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Full text of "Biographische Denkmale"

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Se 
https://archive.org/details/biographischeden151varn *° 


Rechen 


des 


Grafen Ludwig von Zinzendorf. 


Von 


K. A. Varnhagen von Enſe. 


Zweite vermehrte und verbeſſerte Auflage. 


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Druck und Verlag von G. Reimer. 
1846. 


Biographiſche 


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Von 


K. A. Varnhagen von Enſe. 


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Zweite vermehrte und verbeſſerte Auflage. 


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Druck und Verlag von G. Reimer. 
1846. 


Dem 


theuern Lehrer und Freunde 


Henrich Steffens 


im frohen Andenken der ſchönen halliſchen Zeiten 
mit inniger Verehrung und treuer Zuneigung 
gewidmet! 


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Weder einen Beitrag zur Kirchengeſchichte, noch ein 
Erbauungsbuch für beſtimmte Glaubensfreunde kann 
dieſe Lebensbeſchreibung liefern wollen, ſondern nur 
die freie Darſtellung einer merkwürdigen und bedeu— 
tenden Perſönlichkeit, wie ſolche in der Welt ſich 
Bahn gemacht und ein hohes Ziel erſtrebt hat. 
Von jenem Zwecke war ich ſchon dadurch fern, daß 
die dahingehörigen Studien im Ganzen mir doch 
allzu fremd geblieben; dieſen konnte ich ſchon um 
deßwillen nicht haben, weil derſelbe wo nicht die 
nämliche, doch wenigſtens eine zuſtimmende Konfeſ— 
ſion des Autors zu der ſeines Helden erfordert hätte. 
Ich glaube jedoch durch den beſonderen Standpunkt, 
welcher mir bei Betrachtung des Grafen Zinzendorf 


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gegeben war, dieſen ſelbſt nicht eben nachtheilig auf— 
gefaßt zu haben. Ich war unbefangen bemüht, ihm 
ſeine Vorausſetzungen zu laſſen, und bin ihm auf 
ſeinen Wegen, wie mich dünkt, mit Billigkeit, ja 
mit Liebe gefolgt, die allerdings ſchon durch die 
Wahl eines ſolchen Gegenſtandes bezeugt werden 
kann. Wenn ich auch ſtärker, als dies einem ſeiner 
glaubensverwandten Biographen belieben könnte, die 
Fehler und Schwächen des Mannes hervorgehoben 
habe, ſo dürfte er doch darum nicht weniger auch 
in meiner Schilderung ſelbſt für ſeine Anhänger ein 
höchſt werthes Bild geblieben ſein. 

Ueber Zinzendorf iſt viel geſchrieben worden, 
jeder Umſtand ſeines Lebens genau verzeichnet und 
erörtert, von Freunden und Feinden; beſonders läßt 
das Werk von Spangenberg hinſichtlich der genauen 
Ausführlichkeit wenig zu wünſchen übrig, Der 
größte Schatz aber für Zinzendorf's Lebensbeſchrei— 
bung ſind die eignen Schriften des Grafen, da er 
faſt in allen, und, bei jedem Anlaſſe, von ſich ſelbſt, 
von feinen Verhältniſſen und Meinungen, ausführ— 
lich ſpricht. Häufig, wo es ſcheinen könnte, als ſei 
ich nur der Arbeit Spangenberg's gefolgt, iſt die 
Uebereinſtimmung mit dieſem wackeren Vorgänger, 
deſſen Leitung man ſich ſonſt wohl überlaſſen dürfte, 
doch zumeiſt daher entſtanden, daß ich aus jenen 


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Hauptquellen, eben fo wie er, geſchöpft habe. Darf 
nun in Betreff der Thatſachen hier nicht leicht etwas 
Neues von Erheblichkeit mit Grund erwartet wer— 
den, ſo iſt es nur um ſo günſtiger, daß gleichwohl 
die ſchätzenswertheſten Mittheilungen auch dieſer Art 
hier ſich dargeboten haben, welche früher nicht be— 
kannt geweſen. Andres Neue, welches aus der Auf— 
faſſung und Zuſammenſtellung ſich ergiebt, bedarf 
keiner beſonderen Angabe. 

Tadelnswerth möchte an dieſem Buche zunächſt 
der Umfang deſſelben dünken. Ich bekenne, daß ich 
dieſem Uebelſtande nicht abzuhelfen gewußt, ohne 
dem Manne, deſſen Bild ich geben wollte, in dieſem 
erhebliches Unrecht zuzufügen. Das Eigenthümliche 
liegt hier grade in der großen Fülle der mannig— 
fachen, ſich durchkreuzenden, abbrechenden, wieder— 
kehrenden Einzelheiten; die Abſichten und Wirkungen 
Zinzendorf's entfalten ſich nicht ſchlagweiſe, ſondern 
allmählig, in, mit und aus einer unermüdlichen Le— 
bensthätigkeit, die auf alle ſeine Tage und Bezie— 
hungen in unaufhörlich erneutem Fortrücken vertheilt 
iſt, und ſich nicht in wenige große Haupthandlun— 
gen zuſammenfaſſen läßt, ſondern wiederholte, ein— 
zelne Aufzählungen verlangt. Wer jedoch einen 
Mann wie Zinzendorf kennen lernen, und nicht zum 
leeren Zeitvertreib einen wieder zerrinnenden An— 


Bd x Bio 


blick, ſondern zu ernſter Betrachtung eine dauernde 
Geſtalt gewinnen will, dem darf auch wohl zuge— 
muthet werden, ihn in dem Element aufzuſuchen, 
welches ſich als das ihm eigne dargiebt. 

Berlin, im November 1829. 


K. A. Varnhagen von Enſe. 


Graf Ludwig von Zinzendorf. 


Biographiſche Denkmale. V. 1 


FF 
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5 


* 


Meter 
e 


Im Rücken der Staatsgeſchichte, zwiſchen den Stür— 
men des Krieges und andern öffentlichen Ereigniſſen 
hindurch, ſtrömen ſtillere Quellen des Lebens, eines oft 
tieferen und kräftigeren, als die offenbare Welt dem 
Blicke zeigt, und welches weiterhin dennoch wohl in 
Staat, Kirche und Litteratur mächtig ergreifend aus— 
bricht. Beſonders haben eigenthümliche Geſtaltungen 
der Frömmigkeit und der Sitteneinrichtung in den we— 
nig beachteten Kreiſen der Geſellſchaft, unter Handwer— 
kern und Landleuten, ja unter ganz verachteten Aus— 
geſtoßenen, von jeher eigne Stätten und Bahnen ge— 
habt. Findet ſich auf dieſem Boden zu ſolch ſtarken 
Gemüthstrieben höhere Bildung, durchdringendes Ta— 
lent oder vornehmer Stand, ſo kommt leicht Außeror— 
dentliches an den Tag, das der Welt zum Erſtaunen 
wird. In dem religiöſen Leben des achtzehnten Jahr— 
hunderts haben ſich auf ſolche Weiſe in Deutſchland 
drei merkwürdige Perſönlichkeiten hervorgethan, welche 
der proteſtantiſchen Kirche angehörten, und theils den 
Formen derſelben neues Eigenthümliche gaben, theils 
doch in ihnen beſondere Geiſteswirkung ausübten. Der 
1 * 


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Graf von Zinzendorf, Lavater und Jung - Stilfing, von 
welchen wir reden, bilden in dieſer Hinſicht eine bedeu— 
tende Folgereihe vom Anfange des genannten Jahrhun— 
derts bis über deſſen Schluß hinaus; reiche Talente 
ſtehen allen dreien für die Welt zu Gebot, aber Sinn 
und Kraft der Frömmigkeit ſtellen ſich in die Mitte 
dieſer Gaben, und wie ſich alles dahin bezieht, ſo em— 
pfängt auch von daher die ganze Lebensgeſtalt ihre Be— 
dingungen. Wie hier das Weltliche dem Geiſtlichen 
ſich heiter geſellt und würdig fügt, aber nicht unter— 
drückt wird, wie beide einander ſchön und gedeihlich be— 
gleiten, das Heil der Einfalt mit den Vortheilen der 
Weltbildung ungeirrt zuſammengeht, das gewährt eine 
fo inhaltreiche als anmuthige Betrachtung. Waren in 
Lavater und in Jung-Stilling die Gaben der Mitthei— 
lung, die Thätigkeiten des Lehrens und Darſtellens vor— 
herrſchend, durch welche ſie viele Tauſende zur geiſtigen 
Gemeinde um ſich ſammelten, die äußerlich unverbun— 
den dem Zufall überlaſſen blieb, ſo giebt Zinzendorf, 
wiewohl auch er als Schriftſteller und Lehrer unermüd— 
lich und fruchtreich war, dagegen vorzugsweiſe die mäch— 
tigere Thätigkeit zu ſchauen, welche auf die dauernde 
Verbindung der Menſchen gerichtet iſt, er bildet eine 
neue kirchliche Form, die nach ihm glücklich fortbeſteht 
und noch immer ſegenreich fortſchreitet; er iſt ein re— 
ligiöſer Staatsmann, als welchen ihn die nachfolgende 
Schilderung dem Leſer näher vor Augen zu ſtellen ver— 
ſuchen wird. 


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Nikolaus Ludwig Graf und Herr von Zinzendorf 
und Pottendorf wurde geboren zu Dresden den 26. Mai 
des Jahres 1700. Das Haus Zinzendorf, im Jahre 
1662 durch Kaiſer Leopold den Erſten in den Reichs— 
grafenſtand erhoben, war in Oeſterreich von Alters her 
im Beſitze großer Güter und Ehrenſtellen; mehrere 
Glieder deſſelben aber waren ſchon früh der Reforma— 
tion beigetreten, endlich der Großvater unſers Grafen 
um des lutheriſchen Glaubens willen aus Oeſterreich 
nach Franken gezogen, wo er auf Oberbirg, einem 
Schloſſe bei Nürnberg, ſeinen Wohnort nahm; zwei 
ſeiner Söhne gingen nach Sachſen, und erwarben da— 
ſelbſt hohe Dienſtwürden und anſehnliches Beſitzthum; 
der ältere wurde kurſächſiſcher Feldzeugmeiſter und 
Oberkommandant aller Feſtungen, der jüngere, Georg 
Ludwig, kurſächſiſcher Konferenzminiſter. Dieſer letz— 
tere, der aus erſter Ehe ſchon einen Sohn und eine 
Tochter hatte, vermählte ſich zur zweiten Ehe mit Char— 
lotte Juſtine Freiin von Gersdorf, die ihm ſogleich im 
erſten Jahre der Verbindung den Sohn gebar, deſſen 
Lebenslauf hier erzählt werden ſoll. Der Vater ſtand 
in großem Anſehn, und wurde wegen ſeiner Geſchäfts— 
führung wie wegen ſeiner Frömmigkeit ſehr geehrt. 
Die Mutter hatte den Ruf einer frommen und edlen 
Frau, fie wußte die griechiſche und lateiniſche und die 
vorzüglichſten neueren Sprachen, und war in theolo— 
giſchen Sachen wohlerfahren, eben fo geübt in deutſcher 
Dichtkunſt. Innigſt befreundet war beiden Ehegatten 


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der fromme Gottesgelehrte Spener, der in der Lu— 
theriſchen Kirche des ſiebenzehnten Jahrhunderts neues 
Leben erweckt und auch in Dresden durch ſeine Er— 
bauungen fruchtreich gewirkt hatte, bis er zuletzt, we— 
gen mannigfacher Anfeindung, die ſeine Freimüthigkeit 
erfahren müſſen, einen ehrenvollen Ruf nach Berlin an— 
genommen, wo er darauf in ungeſtörtem Frieden und 
Anſehn ein thätiges Alter geführt. Dieſer treffliche 
Mann, damals ſchon aus Dresden entfernt, aber mit 
dem gräflichen Hauſe in ſteter Verbindung, war nebſt 
den Kurfürſtinnen von Sachſen und von der Pfalz ein— 
geladen worden, Taufzeuge bei dem neugeborenen Kinde 
zu fein, und ſchon dieſe erſte Beziehung durfte dieſem 
als eine bedeutungsvolle gelten. Bald wurde daſſelbe 
einer neuen theilhaft, welche ſich in gleichem Sinne 
zeigte. Der Vater erkrankte, und als er im Sterben 
lag, brachte man ihm ſein kaum ſechswochenaltes, ſchla— 
fendes Kind, damit er es noch ſegnen ſollte; er ſagte 
zu ihm: „Mein lieber Sohn, ich ſoll dich ſegnen, und 
du biſt jetzt ſchon ſeliger als ich, ob ich gleich bereits 
halb vor dem Thron Jeſu ſtehe,“ und gab ihm dann 
mit nachdrücklichen Worten ſeinen Segen, zu wandeln 
nicht etwa nur wie ein frommer Graf, ſondern wie ein 
völliger Jünger Chriſti; ein Segen, auf welchen ſchon 
Spener in früherem Glückwunſche zu der zweiten Ver— 
heirathung ſeines Freundes gezielt hatte, und der, im 
Andenken der Hinterbliebenen ſtets wirkſam erhal— 
ten, auch dem heranwachſenden Kinde ſelbſt durch Er— 


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zählung und Bekräftigung mehr und mehr angeeignet 
wurde. 

Der Wittwe und ihrem Sohne, dem jüngeren des 
Vaters, blieb nur der mindere Theil des hinterlaſſenen 
Vermögens, das auch im Ganzen nicht ſehr beträchtlich 
war. Die Mutter zog mit ihrem Kinde von Dresden 
nach der Oberlauſitz, wo ihr Vater, Nikolaus Freiherr 
von Gersdorf, anſehnliche Güter, unter andern die 
nachher berühmt gewordenen Ortſchaften Großhenners— 
dorf und Bertholdsdorf beſaß, und zugleich das Amt 
eines kurſächſiſchen Landvogts verwaltete. Auch er ſtarb 
nach anderthalb Jahren, und der junge Zinzendorf, dem 
wohl ſeines Vaters Bruder zum Vormund namentlich 
beſtellt war, aber in einem ſo zarten Alter noch wenig 
leiſten konnte, fiel nun ganz der Obhut der Frauen an— 
heim. Zwei Jahre ſpäter ſchritt jedoch ſeine Mutter, 
günſtigen Lebensanſprüchen folgend, zur zweiten Ehe, 
und heirathete den preußiſchen General, nachherigen 
Feldmarſchall von Natzmer, mit dem ſie nach Berlin 
zog; ihren noch nicht fünfjährigen Sohn aber durfte ſie 
der Fürſorge ihrer Mutter, der verwittweten Freifrau 
von Gersdorf, mit voller Ueberzeugung, das Beſte für 
ihn gewählt zu haben, getroſt überlaſſen. Dieſe hoch— 
ſinnige Frau, welche auch bisher ſchon ihrem Enkel die 
zärtlichſte Sorgfalt gewidmet hatte, wurde ſeine zweite 
Mutter; fie war ein Muſter der Frömmigkeit und Tu— 
gend, dabei gebildeten Geiſtes, nicht ohne dichteriſches 
Talent, im Handeln klar und ſicher; durch ſie vorzüg— 


BD 8 Se 


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lich empfing die Richtung, welche dem Knaben gewiſſer— 
maßen fchon gegeben war, den Gehalt und die Stärke, 
wodurch dieſelbe zur entſchiedenen Bahn ſeines Lebens 
wurde. In gleichem Sinne wirkte ſeine liebevolle 
Tante Henriette, die Schweſter ſeiner Mutter, auf ihn 
ein. Und hier finde die Betrachtung ihre Stelle, wie 
viele in Thaten und Werken dargelegte Trefflichkeit 
nicht ohne den beſeelenden Antheil mütterlicher Frauen 
hat werden wollen! Erwähnt ſei nur, daß auch der 
edle Saint-Martin, der geiſtigſte und ſanfteſte der 
Menſchen, das Glück ſeiner Lebensrichtung einer liebe— 
vollen Stiefmutter zu danken hatte. — Nach Großhen— 
nersdorf kamen öfters zum Beſuch von Berlin der treue 
Spener, von Halle die frommen Männer Francke, An— 
ton und Freiherr von Canſtein, welche über den jungen 
Zinzendorf ihre eifrigſten Segnungen ausſprachen, und 
Spener über den erſt vierjährigen einſt mit aufgelegten 
Händen mit ſolcher Inbrunſt, daß davon für alle An— 
weſenden ein tiefer, andauernder Eindruck entſtand, der 
für das Kind ſelbſt bei zunehmenden Seelenkräften 
immer mehr die Ueberzeugung nährte, daß ihm eine 
beſondere Weihe für den Dienſt Gottes zu Theil ge— 
worden. i | 

Der Knabe war von ſchwächlichem Körper, aber 
deſto feurigeren Geiſtes. Sein Eigenwillen konnte hef— 
tig und trotzig hervorbrechen; lebhaft faßte er auf, Ge— 
dächtniß und Einbildungskraft beſaß er in hohem Grade, 
auch im Reden bewies er frühe Leichtigkeit; ſein Feuer 


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wurde jedoch gemildert durch den Trieb ſtillen Nach— 
ſinnens und beſonnener Ueberlegung, der ſich gleichfalls 
früh in ihm offenbarte. Das eigentliche Lernen ging 
indeß bei aller Anleitung nur langſam, während durch 
Beiſpiel und Uebung ſein religiöſer Sinn deſto raſcher 
entwickelt wurde. Durch Verwandte und ſeinen Lehrer- 
Edeling vor allem auf das Gebet hingewieſen und in 
der Religion unterrichtet, wußte er ſchon im vierten 
Jahre die Hauptlehren des Chriſtenthums, betete voll 


Andacht, und hegte mit der Vorſtellung, daß Chriſtus 


unſer Bruder und für uns geſtorben ſei, die herzlichſte 
Liebe zu dem Heiland; es dürfe ja mit dem Bruder, 
glaubte er ſchon damals, jederman brüderlich umgehn, 
und brauche ſich nicht zu ſcheuen, ihm alles, wenn es 
auch noch ſo ſchlecht wäre, vorzutragen. So entſpann 
ſich in dem kindlichen Gemüthe mit dem Heiland ein 
traulicher Verkehr, der für ſein ganzes Leben eine ſüße 
und unentbehrliche Gewohnheit wurde. Er freute ſich 


viele Wochen voraus auf die Feier der Geburt und 


dann des Leidens Chriſti, weil da ſchöne Liederchen ge— 
ſungen wurden, und weil er hoffte, ganz etwas Beſon— 
deres über den Erlöſer vortragen zu hören. Als er in 
einer Betſtunde den Vers des Liedes, der den Heiland 
unſern Bruder nennt, verſchlafen hatte, weinte er aus 
Betrübniß. Er ſelbſt meldet über ſein Erfülltſein mit 
dieſen Gegenſtänden unter andern Folgendes: „In mei— 
ner Frau Großmutter Hauſe begegneten mir zwei Um— 
ſtände, die meine ganze künftige Lebensart veranlaſſeten. 


