  138 


Kopf  des  Engels  anf  der  Verkündigung  im  Georgenchore   des  Domes  zu  Bamberg. 

Propheten  bemerkt  man  sogar,  dass  er  in  Zügen  und  Bewegungen  die 
jüdische  Nationalität  ausdrücken  wollte.  Der  Erzengel  Michael  endlich 
schwingt  das  Schwert  ziemlich  gewaltsam,  aber  er  giebt  doch  trotz  der 
mangelhaften  Zeichnung  den  Ausdruck  unwiderstehlicher  Kraft,  den  der 
Künstler  beabsichtigte.  Die  Bewegungen  sind  oft  ungeschickt,  die  Körper- 
formen unschön,  namentlich  ist  eine  gewisse  Dickbäucbigkeit  der  Gestalten 
auffallend,   Schönheitssinn  und  Anmuth   sind   überhaupt  nicht  die  Vorzüge 


^)  Abbildungen  einzelner  Gruppen   in  Kngler's  kl. Sehr.  I,   154  (in  selir   charakteri- 
stischer ZLichuuug),  und  bei  Förster  Deiiknnale,  Bd.  III. 


Scliotlenkirche  zu  Regensburg.  579 

dieser  Arbeit,  wohl  aber  erkennen  wir  eine  lebendige  Empfindung  für  Ernst, 
Würde  und  Energie.  Aehnlichen  Styles  und  wahrscheinlich  aus  derselben 
Zeit  sind  dann  noch  das  Relief  des  Bogenfeldes  am  Nordportale  neben  der 
östlichen  Chornische  und  selbst  die  Statuen  an  der  sogenannten  goldenen 
Pforte  oder  dem  Fürstenportal  am  nördlichen  Seitenschiffe,  beide  aber  min- 
der bedeutend  und  wahrscheinlich  etwas  später  entstanden. 

Einigermaassen  verwandten  Styles  sind  die  Sculpturen  an  dem  Portal- 
bau der  Schottenkirche  in  Regensburg,  von  dessen  auffallender  archi- 
tektonischer Eigenthümlichkeit  ich  schon  oben  gesprochen  habe,  dessen 
plastische  Gestalten  aber  noch  viel  räthselhafter  und  abenteuerlicher  sind. 
Neben  den  wohlbekannten  Erscheinungen  des  Heilandes,  der  Apostel,  der 
Jungfrau,  finden  wir  priesterliche  Gestalten  mit  ungewöhnlichem  Kopfputz, 
welche  sich  den  Aposteln  als  die  Lehrer  des  Ostens  und  des  Westens  an- 
reihen, dann  aber  auch  fabelhafte  Thiere,  Menschen  von  Drachen  und 
Krokodilen  verschlungen,  Weiber  mit  Fischschwänzen,  und  dies  Alles  nicht 
als  leichtes  Phantasiespiel  an  untergeordneterstelle,  sondern  in  bedeutsamer 
Grösse  und  Anordnung i).  Auch  diese  Darstellungen,  die  auf  den  ersten 
Blick  eher  an  indische  Mythen  als  an  christliche  Dogmen  erinnern,  sollen 
dazu  dienen,  Christi  Herrlichkeit  und  die  Ausbreitung  seiner  Lehre  auf 
Erden  zu  verkündigen,  während,  in  üebereinstimmung  mit  diesem  Grundge- 
danken, Allegorien  von  der  Ueberwindung  des  bösen  Princips  an  passender 
Stelle  Platz  gefunden  haben  2),  Die  Ausführung  ist  zwar  fieissiger  und 
schärfer  als  in  Bamberg,  aber  dennoch  roher,  weniger  von  geistigen  Motiven 
belebt,  und  zugleich  mehr  byzantinisirend.  Die  Entstehungszeit  dürfen  wir 
nach  architektonischen  Kennzeichen  in  die  zweite  Hälfte  des  zwölften  Jahr- 
hunderts, vielleicht  erst  gegen  1200  setzen.  Die  Vermuthung,  dass  die 
irische  Abkunft  der  Mönche  auf  ihre  Arbeit  Einfluss  gehabt  habe ,  ist  in 
Beziehung  auf  die  Sculptur  aus  denselben  Gründen  und  noch  entschiedener 
wie  bei  der  Architektur  abzulehnen,  da  es  auf  den  britischen  Inseln  überall 
noch  keine  irgend  erhebliche  plastische  Kunst  gab.  Ueberhaupt  drängt  uns 
nichts,  hier  eine  fremde  Einwirkung  anzunehmen,  da  wir  plastische  Arbeiten 
von  gleicher  Phantastik  und  von  ähnlicher  strenger  und  doch  roher  Behand- 
lung, wenn  auch  von  geringerem  Umfange  nicht  nur  in  unmittelbarer  Nähe, 
an  der  Fa^ade  der  Kirche  zu  Gögging,  welche  dem  Schottenkloster  zu 
Regensburg   eigen   war 2)  und  in  der  früher  geschilderten  Krypta  zu  Frei- 


*)  Vgl.  Waagen,  Künstler-  und  Kunstwerke  in  Deutschland,  Bd.  2,  S.  95.  Ab- 
bildungen bei  ro|ip  und  Biilau  ,  die  Architektur  des  Miltelallers  in  llegensburg,  bei 
Gailhabaud  Vol.  U  und  in  Förster's  Denkmalen,  Bd.  IX. 

2)  Versuche  genauerer  Erklärung  bei  Sighart  a.  a.  0.     S.  188. 

3)  Sighart  S.  187.  —  Augsburger  Postzeitung,  1853,  Nr.  29.  Beilage. 

37* 


580 


Deutsche  Plastik. 


sing^),  namentlich  an  der  Mittelsäule,  sondern  auch  an  andern  Orten  des 
südlichen  Deutschlands,  in  Ober-Wittighausen  in  Franken,  in  Rosheim 
im  Elsass,  in  Faurndau  und  Brenz  in  Schwaben,  und  selbst  in  Trier  an 
den  Aposteln  und  Heiligen  der  Choreinfassung  antreffen. 

Eher  könnte  man  auswärtigen  Einfluss  bei  den  Sculpturen  der  Gallus- 
p forte  am  Münster  zu  Basel  zugeben,  indem  sie,  der  einzige  Fall  dieser 
Art,  an  die  älteren  französischen  Portalsculpturen  erinnern.  Zwischen  den 
schlanken  Säulen  auf  beiden  Seiten  des  Portals  sehen  wir  nämlich  die 
Statuen  der  vier  Evangelisten,  im  Bogenfelde  darüber  Christus  als  Welt- 
richter mit  den  fürbittenden  Gestalten  localer  Heiligen,  darunter  in  einem 
Friese  die  thörichten  und  klugen  Jungfrauen,  daneben  auf  den  strebepfeiler- 
artigen Vorsprüngen,  welche  das  Portal  einrahmen,  in  Reliefs  sechs  Werke 
der  Barmherzigkeit,  endlich  oben  posaunenblasende  Engel  und  Gruppen 
Auferstehender,  die  auf  dem  oberen  Gesimse  ohne  gemeinschaftliche  Basis 
auf  der  Mauer  zerstreut  sind.  Das  Ganze  ist  eine  Darstellung  des  Welt- 
gerichtes nach  Anleitung  des  25.  Kapitels  im  Evangelium  Matthäi.  Die  Arbeit 
macht  bei  grosser  Rohheit  doch  Ansprüche  auf  Zierlichkeit  und  selbst  auf 
Naturwahrheit.  Die  Gewänder  sind  sauber  in  treppenförmig  geordnete  Fal- 
ten gelegt  und  mit  gestickten  Rändern  verziert,  die  Hände  der  Evangelisten 
deuten  durch  ein  schematisches  Netzwerk  den  Knochenbau  und  die  Adern 
an,  dabei  sind  aber  die  Köpfe  von  einer  erschreckenden  Starrheit  und  Aus- 
druckslosigkeit ,  was  sich  allerdings  zum  Theil  durch  die  Härte  des  groben 
Sandsteines,  aus  dem  auch  dieses  Portal  wie  das  ganze  Münster  besteht, 
entschuldigen  lässt.  Nach  den  architektonischen  Merkmalen  dürfen  wir  das 
Werk  nicht  früher  als  in  die  zweite  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts 
setzen  2). 

Uebrigens  gelangte  dieser  strenge  Styl  wohl  kaum  zu  allgemeiner  Herr- 
schaft. Selbst  im  südlichen  Deutschland  finden  wir  gleichzeitige  Sculpturen, 
welche  ihm  nicht  angehören.  So  namentlich  die  Reliefgestalten  Kaiser 
Friedrich's  I.  und  seiner  Gemahlin  an  dem  Portale  des  Domes  zu  Frei- 
sing^),  welche  in  Bewegungen  und  Haltung  dieselbe  naturalistische  Ten- 


1)  Vgl.  oben  S.  279. 

2)  Siehe  die  Abbildung  in  (Burckhardt's)  Beschreibung  des  Münsters  zu  Basel. 
Basel,  bei  Hasler,  1842  und  in  Förster's  Denkmalen  ,  Bd.  I.  Zwei  der  Evangelisten- 
statuen in  V.  Hefner,  Trachten  des  Mittelalters,  Bd.  I,  Taf.  30. 

^)  Abbildungen  bei  Sighart,  der  Dom  zu  Freising,  und  bei  v.  Hefner,  Trachten 
des  Mittelalters,  Taf.  25.  Die  Reliefs  tragen  zwar  die  Jahreszahl  1161,  aber  wohl  nur 
als  Erinnerung  an  die  Schenkung  des  Kaisers  von  diesem  Jahre ,  und  werden  erst 
gegen  Ende  des  zwölften  oder  am  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts  gearbeitet 
sein.  Die  Figur  des  Kaisers  ist  im  vierzehnten  Jahrhundert  überarbeitet,  die  Haltung 
der  beiden  anderen  Figuren    trägt    aber    zu  sehr  das  Gepräge    der  früheren  Zeit ,    als 


Sächsische  Schule.  581 

denz  wie  manche  Miniaturen  verrathen,  und  ein  anderes  Reliefbild  desselben 
Kaisers  im  Kreuzgange  des  Klosters  St.  Zeno  bei  Reichenhall,  welches 
zwar  sehr  starr  und  von  strenger  Gewandung,  aber  ohne  byzantinisirenden 
Faltenwurf  ist  ^).  Ein  Zug  grösserer  Lebendigkeit,  mitunter  eine  über- 
raschende Aumuth  tritt  uns  in  den  Sculpturen  der  Burgkapelle  auf  Schloss 
Trausnitz  bei  Landshut  entgegen,  Stuckfiguren  mit  wohlerhaltener  Be- 
malung, die  im  Styl  allerdings  noch  Anklänge  an  romanische  Formbildung 
geben,  aber  doch  schon  dem  zweiten  Viertel  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
angehören.  An  der  Brüstung  der  Empore  thront  Christus  mit  Maria,  Jo- 
hannes dem  Täufer  und  den  Aposteln,  neben  der  Chornische  sehen  wir  die 
Heiligen  Katharina  und  Barbara,  sowie  die  Verkündigung  Maria's^),  und  an 
der  Decke  hängt  ein  grosses  Crucifix.  Verwandt  sind  die  Grabfiguren 
Ludwigs  des  Kehlheimers  und  seiner  Gemahlin ,  mit  Stuck  überzogene  und 
bemalte  Holzbildwerke,  in  der  nahegelegenen  Afrakapelle  zu  Seligenthal-^). 

Noch  entschiedener  macht  sich  aber  ein  freierer  Aufschwung  der  Plastik 
im  nördlichen  Deutschland  geltend  und  besonders  nimmt  die  sächsische 
Schule  eine  sehr  eigenthümliche  und  ausgezeichnete  Stellung  ein.  Sie 
hatte,  da  sie  schon  seit  den  Zeiten  Bischof  Bernward's  vielfach  geübt  war*), 
einen  Vorsprung  vor  den  übrigen  Schulen  Deutschlands.  Das  byzantini- 
sirende  Element  war  in  ihr  niemals  vorherrschend  geworden;  sie  beruhete 
vielmehr  eben  vermöge  dieses  früheren  Ursprunges  auf  unmittelbareren  an- 
tiken Traditionen,  und  dies  war  die  Ursache,  dass  sie  auch  jetzt  nicht  erst 
jener  strengeren  architektonischen  Regelung  bedurfte,  sondern  sogleich  zu 
einer  freieren  Auffassung  überging,  die  sich  aber  dennoch  sehr  wesentlich 
von  derjenigen  unterscheidet,  welche  in  Verbindung  mit  der  gothischen 
Architektur  sich  später  verbreitete. 

Das  früheste  Beispiel  dieser  Richtung,  an  welchem  wir  sie  fast  im  Ent- 
stehen finden,  geben  einige  Reliefs  in  der  Stiftskirche  zu  Gernrode,  nament- 
lich die  an  der  Nordseite  der  Busskapelle,  wo  eine  weibliche  Gestalt  mit 
dem  Ausdrucke  des  inbrünstigen  Gebetes  durch  die  Schönheit  ihrer  Formen  über- 
rascht, während  die  daneben  stehenden  Figuren  in  Haltung  und  Gebehrde  noch 
völlig  dem  Style  der  vorigen  Epoche  entsprechen,  und  nur  eine  etwas  freiere 
Gewandbehandlung  zeigen.     Sehr  viel  bedeutender  sind  die  Sculpturen  an 


dass  man  das  Ganze  mit  v.  Quast  (Deutsches  Kunstbl.  1852,  S.  173)  in  das  dreizehnte 
Jahrhundert  verweisen  könnte. 

1)  V.  Hefner  a.  a.  0.  Taf.  23. 

2)  A.bgebildet  in  den  Denkmälern  des  bayrischen  Herrscherhauses,  I. 
'')  Abgebildet  ebenda,  H. 

*)  Vgl.  Bd.  IV,  S.  664,  677. 


gg2  Deutsche  Plastik. 

der  Kanzel  der  Klosterkirche  zu  Wechselburgi);  auf  der  vorderen 
Brüstung  Christus,  in  sehr  hohem  Relief,  thronend,  von  den  Zeichen  der 
Evangelisten  umgeben,  neben  ihm  Maria  auf  der  Schlange  und  Johannes 
auf  einer  männlichen,  vielleicht  den  vorchristlichen  Unglauben  darstellenden 
Figur  stehend;  dann  auf  der  einen  Seitenmauer  Abraham's  Opfer,  auf  der 
anderen  Moses  mit  der  ehernen  Schlange  und  darunter  Abel  und  Kain  mit 
ihren  Opfergaben,  alles  bekannte  Symbole  des  Opfertodes  Christi. 

Manche  Züge  in  diesen  Sculpturen  entsprechen  noch  ganz  dem  Geiste 
und  Style  des  zwölften  Jahrhunderts;  die  rohe  und  unförmliche  Zeichnung 
an  der  Gestalt  des  jungen  Isaac  und  an  dem  Widder,  der  zu  seiner  Ver- 
tretung im  Gesträuche  liegt,  die  heftige  Bewegung  des  Patriarchen  selbst, 
auch  die  Wahl  der  Gegenstände,  die  noch  ganz  dem  Kreise  altchristlicher 
Symbolik  entnommen  und  ohne  allen  scholastischen  Anflug  ist,  deuten  auf 
eine  frühere  Zeit,  und  die  architektonischen  Details  der  Kanzel  würden  es 
gestatten,  sie  um  die  Zeit  der  Vollendung  der  Kirche  (1184)  zu  setzen.  Da- 
gegen zeigt  sich  in  den  Köpfen  und  in  der  Haltung  der  Körper  ein  so  feines 
Gefühl  für  Schönheit  der  Linie,  für  Naturwahrheit  und  Ausdruck,  wie  wir 
es  in  so  früher  Zeit  nicht  gewohnt  sind.  Schon  die  Christusgestalt,  obgleich 
typisch  und  strenge ,  ist  doch  frei  bewegt  und  von  belebten ,  mehr  als  ge- 
wöhnlich individualisirten  Gesichtszügen;  besonders  aber  überrascht  der  Aus- 
druck der  Innigkeit  und  des  Schmerzes  oder  der  Reue  in  den  Köpfen  und 
Bewegungen  Abels  und  Kains.  Auch  Maria  und  Johannes  haben  eigenthüm- 
lich  bewegte  Gebehrde  und  freie  Gewandmotive. 

Einen  näheren  Anhaltspunkt  für  die  Zeitbestimmung  dieser  Arbeit  giebt 
ein  zweites,  bedeutenderes  Werk,  das  in  so  grosser  Stylverwandtschaft  mit 
jenem  steht,  dass  man  beide  einem  und  demselben  Meister  zuschreiben  zu 
müssen  geglaubt  hat,  die  goldene  Pforte  zu  Freiberg^),  Ich  habe  schon 
oben  aus  architektonischen  Gründen  mich  dafür  ausgesprochen,  dass  ihre- 
Entstehung  jedenfalls  erst  im  dreizehnten  Jahrhundert,  vielleicht  erst  gegen 
die  Mitte  desselben,  angenommen  werden  könne,  und  die  Anordnung  des 
Bildwerkes  bestätigt  diese  Ansicht.  Sie  beruht  zunächst  keinesweges,  wie 
die  der  Kanzel  von  Wechselburg,  auf  der  einfachen  altchristlichen  Symbolik, 
sondern  giebt  schon  nach  der  Weise  des  dreizehnten  Jahrhunderts  einen 
umfassenderen ,  in  Gegensätzen  gegliederten  Gedankeninhalt.  Das  Bogen- 
feld  zeigt  uns  die  Jungfrau  gekrönt  und  mit  dem  lehrenden  Christuskinde 
auf  ihrem  Schoose,  zu  ihrer  Rechten  die  anbetenden  drei  Könige,  zur  Linken 


^)  Abbildungen  bei  Puttrich  a.  a.  0.  und  zum  Theil   bei  Förster,  Denkmale,  Bd.  1. 

^)  Vgl.  den  Holzschnitt  oben  S.  229 ;  vollständige  Abbildungen  bei  Puttrich 
a.  a.  0.  ßd.  I,  Abth.  I,  ferner  in  E.  Förster,  Denkmale,  I.  Vgl.  Heuchler,  der  Dom 
tu  Freiberg,  und  die  kritischen  Bemerkungen  von  Waagen,  in  dessen  K.  und  K.  \V. 
in  Deutschland  I,  S.  7. 


Die  goldene  Pforte  zu  Freiberg.  583 

der  Engel  Gabriel  und  Joseph.  Von  den  Archivolten  enthält  die  erste  Gott 
Vater  von  P^ngeln  umgeben,  die  zweite  das  Christkind  umgeben  von  Prophe- 
ten, die  dritte  den  heil.  Geist  als  Taube  nebst  Aposteln,  die  äusserste  end- 
lich die  auferstehenden  Gerechten,  welche  die  Zahl  der  himmlischen  Heer- 
schaaren  vermehren.  Der  ganze  obere  Raum  giebt  daher  die  Verklärung 
der  Jungfrau  als  Himmelskönigin.  Die  acht  Statuen  an  den  Seitenwänden, 
auf  jeder  Seite  drei  männliche  und  eine  weibliche,  haben  dann  eine  sym- 
bolische prophetische  Beziehung  auf  die  Jungfrau  und  den  Erlöser;  auf  der 
einen  Seite  DanieP),  die  Königin  des  Morgenlandes,  Salomo  und  Johannes 
der  Täufer;  auf  der  anderen  zuerst  Aaron,  dann  eine  gekrönte  Frau,  viel- 
leicht die  Ecclesia,  dann  David  mit  der  Harfe  und  endlich  ein  jugendlicher 
Apostel  mit  dem  Buche ,  wahrscheinlich ,  obgleich  jede  nähere  Andeutung 
fehlt,  Johannes  der  Evangelist^).  Die  Schönheit  dieser  Sculpturen  ist  be- 
wundernswerth.  Das  Relief  ist  von  vortrefflicher  Anordnung,  noch  über- 
raschender aber  sind  die  Statuen.  Die  Köpfe,  am  meisten  die,  welche  an 
einigen  Stellen  über  den  Statuen  zwischen  den  Kapitalen  der  Säulen  ange- 
bracht sind,  haben  ein  fast  antikes  Profil,  die  Körper  sind  nicht  bloss  rich- 
tig, sondern  von  edelster  Bildung,  die  Bewegungen  leicht  und  graziös,  die 
Gewänder  voll  und  frei.  Am  auffallendsten  ist  die  Gestalt  des  Daniel,  der 
jugendlich,  in  einer  Art  phrygischer  Tracht,  mit  der  linken  Hand  eine 
Schriftrolle  hält,  mit  der  rechten  den  kurzen  auf  der  Schulter  befestigten 
Mantel  leicht  hebt,  und  mit  dem  schlanken,  von  kurzen  Stiefeln  bekleideten 
Beine  in  fast  tanzender  Bewegung  fortschreitet  Aber  auch  bei  den  anderen 
Gestalten  sehen  wir  die  Richtung  auf  das  Anmuthige  vorherrschend;  Salomo 
und  der  Evangelist  sind  als  Jünglinge,  die  beiden  weiblichen  Gestalten  mit 
einem  Ausdrucke  zarter  Innigkeit  dargestellt,  und  selbst  Aaron  in  voller 
priesterlicher  Tracht  und  mit  langem  fliessendem  Gewände  hat  doch  mehr 
weiche  als  strenge  Formen.  Schon  bei  der  architektonischen  Würdigung 
dieses  Portals  habe  ich  die  von  Einigen  aufgestellte  Vermuthung,  dass  es 
durch  die  Beihülfe  italienischer  Künstler  entstanden  sei,  angeführt,  und 
in  der  That  kann  man  nicht  läugnen,  dass  der  erste  Eindruck  des  Ganzen, 
das  Vorwalten  antiker  Reminiscenzen  neben  einer  Hinneigung  zu  grösserer 
Zierlichkeit  und  bewusster  Grazie,  wohl  an  Italien  erinnert,  aber  freilich 
nicht  an  den  derben  Styl  des  gleichzeitigen  Nicolo  Pisano,  sondern  eher  an 
Späteres.  Daher  war  denn  jene  Vermuthung  auch  dahin  ausgesprochen 
dass    die   Arbeit   theilweise    aus    einer   späteren   Restauration    herstamme. 


^)  Stieglitz,  bei  Puttrich  ,  uauute  diese  Gestalt  Josua;  ohne  Zweifel  ist  es  aber, 
wie  es  zuerst  v.  Quast  im  Kunstblatt  1845  ,  S.  226  aussprach  ,  Daniel ,  auf  den  auch 
der  Löwenkopf  zu  seinen  Füssen  deutet. 

2)  Nach  Heuchler  a.  a.  0,    elier  der  Prophet  Nahum. 


5g4  Deutsche  Plastik. 

Allein  dies  wird  wiederum  jdurch  die  Vergleichung  der  einzelnen  Theile  des 
Portals  widerlegt.  Zwar  sind  die  Statuen  freistehend,  nicht  im  Mauerver- 
bande mit  dem  architektonischen  Theile  des  Portals,  aber  sie  entsprechen 
in  ihrer  ganzen  Behandlung  der  Sculptur  der  Kapitale  und  der  Köpfe ,  die 
das  Gebälk  tragen,  so  dass  das  Ganze  gleichzeitig  entstanden  sein  muss; 
nur  mag  die  Arbeit  an  den  Portalwänden  zuletzt,  die  des  Bogenfeldes  und 
der  Archivolten,  die  einfacher  und  weniger  graziös  gehalten,  zuerst  vorge- 
nommen sein.  Doch  finden  sich  selbst  an  den  Statuen  Züge,  die  völlig  dem 
deutschen  Style  des  dreizehnten  Jahrhunderts  entsprechen.  Nur  diesem 
müssen  wir  also  das  ganze  Werk  zuschreiben  i) ,  wobei  dann  die  Verwandt- 
schaft mit  späteren  und  italienischen  Arbeiten  sich  leicht  durch  die  Ver- 
mischung antiker  Reminiscenzen  mit  christlicher  Naturauffassung  und  Em- 
pfindung erklärt. 

Vergleichen  wir  die  goldene  Pforte  mit  den  Sculpturen  der  Kanzel  von 
Wechselburg,  so  ist  eine  innere  Verwandtschaft  nicht  zu  verkennen;  in  bei- 
den ist  dieselbe  Weichheit  der  Linien,  dasselbe  Anschliessen  an  antike  Tra- 
dition, dieselbe  Neigung  zu  sanften,  graziösen  Motiven.  Allein  dennoch  ist 
die  Ausführung  des  Freiberger  Werkes  so  viel  vollkommener,  dass  man 
beide  nicht  demselben  Meister,  sondern  nur  verschiedenen  Generationen  der- 
selben Schule  zuschreiben  kann. 

Auch  finden  wir  diese  sofort  in  einem  dritten  Werke,  welches  wieder- 
um etwas  jünger  als  die  goldene  Pforte  zu  sein  scheint,  nämlich  an  den 
Altarsculpturen  derselben  Kirche  von  Wechselburg^).  Der  vor  der  Chor- 
nische stehende  steinerne  Hauptaltar  hat  nämlich  ungewöhnlicher  Weise  ^) 
eine  hohe  steinerne  Rückwand,  welche  den  ganzen  Raum  der  Chorvorlage 
ausfüllt  und  nur  durch  zwei  Bögen  den  Zugang  in  die  Concha  offen  lässt. 
Auf  dem  mittleren,  wiederum  vermittelst  eines  Bogens  hinaufgeführten  Theile 
dieser  Rückwand  stehen  nun  die  kolossalen  in  Thon  gebrannten  Gestalten 
des  Heilandes   am  Kreuze   nebst  Maria  und  Johannes;    auf  den  Armen  des 


1)  Diese  Annahme  ist  auch  jetzt  die  allgemein  herrschende,  von  "Waagen,  E.  Förster 
u.  A.,  und  auch  schon  früher  von  Schora  in  seinem  Aufsatze:  Altdeutsche  und  nor- 
mannische Kunst,  in  der  deutschen  Vierteljahrsschrift  1841,  Heft  IV,  S.  104  ff.  aus- 
gesprochen. Die  von  diesem  zugleich  aufgestellte  Vermuthung,  dass  der  Anblick  und 
das  Studium  der  Mosaiken  von  Monreale,  durch  die  Hohenstaufische  Herrschaft  über 
Sicilien  vermittelt,  auf  die  Meister  von  Wechselburg  und  Freiberg  Einfluss  gehabt  habe, 
scheint  unhaltbar,  da  die  Aehnlichkeiten,  auf  welche  er  sie  stützt,  allzu  allgemeine  sind. 

2)  Pultrich  a.  a.  0.  —  E.  Förster,  Denkmale,  Bd.  H. 

3)  Noch  im  dreizehnteu  Jahrhundert  hatte  der  Hauptaltar  in  bischöflichen  Kirchen 
niemals,  in  klösterlichen  äusserst  selten  eine  solche  Rückwand,  weil  die  r,hürnische  die 
Sitze  der  Gei^llichkeit  und  namentlich  des  Bischofs  oder  Abtes  enthielt  und  diesen  dei 
Blick  auf  den  Altar  nicht  beschränkt  sein  durfte. 


Altar  zu  Wechselburg-.  585 

Kreuzes  oben  Gott  Vater,  zur  Seite  fliegende  Engel,  am  Fusse  desselben 
eine  liegende,  bärtige  Gestalt  in  weitem  Mantel  mit  dem  Kelche  (Nicodemus 
oder  Joseph  von  Arimathia?),  unter  den  Füssen  der  Jungfrau  und  des  Jo- 
hannes zwei  gekrönte  Figuren,  Verköri)erungen  des  niedergeworfenen  Juden- 
thums  und  Heidenthums.  Die  beiden  Seitenwände  der  Altarmauer  enthalten 
dann  noch  in  Nischen  unter  Kleeblattbögen  vier  Steinreliefs,  Daniel  und 
David,  einen  Propheten  und  einen  jugendlichen  König,  ohne  Zweifel  wieder 
Salomo.  Diese  Gestalten  stimmen  in  Tracht  und  Haltung  völlig  mit  den 
Statuen  der  goldenen  Pforte  überein,  und  auch  in  den  oberen  Figuren  ist 
die  Stylverwandtschaft  unverkennbar,  nur  deutet  sie  hier  überall  auf  eine 
spätere  Zeit.  Die  Formen  des  Christuskörpers,  der  mit  zierlich  gelegtem 
Schurze  bekleidet  und  mit  drei  Nägeln  befestigt  ist,  sind  sehr  ausgearbeitet 
aber  fast  weichlich,  die  anmuthigen,  jugendlichen  Züge  und  die  Handbewe- 
gungen der  Jungfrau  und  des  Johannes,  das  lockige  Haar  des  letzten,  auch 
die  Gewandmotive  entsprechen  den  Statuen  von  Freiberg,  aber  alles  ist 
weniger  präcis,  und  namentlich  sind  die  Gewandfalten  in  einer  Weise  ge- 
häuft und  in  geschwungene  Linien  gezogen,  die  dort  nicht  vorkommt.  Zwei 
Statuen,  welche  am  Eingange  des  Chors  angebracht  sind,  die  eine  in  ritter. 
lieber,  fast  römischer  Tracht,  die  andere  im  Prophetengewande  und  mit  dem 
Scepter  (Abraham  und  Melchisedek?)  sind  in  ganz  gleicher  Weise  den  Frei- 
berger  Statuen  ähnlich  und  von  ihnen  abweichend. 

Wir  bemerkten  an  den  deutschen  Wandgemälden,  dass  dem  einfachen, 
geradlinigen  Style  der  gothischen  Zeit  eine  unruhige,  bewegte  Haltung 
der  Figuren  vorherging,  die  auf  einem  noch  unausgebildeten  Naturalismus 
beruhte  und  sich  besonders  durch  flatternde  Gewandraotive  äusserte.  Auch 
in  der  Sculptur  können  wir  diese  Richtung  wahrnehmen  und  namentlich 
zeigt  dies  Altarwerk  Spuren  davon.  Sehr  viel  entwickelter  ist  sie  aber  auf 
dem  in  derselben  Kirche  befindlichen  Grabsteine  des  Stifters ,  Grafen  Dedo 
(t  1190)  und  seiner  Gemahlin  Mechtildis  (f  1189).  Hier  sind  die  Gestalten 
schon  voll  und  kräftig,  in  der  Modellirung  an  die  Arbeiten  der  zweiten 
Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  erinnernd,  sogar  nicht  ohne  Porträtähn- 
iichkeit,  die  Gewänder  aber  in  einer,  besonders  für  liegende  Gestalten  höchst 
auffallenden  Weise  wellenförmig  bewegt  und  wie  flatternd.  Ohne  Zweifel 
hat  die  Dankbarkeit  der  Mönche  dies  Denkmal  erst  längere  Zeit  nach  dem 
Tode  ihres  Wohlthäters  zu  Stande  gebracht,  da  die  Form  der  Waffen  und 
der  Lehnsfahne  auf  das  dreizehnte  Jahrhundert  deuten. 

Wie  weit  sich  der  Einfluss  dieser  Schule  erstreckte,  muss  dahingestellt 
bleiben;  indessen  lässt  sowohl  jenes  Bildwerk  in  Gernrode  als  der  Grabstein 
eines  Ritters   im  Dome   zu   Merseburg^),    dessen   Gestalt   dieselbe   weiche, 


1)  Puttrich  a.  a.  0.,  ßd.  I,  Abtli.  2,  Taf.  8,  Nro.  4. 


5Qß  Deutsche  Plastik. 

jugendliche  Anmuth  und  eine  ähnliche  Gewandbehandlung  zeigt,  auf  eine 
weitere  Verbreitung  schliessen.  Jedenfalls  war  sie  nicht  von  Dauer  und 
auch  wohl  kaum  zu  weiterer  Fortbildung  geeignet.  Ihre  Formen,  so  an- 
ziehend sie  sind,  haben  doch  etwas  Schwankendes,  und  mussten,  wie  es  die 
späteren  Wechselburger  Sculpturen  zeigen,  leicht  in  Weichlichkeit  und  Hal- 
tungslosigkeit  übergehen.  Ihr  fehlte  das  architektonische  P^lement,  das  ge- 
rade jetzt  zu  neuer  Herrschaft  gelangte,  und  sie  musste  daher  dem  einfache- 
ren, ruhigeren  Style,  der  im  Gefolge  der  gothischen  Baukunst  aufkam, 
weichen.  Selbst  in  Freiberg  fand  dieser  nicht  lange  nach  Vollendung  der 
goldenen  Pforte  Eingang,  wie  dies  die  jetzt  im  Museum  des  Alterthums- 
vereins  zu  Dresden  befindlichen,  aus  dem  Freiberger  Dome  stammenden  in 
Holz  gearbeiteten  kolossalen  Gestalten  des  Heilandes  am  Kreuze  nebst  der 
Jungfrau  und  Johannes^)  und  einige  am  Aeusseren  der  s.  g.  Thümerei  in 
Freiberg,  eines  Nebengebäudes  des  Doms  aus  dem  fünfzehnten  Jahrhundert, 
eingemauerte  Reliefs  beweisen. 

So  sehr  der  neue  Styl  aber  auf  innerer  Nothwtndigkeit  und  architek- 
tonischer Conscquenz  beruhete,  musste  er  sich  in  Deutschland  erst  einbür- 
gern, und  trat  anfangs  noch  schüchtern  und  befangen  auf.  So  zuerst  an 
der  Liebfrauenkirche  in  Trier^),  obgleich  die  schmale  Fagade  schon  einen 
nach  der  Weise  des  neuen  Styles  bildlich  entwickelten  Gedankengang  giebt. 
Das  noch  rundbogige  und  romanisch  verzierte  Portal  enthält  im  Bogenfelde 
die  thronende  Jungfrau  mit  dem  Kinde  nebst  den  anbetenden  Königen  und 
der  Darstellung  im  Tempel,  in  den  fünf  Archivolten,  Engel,  Bischöfe,  Kirchen- 
väter, darauf  gekrönte,  musicirende  Gestalten,  also  Selige,  welche  die  Krone 
des  Lebens  erlangt  haben,  endlich  die  klugen  und  die  thörichten  Jungfrauen. 
Von  den  sechs  Statuen  des  Einganges  sind  nur  noch  drei  erhalten,  die  eine 
wahrscheinlich  Johannes  den  Evangelisten,  die  anderen  in  gewohnter  Weise 
die  Kirche  und  die  Synagoge  darstellend.  Das  ganze  Portal  verbindet  also 
die  Begriffe  des  Himmelreiches  und  der  Kirche,  um  die  Jungfrau  als  Königin 
des  ersten  und  Repräsentantin  der  letzten  zu  feiern.  Damit  steht  dann 
weiteres  Bildwerk  an  den  oberen  Theilen  der  Vorderwand  in  Verbindung; 
an  den  Strebepfeilern  hier  Abraham,  mit  dem  schon  zum  Opfer  gebundenen 
Isaac,  dort  Noah  das  Brandopfer  darbringend,  über  ihnen  jederseits  noch 
zwei  Gestalten  von  Erzvätern  und  etwas  höher,  neben  dem  Fenster,  die 
Verkündigung ,  im  Giebel  endlich  Christus  am  Kreuze  zwischen  Maria  und 
Johannes.  Die  Haltung  der  meisten  Figuren  ist  noch  sehr  steif,  sie  zeigen 
sich  fast  alle  von  der  Vorderseite  oder  im  Profil,  mit  geradlinigen,  parallelen 


^)  E.  Förster,  Denkmale,  F. 

2)  E.  ans'm  Weertli,  Kiiiisideiikmale  des  Miltilalters  in  den  Rheinlanden  ,  Bd.  III, 
Tal.  LIX. 


Verbreitung  des  neuen  Slyls. 


587 


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Gewandfalten,  auch  auf  dem[Ilelief  des  Bogen- 
feldes  mit  Ausnahme  des  einen  kniendenKönigs 
alle  stehend.  Nur  die  beiden  weiblichen  Sta- 
tuen des  Eingangs,  die  Kirche  und  Synagoge, 
sind  freier  behandelt,  und  bei  der  Krönung 
der  Jungfrau,  im  Bogenfelde  des  Nebenportals, 
sieht  man,  obgleich  auch  hier  wieder  alle  Fi- 
guren stehen ,  doch  den  Versuch,  etwas  mehr 
Bewegung  in  die  Gewandlinien  zu  bringen  i). 
Bei  alledem  verläugnet  sich  aber  der  Schön- 
heitssinn, der  in  den  architektonischen 
Theilen  waltet,  an  den  plastischen  nicht  ganz, 
vielmehr  haben  die  Gesichtszüge  und  selbst  , 
die  Linienführung  schon  oft  eine  Anmuth,  yi 
welche  mit  jenen  plastischen  Mängeln  ver- 
söhnt. 

Die  Entstehungszeit  dieser  Bildwerke  kön- 
nen wir  um  1240  setzen.  In  ähnlicher  Weise 
schwankend  und  schüchtern  finden  wir  dann 
denselben  plastischen  Styl  an  der  benachbarten 
Kirche  zuTholey-),  und  an  dem rundbogigen 
Portal  der  Südseite  der  Stiftskirche  zu 
Wetzlar^).  Anziehender  sind  einige  Sculp- 
turen  des  Bamberg  er  Domes,  besonders  die 
Statuen,  mit  welchen  das  südliche  Portal  der 
Ostseite  offenbar  mehrere  Decennien  nach 
seiner  Erbauung  geschmückt  ist,  Kaiser  Hein- 
rich und  Kunigunde,  Adam  und  Eva,  ein 
Apostel,  wahrscheinlich  Petrus  und  der  hei- 
lige Stephanup.  Diese  in  voller,  freier  Ge- 
wandung würdig  gehalten;  die  Kaiserin,  mit 
etwas  kleinem  Kopfe,  gürtellosem  weich  herab- 
fiiessendem  Kleide  und  anmuthiger  Gebehrde; 
die  beiden  nackten  Gestalten  aber  von  über- 
raschender Naturwahrheit  und  schlichter  Be- 

Statue  der  Kaiserin  Kunigunde. 
Dom  zu  Bamberg. 

1)  £.  aus'm  Weerlh  a.  a.  0.  Taf.  LXFig.  1. — Abbildungen  beider  Portale  auch  schon 
n  Schmidt's  Trierischen  ßaudenkmalen,  Lief.  J,  Taf.  6  und  7*,  eine  geistvolle  Erklärung 
von  dem  Bischof  Müller  im  Texte,  S.  36  ff. 

^)  Kugler  hl.  Sehr.  II,  S.  259. 

••')  Daselbst  S.  169  und   177. 


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588 


Deutsche  Plastik. 


Fig.  UO. 


Statuen  im  westlichen  Chore  des  Doms  zu  Naumburg. 


Dome  zu   Bamberg  und  Naumburg.  589 

handlang,  der  Körper  des  Adam  kräftig,  der  der  Eva  von  anspruchs- 
loser Grazie.  Die  Ruhe  der  Haltung  und  die  Yölligkeit  der  Form 
eignet  diese  Arbeiten  dem  neuen  Style  zu,  während  sie  durch  eine  gewisse 
jugendliche  Bescheidenheit  und  Anmuth  den  Werken  jener  älteren  sächsi- 
schen Schule  verwandt  sind.  Schärfer  ausgeprägt  finden  wir  den  neuen 
Styl  in  demselben  Dome  an  mehreren  der  goldenen  Pforte  später  hinzuge- 
fügten und  an  einigen  im  Innern  aufgestellten  Statuen;  unter  den  letzten 
eine  von  ungewöhnlicher  Aufgabe,  die  hoch  an  .einem  Pfeiler  angebrachte 
Reiterstatue  König  Konrad's  IIL,  der  hier  begraben  war.  Das  Pferd,  wenn 
auch  nicht  vollkommen  richtig,  ist  doch  mit  glücklicher  Xaturbeobachtung 
wiedergegeben,  während  der  Kopf  des  Königs  schon  jenes  conventioneile 
Lächeln  hat,  das  zu  den  Schwächen  des  Styls  gehört^).  Verwandt,  wenn 
auch  etwas  handwerksmässiger,  ist  das  Reiterbild  des  Kaisers  Otto  I.  nebst 
den  Gestalten  von  zwei  Tugenden  auf  dem  Marktplatz  in  Magdeburg,  die 
Ummantelung  des  Sockels  nebst  den  übrigen  Figuren  gehört  aber  hier  erst 
dem  vierzehnten  Jahrhundert  an-). 

Bald  nach  diesen,  etwa  1250  entstandenen  Arbeiten  finden  wir  dann 
diesen  Styl  in  ganz  Deutschland  herrschend,  bald  freier,  geistiger,  häufig 
aber  auch  schon  ziemlich  handwerksmässig  ausgeübt.  Zu  den  besseren  Lei- 
stungen dieser  Zeit  gehören  die  Sculpturen  am  Lettner  des  Westchores  im 
Naumburger  Dome,  besonders  aber  die  zwölf ^)  Standbilder  in  demselben 
Chore,  welche  Bischof  Dietrich  den  früheren  Wohlthätern  der  Kirche,  wie 
er  sie  in  seinem  Stiftungsbriefe  aufgezählt  hatte,  wahrscheinlich  aber  erst 
bei  vorgerücktem  Bau,  etwa  um  1270,  errichten  Hess.  Es  sind  schlichte 
Arbeiten  in  Sandstein,  an  den  Werkstücken  der  Pfeiler  haftend,  in  künstleri- 
scher Durchbildung  den  Freiberger  Statuen  nachstehend,  aber  durchweg  mit 
Gefühl  und  mit  gesunden  künstlerischen  Motiven.  Alle  sind  mit  weiten 
Gewändern  und  Mänteln  bekleidet ,  die  Frauen  mit  einer  Krone  und  einer 
unter  dem  Kinne  festanliegendeu  Binde,  die  Männer,  ein  breites  Schwert 
und  einen  spitzen  Schild  haltend,  mit  starkem,  freiherunterfallendem  Haare, 
noch  nicht  in  der  damals  in  Frankreich  aufkommenden  schematischen  Be- 
handlung. Die  Körper  sind  bis  auf  feinere  Theile  richtig,  mehr  kräftig 
breit  als  schlank,  die  weiten  Gewänder  fallen  in  natürlichen  Falten.  Die 
Köpfe  sind  nicht  ohne  Ausdruck,  alle  in  Zügen  und  Haltung  verschieden. 


1)  Vgl.  über  alle  diese  Sculpturen  Kugler  kl.  Sehr.  1 ,  156  m.  Abbild.  —  Auch 
bei  Förster,  Denkmale,  Bd.  III.  —  Das  Reiterbild  auch  bei  Lübke,  Plastik,  S.  424. 

2)  V.  Quast  und  Otte,  Zeitschr.  I,  S.  108  ff.,  Taf.  7  —  9,  wiederholt  bei  Förster, 
Denkm.  Bd.  IX.  —  Das  Monument  ist  stark  restaurirt. 

3)  Acht  Männer  und  vier  Frauen;  eine  der  letzteren  scheint  von  späterer  Arbeit. 
Vgl.  die  Abbildungen  bei  Puttrich  a.  a.  0,  Bd.  I,  Abth.  2,  Serie  Naumburg,  Taf.  16 
und  17.  —  Förster,  Denkmale,  Bd.  V. 


p,gQ  Deutsche  Plastik. 

die  der  Frauen  zum  Theil  mit  dem  conventionellen  Lächeln,  das  hier  fromme 
Freudigkeit  bedeutet,  die  Männer  entweder  ruhig  zuschauend,  oder  mit  etwas 
gesenktem  Haupte  und  dem  Ausdrucke  inniger  Theilnahme.  Ueberhaupt 
zeigt  sich  der  Meister  in  der  Art,  wie  er  seine  an  sich  monotone  Aufgabe 
zu  beleben  wusste,  als  einen  denkenden  Künstler,  der  dieGebehrden  und  Ge- 
wandmotive mit  der  Bildung  und  dem  Ausdrucke  des  Gesichts  in  Einklang 
zn  setzen  suchte.  'Die  jugendlichen  Gestalten  sind  durchweg  inniger  und 
ausdrucksvoller,  die  älteren  ruhiger  dargestellt ;  GrafDithmar,  der  in  der  In- 
schrift auf  dem  Schildrande  als  ermordet  bezeichnet  ist,  erscheint,  den 
Schild  vorhaltend,  die  Hand  am  Schwertgriffe,  das  Haupt  emporhebend,  als 
wolle  er  sich  gegen  einen  Angriff  vertheidigen ,  Graf  Wilhelm,  der  „unus 
fundatorum"  genannt  wird,  und  also  wahrscheinlich  die  reichste  Beisteuer 
gegeben  oder  der  Grundsteinlegung  beigewohnt  hatte,  zeigt  mit  erhobener 
Hand,  geneigtem  Haupte  und  aufgeschlagenen  Augen  die  wärmste  Theil- 
nahme an  dem  vorausgesetzten  Hergange  der  Gründung,  und  in  ähnlicher 
Weise  geben  die  meisten  Gestalten  ein  Charakterbild. 

Neben  diesem  ersten  Werke  des  neuen  Styls  in  Sachsen  will  ich  so- 
gleich ein  zweites  ähnlicher  Art  nennen,  vier  Statuen  nämlich  an  den  Wän- 
den des  Chors  im  Dome  zu  Meissen,  welche  den  Kaiser  Otto  I.  nebst 
seiner  Gemahlin,  den  Evangelisten  Johannes  und  den  Bischof  Donatus,  jene 
die  Stifter  und  diese  die  Schutzpatrone  der  Kirche  darstellen  ^).  Sie  sind  von 
feinerer  Ausführung  und  jedenfalls  jünger  als  jene,  dürften  aber  wohl 
noch  am  Schlüsse  des  Jahrhunderts  entstanden  sein,  dem  der  Styl  sowohl 
der  Gewänder  als  der  darüber  befindlichen  Baldachine  entspricht,  und  in- 
teressiren  auch  dadurch,  dass  die  vollständige  Bemalung,  wenn  auch  mit  Er- 
neuerungen, erhalten  ist. 

Vereinzelte  kirchliche  Bildwerke  des  dreizehnten  Jahrhunderts  kommen 
ziemlich  häufig  vor,  jedoch  meist  von  geringerer  Ausführung,  welche  auch 
die  Zeitbestimmung  zweifelhaft  macht  2).  Mitunter  tritt  uns  auch  an  grösse- 
ren Werken  noch  in  ziemlich  später  Zeit  ein  strenges  Beharren  bei  den 
Formen  des  älteren  Styls  entgegen.  So  in  den  kolossalen  Steinfiguren,  welche 
sich  in  der  Vorhalle  am  südlichen  Hauptportal  des  Domes  zu  Münster 
zwischen  schlanken  Ringsäulen  erheben.  Sie  stellen  mehrere  Apostel  und 
Heilige,  einen  Fürsten  und  den  Bischof  Dietrich  von  Isenburg  vor,   welcher 


1)  Puttricli  a.  a.  ().,  Bd.  II,  Abtli.  I,  Serie  Meissen,  Taf.  12  und  14. 

2)  Dahin  geliören  die  GestaUen  der  Wächter  in  der  Kapelle  des  h.  Grabes  am 
Dome  zu  Constinz,  welche  v.  Hefner  (Trachten  d.  M.  A.  I,  4  u.  5)  von  1220  daiirl, 
bei  denen  aber  ungeacl)tet  ihrer  rohen  Ansfi'ihrurg  die  freie  und  gewandte  Haltung 
auf  eine  spätere  Zeit  schliessen  lässt.  Die  sehr  einfach  und  strenge  gehaltenen  kolos- 
salen Statuen  Heinrichs  des  Löwen  und  des  Bischofs  Hermann  im  Braunscliweiger  Dome 
dürften  der  Mitte  des  Jahrhunderts  zuzuschreiben  sein. 


Münster  zu  Freiburg  und  Strassburg.  591 

1225  den  Grundstein  des  Neubaues  legte ,  und  werden  gewiss  erst  einige 
Zeit  nach  seinem  Tode,  in  dffv  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts, 
entstanden  sein^  Neben  der  architektonischen  Gemessenheit  in  der  Haltung 
zeichnen  sie  sich  andererseits  schon  durch  lebendigen  Ausdruck  der  Köpfe 
und  durch  glücklichen,  weichen  Fluss  der  Gewandung  aus^).  Ein  entschie- 
neres  Eindringen  von  Zügen  des  neueren  Styls,  die  sich  aber  noch  immer, 
und  zwar  in  plastischer  wie  in  architektonischer  Beziehung,  mit  Nachwir- 
kungen des  älteren  Styles  misclien ,  zeigt  das  noch  rundbogige  Portal  der 
südlichen  Vorhalle  am  westlichen  Kreuzschiffe  des  Domes  zu  Paderborn-) 
Die  Statue  der  Jungfrau  am  Mittelpfeiler  in  einfacher,  gerader  Haltung  und 
Gewandung  und  die  naive,  spielende  Bewegung  des  Kindes  auf  ihrem  Arme  ge- 
hören schon  der  neuen  Auffassung  an,  während  die  Apostel  an  den  Seitenwänden, 
mit  flachen  Gewandfalten  und  gelocktem  Haare,  und  endlich  die  grottesken 
Figuren  im  Laubwerk  der  Kapitale  noch  auf  Reminiscenzen  des  älteren 
Styles  beruhen.  Dennoch  wird  man  bei  dem  langsamen  Gange  der  west- 
phälischen  Kunstentwickelung  die  Arbeit  nicht  früher  als  um  1260  setzen 
können. 

Unterdessen  hatte  sich  am  Oberrhein  eine  Schule  gebildet,  die  an 
Adel  des  plastischen  Styles,  an  Leichtigkeit  und  Freiheit  der  Behandlung 
mit  der  französischen  Plastik  wetteiferte.  Hire  umfangreichsten  Werke  sind 
die  Sculpturen  in  der  Vorhalle  des  Freiburger  und  an  der  Fagade  des 
Strassburger  Münsters,  deren  Inhalt  ich  schon  früher  als  Beispiele  der 
Raumsymbolik  beschrieben  habe^).  Aelter  aber  als  diese  grossartigen  Bild- 
werke sind  die  Sculpturen  am  Portale  der  südlichen  Querhausfrout  des 
Strassburger  Münsters,  welche  vielleicht  nicht  unmittelbar  nach  der 
Entstehung  der  architektonischen  Anlage,  doch  keinesfalls  erheblich  später 
und  ihrem  stylistischen  Charakter  nach  wohl  um  die  Mitte  des  dreizehnten 
Jahrhunderts,  entstanden  sein  werden*}.  Ausser  den  Statuen  und  Reliefs 
am  Doppelportal  befanden  sich  früher  in  den  Wandungen  desselben,  jetzt 
durch  Säulen  ersetzt,  die  Figuren  der  zwölf  Apostel ,  von  denen  eine  ehe- 
mals eine  Inschrift  trug,  welche  sie  als  das  Werk  einer  Künstlerin  Sabina 


1)  Zwei  Apostel  bei  E.  Förster,  Denkmale,  VII.  —  Vgl.  Lübke ,  Westphalen, 
S.    132. 

-)  Lübke  a.  a.  0.,  S.  174  und  die  Abbildung  in  Moller's  Denkmalen,  Band  I, 
Taf.   17. 

3)  Bd.  IV,  S.  291  S.  und  295  f. 

•*)  Viollet-le-Duc,  Dict.  VIII,  S.  169  setzt  die  Arbeiten  in  den  Anfang  des  XIII. 
Jalirhundeits,  wolil  etwas  zu  früh,  indem  er  iiacli  frcmzösischen  Monumenten  uitheilt, 
die  meisten  deutschen  Schiiftsleller  haben  sie  aber  noch  irriger  bisher  dem  Ende  des 
dreizehnten  Jahriiunderls  zuweisen  wollen,  ausgehend  von  der  falschen  Voraussetzung, 
von  der  unten  die  Rede  ist.  —  Vgl.  über  das  Arcliiteklonische    oben  S.  277. 


gg2  Deutsche  Plastik. 

bezeichnete.  So  interessant  nun  auch  die  Kunde  von  einer  solchen  in  dieser 
Zeit  ist,  in  welcher  nur  ein  ungewöhnliches  Talent  die  Zulassung  einer  Frau 
zu  den  Arbeiten  der  Hütte  rechtfertigen  konnte ,  so  hat  doch  nur  eine  unbe- 
gründete Sage  aus  dieser  Sabina  eine  Tochter  des  Meisters  Erwin  von 
Steinbach  gemacht.  Es  ist  ferner,  da  jene  Statue  mit  der  Inschrift  nicht 
mehr  existirt,  kein  Anhalt  vorhanden,  jener  Sabina  irgend  eine  erhaltene 
Arbeit  zuzuschreiben  ^).  Von  dem  Bildwerk  an  diesem  Querhausportal  sind 
nur  die  schlanken ,  bei  einfacher  Behandlung  grossartigen  Gestalten  der 
Kirche  und  der  Synagoge  in  anmuthig  fliessenden,  fein  angeordneten  Gewän- 
dern, und  einige  Theile  des  Reliefs,  zum  Beispiel  der  Tod  der  Maria,  welcher 
durch  Schönheit  der  reichen  Compositon  überrascht,  der  Zerstörung  während 
der  französischen  Revolution  entgangen^).  Fast  gleichzeitig  scheinen  die  zwölf 
Statuen  an  dem  Mittelpfeiler  des  südlichen  Querarms,  unten  die  vier  Evan- 
gelisten, in  einer  zweiten  Reihe  vier  Engel  mit  Posaunen,  oben  Christus  und 
drei  Engel  mit  Marterwerkzeugen  3).  Sie  sind  in  der  Schlankheit  und  der 
zarten  Gewandung  den  eben  geschilderten  Portalfiguren  verwandt,  aber,  ob- 
gleich sorgfältig  ausgearbeitet,  minder  bedeutend.  Gegen  1270  sind  sodann 
die  wie  gesagt  bereits  oben  beschriebenen  Sculpturen  der  Freiburger 
Vorhalle  ausgeführt,  die  an  Schönheitsgefühl,  Schwung  und  zarter  Grazie 
alle  andern  Bildwerke  der  deutschen  Gothik  übertreffen.  Bald  darauf, 
1277,  begann  in  Strassburg  der  Fagadenbau  Meister  Erwins,  und  im 
Anschluss  daran  entstanden  die  Sculpturen  dieser  Front,  der  einzigen  in 
Deutschland,  welche  auch  im  Reichthume  plastischer  Ausstattung  den  fran- 
zösischen Kathedralen  gleichkommt^).  Die  Reliefs  der  Bogenfelder  ihrer 
Portale  sind  vielleicht  zu  inhaltreich  und  ohne  feinstes  Gefühl  für  Raumver- 
theilung,  die  Statuen  dagegen,  namentlich  die  mit  Recht  berühmten  der 
klugen  und  thörichten  Jungfrauen  an  einem  der  Seitenportale,   sehr  ausge- 


1)  Die  leotiinischeii  Verse  an  jenem  Bildweri\  lauteten :  Gratia  divinae  pietatis 
adesto  Saviuae  de  petra  dura  per  quani  sum  facta  figura.  Sie  beziehen  sich  also 
ausdrücklich  nur  auf  diese  eine  Statue.  Specklin  theiit  zuerst  mit ,  dass  die  Bild- 
hauerin Sabina  eine  Tochter  des  Dombaumeisters  gewesen,  Schilter,  in  der  Ausgabe 
von  Königshovens  Chronik  1688 ,  und  Grandidier  gehen  noch  weiter  indem  sie  die 
Worte  de  petra  dura,  statt  auf  das  Folgende  ,  auf  den  vorhergehenden  Namen  be- 
ziehen und  etwas  kühn  mit  „von  Steinbach"  übersetzen.  Vgl.  die  feine  Untersuchung 
von  L.  Schneegans  „La  staluaire  Sabine"  in  der  Revue  d'Alsace,  Colmar  1850  p.  257, 
Die  Bildhauerin  Sabina  arbeitete  lange  bevor  Erwins  Thätigkeit  am  Münsterbau  begann. 

-)  Die  Gestalt  des  Königs  Salomo  zwischen    den  Portalen  ist  neu. 

3)  Adler  (deutsche  Bauzeitung  1870,  S.  402)  vermuthet  darin  eine  Andeutung  des 
jüngsten  Gerichts. 

*)  Auch  diese  Bildwerke  sind  nach  den  Verwüstungen  der  Revolution  ^lark 
restaurirt. 


Münster  zu  Strassburg. 


593 


zeichnete  Leistungen  dieses  Styls.     Im  Ganzen  ist  die  Bildung  der  Gestalten 
gedi-ungener  als  am  südlichen  Querarme,  der  Faltenwurf  minder  fein,  aber 


Fig.  141. 


.;  MlÜliiiiliii;!!: 


Münster  zu  Strassburg,  Westfayade. 


auf  reichere  3Iassemvirkung  angelegt.     Das  Streben  nach  Lebendigkeit 
Ausdruck  und  Haltung  führt  allerdings   manchmal  durch  Uebertreibun 
manieristischen  Zügen. 

Sclinaase's  Kunstgesch.    2.  Aufl.     V. 


m 
R  zu 


38 


^QA  Deutsche  Plastik. 

Dei'  Charakter  derselben  Schule  und  eine  nahe  Verwandtschaft  beson- 
ders mit  den  Bildwerken  der  drei  Westportale  zu  Strassburg  tritt  uns  an 
dem  Portal  des  südlichen  Querhausarmes  der  Stiftskirche  zu  Wimpfen  im 
Thal  entgegen,  das  wohlerhalten  ist  und  deutliche  Farbenspuren  zeigt.  An 
dem  Mittelpfosten  steht  die  Madonna  mit  dem  Kinde,  an  den  Wandungen 
erscheinen  Petrus  und  Paulus  nebst  vier  anderen  Heiligen.  In  dem  Tym- 
panon  ist  der  Gekreuzigte  zwischen  der  Kirche  und  der  Synagoge  nebst  Maria 
und  Johannes  dargestellt,  verehrt  von  zwei  Stiftern  in  geistlichem  Gewände, 
die  Archivolten  enthalten  die  zwölf  Apostel.  Wie  in  Strassburg  sind  die 
Figuren  massig  schlank,  die  Gesichter  in  dem  Streben  nach  Belebung  manch- 
mal bis  zur  Grimasse  verzogen,  dabei  aber  die  Bewegungen  stets  ausdrucks- 
voll und  von  gesunder  Beobachtung  des  Lebens. 

So  sehen  wir  also  den  neuen  Styl  in  verschiedenen  Gegenden  Deutsch- 
lands angewendet,  aber  immer  doch  nur  vereinzelt  und  sparsam,  nicht  mit 
der  Energie  und  Fruchtbarkeit  wie  in  Frankreich.  Schon  dies  lässt  darauf 
schliessen,  noch  deutlicher  ergiebt  es  sich  aber  aus  gewissen  feineren  Zügen, 
dass  dieser  Styl  hier  noch  nicht  so  einheimisch  und  beliebt  war,  wie  dort. 
Er  hing  so  innig  mit  der  gothischen  Architektur  zusammen,  entsprach  dem 
allgemeinen  Zeitgeiste  so  sehr,  dass  man  ihm  die  Aufnahme  nicht  versagen 
konnte,  aber  er  befriedigte  nicht  völlig.  Er  setzte  eine  tactvoUe  Ausgleichung 
der  naturalistischen  und  poetischen  Anforderungen  mit  dem  Stylistischen, 
eine  Unterordnung  des  individuellen  Gefühls  unter  die  allgemeine  Regel 
voraus,  die  dem  deutschen  Geiste  nicht  natürlich  war.  Daher  erklärt  sich, 
dass  wir  an  manchen  deutschen  Sculpturen  Spuren  des  Widerstrebens  gegen 
die  Gleichförmigkeit  jenes  Styls  und  des  Bemühens  nach  grösserer  Indivi- 
dualität und  Naturwahrheit  bemerken.  Hauptsächlich  finden  wir  dies  an 
Grabsteinen.  Die  französische  Kunst  bewegte  sich  hier  in  einem  engen 
Kreise,  aber  mit  Geschmack  und  Anstand;  sie  hielt  die  Gestalten  der  Ver- 
storbenen in  gerader  Lage  und  gab  der  Gewandbehandlung  durch  breite, 
geradlinige  Falten  den  entsprechenden  Ausdruck  des  Ernstes  und  der  Ruhe. 
Auch  in  Deutschland  kannte  und  verstand  man  dies  Princip  sehr  wohl,  und 
wir  besitzen  eine  Reihe  von  Grabmälern  aus  dieser  Epoche,  in  denen  es 
strenge  beobachtet,  einige  wo  es  mit  grosser  Meisterschaft  durchgeführt  ist. 
So  unter  anderen  die  Denkmäler  Heinrichs  des  Löwen  und  seiner  Gemahhn 
im  Dome  zu  Braunschweig,  welche  etwa  aus  der  Mitte  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts herrühren  und  die  volle  Meisterschaft  der  sächsischen  Schule  zei- 
gen'), die  Grabsteine  des  Landgrafen  Conrad  (f  1243)  in  der  Elisabeth- 
kirche zu  Marburg  2),  des  Grafen  Ulrich  von  Württemberg  und  seiner  zweiten 


Abgebildet  im  Anzeiger  für  Kunde  der  Deutschen  Vorzeit,    1871,  Col.  7  u.  8. 
Moller  a.  a.  0.,  Taf.   18. 


Grabsteine.  595 

Gemahlin  Agnes  (f  1265)  in  der  Stiftskirche  zu  Stuttgart')  und  des  Grafen 
Diether  III.  von  KatzeneUnbogen  (f  1276),  früher  in  S.Clara  zu  Mainz,  jetzt 
im  Museum  zu  Wiesbaden  -) ,  die  in  gebranntem  Thone  gearbeitete  Gestalt 
Herzog  Heinrich's  IV.  (f  1290)  in  der  Kreuzkirche  zu  Breslau;^).  In  vielen 
anderen  Fällen  dagegen  sehen  wir  das  Bemühen,  die  Figuren  mehr  zu  be- 
leben. Einige  Male  sind  sie  gleichsam  in  Handlung  gesetzt,  so  zunächst  auf 
den  Gräbern  der  Bischöfe  Günther  (f  1066)  und  Berthold  (11285)  im  Dome 
zu  Bamberg  (auch  jenes  augenscheinlich  erst  im  dreizehnten  Jahrhundert 
gearbeitet)  dadurch,  dass  sie  im  Profil  und  mit  aufgehobener  segnender 
Hand  dargestellt  sind*),  dann  aber  mit  fast  dramatischer  Entwickelung  auf 
dem  Grabsteine  des  Erzbischofs  Sigfried  (f  1249)  im  Dome  zu  Mainz  ^). 
Der  Künstler  hat  nämlich  dem  gewaltigen  Kirchenfürsten,  der  bekanntlich 
in  den  letzten  unruhigen  Jahren  der  Regierung  Kaiser  Friedrich's  II.  eine 
grosse  politische  Rolle  spielte,  die  beiden  Gegenkönige  Heinrich  Raspe  und 
"Wilhelm  von  Holland  zur  Seite  gestellt,  und  zwar  so ,  dass  sie  in  kleinerer 
Dimension  und  auf  Fussgestellen  stehend  der  grösseren  Gestalt  des  Erz- 
bischofs, der  ihnen  die  Kronen  aufsetzt,  bis  an  die  Schulter  reichen.  Dies 
giebt  allerdings  unbequeme  Bewegungen  und  ist  nicht  ganz  geglückt,  aber 
die  Haltung  der  beiden  jugendlichen  Fürsten  ist  anmuthig  und  ritterlich,  die 
Gewandbehandlung  einfach  und  leicht,  und  der  Zweck  des  Künstlers,  seinen 
Helden  in  der  Fülle  seiner  Macht  zu  zeigen,  möglichst  erreicht.  In  den 
meisten  Fällen  dagegen  hielt  man  zwar  die  gerade,  ruhige  Lage  des  Körpers 
für  angemessen,  suchte  nun  aber  wenigstens  durch  die  Gewandung  Leben 
und  Mannigfaltigkeit  zu  erreichen.  Statt  in  geraden,  schweren  Falten  die 
Glieder  zu  verhüllen,  ist  nämlich  das  Gewand  wie  ein  leichter  Stoff  behan- 
delt, der  den  Bau  des  Körpers  durchscheinen  lässt  und  auf  der  Fläche  des 
Steines  unruhige  und  fast  flatternd  bewegte  Falten  bildet.  Auch  das  Haar 
fällt  leicht  und  bewegt  in  langen  Locken ,  und  das  Gesicht  hat  oft  eine 


1)  Heideloff,  Schwaben,  Taf.  VI. 

2)  V.  Hefner,  Trachten  d    M.  A.  I,  Taf.  68. 

3)  Farbige  Abbildung,  doch  etwas  hart,  in  Büsching ,  Schlesiens  Vorzeit  in  Bild 
und  Schrift,  und  in  H.  Luchs,  Schlesische  Fürstenbilder  des  Mittelalters,  Berlin  1872. 

*)  Das  Denkmal  des  Bamberger  Bischofs  Suidger  von  Mayendorf,  der  als  Papst 
Clemens  II.  im  Jahre  1047  starb,  halte  auch  ich  (wie  Kugler  kl.  Sehr.  I,  159)  für  eine 
Arbeit  des  13.,  und  nicht  (wie  E.  Förster,  deutsche  Kunstgesch.  I,  65)  des  11.  Jahr- 
hunderts. Es  enthält  nur  Reliefs  an  den  Seitenwänden,  welche  den  späteren  Deckstein 
tragen,  von  denen  besonders  die  in  sehr  eigenthünilicher  allegorischer  Auffassung  ge- 
gebenen Tugenden  merkwürdig  sind.  Ihre  kräftigen  und  gewaltsamen  Bewegungen 
sind  ebenfalls  ein  Beweis  von  dem  Lebensdrange  und  der  dramatischen  Richtung  der 
deutschen  Schule. 

6)  Müller  Beiträge  I,  S.  21. 

38* 


596  Deutsche  Plastik. 

lächelnde  Miene.  Beispiele  dieser  Behandlungsweise  sind  ausser  den  schon 
oben  genannten  Gräbern  des  Grafen  Dedo  in  Wechselburg  und  eines  Ritters 
im  Dome  zu  Merseburg,  das  Grab  des  Grafen  Conrad  genannt  Kurzbold  in 
der  Stiftskirche  zu  Limburg  an  der  Lahn,  wo  die  Falten  bis  zum  Unschönen 
sich  fast  wurmartig  krümmen,  das  sehr  viel  schönere  des  Grafen  Heinrich 
von  Solms  -  Braun fels  (f  nach  1258)  im  Kloster  Altenberg  an  der  Lahn  i)^ 
und  das  des  Grafen  Otto  von  Botenlauben  (f  1244)  und  seiner  Gemahlin 
(f  1250)  in  der  Kirche  von  Frauenrode  bei  Kissingen-). 