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Als in meinem fechften Jahre Herr Edeling, mein drei— 
jähriger Präzeptor, in der gewöhnlichen Abendbetſtunde 
von mir Abſchied nahm, gebrauchte er ſich zarter Aus— 
drücke von meinem Heilande und ſeinem Verdienſte, 
und auf was Weiſe ich ihm angehörte; die waren mir 
ſo aufgeſchloſſen, lebhaft und eindringend, daß ich in 
ein langwieriges Weinen gerieth, und unter demſelben 
feſt beſchloß, lediglich für den Mann zu leben, der ſein 
Leben für mich gelaſſen hat. In dieſen Gedanken 
wurde ich von meiner ſehr geliebten Tante Henriette 
ganz liebreich und evangeliſch unterhalten; der ſagte ich 
mein ganzes Herze, und wir trugen es denn ſo gemein— 
ſchaftlich dem Heilande hin. Vor ihr hatte ich keinen 
Scheu, mein Böſes und mein Gutes erfuhr ſie. Hat 
etwas von meiner Erziehung in die nachfolgenden Hand— 
lungen mit eingeſchlagen, ſo iſt es bei der Einrichtung 
der Banden, oder kleinen Geſellſchaften, geſchehen, denn 
ich habe den Plan dieſer Vertraulichkeit immer im Ge— 
müth behalten, und bei aller Gelegenheit anzubringen 
geſucht. In meinem achten Jahre lag ich eine Nacht 
lang ohne Schlaf, und kam durch ein altes Lied, wel— 
ches meine Frau Großmutter vor ihrem Schlafengehn 
geſungen, in eine Meditation, aus derſelben in ein tie— 
fes Spekuliren, und dieſes ging ſo weit, daß mir auf 
die letzt Hören und Sehen verging. Die raffinirteſten 
Ideen der Atheiſten entſponnen ſich von ſelbſt in mei— 
nem Gemüthe, und ich ward dadurch ſo angegriffen 
und ſo tief hinein gebracht, daß alles, was ich ſeitdem 


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gehöret und geleſen, mir ſehr feichte und unzulänglich 
geſchienen, und die geringſte weitere Impreſſion nicht 
gemacht. Weil aber mein Herz mit dem Heilande, und 
ich ihm mit einer empfindlichen Aufrichtigkeit zugethan 
war, und vielmals dachte, wenns möglich wäre, daß 
ein anderer Gott, als er, ſein und werden könnte, ſo 
wollte ich lieber mit dem Heilande verdammt werden, 
als mit einem andern Gott ſelig ſein; ſo hatten die 
ſeitdem immer wiederkommenden Svekulationen und 
Vernunftſchlüſſe keine andere Gewalt bei mir, als mich 
zu ängſtigen und mir den Schlaf zu verderben, aber 
auf mein Herz nicht den geringſten Effekt. Was ich 
glaubte, das wollte ich, was ich dachte, das war mir 
odiös, und ich faßte damals gleich den firmen Schluß, 
den Verſtand in menſchlichen Dingen ſo weit zu brau— 
chen, als er langte, und mir ihn ſo weit ausklären und 
ſchärfen zu laſſen, als es nur immer damit könnte ge— 
trieben werden, in geiſtlichen aber bei der im Herzen 
gefaßten Wahrheit ſo einfältig zu bleiben, daß ich ſie 
zum Grund aller andern Wahrheiten legen, und was 
ich nicht aus ihr deduciren könnte, gleich wegwerfen 
wollte. Und das iſt mir geblieben bis dieſen Tag.“ 
Und an einem andern Orte: „Ich hörte von meinem 
Schöpfer erzählen, daß er ein Menſch geworden ſei. 
Das affieirte mich ſehr. Ich dachte bei mir ſelber: 
Wenn der liebe Herr auch von ſonſt niemand geachtet 
wird, ſo will ich mich doch an ihn anhängen, und mit 
ihm leben und ſterben. So bin ich viele Jahre kinder— 


haft umgegangen, habe ſtundenweiſe mit ihm geredt, 
wie ein Freund mit dem andern, und bin in der Me— 
ditation die Stube vielmal auf- und abgegangen. In 
dem Geſpräch nun mit ihm war ich ſehr ſelig und dank— 
bar für das, was er für mich mit ſeiner Menſchwer— 
dung Gutes gedacht hatte. Aber ich verſtund die Größe 
und Genugſamkeit des Verdienſtes ſeiner Wunden und 
ach! des Martertodes meines Schöpfers nicht ganz. 
Es war auch das Elend und Unvermögen meines menſch— 
lichen Weſens mir nicht recht aufgedeckt, ich that das 
meinige auch dabei, ſelig zu werden; bis auf einen ge— 
wiſſen außerordentlichen Tag, da ich ſo lebhaft gerührt 
wurde von dem, was mein Schöpfer für mich gelitten 
hatte, daß ich zuerſt tauſend Thränen vergoß, und mich 
nach dieſem noch genauer an ihn attachirte und zärtlich 
mit ihm verband. Ich kontinuirte mit ihm zu reden, 
wenn ich allein war, und glaubte von Herzen, daß er 
ganz nahe um mich wäre. Ich konnte viele Sprüche 
auswendig, da ſtunden dergleichen Wahrheiten drinnen. 
Ich dachte auch: Er iſt Gott und kann mich verſtehn, 
wenn ich mich auch nicht recht explicire, er hat ein Ge— 
fühl davon, was ich ihm ſagen will. Oft dachte ich, 
wenn er mich nur einmal hörte, ſo würde es genug 
ſein, daß ich auf meine ganze Lebenszeit ſelig wäre.“ 
Er ſchloß mit dem Heilande den Bund: „Sei du mein, 
lieber Heiland, ich will dein ſein!“ und dieſen Bund 
erneuerte er ſehr oft. Er ſchrieb auch dem Heilande 
kleine Briefe. Solche Spielerei des Kindes blieb auch 


x 


1 DS 
zn) 13 55 


in der Folgezeit für ihn von Einfluß. Kirche und Pre— 
digt, Liederſingen und Beten, wie ehrwürdig ihm auch 
ihre Bedeutung war, gaben zugleich den kindiſchen Trie— 
ben Nahrung. Doch war hinwieder auch der tiefſte 
Ernſt dabei wirkſam. Seine innere Richtung bewährte 
ſich auch in äußerem Benehmen; er ſchenkte das Geld, 
welches er empfing, gleich und alles den Armen; er 
war voll Eifer dienſtfertig gegen jeden, und für em— 
pfangene Dienſte herzlich dankbar; er liebte heftig die 
Perſonen, die ihm wohlwollten oder mit ihm bemüht 
waren; er bekannte willig ſeine Fehler, und ſuchte ſie 
abzulegen. In dieſen Eigenſchaften und Bemühungen 
hatte der Knabe früh ſchon eine gewiſſe Stärke erlangt, 
die auch nach außen Eindruck machte. Als im Jahre 
1706 der König von Schweden Karl der Zwölfte mit 
ſeinem Heere nach Sachſen vorgedrungen war, kam ein 
Trupp ſchwediſcher Soldaten, um Kriegsgelder einzu— 
fordern, nach Großhennersdorf; ſie rückten in das 
Schloß und unaufgehalten bis in den Saal, wo der 
ſechsjährige Knabe eben ſeine gewohnte Betſtunde hielt, 
der unvermuthete Anblick und Vortrag des redebegab— 
ten Kindes wirkte aber ſo mächtig auf dieſe Krieger, 
daß ſie, ihrer Abſicht faſt vergeſſend, an der Andachts— 
übung ſogleich mit Innigkeit Theil nahmen. 

In ſeinem eilften Jahre wurde Zinzendorf, der 
bereits gut lateiniſch und franzöſiſch wußte, auch ſonſt 
in mancherlei Kenntniſſen und Fertigkeiten einen guten 
Grund gelegt hatte, zur ferneren Ausbildung auf das 


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— 


Königliche Pädagogium nach Halle gebracht. Dieſe 
Erziehungsanſtalt ſtand ſchon damals in großem Rufe 
ſittlicher und geiſtiger Trefflichkeit; durch fie war für 
junge Leute vornehmen Standes, wie durch die wun— 
derbar gedeihende Waiſenhausſtiftung für die ärmere 
Jugend in gleichem Geiſte geſorgt; Francke, ihr Grün— 
der, leitete ſie beide in derſelben frommen Richtung, 
die von ihm auch Stadt und Univerſität empfing, welche 
letztere, erſt im Jahre 1694 geſtiftet, in aller Kraft 
friſchen Emporkommens blühte. Der chriſtliche Eifer, 
der hier waltete, lieh der frommen Milde zwar oft 
eine düſtre Strenge, und die Bekenner waren unter 
dem Namen Pietiſten, welchen Spener's collegia pieta- 
tis zuerſt veranlaßt, vielfach angefeindet und verſchrieen; 
allein die Getreuen hielten nur um ſo feſter an dem 
erwählten Wege. Zinzendorf, von Kindheit an mit 
dieſer Richtung vertraut, hatte darin hier zunächſt eini— 
ges Herbe zu erfahren. Seine Großmutter war ſelbſt 
mitgereiſt, um ihn der Obhut Francke's zu übergeben, 
und, mochte nun das Weltliche bei dem Jünglinge grade 
in dieſer Zeit ſtark hervortreten, oder andre Rückſicht 
dazu rathen, genug, er wurde Francke'n als ein junger 
Herr geſchildert, deſſen Hochmuth zu beugen und deſſen 
Gaben ſtreng einzuhalten ſeien. Ihm wurde daher 
viele Demüthigung zu Theil, er wurde zurückgeſetzt in 
den Klaſſen, hart und beſchämend beſtraft, ſein Stand 
und ſeine bisherige Erziehung nicht beachtet. Seine 
Mitſchüler verſpotteten ihn, haßten ihn ſogar. Dabei 


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hatte er nichtsdeſtoweniger mancherlei Verführungen von 
ihnen auszuſtehn. „Da ich auf Befehl meiner lieben 
Tante, — ſo erzählt er ſelbſt, — auswärts kein Weibs— 
volk anzuſehen begehrte, ob ich gleich zu Hauſe unter 
lauter Weibsleuten geweſen war, ſo ſuchten hingegen 
die Scholaren mir ihre täglich mehr überhandnehmende 
Schulſünden mit aller Liſt, Kunſt und Plauſibilität, die 
der Satan in ein menſchlich Herz bringen kann, zu 
kommunieiren. Ich hatte auch eine Anfaſſung an ſolche 
Dinge, und da ich ohnedem zum Fürwitz geneigt war, 
hätte ich eben alles wiſſen mögen, was gut oder ſchäd— 
lich geweſen; weil ich aber unter einer Gnadenzucht 
ſtand, die ſie nicht kannten, ſo wurde ich nicht allein 
allemal von ihren böſen Thaten zurückgehalten, ſondern 
es gelang mir mehr als einmal, diejenigen, die mich 
verführen ſollten, ſtatt deſſen ins Gebet mit mir zu 
bringen, und für meinen Heiland zu gewinnen.“ Ja 
er fing im Stillen recht eifrig zu bekehren an, und ge— 
ſtaltete die Sache gleich geſellig, indem er, auf Böden 
und andern abgelegnen Orten mit mehreren jungen Leu— 
ten, unter welchen ſich nach Umſtänden auch grobe Sün— 
der befanden, die ſehr mild ertragen wurden, Zuſam— 
menkünfte hielt, zum Beten, zu wechſelſeitiger Prüfung, 
zur Anmahnung. Er war hiebei von beſonderer Thä— 
tigkeit, die Geſellſchaft ungeachtet der Verſchiedenheit 
der Glaubensbekenntniſſe zu einigen, zu beleben, unter 
allem Wechſel der Theilnehmer fortzuſetzen, gegen Neid 
und Verfolgung zu ſtärken. Dem Heilande und der 


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Beförderung feines Neiches widmete fih ein noch enge- 
rer Bund unter dem Namen des Ordens vom Senf- 
korn, deſſen Mitglieder gewiſſe Ordensregeln beobach- 
teten, und als Zeichen einen goldenen Ring trugen, in 
welchem die Worte: „Unſer keiner lebt ihm ſelber“ 
eingegraben waren. Dieſer Orden, um welchen auch 
Zinzendorfs Großmutter wußte, blieb ganz in der Stille, 
dauerte aber, nachdem die Mitglieder längſt nach Holland, 
Frankreich, Ungarn und ſonſtiger Heimath zurückgekehrt 
waren, durch eifrigen Briefwechſel und nicht ohne Se— 
gen fort. Ganz beſonders aber verband ſich Zinzendorf 
mit dem Freiherrn Friedrich von Watteville, einem 
Jüngling aus der Schweiz von angeſehener Familie, 
der gleichfalls auf dem Pädagogium ſtudirte. Die 
Miſſionsthätigkeit, welche ſich mit dem halliſchen Wai— 
ſenhauſe unter Francke's Leitung erhob, wandte die 
Jünglinge zu dem Vorſatz, ihrerſeits auch für die Be— 
kehrung der Heiden zu wirken, und zwar nur ſolcher, 
an die ſich ſonſt niemand machen würde; ein Vorſatz, 
der in der Folge weite Ausführung erhielt. So groß 
war aber ſchon damals Zinzendorfs Gabe, Verſchieden— 
artiges zu verbinden, daß ſein geiſtliches Treiben mit 
einem ſtarken weltlichen ganz wohl zuſammenging; er 
war hochmüthig, geſteht er, zwar nicht in der Sache 
Chriſti, aber doch in Bezug auf Standesſachen und Le⸗ 
bensverhältniſſe, auf natürliche Gaben und Geſchicklich— 
keiten; weshalb ihn Francke auch wohl ein naſeweiſes 
Gräfchen nannte; er liebte zu glänzen und voranzuſtehn, 


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er putzte ſich gern, zeigte viele Luſtigkeit, und war dem 
Witz und Scherz nicht abgeneigt; der damals lebhaft 
geführte Streit über die Adiaphora oder Mitteldinge, 
die zwar an ſich weder gut noch böſe, doch das eine 
oder das andre in der Anwendung werden können, z. B. 
Tanz und Kartenſpiel, welche durch Francke ganz ver— 
worfen wurden, ließ ihn lange Zeit unangefochten, er 
tanzte zwar nicht, aber eine Spielparthie machte er 
gern, und ſagte davon, man könne ſchlechteres thun, 
wiewohl auch beſſeres, wie er nicht läugnete. Sein 
Eifer zu dem Heilande behielt indeß gegen jede welt— 
liche Richtung die Oberhand; die Luſt zum Leiden, der 
Glaube zum Durchkommen, und die Zufriedenheit mit 
den geringſten Umſtänden, prägten ſich ihm tief ins 
Herz. Sein erſter Genuß des heiligen Abendmahls ließ 
ihn ganz ungewöhnliche Regungen an ſeiner Seele er— 
fahren, und er verband ſich ſeinem Heilande zu ewiger 
Treue und Nachfolge. Francke und andre ſeiner Leh— 
rer, denen er die größte Liebe und Zärtlichkeit bewies, 
befreundeten fich ihm in dieſer Geſinnung mehr und 
mehr, und erſterer ſagte einmal von ihm, er würde noch 
ein großes Licht der Kirche werden. Ein beſonderes 
Vorbild war ihm hier öfters der Freiherr von Canſtein, 
Francke's Freund, der als ein Mann vornehmen Stan— 
des und großen Vermögens ganz dem Dienſte der Re— 
ligion und der Förderung ihrer Anſtalten lebte. Er 
war mit Zinzendorf weitläuftig verwandt, und machte 
durch ſeine ganze Erſcheinung auf den Jüngling ſolchen 
Biograph iſche Denkmale. V. 2 


rn 18 Ge 


Eindruck, daß dieſer ſogar gewiſſe Aeußerlichkeiten, die 
jener in ſeinem Benehmen zeigte, von ihm annahm. 
In ſeinen Studien ſchritt er ziemlich fort, er las die 
griechiſchen Schriftſteller, der lateiniſchen Sprache war 
er zum Reden und Schreiben mächtig, in der hebräiſchen 
legte er einigen Grund, in öffentlichen Redeübungen 
zeichnete er ſich aus, wiewohl er auch einmal bei ſehr 
feierlicher Gelegenheit, weil er die Sache aus Ueber— 
muth zu leicht genommen, zu tiefer Beſchämung ſeines 
Dünkels ſtecken blieb; in der deutſchen Dichtkunſt hatte 
er ſo große Fertigkeit, daß ihm die Verſe ſo leicht wie 
natürlicher Redelauf zufloſſen. Unter ſolchem inneren 
Wachsthum verlebte er ſechs Jahre in Halle; nur ſein 
Körper blieb ſchwächlich, und die Bedrückung, die ihm 
anfangs widerfuhr, war auch ſeiner Geſundheit nicht 
zum Vortheil. Er hatte ſchon früher, um ſich zu ſtär— 
ken, von Halle einen längeren Beſuch in Großhenners⸗ 
dorf gemacht; im April 1716 kehrte er von dem Päda— 
gogium, nachdem er noch eine lateiniſche Abſchiedsrede 
de philonikia eruditorum, oder von der Rechthaberei 
der Gelehrten, abgehalten, ganz dahin zurück. 

Hier blieb er eilf Wochen, theils durch den Unter— 
richt ſeines Hofmeiſters Criſenius, theils mit eignem 
Leſen, beſonders der Werke Luthers, neben dem freund⸗ 
lichen äußern und gewohnten inneren Lebensverkehr ge— 
nug beſchäftigt. Durch den ländlichen Aufenthalt neu— 
gekräftigt ging er alsdann zur Univerſität ab, beſuchte 
aber vorher ſeinen Oheim und Vormund in Gavernitz. 


2 19 88 


Dieſer war mit des Jünglings pietiſtiſchem Weſen nicht 
zufrieden, wollte denſelben daher nicht nach Halle, wie 
er gewünſcht hätte, zurückgehen laſſen, ſondern beſtimmte 
ihm Wittenberg zum Studienort, auch aus dem Grunde, 
weil dieſes eine ſächſiſche Univerſität war, vorzüglich 
aber, weil daſelbſt ein ganz andrer Geiſt, als in Halle, 
herrſchte. Die beiden Univerſitäten lagen ſogar in off— 
nem Streite, die alte Rechtgläubigkeit der Lutheriſchen 
Lehre hatte in Wittenberg ihren Sitz, und bekämpfte 
den halliſchen Pietismus als eine gefährliche Neuerung, 
während dieſer die kalte, ſtarre Orthodoxie für un— 
fruchtbar erklärte. Durch eine ausführliche ſchriftliche 
Inſtruktion beſtimmte der Vormund genau die Lebens— 
art und den Studiengang, welche auf der Univerſität 
befolgt werden ſollten. Zinzendorf, obwohl in ſeinen 
Neigungen einigermaßen gehemmt, beſchloß die genaueſte 
Befolgung dieſer Vorſchriften. Weil er aber wußte, 
daß man ihn von ſeinem Wege der Gottſeligkeit, den 
man Pietiſterei nannte, abzubringen wünſchte, ſo war 
er nur deſto ſorgſamer, den Schatz, welchen er im In— 
nern hegte, zu bewahren. Angewieſen zum Studium 
der Rechtswiſſenſchaft lag er dieſer fleißig ob, und trieb 
mit Eifer auch andre weltliche Kenntniſſe, Sprachen, 
und ſelbſt körperliche Uebungen, welche ſeinem Stande 
geziemend dünkten; bei den letzteren nahm er nach ſei— 
ner Art den Heiland zu Hülfe, und äußerte ſich darüber 
folgendermaßen: „Man ſucht, denke ich, eigentlich ein 
Ridicule darin: ich finde es aber nicht. Ein pietiſtiſcher 
2 * 