Man  hat  in  dieser  Behandlungsweise  schon  den  Anfang  zu  der  im  vier- 
zehnten Jahrhundert  herrschenden  Neigung  zu  gebogenen  und  wellenförmigen 
Linien  finden  wollen^);  allein  beides  beruht  auf  ganz  verschiedenen  Gefühls- 
richtungen. Diese  spätere  Manier  gab  dem  Körper  selbst  eine  wellenförmige 
Haltung,  die  nur  von  ihm  auf  das  Gewand  überging;  sie  behielt  also  den 
Parallelismus  zwischen  Körper  und  Gewand  aus  dem  gothischen  Style  bei 
und  setzte  nur  an  Stelle  der  geraden  die  gebogene  Linie.  Sie  war  eine 
Einwirkung  der  beginnenden  Weichlichkeit  und  Sentimentalität  auf  den  be- 
reits eingebürgerten  gothischen  Styl,  und  trägt  den  Charakter  des  Gesuchten 
und  Affectirten.  Die  eben  beschriebene,  ausschliesslich  deutsche  Weise 
ging  dagegen  anf jenen  Parallelismus  nicht  ein,  hielt  den  Körper  in  gerader 
Lage  und  erlaubte  sich  die  Bewegung  nur  an  dem  Gewände.  Sie  giebt  eher 
den  Ausdruck  eines  frischen ,  jugendlichen  Naturalismus ,  einer  unruhigen, 
noch  nicht  geregelten  Lebendigkeit,  als  einer  alternden  Manier,  und  ist  eine 
merkwürdige  Aeusserung  des  deutschen  Gefühles  im  Gegensatze  gegen  jene 
allgemeine  Gleichmässigkeit  des  französischen  Styles. 


Der  Entwickelungsgang   der  Plastik   in   England*)  ist   einfacher  und 
gleicht  völlig  dem  der  Architektur;   wie    in  dieser  die  leichte  und  elegante 


ij  Beide  bei 'Müller  a.  a.  0.  I,  S.  39  und  II,  S.  27. 

2)  V.  Hefiier,  Trachten  d.  M.  A.  I,  Taf.  59  und  60. 

'')  Schoru  in  dem  angeführten  Aufsatze  der  deutschen  Vierteljahrsschr.  1841, 
Heft  IV,  S.   130. 

*)  Eine  wissenschaftlich  genügende  Arbeit  über  die  Geschichte  der  Sculptur  fehlt 
auch  hier  ,  indessen  ist  die  Literatur  doch  reicher.  Ausser  vielfachen  Abbildungen 
von  Sculpturen  in  der  Archaeologia  hritannica  ,  und  in  den  architektonischen  Werken 
von  Britton  u.  A.  sind  hier  zunächst  John  Carter  Specimens  of  ancient  sculpture 
and  paintings  zu  nennen  ,  welche  zuerst  1780 ,  dann  mit  unverändertem  und  nur 
durch  kurze  Anmerkungen  von  Meyrick ,  Turner ,  Britton  u.  A.  berichtigtem  Texte 
1838  erschienen  sind.  Leider  ist  indessen  die  Auswahl  der  niitgetheiiten  Mo- 
numente ohne  System  und  die  Zeichnung  nicht  charakteristisch.  Aehnliches  gilt  von 
dem  ebenfalls  älteren  Werke  Gough's  über  britische  Grabdenkmäler,  von  denen  da- 
gegen Stüthard,    Monumental  effigies  of  Great  Britain,  1817,    eine  Auswahl    in  vor- 


Englische  Plastik.  597 

gothiscbe  Bauweise  unmittelbar  und  ohne  Uebergang  auf  die  schwere  und 
massenhafte  des  normannischen  Styles  folgte,  giebt  es  auch  in  der  Sculptur 
keine  Mittelstufe;  von  der  äussersten  Plumpheit  und  Rohheit  geht  sie  sofort 
zu  einer  sehr  feinen  und  graziösen  Handhabung  des  neuen  Styles  über. 
Während  der  ganzen  Dauer  des  zwölften  Jahrhunderts  wurde  die  Plastik 
hier  fast  gar  nicht  geübt;  statt  reicheren  Schmuckes  begnügte  man  sich 
meistens  mit  den  einfachen  Symbolen  des  Kreuzes  oder  Lammes ,  wo  man 
sich  an  die  Darstellung  menschlicher  Gestalten  wagte,  sind  sie  unförmlich 
roh  oder  im  trockensten  byzautinisirenden  Style  gearbeitet  i).  Die  Ideen 
der  neuen  Epoche  kamen  eher  hieher  als  die  stylistische  Bildung;  die  reich- 
haltigen Reliefs,  mit  welchen  die  Mönche  von  Malmesbury  den  südlichen 
Thorweg  ihres  Klosters  etwa  am  Ende  des  Jahrhunderts  schmückten-),  geben 
neben  zahlreichen  Hergängen  des  alten  und  neuen  Testamentes  auch  nach 
neuer  Weise  den  Thierkreis  und  die  Mouatsbeschäftigungen ,  aber  die  Aus- 
führung ist  noch  völlig  styllos  und  ohne  Schönheitsgefühl.  Im  dreizehnten 
Jahrhundert  aber,  besonders  gegen  die  Mitte  desselben,  wiederum  unter  der 
Regierung  Heinrich's  III.  (1216 — 1272),  trat  ein  plötzlicher  Umschwung 
ein;  statt  der  früheren  Kargheit  finden  wir  eine  Fülle  von  Sculpturen,  statt 
der  früheren  Rohheit  eine  gewandte  Technik  und  ein  feines  Gefühl  für  An- 
muth  und  Charakteristik.  Es  ist  eine  naheliegende  und  von  den  britischen 
Archäologen  selbst  ziemlich  allgemein  angenommene  Yermuthung,  dass  diese 
plötzliche  Veränderung  durch  den  Einfluss  fremder  Künstler  herbeigeführt 
worden.  Die  englische  Nation  war  schon  zu  reich,  zu  klug,  zu  mercantilisch 
gebildet,  um  nicht  überall  au  die  beste  Quelle  zu  gehen  und,  wo  die  Lei- 
stungen der  Einheimischen  nicht  genügten,  fremde  Hände  zu  benutzen.  Da 
König  Heinrich  einen  florentinischen  Maler,  einen  römischen  Musaicisten, 
einen  deutschen  Goldschmidt  in  seinen  Diensten  hatte,  einen  Münzmeister 


IrefFücher  Zeichnung  publicirt  hat.  Um  die  gerechte  Würdigung  der  englischen 
Sculptur  haben  sich  endlich  einige  Künstler  verdient  gemacht.  Zuerst  der  berühmte 
Flaxman  in  seinen  Lectures  on  sculpture  (gehalten  1810  u.  f.  J.  herausgegeben  1829), 
welchen  auch  einige  Zeichnungen  beigefügt  sind,  dann  der  Bildhauer  Westmacott  in 
einem  1846  gehaltenen  Vortrage  (im  Tüb.  Kunstblatt  1847,  Nro.  3),  endlich  der  be- 
deutende Architekt  Cockerell ,  der  in  einer  Brochure:  Iconographie  of  the  West  front 
of  Wells  Cath.,  Oxford  1851 ,  die  beste  Uebersicht  der  noch  erhaltenen  kirchlichen 
Sculpturen  des  Mittelalters  giebt.  Die  reichhaltige  Literatur  der  metallenen  einge- 
grabenen Grabplatten  werde  ich  später  erwähnen. 

^)  Ein  Beispiel  der  ersten  Art  die  Statue  des  Bischofs  Herbert  am  Portale  des 
nördlichen  Kreuzschiffes  der  Kathedrale  zu  Norwich  (Britton,  Cath.  Antiqu.  pl.  X),  die 
Scul(3turen  am  Südportal  der  Kathedrale  von  Ely,  ein  Kruzifix  und  die  Kapitale  der 
Kirche  zu  Romsey  (Carter  a.  a.  0.  Taf.  7  und  23,  24),  der  anderen  das  Relief  und 
die  Statuen  am  Westportale  der  Kathedrale  zu  Rochester. 

-)  Britton,  Archil.  Antiquities  Vol.  1. 


tgg  Die  Plastik  in  England. 

aus  Braunschweig,  Bergleute  aus  dem  Harz,  für  die  "Westminsterkirche  fremde 
Bauleute  herbeirief,  ist  es  sehr  unwahrscheinlich,  dass  er  gerade  in  der  bis- 
her so  sehr  vernachlässigten  Sculptur  sich  mit  den  Arbeiten  seiner  Landes- 
kinder begnügt  haben  sollte.   Einige  Grabsteine  vom  Ende  seiner  Regierung 
scheinen  von  italienischen  Künstlern  gearbeitet,  schwerlich  werden  aber  diese 
die  ersten  auswärtigen  Bildhauer  in  England  gewesen  sein,  da  man  aus  viel 
grösserer  Nähe,  aus  den  mit  England  noch  so  enge  verbundenen  französi- 
schen Provinzen,   tüchtige  Meister  mit  Leichtigkeit  erlangen  konnte.     Auch 
stimmt  der  Styl  und  zwar  an  den  bedeutendsten  Werken  dieser  Epoche  sehr 
genau  mit  dem  französischen  überein.   Indessen  war  die  "Wirksamkeit  dieser 
Fremden   nicht  von   langer  Dauer,  und  der  englische  Boden  brachte,   als 
jungfräuliche  Erde,   schnell  eine  grosse  Zahl  einheimischer  Talente  hervor, 
welche  sich  die  Kunst  ihrer  Lehrer  zu  eigen  machten,  ihr  aber  auch  eine 
andere ,  national  -  englische  Richtung  gaben.     Sie  stand  mit  der  Auffassung,, 
welche  die  gothische  Architektur  in  England  erhalten  hatte,  im  engsten  Zu- 
sammenhange.    Die  niedrigen  Portale  mit  geöffnetem  Bogenfelde,  an  welche 
man  sich  hier  gewöhnt  hatte,  die  wenig  ausladenden  Strebepfeiler,  die  da- 
durch  bedingte   Bekleidung   der  Fagaden  mit  Blendarcaden   eigneten   sich 
nicht  für  Statuen  oder  grössere  Reliefs;  das   Aeussere  der  Kirchen  erhielt 
daher  nur  in  seltenen  Fällen,   und  zwar  dann  mit  augenscheinlicher  Nach- 
ahmung continentaler  Vorbilder,  bedeutenden  plastischen  Schmuck.  Dagegen 
liebte  die  englische  Sitte  eine  reiche  Ausstattung  des  Innern,   zwar  nicht  an 
den  Kapitalen  und  tragenden  Gliedern,   wohl  aber  an  den  architektonisch 
unwirksamen  Stellen,  und  hier  kam  denn  die  Sculptur  sehr  gelegen,   um  die^ 
Monotonie  bedeutungsloser  Decoration   zu   unterbrechen.      Wir   finden   sie 
daher  besonders  in  den  Bogenzwickeln  derTriforien  und  Arcaden  reichlichst 
und  mit  grossem  Geschmacke  verwendet.     Die  Aufgaben,  mit  welchen  die 
Plastik  hier    beschäftigt  wurde,   waren  also  ganz   andere;    sie  hatte  nicht 
grosse,   gedankenreiche  Bildwerke  auszuführen,   welche  sich  auf  architek- 
tonischer Grundlage  gliederten,   sie  übte  sich  nicht  an  kolossalen  Statuen, 
sondern  meistens  an  Reliefs  und  zwar  von  kleiner  Dimension  und  decora- 
tiver  Bestimmung.     Dies  alles  konnte  nicht  ohne  Einfluss  auf  den  Geist  der 
Kunst  bleiben.     Sie   war  auf  das  Anmuthige  und  Zierliche,   nicht  auf  das 
Strenge  und  Ernste  angewiesen,  und  gab  sich  oft  einer  realistischen  Neigung 
hin,  welche  sich  auf  dem  Continent  erst  später  einstellte.     Hierin  wurde  sie 
noch   durch    einen   anderen   Umstand    bestärkt,      Grabdenkmäler  mit  dem 
plastischen  Bilde  der  Verstorbenen  waren  in  England  früher  äusserst  selten 
gewesen,  im  dreizehnten  Jahrhundert,   besonders  seit  der  Mitte  desselben,, 
ergriff  aber  die  englische  Aristokratie  dies  Mittel  zur  Erhaltung  ihrer  Namen 
und  Wappen  mit  solchem  Eifer,  dass  diese  Aufgabe  die  einheimischen  Bild- 
hauer vorzugsweise  in  Anspruch  nahm.     Auf  dem  Continente   war  hierbei 


Grabsteine.  599 

der  kirchliche  Styl  maasgebend,  so  dass  man  auch  die  Gestalt  des  Verstor- 
benen gern  in  einer  idealen,  mindestens  in  einer  kirchlich-ruhigen  Auffassung 
darstellte.  Hier  dagegen,  wo  die  Grabsteine  fast  die  einzige  Gelegenheit  zur 
Ausführung  lebcnsgrosser  Figuren  darboten ,  machte  sich  die  durch  diese 
Aufgabe  begünstigte,  ohnehin  im  englischen  Charakter  begründete  Neigung 
zu  einer  mehr  realistischen  Behandlung  unbeschränkt  geltend,  und  übte  auf 
die  kleineren  kirchlichen  Sculpturen  eine  Rückwirkung  aus. 

Eine  Uebersicht  über  die  bedeutendsten  Grabsteine  wird  uns  am 
besten  in  die  Geschichte  der  englischen  Sculptur  einführen.  Zu  den  seltenen 
Beispielen  aus  dem  zwölften  Jahrhundert  gehören  die  Gräber  zweier  Bischöfe 
von  Salisbury,  des  Jocelyn  (f  1184)  und  des  Roger  (f  1139)  in  der  dortigen 
Kathedrale;  das  letzte  von  reichen  romanischen  Arabesken  eingerahmt  und 
wahrscheinlich  später  als  das  erste,  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  entstanden. 
Die  Gestalten  sind  auf  beiden  in  flacher  Sculptur ,  ausdruckslos  und  plump 
gehalten,  aber  völlig  frei  von  den  Spuren  des  strengeren  Styles,  welche  sich 
an  den  gleichzeitigen  französischen  Monumenten  zeigen  *).  Das  erste  Denk- 
mal neuen  Styles  ist  das  des  Königs  Johann  in  der  Kathedrale  von  Wor- 
cester,  wahrscheinlich  bald  nach  seinem  Tode  (1216)  gearbeitet,  da  die 
Kleidung  des  Bildes  mit  der  im  Grabe  vorgefundenen  übereinstimmt  und  da 
die  Einweihung  des  Chores  schon  1218  in  Gegenwart  seines  jungen  Sohnes, 
Heinrich's  III.,  stattfand'-).  Es  ist  von  ziemlich  derbem Meissel  ausgeführt, 
aber  nicht  ohne  Stylgefühl ;  die  Züge  des  Gesichtes  sind  fast  rechtwinklig,  Haar 
und  Bart  geradlinig,  die  Gewandfalten  parallel  und  gerade,  tief  eingeschnitten 
mit  breiter  Oberfläche,  die  ganze  Erscheinung  massig,  schwer,  jenes  Be- 
streben nach  Ruhe  und  Würde ,  das  in  der  französischen  Kunst  herrschte, 
fast  übertreibend,  dabei  aber  doch  schon  in  der  Bildung  des  Gesichtes  indi- 
viduell und  portraitartig.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  der  Künstler 
selbst  ein  Franzose  war^).  Verwandten  Styles,  aber  mit  weiterer  Entwicke- 
lung  britischer  Auffassung,  ist  der  Grabstein  des  William  Longespee  (f  1227) 
in  der  Kathedrale  zu  Salisbury.  Der  Körper  ist  mit  dem  (wie  die  noch  er- 
kennbaren Farbenspuren  ergeben  goldenen)  Kettenpanzer   und   mit  kurzem 


^)  Abbildungen  dieser  und  der  meisten  anderen  im  Texte  erwähnten  Grabdenk- 
mäler bei  Stothard  a.  a.  0. 

')  Die  Angabe  in  Winkies  Cathedrals  ,  dass  das  Grab  aus  dem  fünfzehnten  Jahr- 
hu^ndert  stamme,  ist  nur  in  Beziehung  aut  den  unteren  Theil  richtig,  während  der  Stein 
mit  dem  Bilde  älter  ist. 

^)  Das  Denkmal  König  Richards  Löwenherz  in  der  Kathedrale  von  Rouen,  wo  sein 
Herz  bestattet  war,  wahrscheinlich  um  1207  gearbeitet  und  erst  neuerlich  (1838)  wieder 
entdeckt ,  hat  grosse  stylistisciie  Aehnlichkeit  mit  dem  im  Texte  erwähnten  seines- 
Bruders.     Alb.  Way  in  der  Archaeol.   brit.  XXIX,  202,  mit  Abbildung. 


600 


Die  Plastik  in  England. 


Obergewande  bekleidet,  dessen  Falten  wie  dort  tief,  aber  nicht  mehr  gerad- 
linig und  parallel ,  sondern  bewegt  gehalten  sind.  Die  Beine  liegen  gerad- 
linig und  das  Gesicht  ist  durch  den  Panzer  so  weit  bedeckt,  dass  nur  Nase 
und  Augen  zu  sehen  sind,  aber  der  Kopf  ist  zur  Seite  gewendet,  die  Augen  sind 
offen,  die  Arme  in  freier  und  natürlicher  Haltung,  so  dass  das  ganze  Bild  mehr 

den  Eindruck  eines  zur  That  Gerüsteten,  als  eines 
Sterbenden  macht.  Noch  bewegter  ist  die  Gestalt 
eines  Ritters  in  der  Tempelkirche  zu  London,  die 
man  für  die  des  noch  im  zwölften  Jahrhundert 
verstorbenen  Geoffrey  de  Magnavilla,  Grafen  von 
Essex  hält,  die  aber  gewiss  nicht  älter  ist  wie  die 
des  William  Longespee.  Das  Gesicht  sieht  hier 
nach  vorn,  der  Köper  aber  ist  halb,  die  Beine 
sind  ganz  im  Profil  gehalten  und  wie  fort- 
schreitend i).  Diese  Auffassung  wurde  von  nun 
an  die  herrschende  für  ritterliche  Grabmäler,  die 
wir  in  grosser  Zahl  und  durch  ganz  England 
verbreitet  finden.  Stets  die  Bekleidung  mit  Ket- 
tenpanzer und  kurzer  Tunica  ohne  Aermel,  mit 
Schild  und  Schwert ,  der  Panzer  Füsse  und  Hände 
und  einen  Theil  des  Gesichtes  bedeckend ,  aber 
die  Haltung  bewegt.  Fast  immer  findet  sich  dabei 
die  sonderbare,  ausschliesslich  englische  Eigen- 
thümlichkeit,  dass  die  Beine  nicht  parallel  liegen, 
sondern  in  der  Art  gekreuzt  sind,  dass  das  eine 
mit  gebogenem  Knie  über  oder  unter  das  andere  ge- 
rade gehaltene  gelegt  ist.  Man  erklärt  dies  in 
England  allgemein  als  ein  Zeichen,  dass  der  Ver- 
storbene den  Kreuzzug  in  das  gelobte  Land  ge- 
macht habe,  indessen  unterliegt  diese,  so  viel 
ich  weiss,  von  keinem  ausdrücklichen  Zeugnisse 
unterstützte  Meinung  doch  sehr  gegründeten  Zwei- 
feln. Es  ist  nicht  abzusehen,  wesshalb  man 
statt  dieser  sehr  unvollkommenen  Andeutung  des  Kreuzes^)  nicht  lieber  ein- 
fach  das  Kreuz  auf  das  Gewand  gesetzt  hätte.     Dazu  kommt,  dass  diese 


Herzog    Robert    von    der    Nor 

mandie.     Kathedrale    zu    Glon 

cester. 


1)  Stothard  a.  a.  0.  Taf.  11,  vgl.  mit  Taf.  17. 

-)  Nur  einmal,  und  zwar  auf  einem  Grabsteine  der  erst  aus  dem  vierzehnten  Jalu-- 
hundert  stammt  (Stothard,  Taf.  54),  sind  beide  Knie  gebogen,  so  dass  ein  wirkliches 
Kreuz ,  aber  nur  ein  Andreaskreuz  ,  entsteht.  Gewöhnlich  ist  die  Kreuzung  viel  un- 
deutlicher. 


Grabsteine.  ßOl 

Gestalten  zwar  zuweilen  gefaltete  Hände,  meistens  aber  eine  trotzige  Haltung, 
die  Rechte  am  Schwertgriffe  haben,  was  sich  mit  der  vermeintlichen  Erinne- 
rung an  jene  Handlung  der  Frömmigkeit  kaum  vereinigen  lässt  ^).  Bei  den 
Mitgliedern  der  königlichen  Familie,  welche  an  Kreuzzügen  Theil  genommen 
hatten,  selbst  bei  dem  Ideal  ritterlicher  Tapferkeit  im  gelobten  Lande,  bei 
Richard  Löwenherz  findet  sich  dieses  Merkmal  nicht,  während  es  anderer- 
seits noch  in  der  zweiten  Hälfte  des  vierzehnten  Jahrhunderts  ^),  also  in  einer 
Zeit  vorkommt,  wo  Kreuzfahrten  nicht  mehr  so  häufig  waren.  Vielleicht 
sollte  daher  diese  ungewöhnliche  Haltung,  welche  bei  aufrechter  Stellung 
der  Platte  oft  wie  die  eines  Tanzenden  erscheint,  nur  den  Ausdruck  ritter- 
licher Rüstigkeit  geben,  so  dass  sie  nur  eine  Steigerung  der  fortschreitenden 
und  dennoch  gewiss  kein  Kreuz  bildenden  Bewegung  auf  dem  schon  erwähn- 
ten Denkmale  des  Geofi'rey  de  Magnavilla  war.  Solche  ritterliche  Grab- 
steine finden  sich  fast  in  allen  Kathedralen  und  in  vielen  kleineren  Kirchen ; 
die  Kirche  der  Templer  in  London  bewahrt  eine  ganze  Reihe.  Einige  sind 
durch  sorgfältige  Ausführung  oder  feineres  künstlerisches  Gefühl  ausge- 
zeichnet, so  die  Gestalt  des  Robert  de  Vere  Grafen  von  Oxford  in  der  Kirche 
von  Hatfield,  an  der  sogar  die  Falten  des  weiten  Panzerhemdes  sehr  richtig 
ausgedrückt  sind,  die  eines  Ritters  de  Vaux  in  der  Kathedrale  von  "Win- 
chester, die  des  Robert  Ros  in  der  Templerkirche  und  besonders  die  eines 
Montfort  in  der  Kirche  zu  Hitchendon  ^).  Die  meisten  sind  aber  ziemlich 
derb  behandelt,  was  zum  Theil  damit  zusammenhängt,  dass  sie  alle  vollstän- 
dige Färbung  erhielten.  Sie  sind  meistens  ohne  Inschrift  und  geben  nur 
durch  die  Wappen  Auskunft  über  die  Familie  des  Verstorbenen. 

Die  reichste  und  bedeutendste  Sammlung  mittelalterlicher  Gräber  ist 
im  Chore  der  Westminsterkirche,  die  in  England  ungefähr  dieselbe  Stellung 
einnimmt,  wie  St.  Denis  in  Frankreich.  Unter  denen,  die  noch  in  dieses 
Jahrhundert  gehören,  zeichnen  sich  vor  allen  die  König  Heiurich's  HI. 
(t  1272)  und  der  Königin  Eleonore  (f  1290),  Gemahlin  Eduard's  L,  durch 
eine  überraschende  Schönheit  aus*,  beide  Gestalten  in  Erz  gegossen  und  von 
meisterhafter  Technik.  Der  König  liegt  in  ruhiger  Haltung,  die  Krone  auf 
dem  Hanpte,  das  Gesicht  in  ernsten  und  edlen  Zügen,  mit  einer  einfachen 
Würde,  die  an  antike  Auffassung  erinnert,  Haar  und  Bart  ziemlich  sjmme- 
trisch  geordnet,  aber  doch  frei  und  natürlich,  der  Körper  mit  langer  Tunica 


1)  Auf  einem  Grabsteine  in  Durliam  (Stothard,  Taf.  24)  erscheint  der  Ritter  sogar 
mit  geschlossenem  Visir,  gezogenem  Schwerte  und  vorgeiialteuem  Schilde ,  also  ganz 
kampffertig. 

")  Viele  Beispiele  bei  Stothard,  u.  a.  Taf.  24,  in  Alvechurch  ,  Worcestershire  bei 
reichster  Tracht  des  vierzehnten  Jahrhunderts. 

3)  Stothard   a.  a.  0.  Taf.  38,  39. 


602 


Die  Plastik  in  England. 


und  einem,  anf  der  rechten  Schulter  durch  eine  Agraffe  gehaltenen  Mantel 
bekleidet,  beide  Arme  etwas  gehoben,  wahrscheinlich  um  Scepter  und  Reichs- 
apfel, die  jetzt  fehlen,  zu  halten;  die  Königin,  von  schlanker  Gestalt  und 
mit  verhältnissmässig  kleinem  Kopfe,  aber  mit  regelmässigen  Zügen  von  ge- 
bieterischer Schönheit,  ebenfalls  mit  langen  Gewändern  bekleidet,  fasst  mit 
der  Linken  das  Band  ihres  Mantels,  während  die  Rechte  wahrscheinlich 
ebenfalls  bestimmt  war,  ein  Scepter  zu  tragen.  Die  vollendete  Modellirung, 
die  feine  Ausführung  besonders  der  Hände ,  die  edle  Haltung  des  Körpers, 
der  schöne  Rhythmus  in  der  Gewandbehandlung  ist  an  beiden  Gestalten  in 
gleichem  Grade,  an  der  der  Königin  vielleicht  in  noch  höherem,  zu  bewun- 
dern, und  die  Uebereinstimmung  des  Styles,  die  gleiche  Bildung  der  Krone 
und  manche  anderen  Details  lassen  keinen  Zweifel,  dass  sie  von  derselben 
Hand  herrühren.  Sie  unterscheiden  sich  aber  so  sehr  von  den  andern 
gleichzeitigen  Arbeiten,  und  nähern  sich  so  sehr  dem  Style  italienischer 
Plastik  am  Ende  des  Jahrhunderts,  wie  er  sich  etwa  bei  Nino  Pisano  zeigt, 
dass  die  zuerst  von  Flaxman  ausgesprochene  Vermuthung,  dass  der  Künstler 
ein  Italiener  gewesen,  höchst  begründet  erscheint.  Neuere  Forschungen^) 
haben  auch  den  Namen  dieses  Künstlers  als  Meister  Wilhelm  Torell, 
Goldschmied ,  ermittelt ,  der  mit  dieser  Vermuthung  wenigstens  nicht  im 
Widerspruche  steht,  wenn  er  sie  auch  nicht  ausdrücklich  bestätiget.  Von 
nicht  viel  geringerer  Schönheit  sind  unter  den  Monumenten  der  West- 
minsterkirche  die  des  Edmund  Crouchback,  Grafen  von  Lancaster  und 
zweiten  Sohnes  Heinrich's  HI,  (7  1296),  und  seiner  Gemahlin  Aveline 
(7  1269);  beide  wahrscheinlich  erst  am  Ende  des  Jahrhunderts  entstanden, 
da  die  Gewandbehandlung  an  der  Gestalt  der  Gräfin  schon  an  die  langen, 
weichen  und  gebogenen  Linien  des  vierzehnten  Jahrhunderts  erinnert.  Sie 
scheinen  von  Einheimischen  gearbeitet,  lassen  aber  doch  den  Einfluss  jenes 
fremden  Künstlers,  dessen  Werke  sie  vor  Augen  hatten,  erkennen  2).  Endlich 
will  ich  noch  das  Denkmal  des  William  von  Valence,  eines  Halbbruders 
Heinrich's  HL,  erwähnen,  der  ebenfalls  1296  starb,  weil  es  mit  reich 
eniaillirten  und  vergoldeten  Kupferplatten   bedeckt  ist,  die  aber,  wie  man 


^)  Von  H.Turner,  Manners  and  household  expences,  p.  108,  113,  und  Jos.  Hunter 
in  Archaeologia  ßrit.  XXIX ,  p.  189.  In  einer  Urkunde  vom  December  1290  wird 
Torell  als  der  Verfertiger  des  Bildes  Heinrich's  III.  bezeichnet,  im  Jahre  1291  erliiilt 
er  bereits  eine  Zahlung-  für  das  Bild  der  Königin.  —  Dass  er  ein  Italiener  war,  wird 
bestritten  von  Digby  Wyatt,  metal  works,  p.  33,  hauptsächlich  aus  dem  Grunde,  da^s 
dieser  Name  auch  .sonst  in  englisciien  Urkunden  des  früheren  13.  Jahrhunderts  vor- 
kommt. 

^)  Auch  die  Gestalt  des  Edmund  Crouchback  hat  eine  wiewohl  schwache  An- 
deutung des  Kreuzes,  obgleich  er  nicht  im  gelobten  Lande  gewesen  war,  sondern  von 
der  wirkliihen  Ausfuhrung  des  bereits  abgelegten  Gelübdes  Dispens  erhalten  hatte. 


Kirchliche  Scuiptureii.  gQ3 

aus  stylistischen  Merkmalen  schliesst  und  von  ähnlichen  gleichzeitigen  Ar- 
beiten weisS;,  nicht  in  England  gearbeitet,  sondern  in  Liraoges  bestellt  sein 
werden  ^). 

Ungeachtet  dieser  Verwendung  fremder  Kunst  fehlte  es  aber  in  Eng- 
land um  diese  Zeit  nicht  mehr  an  einheimischen  Künstlern.  Eduard  I. 
ehrte  das  Andenken  seiner  zärtlich  geliebten  Gemahlin  auch  dadurch,  dass 
er  an  den  zwölf  Ruhepunkten  des  Trauerzuges ,  der  ihre  Leiche  von  Nort- 
hampton  nach  London  braclite,  Monumente,  sogenannte  Kreuze,  achteckige,  in 
mehreren  Absätzen  aufsteigende  gothische,  mit  Statuen,  namentlich  mit  der 
der  Königin,  verzierte  Spitzsäulen  errichten  liess,  von  denen  noch  drei  erhalten 
sind-).  Die  Figuren  an  denselben  sind  sehr  anmuthig,  von  zartem  Ausdrucke 
und  weichem  Schwünge  der  Linien;  sie  haben  Verwandtschaft  mit  dem  Grab- 
bilde der  Königin  in  der  Westminsterkirche ,  aber  sie  unterscheiden  sich 
doch  von  ihm,  so  dass  sie  wahrscheinlich  von  einheimischen  Scluilern  jenes 
italienischen  Meisters  lierrühren ,  was  dann  auch  die  aus  den  Urkunden 
ermittelten  Namen  der  dabei  beschäftigten  Bildhauer  bestätigen  3). 

Auch  die  kirchlichen  Sculpturen  deuten ,  wenn  überhaupt  auf  fremden, 
doch  nur  anf  französischen  Einfluss,  Unter  ihnen  nehmen  unstreitig  die 
an  der  Kathedrale  von  Wells  den  ersten  Rang  ein.  Hier  ist  einmal  wirk- 
lich eine  Fayade,  welche  in  kräftiger  architektouisclier  Haltung  und  in 
plastischem  Schmucke  mit  den  französischen  wetteifert.  Zwar  fehlt  ihr  die 
dreifache  Portalhalle  und  somit  die  günstigste  Grundlage  für  die  Gliederung 
eines  grossen  plastischen  Gedichtes;  ihr  einziges  Portal  übersteigt  nur  um 
ein  Weniges  die  gewöhnlichen  englischen  Dimensionen.  Aber  es  ist  doch 
durch  die  Anordnung  dafür  gesorgt,  dass  in  horizontalen  Reihen,  die  sich 
über  die  ganze  Breite  des  Vorbaues  und  über  die  Seitenwände  der  Thüren 
erstrecken,  und  an  den  kräftigen  Strebepfeilern,  welche  die  Fagade  theilen 
etwa  600  Figuren  als  Statuen  oder  in  Reliefs  Raum  finden*).     Auch  enthält 


*)  Labarte,  Histoire  des  arts  industriels,  III,  S.  702. 

'^)  Abbildungen  derselben  in  Vol.  III  der  Vetusta  monumenta.  Vgl.  auch  Britton, 
Archit.  Antiq.  in  dem  Artikel:  Stone  crosses,  Vol.  I,  pag.  60  ^.  Die  drei  erhaltenen 
Kreuze  stehen  in  Northampton,  Geddington  und  Walthani.  Aus  dem  letzten  giebt 
Flaxmau  a.  a.  0.  Taf.  5  die  Gestalt  der  Königin. 