- 


BD 20 Be 


junger Herr, der einen geraden Verſtand hat, weiß, 
daß, wenn ihm feine Vormünder und Hpfmeifter einen 
Fechtmeiſter, Tanzmeiſter und Bereiter zuordnen, keine 
genugſame Entſchuldigung zu finden iſt, dieſe Gymnaſie 
zu dekliniren. Er bequemet ſich alſo zum Fechtboden, 
zum Tanzboden, zur Reitſchule, ohne viel Wortwechſel: 
nimmt aber mit ſeinem Herzensfreunde, dem allgegen— 
wärtigen Heilande Jeſu Chriſto, die Abrede, er ſolle 
ihm ja fein viel Geſchicklichkeit dazu geben, damit er 
von allen ſolchen Allotriis bald mit Ehren losgeſprochen 
und in die Freiheit geſetzt werde, die etlichen Stunden 
des Tages auf etwas Solideres und ſeinem Gemüthe 
und künftigen Umſtänden Konvenablers zu wenden. 
Mein einziger und wahrer Konfident hat mich auch 
hierin keine Fehlbitte thun laſſen.“ Die Hauptſache 
blieb ihm aber, einen Lebensgang einzuhalten, bei dem 
er ſeine Seele retten möchte, und ſo zog die Religion 
alle ſeine Gedanken an. Daher wurde auch die Theo— 
logie ſein Lieblingsſtudium, dem er jede Muße wid— 
mete. Er beſuchte den Gottesdienſt mit Andacht, hielt 
aber auch eigne Betſtunden, las die Bibel, ſang geiſt— 
liche Lieder, und legte ſich beſondre Uebungen auf, 
durchwachte ganze Nächte in frommen Betrachtungen, 
hielt Faſttage, und wurde in den ſogenannten Mittel- 
dingen ſtrenger, als je vorher oder auch ſpäterhin. So 
wurde ſein Wandel geſetzlicher, aber ſein Herz weniger 
frei und heiter; die theologiſchen Streitigkeiten, in deren 
Mitte er fich geſtellt fand, gaben ſeinem Geiſte uner— 


on 21 Be 


freuliche Spannung, feinem Gefühle manches herbe 
Leid. Viele unnöthige, ſchwere, langwierige und oft 
wiederholte Kämpfe, wie er ſelbſt ſie bezeichnet, und 
mit denen er ſich in die zwölf Jahre aufgehalten, mußte 
er in ſeinem Innern erfahren. Dabei war ſeine Art 
der Frömmigkeit dem vielfachſten Tadel ausgeſetzt, und 
dies um ſo mehr, als er ſeiner halliſchen Sinnesweiſe 
durchaus treu blieb, um ſie bei jeder Gelegenheit un— 
verhohlen ausſprach. Er vertheidigte Francke'n und 
das ganze Wirken, welches mit dem halliſchen Waiſen— 
hauſe zuſammenhing, gegen vielfache Angriffe; er hielt 
dem ſeligen Spener, als deſſen Sohn nach Wittenberg 
kam, öffentlich eine ausführliche Lobrede. Die Theolo— 
gen in Wittenberg, unter welchen Doctor Wernsdorf 
einer der vornehmſten war, ließen ihm dieſe Ausbrüche 
ſeines gutgemeinten Eifers mit Nachſicht hingehen, und 
er ſelber ſchämte ſich bald ſeines gehabten Vorurtheils, 
daß dieſe Theologen ſtörrige Zänker wären, wurde mit 
ihnen näher bekannt und faßte Vertrauen zu ihnen. 
Aber indem es ſcheinen konnte, als ob er gewonnen 
würde, fand eher das Gegentheil Statt. Er durfte in 
vertraulichen Geſprächen ihnen ihre Verſündigung gegen 
Halle zu rechter Zeit und zur Unzeit vorhalten, und 
ihnen Wahrheiten ſagen, die einem jungen Studenten 
kaum geziemten, ohne daß jene in ihrer beſcheidenen 
Geduld ermüdeten. Auch an öffentlichen Aeußerungen 
ließ er es nicht fehlen. Zwar ſein Oheim, der ſich, 
wie Zinzendorf erzählt, es zur Regel gemacht hatte, 


md 22 


ihm fo viel möglich eine andre Natur zu Schaffen, oder 
wenigftens den Kopf auf eine andre Stelle zu ſetzen, 
als wo er ihn gefunden, war bedacht geweſen, damit 
der pietiſtiſche Sinn weniger Raum, und die entgegen— 
geſetzte Richtung deſto größeren behielte, ihm in ſeiner 
Inſtruktion zu gebieten, nie ein Thema zu vertheidigen; 
allein ihm blieben dabei noch zwei Auswege; „Denn 
erſtlich war mir, — ſagt er, — das Opponiren nicht 
verboten, zum andern war meinem Onkel, aus allzu— 
großer Hoffnung, daß ich in Wittenberg meinen Pietis— 
mus gewiß aufgeben würde, nicht eingefallen, daß hin— 
gegen ich die gute Intention haben könnte, die theolo— 
giſche Fakultät zu Wittenberg zu Pietiſten zu machen.“ 
Dieſes gelang zwar ſo völlig nicht, aber es geſchahen 
durch ſein eifriges Bemühen wechſelſeitige Annäherun— 
gen, die ihren guten Nutzen hatten; der achtzehnjährige 
Jüngling wurde von beiden Partheien als ein willkom— 
mener Vermittler angeſehn, und ſchon wollte er mit 
Wernsdorf zu Francke nach Halle reiſen, um das Frie— 
denswerk zu vollenden, als er auf ausdrücklichen Befehl 
ſeiner Mutter, der man das Unternehmen unrichtig vor— 
geſtellt hatte, und die ſelbſt durch eine Zuſchrift Francke's 
hierin nicht umzuſtimmen war, von der ſehr gewünſch— 
ten Reiſe abſtehen mußte. Ein orthodoxer Profeſſor 
wurde inzwiſchen auch ſo für die andre Seite gewon— 
nen. Zinzendorf ſelbſt aber entſchied ſich im näheren 
Umgange Wernsdorf's innerlich für den geiſtlichen 
Stand, wobei er damals und lange nachher ſeine Ge— 


u 23 . 


danken nicht höher richtete, als etwa einen ſimplen Ka— 
techeten oder höchſtens einen glücklichen Dorfpfarrer 
abzugeben, ohne doch ſelbſt hiezu die mögliche Ausfüh— 
rung irgend nahe zu ſehn. Doch behielt er dieſen Be— 
ruf feſt im Sinn, und ſuchte früh jeden Gedanken ab— 
zulehnen, daß er für weltliche Geſchäfte taugen könnte. 
Er dachte hiebei: „Will mich Gott in ſeinem Reiche 
zu etwas brauchen, ſo biete ich der ganzen Welt Trotz, 
daß ichs, ohne ihren Dank, werden müſſe. Will ers 
aber nicht thun, ſo bin ich bei ihm noch unvergeſſen, 
und er ſieht etwa vorher, daß ich, in der boshaften 
Zeit, nichts mehr, als mich ſelbſt zu erhalten, und meine 
eigne Seligkeit zu beſorgen, nütze ſei.“ Inzwiſchen 
war in Wittenberg am 31. Oktober 1717 das zwei— 
hundertjährige Reformations jubiläum feſtlich begangen 
worden, und Zinzendorf hatte auch dieſen Gegenſtand 
mit dem Sinne betrachtet, der vor allem ein inneres 
Chriſtenthum verlangt. Später gab der Beſuch einiger 
halliſchen Freunde Anlaß, den alten Bund von Halle 
in Wittenberg durch ein neues Mitglied zu vermehren, 
unter vielem Gebet und Flehen, worin Zinzendorf eine 
ganze Nacht ausharrte. Sein Briefwechſel mit den 
Genoſſen, theils in franzöſiſcher, theils in lateiniſcher 
Sprache, war lebhaft, auch ſonſtige Aufſätze und Ab— 
handlungen und viele Gedichte ſchrieb er, wie auch eine 
Diſſertation de philautia affectuum omnium fonte pri- 
mario; in Beredſamkeit und Dichtkunſt beſaß er die 
größte Fertigkeit; an Kenntniſſen, ſowohl in der Rechts- 


e 24 So 


wiſſenſchaft und Geſchichte, als in der Theologie und 
in der Sprachkunde, hatte er ſehr gewonnen, fein Um⸗ 
gang war munter zugleich und erbaulich, ſein Betragen 
durch vornehme Sitte und freundliche Güte ausgezeich— 
net, ſein ganzes Weſen hatte etwas ſonderbar Auffal⸗ 
lendes und Wirkſames, worin ſich eine eigenthümlich 
begabte und berufene Perſönlichkeit kund gab. So 
ausgebildet verließ er nach vollendeten Studien im 
Frühjahr 1719 die Univerſität Wittenberg, und begab 
ſich auf Reiſen. 

Sein Oheim und Vormund war inzwiſchen geſtor— 
ben, und ſeine Mutter und Großmutter gaben wieder 
ſeinem weltlichen Wege die Hauptrichtung, von der bis— 
herigen nicht weſentlich verſchieden, denn wie ſehr auch 
beide mit feiner Frömmigkeit einſtimmig waren, fo konn— 
ten ſie doch kaum andre Plane für ihren Liebling den— 
ken, als daß er, wie ein Kavalier ſeines Namens und 
Ranges, ſich in der Welt umthun, in ihr ſeine ange— 
borenen Vortheile wahrnehmen, und dann in der Bahn 
der Ehre und des Anſehns allerdings gottſelig leben 
möchte. Ihm ſelbſt aber däuchte die Sache ſchon da— 
mals anders: „Ich will ja der Welt und ihrem We— 
ſen abſterben, — meinte er, — was ſoll ich mir erſt ſo 
viel mit ihr zu thun machen?“ Doch fügte er ſich 
ohne Widerſtreben vorläufig in den Willen der Andern. 
Die Reiſe ging zuerſt nach Holland, wohin ſein älterer 
Bruder und ein Hofmeiſter, Namens Riederer, der mit 
jenem ſchon auf Reiſen geweſen war, ihn begleiteten. Seine 


od 25 8-8. 


Stimmung war vorherrſchend religiös, und nahm auch 
überall ſolche Nahrung ein. Frankfurt am Main wurde 
ihm lieb durch das Andenken Spener's, der dort gelebt 
und gewirkt hatte. In Düſſeldorf machte ihm unter 
allen Gemählden der dortigen Bildergallerie den größ— 
ten Eindruck ein leidender Chriſtus, deſſen treffliche 
Darſtellung noch durch die Worte erhöht wurde: „Das 
alles habe ich für dich gethan, was thuſt du für mich?“ 
Er fühlte beſchämt, wie wenig er ſelbſt auf ſolche Frage 
würde antworten können, und gelobte ſich dem Heilande 
nur deſto feſter. Gegen Ende des Mai 1719 kam er 
in Utrecht an, reiſte weiter nach Rotterdam, Haag, Lei— 
den und Amſterdam, und ging dann nach Utrecht zu— 
rück, wo er mit ſeinem Hofmeiſter ſich zur Univerſität 
hielt, ſein Bruder dagegen die Rückreiſe nach Sachſen 
antrat. Er beſchäftigte ſich fleißig mit der Rechts- 
wiſſenſchaft, mit der Geſchichte, mit der Arzneikunde, 
die er ſehr liebte, mit der engliſchen Sprache, aber am 
meiſten mit den Gegenſtänden der Religion, in Ver— 
gleich deren ihm die andern nur als Kleinigkeiten gal- 
ten. Manche Unterſuchung drängte ſich ihm auf, doch 
ohne ihn zu irren. Er ſagt hievon: „In meinem neun— 
zehnten Jahr gings nach Holland, unter die mancherlei 
und fremden Lehren, die den Verſtand rüttelten, aber 
das Herz nicht anrührten. Die ganze Reiſe hindurch 
wurde das Gemüth auf eine empfindliche Weiſe von 
allem Irdiſchen abgezogen. Das beſtändige Sehnen 
meines Gemüths war allenthalben zu Jeſu und um ſei— 


5 


e 26 ER 


nen Segen auch an Andern.“ Er las die Bibel mit 
neuem Eifer, auch andre Schriften der Erbauung und 
des Unterrichts, und gab ſich vielfacher Andacht hin. 
Ein tägliches Gebet, welches er ſich vorgeſchrieben hatte, 
ging in eine lange Reihe von Fürbitten über, für den 
römiſchen Kaiſer, für alle chriſtlichen Könige auf Er— 
den, für die Obrigkeit, unter deren Schutz er grade ſich 
befand, für ſeine nächſten Angehörigen, für ſeine Leh— 
rer, Freunde, Feinde, für alle Kranken und Sterben— 
den, für ſeine katholiſchen Verwandten, für alle der 
Theologie befliſſenen Edelleute, für die Univerſitäten 
Halle, Wittenberg und Leipzig, für die Janſeniſten in 
Frankreich, für die Judenbekehrung, und andres der 
Art, in mehr als hundert Rubriken, in ausdrücklicher 
Nennung der Perſonen, die ſich namhaft machen ließen. 
In fo früher Gewohnheit ſchon gründeten ſich die Lita— 
neien, deren Gebrauch er ſpäter ſo vielfach ausgebreitet. 
Wie ſich aber fein religiöfes Bedürfniß gleich von An— 
fang als ein geſelliges angekündigt hatte, ſo wurde auch 
hier dieſer Karakter alsbald ſichtbar. Sein weltliches 
Verhältniß diente ihm hiebei gut; nicht nur fanden ſich 
einige Genoſſen von Halle und Wittenberg in Utrecht 
wieder, ſondern ein ſo wohlempfohlener junger Herr 
machte auch in der vornehmen und gebildeten Welt gar 
leicht die ſchönſten Bekanntſchaften, deren nicht wenige 
ſeinem Sinne ganz entſprachen. Die Fürſtin von Ora— 
nien ſah ihn gern, und lud ihn zur Geburtstagfeier 
ihres Sohnes ein, die er durch ein Gedicht verherr— 


sn 27 Bo 


lichte; angeſehene Staatsmänner fuchten fein Geſpräch; 
mit dem großen Rechtsgelehrten Vitriarius und dem 
berühmten Theologen Jakob Basnage, — von welchem 
er fagte: „Jusques dans le parti contraire il reconnait 
la verite!” — trat er in nähere Verbindung; theils in 
Utrecht, theils im Haag und in Amſterdam genoß er 
des vertraulichen Umgangs mit einem Prinzen von 
Naſſau⸗Siegen, einem Grafen von Fugger, einem Gra— 
fen von Lippe, mit den Freiherrn von Schell, von Put— 
bus und von Negendank, ferner mit einem Grafen von 
Tecklenburg, einem Grafen von Saint-Paul, mit dem 
franzöſiſchen Generallieutenant Fürſten von La Tre— 
mouille und deſſen Schweſter der Gräfin von Olden— 
burg, mit den beiden Grafen von Danneſkiold, einem 
Grafen von Reuß, dem Herrn von Grone, und vielen 
Andern. Unter dieſen waren Katholiſche, Reformirte 
und Lutheraner, und es gab daher leicht Anlaß, über 
Religionsſachen verſchiedene Meinungen zu erörtern, 
welches für Zinzendorf nicht ohne Wirkung war. Er 
ſelbſt berichtet hierüber Folgendes: „Ich kam alſo nach 
Utrecht auf die Univerſität mit meiner wittenbergiſchen 
Theorie und halliſchen Praxis, welches eine beſondere 
Espece eines jungen reiſenden Menſchen formirte, wo— 
von manche erbauliche Specialia zu kommuniciren wären. 
Hier kriegte ich mit den Reformatis zu thun, und mit 
ein und andrer Gattung von Philoſophen, gegen welche 
alle ich anfänglich ziemlich wilde that, nach und nach 
aber doch ſo apprivoiſirt wurde, daß ich die Leute aus— 


en 28 


hörete; und ob ich auf der einen Seite wohl ſahe, daß 
wir aus ganz verſchiedenen Schulen her wären, dennoch 
auf der andern Seite inne wurde, daß ich verſchiedene 
meiner Spekulationen entweder für mich behalten, oder 
mit beſſern Argumenten verſetzen müßte: weil ich, wenn 
es zu dergleichen Disput kam, mit manchem Kern- und 
Kardinalbeweis nicht Herz genug hatte hervorzuziehen, 
und mir oft erſten Blickes däuchte, mein Gegner hätte 
den Irrthum mit wahrſcheinlicheren Urſachen befeſtigt, 
als ich für die Wahrheit ſogleich aufzubringen hatte. 
Dieſe Perplexität brachte mich wohl nicht zum Fall, 
aber doch zum Weichen; und ich ergab mich darein, 
wenn meine Gedanken nicht widerhielten, meinem Geg— 
ner das letzte Wort zu laſſen: worüber ich bei Einigen 
in den Kredit eines modeſten jungen Menſchen gekom— 
men bin.“ Seine Duldung gegen Andersglaubende, 
und der Umfang deſſen, was er mit ſeinem eignen Lehr— 
grunde in der Ausübung wohlvereinbar fand, konnte in 
dieſen Verhältniſſen nur gewinnen. Auch ließ er in 
ſeinem Eifer gegen die Mitteldinge merklich nach. Die 
eigentlichen Geſinnungsgenoſſen aber ſchloſſen ſich ihm 
näher an, und zwiſchen vieren derſelben entſtanden zu— 
letzt zur Förderung des Seelenheils tägliche Erbauungs— 
ſtunden, in welchen Zinzendorf jedesmal über einen 
Spruch aus dem neuen Teſtament eine Rede zu halten 
hatte, durch Gebet und Geſang eingeleitet und been— 
digt. Mit dem Grafen von Reuß ſtiftete er bei deſſen 
früherer Abreiſe nach Frankreich den beſondern Bund, 


0 — eg — — En — 


3m 29 


daß ſie dem Heiland allein leben und ihm von Herzen 
dienen wollten. In Utrecht empfing er noch die Nach— 
richt von dem Ableben des Freiherrn von Canſtein zu 
Berlin, des edlen frommen Mannes, von welchem ge— 
ſagt worden, er habe den Karakter eines Kindes Gottes 
auch bei der Welt behauptet, ihr keine ſaure Miene ge— 
macht, ſich aber auch gar nicht nach ihrem Sinne ge— 
richtet. Er vermachte ſein Vermögen dem halliſchen 
Waiſenhauſe. Zinzendorf widmete dieſem Todesfall ein 
Gedicht, welches keine Trauer, ſondern vielmehr die 
freudigſte Zuverſicht zum Sterben ausſpricht. Die 
Furchtloſigkeit vor dem Tode war ihm ſchon damals 
vollkommen eigen; ein wahrer Chriſt könne nur, meinte 
er, aus Unverſtand das Abſcheiden fürchten, und er ſelbſt 
bekannte ſich jeden Augenblick zu dem großen Schritte 
bereit; ſo nahm er auch ſchon damals zum Wahlſpruch: 
aeternitati. An ſich ſelbſt arbeitete er unabläſſig; als 
er einige Tage in großen Schmerzen krank gelegen, und 
ihn die Ungeduld übernommen, dichtete er deßhalb ein 
Lied, in welchem er ſich zur Strafe und Tröſtung die 
Schmerzen des Heilandes vorhielt. In der Mitte des 
Septembers reiſte er mit ſeinem Hofmeiſter über den 
Haag und Rotterdam nach Antwerpen, und von hier 
über Brüſſel und Cambray nach Paris, wo er am 27. 
ankam und in einem Hotel der Rue Saint-Honoré 
abſtieg. 

Er fand hier den ne von Reuß und deſſen 
Hofmeiſter von Bonin, die ſchon abreiſen wollten, mit 


* 30 3 


welchen er jedoch die gewohnten erbaulichen Zuſammen— 
künfte auch für die wenigen Tage noch anknüpfte; glei— 
chen Umgang ſetzte er mit den Grafen von Danneſkiold 
fort, und machte neue Bekanntſchaften mit vielen jun— 
gen Deutſchen, die damals in Paris lebten; auch lernte 
er den Freiherrn Nikolaus von Watteville kennen, den 
er ſchon wegen des Namens auſſuchte, gleich als feines 
Freundes Bruder erkannte, und bald liebgewann. Seine 
Lebensweiſe, bei ſolcher Jugend und in ſolchem Stande 
ganz durch Religion bedingt, mußte in der vornehmen 
Welt einiges Aufſehen machen; der Marſchall von 
Villars, der engliſche Botſchafter Lord Stairs, der Kar— 
dinal von Buſſy und mehrere Andere bezeigten ihm 
nähere Theilnahme, auch Madame, die verwittwete 
Mutter des Herzogs von Orleans, damaligen Regenten 
von Frankreich, und dieſer ſelbſt, waren ihm geneigt; 
jene, eine geborne Prinzeſſin von der Pfalz, welche mit 
Lebhaftigkeit an Deutſchland und an ihrer Mutter- 
ſprache hing, würdevoll und heiter zugleich, unterhielt 
ſich ganze Stunden mit ihm. Er ſelbſt erzählt hievon: 
„Als ich verwichenen Dienſtag zu der Madame komme, 
fängt ſie auf Deutſch an: Guten Abend, Herr Graf; 
iſt er heute in der Opera geweſen? Ich ſagte: Nein, 
Ihro Hoheit, ich habe nicht Zeit, in die Opera zu ge— 
hen. Sie ſagte darauf: Herr Graf, ich muß ihm ſa— 
gen, daß ich höre, er kann die Schrift faſt auswendig. 
Ich ſagte: Es ſollte mir lieb ſein, wenn ich ſie könnte 
und darnach thäte. Aber wer ſagt Ihro Hoheit ſolche 


DH Bo 


Sachen? — Ich kann mich nicht beſinnen, antwortete 
ſie.“ Und ferner: „Als ich einmal in der Gallerie 
ſtund, ging die Madame in die Meſſe; und da ſie mich 
ſtehen ſahe, ſagte ſie: Herr Graf, will er mit in die 
Meſſe gehen? Darauf antwortete ich: Ich bin ja 
Lutheriſch, Ihro Hoheit; was ſollte ich da machen? 
worauf ſie lächelte und ſagte: Ich weiß es wohl!“ Die 
bekannte Gerechtigkeitsubung des Regenten, der einen 
wegen verübten Raubmordes zum Rade verurtheilten 
Grafen, trotz aller dringenden Fürbitten der vornehm— 
ſten Familien, mit denen, wie ſogar mit dem Hauſe 
Orleans, er verwandt war, durchaus nicht begnadigte, 
fiel in dieſe Zeit. Madame äußerte darüber gegen 
Zinzendorf, es ſei gleichwohl ſehr ſchmerzlich, ein Exem— 
pel der Art zu ſtatuiren. Er aber antwortete ohne 
Scheu: „Deſto mehr Ruhm wird ſich der Regent mit 
einer gleich durchgehenden Gerechtigkeit erwerben. Uns 
Grafen geht es vor allen an. Ich kann aber nicht fe- 
hen, daß wir durch die Exekution mehr beſchimpfet wer— 
den, als dieſer Rang durch die That verletzt worden 
iſt. Wenn Grafen und Herren um des Guten willen 
leiden, und darüber ihr Leben laſſen, ſo iſt das der Fa— 
milie keine Schande, wohl aber ſind ſie es mit ſolchen 
böſen Thaten. Vor einem Grafen nimmt ſich kein 
Menſch in Acht, man hält einen ſolchen Gedanken intra 
characterem, darum müſſen ſolche Grafen, die morden 
und ſtehlen, öffentlich und noch härter als Andere ge— 
ſtrafet werden.“ Solchen Geſinnungen war nicht zu 


BD 32 Bo 


= 


widerſprechen, und Madame fagte von Zinzendorf, er 
ſei ein junger Menſch, der zu leben wiſſe, fürchte aber 
Gott von Herzen, und darum halte ſie ihn für glück— 
ſelig. Wirklich führte alles Weltliche ihn nur deſto 
ſtärker auf das Innere zurück. Die äußeren Auszeich— 
nungen ließen ſeinen Ehrgeiz doch nicht ungereizt, und 
als einſt am Hofe ſeinem Range nicht die Gebühr wi— 
derfahren, beklagte er ſich darüber, und erhielt auch ſo— 
gleich Genugthuung zugeſagt, doch ehe fie noch geleiſtet 
war, ſchämte er ſich ſeines Hochmuths, fiel Gott zu 
Füßen, und bat ihn mit vielen Thränen um Gnade 
und Vergebung: „Ich verſprach dem Heiland, — ſagt 
er von dieſem Vorgang, — ſein armer Nachfolger zu 
werden, und der Welt völlig abzuſagen. Und es iſt 
dieſer Sinn, in Abſicht auf Ehre und Anſehen, ſeit der 
Zeit nicht wieder verändert worden: ſondern Chriſti 
Schmach iſt mir allemal eine Freude geblieben.“ Er 
beſuchte übrigens die Reitbahn, nahm Unterricht im 
Franzöſiſchen, erweiterte ſeine Rechtskenntniſſe, ſah 
Merkwürdigkeiten und Geſellſchaften aller Art. Doch 
wie das große Krankenhaus Hotel-Dieu ihm größere 
Theilnahme und Bewunderung erweckte, als das präch— 
tige Verſailles mit allen Bauwerken und Gärten, ſo 
zog auch der Umgang frommer Perſonen ihn ſtets be— 
ſonders an, und die Bekanntſchaft mit der Herzogin 
von Villars und einigen ihrer Freundinnen wurde ihm 
in dieſer Beziehung ungemein ſchätzbar, es gab bei ihr 
Geſpräche über Sachen des Glaubens und Stellen der 


39 33 92 


Schrift, ohne daß man ſich indeß, bei vielfachem Be— 
gegnen, völlig verſtändigte; auch trug Zinzendorf Be— 
denken, in einen Orden der Treue, welchen dieſe Damen 
hatten und ihm anboten, einzutreten. 

Ueberhaupt fühlte er Abneigung und Scheu gegen 
jede Verwickelung mit katholiſchen Verhältniſſen; die 
äußere Pracht des Kirchenweſens, das üppige und ſünd— 
liche Leben ſo vieler vornehmen Geiſtlichen, wirkten ab— 
ſtoßend auf ihn; den Lehrmeinungen widerſprach er mit 
Heftigkeit. Er mußte jedoch bald entdecken, daß inmit— 
ten der argen Verwilderung, welche in Frankreich unter 
der Regentſchaft alle Stände, und beſonders auch die 
Geiſtlichkeit, öffentlich ergriffen hatte, ein edler Kern 
reiner und gebildeter Religioſen fortlebte, die ſich dem 
Verderben der Kirche, ſelbſt gegen deren Ausſprüche, 
ſtandhaft widerſetzten, und ohne die äußeren Formen zu 
verwerfen, das Heil zunächſt im Innern begründen 
wollten. Dieſe unter den Namen Janſeniſten lange 
ſchon verfolgte, aber dadurch auch nur verſtärkte Par— 
thei befand fich in heftigem Streit gegen die päpſtliche 
Bulle Unigenitus, auch gemeinhin die Konſtitution ge— 
nannt, welche die Hauptlehren der Janſeniſten, oder 
was dafür in dem berühmten Buche des Pater Quesnel 
über das neue Teſtament vorausgeſetzt war, als irrig 
verdammt hatte. Einen dieſer Männer, den Pater von 
La Tour, General der Väter des Oratoriums, lernte 
Zinzendorf zufällig kennen, kam mit ihm in freund⸗ 
ſchaftlichen Umgang, und ließ ſich durch ihn, wiewohl 


Biographiſche Denkmale. V. 3 


pn 34 Bo 


nicht ohne Scheu, bei dem Kardinal von Noailles ein- 
führen. Dieſer ehrwürdige, frommgütige und dabei ge⸗ 
bildete Mann machte auf ihn einen tiefen Eindruck, es 
entſtand eine innige Annäherung, mündlich und ſchrift— 
lich wurden die Angelegenheiten der Religion unter— 
ſucht, und nichts verabſäumt, um Zinzendorf zum ka— 
tholiſchen Glauben zu bewegen, allein er blieb in ſei⸗ 
nem Glauben feſt, erwiederte den wiederholten Vor— 
ſtellungen, die Wahrheit ſeiner Kirche dispenſire ihn, 
eine andere zu ſuchen, und brachte vielmehr den Kar— 
dinal dahin, daß dieſer auch in dem Proteſtanten die 
inwohnende Gnade erkannte, und ihn für ein Kind 
Gottes hielt, mit dem er nicht ferner über kirchliche 
Formen ſtreiten mochte, ſondern fortan nur liebevollen, 
vertraulichen Herzensumgang pflog. Des Kardinals 
ganzes Weſen hatte eigentlich dieſe Richtung; er be— 
kannte, daß er gern ſeine biſchöfliche Hoheit zu den 
Füßen Jeſu niederlegen und ein armer Prieſter werden 
wolle, wenn es der Kirche Frucht bringen könne; ſeinen 
Sprengel verwaltete er treulich, ſeine großen Einkünfte 
gab er zu milden Zwecken hin. Eine ſinnige, zarte 
Freundſchaft entſtand zwiſchen dem Greis und dem 
Jüngling; der Kardinal hörte mit Wohlgefallen die 
Briefe, welche Zinzendorf ihm von ſeiner Großmutter, 
Mutter und Tante vorlas, und verzichtete darauf, ihn 
zu bekehren; er verſprach ihm ſein Bildniß, und wollte 
auch die Freunde des jungen Grafen kennen lernen. 
Zinzendorf durfte ihn ermahnen, in der Konſtitutions⸗ 


sn 35 Sao 
ſache feſt zu fein, nichts aus Menſchenfurcht oder Ge— 
fälligkeit zu thun, die erkannte Wahrheit unverzagt zu 
behaupten, und ſeine Kardinalswürde nicht in die Sache 
Chriſti zu mengen. In der That durfte der Janſenis— 
mus für diejenige Seite des katholiſchen Chriſtenthums 
gelten, von welcher dieſes mit dem proteſtantiſchen, wie 
es ſich im Pietismus darſtellt, zu vereinbaren ſein 
möchte, und Zinzendorf's Ermahnung ging aus rich⸗ 
tigem Gefühl ſeiner eignen Stellung hervor. Deſto 
tiefer ſchmerzte es ihn, als dennoch, ungeachtet wieder— 
holter entgegengeſetzten Verſicherungen, der Kardinal, 
durch vielfaches Andringen zum Nachgeben bewogen, 
die Konſtitution durch eine öffentliche Erklärung ge- 
wiſſermaßen annahm. Jetzt war das gute Vernehmen 
zerſtört, und Zinzendorf ſagte ſich mit großer Betrüb— 
niß von dem verehrten Manne nunmehr ganz los, und 
fündigte ihm dies ſelbſt durch einen Brief freimüthig 
an. „So iſt es denn geſchehn, gnadiger Herr, — ſagt 
er in dieſem Schreiben, — und der große Muth, der 
den Gefahren trotzte, und die Feinde der Wahrheit in 
Erſtaunen ſetzte, weichet der ſchwachen Hoffnung eines 
unerlaubten Friedens! Sie unterzeichnen, und ſo alſo 
bergen Sie die Wahrheit! Ich glaub' es nicht, gnä— 
diger Herr, ich, der ich Sie und Ihre guten Abſichten 
kenne. Was aber werden diejenigen ſagen, die, ent— 
fernt von Ihrer Perſon, Ihre Tugenden jederzeit be⸗ 
wundert haben, wenn ſie erfahren werden, daß das 
weiſeſte Buch von der Welt, welches Sie der Heerde, 
3 * 


39 36 > 


die Gott Ihrer Sorge anvertraut hat, fo nachdrücklich 
empfohlen haben, verdammt wird? Aber es iſt nicht 
mehr Zeit, alſo mit Ihnen zu reden. Was mich an— 
belangt, ſo habe ich zweimal die Pflichten des treueſten 
Dieners erfüllet, und ich habe nichts weiter zu ſagen. 
Auch halte ich mich für unfähig, Ihnen Rathſchläge zu 
ertheilen; weil aber meine Augen Sie, nach dieſer be— 
klagenswürdigen Unterzeichnung, nicht mehr ſehen wer— 
den, ſo will ich Ihnen hiemit auf immer Lebewohl ſa— 
gen. Ich danke Ihnen unterthänig für die Ehren- und 
Gnadenbezeigungen, deren Sie mich würdig geachtet, 
und da meine Freimüthigkeit Ihnen bisweilen dürfte 
mißfallen haben, ſo bitte ich Sie tauſendmal um Ver— 
gebung. Der Herr, unſre Liebe, wolle in Ihnen ſein 
Werk vollenden, und Ihnen bei dem Lichte der Wahr— 
heit die ganze Bosheit des Reiches der Finſterniß zei— 
gen! Ich hoffe nicht, daß Sie mich Ihrer theuren 
Freundſchaft berauben werden, nachdem ich mir die 
Kühnheit genommen, Ihnen meine Geſinnungen auszu— 
ſprechen. Da ich mich aber von der Zeit und ihren 
vorübergehenden Annehmlichkeiten ganz los zu machen 
ſtrebe, um die ſelige Ewigkeit zu erlangen, die von 
allen Veränderungen und Unfällen frei iſt, ſo werde ich 
mich mit meiner Aufrichtigkeit und mit der Gerechtig— 
keit meiner Klagen tröſten. Wenn unſer guter Vater, 
nach dieſem elenden Leben, uns dermaleinſt, durch ſeine 
große Barmherzigkeit, in dem zukünftigen Leben wieder 
zuſammenbringt, ſo werden Sie, ich bin es gewiß, der 


od 37 Ge 


Erſte ſein, mir den Ausbruch meines Eifers zu verge— 
ben, und Sie werden von der Wahrheit meines Glau— 
bens und von allem, was ich Ihnen nun zum letzten— 
mal zu ſagen die Ehre gehabt habe, eben ſo überzeugt 
ſein, als ich es gegenwärtig bin. Soll ich indeß auf 
immer der Freude, Sie zu ſehen, beraubt ſein, ſo beten 
ſie für mich zu dem Gott, den wir alle beide ſehen 
werden, und glauben Sie, daß ich ſie unendlich liebe, 
Sie wahrhaft ehre, und mit innigſtem Leid Ihnen Lebe— 
wohl ſage.“ 

In dieſer ausgeſprochenen Denkart wurde er durch 
zufällige Bekanntſchaft noch mehr beſtärkt; er hörte einen 
Dominikanermönch predigen, der ihm ein zweiter Tauler 
ſchien; derſelbe ſprach ganz aus dem Innern, drang 
auf die Bekehrung des Herzens, da denn die Aenderung 
des Lebens von ſelbſt folgen würde, wollte keinen Frie— 
den mit der Welt, zeigte die Nothwendigkeit einer Re— 
formation, nicht nur bei dem armen Volke, ſondern vor— 
nehmlich bei den Großen. Zinzendorf ſuchte den Mann 
ſogleich auf, er hieß Pater d' Albizi, gehörte zu den 
eifrigſten Widerſachern der Konſtitution und führte den 
Grafen zu den Biſchöfen von Boulogne und von Mont- 
pellier, welche ſelbſt nach dem Einlenken des Kardinals 
von Noailles fortfuhren, von der päpſtlichen Bulle an 
eine allgemeine Kirchenverſammlung zu appelliren. Zin— 
zendorf's Brief an den Kardinal wurde hier mitge— 
theilt, und für eine Eingebung des heiligen Geiſtes er— 
klärt. Dieſe Geſellſchaft, in welcher ſich bald inniges 


3 


Vertrauen eröffnete, war für Zinzendorf nicht ohne Ge— 
fahr; die Appellirenden und ihre Anhänger wurden als 
Staatswiderſpenſtige angeſehn und nach Umſtänden auch 
ſo behandelt; manches freiere Wort, mancher ununter— 
ſuchte Verdacht hatte ſchon in das Gefängniß geführt, 
und Zinzendorf konnte leicht auf eine oder andre Weiſe 
das Opfer einer Denkart werden, wegen der ihm auch 
wirklich, wenn der Sage zu glauben, einmal Gift bei- 
gebracht worden; wenigſtens verfiel er in eine ſchwere 
Krankheit, als deren Urſache man jenes annahm; er 
war aber überhaupt ſchwächlich und öfteren Krankheiten 
unterworfen. Seine Abreiſe von Paris, die im Früh— 
jahr 1720 geſchah, entledigte ſeinen Hofmeiſter deßhalb 
großer Sorgen. Bevor wir ihn aber weiter begleiten, 
iſt es nöthig zu vernehmen, was er ſelbſt in Bezug auf 
feine religiöſe Stellung uud Entwickelung von dieſem 
Aufenthalte ſpäterhin geſchrieben hat. „Jemehr ich in 
die Welt kam, — ſagt er, — je feſter hielt mich mein 
Herr, je inniger zog er mich in die Betrachtung ſeiner 
Leiden, und ich ſuchte mir unter den Hohen der Welt (von 
den Niedrigen hatte ich damals noch nicht viel Begriff) 
lauter ſolche Leute aus, denen ich meines Heilandes 
Gnade anpreiſen konnte. Ich fand dergleichen, wo man 
es oft nicht hätte denken ſollen. Im Haag meinete ich 
3. B. bei dem portugieſiſchen Ambaſſadeur Grafen Ta— 
roucca etwas mehr als ſonſten von meiner Hauptſache 
zu ſprechen Gelegenheit zu finden. Gegen diejenigen, 
da ich mich nicht antrauete, war ich höflich. Denen, 


9 39 33 


— 


die mich auf Reiſen verführen wollten, begegnete ich 
grob, und nahm Gelegenheit, (wie ich ſchon auf Uni— 
verſitäten angefangen hatte), fie auf einmal zu desabu- 
ſiren, wovon ich die Früchte noch jetzt genieße. Alles 
machte ich mit meinem Heilande aus, was mir wichtig 
war. — In Paris war ich ganz in meinem Fache. Da 
kam ich unter die rechtſchaffenen Biſchöfe und Religio— 
ſen, und lernte etliche Damen kennen, die Gnade hat— 
ten. Da iſt mir die Zeit nicht lange worden, und es 
war mir leid, daß ich ſobald abbrechen mußte. Ich 
war im Uebrigen, aus Mangel der Connoiſſance, ſehr 
geſetzlich, und ich habe mich über die Geduld meiner 
Freunde, und ſonderlich des Herrn Kardinals von 
Noailles, ſeitdem verwundert, die von meinem bizarren 
Humeur viel ausſtehen mußten. Denn was ich für 
recht erkannte, das ſuchte ich eum emphast zu inkulki⸗ 
ren, und ich konnte mit dem wichtigſten Freunde gleich 
brechen, wenn ich glaubte, er ſei in meines Herrn Sache 
nicht zuverläſſig. Die Welt wußte nicht recht, wie ſie 
mit mir dran war, weil ich in dem Exterieur nichts 
Apartes hatte, als daß ich bei Hofe nicht tanzte, und 
in Paris auch nicht ſpielte. Verſchiedene, die mich 
kannten, glaubten, ich ſtünde noch in meinem Tauf— 
bunde; Uebeleinſehende gaben mich für einen Pietiſten 
aus, und die, welchen man dieſen Namen giebt, ließen 
mich nicht paſſiren. — Ueberhaupt däucht mich, wenn 
man mir alle Arten der bevorſtehenden Verführung in 


<> 40 . 


der Welt aufrichtig geſagt hätte, fo wäre ich nicht vor 
einer jeden ſtehen geblieben und hätte ſie ſo beſehen, 
ſondern ich hätte es gemacht, wie mit den Frauens- 
leuten. Was mir verboten war, das ließ ich. Die 
Unwiſſenheit war mir zu mancher Diſtraktion beförder— 
lich und ſchädlich; die Erkenntniß alles menſchlichen 
Elendes und aller Handgriffe des böſen Feindes, uns 
nach feinen Abſichten zu faconniren, iſt mir beftändig 
heilſam und ſelig geweſen.“ Und nochmals an einem 
andern Orte ſagt er: „In Frankreich fand ichs unter 
der katholiſchen Religion, wie ich's in Holland mit eini— 
gen Proteſtanten angetroffen. Sie ſagten mir die Ar— 
gumente grade nicht, die in den Büchern für die ihrige 
angegeben waren; ſie ſagten mir aber andere, die ich 
noch nie gehört hatte, worunter einige waren, die ich 
gegen gewiffe adversarios boni ordinis et concordiae 
christianae in unſerer Kirche für invineibel gehalten, 
und ſie mit einem hoc non obstante abgefertigt hatte, 
wenn ich ihnen auf ihre desideria die Antwort ſchul— 
dig bleiben müſſen. Ich fing mich an zu fürchten; 
gleichwohl mußte ich mit Leuten leben: und weil ich 
mit meinen Glaubensgenoſſen, die eben nicht wegen 
ihrer Herzenserbauung nach Paris reiſen, wenig anfan— 
gen konnte, ſo mußte ich mich unter denen Landesein— 
wohnern nach Leuten umſehen, wo ich mein Gemüth 
erbaulich oecupiren, und, nach meiner damaligen Idee, 
etwas Bleibendes auf die Ewigkeit mitnehmen konnte. 