^)  Hunter  in  der  Arch.  ßrit.  XXIX  a.  a.  0.  Die  Statuen  wurden  von  Wilhelm 
von  Irland  und  von  Alexander  le  Imaginator  ,  der  aber  auch  von  Abyngton  genannt 
wird,  die  kleineren  Biidhauerarbeiten  von  Ralph  von  Chichester  und  Robert  de  Corf 
geliefert.  Von  den  Bauleuten,  mit  denen  contrahirt  wurde,  scheint  der  eine,  Nicholas 
Dymenge  de  Legert  oder  de  Reyns,  ein  Franzose  aus  der  Gegend  von  Rheims  gewesen 
zu  sein. 

*)  Abbildungen  der  Statuen,  freilich  nicht  sehr  charakteristische,  bei  Carter  a.  a.  0. 
Taf.  86  —  91.  —  Zeichiiiiiigen    einiger    Reliefs    bei    Flaxman    a.    a.  0.    Taf.    2  —  4, 


jßQ4.  Die  Plastik  in  England. 

das  Ganze  einen  klar  ausgesprochenen,  wenn  auch  etwas  abstracten  Gedanken. 
Zunächst  unten  über  dem  Fussgesims  in  den  Portalgewänden  und  von  da  zu 
beiden  Seiten  in  Nischen  Statuen  von  Propheten  und  Patriarchen,  darüber  im 
Bogenfelde  des  Portals  die  Jungfrau  mit  dem  Kinde  zwischen  Engeln ,  die 
im  Maasswerke  jener  Nischen  angebracht  sind;  dann  in  einer  höheren 
Reihe  in  Reliefs  die  Vorgänge  des  alten  und  neuen  Testaments,  und  darüber 
an  den  Strebepfeilern  und  Wänden  eine  grosse  Zahl  acht  Fuss  hoher  Sta- 
tuen, auf  der  Nordseite  meist  Könige,  Ritter,  Frauen  (vielleicht  alttesta- 
mentarischer Bedeutung),  auf  der  Südseite  durchweg  Bischöfe  und  andere 
Geistliche;  endlich  unter  der  horizontalen  Linie,  welche  die  Fa^ade  ab- 
schliesst,  Auferstehung  und  Gericht  in  einzelnen  Gruppen,  und  darüber  am 
Giebel  der  Weltrichter  zwischen  Maria  und  Johannes  nebst  Aposteln  und 
posaunenblasenden  Engeln.  Das  Ganze  giebt  also  den  chronologischen  Ver- 
lauf der  Heilslehre;  die  Vorzeit,  die  Menschwerdung  des  Heilandes,  sein  den 
alttestamentarischen  Vorbildern  entsprechendes  Leben,  dann  die  irdische 
Kirche ,  und  endlich  das  Gericht.  Die  Ausführung  ist  zwar  noch  sehr 
strenge,  aber  doch  in  den  Reliefs  lebendig  und  ausdrucksvoll,  an  den  Statuen 
würdig  und  mit  freier  und  voller  Gewandung.  Gewöhnlich  schreibt  man 
die  Herstellung  auch  dieser  Bildwerke  dem  Bischof  Jocelyn  Trotman  zu, 
der  den  Stuhl  von  Wells  von  1206  bis  1242  inne  hatte  und  von  dem  wir 
wissen,  dass  er  einen  Neubau  begann,  der  im  Jahre  1239  zu  einer  Weihe 
führte.  Er  hatte,  von  König  Johann  verbannt,  die  Jahre  von  1208  bis  1214 
in  Frankreich  zugebracht,  und  mit  diesem  Aufenthalte  mag  die  Hinneigung 
zum  französischen  Style ,  die  aus  der  Anordnung  der  Fayade  hervorgeht, 
zusammenhängen.  Indessen  wissen  wir  auch,  dass  der  Bau  der  Kirche 
keinesweges  unter  seiner  Regierung  beendet,  sondern  noch  lange  fort- 
gesetzt wurde,  und  es  ist  wahrscheinlich,  dass  der  grossartige  Fa^adenbau 
nach  jener  bei  Vollendung  des  Chores  vorgenommenen  Weihe  von  1239  be- 
gonnen, erst  etwa  ein  Decennium  später,  jedoch  nach  dem  Plane  Jocelyn's, 
unter  einem  seiner  Nachfolger  seine  plastische  Ausschmückung  erhalten 
haben  wird. 

Ein  minder  umfangreiches  und  grandioses  aber  anziehenderes  Werk 
englischer  Plastik  ist  der  Engelchor  in  der  Kathedrale  von  Lincoln, 
Der  Chor  hat  nämlich  über  jeder  Arcade  zwei  zweitheilige  Triforienbögen, 
so  dass  zwischen  den  Diensten  jedes  Gewölbes  unter  dem  Fenstergesimse 
drei  Bogenwinkel  als  sphärische  Dreiecke  entstehen,  das  in  der  Mitte  zwischen 
den  zwei  Bögen  gelegene  doppelt  so  gross  wie  die  auf  beiden  Seiten  neben 
den  Gewölb  diensten.     Diese  drei  Felder  sind  zu  beiden  Seiten  des  Chores 


Vgl.  übrigens  Cockerell  a.  a.  0.  und  Cinuiall  Dowues,  Pbotographs  from  the  Sculptures 
in  the  West  Front  of  Wells  Caihedral,  mit  Text,  London  1862. 


Katliedralen  von  Wells  und  Lincoln.  605 

an  fünf  Arcaden  mit  Reliefs  geschmückt,  so  dass  zusammen  dreissig  Reliefs 
entstehen,  >Yelche  meistens  je  einen  Engel  enthalten,  und  zwar  im  anmuthigsten 
und  edelsten  Style  des  dreizehnten  Jahrhunderts.  Einzelne  bedeutungsvolle 
Gestalten  zeigen  deutlich,  dass  das  Ganze  nicht  etwa  bloss  die  Hierarchie 
der  Engel  oder  die  Freudigkeit  der  himmlischen  Heerschaaren  versinnlichen 
soll ,  sondern  eine  tiefere,  nicht  leicht  zu  errathende  Bedeutung  hat.  Wie 
es  scheint  wollte  der  Künstler  den  ganzen  Hergang  der  göttlichen  Heils- 
ordnung durch  die  Mitwirkung  der  Engel  darstellen.  Er  beginnt  dabei  am 
Ostende  der  südlichen  Wand  und  giebt  hier  in  dem  grösseren  Mittelfelde 
des  ersten  Joches  eine  bekleidete  und  bärtige  Gestalt  mit  der  Krone  auf 
dem  Haupte ,  geflügelt ,  die  Füsse  auf  Wolken ,  in  der  Linken  eine  Leier. 
Man  hat  sie  für  David  gehalten  und  daraus  den  Schluss  gezogen ,  dass  die 
Reihenfolge  der  Patriarchen  und  Propheten  durch  Engel  repräsentirt  sei^). 
Ich  glaube,  dass  der  Gedanke  ein  viel  kühnerer  war  und  diese  Gestalt  nichts 
Geringeres  als  Gott  den  Vater  im  Augenblicke  der  Schöpfung  darstellt,  der 
alles,  wie  das  Buch  der  Weisheit  sagt,  „mensura,  numero  et  pondere"  maass- 
voll, nacli  dem  Takte  himmlischer  Melodien  bildet.  Ihm  zur  Seite  und  in 
den  beiden  nächsten  Jochen  erscheinen  die  Engel,  die  ebenfalls  auf  Wolken 
ruhen  und  theils  mit  Schriftrollen,  theils  mit  Pauken  und  Posaunen  ver- 
sehen sind;  das  Schöpfungswerk  wird  also  noch  fortgesetzt  und  die  Engel 
führen  die  Befehle  des  Herrn  aus  oder  feiern  die  Schönheit  seiner  Werke. 
In  der  darauf  folgenden  vierten  Abtheilung  sehen  wir  in  der  Mitte  einen 
kräftigen,  jugendlichen  Engel,  der  einen  noch  gefesselten  Falken  hält,  neben 
ihm  andere  Engel  mit  Schriftrollen,  unter  ihren  Füssen  aber  nicht  mehr 
Wolken,  sondern  Menschen  oder  Ungeheuer  mit  Menschenköpfen;  die  Zeit 
des  Gesetzes  und  der  Sünde  sind  hier  eingetreten  und  die  Engel  haben  die 
Aufgabe,  den  begehrlichen  Willen  zu  zügeln  und  die  Sünde  zu  überwinden. 
Im  folgenden  fünften  Felde  hält  ein  begeisterter  Engel  ein  Buch,  ein  zweiter 
reicht  mit  beiden  Händen  eine  Kindergestalt  dar  und  zwar  der  im  letzten 
Felde  dargestellten,  von  einem  das  Rauchfass  schwingenden  Engel  be- 
gleiteten Jungfrau  mit  dem  Christkinde;  das  von  Ewigkeit  her  im  Buche 
göttlicher  Rathschlüsse  verordnete  Heil,  die  Erlösung  der  durch  jene  Kinder- 
gestalt repräsentirten  menschlichen  Seele  ist  wirklich  erschienen.  So  weit 
die  südliche  Wand,  welche  also  den  alten  Bund  bis  zur  Geburt  Christi  ent- 
hält.    Die  Nordseite,  von  Westen  beginnend,   scheint  zwar  nochmals  in  die 


^)  So  Cockereir  in  seinem  geistreichen,  in  den  Memoirs  illustrative  of  the  bist. 
and  antiquities  of  the  couuty  and  clty  of  Lincoln,  London  1850,  und  in  besonderem 
Abdrucke  erschienenen  ,  von  vortrefflichen  Abbildungen  begleiteten  Aufsatze.  Die  Er- 
klärung, welche  ich  zu  geben  versuche,  scheint  mir,  obwohl  zweifelhaft,  doch  einfacher 
und  wahrscheinlicher. 


^06  '^'^  Plastik  in  England. 

Urgescliichte  der  Menschheit  zurückzuführen;  der  mittlere  Engel,  zornig 
blickend,  das  Schwert  in  der  Rechten,  verstösst  mit  der  Linken  die  ersten 
Menschen  aus  dem  Paradiese.  Allein  neben  ihm  werden  von  anderen  Engels- 
gestalten die  Dornenkrone,  die  Lanze  und  der  Schwamm  emporgehalten ,  so 
dass  das  Ganze  nur  das  durch  den  Sündenfall  verursaclite  Leiden  des  Heilandes 
darstellt.  Dieser  erscheint  denn  auch  in  der  nächsten  Abtheilung  und 
zwar  als  Weltrichter,  die  Rechte  erhoben,  mit  der  Linken  die  Wundenmale 
zeigend,  neben  ihm  ein  Engel  mit  der  Waagschale,  dann  aber  einer  mit  ge- 
schwungenem Rauchfasse.  Die  Verdammniss  wird  nicht  weiter  geschildert, 
die  Heilsgeschichte  nur  in  Beziehung  auf  die  Engel  verfolgt,  welche  bei  dem 
Gerichte  nur  die  Erwählten  zu  belohnen  und  den  Herrn  zu  preisen  haben. 
Kronen  und  Palmen,  Schriftrollen  sowohl  als  Notenblätter  und  musikalische 
Instrumente  wechseln  daher  in  den  Händen  der  folgenden  Engel,  einer  der 
letzten  aber  hält  Sonne  und  Mond  empor,  die  nicht  mehr  untergehen,  sondern 
dem  himmlischen  Jerusalem  ewig  leuchten.  Mich  dünkt,  dass  diese  religiöse 
Phantasie  vollkommen  der  herrlichen  Ausführung  würdig  ist.  —  Der  Chor 
selbst  wurde  um  1282  gebaut,  die  plastische  Arbeit  kann  daher  nicht  wohl 
eher  als  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  entstanden  sein;  auch  ist  sie  in  Mo- 
tiven und  Formen  viel  weicher  und  zarter  als  an  der  Kathedrale  von  Wells, 
aber  noch  völlig  in  dem  naiven  und  reinen  Style  dieses  Jahrhunderts. 

Ungefähr  gleichzeitig  mögen  die  sechzig  Reliefs  mit  alttestamentarischen 
Gegenständen  sein,  mit  welchem  in  dem  Kapitelhause  zu  Salisbury  die 
Zwickel  der  umherlaufenden  Arcaden  ausgefüllt  sind.  Sie  sind  sehr  be- 
schädigt, aber  doch  grossen  Theils  noch  kenntlich,  und  zeigen  einen  feinen 
Sinn  für  Raumvertheilung  und  edle  und  einfache  Formen.  Dagegen  sind 
die  reizenden,  aber  fast  schon  allzu  zierlichen  Gestalten  von  vierzehn  Tu- 
genden in  den  Archivolten  der  Vorhalle  desselben  Kapitelhauses  erst  dem 
vierzehten  Jahrhundert  zuzuschreiben. 

Auch  die  schönen ,  aber  freilich  sehr  beschädigten  Statuen  an  der 
Westseite  von  Lichfield^),  die  Reliefs  an  dem  südlichen  Seitenportale  der 
Kathedrale  von  Lincoln  und  die  weniger  gelungenen  Figuren  an  den 
Fa^aden  der  Abteikirche  zu  Croyland-)  und  der  Kathedrale  zu  Peter- 
borough  stammen  vielleicht  noch  aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert,  während 
die  meisten  anderen  grösseren  Sculpturwerke  erst  dem  folgenden  angehören. 
Sehr  viel  reicher  als  an  solchen  grösseren  Werken  ist  die  englische 
Schule  an  decorativen  Sculpturen,  namentlich  an  vereinzelten  Köpfen, 
welche  bald  an  den  Consolen  der  Gewölbträger  oder  in  den  Zwickeln  der 


1)  Carter  a.  a.  0.  Taf.  93. 

-)  Cockerell,  Iconographie  of  tlie  West  front  of  Wells  Caih.    p.    lOö,    und  Ciji-ier 
a.  a.  0.  Taf.  39,  40. 


Decorative  Sculptur.  QQ'J 

Triforien,  bald  in  kleineren  Dimensionen  unter  Laubwerk  an  den  unteren 
Arcaden  augebraclit  sind.  Sie  sind,  obgleich  reihenweise  und  in  grosser 
Zahl  vorkommend,  stets  alle  verschieden  und  mit  sorgfältig  berechneter 
Abwechselung  zusammengestellt,  scheinen  aber  keinen  ernsten  Gedanken- 
inhalt zu  haben,  sondern  der  Laune  und  dem  Geschmacke  der  Künstler 
tiberlassen  gewesen  zu  sein.  Der  normannische  Styl  liebte  auch  bei  solchen 
Veranlassungen  schauerliche,  schreckende  Gestalten;  hier  dagegen  erhalten 
wir  nur  den  Eindruck  eines  heiteren,  aber  sinnreichen  und  anregenden 
Schmuckes.  Zuweilen  sieht  man  darunter  die  Gestalten  von  Bischöfen, 
Heiligen,  Engeln,  dann  aber  auch  wieder  abenteuerlich  verhüllte  Köpfe 
lächelnde  oder  verzerrte  Gesichter,  und  manchmal,  wie  es  scheint,  Studien 
des  Leidenschaftlichen  und  des  Charakteristischen.  Die  Gabe  scharfer 
Beobachtung  des  Lebens,  die  sich  später  auf  anderen  Gebieten  der  eng- 
lischen Kunst  so  glänzend  bewährt  hat,  regt  sich  schon  hier.  Zugleich  aber 
sind  diese  Köpfchen  meisterhaft  gearbeitet,  mit  vollem  Verständniss  der 
Form  und  mit  kluger  Berechnung  der  Wirkung  für  die  Entfernung  des  Be- 
schauers, mit  feinem  Stylgefühl  in  der  Benutzung  des  Raumes.  Oft  sind 
sie  von  idealer  Schönheit,  fast  immer  anmuthig  und  anziehend.  Einige 
Male  findet  man  in  verschiedenen  Gebäuden  Wiederholungen  einzelner 
Köpfe  oder  der  Motive  der  Anordnung,  so  dass  ein  Zusammenhang  und  eine 
Mittheilung  von  Zeichnungen  oder  Modellen  stattgefunden  haben  muss,  aber 
dennoch  ist  die  Mannigfaltigkeit  der  Empfindungen  und  die  Frische  der 
Auffassung  so  gross,  dass  man  über  die  Fülle  von  Geist,  Talent  und  Gefühl 
erstaunen  muss,  die  an  diese  meist  übersehenen  Arbeiten  verschwendet  ist. 
Fast  keiner  Kirche  des  frühenglischen  Styles  fehlen  Sculpturen  dieser  Art, 
eine  Aufzählung  würde  daher  zweckwidrig  sein,  ich  nenne  nur  aus  der 
Erinnerung  beispielsweise  die  schönen  Kragsteine  der  Kathedralen  von 
Wells  und  Worcester  und  die  kleineren  Köpfchen  in  den  Arcaden  des 
Münsters  von  Beverley  und  der  Kapitelhäuser  von  Lichfield  und  Salisbury 
Steht  daher  die  englische  Schule  der  französischen  und  der  deutschen  in  der 
Ausbildung  des  kirchlichen  und  idealen  Styles  nach,  so  zeigt  sie  in  diesen 
kleineren  Arbeiten  gleiche  Geistesfrische  und  Productionskraft  und  dasselbe 
richtige  Stylgefühl  wie  jene. 

Man  darf  übrigens  diese  Richtung  der  englischen  Plastik  nicht  gerade 
als  eine  Wirkung  der  eigenthümlichen  Aulfassung  der  gothischen  Architektur 
ansehen,  vielmehr  sind  beide  die  Wirkung  einer  und  derselben  tieferen 
Ursache.  Der  Geist  der  continentaleu  Völker  betrachtete  diese  Künste  als 
innig  zusammenhängend  und  verschmolzen,  gab  der  Architektur  eine  pla- 
stische Fülle,  der  Plastik  einen  architektonischen  Zweck;  der  vorherrschend 
verständige  Geist  des  britischen  Volkes  konnte  sie  nur  als  gesonderte  auf- 
fassen.    Er  gab   daher   der   Architektur  nüchterne  Formen,   die   mit  der 


6^3  Metallarbeit. 

Plastik  nichts  gemein  hatten,  und  behandelte  diese  als  eine  selbständige 
decorative  Kunst,  welche,  da  sie  den  idealen  Zwecken  der  Baukunst  fern 
stand,  sofort  in  unmittelbarere  Beziehung  zur  Wirklichkeit  trat.  Die  eng- 
lische Plastik  geht  daher  nicht  so  wie  die  des  Continents  aus  dem  tiefsten 
Grunde  des  religiösen  Bewusstseins  hervor,  erschöpft  das  "Wesen  des  Mittel- 
alters nicht  so  wie  diese,  sondern  nähert  sich  mehr  dem  Standpunkte  der 
modernen  Welt.  Aber  die  Jugendfrische  und  Naivetät  des  Zeitgeistes,  das 
Resultat  jener  idealen  Stimmung,  kam  auch  ihr  zu  statten  und  giebt  ihr  in 
Verbindung  mit  jenem  naturalistischen  Anfluge  einen  eigenthümlichen  Reiz, 


Der  Styl  der  Steinsculptur ,  als  der  höheren  Gattung,  war  stets  auch 
für  die  plastischen  Arbeiten  in  anderen  Stoffen  maassgebend,  so  dass  es 
einer  besonderen  Schilderung  derselben  hier  nicht  bedarf.  Die  Elfenbein- 
Plastik  spielt  in  dieser  Epoche  keine  so  bedeutende  Rolle  wie  in  der  vor- 
hergehenden und  in  der  folgenden,  aber  sie  bringt  mitunter  so  köstliche 
Werke  hervor  wie  die  fast  einen  Fuss  hohe  Gruppe  der  Krönung  der 
Maria,  welche,  im  Jahre  1861  aus  der  Sammlung  Soltykoff  in  das 
Museum  des  Louvre  übergegangen,  von  höchster  Zartheit  und  Anmuth,  zu- 
gleich ein  Muster  geschmackvoller  Polychroraie  ist,  und  besonders  in  den 
Händen  Christi  von  seltenen  Naturstudien  zeugt  ^).  Dagegen  verlangen  die 
Metallarbeiten,  namentlich  der  Erzguss  und  die  Werke  der  Gold- 
schmiede, eine  selbständige  Betrachtung,  weil  sich  bei  ihnen  durch 
den  Wertli  des  Stoffes  und  den  darauf  verwendeten  Fleiss  manche 
Eigenthümlichkeiten  ausbildeten,  welche  ein  helleres  Licht  auf  einzelne 
Stellen  des  gesammteu  Kunstgebietes  werfen,  besonders  aber  auch,  weil  bei 
der  Goldschmiedekunst  durch  die  Verbindung  der  Gravirung  und  der  Email- 
malerei mit  den  Reliefs  Einflüsse  des  malerischen  und  des  plastischen  Styles 
zusammentrafen. 

In  Deutschland  war  der  Aufschwung,  welchen  diese  Kunstzweige  in 
der  vorigen  Epoche  genommen,  auch  noch  in  der  zweiten  Hälfte  des  12. 
und  im  13.  Jahrhundert  lebendig.  Dass  die  dortige  Production  damals  an 
der  Spitze  der  künstlerischen  Bewegung  stand  ^),  wird  nicht  bloss  durch  die 
Aufzeichnungen  des  Theophilus  bewiesen,  der  die  Goldschmiedekunst  und 
Verwandtes  besonders  ausführlich  behandelt  und  bezüglich  solcher  Arbeiten 


^)  Abgebildet  bei  Labarte,  Album,  I,  PI.  XVI,  sowie  in  den  Annales  arfln'ol. 
Bd.  XXI  zu  S.  345.     Vgl.  Darcel,  Gazette  des  beaux-arts,  Mai  1861,  p.  175. 

-)  Eigener  Ausdruck  von  Labarte;  vgl.  dessen  Histoire  des  arts  industriels,  Bd.  II, 
von  S.  219  an. 


Deutschland.  609 

die  „solers  Germania"  ausdrücklich  hervorhebt ,  sondern  geht  auch  aus  den 
gerade  hier  in  reichem  Masse  erhaltenen  Kunstwerken  hervor.  Der  Ruhm 
der  deutschen  Arbeiter  dieses  Faches  war  so  verbreitet,  dass  ihre  Thätig- 
keit  vielfach  von  fremden  Ländern  aus  in  Anspruch  genommen  ward.  Einen 
merkwürdigen  Beweis  dafür  gewährt  der  Umstand,  dass  wir  noch  jetzt  in 
slavischen  Ländern  zwei  grosse  in  Erz  gegossene  Thüren  finden,  welche  in 
Deutschland  gefertigt  und  im  Wege  des  Handels  dorthin  gekommen  zu  sein 
scheinen.  Die  eine  derselben  ist  die  sogenannte  Korssun'sche  Thüre 
der  Sophienkirche  in  Novgorod.  Sie  besteht  aus  einzelnen,  offenbar  nicht 
aus  derselben  Werkstatt  hervorgegangenen  und  nicht  richtig  verbundenen 
Tafeln,  deren  Mehrzahl  aber  zusammengehört,  und,  wie  man  aus  der  Lebens- 
zeit der  darauf  dargestellten  Bischöfe  schliessen  kann^),  in  der  zweiten 
Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts  in  Magdeburg  gemacht  ist.  Die  zusammen- 
hängenden Bilder  geben,  wie  früher  die  Thüren  des  Bernward  in  Hildes- 
heim, die  Geschichte  des  Sündeufalles  und  die  der  Erlösung  durch  Christus; 
neben  ihnen  sind  aber  andere  nicht  dahin  gehörige  Giestalten  zur  Ausfüllung 
aufgenommen,  unter  anderen  ein  Centaur,  dann  auch  die  Bildnisse  des  Werk- 
meisters Riquin  und  seiner  Gehülfen  Abraham  und  Waismuth,  diese 
so  wie  einige  andere  Figuren  schon  im  Kostüme  der  Zeit.  An  der  zweiten 
dieser  Thüren,  am  Dome  zu  Gnesen-),  sind  die  beiden  Flügel  von  ver- 
schiedener Metallmischung,  auch  sonst  ungleicher  Behandlung;  indessen 
stehen  sie  beide  einander  nahe  und  dürften  ebenfalls  in  die  zweite  Hälfte 
oder  gegen  das  Ende  des  12.  Jahrhunderts  zu  setzen  sein.  Sie  stellen  das 
Leben  des  h.  Adalbert  dar,  jeder  Flügel  hat  neun  Felder  in  einer  Um- 
gebung von  Arabesken.  Die  Arbeit  beider  Monumente  ist  in  hohem  Relief, 
also  keinesweges  byzantinisircnd ,  aber  sehr  roh,  und  weist  auf  eine  schon 
handwerksmässige  Praxis  hin.  —  In  Deutschland  selbst  ist  das  grossartigste 
Erzmonument  dieser  Epoche  der  eherne  Löwe  auf  dem  Domplatze  zu  Braun- 
schweig, trotz  einer  gewissen  Starrheit  doch  nicht  ohne  Studium  der  Natur, 
im  Jahre  1166  als  Denkmal  Herzog  Heinrichs  des  Löwen  errichtet. 

1)  Vgl.  Fr.  Adelung,  die  Korssun'schen  Thüren  in  der  Kathedrale  der  h.  Sophia 
zu  Novgorod,  Berlin  1823.  Dargestellt  sind:  Wicmannus  eps.  Magdeburgensis,  welcher 
von  1156  bis  1191,  und  Alexander  Bischof  von  Plock ,  der  von  1129  bie  1156  re- 
gierte. Bessere  Abbildungen  in  den  Antiquites  de  l'Empire  de  Russie ,  Moskau  1819, 
Sörie  VI.  Tab.  21  —  26.  Der  Name  Korssun  (Cherson)  wird  in  Russland  häufig  kost- 
baren Werken  beigelegt ,  ohne  dass  sie  wirklich  aus  der  Beute  von  Cherson  her- 
stammen.    Vgl.  oben  Bd.  IV,  S.  218. 

-)  Vgl.  die  Abbildung  nebst  einer  Beschreibung  von  Berndt  in  der  Wiener  Bau- 
zeitung 1845,  S.  370  fF.  u.  Atlas  Taf.  DCXC.  Die  Verschiedenheit  des  Künstlerischen 
an  beiden  Flügeln  ist  nicht  sehr  bedeutend,  und  rechtfertigt  am  wenigsten  die  Annahme 
des  Verfassers,  welcher  den  einen  in  die  Zeit  Otto's  III.,  den  anderen  in  das  fünf- 
zehnte Jahrhundert  verweisen  will.  —  Gypsabgüsse  im  Berliner  Museum. 
Schnaase's  Kunstgescli.  2.  Aufl.  V.  39 


610 


Metallarbeit. 


Von  feinerer  Ausführung  sind  die  K  i  r  c  h  e  n  g  e  r  ä  t  h  e ,  an  denen  dann  auch 
die  sehr  durchgeführte  Symbolik  interessirt  ^).     Während  die  Erzplastik  in 
grösserem  Maassstabe  vorzugsweise  in  Sachsen  ausgebildet  ist,  wird  die  Klein- 
kunst mit  grösstem  Erfolge  von  der  rheinisclien  Schule  gepflegt.     Besonders 
war  ihr   die  Zeit  Kaiser  Friedrichs  I.  (1152  —  1190)  günstig.     Durch  die 
Eröffnung  des  Grabes  Carls  des  Grossen   gab   er  Veranlassung  zu  der  Her- 
stellung mannigfaltiger  prächtiger  Reliquiarien,  um  die  Gebeine  des  Kaisers 
aufzunehmen,   und  unter  ihm  entstand   auch  eines   der  wichtigsten  Werke 
deutscher  Goldschmiedekunst,  der  grosse  Kronleuchter  des  Münsters  zu 
Aachen ,   welchen  nach  der  darauf  befindlichen  Inschrift  Kaiser  Friedrich  I. 
und   seine  Gemahlin,  wahrscheinlich   um    1165   dorthin  stifteten.     Er  soll, 
wie   die  Inschrift  ebenfalls  besagt  und  wie   es  bei  diesen  Leuchtern  fest- 
stehendes Herkommen  war,  durch  seine  Anordnung  ein  Bild  des  himmlischen 
Jerusalems   geben.     Die   Entstehung   dieser   Symbolik    ist   wohl  erklärbar. 
Da  die  heilige  Stadt  nach  der  Schilderung  des  apokalyptischen  Sehers  keiner 
Sonne  und  keines  Mondes   bedarf,  weil   sie   vom  Lamm   durchleuchtet  im 
eigenen,  hellsten  Lichte  strahlt,  und  da  die  Kirche  die  irdische  vorbildliche 
Erscheinung,  der  Abglanz  des  himmlischen  Jerusalems  ist,  lag  es  nahe,  diese 
Beziehung    au    dem  zur   Beleuchtung    der  Kirche    bestimmten    Geräth    in 
Erinnerung  zu  bringen.     Besonders  aber  war  der  hängende  Leuchter  dazu 
sehr  geeignet,  weil  die  Stadt  der  Zukunft,  das  Jerusalem   das  droben  ist 
(Gal.  4,  V.  26),  nicht  auf  dem  Boden  der  Gemeinde  stehen,  sondern  ihr  nur 
als  hohes  Ziel  vorschweben  durfte.     Wie  es  scheint  kam  diese  Symbolik  im 
elften  Jahrhundert  auf,  während  man  sich  früher  begnügt  hatte,  die  Leuchter 
und  Lampen  mit  dem  Monogramm  Christi  auszustatten  oder  als  Kreuz  oder 
Krone  zu  gestalten,  um  so  daran  zu  erinnern,  [dass  Christus  das  Licht  der 
Welt  und  die  Krone  des  Lebens  sei.     Schon  von  einem  Kronleuchter,  der 
im  Jahre  1038  in  Speyer  gestiftet  wurde,   wissen  wir,   dass  er  mit  Engel- 
chören, Propheten  und  Aposteln,  also  mit  Gestalten,  die  dieser  Vorstellung 
entsprechen,   ausgestattet  war;  an  dem  gleichzeitigen   des  Bischofs  Hezilo 
im  Dome  zu  Hildesheim,   an  einem  anderen  vom  Ende  des  Jahrhunderts  in 
St.  Pantaleon  zu  Köln,  und  an  dem  aus  der  ersten  Hälfte  des  zwölften  Jahr- 
hunderts  stammenden   in  der  Klosterkirche   zu  Komburg  bei  Schwäbisch- 
Hall  ist  es  aber  in  den  daran  augebrachten  Versen  geradehin  ausgesprochen, 
dass  sie  ein  Bild  des  himmlischen  Jerusalems  seien  2).     Dass  dergleichen 


')  Vgl.  H.  Otte ,  Handbuch  der  kirchlichen  Kunst-Archäologie  des  deutschen 
Miltelakers,  2  Bde.,  4.  Aufl.,  Leipzig  1868.     S.   117  ff. 

-)  Ueber  die  Kronen  von  Hildesheim  siehe  Kratz,  der  Dom  zu  Hildesheim,  Taf.  II, 
S.  78  ff.,  nebst  Abbildung  der  kleineren;  über  die  von  Komburg  die  Zeitschrift  des 
histor.  Vereins    für    das  wirtembergische  Franken,    Bd.  V,    S.  169    f.,    über  die  von 


Der  Leuchter  von  Aachen.  Q\  J 

Kronleuchter  um  die  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts  sehr  gewöhnlich  und 
sehr  reich  geschmückt  waren,  ergiebt  eine  Äusserung  des  heiligen  Bernhard, 
welcher  auch  diesen  Luxus  rügt^),  und  sie  wegen  ihrer  Grösse  nicht  mehr 
Kronen,  sondern  Räder  nennen  will.  Indessen  ist  in  Frankreich  kein 
einziger  erhalten;  man  weiss  nur  uachrichtlich  von  einem  im  Anfange  des 
zwölften  Jahrhunderts  im  Dome  zu  Toul  gestifteten  und  hat  noch  Zeich- 
nungen von  einem  in  St.  Remy  in  Rheims,  der  erst  1793  zerstört  ist.  In 
Deutschland  besitzen  wir  dagegen  noch  vier,  einen  in  Komburg,  zwei  im 
Dome  zu  Hildesheim ,  alle  sclion  aus  der  vorigen  Epoche,  und  endlich  den 
zu  Aachen.  Die  Anordnung  der  älteren  Kronen  in  Komburg  und  Hildes- 
heim ist  sehr  einfach;  sie  bestehen  aus  einem  kreisförmigen  Reifen,  der  mit 
zwölf  Thürmchen  (den  zwölf  Thoren  der  Apokalypse  XXI,  v.  12)  besetzt  ist, 
in  denen  kleine  Statuen  von  Propheten,  Aposteln  und  Engeln  Platz  fanden. 
Künstlicher  war  schon  die  Anordnung  des  Kronleuchters  von  Rheims;  hier 
bildeten  nämlich  die  zwölf  Bögen  zwischen  den  Thürmchen  nicht  einen  ein- 
fachen Kreis,  sondern  den  Umriss  einer  zwölfblätterigen  Rose,  indem  sie 
zwölf  über  die  Peripherie  jenes  grösseren  Kreises  hinausgreifenden  kleineren 
Kreisen  angehörten,  welche  so  angeordnet  waren,  dass  bei  vollständiger 
Ausführung  je  zwei  Kreise  in  der  Mitte  des  zwischen  ihnen  gelegenen  dritten 
einander  tangirten.  Dass  man  die  Rose  im  Mittelalter  als  ein  Symbol  des 
himmlischen  Jerusalems  betrachtete ,  ergiebt  schon  die  Rede  Innocenz  III. 
bei  der  Weihe  der  goldenen  Rose  am  Sonntage  Laetare,  wie  denn  auch 
Dante  in  seinem  Paradiese  die  Versammlung  der  Heiligen  in  Gestalt  einer 
Rose  schattete.  Noch  künstlicher  ist  die  Anordnung  des  Leuchters  in 
Aachen.  Hier  ist  nämlich  die  Zahl  acht  an  die  Stelle  der  Zahl  zwölf  ge- 
treten, die  Rose  besteht  nicht  aus  zwölf,  sondern  nur  aus  acht  Kreisbögen, 
die  Zahl  der  Thürmchen  steigt  dagegen  auf  sechszehn ,  welche  sich  theils 
an  den  Endpunkten,  theils  an  den  Scheitelpunkten  der  Bögen  befinden.  Die 
begleitenden  Verse  sagen  ausdrücklich,  dass  hierbei  die  achteckige  Gestalt 
des  Münsters  maassgebend  gewesen  sei  2),  sie  erwähnen  aber  noch  aus- 
führlicher, dass  das  Ganze  das  Bild  des  himmlischen  Jerusalems  darstelle^), 


Aachen  aber  den  ausführlichen  Aufsalz  in  Cahier  und  Martin,  Melanges  d'Archeologie, 
Vol.  III.  —  Vgl.  für  alle  das  unten  (S.  614)  citirte  Werk  von  Bock. 

1)  Ponuntur  dehinc  in  ecclesia  gemmatae    non   coronae ,    sed    rotae ,    circunnseptae 
lampadibns,  sed  non  minus  insertis  lapidibus. 

2)  Ad  templi  normam  sua  sumant  munia  formam 
Istius  octogene  donum  regale  corone 
Rex  pius  ipse  et  pie  vovit  solvitque  Marie. 
S.  die  ganze  Inschrift  bei  Cahier  a.  a.  0.  und  bei  Noiten,  Archäologische  Beschreibung- 
der  Münsterkirche  zu  Aachen,  1818. 

"')  Celica  Jherusalem  Signatur  iniagiue  tali  u.  s.  w, 

39* 


Q-^2  Metallarbeii. 

und  setzen  'daher  voraus^  dass  die  gewählte  Form  diesem  Bilde  entsprechend 
sei.  In  der  That  ist  sie  es  in  höherem  Grade  als  die  bisher  übliche. 
Denn  die  Mauer  der  apokalyptischen  Stadt  ist  nicht  zwölfseitig,  sondern 
viereckig;  und  zerfällt ,  da  jede  der  vier  Seiten  drei  Thore  und  mithin  vier 
kleinere  Abtheilungen  hat,  in  sechszehn  Theile.  Diese  vier  Ecken  konnten 
aber,  wenn  man  nach  dem  Zwecke  des  Geräthes  eine  kreisrunde  Grundlage 
brauchte,  nicht  besser  angedeutet  werden,  als  durch  vier  Thürme,  wie  man 
sie  nach  der  Befestigungskunst  jener  Zeit  an  den  Ecken  der  Mauer  anzu- 
bringen pflegte,  und  man  erhielt  daher ,  wenn  man  auch  den  zwölf  Thoren: 
die  Gestalt  von  Thürmen  gab,  nicht  zwölf,  sondern  wie  an  unserem  Kron- 
leuchter sechszehn  Thürme.  Allerdings  kam  es  dann  darauf  an,  die  Eck- 
thürme  von  den  Thoren  zu  unterscheiden,  aber  auch  dafür  ist  hier  gesorgt. 
Die  sechszehn  Thürmchen  sind  nämlich  nicht  gleicher  Gestalt,  vielmehr  sind 
acht  kleiner  und  rund ,  acht  dagegen  grösser ,  aber  auch  diese  unter  sich 
dergestalt  verschieden,  dass  ihr  Grundriss  abwechselnd  entweder  die  Gestalt 
eines  Quadrates  oder  die  eines  Vierblattes  mit  halbkreisförmig  hervor- 
tretenden Seiten  hat.  Höchst  wahrscheinlich  sollten  nun  jene  viereckigen 
Thürme,  welche  die  Ecken  eines  Quadrates  bilden,  dessen  Seite  jedesmal 
ein  Segment  mit  drei  anderen  Thürmchen  abschneidet,  die  Eckthürme  der 
Stadt  bedeuten,  während  jene  anderen  vermöge  ihrer  halbkreisförmig  hervor- 
tretenden Seiten  den  acht  runden  Tliürmen  auf  den  Scheitelpunkten  der 
Bögen  gleichgestellt  waren  und  also  mit  ihnen  die  zwölf  Thore  bildeten. 
Dies  war  dann  muthmaasslich  durch  die  jetzt  nicht  mehr  vorhandenen 
Statuetten  ausser  Zweifel  gesetzt,  indem  in  die  Oeffnungen  jener  zwölf  runden 
Thürme  die  zwölf  Apostel ,  in  die  der  vier  viereckigen  Thürme  aber  etwa 
Engel  mit  Schwert  und  Lanze  als  Wächter  der  heiligen  Stadt  gestellt 
waren  1).  Zur  Unterstützung  dieser  Yermutliung  kann  ich  mich  auf  die 
Anleitung  zur  Anfertigung  eines  Weihrauchgefässes  nach  dem  Bilde  der 
heiligen  Stadt  beziehen,  welche  Theophilus  in  seinem  oft  erwälmten  Buche 
(Lib.  III,  c.  60)  giebt.  Er  lehrt  nämlich  an  dem  kreisrunden  oberen  Theile 
des  Gefässes  zunächst  vier  Thürme,  und  zwischen  denselben  je  drei  Pforten 
anzubringen,  aus  welchen  die  Apostel  hervorschreiten.  Die  Eckthürmchen 
enthalten  dann  zwar  bei  ilim  keine  Figuren,  weil  in  ihnen  die  Ketten  des 
Gefässes  durchlaufen,  aber  er  hat  doch  jene  bewaffneten  Engel  in  einem 
oberen  Stockwerke  angebracht.  Seine  Anordnung  ist  also,  so  viel  es  die 
verschiedene  Bestimmung  des  Geräthes  gestattet,  der  des  Aacliener  Leuchters 


1)  Martin  a.  a.  0.  giebt  eine  etwas  andere  Erklärung,  indem  er  hauptsächlich  auf 
die  mehrfachen  und  sich  durchschneidenden  Quadrate ,  welche  durch  die  verschiedene 
Form  der  Thürme  angedeutet  sind ,  Gewicht  legt.  Die  von  mir  gegebene  Deutung 
scheint  aber  einfacher  und  natürlicher. 


Der  Leuchter  von  Aachen. 


613 


Fig.   U3. 


Leuchter  in  Aachen. 


614 


Metallarbeit. 


ganz  ähnlich.  Allerdings  kann  man  bei  diesem  letzten  fragen,  warum  der 
Urheber  des  Planes  jene  als  Vierblatt  gestalteten  Thürme  nicht  lieber  den 
runden  Thürmen  ganz  gleich  gebildet  habe,  um  so  die  zwölf  Thore  von  den 
yier  Eckthürmen  schärfer  zu  unterscheiden.  Allein  dazu  hatte  er  offenbar 
mehrere  Gründe.  Zunächst  formelle,  aus  der  achteckigen  Gestalt  ent- 
nommene, dann  aber  auch  innere.  Das  neue  Jerusalem  ist  der  Sitz  der 
Seligen,  für  die  Seligkeit  sind  aber  acht  Verheissungen  gegeben;  die  Zu- 
sammenstellung von  je  acht  Thürmen  gab  ihm  also  die  Gelegenheit,  auch 
diese  mystische  Beziehung  auszusprechen. 

Die  Bodenstücke  der  sechszehn  Thürme  sind  nämlich  auf  ihrer  unteren, 
der  Gemeinde  zugewendeten  Seite  mit  gravirter  Zeichnung  auf  goldenem 
Grunde  geschmückt  und  zwar  so,  dass  die  acht  grösseren  und  die  acht 
kleineren  unter  sich  im  Zusammenhange  stehen.  Diese  enthalten  nämlich 
die  Geschichte  Christi:  Verkündigung,  Geburt,  Anbetung  der  Könige, 
Kreuzigung,  die  Marien  am  Grabe,  Himmelfahrt,  Ausgiessung  des  heiligen 
Geistes  und  Christus  als  Weltrichter ;  jene  dagegen  die  acht  Seligpreisungen 
in  der  Art,  dass  jedesmal  ein  Engel  (bekleidet,  ohne  Flügel  und  manchmal 
von  Gruppen  menschlicher  Figuren  umgeben),  einen  Spruchzettel  mit  einer 
der  Verheissungen  hält. 

Die  Zeichnung  ist  auf  allen  diesen  Platten  mittelst  des  Grabstichels 
ausgeführt,  so  dass  sie  völlig  wie  unsere  Kupferstiche  zum  Abdrucke  ge- 
eignet sind^).  Die  Tafeln  mit  den  Seligpreisungen  sind  aber  überdies  nicht 
bloss  in  eingegrabener,  sondern  auch  in  durchbrochener  Arbeit  verziert, 
dergestalt,  dass  der  Engel  immer  innerhalb  eines  Rostes  von  sich  durch- 
kreuzenden Balken  steht  und  die  Räume  neben  den  Umrissen  der  Figur 
und  zwischen  den  Balken  ausgeschnitten  sind;  offenbar,  damit  am  Abend 
das  durchfallende  Licht  der  am  oberen  Rande  des  Reifes  stehenden  Kerzen 
wenigstens  die  Umrisse  der  Engel  sichtbar  machen  sollte  ^).  Der  Styl  dieser 
Zeichnungen  giebt  uns  eine  sehr  hohe  Vorstellung  von  dem  Geschick  der 
Künstler,  die   dem  Kaiserpaare    zu  Diensten    standen,  lässt  aber  darauf 


1)  Vollständige  Abdrücke  auf  dem  Kupferstichkabinet  zu  Berlin.  Der  beigefügte 
Holzschnitt  der  Verkündigung  ist  das  Facsimile  eines  solchen  ,  nur  mit  Fortlassung 
eines  Theiles  der  kreisförmigen  Einrahmung.  Die  Engel  der  Seligpreisungen  sind  etwas 
grösserer  Dimension,  so  dass  das  Format  meines  Buches  die  Aufnahme  derselben  nicht 
gestattete.  —  Neuerdings  publicirt  von  Franz  Bock,  der  Kronleuchter  Kaisers  Friedrich 

Barbarossa  etc.  etc.  und  die  formverwandten  Lichterkronen Leipzig  1864,  und 

von  E.  aus'm  Weerth,  Rheinlands  Kunstdenkmale,  II,  Taf.  XXXV,  Text  S.  98  ff. 

2)  DieThürmchen  enthielten  bei  allen  diesen  Kronen  kein  Licht;  die  Kerzen  standen 
vielmehr  auf  Leuchtern  am  Rande  der  Bögen.  Auch  an  dem  Leuchter  von  Komburg 
haben  die  Bodenstücke  der  Thürmchen  durchbrochene  Arbeit,  doch  nur  Blattwerk  und 
Thiergest  alten. 


Weihrauchge  fasse.  Gib 

schliesseu,  das  dabei  zwei  verschiedene  Meister  thätig  waren.  Bei  den 
Scenen  aus  der  Lebensgeschichte  des  Erlösers  ist  die  Auffassung  naiv  und 
dramatisch:  bei  der  Kreuzigung  sind  Sol  und  Luna,  Maria  und  Johannes  in 
gewohnter  Weise ,  neben  diesen  aber  ziemlich  natürlich  behandelte  Bäume 
dargestellt;  bei  der  Geburt  wendet  sich  das  Kind  nach  der  Mutter,  spricht 
Joseph  mit  aufgehobener  Hand,  und  scheinen  selbst  Ochs  und  Esel  mit 
einigem  Gefühl  von  der  Bedeutung  des  Momentes  auf  das  Kind  zu  blicken. 
Der  Erdboden  ist  stets  durch  halbkreisförmige  Schollen,  jede  mit  einer 
Blume,  angedeutet.  Die  Köpfe  sind  mehr  viereckig  als  oval,  die  Füsse  sehr 
gross.  Dagegen  ist  die  Haltung  und  die  Körperbildung  an  den  Engeln  der 
Seligpreisungen  grossartiger  und  mehr  im  typischen  Style,  mit  reinerem 
Oval  des  Gesichtes,  wohlgeregelten  symmetrischen  Locken,  kleinen  und 
eleganten  Füssen  und  besonders  mit  sehr  edlen  Gewandmotiven,  welche  die 
Formen  des  Körpers  wohl  erkennen  lassen';  die  Nebenfiguren  erinnern  sogar 
an  die  Zeichnung  in  byzantinisirenden  Miniaturen.  Wir  sehen  also  nicht 
bloss  zwei  Meister  von  verschiedener  Begabung,  sondern  zwei  verschiedene 
Richtungen  nebeneinander.  Der  Meister  der  evangelischen  Geschichten  ist 
von  dem  Naturalismus  berührt,  der  sich  besonders  in  der  Miniaturmalerei 
geltend  machte;  der  andere  theilt  dagegen  die  Tendenz  des  strengeren 
Styles,  der  sich  damals  in  der  Plastik  ausbildete.  Ihr  Zusammentreffen 
zeigt  recht  deutlich  den  Einfluss,  den  beide  Künste,  Malerei  und  Sculptur, 
auf  die  Werkstätten  der  Metallarbeiter  hatten.  Die  Architektun  ist  übrigens 
durchweg  rundbogig,  und  auch  die  Verzierungen  an  der  Einrahmung  und 
an  den  Balken  der  Bodenstücke,  sowie  an  den  Bandstreifen,  welche  nebst 
der  Inschrift  um  den  Reifen  des  Leuchters  herumlaufen,  haben  noch  durch- 
weg romanischen  Styl.  Sie  bestehen  meistens  in  ziemlich  einfachen  Ge- 
winden, Rauten  und  ähnlichen  Mustern,  sind  aber  alle  verschieden,  und 
geben,  golden  auf  einem  mit  braunem  Firniss  bedeckten  Boden,  dem  Ganzen 
ein  sehr  reiches  Ansehen. 

Bei  Weihrauchgefässen  wurde  das  Bild  des  neuen  Jerusalems  weder 
so  ausschliesslich  noch  so  anhaltend  wie  bei  Kronleuchtern  angewendet. 
Dies  beweist  schon  der  Text  des  Theophilus,  welcher  zwei  solche  Gefässe 
beschreibt,  das  eine,  dessen  ich  bereits  (S.  612)  erwähnte,  mit  der  Hin- 
weisung auf  die  himmlische  Stadt  in  sehr  ausgeführter  Symbolik,  das  Lamm 
auf  der  Spitze  des  Ganzen,  bewaffnete  Engel  und  die  Apostel  auf  dem 
oberen,  die  Propheten  und  in  Medaillons  [die  Tugenden  auf  dem  unteren 
Theile,  das  andere  dagegen  bloss  mit  den  Gestalten  der  vier  Paradieses- 
ströme und  der  vier  Evangelisten  verziert,  und  mithin  nur  auf  die  Aus- 
breitung der  Heilslehre,  als  Parallele  des  aufsteigenden  Weihrauchdampfes, 
hindeutend.  Ueberhaupt  folgte  man  bei  diesen  Gelassen  jetzt  mehr  anderen 
Gedanken,  wie  ein  bereits  früher  angeführtes  Beispiel  zeigt,  wo   durch  die 


Q-^Q  Metallarbeit. 

Darstellung  der  drei  Männer  im  feurigen  Ofen  der  Weihrauch  als  Symbol 
des  Gebetes  behandelt  war.  Eine  Nachwirkung  jener  frühern  Symbolik 
war  es  indessen ,  dass  man  auch  jetzt  und  bis  in  das  späteste  Mittelalter 
hinein  den  oberen  Theil  solcher  Gefässe  mit  Thürmen  zu  schmücken 
pflegte^).  Auch  scheint  die  reiche  Symbolik  an  einem  Rauchgefässe  vom 
Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  das  in  der  Dorfkirche  zu  Buchholz 
bei  Manderscheid  in  der  Diözese  Trier  entdeckt  ist-),  noch  auf  einer  Um- 
gestaltung des  Gedankens  der  Stadt  Gottes  zu  beruhen.  Es  zeigt  nämlich 
oben  auf  der  Spitze  einer  thurmartigen  Architektur  den  König  Salomon  mit 
Krone,  Scepter  und  Reichsapfel,  von  seinen  vierzehn  Löwen  umgeben,  wie 
die  beigeschriebenen  Verse  besagen  als  Symbol  der  himmlischen  Herrschaft 
Christi.  Unter  ihm  stehen  auf  den  vier  Giebeln  Abel  mit  dem  Lamm, 
Melchisedek  mit  Brod  und  Kelch,  Abraham  im  Augenblicke  des  Opfers  und 
Isaak  den  Jakob  segnend,  alle  den  Opfertod  Christi  andeutend  (Christum 
venturum  carnisque  necem  subiturum),  dann  am  unteren  Theile  des  Gefässes 
Aaron  mit  dem  Rauchaltar,  Moses  mit  der  Ruthe,  Jesaias  und  Jeremias  mit 
Büchern,  also  die  Functionen  des  Priesterthumes  im  Dienste  Christi  ver- 
sinnlichend.  Selbst  die  Agraffe,  welche  die  Kette  hält,  giebt  noch  in  vier 
Ringen  die  Brustbilder  der  Apostel  Petrus,  Paulus,  Johannes  und  Jacobus, 
also  der  Lehrer  jenes  auf  dem  Gefässe  selbst  angedeuteten  Mysteriums. 
Das  Fussgestell  enthält  eine  Fürbitte  für  einen  gewissen  Gozbertus,  der  ent- 
weder der  Geschenkgeber  oder  der  Künstler  war. 

Durchweg  ist  die  Symbolik  jetzt  freier,  poetischer,  künstlicher  ge- 
worden; sie  variirt  gern  den  Grundgedanken,  den  die  vorige  Epoche  ein- 
fach wiederholte.  Dies  bemerken  wir  auch  an  den  ehernen  Taufbecken, 
von  denen  in  Deutschland  einige  erhalten  sind.  Zwar  ist  das  des  Domes 
zu  Osnabrück^),  dem  Style  und  den  Schriftzügen  nach  vom  Ende  des 
zwölften  oder  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts ,  einfacher  als  das  be- 
deutend frühere  in  St.  Bartholomäus  zu  Lüttich  *).  Es  ruht  auf  bedeutungs- 
losen Füssen  iind  die  fünf  Abtheilungen  des  cylindrisclien  Kessels  enthalten 
ausser  den  Figuren  der  Apostel  Petrus  und  Paulus  nur  die  Taufe  Christi 
in  den  drei,  je  eine  Abtheilung  einnehmenden  Gestalten  Christi,  des  Täufers 
und  eines  dienenden  Engels.     Die  Bewegung  des  Letzten  ist  kühn  und  nicht 


^)  Mit  diesem  Gebrauche  hängt  es  zusammen,  dass  in  vielen  Urkunden  des  Mittel- 
alters das  Wort:  thuribulum,  dessen  griechischer  Ursprung  den  Schreibern  unbekannt 
sein  mochte,  in  turribulum,  Thurmgefäss,  verwandelt  ist.  Vgl.  Ducange,  Gloss.  s.  h.  v. 
Ein  Rauchfass  des  dreizehnten  Jahrhunderts  aus  dem  Dome  zu  Mainz,  das  ohne  Figuren, 
aber  mit  einem  Thürmchen  bekrönt  ist,  bei  Becker  und  v.  Hefner  a.  a.  0,  Taf.  58. 

2)  Abbildung  und  Beschreibung  im  Bull,  monum.  XIII ,  S.  195. 

»)  Lübke  a.  a.  0.  S.  417. 

*)  Bd.  IV,  S.  671. 


Taufbecken  in  Hildeslieim.  Q\1 

ungeschickt,  und  verräth  jenes  Streben  nach  dramatischem  Ausdrucke ,  das 
sich  in  dieser  Zeit  in  Deutschland  häufig  zeigt.  Die  Inschrift  giebt  zwar 
kein  Datum,  wohl  aber  die  Namen  des  Künstlers  Gerhard  und  des  Stifters 
Wilbernus. 

Um  so  reicher  in  symbolischer  Beziehung  und  von  bedeutend  höherem 
künstlerischem  Werthe  ist  das  dem  Anfange  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
zuzuschreibende  Taufbecken  im  Dome  zu  Hildesheim ^).  Der  wiederum 
cylindrische  Kessel  ruhet  auf  vier  knieenden  menschlichen  Gestalten,  welche 
Urnen  ausgiessen,  bekanntlich  die  vier  Paradiesesflüsse.  Ueber  den  Köpfen 
derselben  sieht  man  an  dem  Becken  selbst  in  Verbindung  mit  der  Archi- 
tektur, welche  dasselbe  in  vier  Felder  theilt,  die  über  einander  angebrachten 
Medaillons  der  vier  Tugenden,  der  vier  grossen  Propheten  und  der  vier 
Evangelisten.  Von  den  dazwischen  gelegenen  Feldern  zeigt  das  eine  den 
Donator,  einen  Domherrn,  der  zufällig  wie  der  des  Beckens  von  Osnabrück 
Wilbernus  heisst,  vor  der  Jungfrau  knieend,  die  drei  anderen  geben  die 
Darstellungen  des  Durchganges  der  Juden  durch  das  rothe  Meer,  des  spä- 
teren unter  Josua  durch  den  Jordan,  und  endlich  der  Taufe  Christi.  Auf 
dem  Deckel  ist  (ohne  Zweifel  in  innerer  Verbindung  mit  der  Gestalt  der 
Jungfrau  Maria  auf  dem  Votivbilde)  der  Hergang  mit  Aarons  blühender 
Gerte  dargestellt,  dann,  in  Beziehung  auf  das  rothe  Meer,  der  Kinder- 
mord zu  Bethlehem,  darauf  weiter  Magdalena  im  Hause  des  Pharisäers, 
die  Füsse  des  Herrn  mit  ihren  Haaren  trocknend,  endlich  viertens  die  Werke 
der  Barmherzigkeit  in  eine  Gruppe  vereinigt:  die  thronende  Miseri- 
cordia  ist  von  Gestalten,  denen  sie  ihre  Wohlthaten  spendet,  um- 
geben. Es  sind  deren  aber  nur  sechs,  das  Begraben  der  Todten  fehlt. 
Man  sieht ,  der  Gedanke  des  Wassers  bildet  das  Grundthema  einer  kunst- 
gerecht durchgeführten  Symbolik;  in  den  Paradiesesströmen  erscheint  es 
vorbildlich,  in  den  Ereignissen  der  alttestamentarischen  und  evangelischen 
Geschichte  historisch  mit  allegorischer  Nebenbedeutung,  am  Deckel  tropo- 
logisch,  mit  moralischer  Anwendung,  als  Bluttaufe  in  der  Trübsal,  als 
Thränentaufe  in  der  Reue,  durch  das  „Wasser,  das  zu  Berge  geht",  von  dem 
unsere  Dichter  des  Mittelalters  so  oft  sprechen,  endlich  in  den  guten  Werken, 
unter  denen  die  Wasserspendung  vorkommt,  als  christliche  zur  Seligkeit 
führende  Tugend.  Daneben  ist  die  andere  Eigenschaft  der  Paradiesesflüsse, 
die  Vierzahl  nicht  vergessen,   welche   in  den  Kardinaltugenden,   an  den 


1)  Vgl.  eine  Beschreibung  und  die  bedeutungsvollen  Verse  der  Aufschriften  bei 
Kratz,  der  Dom  zu  Hildesheim,  Th.  II,  S.  195,  und  eine  jedoch  sehr  unbefriedigende 
Abbildung  auf  Taf.  12.  Der  Verfasser  setzt  die  Entstehung  in  die  zweite  Hälfte  des 
dreizehnten  Jahrhunderts,  doch  ohne  überzeugende.  Gründe,  da  der  Styl  der  Arbeit  auf 
frühere  Zeit  schliessen  lässt.  —  Abbildung  bei  Förster,  Denkmale,  Bd.  VIII,  der  Deckel 
in  Didron's  annales  archeologiques,  Bd.  XXI. 


g28  Melallarbeit. 

grossen  Propheten  und  endlich  an  den  Evangelisten  wiederkehrt,  und  somit 
die  Grundlage  der  Heiligung  ist.  Statt  dieser  künstlichen  Anspielung  auf 
natürliche  und  geheimnissvolle  Dinge  hat  das  Taufbecken  in  Lüttich  nur 
die  alttestamentarische  Reminiscenz  an  das  eherne  Meer  und  führt  ausser- 
dem den  Gedanken  der  Busse  und  Bekehrung,  als  der  Erfordernisse  des 
Sacramentes,  sehr  einfach  durch. 

Der  Guss  des  bedeutenden,  sechs  Fuss  hohen  Monumentes  ist  vor- 
trefflich ausgeführt,  die  Zeichnung  der  Figuren  ist  sehr  streng  und  typisch, 
doch  ausdrucksvoll,  mehr  an  die  Auffassung  der  Miniaturen  als  an  archi- 
tektonische Plastik  erinnernd.  Die  Architektur,  aus  gewundenen  oder  ver- 
zierten Säulenstämmen  und  breiten  Kleeblattbögen  bestehend,  gehört  noch 
ganz  romanischer  Weise  an. 

Einen  völlig  verschiedenen  Charakter  hat  das  Taufbecken  im  Dome 
zu  Würzburg,  dessen  Inschriften  den  Namen  des  Verfertigers,  Meisters 
Eckart  von  Worms,  und  das  Jahr  der  Vollendung  1279  angeben i).  Die 
Architektur  ist  hier  schon  ganz  gothisch;  Strebepfeiler  mit  Wasserschlägen, 
Tabernakeln  und  Fialen  trennen,  gothisch  verzierte  Bedachungen  überdecken 
die  acht  bildlichen  Darstellungen,  welche  ohne  alle  symbolische  Gliederung 
das  Leben  Christi  darstellen ,  Verkündigung ,  Geburt ,  Taufe ,  Kreuzigung^ 
Auferstehung,  Himmelfahrt,  Ausgiessung  des  heiligen  Geistes  und  das  Welt- 
gericht, dies  jedoch  nur  in  wenigen  Gestalten.  Meister  Eckart  war  kein 
grosser  Künstler;  die  Arbeit  ist  durchaus  roh,  die  Anordnung  ohne  Styl- 
gefühl, der  Ausdruck  der  kurzen,  kaum,  fünf  Kopflängen  haltenden  Gestalten 
unbedeutend;  nur  an  einigen  naiven  Zügen  und  an  einem,  aber  selten  ge- 
lungenen Streben  nach  Weichheit  der  Formen  ist  ein  Einfluss  des  neuen 
Styles  zu  spüren.  Das  Ganze  besteht  ungeachtet  seines  geringen  ümfanges 
nicht  aus  einem  Stücke,  vielmehr  sind  die  Strebepfeiler,  die  Spitzbögen  und 
die  Bildtafeln  einzeln  gegossen  und  zusammengelöthet,  was  allerdings  durch 
die  schwerfällig  behandelte  gothische  Architektonik  erleichtert  wurde.  — 
Noch  später,  1290,  wurde,  laut  Inschrift,  das  Taufbecken  im  Dom  zu 
Rostock  gefertigt,  das  in  der  Arbeit  handwerksmässig,  im  Styl  alterthüm- 
lich  ist.  Auch  hier  wird  das  Becken  von  vier  kuieenden  Gestalten  getragen, 
welche  aber  diesmal  als  die  vier  Elemente  bezeichnet  sind.  Das  Becken 
selbst  und  der  Deckel,  ersteres  in  Feldern  mit  kleeblattförmiger  Umrahmung, 
enthalten  Darstellungen  aus  dem  neuen  Testament. 

Im  Allgemeinen  unterwarfen  sich  die  Metallarbeiter  dem  Einflüsse  des 
gothischen  Styles  nur  sehr  zögernd.*    Noch  längere  Zeit,  nachdem  er  in  der 


^)  Becker  und  v.  Hefner,  Kunstwerke  und  Geräthschaften  des  Mittelalters,  Taf.  19; 
die  Jahreszahl  1289  beim  Abdrucke  der  Inschrift  ist  irrig.  —  Förster,  Denkmale, 
Bd.  IX. 


Email.  619 

Baukunst  zur  Herrscliaft  gelangt  war,  behielten  die  Kelche,  Schüsseln  und 
andere  Kirchengeräthe  die  volle  romanische  Form  und  die  hergebrachten, 
Ornamente  1).  Der  romanische  Styl  gab  gerade  für  diese  Zwecke  Motive 
von  grosser  Schönheit;  die  volle,  der  Kreis-  oder  Kugelform  sich  annähernde 
Rundung  eignete  sich  für  die  Bestimmung  solcher  Gefässe  besser  als  die 
gebrochene  Linie  und  die  schlanke  Haltung  des  gothischen  Styles;  die  ganze, 
unvergleichliche  Ornamentik,  der  kräftige  Schwung  der  Rankengewinde,  die 
reiche  Mannigfaltigkeit  linearer  Durchschneidungen  stand  damit  in  innigster 
Verbindung  und  war  mit  dem  consequenten  und  einseitigen  Gesetze  verti- 
caler  Formbildung  nicht  wohl  zu  vereinigen.  Es  war  daher  begreiflich, 
dass  die  Künstler  sich  sträubten,  diese  Vortheile  zu  Gunsten  einer  Archi- 
tektur zu  opfern,  welclie  au  dieser  Stelle  durch  keine  statischen  Gründe 
gerechtfertigt  war. 

Von  den  Goldschmieden  wurde  auch  die  Kunst  des  Email  2)  ausgeübt 
und  auch  diese  blühte  zunächst  vorzugsweise  in  Deutschland,  ganz  besonders 
in  den  Gegenden  des  Rheines  sowie  in  dem  benachbarten  Lothringen.  Ein 
Eilbert  von  Co  In  nennt  sich  als  Verfertiger  auf  einem  der  Mitte  des 
zwölften  Jahrhunderts  angehörenden  Tragaltärchen  in  der  Sammlung  des 
Königs  von  Hannover'^),  ein  Meister  Nicolaus  vonVerdun  hat,  zu- 
folge der  Inschrift,  im  Jahre  1181  das  glänzendste  und  grösste  der  noch 
existirenden  Werke  dieser  Technik  verfertigt,  den  Altaraufsatz  im  Stifte 
Klosterneuburg  bei  Wien*).     Er  besteht  aus  51  Tafeln,  von  denen  aber 


1)  Ausgezeichnet  schöner  Form  ist  der  früher  der  Katliedrale  zu  Rheims  ange- 
hörige,  jetzt  in  der  grossen  Bibliothek  zu  Paris  bewahrte  Kelch  des  li.  Remigius  aus 
dem  zwölften  Jahrhundert  (Annal.  arch.  II,  363).  Kelche  mit  reicher  plastischer  Ver- 
zierung kommen  noch  in  zahlreichen  deutschen  Kirchen  vor.  Die  Formen  des.  Ueber- 
gangsstyls  herrschen  an  dem  in  der  Apostelkirche  zu  Köln  (Bock,  das  heil.  Köln, 
Taf.  XXVIII),  ferner  an  dem  aus  Kloster  Weingarten  stammenden  im  Dome  zu  Regens- 
burg (Becker  und  v.  Hefner,  Kunstwerke  und  Geräthschaften,  III,  Taf.  48),  auf  welchem 
sich  ein  Meister  Conrad  de  Husa  als  Verfertiger  nennt  und  in  dem  durch  seine  schlichten 
aber  ausdrucksvollen  Gravirungen  merkwürdigen  Kelch  zu  Werben  in  der  Altmark 
V,  Quast  u.  Ölte,  Zeitschrift,  I,  S.  69  if.  u.  Taf.  IV).  Die  prächtigen  Kelche  der 
Nicolaikirche  zu  Berlin  und  zu  Zehdeuick  (ebenda,  II,  S.  135  u.  Taf.  VII)  nehmen 
bereits  Motive  der  Gothik  auf. 

2)  Siehe  oben  Bd.  IV,  S.  244  ff.  und  658  ff.  —  Besonders  für  diesen  Kunstzweig 
ist  Labarte's  Arbeit  von  Wichtigkeit;  vgl.  a.  a.  0.  Kd.  III  von  S.  377  an,  vgl.  aber 
auch,  hinsichtlich  der  Reliquiarien,  Bd.  II,  S.  224  fl".  —  Siehe  aucli  VioUet-le-Duc, 
Dictionnaire  raisonne  du  mobilier  frangais,  Bd.  I,  Paris  1858,  Artikel  Chasse,  reli- 
quaire  etc. 

3)  Vgl.  Bd.  IV,  S.  660,  Anm. 

*)  Vortrefflich  in  Fai'bendruck  publjcirt  von  Camesina  und  J.  Arneth ,  das  Niello 
Antependium  zu  Kloster  Neuburg,  1844.  Zum  Wortlaut  des  Titels  ist  zu  bemerken,  dass 
dies  Werk  keine  Niello-Arbelt  ist  und  dass  die  Bestimmung  als  Antependium  nur  auf 


620 


Metallarbeit. 


sechs  im  14.  Jahrhundert  hinzugefügt,  nur  die  übrigen  45  alt  sind.     Es  sind 
vergoldete  Bronzeplatten,  in  denen  die  tiefeingeschnittenen    Umrisse  mit 


Fig.  144. 