ET ³OR 
x 


DM 


Das brachte mich mitten unter die Patres und Biſchöfe 
hinein, ja zu einem Kardinal, denen allen ich zu ihrem 
Ruhm nachſagen muß, daß ſie, da ſie ſahen, ſie hätten 
mit einem Menſchen zu thun, dem ihre Religionsdis— 
puten A charge wären, weil er zwar ihre Erfahrung 
und Gelehrſamkeit genugſam reſpektirte, um fie mit ſeinen 
argumentis classieis zu verſchonen, gleichwohl aber ſei— 
ner Religion von Herzen treu und über den geringſten 
Gedanken eines Synkretismus mit der gegenſeitigen 
Theorie verlegen wäre, ſogleich von dergleichen Mate— 
rien abſtrahirten, und ſich mit mir in das unergründ— 
liche tiefe Meer des Leidens und Verdienſtes Jeſu und 
der dadurch erworbenen Gnade, ſelig und heilig zu 
werden, hineinbegaben; da wir denn ein halb Jahr mit 
himmliſch vergnügten Herzen beiſammen waren, und 
uns nicht mehr beſannen, was für einer Religion einer 
oder der andre wäre, ſo daß der Kardinal, da ich end— 
lich doch über feinem Aecommodement mit ihm zerfiel, 
und ihm mit vieler Jugendhitze begegnete, mich bis an 
das Ende ſeines Lebens auf's Gefühl unſerer Herzen 
zurückführete, und mir unter andern die Worte ſchrieb: 
Que la difference des sentiments n’aille point jusques 


aux cours!“ 


Zinzendorf hielt dieſen Umgang, den er in Frank— 
reich gehabt, für eine große Gefahr, die ſeinem pro— 
teſtantiſchen Glauben bereitet geweſen ſei. Die katho— 
liſche Kirche iſt in weltlicher Bildung und Anreizung 


>. 42 Be 


wohl nie ſchöner und reicher aufgetreten, als in jenem 
Zeitalter franzöſiſcher Entwickelungsfülle, die aus dem 
ſiebenzehnten Jahrhundert in das achtzehnte überſtrömte. 
Das Chriſtenthum an ſich bedarf ſolches Schmuckes frei— 
lich nicht, es kann ihn völlig miſſen, aber es läßt ihn 
zu, und befehdet ihn keineswegs; Philoſophie, Gelehr— 
ſamkeit, die ſchönen Künſte, durften ſich zu allen Zei— 
ten mit höchſter Frömmigkeit verbinden. In Frankreich 
aber war die Erſcheinung ganz außerordentlich; die 
größten Geiſter und Talente der Nation, die vornehmſte, 
reichſte Geſelligkeit, Redekunſt und Dichtungsgabe, alles 
Hohe und Liebenswürdige, was in menſchlichen Zuſtän— 
den gewährt ſein kann, waren mit dem religiöſen Le— 
ben verflochten, trugen die Farbe des beſtimmten Kir— 
chenthums, theilten die ihre demſelben mit. Männer, 
wie der Kardinal von Noailles, Frauen, wie die Her— 
zogin von Villars, dazu im Hintergrunde die fortwir— 
kenden Namen Fenelon, Boſſuet, Pascal und andre in 
großer Zahl, durften für die Kirche, der ſie angehör— 
ten, und die ſolche Früchte darwies, ein mächtiges Vor— 
urtheil begründen, und wenn zu dem vorausgeſetzten 
Heil, wie ſo häufig Zwang, auch Lockung als ſtatthaft 
gelten ſollte, ſo mußte man zugeben, daß dieſe von der 
weltlichen edleren Seite her nicht wohl verführeriſcher 
hätte erſcheinen können. Dieſes fühlte Zinzendorf, und 
feine Neigung für die Perſonen und für die Bildungs- 
formen, in welchen er ächte Frömmigkeit hier leben ſah, 
konnte ſich, bei minderem Erfülltſein des Gemüths, leicht 


S0 2 
e 43 Br 


auf das Kirchenthum übertragen. Doch blieb, wie ſchon 
bemerkt, ſein proteſtantiſcher Glauben unerſchüttert, ja 
derſelbe beſtärkte und erhärtete ſich vielmehr im Wider— 
ſpruch. Nur entnahm er von jenem Umgang eine mil— 
dere und verträglichere Stimmung, als damals unter 
Proteſtanten gewöhnlich war, für die Katholiken und 
ihre Art; ja die Folgezeit entwickelte in ſeiner Erinne— 
rung erſt recht die Vorzüge, welche er damals noch 
nicht nach Gebühr zu erkennen gewußt. Wie er hier— 
über gedacht, äußert er in einer ſpäteren, aber hieher 
gehörigen Stelle mit eignen Worten: „Seitdem ich mit 
den Katholiſchen wenig Umgang und Korreſpondenz mehr 
habe, fange ich mich an über ihre Geduld, Raiſonnabi— 
lität und Toleranz hintennach zu verwundern, daß ſie 
ſo viel, zum Theil ungegründete, heftige Disputationes 
und Krickeleien, deren ich mich in meinen jüngern Jah— 
ren ſchuldig gemacht, von mir haben vertragen, meine 
damalige Bekehrſucht ins Beſte deuten, und mich doch 
ſo viele Jahre nicht haſſen noch drücken mögen. Wollte 
Gott, daß meine Glaubensgenoſſen mit mir ſo raiſon— 
nabel und chriſtlich gehandelt hätten, als ich die Katho— 
liſchen dreißig Jahre lang in allen Oeccaſionen gefun— 
den; ſelbſt 1719 und 1729, da ich in ganz diverſen 
Ländern bei Religions-Motibus mit ihnen zu thun ge— 
habt, und ſie mir entgegen ſtehen müſſen, wobei ſie ſich 
nicht einbilden können, daß mein Lehrſyſtem aus dem 
Concilio Tridentino genommen ſei, und ich ihnen über 
das von meinem Volk übel beſchrieben war; aber es 


un M So 


iſt eine radicirte, praktiſche IHE in der katholiſchen 
Kirche, nicht ſo viel Libertinage und Haß gegen die 
Liebhaber und Anbeter Jeſu, als bei manchem trockenen 
und regellos disputirenden Proteſtanten, und ſo wenig 
ich mir das römiſche Lehrſyſtem mit dem meinigen zu 
reimen weiß, oder ſie begehren werden, für Herrnhuter 
zu paſſiren, zumal in articulo de Ecclesia: fo ſehr ehre 
ich ihre praktiſche Kondeſcendenz für alle ſtille, unſekti— 
riſche und in Abſicht auf Allotria und Intriguen un— 
verdächtige Chriſtenmenſchen in ihrer eigenen (welches 
ihre erſtaunliche Geduld mit dem Pere Courrayer, der 
auf einer proteſtantiſchen Univerſität zugleich Doktor 
Theologiä geworden war, genugſam beſtätigt), und 
noch vielmehr extra casum litis in fremden Religionen. 
Sie führen das Anathema gegen die Gegner im Munde 
und Panier, und haben oft viel Billigkeit gegen ſie in 
Praxi. — Wir Proteſtanten führen libertatem im Munde 
und auf dem Schilde: und es giebt unter uns in Praxi 
(das ſage ich mit Weinen) wahre Gewiſſenshenker. 
Beſſere dich Jeruſalem!“ 

Von Paris reiſte Zinzendorf über Straßburg nach 
Baſel und Zürich; und wandte ſich alsdann nach Fran— 
ken, wo er mehrere Wochen auf Oberbirg und darauf 
in Caſtell bei ſeinen Verwandten zubrachte. Hier ſchrieb 
er fleißig Briefe, franzöſiſche und deutſche, dichtete man— 
cherlei Lieder, worin er lebenslang die größte Leichtig— 
keit behielt, aber freilich nie den rechten Geſchmack er— 
langte, und ſetzte mit Eifer ſein geiſtliches Leben fort. 


rd 45 


In allen diefen Kreiſen war man frommgeſinnt, aber 
man hielt in Worten und Werken ein gewiſſes Maß, 
welches dem vornehmen Stande zu gebühren ſchien. 
Eine Frömmigkeit, wie die des jungen Grafen, der ſein 
Verhalten keiner äußeren Rückſicht unterordnete, mußte 
daher auffallend und nicht ſelten läſtig ſein. Ihn aber 
konnte nichts irren, er blieb in ſeiner ſtrengen Bahn, 
und man ließ ihn endlich dabei, weil doch nichts über 
ihn zu gewinnen war. Wie es mit ſeiner Stellung in 
der Welt werden würde, indem weder am Hofe noch 
im höheren Staatsdienſte, wohin die Vortheile ſeiner 
Geburt ihn anwieſen, ohne mancherlei Nachgiebigkeit 
durchzukommen möglich ſchien, dafür durfte man ſchon 
ernſtlichere Sorge hegen, da eine hier entſtandene Nei— 
gung Zinzendorf's zu feiner jungſten Baſe, Gräfin 
Theodore von Caſtell, bald in einen förmlichen Hei— 
rathsantrag überging. Er reiſte nach Hauſe, um die 
Sache mit den Seinen völlig zu ordnen. Alles war 
einverſtanden mit dieſer Verbindung, auch die Groß— 
mutter gab ihr anfänglich über die nahe Verwandtſchaft 
gehabtes Bedenken auf, die Baſe ſelbſt hatte ſich ſo 
geäußert, daß er an ihrem Ja nicht zweifeln wollte, 
und ſo hielt er ſich als Bräutigam gebunden. Auf der 
Rückreiſe nach Caſtell kam er bei Plauen nachts in der 
Elſter in große Gefahr, und folgte deßhalb am näch— 
ſten Tage einer freundlichen Einladung nach Ebersdorf 
zu ſeinem Freunde, dem Grafen von Reuß, der in— 
zwiſchen zur Regierung gelangt war. Hier kam nun 


rn 46 882 — 


die Rede darauf, daß auch Graf Reuß nächſtens zur 
Vermählung ſchreiten müſſe, und ſeine Mutter richtete 
an Zinzendorf, als auch dieſer mancherlei ſchickliche 
Parthieen namhaft gemacht, unerwartet die Schlußrede, 
unter allen Genannten ſei keine der Gräfin Theodore 
von Caſtell gleichzuſetzen, an dieſe aber leider nicht zu 
denken, wovon er die Urſache am beſten wiſſe. Dieſes 
Wort brachte in ihm eine große Bewegung hervor; er 
verglich die Antriebe, Stellungen, Geſchickeslooſe; er 
fand es in allem Betracht beſſer für alle drei, wenn 
Theodore nicht ſeine, ſondern ſeines Freundes Gattin 
würde, und beſchloß alſobald, ſie dieſem zu überlaſſen. 
Nach einem edlen Wettſtreite, der jedoch nur kurze Zeit 
dauern konnte, reiſten die beiden Freunde, begleitet von 
dem reußiſchen Rath von Bonin, zuſammen nach Ca— 
ſtell, um die dortigen Geſinnungen zu erforſchen. Es 
fehlte nicht an Widerſpruch, auch von Seiten der jun- 
gen Gräfin, welche ſich aus Zartheit, denn ihre Nei⸗ 
gung hatte ſchon bisher mehr gegen den Vetter, als für 
ihn entſchieden, — jetzo beinah für gebundener halten 
wollte, als vorher; allein durch Zinzendorf's Bemühen 
kam der Tauſch, in welchem Gottes Lenkung verehrt 
wurde, glücklich und zu allſeitiger Zufriedenheit in Aus— 
führung. Zinzendorf betheuerte, er gebe hiemit zwar 
ſein Liebſtes in der Welt, doch getroſt um Jeſu willen 
auf. Er wohnte ſodann der Verlobung bei, die er 
durch Gebet und Erbauungsrede, wie auch durch eine 
eigends hiezu verfertigte Kantate feierlich begehn half. 


Dieſe ſeltſame Geſchichte mußte natürlich großes Auf- 
ſebn machen, und zu mancherlei Gereden Anlaß werden. 

Nach dieſem Vorgange reiſte der junge Graf mit 
ſeinem Freunde vergnügt nach Ebersdorf zurück, und 
bedachte ernſtlich, wie er ſeinen äußeren Lebensweg 
einrichten möchte, damit derſelbe feinem inneren An⸗ 
triebe nicht zur Hemmung würde. Ohne viel zu ſuchen, 
erwählte er gleich das Nächſte, und ging gradeswegs 
nach Halle, um dort bei den Franckiſchen Anſtalten ir- 
gendwie beſchäftigt zu werden. Im Haufe des Grafen 
Reuß daſelbſt, vor einer zahlreichen Geſellſchaft, eh er 
ſelbſt noch ſeine Abſicht hatte merken laſſen, überraſchte 
ihn Francke ſeinerſeits mit dem Vorſchlage, die Stelle 
ſeines ſeligen Freundes, des Freiherrn von Canſtein, 
bei dem Waiſenhauſe zu übernehmen; hier war durch 
einen vornehmen Mann eine fromme Thätigkeit gleich⸗ 
ſam ſchon eingeweiht und für die Welt minder an— 
ſtoßig gemacht. Denn die Vorſtellung, daß ein Graf, 


wie ſtark auch der Geiſt ihn triebe, dieſem doch nicht 


anders, als in den angenommenen, weltgültigen Aus- 
zeichnungen ſeiner Standeswürde folgen dürfte, hatte 
ſich auch bei den ſonſt Frommen feſtgeſetzt, welche in 
dieſer Hinſicht wohl die katholiſche Einrichtung benei— 
deten; wo hohe Kirchenwürden und reiche Prälaturen 
den jungen Edelleuten, bei geiſtlichem Beruf, in der 
Kirche doch auch, wie am Hofe und im Heere, eine 
vornehme Laufbahn darboten, wogegen die proteftan- 
tiſchen Oberhofvrediger oder Superintendenten ſehr im 


9 48 3 


Schatten blieben. Aber Zinzendorf, von ächtem Chriften- 
ſinne beſeelt, dachte eben deßhalb ganz anders; ihm 
war alles vornehm und erhaben, was den Dienſt des 
Heilandes betraf, alles gering und ſchlecht, was dieſem 
fremd erſchien. Die Vornehmheit, die er gleichwohl 
zeitlebens behielt, und die ihn und ſeine Werke mäch— 
tig tragen und durchkämpfen half, wurde ihm, wie auch 
er ſelbſt ſich ihrer entkleidete, von der umgebenden Welt 
noch immer aufgedrungen, und er war wirklich zu vor— 
nehm in Geiſt und Sitte, um die Demuth, die er em— 
pfand, durch ungeberdiges Abwerfen des Aufgedrun— 
genen wieder zum Hochmuth umzukehren. In dem 
Entgegenkommen Francke's erblickte er nur die höhere 
Beſtätigung ſeines eignen Sinnes, er nahm den Vor— 
ſchlag freudig an, einzig mit dem Vorbehalte, daß auch 
die Seinigen dazu ſtimmten. Er ſetzte demnach ſeine 
Reiſe nach Berlin fort, wo er ſeine Mutter wiederſah, 
und ihr ſeine Abſichten mittheilte. Sie gab jedoch ſei— 
nem Lebensplan ihre Einwilligung nicht; ſie wußte ſich 
in die Sinnesart ihres Sohnes nicht ſo völlig hinein 
zu denken, um nicht vieles darin höchſt ſonderbar zu 
finden. Der vertraulichſte Gedankenaustauſch vermochte 
die Abweichung nicht zu vereinigen; Zinzendorf ſah ſich 
gehemmt, ſein wahres Weſen oft verkannt, ja von man— 
chen Perſonen ſogar gehäſſig ausgelegt. In einem 
Briefe ſprach er ſeine damalige Stimmung folgender— 
maßen aus: „Weil ich freilich auf's Ganze dringe, von 
Vielen nicht wohl gefaſſet werde, die vielleicht meiner 


BD 49 - 


Jugend eher unrichtige, als gegründete Concepte zu— 
trauen: fo zweifle ich nicht, daß ſich hernach alles an- 
dere ergeben werde, wenn nämlich Gott, durch ſeine 
Barmherzigkeit, dieſelben Perſonen einmal überzeugen 
wird, daß mein Thun nicht Eigenwille, ſondern nach 


ſeines göttlichen Wortes Regel eingerichtet geweſen. 


Ich kann nicht die allergeringſte Verſtellung leiden: da- 
her ich nur gar zu leicht meines Herzens Gedanken 
ſage. Es iſt aber vergebens, dieſes alles durchzufech— 


ten; ich laſſe es ganz gerne auf mir erſitzen, bis des 


lieben Vaters Zeit kommen wird, ſein bedrängtes, hart 
angeſchuldigtes und ſo ſehr verworfenes Kind zu ver— 
theidigen und ihm Gutes zu thun, für das Harte, das 
ich an ihm, dem Herrn, mehr als tauſendmal, an Men- 
ſchen aber nicht ſo verſchuldet habe.“ In dieſer Ge— 
ſinnung trat er ſeinen ferneren Schickungen nicht ohne 
Sorge, doch voll Troſt, entgegen. 

Obwohl mit einundzwanzig Jahren bereits mün— 
dig, wollte Zinzendorf ſein Handeln doch der bisherigen 


Leitung nicht ganz entziehen. Auch wäre dies ohne 


gewaltſame Durchbrechung kaum möglich geworden. 
Seine Mutter und ſein Stiefvater in Berlin waren 
ſeines Gehorſames als ſeiner natürlichen Erwiederung 
ihrer liebevollſten Zärtlichkeit gewohnt. In Großhen— 
nersdorf bei ſeiner Großmutter, die er hierauf beſuchte, 
war er der Liebling des Hauſes; die noch thätige, 


muntre, alte Dame ſah in dem aufgewachſenen Jüng— 


ling immer nur noch das geliebte Kind; eine Großtante 
Biographiſche Denkmale. V. 4 


83H 50 Ba 


und eine Tante, nicht minder bejahrt und rüſtig, nah⸗ 


men ihn im beſten Sinn eben ſo; aber dieſe Damen 
alle glaubten ihn leiten zu müſſen, und an ſeiner Folg— 


ſamkeit zu zweifeln fiel ihnen nicht ein. So viel ver- 


eintes, ehrwürdiges und gutmeinendes Alter war ſeiner 
Pietät heilig, er fügte ſich liebevoll auch in das Läſtige. 
Inzwiſchen wußte er doch ſeine Tage allmählich nach 


ſeinem Sinn einzurichten. Einen Knaben, der gute 


Anlagen zur Tonkunſt hatte nahm er in ſeinen Dienſt, 
und ließ ihn und einen Jungen von Lariſch im Latein 


unterrichten, er ſelbſt aber behandelte die Religionsleh⸗ 
ren mit ihnen, und bald hielt er auch auf dem Schloſſe 


eine tägliche Erbauungsſtunde mit ſichtbarem Erfolg. 
Auch ſeine Verwandten freuten ſich theilnehmend ſeines 
frommen Eifers, der jedoch, ihrer Meinung nach, einem 


andern Lebenszwecke noch Raum laſſen konnte. Die 
Verſchiedenheit der Anſichten über ſeine Zukunft verur- 


ſachte ihm vielen Kummer. Mündlich und ſchriftlich 
bemühte er ſich, ſeine Neigung zu einem durchaus geiſt— 
lichen Leben zu rechtfertigen; er wünſchte, wenn ihm 


nicht erlaubt wäre, ein Theolog und Prediger des 


Evangeliums zu werden, wenigſtens in ſtillem Land⸗ 


leben für ſich und Andre gottſelige Thätigkeit zu üben, 


und den Gefahren weltlicher Verhältniſſe zu entfliehen. 
„Ich ſehe vor meinen Augen, — ſchrieb er unter an— 
dern, — daß ich, wider meinen Willen und Dank, durch 
einen ordentlichen Beruf, wenn Gott mein Seufzen 
nicht noch für genehm hält, in die Landesregierung 


* 


eie 51 


werde gezogen werden. — Mein Herz gehet aber nicht 
auf zeitliche Hoheiten und Reichthum; vielmehr erfreuet 
mich die Stille und die Ruhe, in der wir Gott und 
unſerm Nächſten zu dienen vermögend ſind.“ Sein 
großer praktiſcher Sinn, durch innere Wahrheitskraft 
wunderbar früh gereift, wandte gegen eine Hof- und 
Staatsbedienung insbeſondre noch die bedeutende Be— 
trachtung ein: „Auch macht meinen Ruf bedenklich, 
ſagte er, daß ich mit meinem Vermögen nicht genug 
Gutes thun kann, wo ich es nicht zu freier Dispoſition 
habe. Auf dem Dorfe bin ich ein Haushalter über die 
daſelbſt Wohnenden. Giebt mir Gott viel, ſo eſſe und 
trinke ich deßwegen nicht mehr, ich kleide mich nicht 
ſtattlicher, aber ich helfe mehreren meiner Mitbrüder 
und Mitſchweſtern. Schickt Gott Landplagen, ſo leide 
ich fo gut als die Andern, ich theile mit ihnen fo lange, 
bis ihnen geholfen iſt. Bin ich aber in einem andern 
Orte, wo es die chriſtliche Klugheit erfordern mag, daß 
ich meinem Stande, auch nur in etwas, gemäß leben 
ſollte, ich bekomme aber nichts dazu, als was Gott mir 
ſelber, nach Proportion der mir zugedachten Haushal— 
terſchaft verliehen hat; ſo muß ich entweder Schulden 
machen, oder dem Oertchen, wohin mich Gott eigentlich 
geſandt hat, das Seinige entziehen.“ Die Verwandten, 
ſeiner Frömmigkeit in allem andern beipflichtend, hiel— 
ten ihm aber das Beiſpiel ſeines Vaters und Oheims 
vor, welche den Frömmſten beigezählt, gleichwohl die 
erſten Staatswürden bekleidet hätten, in welchen grade 
4 * 


52 Bo 


Männer feiner Geſinnung am wünſchenswertheſten wären, 
und mehr Gutes wirken könnten, als in beſchränkter 
Abgeſchiedenheit. In feiner Bedrängniß gerieth Zin- 
zendorf auf einen beſondern Einfall. Ein ehemaliges 
Reichslehn ſeiner Familie, Unterbirg in Franken, durch 
Verabſäumung entfremdet, ſchien ſeinen Rechtsanſprüchen 
vermittelſt des Reichshofraths in Wien wieder zuzu— 
wenden; gelang dies, fo hatte er mit einer unabhän- 
gigen Lage fürerſt Geſchäfte genug, und konnte ein 
Amt noch ablehnen; allein die Sache blieb nach den 
erſten Einleitungen ohne Fortgang. Eine andre Aus— 
ſicht ließ ihn wenigſtens ſolche Staatsdienſte hoffen, 
welche mehr als die fächfifchen ihn anziehen durften. 
Die Prinzeſſin Sophia Magdalena von Brandenburg- 
Kulmbach heirathete den Kronprinzen, nachherigen König 
Chriſtian den Sechſten von Dänemark, deſſen gottes— 
fürchtiger Sinn eine durchaus fromme Regierung ver— 
hieß. Die Markgräfin von Brandenburg-Kulmbach, 
Mutter der Prinzeſſin, war dem Hauſe Caſtell ver— 
wandt, mit Zinzendorf daſelbſt bekannt geworden, und 
ſeitdem in vertraulichem Briefwechſel mit ihm. Da 
auch dieſe Dame ihm zuredete, ein Amt anzunehmen, 
ſo wünſchte er ein ſolches wenigſtens in Dänemark, als 
dem Lande ſo ſchöner Verheißungen, und wollte deß— 
halb auch ſchon nach Kopenhagen reifen. Allein feine 
Großmutter vereitelte ſein Vorhaben; alles war durch 
die Familie für ihn bereits in Dresden geordnet, und 
nach vielem Widerſtreben, welchem das vierte Gebot 


on 5 


ernſtlich entgegengeſtellt wurde, und unter vielen Thrä- 
nen, nachdem er auch wegen der Eidesleiſtung einige 
Zweifel zu beruhigen gehabt, nahm er im Oktober 1721 
bei der Landesregierung in Dresden die Stelle eines 
Hof- und Juſtizraths an; die Stelle eines Appellations⸗ 


raths hatte er entſchieden abgelehnt. 