■.Av^.Srm'TC 


Email  des  Nicolaus  von  Verdun  in  Klosterneuburg  bei  Wien. 

rother  oder  blauer  Masse  ausgefüllt  und  die  Gründe  mit  derselben  blauen 
Farbe  bedeckt  sind.     Ihrem  Inhalte   nach   geben   sie  das   Leben  Christi  in 


Wahrscheinlichkeit  beruhet.  —  Vgl.  den  Aufsatz  von  G.  Heider  in  den  Mittelalterlichen 
Kunstdenlt^malen  des  österr.  Kaiserstaates,  II,  S.  115  ff.,  mit  Wiederholung  einiger 
Camesina'schen  Tafeln,  sowie  Heider  und  Camesina,  der  grosse  Altaraufsatz  im  Stifte 
2u  Klosterneuburg,  mit  einem  Farbendruck  und  Lithographien,  1860. 


Reliquienschreine.  621 

Verbindung  mit  den  vorbildlichen  Ereignissen  der  alttestamentarischen  Ge- 
schichte.  Die  Zeichnung  ist  durchweg  im  Geiste  altchristlicher  Ueber- 
lieferung;  von  der  unruhigen  Lebendigkeit,  die  wir  in  den  Miniaturen  be- 
merken, ist  keine  Spur,  die  Gesichtszüge  sind  noch  starr  oder  doch  wenig 
belebt,  aber  in  der  Haltung  der  Körper  und  in  der  Gewandung  herrscht  ein 
so  lebendiges  Gefühl  für  Wahrheit  und  Schönheit  und  zugleich  ein  so  klares 
Verständniss  der  ursprünglichen  Motive,  dass  man  bei  einzelnen  Zügen 
geradezu  an  antike  Gestalten  erinnert  wird.  —  Von  demselben  Meister 
wurde  im  Jahre  1209  noch  ein  Reliquienschrein  für  die  Kathedrale  zu 
Tournay  vollendet,  der  aber  leider  nur  in  verdorbenem  Zustande  existirt^). 
Unter  den  Arbeiten  der  Goldschmiedekunst  nehmen  die  Reliquien- 
behältnisse die  vorzüglichste  Stelle  ein;  wir  finden  sie,  je  nachdem  sie  zum 
Privatbesitz  oder  zur  Aufstellung  in  Kirchen  bestimmt  waren,  in  sehr  ver- 
schiedener Gestalt,  aber  meistens  mit  dem  reichsten  Schmucke  in  Emails 
verschiedener  Art  und  mit  Figuren  in  getriebener  Arbeit.  Kleinere,  für  den 
Privatbesitz  bestimmte  Reliquiarien  haben  oft  die  Form  des  Kreuzes  oder 
die  einer  Säule,  zuweilen  aber  auch  die  eines  kleinen  Flügelaltars.  So  ein 
gegen  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  entstandenes  Reliquiarium ,  das  aus 
der  berühmten  Sammlung  Soltyk off  für  das  South  Kensington  Museum 
in  London  erworben  worden  ist.  In  seinem  Innern  wird  ein  Täfelchen  mit 
den  Behältern  für  Kreuzessplitter  von  einem  schwebenden  Engel  gehalten^ 
während  zwei  grössere  Engelfiguren  feierlich  als  Wache  daneben  stehen. 
Das  obere  Bogenfeld  zeigt  das  Brustbild  des  segnenden  Christus,  auf  den 
Flügeln  sind  die  zwölf  Apostel  zu  sehen,  alles  Arbeiten  in  Relief,  während 
das  Email  nur  auf  wenige  Stellen  besonders  auf  eine  im  Sockel  angebrachte 
Darstellung  der  Frauen  am  Grabe  beschränkt  bleibt^).  Eine  verwandte 
Form ,  aber  ohne  Anwendung  von  Email ,  zeigt  der  schon  aus  dem  Anfang 
des  13.  Jahrhunderts  stammende  Reliquienschrein  in  der  ehemaligen  Bene- 
diktinerabtei zu  Mettlach^),  ein  Kasten  aus  Eichenholz,  mit  vergoldetem 
Messingblech  überzogen,  der  innen  in  Reliefs  den  Heiland  in  der  Glorie,  die 
Wohlthäter  des  Klosters,  sowie  Apostel  und  Heilige,  aussen  auf  den  Flügeln 
die  gravirten  Darstellungen  der  Verkündigung  und  der  Anbetung  der  Könige 
enthält.  Noch  häufiger  indessen  haben  die  Reliquienbehälter  die  Gestalt 
eines  kleinen  kirchlichen  Gebäudes,  zuweilen  kreuzförmig  mit  einem  Kuppel- 
aufsatz ,  wie  ein  seltenes  Prachtstück ,    das   ebenfalls  aus   der  Sammlung 


1)  Notiz  darüber  in  Cousin,  Histoire  de  Tournay,  nachgewiesen  von  Didron  in  den 
Annales  archeologiques ,  Bd.  XXII.  Mitlheilung  über  das  Werk  selbst  von  E.  aus'm. 
Weerth  in  dem  Correspondenzblatt  der  Alterthumsvereine  1866,  S.  20. 

2)  Publicirt  bei  Labarte,  Album  II,  pl.  CXLV. 

3)  V.  Quast,  Zeitschrift  I,  S.  230,  267  mit  Abbildungen. 


ß22  Metallarbeit. 

Soltykoff  in  das  South  Kensington-Museum  gelangt  ist  und  welches 
eine  Verbindung  des  Email  in  rein  ornamentaler  Verwendung  und  der  Elfen- 
beinschnitzerei in  Reliefs  und  Figuren  zeigt  ^).  Häufiger  jedoch,  namentlich 
für  grössere,  die  üeberreste  des  Schutzpatrons  der  Kirche  oder  eines  be- 
sonders verehrten  Heiligen  bewahrende  Gefässe  ist  die  Form  eines  einfach 
rechteckigen  Gebäudes  mit  schrägem  Dache,  manchmal  mit  einem  Aufsatz 
in  der  Mitte,  der  dem  Schreine  die  Gestalt  einer  Basilika  giebt-).  Die  An- 
ordnung dieser  Reliquiarien  ist  sehr  übereinstimmend;  an  den  senkrechten 
Wänden  sind  meistens  sitzende  Gestalten  in  getriebener  Arbeit  unter  von 
Säulen  getragenen  Bögen  angebracht,  auf  den  langen  Wänden  häufig  die 
Apostel,  unter  den  Giebeln  einerseits  Christus  oder  die  Jungfrau,  andrer- 
seits das  Bild  des  bestatteten  Heiligen;  die  Dachflächen  enthalten  in  flacherem 
Relief  historische  Darstellungen;  die  Säulenstämme,  Bögen  und  Einfassungen 
sind  reich  mit  Arabesken  in  Emailmalerei  und  mit  edlen  Steinen  oder 
antiken  Gemmen  geschmückt. 

Der  Niederrhein ,  wie  wir  sahen  der  Hauptsitz  der  Email-  und  Gold- 
schmiedekunst, ist  noch  jetzt  sehr  reich  an  solchen  grossen  Schreinen;  man 
kann  etwa  zwanzig  aufzählen,  unter  welchen  der  berühmte  zweistöckige 
Schrein  der  heiligen  drei  Könige  im  Dom  zu  Köln  wohl  der  präch- 
tigste ist.  (Fig.  145).  Die  Emailverzierungen  sind  hier  von  vollendeter 
Eleganz,  während  die  heiligen  Scenen  und  die  Figuren  unter  den  Arcaden 
zwar  nicht  von  höchster  Durchbildung,  aber  in  der  Gewandung  wohlstudirt  und 
mit  tiefem  Ausdruck  inneren  Lebens  erscheinen  ^).  Zwei  sehr  schön  gearbeitete 
Schreine  aus  der  ehemaligen  Abtei  St.  Pantaleou  zu  Köln  befinden  sich  jetzt  da- 
selbst in  der  kleinen  Kirche  St.  Maria  Inder  Schnurgasse,  andere  in  St.  Ur- 
sula und  St,  Severin  daselbst,  in  der  Pfarrkirche  zuDeutz,  in  St.  Mathias 
und  auf  der  Stadtbibliothek  zu  Trier,  eine  ganze  Sammlung  in  der 
Pfarrkirche  zu  Siegburg  ^).     Der  Kirchenschatz  zu  Aachen  besitzt  zu- 


1)  Publicirt  bei  Labarte,  Album,  I,  XLIII  und  II,  CIX,  sowie  von  Cattois  in  zahl- 
reichen Aufsätzen  der  Annales  archeologiqiies,  Bd.  XX  —  XXV. 

2)  Der  richtige  Takt  der  Künstler  dieser  Epoche  hielt  sie  indessen  von  näherer 
Nachahmung-  der  Architektur  ab;  erst  im  15.  Jahrhundert  bildete  man  solche  Schreine 
völlig  in  Kirchengestalt,  mit  Oberlichtern,  der  Rose  anf  der  Facade  und  einem  Thürmchen 
auf  dem  Dache.  So  war  namentlich  der  Schrein  des  Heiligen  in  St.  Germaiu-des- 
Pres  in  Paris  vom  J.  1408.     Vgl.  Viollet-le-Duc,  Dictionnaire  du  mobilier,  Vol.  I,  p.  73. 

^)  Vgl.  über  dies  wie  über  die  andern  in  Köln  hefindüchen  Reliquiarien:  Fr.  Bock, 
das  heilige  Köln,  Leipzig  1858,  sowie  sein  neueres  Werk,  der  Kunst-  und  Reliquien- 
schatz des  Kölner  Doms,  1870,  mit  Abbildungen.  Zwei  Prophetengestalten  bei  E.  Förster, 
Denkmale,  Bd.  VII. 

*)  Die  Schreine  von  Dcutz  und  Siegburg  bei  E.  aus'm  Weerth,  Rheinlands  Kiinst- 
denkmale,  IIl,  Taf.  XLIII  fif.,  vgl.  auch  Organ  für  christi  Kunst  1853,  Nro.  19  —  23, 


Niederrlieiiiisclie  Reliquienschreiue. 


623 


Dächst  den  Reliquienschrein  Karls  des  Grossen,  welcher  dem  beschriebenen 
Reliquiarium  des  Kölner  Domes  nur  wenig  nachsteht.  Seine  architek- 
tonischen Formen  sind  noch  rein  romanisch ,  ohne  Mischung  mit  Motiven 
des  Uebergangsstyls,  und  so  ist  es  wahrscheinlich,  dass  er  der  Zeit  Kaiser 
Friedrichs  I.  angehört,  der  im  Jahre  1166  die  Gebeine  Karls  des  Grossen 
in  demselben  niederlegte.     Indessen  findet  man  unter  den  acht  thronenden 

Fig.  145. 


fi^«- 


Schrein  der  h.  drei  Könige.     Dom  zu  Köln. 

Statuetten  deutscher  Kaiser  an  den  Langseiten  auch  die  Nachfolger  Barba- 
rossa's,  Heinrich  VI.,  wahrscheinlich  Philipp  von  Schwaben  und  endlich  auch 
Friedrich  II.  als  römischen  König,  so  dass  die  Vollendung  des  Schreines 
und  seine  endgültige  Aufstellung  sich  wohl  bis  zu  der  Zeit  des  Letzt- 
genannten, der  1215  nach  Aachen  kam,  verzögert  haben    mag^).     Weiter 


1855,  Nro.  19.  Notizen  über  diese  und  andere  Schreine  der  Rlieiulande  bei  Kuglet 
kl.  Sehr.  II,  328.  Der  Deckel  des  Schreins  in  Trier  publ.  in  den  Ann.  archeologiques, 
Bd.  XIX,  S.  225. 

1)  Dies  ist  die  Ansicht  von  E.  aus'm  Weerth  a.  a.  0.  S.  108  ff.,  welcher  das 
Kunstwerk  auf  T.fei  XXXVil  publicirt.  Vgl.  auch  Labarte,  Bd.  II,  S.  284  fl'.  und 
Album  I,  Taf.  XL VII. 


024  Metallarbeit. 

entwickelte  Formen  zeigt  der  schöne  Schrein,  welcher  die  grossen  Reliquien 
des  Münsters  zu  Aachen  bewahrt  und  zum  Unterschiede  von  dem  die  Ge- 
beine Karl's  des  Grossen  enthaltenden  nach  der  h.  Jungfrau  benannt  wird, 
Avahrscheinlich  bald  nach  dem  Jahre  1220  begonnen^).  Seine  Architektonik 
gehört  zwar  noch  gewissermaassen  dem  Uebergangsstyle  an,  aber  ihre  auf 
verzierten  Säulen  ruhenden  Kleeblattbögen  sind  doch  schon  von  Spitzgiebeln 
mitBlattwerk  bekrönt,  dessen  Behandlung  sich  der  Gothik  nähert.  Im  übrigen 
Deutschland  sind  solche  Reliquiarien  seltener.  Westphalen  besitzt  noch 
mehrere,  namentlich  zwei  sehr  ausgezeichnete  im  Dome  zu  Osnabrück  ^),  der 
Dom  zu  Hildesheim  den  prachtvollen,  am  Anfange  dieser  Epoche  gefertigten 
Schrein  des  h.  Godehard.  Weiter  östlich  sind  mir  keine  aus  dieser  Epoche 
bekannt^),  selbst  der  der  h.  Elisabeth  zu  Marburg  scheint  erst  aus  dem 
vierzehnten  Jahrhundert  zu  stammen. 

Da  die  Aufgabe  hier  geradezu  die  Nachahmung  eines  kirchlichen  Ge- 
bäudes forderte,  so  lag  es  nahe,  sich  an  den  herrschenden  Baustyl  dieser 
Zeit  anzuschliessen.  Dennoch  behielt  man  auch  hier  noch  lange  völlig 
romanische  Formen  bei,  halbkreisförmige  oder  auch  kleeblattförmige  Bögen, 
verzierte  Säulenstämme,  korinthisirende  Kapitale.  So  an  dem  schönen 
Schrein  des  h.  Eleutherius  in  der  Kathedrale  zu  Tournay,  obgleich  er 
im  Jahre  1247  aufgestellt  wurde,  wo  man  schon  den  Ausbau  des  Chores  im 
reichsten  gothischen  Styl  begonnen  hatte  ^),  und  selbst  an  der  erst  gegen 
das  Jahr  1264  verfertigten  Reliquienkiste  des  h.  Swibertus  in  der  Stifts- 
kirche zu  Kaiserswerth  *''). 

Die  Bedeutung  dieser  Monumente  besteht  hauptsächlich  in  der  ein- 
fachen, architektonischen  Anordnung  und  in  der  geschmackvollen,  würdigen 
Pracht  des  Schmuckes,  namentlich  in  dem  Farben  Wechsel  des  Emails  und 
in  der  Zeichnung  der  Friese.  Die  schwierige  Technik  gestattete  nicht,  dass 
feinere  künstlerische  Empfindungen  Ausdruck  fanden,  sie  sind  mehr  Zeug- 
nisse fleissiger ,  handwerksmässiger  Arbeit  und  des  frommen  Sinnes ,  der  zur 


1)  Cahier,  Melanges  d'Archeologie  Vol.  I,  deutet  eine  Urkunde  Kaiser  Friedrich's  II. 
von  diesem  Jahre,  in  der  einer  Capsa  der  heiligen  Jungfrau  erwähnt  wird,  auf  diesen 
Schrein.  Vgl.  übrigens  daselbst  die  vortrefflichen  Abbildungen.  —  E.  aus'm  Weerth, 
a.  a.  0,  S.  103  ff.,  Taf.  XXXVI;  Labarte,  II,  S.  287. 

2)  Lübke,  Westphalen,  S.  405. 

8)  lieber  Goldschmiedsarbeiten  in  Bayern,  besonders  in  Regensburg  ,  vgl.  Sighart, 
a.  a.  0.,  S.  260,  337. 

*)  Le  Maistre  d'Amstaing  in  den  Annales  arclieol.  III,  p.  113,  mit  Abbildung; 
vgl.  Anhales  archeol.  XIII,  p.  113,  XIV,  p,  lU;  Labarte,  a.  a.  0.  II,  289- 

•')  Vgl.  Organ  für  christl.  Kunst  1852,  S.  18,  1853,  S.  78.  In  dem  angegebenen 
Jahre  erfolgte  die  feierliche  Niederlegung  der  Reliquien. —^  E.  aus'm  Weerth,  S.  44  f., 
Tafel  XXX. 


Güldschmiedekunst  am  Niederrhein.  625 

Ehre  des  Heiligen  das  Kostbarste  zu  häufen  bestrebt  war.  Namentlich 
sind  auf  den  älteren  Schreinen  die  sitzenden  Figuren  meist  schwerfällig;  die 
Köpfe  ausdruckslos.  Allmälig  besserte  sich  zwar  die  Technik,  an  dem 
Schreine  zu  Tournay  von  1247  finden  wir  schon  Gestalten  von  grosser 
Schönheit  und  freier  Bewegung,  und  auch  an  denen  von  Aachen  zeigt  sich 
in  der  schlanken  Haltung  und  volleren  Gewandung  der  einzelnen  Figuren 
und  in  der  Anordnung  der  historischen  Reliefs  der  günstige  Einfluss  des 
neuen  Styles;  obgleich  auch  hier  die  Arbeit  der  Goldschmiede  hinter  der 
Steinsculptur  zurückblieb  und  älteren  Traditionen  folgte.  Günstiger  war 
der  Einfluss  des  gothischen  Styles  auf  die  Ornamentik ,  obgleich  sie  in  ge- 
wissen Beziehungen  romanische  Elemente  festhielt,  namentlich  kommt  nun 
eine  überaus  zierliche  Filigranarbeit  auf,  welche  bald  die  Innenseiten  der 
Bögen,  bald  die  Kanten  der  Giebel  und  des  Daches  schmückt,  und  offenbar 
auf  einer  Verbindung  der  Principien  gothischen  Maasswerkes  mit  dem  volleren 
Schwünge  der  romanischen  Arabeske  beruhet.  Von  höchster  Schönheit  ist 
diese  Filigranarbeit  an  dem  Schreine  von  Aachen,  und  zwar  gerade  weil  sie 
jenes  romanische  Stylgefühl  lebendiger  bewahrt  hat. 

Die  Werke  dieser  niederrheinischen  Meister  wurden  nahe  und  fern 
geschätzt  und  die  Künstler  fanden  in  den  fernsten  Ländern  Beschäftigung. 
Lorenzo  Ghiberti  erwähnt  in  seinen  Aufzeichnungen  einen  Goldschmied  von 
Köln,  der  im  14.  Jahrhundert  durch  einen  Herzog  von  Anjou  nach  Italien 
geführt  wurde  und  dort  eine  Reihe  vorzüglicher  Arbeiten  für  diesen  Fürsten 
ausführte.  Derselben  Schule  gehören  die  Werke  dieses  Kunstzweiges  an, 
welche  in  den  Niederlanden  zu  finden  sind,  wo  eine  selbständige  Aus- 
bildung der  Goldschmiedekunst  erst  vom  Ende  des  13.  Jahrhunderts  an 
nachweisbar  ist;  ausser  dem  erwähnten  Schrein  des  heiligen  Eleutherius  zu 
Tournay  ein  aus  dem  zwölften  Jahrhundert  stammender  in  St.  Servals  in 
Maestricht,  mit  strenger,  fast  byzantinisirender  Zeichnung  der  Figuren^)  und 
noch  ein  ähnlicher  im  Museum  zu  Brüssel.  Vom  Rhein  stammt  wohl  auch 
jener  Bruder  Hugo,  Mönch  zu  Oignies,  der  sich  auf  den  verschiedenen, 
jetzt  im  Nonnenkloster  zu  Naniur  bewahrten  Werken,  auf  dem  Einbände 
eines  Evangeliariums ,  auf  einem  Kelche  und  auf  einem  sehr  eigenthümlich 
gestalteten  Reliquiarium  als  Verfertiger  nennt  und,  wie  die  Pergamentschrift 
des  Reliquiariums  ergiebt,  um  1228  arbeitete  2). 

Auch  zwei  meisterhafte  Goldschmiedsarbeiten,  welche  sich  zuSt.  Omer 


^)  Vgl.  meine  Niederländischen  Briefe  S.  536.  —  Hist.  de  la  chässe  de  St. 
Servais,  par.  Alex.  Schaepkens,  Gand  1849  (Abdruck  aus  dem  Messager  des  sciences 
historiques). 

^)    Vgl.  Cahier  und  Martin,  Meianges  d'ArcheoIogie,  Vol.  I.  (mit  einer  Abbildung 
des  Reliquiariums),  und  Annal.  Archeol.  V,  p.  318.  —  Labarte,  II,  S.  291  tf, 
Schnaa.so's  Kunstgescb.    2.  Aofl.     V.  40 


626 


Metallarbeit. 


in  nördlichen  Frankreich  befinden^  sind  Arbeiten  dieser  Schule.  Das 
städtische  Museum  bewahrt  einen  noch  dem  12.  Jahrhundert  angehörigen 
Kreuzesfuss  aus  der  Abtei  St.  Bert  in,  in  Gestalt  eines  Pilasters  mit  Dar- 
stellungen aus  dem  alten  Testament  in  Email  auf  den  Flächen,  während  am 
Fusse  die  vier  Evangelisten,  schon  sehr  bewegt  und  frei  in  der  Auffassung 
und  an  dem  Kapital  die  vier  Elemente  in  plastischer  Ausführung  angebracht 
sind^).  Die  dortige  Kirche  Notre-Dame  besitzt  in  dem  Reliquiarium  aus 
der  Abtei  Clairmarais,  das  die  Gestalt  eines  Doppelkreuzes  und  Niello- 
Darstellungen  auf  der  Rückseite  hat,  ein  Werk  der  gleichen  Zeit 2). 

In  derselben  Epoche,  in  Avelcher  in  Frankreich  der  grossartige  Auf- 
schwung der  Architektur,  die  Entwickelung  des  gothischen  Styls  begonnen, 
stand  man  in  der  Goldschmiedekunst  dort  noch  wesentlich  unter  dem  Ein- 
flüsse Deutschlands  und  bezog  aus  diesem  den  künstlerischen  Bedarf-^). 
"Welchen  Werth  man  auf  solche  Gegenstände  legte,  beweist  vor  allem  das 
Beispiel  des  Abtes  Suger  von  St.  Denis,  dessen  Aufzeichnungen^)  auch  in 
dieser  Beziehung  von  Wichtigkeit  sind.  In  lebhaftem  Gegensatze  zu  der 
strengen  Censur,  welche  der  heilige  Bernhard  gegen  den  Prunk  des  Cultus 
übte,  wollte  er  das  Kostbarste  zum  Dienste  des  Herrn  heranziehen  und 
sorgte  ununterbrochen  für  die  Ausstattung  seiner  Abteikirche,  deren  Bau 
er  betrieb.  Von  den  Metallarbeiten,  die  er  hervorrief,  haben  wir  freilich 
meistens  nur  noch  schriftliche  Nachricht.  Er  Hess  seine  Kirche  mit  erz- 
beschlagenen Thüren  schmücken,  er  berief  (um  das  Jahr  11 44)  Goldschmiede  aus 
Lothringen,  also  aus  derselben  Gegend,  in  welcher  Nicolaus  von  Verdun, 
der  Meister  des  Altars  von  Klosterneuburg,  zu  Hause  war,  besonders  um 
einen  grossartigen  Untersatz  für  ein  Kreuz  zu  arbeiten,  den  man  sich  wohl 
nach  Art  desjenigen  aus  St.  Bertin  denken  muss^),  dann  liess  er  Seiten-  und 
Rückflächen  des  Hochaltars  mit  goldenen  Relieftafeln  bekleiden,  endlich  ent- 
stand ein  Schrein  des  heiligen  Dionysius  und  seiner  Gefährten  von  ähnlicher 
Gestalt  wie  der  Kasten  der  heiligen  drei  Könige  in  Köln. 

Mochten  auch  die  Verfertiger   dieser  kostbaren  Arbeiten  grossentheils 
Fremde  sein,  so  übten  doch  allraälig  diese  Vorbilder  eine  lebhafte  Wirkung, 
auf  die  einheimische  Goldschmiedekunst  in  Frankreich  aus,  und  wir  finden 


1)  Abgeb.  in  Didron's  Annales  arclieologiques,  Vol.  XVIII,   S.  1  fF.,  mit   vier  Taf. 
Vgl.  Laharte,  II  S.  237. 

2)  Ann.  archeologiques,  Bd.  XIV,  S,  285  und  378  mit  Abbildungen,  und  Bd.  XV, 
S.  1.  —  Labarte  II,  S.  239. 

•')  Labarte,  II  S.  244  ff.,  294  tf.,  III,  S.  465  ff.,  613  ff.,  640  ff'. 
4)  Vgl.  oben  S.  33. 

ö)  Labarte  versucht  eine  Restauration  nach  der  Beschreibung,  Album  I,  Holzschnitt 
im  Text  zu  Taf.  XLVI. 


Email  von  Limoges.  627 

bald  in  verschiedenen  Theilen  des  Landes  die  Spuren  ihres  selbständigeren 
Betriebes.  Zu  den  frühesten  grösseren  Denkmälern  gehörte  das  Grabmal 
Heinrichs  I.  Grafen  der  Champagne,  gestorben  1181,  im  Chor  der 
Kirche  des  h.  Stephan  zu  Troyes,  Das  lebensgrosse  vergoldete  Bronze- 
biki,  von  dem  noch  eine  Zeichnung  bewahrt  wird,  ruhte  unter  einem  Arcaden- 
Ealdachin  und  auf  einem  Sockel,  der  mit  figürlicher  und  ornamentaler  Plastik 
sowie  mit  emaillirten  Platten  geschmückt  war.  Aehnlich  war  das  etwas 
spätere  Grabmal  seines  Sohnes  Graf  Thibault's  III.  (gestorben  1201), 
und  Bruchstücke  der  Emaillen  von  beiden  Werken  werden  noch  im  Schatz 
-der  dortigen  Kathedrale  bewahrt  i).  In  Paris  stand  die  Goldschmiedekunst 
seit  dem  13.  Jahrhundert  in  Blüthe,  hier  wurden  die  kostbaren  Kirchen- 
geräthe  für  die  Kathedrale  Notre-Dame  und  für  die  Sainte-Chapelle  gefertigt, 
im  Jahre  1292  weist  die  Steuerrolle  hier  116  Goldschmiede  auf;  inAuxerre, 
Arras,  Montpellier,  Avignon  nahm  dies  Handwerk  einen  grossen  Aufschwung, 
ganz  besonders  aber  bildete  es  sich  in  einer  der  bedeutendsten  Städte  Aqui- 
taniens,  in  Limoges,  aus,  die  in  der  Email-Arbeit  bald  einen  Weltruhm 
errang.  Freilich  haben  die  neueren  Forschungen  dargethan,  dass  der  Nieder- 
rhein in  dieser  Hinsicht  der  Limusiner  Schule  voranging,  in  welcher  vor 
den  letzten  Jahrzehnten  des  zwölften  Jahrhunderts  keine  Spuren  der  Email- 
fabrication  nachweisbar  sind  ^).  Irrthümlich  wurde  bisher  einigen  erhaltenen 
Limusiner  Arbeiten  ein  früheres  Alter  zugesprochen,  wie  zum  Beispiel  einer 
schönen  emaillirten  Platte  in  dem  Museum  zu  le  Mans,  welche  aus  der 
•dortigen  Kathedrale  stammt  und  eine  ritterliche  Gestalt  in  halber  Lebens- 
grosse mit  dem  Wappen  des  Hauses  Anjou  enthält.  Man  glaubte  früher  in 
ihr  das  einst  daselbst  befindliche  Monument  des  Gottfried  Plantagen  et 
(t  llfil)  zu  sehen,  obwohl  dasselbe  nach  glaubwürdigen  Nachrichten  Ende 
des  16.  Jahrhunderts  von  den  Hugenotten  zerstört  wurde  und  seine  älteren 
Beschreibungen  mit  dieser  Platte  nicht  übereinstimmen.  Diese  stellt  viel- 
mehr seinen  Sohn,  König  Heinrich  H.  von  England,  Grafen  vonAnjon, 
dar,  der  1189  starb  ^).  Zu  den  ältesten  Proben  des  Limusiner  Email  ge- 
hören ferner  einige  aus  der  Abtei  Grandmont  bei  Limoges  stammende  Frag- 
mente im  Museum  des  Hotel  de  Cluny  zu  Paris;  das  eine  stellt  den  heiligen 
Stephan  von  Muret  vor,  der  mit  dem  heiligen  Nicolaus  redet,  und  diese 
Platten   rühren  von  dem  Reliquien  Schreine  des    ersteren,   canonisirt  1189, 


1)  Didron,    Ann.    archeol.    Vol.  XX,    Tresor    de  Sf.  Elienne    de  Troyes    mit    Ab- 
bildungen. 

2)  Labarie,  III  S.  640  ff.,  und  besonders  S.  662  ff. 

3)  Die  Inschrift,  welche  auf  ihn  noch  mehr  als  auf  seinen  Vater  passt,  lautet: 

Ense  tuo,  princeps,  predonum  turba  fugatur, 
Ecclesiisque  quies,    pace  vigente,  datur. 


628 


Metallarbeit. 


her,  so  dass  sie  auch  nicht  früher  entstanden  sein  können^).  Unter  den; 
Reliquienschreinen  französischer  Arbeit  gehören  die  meisten  erst  dem  drei- 
zehnten Jahrhundert  an,  wie  der  schöne  aus  der  Abtei Mauzac  inAuvergne 
stammende  Kasten,  welcher  mit  der  Sammlung  Soltykoff  versteigert  wurde; 
dann  der  leider  seiner  Statuetten  beraubte  Schrein  der  heiligen  Julia  in 
der  Pfarrkirche  zu  Jouarre,  auf  Geheiss  der  Aebtissin  Eustachia  TL 
(1208  —  1220)  gefertigt,  mit  den  ersten  Spuren  gothischer  Motive 2)  end- 
lich der  Schrein  des  heiligen  Taurinus  in  der  Kathedrale  von  Evreux, 
welcher  von  den  Abte  Gilbertus  zu  St.  Taurin  (1240  —  1265)  aufgestellt 
wurde.  Dieses  Werk  hat  bereits  das  Aussehen  einer  kleinen  gothischen 
Kapelle.  Zwar  ruhen  auch  hier  noch  die  Bögen  auf  reichverzierten  Säulen 
und  die  Laubgewinde  des  Frieses  so  wie  die  Emailmalereien  haben  noch 
romanischen  Charakter,  aber  die  schlanken  Spitzbögen,  welche  die  Bild- 
felder bedachen,  und  die  Strebepfeiler,  welche  sie  trennen  und  mit  Fialen 
über  das  Dach  hinaufsteigen,  sind  schon  der  gothischen  Architektur  ent- 
lehnt. Der  Einfluss  des  neuen  Styls  offenbart  sich  gleichzeitig  auch  an 
den  Figuren,  obwohl  die  steife  Haltung  der  langen  Gestalten,  die  dünnen, 
vorgebogenen  Hälse,  die  heftigen  Bewegungen,  die  noch  immer  gehäuften 
Falten  mehr  den  Miniaturen  vom  Anfange  des  Jahrhunderts,  als  der  gleich- 
zeitigen architektonischen  Sculptur  entsprechen-^). 

Was  der  Schule  von  Limoges  in  der  Folge  eine  so  grosse  Bedeutung 
gewährte,  war  namentlich  auch  die  grosse  Mannigfaltigkeit  ihrer  Arbeiten, 
in  welchen  sie  sich  nicht  auf  einzelne  Prachtstücke  für  Kirchenschätze  und 
für  den  Gebrauch  des  Cultus  beschränkte ,  sondern  ebenso  sehr  auch  dem 
weltlichen  Luxus  entgegenkam.  Neben  den  Leistungen  auf  dem  Felde  der 
Kleinkunst  wagte  sie  sich  aber  auch  an  grössere  Unternehmungen,  wie  an 
den  grossen  Altar  der  Abtei  Grandmont,  von  dem  wir  uns  nur  noch  durch 
Beschreibungen  einen  Begriff  machen  können,  und  es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  dass  die  prachtvollen,  lebensgrossen ,  mit  emaillirten  Kupferplat^ten 
belegten  Grabmäler,  welche  im  dreizehnten  Jahrhundert  im  nördlichen  Frank- 
reich beliebt  und  von  denen  vor  der  Revolution  noch  zwölf  erhalten  waren  "*), 
aus  Limoges  herkamen.  Die  beiden  einzigen,  welche  davon  noch  übrig  sind,  die 
des  Prinzen  Johannund  derPrinzessinBlanche  frühverstorbener  Kinder 
Ludwig'sIX.,  ehemals  inRoyaumont,  jetzt  in  St.  Denis,  erwecken  übrigens. 


')  Publicationen  anderer  Emaillen  der  Zeit  aus  Limoges  bei  Labarte,  II  Taf.  CX  — 
CXIL 

2)  Ann.  archeol.  VIII,  S.  136,  260,  295. 

5)  Cahier  und  Martin,  Melanges  d'Archeologic,  1851,  Vol.  II,  S.  1  u.  Taf.  I— III,, 
wiederum  mit  vortrefflichen  Publicationen. 