Der Gegenſatz, in welchem Zinzendorf den welt— 
lichen Dienſt und den geiſtlichen Beruf gefaßt, war für 
ihn um ſo weniger aufzuheben, als er jene nicht ſowohl 
überhaupt für unvereinbar erklärte, ſondern dies vor— 
züglich nur als ihm verſönlich geltend aufſtellte. Er 
fühlte ſich unfähig, ſo verſchiedenartige Richtungen und 
Gebiete zuſammenzuhalten, und ſo war er denn auch 
ſogleich von Anfang bemüht, nachdem er aus Gehor— 
ſam ſich mit weltlichem Treiben eingelaſſen, dieſes mög— 
lichſt einzuſchränken, und nur des geiſtlichen Strebens 
wahrzunehmen. Solch fortſchreitendes Ringen, aus 
einem Weltlichen ein Geiſtlicher zu werden, verbleibt 


ihm nun lebenslang, und es iſt bemerkenswerth zu ſehn, 


wie die Verhältniſſe, welche wegen ihrer Größe und 
Stärke nicht fo leicht abzuwerfen waren, ihren durch— 
dringenden Vortheil noch ſelbſt auf das ihnen entſagende 
Wirken erſtreckten, und als beſiegte den Sieger noch 
günſtig begleiteten! Er verhehlte es nicht, wie wenig 
er geſonnen ſei, durch Geſchäftsarbeiten Auszeichnung 


und Beförderung zu ſuchen, und bat den Kanzler von 


Bünau gradezu, ihn nur in ſogenannten Vorbeſchieds⸗ 
ſachen zu gebrauchen, welches dieſer auch gern zuſagte. 


39 54 Se 


Wirklich beſchränkte ſich feine ganze Thätigkeit während 
fünf Jahren ſeiner Dienſtanſtellung nur darauf, daß er 
zuweilen ein paar arme Bauern durch Vorbeſchied mit 
ihrem Gerichtsherrn zum Vergleich brachte; andren 
ſtrengeren Geſchäftsaufgaben durfte er fremd bleiben; 
denn da er ſo wenig Erwartung gab, fand er um ſo 
mehr Schonung, auf welche ſein Stand und Namen 
auch ohnehin rechnen konnten. Sein ganzer Eifer blieb 
auf Uebung und Ausbreitung chriſtlicher Frömmigkeit 
gerichtet, und von dieſer Seite erfuhren ſeine Kollegen, 
wie alle andre Perſonen, welche mit ihm in Berührung 
kamen, ſeine unermüdlichſte Thätigkeit. Er ſagt hievon 
ſelbſt: „Ich kam darauf an Hof; meine Eltern wollten 
es haben, und ich wußte keinen Ausweg. Was wollte 
ich machen? Ich wollte meinen edlen Schatz konſer— 
viren, Gottes Freund, der Welt Feind, zu ſein, und 
debutirte gegen Hohe und Niedrige mit ſo vielen gut— 
gemeinten Impertinentien, daß, wenn ich mich noch dar— 
auf beſinne, mich einestheils die Komparaiſon mit einem 
von Chriſtian Weiſen weiland aufgeführten Neuling in 
der Welt anwandelt, anderntheils die beſcheidene Kon— 
duite der Glieder des Hofes und Miniſterii, denen ich 
mit meiner Andacht beſchwerlich fiel, mir noch immer 
reſpektabel iſt.“ Er ſuchte aber, in ächt chriſtlicher Ge— 
ſinnung, neben dem Umgange der Vornehmen, der ſich 
ihm von ſelbſt darbot, auch den Umgang der Armen 
und Niedern auf, in welchen irgend ein Zug der Fröm— 
migkeit ſichtbar oder vorauszuſetzen war; ihm galt in 


oe 55 Rn 


dieſer Hinſicht kein Stand und keine Bildung, fondern 
nur die Beziehung zum Heilande. Auch Leute, die 
verachtet und angefeindet ihre beſonderen Wege gingen, 
und deren Annäherung ihm mancherlei Mißfallen zu— 
ziehen konnte, fanden bei ihm leichten Zutritt. Nicht 
befriedigt durch gewöhnliche Mittheilungen und Ge— 
ſpräche einzelnen Verkehrs, nahm fein heißer Eifer ei— 
nen höheren Schwung zu allgemeinen, regelmäßigen 
Erbauungen. Eine ſeltne Nachſicht wurde ihm hiebei 
zu Theil. „In Dresden habe ich, — ſo berichtet er 
ſelbſt, — ohne Widerſpruch meiner welt- und geiſt— 
lichen Obern alle Sonntage eine auch öffentliche Ver— 
ſammlung für jederman und bei offenen Thüren gehal— 
ten. Das Singulare dabei war nur, daß ich ein Pre— 
diger war, der aus Gehorſam gegen ſeine Eltern einen 
Degen trug und auf die Regierung ging, der aber ſchon 
damals mit ſeinem ganzen Gemüthe in der Predigt des 
Evangelii lebte. — Der liebe Superintendent zu Dres— 
den, Dr. Löſcher — welcher mich von Wittenberg her 
kannte, und mich nicht für einen Pietiſten hielt, ſondern 
für einen eifrigen Menſchen und Liebhaber des Wortes 
Gottes — hatte ein chriſtliches Mitleiden mit meiner 
unterdrückten Gabe, und ließ mich machen.“ Dieſe 
ſonntäglichen Verſammlungen fanden nachmittags von 
3 bis 7 Uhr Statt, man beſprach ſich über geiſtliche 
Dinge, man ſang ein Lied, man las ein Stück aus dem 
neuen Teſtament; in dieſer Weiſe ging die Sache bis 
in das ſechste Jahr mit geringer Unterbrechung fort, 


aD 56 Bo 


und wirkte in mancherlei Richtung ſegenvoll, indem auch 
viele Leute, die ſich von der Kirchengemeinſchaft ge⸗ 
trennt hatten, und dieſe Vorträge beſuchten, durch ſie 
zur Kirche zurückgeführt wurden, und von ihrem Trotz 
in Behauptung gewiſſer Irrlehren allmählich abließen. 
Außer vielen andern Abſonderungen innerhalb der pro— 
teſtantiſchen Kirche, beſtand auch die Spaltung zwiſchen 
Pietiſten und Orthodoxen damals noch fort, nur hatte 
ſich das Verhältniß beider Partheien im Fortrücken der 
Zeit bedeutend umgeſtellt. Die Denkart, welche von 
Halle ausgegangen war, hatte fi) aus Druck und Ver— 
folgung allmählich zu Herrſchaft und Anſehn erhoben, 
die Lehre hingegen, welche ſich auf Wittenberg ſtlützte, 
erfuhr von Kirchen- und Staatsämtern her, wo fie 
vordem überwiegenden Anhalt gehabt, jetzt mancherlei 
Ungunſt und Bedrängniß. Dieſer veränderte äußere 
Zuſtand hatte zugleich das Innere umwandelnd berührt, 
und man mußte bemerken, daß die orthodoxe Parthei 
an gottſeliger Innigkeit und Wärme in demſelben Maße 
reicher geworden war, als die pietiſtiſche an äußerer 
Stärke gewonnen hatte. Dieſe Wahrnehmung beſtätigte 
Zinzendorfen in feiner ſchon früher dargelegten Sinnes— 
art, ſich keiner Parthei vollkommen anzuſchließen, kei— 
nem theologiſchen Syſtem unbedingt zu huldigen, fon- 
dern ſein geiſtliches Wirken vorzugsweiſe auf das er— 
regte Gemüth zu gründen, und aus allen Meinungs- 
und Lehrarten die ächten Freunde des Heilandes, die 
wahren Kinder Gottes zuſammen zu ſuchen, und in der 


ep 57 Be 


höheren Gemeinſchaft die äußeren Zwiſte zu vergeſſen. 
In dieſer Sinnesart waren ihm für die Zukunft große 
und unerwartete Erfolge glücklich vorbereitet, die ſich 
einem ausgebildeten ſtrengen Lehrbegriffe ſchwerlich ſo 
verknüpft haben würden. 

Für ſeinen Zweck, dem Heilande Seelen zu ge— 
winnen, machte er ſeine weltlichen Anordnungen zu ei— 
nem dahin gewandten Lebensplan mit ſo richtiger Klug— 
heit und ſichrem Maße, als ſeiner Jugend, bei ſo feu— 
rigen Trieben, kaum zuzutrauen geweſen war. Sein 
ererbtes Vermögen war durch ſechszehnjährige Zinſen 
vermehrt; zwar hatte der Kurator deſſelben nicht über 


jedes genügende Rechenſchaft geben können, und Zin— 


zendorf der unverſchämten Zumuthung, er werde als 
ein Jünger Jeſu nicht allzu ſtreng über Geld und Gut 


halten noch ſtreiten, allerdings entſprochen, und ſogleich 


alles, was irgend ſchwierig wurde, willig fahren laſſen; 
doch blieb, trotz dieſer Einbuße, das ganze noch be— 
trächtlich genug für den Ankauf eines anſehnlichen Grund— 
eigenthums. Seine Großmutter verkaufte ihm das an 
Großhennersdorf gränzende Rittergut Bertholdsdorf. 
Am 19. Mai 1722 ließ er ſich huldigen. Der Bau 
eines Wohnhauſes war bereits früher angefangen. Hier 
dachte er nun in unmittelbarem Wirken auf ſeine nun— 
mehrigen Unterthanen ein chriſtliches Gemeindeleben 
nach ſeinem Sinne zu gründen. Als Gehülfen hiezu 
berief er zu der eben erledigten Pfarre den Kandidaten 
Andreas Rothe, einen Mann, deſſen Frömmigkeit und 


sp 58 8 


Geiſtesgaben in hohem Anſehn ſtanden, der aber, weil 
ein Amt zu ſuchen gegen ſein Gewiſſen war, ungeachtet 
ſeiner beliebten Predigten bis dahin nur als Informa- 
tor ſein Unterkommen gefunden hatte. Nach dieſer ge— 
troffenen geiſtlichen Fürſorge glaubte Zinzendorf zu der 
Lebensweiſe, die er ſich vorgeſetzt, auch einer gleichge— 
ſinnten Gattin nicht länger entbehren zu dürfen. Zwar 
hatte die Vorſtellung, daß keuſche Eheloſigkeit einem 
heiligen Berufe wohlgezieme, ihn oft erfüllt, allein ge— 
nauere Betrachtung lehrte ihn die Ehe als einen vom 
Heiland anbefohlenen Stand ehren, den man, wie auch 
ſeine Herzensfreunde ihn verſicherten, mit aller Heilig— 
keit führen könne. Seine Wahl traf nach vielem Be— 
denken die Gräfin Erdmuth Dorothea von Reuß zu 
Ebersdorf, die Schweſter ſeines Freundes. Er ſchrieb 
hierüber an ſeine Großmutter: „Bei dem jetzigen Vor— 
haben wird es noch mancherlei Diffikultäten ſetzen, in— 
dem ich ein ſchlechtes Glück für jemand bin, und die 
liebe Gräfin Erdmuth ſich freilich eine ſehr verläug— 
nende Lebensart bei mir müßte gefallen laſſen, und den 
chimäriſchen Stand, welchen Gott nicht eingeſetzet, ſon— 
dern der menſchliche Ehrgeiz erſonnen hat, mit mir zu— 
gleich an den Nagel hängen, ſodann auch der Haupt- 
zweck meines Lebens, Chriſto unter Schmach und Ver— 
achtung die Seelen der Menſchen werben zu helfen, 
auch ihre Funktion würde ſein müſſen, wo ſie mir etwas 
nutzen wollte, jedoch nach der Regel, welche Paulus 
vorgeſchrieben hat.“ Da manche Perſonen dieſe Art 


| 


HI in 


zu lieben nicht feurig genug finden mochten, fo nahm 
er Anlaß, hievon in einem anderen Briefe noch be— 
ſtimmter zu reden: „Was die Gräfin Erdmuth belan— 
get, — ſagte er, — gegen welche man mir eine kalte 
Liebe beimiſſet, ſo erlauben Sie mir zu ſagen, daß ich 
hierinnen unglücklich ſei; denn das iſt dem lieben Gott 
nur allzubekannt, mit was für herzlicher Zuneigung ich 
ihr ergeben bin. Daß ich aber eine fleiſchlich-irdiſche 
Liebe zu ihr haben ſollte, da behüte mich Gott vor. 
Die eheliche Liebe und Freundſchaft gehöret ſich mei— 
nes Erachtens nicht ehe, als bis man vor Gott ſchon 
verbunden iſt, denn wenn eine ſolche Sache zurückginge, 
und man hätte von einem oder andern Theile ſich fleiſch— 
lich geliebet und kreatürlich an einander ergötzet, ſo 
müßte es nothwendig Male im Gewiſſen zurücklaſſen. 
Ich weiß, daß ſie mich ebenfalls herzlich liebet, aber 
nicht anders, als ich ſie. Indem ich nun die liebe 
Comteſſe Erdmuth dem Aeußern nach gar nicht konſide— 
rire, ſondern lediglich auf ihren Geiſt und Gemuths— 
beſchaffenheit, Glauben und Liebe, ſehe, ſo geſchichts, 
daß ſolche Liebe etwas indifferent ſcheint, weil ſie mehr 
in das Inwendige als in das Aeußere gehet. Nach— 
dem ich nach Ebersdorf werde gekommen ſein, wird ſichs 
noch mehr weiſen, und ich bin verſichert, daß fie ſich 
nicht einen Augenblick daran ſtoßen wird, ſondern viel— 
mehr eine innige Freude haben, wo ſie ſähe, daß ich in 
die Liebe Gottes ſo eingedrungen wäre, daß ich ihrer 
Liebe und Gemeinſchaft gar müſſig gehen könnte, da⸗ 


2 60 8 


hingegen ihrerſeits keine abſchlägige Antwort werde zu 
fürchten haben, wenn ich ſie zur Gehülfin im Herrn 
verlangen werde.“ Nachdem einige Schwierigkeiten durch 
die inſtändigen Empfehlungsſchreiben der Herzogin von 
Wolfenbüttel und des Reichskammerpräſidenten Grafen 
von Solms beſeitigt worden, fand zu Ebersdorf am 
16. Auguſt 1722 die Verlobung und bald nachher die 
feierliche Vermählung Statt. Zinzendorf hatte ſchon 
vorher mit ſeiner Braut über den Gang ihres verein— 
ten Lebens aufrichtige Abrede genommen; um alles Ir— 
diſche ſogleich abzuthun, ſchenkte er ihr, noch vor der 
Trauung, ſeine ganze Habe. Solchen Ereigniſſen ſei— 
nes Lebens widmete er nebſt andern Andachten auch 
geiſtliche Lieder, an deren leichtfließender Hervorbrin— 
gung es ihm bei keiner Gelegenheit gebrach; ſie mit— 
zutheilen tragen wir jedoch Bedenken, da ihr Ausdruck 
meiſt nur gering iſt, und dem gutgemeinten Inhalt ſel— 
ten Schwung giebt. Seine Gemahlin führte er nach 
Dresden, wo er in ſchicklicher, doch mäßiger Einrich— 
tung ſeine gewohnte Lebensweiſe fortſetzte. Der freund— 
ſchaftlichen Warnung, die Hofluſtbarkeiten weniger zu 
meiden, damit nicht aus der nichtgeachteten Einladung 
ein ernſtlicher Befehl des Königs würde, ſetzte er die 
ſtandhafteſte Ablehnung entgegen, er müſſe, meinte er, 
die Folgen ſeines Benehmens Gott empfehlen. Auch 
wollte er keine Beförderung annehmen, am wenigſten 
Kammerherr werden, und ſchrieb hierüber, er ſei weder 
ein Weltmann, noch ein weltkluger Mann, wie ſolches 


a 61 S 


Amt erfordre, ſondern habe den guten Willen, ein Kind 
Gottes und ein Chriſt von Herzen zu ſein, und ein 
ſolcher habe vor den Hofvergnügungen und den Herr— 
lichkeiten dieſer Welt einen Abſcheu. Dieſen Anſichten 
gemäß entzog er ſich auch allen vornehmen eitlen Ge— 
ſellſchaften, ging dagegen mit den geringſten Leuten, 
ſobald er in ihnen eine Spur der Gottſeligkeit fand, 
ganz vertraulich um, indem er ſagte, daß er den vom 
Hochmuth der Menſchen entſprungenen, und ſo von 
Aeltern auf Kinder fortgepflanzten Stand der natür— 
lichen Geburt gegen die Schmach Chriſti für nichts 
achte, daß er alle Menſchen ſo gut als ſich ſelbſt halte, 
und nicht abſeben könne, warum ein Kind Gottes, wenn 
es auch ein Bettler wäre, nicht an ſeiner Tafel nach 
Gelegenheit miteſſen ſollte. Die ſonntäglichen Haus— 
andachten hielt er nach wie vor mit Eifer, und da viele 
Perſonen ſich mit ihren Zuſtänden an ihn wandten, ſo 
erwuchſen ihm von daher bald ausgebreitete Geſchäfte, 
denen er fleißigſt oblag. Man erſchwerte ihm von oben 
her dieſe Lebenswendung nicht, und ließ ihn fein Re— 
gierungsamt nicht als Laſt fühlen; vielmehr konnte er 
dabei einen Theil des Jahres ganz auf dem Lande zu— 
bringen. Die Gräfin aber theilte ſeine Neigung und 
Lebensart mit freudiger Einſtimmung. Gleich zum 
Winter, da in Dresden die Luſtbarkeiten recht anhoben, 
reiſten ſie nach der Oberlauſitz, ihre Güter zu be— 
ſuchen. 