*)  Vgl.  L.  de  Laborde  Notice  des  emaux  (1852).  I.  S.  59. 


Goldschmiedekunst  in  England.  ß29 

abgesehen  von  der  Pracht  der  Emailfarben,  durch  die  rohe  Behandlung  der 
Form ,  im  Vergleich  mit  der  Schönheit  der  gleichzeitigen  Steindenkmäler 
eine  ungünstige  Vorstellung  von  dem  Geschick  der  französischen  Metall- 
arbeiter. Jedenfalls  ist  von  dem  ursprünglichen  Reichthum  der  französischen 
Kirchen  ^)  nach  den  systematischen  Verheerungen  der  Revolution  zu  wenig 
übrig  geblieben,  um  uns  ein  Urtheil  über  die  Leistungen  der  französischen 
Kunst  in  diesen  Zweigen  zu  gestatten. 

In  England  ist  äusserst  wenig  von  Goldschmiedsarbeiten  erhalten ; 
wohl  wurde  diese  Kunst  auch  hier  während  des  zwölften  und  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  in  Klöstern,  z.  B.  in  den  Abteien  St.  Albans  und  Gloucester 
betrieben 2),  und  die  Schilderung  des  grossen,  an  Bildwerk  reichen  Altar- 
kreuzes, welches  Bischof  Richard  von  Gravesende  gegen  Ende  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  für  seine  Kirche  bestellte  %  zeigt,  an  welche  Arbeiten 
man  sich  wagte.  Daneben  bediente  man  sich  aber  auch  fremder  Arbeiter; 
der  rheinischen  Schule  gehört  ein  im  britischen  Museum  zu  London  befind- 
liches Medaillon  mit  einer  auf  England  bezüglichen  Inschrift  und  dem  Bild- 
niss  Heinrichs  von  Blois,  Bischofs  von  Winchester  (1139  —  1146)  an,  so 
dass  es  also  auf  englische  Bestellung  geliefert  ist.  Später  wurden  Emails 
aus  Limoges  bezogen ,  wie  sich  dies  an  dem  oben  erwähnten  Denkmal 
des  William  von  Valence  (f  1296)  schon  aus  der  Technik  ergab*). 
Während  die  Broncebilder  Heinrichs  HI.  und  der  Königin  Eleonore, 
wie  wir  oben  sahen  ^),  wahrscheinlich  von  einem  Italiener  gefertigt  waren, 
werden  in  vielen  Urkunden  die  Emails  schlechthin  als  Arbeit  aus  Limoges 
(opus  Lemovicinum)  bezeichnet.  Ueberdies  wissen  wir  in  Beziehung  auf 
das  Grab  des  Bischofs  von  Rochester  Walthers  von  Morton  (f  1276)  durch 
die  noch  erhaltene  Rechnung  der  Testamentsexekutoren ,  dass  diese  nicht 
bloss  die  Emails,  sondern  auch  einen  Meister  Johannes  von  dortherkommen 
Hessen,  um  sie  zusammenzusetzen^). 


^)  Der  Abbe  Texicr  liat  ermittelt,  dass  sicli  in  der  Abtei  Grandmont  noch  im 
Jahre  1787  mehr  als  50  und  nach  den  Invenlarien  der  Kirciien  zu  Limog-es  in  dieser 
einzigen  Sladt  438  meist  emaillirte  Reliquiarien  'befanden.  Allerdings  werden  die 
übrigen  Provinzen  nicht  so  reich  gewesen  sein  wie  diese  Heimath  der  Metallarbeit, 
indessen  ist  jedenfalls  die  grosse  Armuth  Frankreichs  an  solchen  Schätzen  haupt- 
sächlich dem  Umstände  zuzuschreiben,  dass  die  Convents-Commissarien  des  Jahres  1793 
es  sich  zur  Autgabe  gestellt  halten,  die  Kirchen  alles  Metalls  zu  berauben,  um  es  zu 
verkaufen  oder  in  die  Mi'inze  zu  schicken. 

2)  Matlh.  Paris,  Vit.  Abb.     S.  Albani,  S.  71,  78  ff. 

•"'j  Monasl.  Angl.  III,  S.  311. 

4)  S.  602. 

*)  S.  601. 

*j  Die  Urkunde  befindet  sich  in  der  Bodleyanischeii   Bibliothek  zu  Oxford    und    ist 


630 


Metallarbeit. 


Neben  dem  feineren  Handwerk  der  Goldschmiede  muss  ich  zum  Be- 
schlüsse auch  noch  der  Schlosser  und  Schmiede  gedenken,  da  gerade  diese 
gröberen  Arbeiten  den  auffallendsten  Beweis  für  die  Verbreitung  des  Ge- 
schmackes und  Stylgefühles  in  dieser  Zeit  geben  ^).  Besonders  äussert  sich 
dies  an  den  Thürbeschlägen.  Die  früheren  Jahrhunderte  hatten  nach 
der  stolzen  Pracht  eherner  Thüren  gestrebt,  der  gothische  Styl  begnügte 
sich  auch  hier  wie  in  anderen  Beziehungen  mit  minder  kostbarem  Stoffe, 
wusste  ihm  aber  durch  die  Form  einen  Werth  zu  geben.  Kr  setzte  die 
Flügel  seiner  weit  geöffneten  Thore  auch  an  den  reichsten  Domen  aus 
schlichten,  senkrecht  gestellten  Eichenbohlen  zusammen,  verband  diese  aber 
durch  eiserne  Bänder,  welche  auf  beiden  Flügeln  symmetrisch  in  Ranken 
und  Blattwerk  auslaufen ,  von  regelmässig  gestalteten  Nägeln  befestigt  sind 
und  durch  die  Zeichnung  und  die  stylgemässe,  sorgfältige  Ausführung  eine 
wahre  Zierde  des  Aeusseren  bilden.  Oft  sind  dabei  die  feineren  Umrisse 
des  Blattwerkes  eingegraben,  die  weichen  Theile  herausgetrieben  und  ge- 
baucht. In  gleicher  Weise  wurden  dann  die  Schlösser  mit  breiten  Platten, 
die  Schlüssel  mit  kunstreichen  Rankengewinden  oder  sogar  mit  Figuren  ge- 
schmückt -).  Die  meisten  künstlerischen  Schmiedearbeiten,  welche  wir  noch 
besitzen ,  finden  sich  im  Inneren  der  Kirchen  an  Gittern ,  Leuchtern  oder 
beweglichen  Armen  zum  Auf  hängen  vonGefässen,  und  gehören  dem  späteren 
Mittelalter  an,  indessen  sind  auch  einzelne  Thürbeichläge  erhalten.  So  in 
Deutschland  die  der  Kirche  zu  Boppard^)  aus  der  ersten  Hälfte  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts.  Die  Bänder  endigen  hier  mit  einfachen  Ranken 
ohne  weiteres  Blattwerk,  bilden  aber  dafür  in  joüor  der  ThürfüUungen  eine 
in  sich  abgeschlossene  Figur.  Bei  weitem  die  schönste  Arbeit  dieser  Art 
sind  aber  die  Beschläge  der  beiden  westlichen  Seitenportale  von  Notre- 
Dame  zu  Paris*),  an  denen  man  die  Mannigfaltigkeit  des  Blattwerkes,  die 


von  Albert  Way  in  der  Arcliaeologia    brit.    bekannt    gemacht.     Vgl.  Labarte,  a.  a.  0. 
II  [,  S.  702. 

1)  Vgl.  ViolIet-le-Duc,  Dict.  rais.  de  l'architecliire,  ßd.  VIII,  S.  288,  Artikel 
Serrurerie,  F.  Bock  über  Schlosserarbeit  an  Thüren  ,  in  den  Mittelaheriichen  Kunst- 
denkmalen des  österr.  Kaiserstaates,  Bd.  I.,  S.  141  fF. ,  Essenwein,  Eisenarbeiten  in 
Krakau,  Mittheilungen  der  Centralcommission,  II,  S.  305  f.  —  Herrn.  Riewel,  Studien 
über  Schmiede-  und  Schlosserarbeiten  in  Oesterreich,  Mittheilungen,  XV,  S.  39  —  88. 
mit  zahlreichen  Abbildungen. 

2)  Vgl.  den  mit  drei  männlichen  Gestalten  verzierten  Schlüssel  (in  der  Elisabeth- 
kirche zu  Marburg  aufbewahrt,  aber  wohl  älter  als  der  Bau)  bei  Becker  und  v.  Hefner 
a.  a.  0.  Taf.  64. 

3)  Gladbach,  Fortsetzung  von  MoUer's  Denkmälern,  Taf.  21. 

*)  Sie  sind  oft  abgebildet,  unter  anderem  in  Lecomte's  Monographie  de  N.  D. 
de  Paris,  in  den  Annales  archeol.  XII,  p.  51,  und  bei  v.  Hefuer-Alteneck,  Eisenwerke^ 
des  Mittelalters  und  der  Renaissance,  Frankfurt  1870,  Taf.  61  f. 


Schlosser  und  Schmiede.  631 

sinnreiche  Anordnung  der  wiederkehrenden  Ranken,  die  Festigkeit  der 
Umrisse  nicht  genug  hewuudern  kann.  Die  Phantasie  des  Meisters  hat 
sich  hier  sogar  einige  Male  mit  Glück  darin  versucht,  Vögel  in  den  Zweigen 
anzubringen.  Künstlerischer  Sinn  und  künstlerische  Freiheit  waren  selbst 
auf  die  Männer  übergegangen,  welche  den  schweren  Hammer  zu  schwingen 
und  das  spröde  Eisen  zu  schmieden  hatten.  Ein  weiteres  Beispiel,  wie 
sich  der  bildnerische  Sinn  bis  auf  die  unscheinbarsten  Dinge  erstreckte, 
giebt  ein  Waffeleisen  in  der  Sammlung  des  Hotel  de  Cluny,  an  welchem ,  in 
ganz  erträglichem  Style  anscheinend  aus  der  Mitte  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts, die  Trinität  und  Scenen  aus  dem  Leben  des  Heilandes  dargestellt 
sind  ^). 

So  sehen  wir  denn  die  Kunst  des  Mittelalters  nicht  als  das  Eigen- 
thum  weniger  vorzugsweise  begabter  und  sorgfältig  durchgebildeter  Genien, 
sondern  als  ein  Gemeingut  Aller,  die  irgendwie  für  höhere  Zwecke  mit- 
zuarbeiten berufen  waren,  in  ihren  höchsten  Leistungen  so  bescheiden,  dass 
die  Urheber  nicht  einmal  daran  gedacht  haben,  ihr  geistiges  Eigenthum  zu 
bezeichnen,  in  den  bescheidensten  Aufgaben  noch  so  rege,  dass  sie  auch 
ihnen  ein  individuelles  Leben  zu  leihen  wusste.  Man  hat  diese  Eigenschaft 
in  unseren  Tagen  oft  herausgehoben  und  die  Annäherung  an  das  Hand- 
werk als  ein  Heilmittel  für  die  Schwächen  unserer  künstlerischen  Zustände 
empfohlen.  Allein  ^so  nützlich  die  hierauf  gerichteten  Bestrebungen  sein 
mögen,  darf  man  doch  nicht  verkennen,  dass  jene  Erscheinung  im  Mittel- 
alter nicht  die  Ursache,  sondern  eine  Wirkung  der  Kunstblüthe  oder  ihrer 
tieferen  Gründe  war.  Die  Kunst  beruhte  nicht  auf  einer  höheren  Bildung 
oder  auf  genialen  Anschauungen ,  sondern  auf  der  allen  gemeinsamen  Reli- 
giosität, und  diese  Religiosiät  bestand  nicht  in  ascetischer  Weltentsagung 
oder  in  einseitiger  Schriftlehre  ,  sondern  in  der  frohen  Ueberzeugung  von 
dem  Einklänge  der  Schrift  mit  der  Offenbarung  Gottes  in  der  Natur,  von 
der  Einigung  beider  in  und  durch  die  Kirche.  Dies  freudige  Gefühl  durch- 
drang nicht  bloss  alle  Stände,  sondern  gab  ihnen  auch  Sinn  für  Ordnung, 
Symmetrie  und  Harmonie ,  und  erhob  sie  über  das  Gebiet  gemeiner  Nütz- 
lichkeit. Die  Kunst  hatte  eine  frohe  Botschaft  zu  verkünden ,  sie  war  ein 
Zeugniss  aller  für  alle;  daher  konnte  sie  anspruchslos  und  zugleich  muthig 
und  jugendfrisch  aus  dem  Handwerke  hervorgehen  und  selbst  die  härtesten 
Arbeiten  mit  ihrem  Geiste  durchdringen. 


^)  Annales  arch.  XIII,  p.  43,  86;  andere  Proben  ebenda,  Bd.  XIV,  Ferroniere  du 
moyen  age. 


Alphabetisches  Ortsregister 

der   im    V.    Bande    erwähnten    Kunstwerke. 


Ein  der  Seitenzahl  beigefügter  Stern  bedeutet  eine   in  den  Text  gedruckte  Abbildung; 
der  beigefügte  Buchstabe  n  verweist  auf  die  Anmerkungen. 


Aachen.     Dom,  Kronleuchter,  610 — 615,* 
Reliquiarien  622  fF.     Grashof  426  f. 

Agincourt.  Kirche.  69. 

Ahrweiler.  Kirche.  369  n.,  424  f.* 

Aigues-Mortes.  Mauern.  137  n. 

St.  Albans.  Abteikirche.  187  f. 

Albersloh  (Westphalen)  Kirche.  297. 

Allerheiligen  (Baden),  Klosterkirche.  383  f. 

Aipirsbach.    Klosterkirche.  279. 

Alsfeld  (Hessen).  Kirche.  376. 

Altbreisach.  Münster.  278. 

Altbunzlau.  St.  Wenzelskirche.  289. 

Alt-Camp.  s.  Campen. 

Altenberg  a.  d.  Lahn.  Kloster,  Sc.  596. 

Altenberg  bei  Köln,    Klosterkirche.    334, 
408,  420.  Glasmalerei  552. 

Altenstadt.  St.  Michaelskirche,  282  f. 

Altenzelle  (Sachsen).  Kirche.  226  f. 

Althoff  (Mecklenburg).      Kapelle  ,    Ziegel- 
mosaik.    564. 

Alvechurch.  Kirche.  'Sc.  601. 

Amelunxborn.  Klosterkirche.  321,  332. 

Amieus.      Kathedrale,    79, 
95  f.,  104,  406  ff.*     Sc. 

Andernach.  Kirche.  262  f. 

Angers.    Kathedrale.    160  f . , 
547,  Sc.  568. 

Arendsee  (Altmark).  Kirche, 


87*,    89  ft".* 
570,  572. 

,    Glasmalerei. 
308. 


Arnsburg  (Wetterau).  Klosterkirche.  331  f. 
Arnstadt  (Thüringen).     Liebfrauenk.     355. 
Aschatfenburg.  Stiftskirche.  Kreuzgang.  272. 
Ashboom.  Kirche.  196. 
Audenaerde  Kirche  Pamele,  166  f.  * 
Aufay.  Kirche.  126  n. 
Augsburg.  Dom,  Glasmalerei.   551. 
Antun.  Kathedrale.  154,Wandmalerei.  542. 
Auxerre.  Kathedrale.  93,  112. 

Bacharach,  St.  Peterskirche.  263  f. 
Balve  (Westphalen),  Kirche.  296. 
Bamberg.  Dom.  330  n.  345  ff.*,  354,  358, 
448.     Wandmalerei.     527.     Sc.   577, 
578*,  587*,  589,  595. 

Carmeliterkirche.    282. 

Bibliothek,  Miiiiat.  493. 
Barsinghausen.  Klosterkirche.  296  f. 
Basel.     Münster.  279,  349  f.  Sc.  580. 
Battenfeld  (Hessen),  Kirche.  268, 
Bayeux.  Kathedrale.  132. 

Capelle  des  Seminars.   133. 
Beancaire.  Schloss.  137  n. 
Beauport  (Bretagne).  Kirche.   143. 

Kapitelhans.    143. 
Beauvais.  Kathedrale.  80.  416. 

St.   Etienne.  32. 
Bebenhausen.  Klosterkirche,  321. 


Alphabetisches  Ortsregister. 


633 


Belsen  (Würteniberg).  Kirche.  279. 
Benabec  (Normandie).    Kirche    St.    ürsule, 

126  n. 
Bergen  (Rügen).  Kirche.  311. 
Berlin,  Klosterkirche.  471  f.* 

Nicolaikirche.  305.  —  Kelch.  619  n. 

Kgl.  Bibliothek,  Miuiat.  495  (2). 
Beme  (01denbi]rg\  464. 
Bertancourt-les-Dames.  Abteik.,  Sc.  568. 
Beverley.     Münster.    193  ff.  *,    199,    204, 

209,  Sc.  607. 
B^ziers  (Lauguedoc).  Kathedrale.  138  f. 
Biburg  (Bayern).  Kirche.  279. 
Billerbeck.  St.  Johannes-Kirche.  293,  295, 

298. 
Binham.  Prioratskirche.  208. 
Bocherville.  St.  Georges,  Kapitelhaus.  126. 
Boke  (Westphalen).  Kirche.  292. 
Böle  (Westphalen).  Kirche.  292. 
Bommel.  St.  Martinskirche.  463  n. 
Bonn.  Münster.  246  f.,    264  f.,  358. 

Kapelle  Aon  Ramersdorf,  244*,  259  f.* 

Museum,  Mosaik.   561. 
Boppard.        Kirche.    263,  363   n.,     Tliür- 

beschläge.  630. 
Bordeatix.   Kathedrale.    152  f. 

Kirche  St.  Croix.    145  f. 

Kirche  St.  Emiliou,  Wandmalerei.    542. 

Kirche  St.  Severin.  153.  Sc.  576. 
Botzen.   Pfarrkirche.  351  n. 
Bonrges.  Kathedrale,  87  f.,  94,  408,  (üas- 

malerei.  549.  Sc.  568. 
Braine.  St.  Wed.  77  f.*,  367 ff.* 
Brakel  (Westphalen).  Kirche.  292 
Brandenburg,  Dom.   306  f. 

Godehardskirche.  305. 

Ehemalige  Marienkircha   auf    dem  Har- 
lunger  Berge.  309  f.  =t 

Nicolaikirche.  306  f. 
Brannschweig.  Dom.   234  —  236.     Wand- 
malerei. 523  ff.  Sc.  590  n.  594. 

St.  Aegidien.   442  f. 

St.  Andreas.  236- 

St.  Gallus.  236. 

St.  Katharina.  236. 

St.  Martin.  236. 

Marktplatz,  eherner  Löwe.  609. 
Brauweiler,  Abteikirche.    258.     Wandge- 


mälde.   512  f.*,  Kapitelsaal,    Wand- 
gemälde ,  510  ff.  * 
Breisach  s.  Altbreisach. 
Bremen.  Dom.    300. 

Brenz  (Würteniberg).  Kirche.  279.  Sc.  580. 
Breslau.  Dom.    473. 

Dominikanerkirche.    473. 

Kreuzkirche.  473  f.  Sc.  595. 

St.  Maria-Magdalenenkirche,  Portal.  288. 

Martiuikirche.  474. 

Bibliothek,  Miniat.  490. 
Brie-sur-Yeres    Hospital.    114. 
Bristol.  Kathedrale,  Kapiteihaus.  173,  196, 

212. 
Broadwater.  Kirche.  330  n. 
Broissac.    Kirche.  144  n. 
Bromskirchen  (Hessen).   Kirche.  268. 
Bronnbach.  Klosterkirche.   322  ff-  * 
Bruel  (Mecklenburg).  Kirche.  310. 
Brügge.  Liebfrauenkirche.  170. 
Brüssel.    Kathedrale    St.    Gudula.    169   f., 
Glasmalerei.  550  u. 

Kirche  N.  D    de  la  Chapelle.    166.* 

Museum,  Reliquiarium.  625. 
Buchholz  (bei  Trier).    Kirche,  W'eihrauch- 

gefäss.  616. 
Bücken  a.  d.  Weser.     Stiftskirche,    Glas- 
malerei. 551. 
Buildwas.  Abteikirche.  175. 
Eures  (Normandie).  Kirche.   126  ". 
Byland.  Abteikirche.   176. 


Caen.  St.  Etienne,  81  f.,  128  ff.  * 

Sl.  Trinite.   81  f. 
Cambray.  Kathedrale.  46,  112. 
Cammin.  Dom.  311,  475. 
Campen.  Klosterkirche.  320. 
Canterbury.Kathedrale.  173*,  179—185* 
198.     Glasmalerei.    554.     Fussboden- 
mosaik.  561. 

Kapitelhaus.  212. 
Carcassone.  Abteikirche  St.  Nazaire.  138  f.* 

Befestigungen.  137  n. 
Garden  (Mosel),  Stiftskirche.  371. 
Carlisle.  Kathedrale.   208  n. 
Cartmel.  Abteikirche,    176. 
Casamari  bei  Veroli.  Klosterkirche.  326. 
Chalgrave  Church.  Wandmalerei.  541  u. 


634 


Alphabetisches  Ortsregister. 


Chälons  -  s.  -  M.     Kathedrale.      112.     Glas- 
malerei.   549. 
Notre-Dame.   43,  47;  50-53*,  67,  81. 

Champagne.  Kirche.  69. 

Champeau.  Kirche.   69. 

Chartres.  Kathedrale  N.  D.  37  —  39,  65, 
79  _  87* ,  89  ff.  Wandmalerei.  542. 
Glasmalerei.  549.  Labyrinth.  565. 
Sculpturen.  567,*  572.* 
St.  Pere,  Klosterkirche.  32.  Glasma- 
lerei.   547. 

Chaudes  bei  Saumur.  Sc.  573. 

ehester.  Klosterkirche  St.  John.    195. 

Chichester.  Kathedrale.  186  f.  204. 

Chorin.  Klosterkirche.   468  ff.* 

Chur.  Dom.   351. 

Citeaux.  Klosterkirche.   318. 

Clairvaux  Klosterkirche.    318  f. 

Clermont-Ferrand.  Kathedrale.    140,  408. 
Glasmalerei.   549. 

Cliiny.  Abteikirche.   81. 
Bürgerhäuser.    156  n. 

Coblenz.  St.  Castor  257.  "Wandmalerei.  515. 
Dominikanerkirche.   372. 
Gymnasialbibliothek,  Miniat.  499. 

Colbatz  (Pommern),  Klosterkirche.  311, 
335,    475. 

Colmar.  Münster.  393. 

Conques.    Abteikirche.  82. 

Conradsburg.  Klosterkirche.  240. 

Constanz.  Dom,  Sc.  590  n. 

Coucy.  Schloss.  114. 

Coutances.  Kathedrale.  132  f. 

Croyland.  Abteikirche,  Sc.  606. 

Darmstadt.  Musevim,  Glasmalerei.  552. 

Delbrück.   Kirche.  292. 

St.  Denis.  Abteikirche.  33— 36,  94  f.  Glas- 
malerei. 546  f.  Mosaik.  562.  Sc.  567 
568  f.,  570,  571.  Grabplatten.  628  f. 

Denkendorf  (Würtemberg),  Kirche.  279. 

Derne  (bei  Dortmund),  Kirche.    295. 

Deutsch-Altenburg.  Karner.  284. 

Deutz.  Kirche.  Reiiquiar  622. 

Deventer.  St.  Nicolaus,  S.  462. 

Diesdorf.  Kirche.   308. 

Diest  (Belgien).  Kirche.    170, 

Dijon.  Kirche  N.  D.  155  f.  Glasmalerei.  550. 

Dinant.  Kirche.    170 


Doberan    Kirche,  Ziegelmosaik.  564. 

Dobrilugk.  Klosterkirche.   307,  335. 

Dol.  Kathedrale.  143. 

Domblainville,  Kirche.    134. 

Dorat.  Collegiatkirche.    151  f. 

Dortmund.  Marienkirche.    292. 

Dresden.  Vaterl.  Museum,  Ziegelmosaik. 
564.    Sc.  586. 

Durham.  Kathedrale.  186,  200.  Wand- 
malerei. 541  n.  Sc.  601  n. 

Eberbach  (Rheingau).    Klosterkirche.    326. 
Ebrach  (Franken).  Klosterk.  330  f.,  448. 
Ebsdorf.  Kirche.  465. 
Eger.  Schlosskapelle.  232. 
Eichstädt.  Dom.  448. 
Eisenach.  Nicolaikirche.  226. 
Eldena.   Klosterkirche.    311,  335. 
Ellwangen.  Kirche.   279. 
Elsey  (Westphalen),  Kirche,  297. 
Ely.  Kathedrale,  174,   188,  196,  207.  Mo- 
saik. 563.  Sc.  597  n. 
Enkenbach,  Klosterkirche.    269. 
Enniger  (Westphalen),   Kirche.  296. 
Erfurt.  Dom,  Kreuzgang.  439  f. 

Barfüsserkirche.  441. 

Predigerkirche.  441. 

Severistiftskirche.  441  f. 

Kirche  auf  dem  Petersberge.  225  f. 
Erpel  (Rhein).  264. 

l'Espan  bei  Mans.  Abteik.  Grabm.  570. 
Esslingen.  Dionysiuskirche.  443. 

Dominikanerkirche.  443. 

Franziskanerkirche.  443. 
Eu.   Abteikirche.  71.  127  f. 
Eusserthal.  Klosterkirche.  327. 
Evreux.  Kathedrale.  Reliquiarium.  628. 
Exeter.  Kathedrale.  Capitelhaus.  212. 
Faurndau.  Kirche  279.  Sc.  580. 

F6camp  (Normandie).      Abteikirche.  126  n. 

127. 
Ferrieres.  Kirche.  69,  78  n. 
La  Fert6.  Kirche.  312. 
Figeac  (Guyenne).  Bürgerhaus.  156.  n. 
Fontenay.  Kloslerkirche.  325. 
Fontövrault.  Abteikirche.  Grabmäler.  570. 
Forchheim.      Schlosskapelle.     Wandmale- 
rei. 527. 
Fossanova  (bei  Auagni).  Klosterkirche.  325. 


Alphabetisches  Ortsregister. 


635 


Pountains.  Abteikirche.   175.  188. 
Frankenberg  (Hessenl  Kirche.  376. 
Frankfurt  a.  M.     St.  Leonbard.  272  f. 
Frankfurt  a.  0.  Nicolaikiri  he.  4G8. 
Frauenrode  (bei  Kissingen).  Kirche.  Sc.  596. 
Frauenthal.  Klosterkirche.    548  n. 
Freiberg.  Dom.  Goldene  Pforte.  227—230.* 

Sc.  582. 
Freiburg    (im    Breisg-au\    Münster.    278. 
385.  389  ff.  428.  Sc.  591  f. 

Evangelische  Kirche,  s.  Thenneubach. 
Freiburg    (a.    d.  Unstrut\    Schlosskapelle. 

231  n.  232.  Pfarrkirche.  344  n. 
Freising.  Dom.  279.  Sc.  579  ff. 
Fretigny.  Kirche.  Wandmalerei.  542. 
Friedberg.  Kirche.  376. 
Fritzlar.  Stiftskirche.  339  f. 
Fumes  (Belgien).  Kirche  St.  Walpurgis.  170. 
Furness  (England).  Abteikirche.  175. 

Gadebusch.  Kirche.  310. 
Gandersheim.  Klosterkirche.  233.  238. 
Gebweiler.  S.  Legerius.  274. 
Geddington.  Steinkreuz.  603. 
Gehrden,  Kirche.  292. 
Geissnidda.  Kirche.  377. 
Gelnhausen.  Kirche.  270  ff.* 

Kaiserliches  Schloss.  230  f.* 
Genf.  Kathedrale,  141  f. 
Gent.  Dominikanerkirche  170. 

Kirche  St.  Jacques.  165. 

Kirche  St.  Nicolas.  165. 

Kloster  St.  Bavo.  165. 

Hospital  de laBiloque.Wandmalerei.542n. 
St.  Germain-en-Laye.  Schlosscapelle.  100  f. 
St.  Germer.  Abteikirche.  43.  46  f. 

Mariencapelle.  100. 
Germigny-les-pres.  Kirche.  46  n. 
Gernrode.  Stiftskirche.  Sc,  581.  585. 
Gerresbeim.  Stiftskirche.  265.  357. 
Gisors.  Kirche.   126.  n. 
Gladbach,  siehe  München-Gladbach. 
Glastonbury.  Josephskapelle.  177. 
Gloucester.  Kathedrale.  177  f.  198.  Sc.  600.* 

Kapitflhaus.  212 
Gnadenthal  bei  Schwäbisch  Hall.  444. 
Gnesen,  Dom.  Erzthüren.  609. 
Gögging  (bei  Begensburg).  Sc.  579. 
GöUingen.  Kirche.  231.  n. 


Gorkum.  Johanuiskirche.  Wandmalerei.  526. 
Görlitz.  Petrikirche.  226. 
Goslar.  Marktkirche   (St.  Cosmas   und  Da- 
mianus).  239. 

Kirche  des  Klosters  Neuwerk.239  ff.  Wand- 
malerei. 519. 

Kirche  auf  dem  Frankenberge.  238  f. 

Kaiserbans.  232. 
Gramzow  (Mark  Brandenburg).  Kirche.  470. 
Grantham.  Kirche.  208. 
Graville.  Kirche.   126.  n. 
Greifswald.  Jacobskirche.  476. 

Marienkirche.  476. 
Grenoble.  St.  Andre.  136. 
Groningen.  St.  Martin     463. 
Grünberg  'Hessen).  Kirche.  376. 
Gurk.  Dom.  Wandmalerei.  528  ff.* 

Halberstadt.  Dom.  208.*  354  ff.*  Teppiche. 
537  n.     Glasmalerei.  553. 
St.  Burchhard.  Klosterkirche.  332. 
Liebfrauenkirche.  Wandmalerei.  519. 

Hamburg.  Ehem.  Kathedrale.  Mosaik.  563. 

Hamersleben.  Kirche.  233.  241. 

Hamm  (Westphalen).  Pfarrkirche.  379. 

Hartberg.   Karner.  284. 

Hatfield.  Kirche.  Sc.  601. 

Havelberg.  Dom.  305.  471. 

Hayna.  Klosterkirche.  333.  377. 

Heiligenkreuz  bei  Wien,  Klosterkirche.  285. 
Kreuzgang.  357.  Glasmalereien.  316. 
552  f. 

Heüigenkreuz  (bei  Meissen).  Kloster- 
kirche. 433. 

Heüsbronn.  Klosterkirche.   321.  333.  448. 
Tafelbild.  536.  Glasmalerei.  553. 
Kapelle  356  f.* 

Heimersheim  (Rhein).  Kirche.  264.  Glas- 
malerei. 551. 

Heiningen.  Klosterkirche.  238. 

Heisterbach.  Klosterkirche.  254  ff.*  334. 

Herford  (Engl.).  Kathedrale.  177  f.  203.  208. 

Herford  (Westphalen).  Münster.  296  f. 

Herzogenbusch.  Johanniskirche.  463. 

Hietzing  bei  Wien.  (König  v.  Hannover.) 
Miniat.  488.  Altärchen.  619. 

Hildesheim,  Dom.  Fussbodenmosaik.  560. 
Kronleuchter.  610  f.  Taufbecken.  617  f. 
Reliquiariuro.  624. 


636 


Alphabetisches  Ortsregister. 


St.  Michaeiiskirclie.  233.   353.    Decken- 
gemälde. 521  f.* 
Himmelpforten.  Klosterkirche.  448.  u. 
Hirzenach.  Kirche.  372. 
Hitchendon.  Kirche.  Sc.  601. 
Hoerste  (Westphaleu).  Kirche.  292." 
Hohenfurt.  Klosteikirche.  334.  n. 
Hostivar.  Kirche.  290. 
Horpacz.  Kirche.  287. 
Hovedöe  (Norwegen).  Ziegelmosaik.  564, 
Hradist.  Klosterkirche.  333  n. 
Huckarde  (Westphalen).  Kirche.  297. 
Hude  (Oldenburg).  Klosterkirche.  352.  464. 
Huy.  Kirche.  170. 

St.  Jacob  (^Böhmen).  Kirche.  290. 

St.  Jak  (Ungarn).  Klosterkirche.  287. 

Idensee.  Kirche.  240.  n. 

Jerichow.  Klosterkirche.  302.*  305  f. 

Ilbenstadt.  Kirche.  225. 

Inichen  (Tyrol).  Kirche.  351  n.  457. 

Jouarre.  Kirche.  Reliquiarium.  628. 

Jouy-le-Moustier.  Kirche.  69. 

St.  Julien  bei  Ronen.  Kirche.  125. 

Jumieges.  Kapitelsaal.  Mosaik.  562. 

Jüterbog  siehe  Zinna. 

Kaiserswerth.       Stiftskirche.      Reliquieu- 

schrein.  624. 
Haurzim  (Böhmen).  St.  Stephan.  456. 
Kentheim     (Schwarzwald).      "Waldkapelle. 

Wandmalerei.  527. 
Ketton  (Rutlandshire).  Kirche.  196. 
Kirkstall.  Abteikirche.  175. 
Klein-Mariazell.  Kirche.  287. 
Klostemeuburg  bei  "Wien.    Abtei.    Kreuz- 
gang. 457  f.  Glasmalereien.  553.  Altar- 
aufsatz. 619.  ff.* 
Klosterrath.     Kirche.  253  f. 
Knechtsteden.  Klosterkirche.  246. 
Kobern.  Maihiaskapelle.  244'.  260  f. 
Köln.  Dom.  394-421.  (408*.  417*.  418*.) 
Reliquiarium.  622.  623*. 
St.  Andreas.  265. 
St.  Apostel.  247—251*.  265.  266.  Kelch. 

619.  n. 
St.  Cnnibert.  267.  357.  Wandmalereien. 

515.  Glasmalereien.  551. 
Dominikanerkirche.  421. 
St.  Georg.  Taufkapelle.  259. 


St.    Gereon.    216.    246.    365.    Mosaik. 
561.       Taufkapelle,      Wandgemälde. 
514  f.* 
St.    Maria    i.u    Capitol.    258.    Krypta, 

Waudgem.  .de.  515. 
St.  Maria  in  Lyskirchen.  258.  268. 
St.  Maria  in  der  Schnurgasse.  Reliquia- 
rium. 622. 
Gross  St.  Martin.  247—249.  266. 
Minoritenkirche.  421. 
St.  Pantaleon.  258.  Kronleuchter.  610. 
St.  Severin.  Wandgemälde.  515.   Laby- 
rinth. 566.  Reliquiarium.  622. 
(Ehemal.)  Kloster  Sion.  265. 
St.   Ursula.    Wandgemälde.    515.    Reli- 
quiarium. 622. 
Stadtthore.  252. 
Königslutter.  Kirche.  241.  Kreuzgang.  233. 
Koesfeld.  St.  Jacobskirche.  292.  295. 
Kolin,  Bartholomäuskirche.  456. 
Komburg.      Klosterkirche.      Kronleuchter. 

010  f. 
Kreuznach.  Karmeliterkiache.  373. 
Krewese  (Mark  Brandenburgl  305. 

Laach.  Klosterkirche.  243.   245. 

Grab  des  Stifters.  380. 

Kreuzgang.  268.  358. 
St.  Lambrecht.  Karner.  284. 
Landsberg.  Schlosskapelle.  232. 
Langres.  Kathedrale.  154. 
Langrune  (Normandie).  Kirche.  133. 
Laon.  Kathedrale.    55  -59* .    63  f.  65  ff* 
81  ff'.  104.  106.  Sc.  571. 

Kreuzgang.  113. 

St.  Martin.  68. 
Laufien  am  Neck  ir.  443. 
Lausanne.     Kathedrale.     140  f.     Glasma- 
lerei. 550. 
L6au  (Belgien).  Kirche.  168. 
Lebeny  (Ungarn).  Klosterkirche.  287. 
Legden    (Westpbalen).    Kirclie.    295.   298. 

Glasmalereien.  551. 
Lehnin  (Mark).  Klosterkirche.  335.  468. 
Leiden  siehe  Lebeny. 
Lette  (Westphaleu).  Kirche.  293. 
St.  Leu  d'Esserant.  Klosterkirche.  73  f.* 
Lickfield.  Kathedrale.  213  n.  Sc.  606. 

Kapitelhaus.  213  f.*  Sc.  607. 


Alphabetisches  Ortsregister. 


637 


Lilienfeld.    Klosterkirche.    333  f.*    Krenz- 

gang.  357. 
Limburg  an  der  Lahn.    Stiftskirche.  361. 

ff.*  Sc.  596. 
Limoges.  Kathedrale.153.  Zeichnungen.  118. 
Lincoln.  Kathedrale.  188  f.  196.  200.201. 
204.*  207.  208.  Glasmalerei.  554.  Sc. 
604  f.  606. 
Linz    (Rhein l  Kirche.  264. 
Lippoldsberg        (Weslphalen).        Kloster- 
kirche. 292. 
Lippstadt.  St.  Jacobikirche.  378. 
St.  Marien.   295  f.  297  n.  298. 
St.  Nicolaus.  295. 
Lisienx.  Kathedrale  (jetzt  St.  Pierre.)  132. 
Loccam.  Klosterkirche  326  f*. 
London.  St.  Saviours-Kirclie.  196.  204. 
Templerkirche.lSSf.  196.  204.  Sc.  600  f. 
Westminster-Abteikirche.     196  ff.    199. 
207.  Wandmalerei.     541  n.    Mosaik. 
561.  Sc.  601  f.  629. 
Kapitelllaus.  207.  215  f.  Mosaik.  564. 
Palast,  ehem.  painted  Chamber.   Wand- 
malerei. 540. 
Lambeth  House.  Kapeile.  296. 
Brit.  Musueum.  Miniat.  504  (2).  506(4). 

Goldschmiedsarbeit.  629. 
South-Kensington-Museum.  Reliquiarium. 
621.  622. 
Longpont.  Abteikirche.  68.  73.  334. 
St.  Lorenzen.  Karner.  284. 
St.  Loup  bei  Provins.  Kii'che.  Sc.  568. 
Louviers.  Kathedrale.  132. 
Löwen.  Dominikanerkirche.  170. 
Lübeck.  Dom.  307. 

Marienkirche.  465.  ff.*  Briefkapelle.  216 
Lüne  bei   Lüneburg.    Kirche.   465.    Tafel- 
gemälde. 536. 
Lüneburg.  Johanniskirche.  465. 
Lüttich.  Bartholomäuskirche.    Taufbecken. 
616.  618. 
Krenzkirche.  158. 
Lyon.  Kathedrale.  137.  Sc.  577. 

St.  Macaire.  Kirche  St.  Sauveur.  46.  n. 
Maestricht.  Frauenkirche.  158. 

St.      Servatiuskirche.       158.      Reliquia- 
rium. 625. 
Magdeburg.  Dom.  359  ff.*  433  f. 


Liebfrauenkirche.  361. 

Mainz.    Dom.    252.    269.  272  f.    Sc.  595. 
Barbarakapelle.  427.  Kapitelsaal.  379. 

Malmsbury.  Abteikirche.  176*.  Sc.  597. 

Le  Maus.  Kathedrale.  88.*  89.  94.  405. 
Glasmalerei.  547.  549.  Sc.  568. 
Museum.  Grabplatte.  627. 

Mantes.  CoUegiatkirche.  69.  ff.   Sc.  569. 

Marburg.  Elisabetlikirche.  373  ff.**   Glas- 
malerei. 553.  Sc.  594.     Reliquiarium. 
624.  Schlüssel  630  n. 
Marienkirche.  376. 

St.  Marie-des-Champs.  Kirche.  126  n. 

Marienburghausen.    Klosterkirche.   448.  n. 

Marienfeld.  Klosterkirche.  832. 

Marienstatt.  Klosterkirche.   334.    381  ff.* 

Marienthal.  Klosterkirche.  321.  332. 

St.  Martin-aux-Bois..  Refectorinm.  101. 

Maulbronn.  Klosterkirche.  321.  337  f. 
Kloster.  355.   358. 

Mauresmünster.  Stiftskirche.  393. 

St.  Maximin.  Klosterkirche.  136. 

Meanx.  Kathedrale.  71  f. 

Meissen.  Dom.  437.  ff.  Sc.  590. 

Melverode.  Kirche.  236  f.* 

Memleben.  Klosterkirche.  344.  Wand- 
malerei. 520  f. 

Merseburg.  Dom.  344.  u.  Sc.  585  f.  596. 
Neumarktskirche.  226. 

Merzig.  Kirche.  252. 

Meslay.  Pachthof.  115.  n. 

Metelen.  Kirche.  293. 

Methler.  Kirche.  296  f.  Wandmalerei. 
517  f. 

Mettlach.  Abtei.  Reliquiarium.  621. 

Metz.  Kathedrale.  158.  426. 
Kirche  St.  Martin.   157. 
Templerkirche.    156.    Refectorium    der 

Templer,  Wandmalerei.  542. 
Kirche  St.  Vincent.   157. 

Meung-sur-Loire.  St.  Liphard.  46  n. 

Mildenfurth.  Klosterkirche.  343.  354. 

Minden.  Dom.  293,  428  ff.* 

Mödling.  Karner.  284.  287.  Wandma- 
lerei. 528. 

Mont-aux- Malades  (Normandie).  Kirche 
St.  Thomas-le-Martyre.  125. 

Montier-en-Der.  Abteikirche.  68. 


638 


Alphabetisclies  Ortsregister. 


Montmajour.  Kirche  Sainte  Croix.  46  n. 

Montreal.  Kirche  155. 

Mont-Saint-Michel.  Kreuzgang-.  194  n. 

Morimond.  Kiüsteri<irche.  319. 

Mortain  (Nürmandie).  Stiftskirche.  132. 

Moudon.  Kirche.   142  f. 

Moulineaux  (Normandie).  Kirche.  133. 

Mühlhausen  (Thüringen).  Blasiuskirche.  355. 

Mühlliausen  in  Böhmen  (Milevsko).  Kloster- 
kirche. 289.  456. 

München.  BibHothek.    Minial.    488.  495  f. 
496  f.* 
National miiseum.  Tafelbilder.  527. 

München- Gladbach.  Klosterkirche.  422. 

Münster.  Dom.    293.    Wandmalerei.    518. 
Sc.  590  f. 
St.  Servatius.  295.* 
Provinzialmiisenm.  Tafelbild.  534. 

Münstermaifeld.  Martinskirche.  264.    268. 

Münzenberg.  Sdiloss.  231  f. 

Ifamur.       Nonnenkloster.       Goldschmieds- 
werke. 625. 

Narbonne.  Kathedrale.  138.  Grabm.  577. 
Abteikirclie  St.  Paul.   137. 

Naumburg.   Dom.    340  ff.  354.    434.    Sc. 
588.*  589  f. 

Nesle.  Kirche.  69. 

Neuendorf  (Altmark).  470. 

Neufchätel  (Schweiz).  Stiftskirche.   350   f. 

Neufchätel  (Normandie).  Kirche.  126  n. 

Neukloster  (Mecklenburg).  Kirche.  310. 

Neu-Ruppin,  Klosterkirche.  303  n. 

Neuss.  St.  Ollirin.  243*.  257. 

Neustadt-Eberswalde.    Maria-Magdalenen- 
kirche.  470. 

Neuweiler.  Kirche  St.  Peter  u.  Paul  274.ff*. 
384.  Gliismalerei.552.  St.  Adelphi.  276. 

St.     Nicolaus-en-Glain     (Belgien).     Abtei- 
kirche. 158. 

Nienburg  (Sachsen).  Klosterkirche.  379. 

Nieuport  (Belgien).  Schloss.  Wandmalerei. 
542  n. 

Nordhausen.  Dom.  355. 

Norrey  (Normandie).  Kirche.  133. 

Nordhampton.  Steinkreuz.  603. 

Norwich,  Kathedrale.  174.  193.  Sc.  597.  n. 

Notre-Dame-des-Dunes   (Flandern).      Abtei 
117. 


Notre  -  Dame  -  de  -  Presles     (Champagne), 

Kirche.  Wandmalerei.  542. 
Novgorod.    Sophienkirche.  Erzthüren.  609. 
Noyon.  Kathedrale.  43—46*.  363*.  Tafel- 
gemälde. 536. 

Kreuzgang.   113. 
Nürnberg.     Euchariuskapelle.  331  n.   233. 

St.  Jacob.  Tafelbild,  536    n. 

St.  Lorenz.  449  f.  Teppiche.  537  n. 

St.  Sebald.  330  n.  348  f. 

Burgkapelle.  232. 

German.  Museum.  Miniat.  500. 

Obasine.     Klosterkirche.  Sc.  577. 

Ober-Marsberg.  Kirche.  296. 
Nicolaicapelle.  377  f. 

Oberstenfeld    (Würtemberg).  Kirche.   279 

Oberwerba.  Kirche.  268. 

Ober-Wittighausen.  Kirche.  282.  Sc.  580. 

Oedenburg.  Karner.  284. 

Olfenbach  am  Glan.  Klosterkirche,  371. 

Oliva.  Klosterkirclie.  311.  335. 

St.  Omer.   Kathedrale.    93,    Mosaik.    563 
Goldschmiedsarbeiten.  626. 
St.  Bertin.  Mosaik.  562.  Museum.  Gold- 
schmiedsarbeiten. 626. 

Ootmarsum  (Holland).  St.  Simon  u.   .Judas 
Sc.  462. 

Opherdike  (Westfalen).  Kirche.  292. 

Oppenheim,  Kalharinenkirche.  369   n.  425. 

Orbais  (Champagne).  Kirche.   53. 

Orleans.  Kathedrale.  408. 

Osmoy  (Normandie).  Kirche.  125. 

Osnabrück.  Dom.  293.  Taufbecken.    616  f. 
Reliquiarium.  624. 

Otterberg.  Klosterkirche.  270.  333. 

Ourscamp  (Picardie).   Abteikirche.  68. 
Hospital.   114. 

Oxford.     Kathedrale.     174.     177  f.    209*. 
Kapitelhius.  Sc.  212. 
Christ-church.  175*. 

Merton  College.    Capelle.    210*.    211  n. 
ßodl.  Bibliothek.  Miniat.  505. 

Paderborn.  Dom.  292.  299  f.  379.  Sc.  591. 
Paris.  Kathedrale  N.-D.  55—60*.  63.  65.  ff, 

74.  81   fl".  89.  104.  408.  Glasmalerei. 

549  f.    Sc.    569.    572.    573.    Tliürbe- 

schläge.  630  f. 


Alphabetisches  Ortsregistcr. 


639 


Sainte  -  Chapelle.    75*.    96—99*.     115. 

Glasmalerei.    549  f.   Sc.    573. 
Sainl-Geimaiii-des-Pres.    54.  67.    Refec- 

toriiim  u.  Marienkapelle.  99. 
Saint-Marlin-des-Champs.    32.     Refecto- 

rium.   101. 

Bibliolliek.    Manuscript     des  Villard    de 

Honriecüurt.  118— 122.  Minialuren.  489. 

490  n.  501  (2).  503  f.  (2).   Kelch.  619  n. 

Bibliolliek     des     Arsenals.     Miniaturen. 

501.  506. 
Museum  des  Hotel-de-Cluny.  Email.  627. 

627.  Schlosserarbeit.  631. 
Museum  des  Louvre.  Elfenbeinsculpt.  608. 
Paulmzelle.  Kirche.  226. 
Pelplin.  Klosterkirche.  333. 
Ferschen  (bei  Regensburg).  Todtenkapelle. 

Wanilmalerei.  528. 
Peterborough.   Katliedrale.  196.  199.  200. 

201.  Sc.  G06. 
Petershausen.  Klosterkirche.  278. 
Petit-Angely  (Normandie).  Kirche  St.  Sau- 

veur.   133. 
Petronell.  Karner.  284. 
Pfaffenheim  (Elsass).  Kirche.  276  f. 
Pfaffen-Schwabenheim.    Abieikirche    271. 
Pforta.   Klosterkirche.  432. 
St.-Pierre-sur-Dive.  Kapitelsaal  des  Klosters. 

Moi^aik.  562. 
Plettenberg  (Westphalen).  Kirche.  296. 
Plieningen  (Würtemberg).  Kirche.  279. 
Podvinec  (Böhmen).  Kirche.  387.  290. 
Poitiers.     Kathedrale.     146—150*.     Glas- 
malerei. 548. 
Kirche  St.  Jean.  Wandmalereien.  541  f. 
Kirche  St.  Radegonde.  Glasmalerei.  547. 
Grafenschloss.  114. 
St.  Pol-de-Leo]i(Bretagne).  Kathedrale.  144. 
Pont-ä-Mousson.    (Lothringen).    Kirche  St. 

Martin.  158. 
Pont-Aubert  (Burgund).  Kirche.  155. 
Pontigny.  Klosterkirche.  318  f. 
Pötnitz  bei  Dessau.  Pfarrkirche.  344. 
Prag.  St.  Agnes.  455. 
St.  Johann,  in  vado.  289. 
Stift  Strahow.  Kirche.  289. 
Alte  Synagoge.  Sc.  457. 
Bibliothek  Lobkowitz.  Miniat.  497*. 
Vateri.  Museum.  Miniat.  491*.  499. 


PreuUly.  Klosterkirche.  31. 
Pulkau.  Karner.  284. 


Quedlinburg.     Stiftskirche.     Wandmalerei. 

519.  Teppiche.  ,537  f. 
Querqueville.  K.  St.  Germain.  46  n. 
Qaimperl6  (Bretagne),  Kirche  Sainte  Croix. 
46  n. 

Ramersdorf.  Kapelle,  siehe  Bonn. 
Rampillon.  Kirche.  Sc.  568. 
Ratibor.  Schlosskapelle.  474  f. 
Ratzeburg.  Dom.  310. 
Recklinghausen.  Kirche.  293. 
Regensburg.  Dom.  453.  S.  Kelch.  619. 
Alte  Pfarre.  450  ff. 
Domiuikanerkirche.  330  n.  452. 
St.  Emmeran.  Kreuzgang.  450.  f. 
St.  Jacob   (Schotteilkirche).    280  ff.    Sc. 

579. 
Obermünster.  Wandmalereien.  527  f. 
Reichenberg    bei    St.  Goarshausen.    Burg. 

380. 
Reichenhall.  Kirche  St.  Nicolans.  282. 
Remagen.  Kirche.  380. 
Retand  (Sainionge).  Kirclie.  145    n. 
Reutlingen.  Marienkirche.  444. 
Rheims.  Kathedrale.  74.  79—87*.  89.  ff.* 
103.  ff.*    Wandmalerei.    542.    Glas- 
malerei.   549.  Sc.  574    n.  576*. 
Saint-Nicaise.  106.  ff.*    Kreuzgang. 
Saint-Remy.113.  43.47—50.* 
81.  Fussbodenmosaik  560  f. 
ErzbischöfÜche  Kapelle.  100. 
Maison  des  musieiens.  114.  Sc.  573. 
Rhenen  (Holland).  St.  Cunera.  463. 
Riddagshausen.  Klosterkirche.  328  ff*. 
Riechenberg    bei     Goslar.     Klosterkirch 

283. 
Riotard.  Kirche  Saint-Jean-Baptiste.  46  n. 
Ripon.  Münster.  200. 
Rochester.    Kathedrale.     195   f.    200.    Sc. 

597  n. 
Roda.  Klosterkirche.  333.  433. 
Rolduc  siehe  Klösterrath. 
Romans  (Dauphiue).    Kirche   St.    Bernard. 

136. 
Rommersdorf  (Rhein).  Abtei.  266  f.  268. 


640 


Alphabetisches  Ortsregister. 


Eomsey.    Abteikirche.  178*.    195.    205*. 

Sc.  597  n. 
Bosheim.  Kirche  St.  Peter  u.  Paul.  329  n. 

Sc.  580. 
Rostock.  Dom.  Taufbecken.  618. 
Roth  an  der  Oiir.  Kirche.  252. 
Rothenburg  a.  d.  Tauber.  Franciskanerk. 

448. 
Rouen.  Kathedrale.   74.   92.    130  ff.  207  n. 

Glasmalerei.  549.  Sc.  599  n. 
Rounds.  Kirche.  208. 
Royaumont  bei  Paris.  Abtei.  117. 
Ruifach.  Kirche.  384. 
Ruremonde.  Liebfrauenkirciie.  159  f.* 
Ruthen  (Westphalen).  Kirche.  296. 

Sains  bei  Amieiis.  Pfarrkirche.  Sc.  573. 
Salem.  Klosterkirche.  332.  446  ff*. 
Salisbury.    Kathedrale.     190—192*.     199. 

201.     203*.    205*.     207.     209.    Sc. 

599.  (2). 
Kapitelhaus.    207.*    214   f.*    Sc    606. 

607. 
Salzburg.  St.  Peterskirche.  351  n. 

Pfarrkirche  (Franziskanerkirche).  351    n. 

352. 
Salzwedel.  St.  Lorenz.  308  f. 

St.  Marienkirche.  303  n. 
Sangerhausen.  Kirche.  239  n. 
Sayn.  Klosterkirche.  257.  265. 
Scheiblingskirchen.  Karner.  284. 
Schlagsdorf.  Kirche.  310. 
Schlettstadt.  Münster  St.  Georg.  384  f. 
Schöngrabem.  Kirche.  Sc.  285. 
Schulpforta  siehe  Pforta. 
Schwärzloch  (Würtemberg).  Kirche.  279. 
Schwarzrheindorf.       Kirche.    Wandbilder. 

508  ff.* 
Seez.  Kathedrale.  132. 
Seligenstadt.  Abteikirche.  272. 

Schloss.  232. 
Seligenthal  bei  Landshut.  St.  Afr;ikapelle. 

Sc.  581. 
Semur.  Kirche  Notre-Dame.Glasmalerei.  550. 
Senauque.  Klosterkirche.  135.  325. 
Senlis.    Kathedrale.    55.   62  f.   65.  Sculpt. 

569. 
Bens.  Kathedrale.  55.  60  f.*  81. 
Synodalsaal.  113. 


Sieding.  Kapelle.  Wandmalerei.  528. 
Siegburg.    Pfarrkirche.    Reliquiarien.   622. 
Sinzig.  Kirche.  263  f. 
Sitten.  St.  Valerienkirche.  142. 
Soest.  Münster  St.  Patroclus.  Wandmalerei. 
516.  Glasmalerei.  551. 

St.  Maria  zur  Höhe.  296  f. 

St.  Maria  zur  Wiese.  Tafelbilder.  534  f.* 

Minoritenkirche.  432. 

St.  Nicolaus.  Wandmalerei.  516  f. 

Petrikirche.  425. 

St.  Thomas.  296. 
Soissons.  Kathedrale.    46.    73.    75  ff.    85. 
90.  115.  Glasmalerei.  549. 

Saint-Jean-des-Vignes.   Kreuzgang.  113. 
Southwell.  Kollegiatkirche.  194. 
Speyer.  Dom.  268. 
Stralsund.  Katharinenkirche.  475. 
Strassburg.  Münster.  277  f.  385  ff.*  Glas- 
malerei. 552.  Sc.  591  ff.* 

Bauhütte  des  Domes.  Zeichnungen,  118. . 

Ehemalige     Stadtbibliothek    (verbrannt). 
Miniat.  485.  ff.* 
Stuttgart,  Stiftskirche.  Sc.  595. 

Oeffentl.  Bibliothek.  Miniat.  490  (2). 

Privatbibliothek  des  Königs.  Miniat.  489.* 

490.  493  f.  499. 
Süpplingenburg    bei  Königslutter.   Kirche. 

343  f. 
Sylvacane,  Klosterkirche.  135.  325. 

Tepl.  Stiftskirche.  289. 

Tewkesbury.  Abteikirche.  178.   Monument 
des  Alanus.  188. 

Thalbürgel,  Kirche.  225  f. 

Thennenbach.  Klosterkirche  (jetzt  in  Frei- 
burg). 334  f. 

Tholey  bei  Trier.  Kirche.  Sc.  587. 

St.  Thomas  an  der  Kyll.  Klosterkirche.  253.^ 

Thorouet.  Klosterkirclie.  135.  325. 

Tintem,  Klosterk.  210  n. 

Tischnowitz.  Klosterk.  287.  352. 

Tisnitz.  Kirche.  290. 

ToUbath  (Bayern).  Kirche.  279. 

Tongern.  Frauenk.  170. 

Toul.  Kathedrale.  157.  Kreuzgang.  157. 
Kirche  St.  Gengoul,  158.  369    n. 

Toulouse.  St.  Saturnin.  82. 


Alphabetisches  Ortsregister. 


641 


Toumay.    Katliedrale.    160—163*.    170  f. 
405.  410  11.  Wandmalerei.  542.  Glas- 
malerei.   550    n.     Reliquiarien.     621. 
624. 
St.  Jacques.  164  tt'. 
St.  Madeleine.  166. 
St.  Quentin.  165. 
St.  Piat.  165. 
St.  Pierre.   165. 
Tournus.  St.  Philibert.  Wandmalereien.  542. 
Tours.  Kathedrale.  112.  Glasmaleiei.   549. 

St.  .Julien.  112. 
Trausnitz.  Burgkapelle.  Sc.  581. 
Trebitsch.  Klosterkirche.  287.  352  f. 
Trebnitz.     Klosterkirche.    353.     Hedwigs- 

kapelle.  474. 
Treffart.  Kirche.  226. 
Treuenbrietzen    Nicolaikirche.  307  f. 
Trier.  Dom.   247.  250  ff.  Sc.  580.  Kreuz- 
gang. 370  f. 
Liebfrauenkirche.  365  ff.*  Sc.  586  f. 
Mathiask.  252  f.    Reliquiar.  622. 
Stadtbibüothek.  Rel.  622. 
Troyes.  Kathedrale.    92  f.  95.    408.    Glas- 
malerei.    549.     Goldschmiedsarbeiten. 
627. 
Saint  -  Urbain.     108—111.    392.    Glas- 
malerei. 550. 
Tuln.   Dreikönigskapelle.  284.  287.  Wand- 
malerei. 528. 

Utrecht.  Dom.  426.  463. 
Biiurkirche.  463. 

Valasse.  .\bteikirche.  225. 
Vallemagne.  Klosterk.   138. 
Vaux-de-Semay,  Klosterk.  325. 
Vendöme.  St.  Trinite.  Glasmalerei.  547. 
Verden.  Dom  465. 
Verdun.    Kirche   St.    Nicolas -de -Graviere. 

157. 
Vermanton  bei  Auxerre.  Kirche.  148  u. 
Veme  (Westphalen).  Kirche.  292. 
Veseliz  (Lothringen).  Kirche.  158. 
Vessera.  Klosterkirche.  226. 
Veulettes.  Kirche.  126  n. 
V6zelay.  Abteikirche.  154. 
Vianden.  Schlosskapelle.  261  f. 
Vietlübbe  (Mecklenburg).  Kirche.  310. 
Schnaase's  Kunstgesch.  2.  Aufl.  V. 


Vignogoul.  Klosterkirche.   136. 
Villeneuve  l'Archeveque  bei  Sens.  Sculpt. 

573. 
Villers     (Belgien).     Kirche     und     Kloster. 

167  ff'.* 
Vreden  (Westphalen).  Kirche.  293. 


Walkenried.  Klosterkirche.  327. 

Waltham.  Steinkreuz.  603. 

Warburg.  Kirche.  297. 

Warmington.  Kirche.  196.  207. 

Wartburg.  232. 

St.  Waudrille.  Kirche  St.  Saturnin.  46.  n. 

Wechselburg.     Kirche.    225    f.    Sc.    582. 

584  t.  596. 
Weinsberg.  Kirclie.  279. 
Weissenburg.  Abteikirche.  393  f.* 
Weissendorf.  Kirche.  279- 
Wells.   Kathedrale.  194  f.    199.  202.  204. 

Sc.  603  f.  607.    Kapitelhaus.  210*  n. 
Wenlock  Prior.  Kirche.  196. 
Werben  (.\ltmark).  Kirche.  Kelch.  619.    n. 
Werden.  Abteikirche.  364  f. 
Wetter.  Kirche.  376. 

Wettingen  (Schweiz).   Klosterkirche.  Glas- 
malereien. 552. 
Wetzlar.  Stiftskirche.  377.  Sc.  587. 
Wickede  (Westphalen).  Kirche.  297. 
Wien.  St.  Stephan.  285  f. 

Michaeierkirche,  352. 
Wiener  Neustadt.   Stiftskirche.  285,   287. 

352. 
Karuer.  284. 
Wiesbaden.  Museum.  Sc.  595. 
Wimpffen  am  Berg.  Schloss.  232. 
Wimpffen    im  Thal.   Stiftskirche    444.  ff. 

Sc.  594. 
Winchester.  Kathedrale.  187.  Wandmalerei. 

541  n.  Sc.  601. 
Wolfenbüttel,  Bibliothek,  Miniaturen.  489, 

490,  493. 
Worcester,  Kathedrale.    188  f.    198.   204. 

Sc.  599,  607. 
Kapitelhaus.  282. 
Worms ,  Dom.    268.    269.    Wandmalerei. 

516.  Tafelbilder.  536. 
Paulskirche.   268  f. 
Wunstorf.  Klosterk.  233.  238. 

41 


642 


Alphabetisches  Ortsregister 
Säulen.     282.     Tauf 


Würzburg ,     Dom 

becken.  618. 
Deutschherruk.  448. 
Bibliothek.  Miniat.  499. 

Xanten,  Stiftskirche.  369  n.  423  f.  * 

York,  Kathedrale.    196,  199,  207,   208  u. 
Glasmalerei.  554. 

Kapitelhaus.  215. 

St.  Mary.  211. 
Ypem.  St.  Marliu.    166,  170. 


Zabor,  Kirche.  287,  290, 

Zehdenick,  Kirche.  Kelch.  619  n. 

St.  Zeno  (bei  Reichenhall).  Kirche.  351   a 

Sc.  581. 
Zerbst,  Bartholomäusk.  226. 
Zillis  (Schweiz).     Deckenbilder.   531. 
Zinna  (bei  Jüterbog).  Klosterk.  327. 
Zout-Leeuw  s.  L6au. 
Zürich,    Grossmünster.     351.     Kreuzgang. 

278  f.  * 
Zütphen,  Walpurgiskirche.  463. 
Zwetl,  Kloster.  Kreuzgang.  357. 


Alphabetisches  Register 

der  im   V.   Bande   erwähnten   Künstlernamen. 


(A.  bedeutet  Architekt,  B.  Bildhauer,  M.  Maler). 


Abraham,  Erzgiesser.  609. 
Achard,  Klosterbruder  zu  Clairvaiix.  A.  321. 
Agnes,  Aeblissin  zu  Quedlinburg,  Teppich- 
wirkerin. 538. 
Albero,  A.  248. 

Albertus  Magnus,  A.  412  f.    421. 
Alexander,  M.  u.  Bildschnitzer.  583  n. 
Alexander  von  Abyngton,  B.  603  n. 
Arnold,  Dombaumeister  zu  Köln.    415. 
Amulphus  de  Bincho,  A.  166. 

Berthold,  Klosterbruder.  A.  321  n. 
Bodo,  A.  326. 
Bohusse,  M.  500. 

Clemens  von  Chartres,  (ilasmaler.  549  ii. 
Conrad  de  Husa,  Goldschmied.  619. 
Conrad  von  Scheyem,  M.  495  f. 

Eckard  von  Worms,  Erzgiesser.  618. 
Eilbert  von  Köln,  Goldschmied.  619. 
Erwin  von  Steinbach,  A.  386  ff.  391  ff.  592. 
EudesvonMontreuil,  A.  70  n.  96,  101,  123. 
Everhard  von  Köln.  A.  181  n. 
Everwin,   M.  517. 

GeofFroy  de  Noyers,  A.  189  n. 

Gerhard,  Erzgiesser.  617. 

Gerhard  von  Eile,  A.  400.  410  ».  414  tf. 

419.  421  u.  422. 
Gervasius,  A  (?).   184  n. 


Heinrich,  Abt  von  Walkenried.  A.  321  n. 

Heinrich,  A.  in  Achen.    426. 

Heriman,  M.  488.     " 

Herrad  von  Landsperg,  Aebtissin,  M.  485  f. 

Hugo,   M    506. 

Hugo  li  Bergier,  A.  107.  123. 

Hugo,  MönchzuOignies,  Goldschmied.  625. 

Humbertus,  A.   393  n. 

Ingelramnus,  A.  123,  130. 
Johannes,  Dombaumeister  zu  Köln.  415,  419. 
Johannes  Anglicus,  A.  109.  392. 
Johannes  de  Campis,  A.  124.  140. 
Johannes  von  Chelles,   A.  124. 
Johann  von  Kirchheim,  Glasm.   552  u. 
Johannes  von  Limoges,  Goldschmied.  629. 
Jordan,  Klosterbruder.  A.  321  n. 
Jousselin  de  Courvault,  A.    96. 

Mirozlaus,  M.  492. 

Nicholas  Dymenge,  A.  603  n. 

Nicolaus  von  Verdun,  Goldschmied.  619 f. 

Odo,  Goldschmied.  540. 

Petrus  von  Rom,  Mosaicist.  561. 
Pierre  de  Montereau,   A.  96 — 101,  123. 

Ralph  von  Chichester,  B.  603  ii. 
Riquin,  Erzgiesser.  609. 


644 


Alphabetisches  Register  der  Künstlernamen. 


Robert  de  Corf,   B.  603  n. 
Robert  de  Coucy,    A.    107,  123. 
Robert  de  Luzarch.es,   A.  124. 
Roger  von  Rheims,  Glasni.  545  n. 

Sabina,  Bildhaueriu  zu  Strassbuig.  591  f. 

Thomas  von  Cormont.  A.   124. 

Torell  s.  Wilhelm. 

Villard  de  Honnecourt,  A.  118—122.  216. 

329.  481. 
Vogelo,  Subdiaconiis,  A.  307. 


Waismuth,  Erzgiesser.  609. 
Walter,  ,M.  541. 
Welleslaus,  M  (?),  497. 
Wiegand,  Mönch  zu  Georgentlial,  A. 
Wilhelm  aus  England,  A.  180  f. 
Wilhelm  der  Florentiner,  M.   540. 
WUhelm  von  Irland,  ß.  603  n. 
Wilhelm  von  Sens,  A.  180  S. 
Wilhelm  Torell,    B.  001. 
Wilhelm  von  Westminster,   M.   540, 
Wolbero,  A.  257. 


821  n. 


Druck  von  Bär  &  Hermann  in  Leipzig. 


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AT 
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N 

5300 

S35g 

1866 

sec,2 

V.3