Inzwiſchen 5 ſich daſelbſt ein dem Anſcheine 


BD 62 Bo 


nach geringfügiges Ereigniß zugetragen, welches gleich— 
wohl der Keim der wichtigſten und folgenreichſten 
Schöpfungen war, und dem Leben Zinzendorfs eine 
neue Kraftrichtung und entſchiedenen Wirkſtoff gab. 
Wir müſſen aber hiebei, beſſeren Verſtändniſſes wegen, 
auf frühere Zeiten zurückgehen. Das Chriſtenthum 
war in Mähren und Böhmen zuerſt durch Boten, welche 
der griechiſchen Kirche angehörten, gepflanzt worden, 
und als ſpäter die lateiniſche Kirche in jenen Ländern 
die Oberhand gewann, blieb ein großer Theil des Volks 
der früheren Glaubensform getreu, welche zugleich für 
die reinere galt; die Waldenſer ſchloſſen ſich derſelben 
an, Johann Huß und ſeine Nachfolger ſtritten für die— 
ſelbe mit Wort und Schwert, und die Sache der Re— 
ligion wurde unter ihnen zur Nationalſache. Allein die 
Anſtrengungen der Mähren und Böhmen erlagen, und 
ihre Kirche, verfolgt und unterdrückt von der lateiniſchen, 
abgeſchnitten von der griechiſchen, mußte in Dunkel und 
Verborgenheit ihr Fortbeſtehn ſuchen, und aus eignen 
Mitteln ihre Weiterbildung ſchöpfen. Die Glaubens- 
genoſſen derſelben waren durch ihre Lage auf das In— 
nere gedrängt, und unter dieſen Umſtänden entwickelten 
ſich leicht ähnliche Vorzüge wieder, als den erſten chriſt— 
lichen Gemeinden unter den Apoſteln eigen geweſen, 
denen man in Lehre und Wandel möglichſt nachzufol— 
gen befliſſen war; eine Brüderunität wurde der Sache 
und dem Namen nach geſtiftet, und eine große Anzahl 
von Getreuen hielten als mähriſche Brüder mehr oder 


63 4.2 


minder offen an der altüberlieferten Gemeinſchaft. Die 
Reformation Luther's gab auch dieſen Brüdern neue 
Anregung; die Lehre ſtimmte weſentlich überein, das 
gleiche Schickſal, welches in und nach dem dreißigjäh— 
rigen Kriege alle evangeliſchen Bekenner in jenen Län- 


dern traf, hob andre Unterſchiede auf. Viele hatten 


ſich den grauſamen Verfolgungen der Sieger zum Theil 
durch Auswanderung entzogen, und in Polen, Preußen, 
Sachſen, wie auch andern Ländern Aufnahme gefunden, 
wo ſie beſondre Gemeinden bildeten. In Mähren und 
Böhmen ſelbſt war ihnen keine freie Stätte mehr, ſie 
mußten ihren Glauben wie ihre Bücher verheimlichen, 
und erhielten ſich unter Druck und Gefahr nur in tief- 
ſter Stille. Zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts 
gab die Uebereinkunft, welche des Königs von Schwe— 
den Karls des Zwölften furchtbares Herannahen dem 
Kaiſer Joſeph dem Erſten zu Gunſten der Proteſtan— 
ten in Schleſien abnöthigte, einige Hoffnungen, die aber 
mit dem Abzuge und Fall jenes Kriegshelden wieder 
ſchwanden. Unter den aufs neue zurückgedrängten Pro- 
teſtanten entſtand aber gegen das Jahr 1720 in einigen 
Gegenden von Mähren und Böhmen eine beſondere 
Geiſtesbewegung; ſie ſtärkten ſich zu neuem Eifer, und 
Viele trieb das Verlangen, des freien Gottesdienſtes 
ihrer Brüder im Auslande theilhaft zu werden. Ein 
Zimmermann, Chriſtian David, wurde hiezu mehreren 
beſonders hülfreich. Von Senftleben in Mähren frü⸗ 
her ſchon auf Wanderſchaft ausgegangen, war er nach 


= 64 


Berlin gekommen, und hatte dort in der Gemeinſchaft 
der evangeliſchen Kirche gelebt. Seit ſeinem achten 
Jahre ſuchte er aufrichtig den Heiland, aber erſt in 
Görlitz, wo er in ſeinem Handwerk arbeitete, und da⸗ 
bei fleißig zur Kirche ging und die erweckenden Pre— 
digten Schäfer's und Schwedler's hörte, gelangte er 
zu wahrer Befriedigung. Er lernte hier den Kandi— 
daten Rothe kennen, und durch dieſen den kürzlich von 
ſeinen Reiſen zurückgekehrten Zinzendorf, dem er die 
unglückliche Lage einiger ſeiner Glaubensbrüder in Mäh— 
ren nicht vergebens ſchilderte, denn Zinzendorf verſprach, 
die bedrängten Familien aufzunehmen und ſie an ſicherm 
Orte unterzubringen, wobei er vorzüglich Ebersdorf im 
Sinne hatte, und erſt, als dieſer Plan allerlei Schwie— 
rigkeiten gefunden, und ihm unterdeſſen in Bertholds— 
dorf ein eigner Grundbeſitz geworden, beſtimmte er die— 
ſen Ort zur Aufnahme der Vertriebenen, für welchen 
er vorläufig auch den diesjährigen Ertrag des Gutes 
anwies. Mittlerweile kamen, von dem muthigen Chri— 
ſtian David klug und glücklich geleitet, drei mähriſche 
Familien nach dem Pfingſtfeſte des Jahres 1722 in der 
Oberlauſitz an, wo ſie zuerſt in Niederwieſe bei dem 
Magiſter Schwedler, dann in Görlitz bei dem Magiſter 
Schäfer achttägige Bewirthung fanden, und darauf mit 
Rothe's Empfehlungsbriefen an den Hauslehrer Marche 
nach Großhennersdorf, und von da nach Bertholdsdorf 
geſchickt wurden. Der dortige Haushofmeiſter Heitz 
berichtete dem anweſenden Grafen ihre Ankunft, und 


65 


ging inzwiſchen mit Frau von Gersdorf in Großhen— 
nersdorf über die ferneren Anſtalten zu Rath, es wurde 
beſchloſſen, die armen Fremdlinge ſollten ſich nicht im 
Dorfe ſelbſt, wie ſie vorzugsweiſe wünſchten, ſondern 
an einem beſondern Orte anbauen, wozu eine Waldge— 
gend bei dem Hutberge, an der Landſtraße nach Zittau, 
gewählt wurde. Die Gegend bot kein Trinkwaſſer dar, 
hatte auch ſonſt nichts Erfreuliches, doch rechnete man 
auf Gottes Hülfe. Die Leute wurden einſtweilen auf 
dem Lehnhof untergebracht; Frau von Gersdorf ſchickte 
ihnen eine Kuh, damit ſie Milch für die kleinen Kin— 
der hätten, und ließ ihnen das nöthige Bauholz anwei— 
ſen. Chriſtian David aber ſchlug ſeine Zimmeraxt in 
einen Baum ein mit den Worten: „Hier hat der Vogel 
ſein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Neſt, näm— 
lich deine Altäre, Herr Zebaobth!“ Am 17. Juni fäll⸗ 
ten fie den erſten Baum zu dem erſten Haufe der nach- 
herigen Stadt Herrnhut, und ſetzten bei geringer Koſt 
mit harter Arbeit ihr Werk ſo freudig fort, daß ſchon 
im Anfang Oktobers das erſte Haus bezogen werden 


konnte. Der fromme Haushofmeiſter Heitz hielt die 


Einweihungsrede, und von ihm kam auch der Anlaß 
des ſpäterhin erſt gangbar gewordenen Namens der 
neuen Niederlaſſung am Hutberge, indem er gleich an— 
fangs in einem Schreiben an den Grafen ihr den Se— 
gen wünſchte, daß ſie immer unter des Herrn Hut 
ſtehen, die Einwohner aber auch ſtets auf des Herrn 


Hut ſtehen möchten. Bis dahin hatten Marche und 


Biographiſche Denkmale. V. 5 


an 66 En 


Heitz mit Hülfe der Frau von Gersdorf die Sache ge— 
führt, zwar mit Wiſſen und aus den Mitteln Zinzen- 
dorfs, aber doch ohne ſein beſonderes Einwirken, und 
ſelbſt ohne ſeine genauere Kundnahme, da ſeine Ver— 
mählung grade in dieſer Zeit ihn anderweitig beſchäf— 
tigt hielt. So konnte es geſchehn, daß ihm, als er am 
22. Dezember mit feiner Gemahlin nach Großhenners— 
dorf fahren wollte, Verwunderung erregte, an der Land- 
ſtraße im Walde ein neuerbautes Haus zu erblicken. 
Er freute ſich jedoch herzlich, als ihm berichtet wurde, 
dies ſei die Wohnung der von ihm aufgenommenen 
mähriſchen Ankömmlinge, und er genehmigte alles Ge— 
ſchehene. Er ging zu den Leuten hinein, bewillkommte 
ſie, kniete mit ihnen betend nieder, und dankte dem 
Heilande, deſſen Obhut er die Niederlaſſung inbrünſtig 
empfahl; er hieß ſie gutes Muthes ſein und ferneres 
Vertrauen auf Gott faſſen, und ſetzte darauf ſeinen 
Weg fort. 

Vor allem war ihm jetzt angelegen, ſeine ſämmt— 
lichen Unterthanen zu Bertholdsdorf in die Bahn ächter 
Frömmigkeit zu führen, er hielt es für ſeine Pflicht, 
nicht eher zu ruhen, als bis auch der letzte ſeiner Bauern 
dem Heilande gewonnen ſei. Sein Abſehn hiebei war 
einzig von der Vorſtellung beſtimmt, nach Spener's 
Hindeutung kleine Kirchen in der großen Kirche zu 
pflanzen, fürerſt ein ganz einzelner Zweck, dem tiefere 
Verknüpfung von Gedanken und Planen nicht zum 
Grunde lag. Das obrigkeitliche Amt, welches ihm als 


e 67 S 


Gutsherrn zuſtand, verwaltete er in nöthigen Dingen 
nach Erforderniß, miſchte daſſelbe aber in ſein geiſtliches 
Wirken nicht ein, denn er glaubte, die Obrigkeit dürfe 
ſich keine Macht über die Gewiſſen der Menſchen an— 
maßen, eben ſo wenig, als ein wahrer Geiſtlicher den 
weltlichen Arm anrufen dürfe, um den Glauben aufzu— 
richten, aus beiden entſtünde nur abſcheuliche Heuchelei 
und tiefes Verderben. Sein Prediger Rothe, deſſen 
Predigten gewaltig eindrangen, leiſtete ihm förderlich— 
ſten Beiſtand, der Magiſter Schäfer in Görlitz nahm 
gleicherweiſe lebhaft Antheil, und als Friedrich von 
Watteville aus Bern eintraf, der Jugendfreund Zin— 


zendorfs von Halle her, ſahen ſich die vier Gleichge— 


ſinnten als engverbundene Brüder an, deren ganzes 
Trachten auf das Reich Gottes gerichtet ſei. Watte— 
ville, der einem Anfluge weltlicher Freidenkerei wieder 
entkommen war, hegte die innigſte Frömmigkeit in dem 
edelſten Herzen, er war durchaus ſanft und dabei höchſt 
thätig, wußte das unerkannte Gute jedes Menſchen zu 
erforſchen, und flößte ſelbſt denen noch Vertrauen ein, 
die es ſonſt für niemand mehr hatten. Sein liebreicher 
Sinn und ſein grades bündiges Weſen ließ die Miß— 
verſtändniſſe nicht aufkommen, welchen die verbundenen 
Freunde in ihren häufigen Unterredungen, die ſie Kon— 
ferenzen nannten, zuweilen ausgeſetzt waren; denn in 
ihrem Streben ſelbſt, durchaus übereinzuſtimmen und 
einer wie der andre zu denken und zu reden, lag der 
Grund zu bedenklichen Verwirrungen, über welche Zin— 
5 * 


er 68 G8 


zendorf bisweilen, einſam vor dem Heilande knieend, 
bittre Thränen vergoß. Dieſe Konferenzen, zu welchen 
nach und nach auch andre Theilnehmer kamen, wurden 
ſpäterhin in größeren Maßen fortgeſetzt, und nicht ohne 
lebendigen Einfluß auf die Gemeindeſachen. Doch Zin— 
zendorf's Eifer begnügte ſich mit ſolchen Erörterungen 
nicht, ſondern vervielfachte die Wege ſeiner Thätigkeit. 
Neigungen und Gaben waren ihm auf großen perſön— 
lichen Menſchenverkehr geſtellt. Unter den letztern ha— 
ben wir einer ihm ganz eigenthümlichen zu gedenken, 
der Gabe aus dem Herzen zu ſingen; unvorbereitet, 
aus der Fülle des Herzens, in freiem, ungeſtörten Fluſſe, 
ſang er, ein wahrer Improviſator, ſo oft die Gelegen— 
heit es gab, geiſtliche Lieder, an Inhalt und Ausdruck 
ſeinen übrigen nicht nachſtehend, und an Wärme und 
augenblicklicher Wirkung ihnen wohl oft überlegen. 
Seine Gabe zu reden war durchaus volksmäßig, zum 
vertraulichen Wechſelgeſpräch wie zum allgemeinen durch— 
geführten Vortrage gleich geſchickt. Im Triebe ſolcher 
Gaben machte er ſich gleichſam zum Diakonus oder 
Katecheten des Paſtors Rothe, und wenn dieſer am 
Sonntage nach der Predigt ſeine Gemeinde in der 
Kirche noch zu beſondern Unterhaltungen, wobei jeder 
mitreden durfte, zuſammenbehielt, nahm Zinzendorf 
nicht nur lebhaften Theil an den Geſprächen, und fügte 
angemeſſene Lieder hinzu, ſondern nachmittags wieder— 
holte er der Gemeinde auf einem Saal in ſeiner Woh— 
nung die am Vormittage gehörte Predigt Rothe's in 


DD 69 Bi 


deſſen Gegenwart nochmals, und fo genau, daß er ſelbſt 
manche Anreden oder etwan in Folge einiger Mißver— 
ſtändniſſe nicht allzufreundliche Beziehungsworte, welche 
der Prediger mit eigner Freimüthigkeit unmittelbar ge— 
gen den Grafen öfters fallen ließ, in ſeine Wieder— 
holung mit den Worten: „Wie heute Herr Rothe von 
mir, oder zu mir ſagte,“ - getreulich aufnahm, und da— 
durch zugleich ein Beiſpiel friedlicher Selbſtentäußerung 
gab. Durch ſo viele vereinte Bemühungen, zu welchen 
auch noch die Betſtunden des Haushofmeiſters Heitz 
und die kräftigen Ermahnungen des Zimmermanns Chri- 
ſtian David zu rechnen ſind, fanden in der Gemeine 
von Bertholdsdorf bald zahlreiche Erweckungen Statt, 
und die Erweckten ſchloſſen ſich den vier verbundenen 
Brüdern innigſt an, mit welchen ſie ſich an jedem Frei— 
tage zu beſonderer Andachtsübung noch eigends verſam— 
melten. Aus der Nachbarſchaft zogen fromme Leute 
herbei, um an dem geſtifteten Gnadenhaushalt, wie die 
Sache genannt wurde, Theil zu haben, und neue Aus— 
wanderer aus Mähren, welche hier Schutz hofften, tra— 
fen ein und erhielten Wohnungen. 

Während aber Zinzendorf armen Fremdlingen ſo 
wohlmeinend und fürſorgend auf ſeinen Gütern eine 
Freiſtätte darbot, ſah er ſich feltfam genug in den Fall 
gebracht, ſelber die Heimath zu verlaſſen, und ſeiner— 
ſeits eine Zuflucht in Böhmen zu ſuchen. Die Veran— 
laſſung war folgende. Im Frühjahr 1723 kam eines 
Tages unvermuthet ein Trupp reitender Trabanten nach 


23H 70 BR 


Großhennersdorf, nahm fofort den Freiherrn von Watte- 
ville in Verhaft, und führte denſelben unter ſtrengem 
Gewahrſam nach Dresden ab. Niemand wußte dieſen 
für ihn ſelbſt wie für feine Freunde ungeheuern Vor— 
fall zu erklären, alles war darüber von Schreck und 
Furcht betroffen. Auch Zinzendorf, deſſen Einbildungs— 
kraft die ſeltſamſten Vorſtellungen nähren mochte, war 
jenen Eindrücken hingegeben, und fand ſeinem Zuſtande 
wie auch der Klugheit angemeſſen, um ſelbſt für den 
Freund noch thätig bleiben zu können, ſeine eigne Per— 
ſon in Sicherheit zu bringen. Er ging deßhalb über 
die Gränze nach Böhmen, wo er in der Stille abwar— 
tete, wie ſich die Sache weiter entwickeln würde. Dies 
erfolgte alsbald, und der Vorgang klärte ſich dahin auf, 
daß Watteville durch gewiſſe Ausdrücke in einem Briefe 
den Verdacht der Theilnahme an einem Morde auf ſich 
geladen hatte, indem ſowohl er als Zinzendorf aller— 
dings mit dem Thäter, einem vornehmen Manne in 
Dresden, der ſich früher zu den ſonntäglichen Erbauun— 
gen gehalten, und dem niemand ein Verbrechen ſolcher 
Art zutrauen konnte, in Beziehung ſtanden. Bei die— 
ſer Nachricht durfte Zinzendorf gutes Muthes ſein, trat 
aus ſeiner Verborgenheit hervor, und wirkte mit allem 
Eifer für die Befreiung des Freundes, deſſen Unſchuld 
auch bald unzweifelhaft an Tag gelegt wurde. Wer 
in dem anfänglichen Benehmen Zinzendorf's nur eine 
Schwäche ſehen wollte, dürfte doch die Umſtände, deren 
Anſchein auf ihn wirkte, nicht gehörig in's Auge faſſen. 


71 SS 


Die Zeit der ſchrecklichen Ungewißheit, in der er 
ſchwebte, brachte er in einer Weiſe zu, die ſeinem gan— 
zen Sinne würdig entſprach, er prufte vor Gott fein. 
ganzes Leben, ſeinen Antrieb und Beruf, und erlangte 
auf's neue die feſte Gewißheit, daß ihn Gott zum 
Dienſte in ſeinem Hauſe beſtimmt habe, und ſo brachte 
er aus der kurzen Bedrängniß nur freudigere Stärkung 
heim. An den Uebelthäter ſchrieb er einen rührenden 
Brief, ihm ſein heuchleriſches Weſen vorzuhalten, und 
ihn deſto nachdrücklicher zur Bekehrung und Buße an— 
zumahnen. 

Nach Dresden zurückgekehrt, ſetzte er ſeine ge— 
wohnten Arbeiten fort, die ſonntäglichen Verſammlun— 
gen wurden immer zahlreicher beſucht. Im Sommer 
1723 aber machte er eine Reiſe nach Schleſien, wohin 
Watteville und Schafer ihn begleiteten. Bei dem Frei— 
herrn von Hochberg, auf deſſen Herrſchaft viele Schwenk— 
felder wohnten, wurden ſie durch das Elend, in welchem 
dieſe armen, frommen, fleißigen und ſtillen Leute leb— 
ten, tief gerührt. Ein ſchleſiſcher Edelmann, Kaspar 
von Schwenkfeld, hatte zur Zeit der Lutheriſchen Re— 
formation dieſe Sekte geſtiftet, welche ſich durch be— 
ſondere Lehren, aber auch durch ruhigen Wandel aus— 
zeichnete. Sie wurden jetzt hart verfolgt, damit ſie 
den katholiſchen Glauben annähmen, allein ſie duldeten 
ſtandhaft ohne zu wanken. Als Zinzendorf ſodann we⸗ 
gen einiger Familiengeſchäfte zu Kaiſer Karls des Sechſten 
böͤhmiſcher Krönung an den Kaiſerlichen Hof nach Prag 


BD 72 So 


reiſte, und ſchon in Brandeis den Kaiſer zu fprechen 
bekam, war er jener Verfolgten lebhaft eingedenk. Ihm 
widerfuhr als einem vornehmen und dabei ſonderbaren 
Manne vielfache Auszeichnung; der Kaiſer ſelbſt, die 
Kaiſerin, und der Herzog von Blankenburg, Vater der 
Kaiſerin, erwieſen ihm perſönlich das gnädigſte Wohl— 
wollen. Er ſuchte dieſe Gunſt weniger für ſich ſelbſt, 
als für die Schwenkfelder zu benutzen, und nahm ihret— 
wegen mit dem Kaiſerlichen Miniſter Grafen von Sin— 
zendorf ausdrücklich deßhalb Rückſprache. Und als die— 
ſer ohne Hehl bekannte, in allen andern Sachen würde 
er gern gefällig ſein, aber in der Religionsſache könne 
er nichts zugeſtehn, die Schwenkfelder müßten auswan- 
dern, ſo richtete Zinzendorf ein Schreiben zu ihren 
Gunſten an den Kaiſer ſelbſt, dem er darin freimüthig 
ſagte: „Ew. Kaiſerliche und katholiſche Majeſtät ſtatte 
für die Gnade der Audienz den allerunterthänigſten 
devoteſten Dank: und gleichwie es unbillig wäre, von 
einem ſo großen Monarchen hinwegzugehen, ohne eine 
Bitte gethan zu haben, ſo beſchämen Ew. Majeſtät 
mein Angeſicht nicht, wenn ich um Barmherzigkeit für 
die hart gepreßten Schwenkfelder in Schleſien demüthigſt 
flehe. Ich will ihr Weſen nicht in Vertheidigung neh— 
men: aber, allergnädigſter Herr, die Seelen der Men— 
ſchen zu überzeugen, ſind die leiblichen Mittel allzu 
unvermögend, ſie machen nur Heuchler: und es wird 
Ew. Majeſtät doch um die wahre Bekehrung der Irren— 
den zu thun ſein.“ Indeß blieb auch dieſer Schritt 


op 73 


ohne Wirkung. Für feine fonftigen Geſchäfte fand er 
willfährige Unterſtützung; es war ſogar die Rede, ihm 
die Würde eines Kaiſerlichen Kämmerers zu verleihen, 
und ihm weitere Ausſichten am Hofe zu eröffnen, allein 
er mußte beides als ſeinem Sinne nicht gemäß ableh— 
nen. Von Dresden aus wirkte er hierauf mit neuem 
Eifer für ſeinen höchſten Zweck. Er ſelbſt hatte ange— 
fangen, kleine Erbauungsſchriften zu verfaſſen, welche 
nach beiräthiger Zuziehung Rothe's im Druck erſchie— 
nen. Jetzt wurde mit Hülfe der Frau von Gersdorf 
in der Nähe eine eigne Buchdruckerei angelegt, um 
dieſe und andre fromme Aufſätze, wie auch die Bibel 
ſelbſt, für geringen Preis dem armen Volk in Menge 
darzubieten. Dieſe Druckerei wurde jedoch, wegen 
mancher Schwierigkeiten, aus der Lauſitz bald nach 
Ebersdorf verſetzt, wo ſie mehrere Jahre wirkſam blieb. 
Zu Erziehungsanſtalten für arme Kinder war nicht 
minder mancherlei Anregung; ein Fräulein von Zetz— 
witſch, mit der ſich Watteville nachher vermählte, zog 
nach Bertholdsdorf, nahm arme Mädchen unter ihre 
Aufſicht, und legte damit den Grund zu der nachheri— 
gen Mädchenanſtalt in Herrnhut. Auch eine Schule 
für junge Edelleute wurde beabſichtigt. Die Aehnlich— 
keit dieſer Anſtalten mit den halliſchen war offenbar; 
man machte den Gründern daraus den Vorwurf, ſie 
ahmten die letzteren nach, und zum Schaden derſelben, 
indem ihr ſegenreiches Gedeihen durch die neue, in 
ihrem Erfolge doch noch zweifelhafte Mitbewerbung 


e 5) 74 


nothwendig Abbruch leide. Man wollte wiſſen, Francke 
ſehe mißmüthig auf die Unternehmungen in der Lauſitz, 
und Zinzendorf ſelbſt gab einigem Bedenken Raum. 
Allein das gute Vernehmen beider in ächter Frömmig— 
keit vereinten Freunde wurde nicht geſtört. Grade in 
dieſe Zeit fiel ihr Briefwechſel über die in der pro— 
teſtantiſchen Kirche zu bewirkende Union der Lutheraner 
und Reformirten. Francke war der Sache entgegen, 
Zinzendorf aber lebhaft dafür; doch ließ er ſich durch 
erſteren dahin beſtimmen, daß er nicht ſowohl eine Ver— 
einigung der verſchiedenen Glaubensbekenntniſſe, als 
vielmehr eine Gemeinſchaft kirchlicher Verfaſſung und 
Rechte wünſchte. Solchergeſtalt glaubte er, indem er 
ſelbſt, wie er bei aller Gelegenheit laut und nachdrück— 
lich wiederholte, dem Lutheriſchen Glaubensbekenntniſſe 
durchaus getreu bleiben wollte, mit allen andern pro— 
teſtantiſchen Gläubigen, ja in gewiſſem Sinne, ſofern 
fie ſelbſt nur einwilligten, auch mit den katholiſchen, in 
gemeinſamer Erbauung ſtehn zu können, da es zunächſt 
und hauptſächlich nur auf die wahre Liebe zum Hei— 
lande ankomme, die aus jedem der verſchiedenen Zweige 
des Chriſtenthums vollkommen erblühen könne, daher 
es auch nicht eben nöthig ſei, einen derſelben mit den 
andern zu vertauſchen. Wegen dieſer Anſichten be— 
ſchuldigte man ihn ſeitdem häufig des Indifferentis— 
mus, welchen nachtheiligen Vorwurf er jedoch ſtark ab— 
zuweiſen ſtets befliſſen blieb, ohne doch ſeine allgemeine 
chriſtliche Liebesumfaſſung darum einzuſchränken. „Daß 


39 75 So 


in allerlei Volk, — ſagt er in einem ſpäteren Briefe, 
— etliche Seelen durch Jeſum Chriſtum modo extra- 
ordinario können und werden ſelig werden, iſt eine alte 
evangeliſche Lehre. — Von der Verdammten und Teu— 
fel Erlöſung und Seligkeit kann ich in der Bibel nichts 
Deutliches finden, drum kann ich's auch nicht glauben. 
Wenn man mich aber fragt, ob mir's lieb wäre, ſo be— 
kenne ich von Herzen, daß ich wollte, daß alles, was 
jemals geſchaffen iſt, durch das Blut und Tod Jeſu 
Chriſti zu Gott wieder gebracht werden möchte. Und 
wenn ich um mein Votum dabei gefragt würde, ſo gäbe 
ich's affirmative.“ — 

Die Anſiedler zu Herrnhut am aus Mähren 
neuen Zuwachs, welchen die Mittel ſelbſt, die man da— 
gegen anwandte, beförderten. Die zurückgebliebenen 
Angehörigen der erſten Auswanderer wurden dort eine 
Zeitlang gefangen geſetzt, und auch nachher noch man— 
nigfach bedroht; ſie entzogen ſich weiteren Verfolgun— 
gen durch heimliche Flucht mit Zurücklaſſung ihrer 
Habe. Der Zimmermann Chriſtian David aber wagte 
ſich neuerdings nach Mähren, um fernerhin auf den 
Dörfern die Nachkommen der alten Bruder aufzuſuchen; 
ſie fanden ſich in großer Anzahl, und durch die Reden 
Chriſtian David's und zweier muthigen Männer, Da— 
vids und Melchiors Nitſchmann, kräftig angeregt, kamen 
fie oft zu Hunderten nachts an abgelegenen Orten zu- 
ſammen um zu ſingen und zu beten. Beſonders ſtark 
und allgemein war die Erweckung in den Ortſchaften 


3 76 8 


— 


Zauchtenthal und Kunewalde, wo jedes Geſchlecht und 
Alter daran Theil hatte. Dieſe Bewegungen konnten 
nicht lange verborgen bleiben, die Verſammelten wur— 
den durch die Behörden überfallen, auseinandergetrie— 
ben, manche derſelben ins Gefängniß geworfen, und 
mit Leib- und Lebensſtrafen bedroht. Sie erfuhren 
Druck und Quälereien jeder Art, durften ihren Glau— 
ben nicht bekennen, und doch nicht auswandern, ſie ſoll— 
ten mit Gewalt katholiſch ſein. In dieſer Noth be— 
ſchloſſen fünf junge Männer aus Zauchtenthal, nach— 
dem ſie vor Gericht eben mit neuem Gefängniß hart 
bedroht worden, ihre Freiheit im Auslande zu ſichern. 
Sie zogen bei Nacht in der Stille aus, fielen vor dem 
Dorfe auf die Kniee, flehten für ſich und ihre zurück— 
bleibenden Brüder den Schutz Gottes an, und wander— 
ten muthig ihren Weg durch das wildeſte Gebirg, in— 
dem ſie das Lied ſangen: „Selig der Tag, da ich muß 
ſcheiden,“ welches hundert Jahre zuvor gleichfalls bei 
ſolchem Auszuge war geſungen worden. Sie hatten 
im Allgemeinen den Plan, Kinder Gottes aufzuſuchen, 
und etwa in Polen oder Holland, wo fie Brüder aus 
Böhmen und Mähren fänden, ſich niederzulaſſen; zuerſt 
aber nahmen ſie ihren Weg nach der Lauſitz, um die 
dortigen Brüder und beſonders Chriſtian David wie— 
derzuſehn. Sie kamen nach Niederwieſe zu dem Ma— 
giſter Schwedler, der ſie mit einem Empfehlungsſchrei— 
ben an Zinzendorf nach Herrnhut entließ. Hier hatten 
ſich bisher die Anſiedler kümmerlich beholfen, denn die 


DT Be 


Unterſtützung, die ihnen zufloß, war höchſt gering, fie 
verdienten ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit, und 
entbehrten dabei oft des Nothwendigſten. Aber die 
Niederlaſſung gedieh dennoch, und man ſah ſich genö— 
thigt, die Wohnungen zu vermehren; auch das Bedürf— 
niß eines Verſammlungsſaales wurde dringend gefühlt. 
Watteville, der ein Stübchen in dem zuerſterbauten 
Hauſe bewohnte, und mit den armen Leuten den lieb— 
reichſten Umgang pflog, hatte dieſem Bedürfniſſe viel— 
fach nachgedacht, und war durch die unvermuthete An— 
rede Chriſtian David's, der auf einen Platz hinzeigend, 
mit freudiger Gewißheit der Erfüllung begeiſtert aus— 
rief: „Da wollen wir ein großes Haus hinbauen, und 
das ſoll zu Wohnungen der Auswanderer und zu Ver— 
ſammlungen dienen,“ ſo ergriffen worden, daß durch 
ſeinen Eifer, mit Zuthun der andern verbundenen Brü— 
der und der Frau von Gersdorf, der Anbau ſchon als— 
bald in Ausführung kommen konnte. Am 12. Mai 1724 
ſollte eben die Grundſteinlegung des neuen Gebäudes 
Statt finden, als jene fünf Brüder aus Mähren in 
Herrnhut eintrafen. Zinzendorf empfing ihr Empfeh— 
lungsſchreiben, und hieß ſie willkommen, doch war die 
Aufnahme unter der Erwartung, welche ſie nach irgend 
einem ſonderbaren Maße ſich willkürlich gemacht hatten, 
ſie wurden ſogar an des Grafen Frömmigkeit beinah 
irre, und dachten hier nicht zu bleiben. Indeß gingen 
ſie mit auf den Bauplatz, wo die Feierlichkeit begann. 
Hier empfingen ſie ſogleich ganz andere Eindrücke. Zin— 


i 78 Be 


zendorf hielt eine Rede voll Kraft und Feuer über den 
Sinn und Zweck der neuen Anſtalt, und drückte zuletzt 
den ſtarken Wunſch aus, Gott möchte dieſes Haus nicht 
länger ſtehn laſſen, als es zum Preiſe des Heilandes 
eine Wohnung der Liebe und des Friedens ſein würde. 
Ein heiliges Entſetzen faßte bei dieſen Worten die Um— 
ſtehenden, und als Watteville darauf den Grundſtein 
weihte, und mit höchſter Geiſteskraft und Inbrunſt laut 
betete, wurden alle von ſolcher Gnade überſtrömt, daß 
Zinzendorf noch lange nachher dieſes Gebet als einen 
Anfang des ſegenreichen Gedeihens pries, welches der 
Brüderſache fernerhin zu Theil wurde. „Sie haben 
viel verſprochen, — ſagte die Gräfin nachher zu Watte— 
ville, — trifft die Hälfte zu, ſo iſt's weit über unſre 
Erwartungen.“ Die aus Mähren angekommenen fünf 
Brüder gedachten jetzt keines Weiterziehens mehr, ſon— 
dern nahmen mit freudigſter Zuverſicht die ihnen ange— 
botene Wohnſtätte dankbar an. 

Die Ankunft dieſer fünf Männer zeigte ſich bald 
für die Entwickelung der neuen Brüdergemeinde von 
entſcheidender Wichtigkeit. Schon gleich im Anfange, 
da dieſer Zufluchtsort ſich eröffnet hatte, war daſelbſt 
eine große Verſchiedenheit der geiſtlichen Richtungen 
kund geworden. Ueber den Lutheriſchen und reformir— 
ten Gebrauch beim Abendmahl waren Irrungen ent— 
ſtanden, welche der Paſtor Rothe und Zinzendorf nicht 
beilegen konnten, ſondern nur Watteville's fanftes Zu 
reden einigermaßen verſöhnte, ohne doch den Grund 


os 79 Bo 


davon zu heben. Heitz, der ein ſtrenger Reformirter 
war, verließ den Dienſt des Grafen, und zog ſich zu— 
rück; damit war ein Hauptwiderſacher entfernt, aber 
deßhalb die Gemeinde noch nicht eine Lutheriſche. Aller— 
lei fanatiſche und wunderliche Vorſtellungen gingen im 
Schwange, das Verworrenſte und Widerſinnigſte hatte 
die entſchiedenſten Anhänger. Manche dieſer zuſam— 
mengebrachten Leute waren wegen Religionsunruhen 
ſchon gefangen geweſen, zum Theil gefoltert worden, 
und von daher gewöhnt, ihre Frömmigkeit nur unter 
Streit und Unordnung fortzuſetzen. Dieſe armen Hand— 
werker und Tagelöhner, durch ſektiriſchen Eifer beſeelt, 
traten gegen ihren gelehrten Pfarrer und vornehmen 
Gutsherrn ferner mit entſchloſſenem Widerſpruch auf, 
und beharrten ſtandhaft auf ihren Meinungen. Die 
erſten Anſiedler zu Herrnhut waren, wie Zinzendorf 
ſagte, zwar mächtig gerührte, aber noch ungegründete 
Leute, die größtentheils dunklen Vorſtellungen folgten, 
und keine klaren aufnahmen. Zwiſchen dieſen früheren 
und den neueſten Ankömmlingen zeigte ſich bald ein 
mächtiger Unterſchied. Die fünf Männer aus Zauch— 
tenthal waren ächte Nachkommen der alten Brüder in 
Mähren, und hatten die Ueberlieferung von der Kir— 
chenverfaſſung derſelben noch unverfälſcht bewahrt; die 
Erzählungen der Väter und Großväter waren ihnen 
friſch im Gedächtniß, ſo wie manche Stellen alter Brü— 
derlieder, welche Gleiches andeuteten. Was ihnen die 
Heimath verſagt und um deſſentwillen ſie die Fremde 


9 80 G8 


geſucht hatten, das wollten ſie nun auch wirklich auf— 
richten. Das Gemiſch aber in Herrnhut ſtellte keine 
Brüdergemeinde im alten Sinne dar, und ſchien dieſe 
doch ſein zu wollen. Sie ſprachen demnach eifrig von 
der Nothwendigkeit, die Zucht und Ordnung ihrer Väter 
zu erneuen. Da niemand ihren Sinn recht verſtand, 
ſo ergab ſich daraus mancherlei Verwirrung; Rothe 
und Zinzendorf, damals der Verfaſſung und Rechte der 
alten mähriſchen Kirche noch unkundig, ſuchten verge— 
bens die Brüder zu beſchwichtigen, dieſe waren in ihrer 
Sache durchaus beſtimmt und feſt, wußten genau was 
ſie wollten, und ſtanden auf einem ſo guten Grunde, 
daß ihnen nichts anzuhaben war, vielmehr wurden ſie 
ſelbſt an der Meinung derer, die ihnen widerſprachen, 
irre, und dachten mehrmals daran, ihres Weges weiter 
zu ziehn. Zinzendorf empfand dieſe Streitigkeiten ſehr 
ſchmerzlich, und wurde der mähriſchen Auswanderung 
gram, ſuchte ſie auch ſeinerſeits zu hindern, ohne doch 
darum den neuen Ankömmlingen Schutz und Aufnahme 
zu verſagen. Denn ſein Mitleid überwog ſeinen Un— 
muth, und trotz ſeiner doch zuweilen ausbrechenden 
Jugendhitze übte er im Ganzen gegen alle die verſchie— 
denartigen Leute, welche in Herrnhut zuſammen kamen, 
ſolche Geduld, daß ihm ſogar Vorwürfe darüber ge— 
macht wurden, beſonders wegen der fanatiſchen und 
ſchwärmeriſchen Leute, von denen er ſo viele Noth hatte. 
Ja er wurde wohl gar beſchuldigt, dieſen Wunderlich— 
keiten beizutreten, und ſelbſt allerlei Neuerungen zu 


sn 8 


verſuchen, worüber ihm Francke, für den Fall, daß die 
Sache ſich wirklich ſo verhielte, wie das Gerücht ſie 
angebe, einen fo ernſten als herzlichen Abmahnungs— 
brief ſchrieb. Zinzendorf ſelbſt ſagt von dieſem Unge— 
mach: „Ich hätte wohl Gelegenheit finden können, mir 
einen guten Theil dieſer beſchwerlichen Leute vom Halſe 
zu ſchaffen. Allein dagegen ſtanden zwei Grundideen 
des Heilandes feſt: die erſte, daß man zuweilen aus 
Weisheit etwas toleriren müßte, wenn man gleich ver— 
ſichert wäre, daß es einem der böſe Feind zugeſchleppt 
habe: die andere, daß es im Garten des Herrn Bäume 
gäbe, die man noch das Jahr ſtehen ließe, und übers 
Jahr um ein Leichtes wieder auf's folgende hoffe; 
wozu einem dann auch manche ſelige Erfahrung Muth 
macht. Man arbeitet ja nicht für ſich; ſondern für ſei— 
nen Herrn. Und wenn man Urſache hat zu hoffen, daß 
man ihm den Geiſt ſelbſt endlich doch liefern werde, 
zum Tage des Herrn, ſo ſind zwanzig Jahre nicht zu 
lang, eines ſolchen Menſchen Inkartaden auszuweichen, 
und auf eine Art einzulenken, daß man den Paß zu 
ſeinen Herzen offen behält. Meine beſte Apologie in 
dieſer Materie ſind die mancherlei Perſonen von dieſer 
Art, die der Heiland bereits, als Triumphe ſeiner Lang— 
muth, herumführet.“ Und weiterhin: „Mich reuet keine 
Protektion, die ich Irrigen und Verfolgten zu geben 
vermocht; wohl aber, daß ich mich, durch ungeſtüme 
Oppoſition Anderer, bereden laſſen, etlichen Irrgeiſtern 
dergleichen zu verſagen, mit denen ſich hernachmals ein 


Biographiſche Denkmale. V. 6 


sn 82 Bo 


— 


großer Theil der evangeliſchen Theologen verlegen ge— 
nug gefunden, und mit denen hingegen ich, nach dem 
Exempel Gottes, meines himmliſchen Vaters, recht gut 
ausgekommen wäre, oder fie doch fo annehmlich oceu— 
pirt hätte, daß, wenn auch allenfalls ſie nicht ſelig ge— 
worden wären, doch gewiß niemand anders drunter ge— 
litten hätte, als ſie ſelbſt.“ Er ſuchte nicht zu beſchä— 
men, nicht zu erbittern, lauſchte vielmehr liebevoll jedem 
kleinſten Zuge des Beſſern, und gedachte des Ueblen 
nicht weiter, ſobald es gewichen war. Auf dieſe Art 
allein, durch die Kraft ſeines Herzens und die wahr— 
hafte Frömmigkeit deſſelben, hielt er wundervoll zu— 
ſammen, was auseinanderzufallen ſonſt in ſich die wirk— 
ſamſten Triebe übergenug hegte. Seine Sonntagser— 
bauungen in Bertholdsdorf dauerten oft von 6 Uhr 
Morgens bis Mitternacht: ſeine Hausdienerſchaft nahm 
von freien Stücken daran Theil; die Leute aus Herrn— 
hut brachten oft ihr Stück Brod in der Taſche mit, 
um nicht wegen des Eſſens weggehn zu müſſen. Mit 
äußerſtem Bemühen gelang es ihm auch, die Abweichen— 
den wieder zur Kirche und Kommunion in Bertholds— 
dorf zu vereinigen, und endlich am 12. Mai 1725, 
nach dreitägigen, bis in die Nacht fortgeſetzten Unter— 
redungen, eine Art Einverſtändniß über die Lehre, wor 
auf das Heil der Seelen beruht, glücklich aufzuſtellen. 

Seine Amtsgeſchäfte ließen ihm alle Freiheit; auch 
wenn er vom Lande nach Dresden zurückkehrte, war es 
oft nur, um weitere Aus flüge zu machen, die ſeinen 


; 


A 


on 83 2 


frommen Zwecken und Neigungen entſprachen. So 
reiſte er im Sommer 1724 mit ſeiner Gemahlin nach 
Ebersdorf, und nahm den Weg über Halle, wo er ſeine 
Freunde Anton und Francke und andre Gleichgeſinnte 
ſprach. Seine Anſtalten in der Lauſitz, denen in Halle 
bis dahin ganz ähnlich, fanden große Theilnahme, doch 
bei Francke, welchem die Unbeſtimmtheit der kirchlichen 
Richtung in dem Ganzen auffallen mochte, zugleich eini— 


ges Bedenken; eine feſtere Haltung hätte die Sache 


wohl empfangen können, wenn ſie der ſchon ausgebil— 
deten halliſchen Leitung ſich angeſchloſſen hätte, doch 
war jetzt eine Verbindung ſchwerlich anzuknüpfen, und 
wurde auch von keiner Seite geſucht; die neue Stif— 
tung mußte in den eigenthümlichen Bedingungen, guten 
und ſchlimmen, welche Zinzendorfs Perſönlichkeit im 
Begegnen ſo mannigfacher Umſtände lieferte, ihren ein— 
mal angefangenen Weg nothgedrungen für ſich fort— 
ſetzen. In Ebersdorf gebar die Gräfin einen Sohn, 
welchen der Vater ſogleich in einem herzlichen und de— 
müthigen Gebet dem Heilande zum Opfer bot, denn 
er ſah jedes Leben nur als ein Darlehn an, deſſen Er— 
ſtattung jederzeit freudig geſchehen müffe. Dieſe Ge— 
ſinnung, welche dem eignen wie dem fremden Tode kei— 
nen Schrecken und kaum eine Trauer übrig ließ, theil— 
ten beide Gatten, und ſie bewährte ſich eben ſo, da 
Zinzendorf ſelbſt in Ebersdorf lebensgefährlich krank 
wurde, als da nach drei Monaten das Kind den Ael— 
tern wirklich entriſſen wurde: beide waren vor dem 
6 * 


am. 84 Be 


Herrn eins geworden, fie wollten dieſen ihren lieben 
Sohn der Hand Gottes, die ihn geſchenkt, nicht aus 
Noth, ſondern von Herzen, willig wieder zurückgeben, 
und das Kind ſtarb, indem ſie knieend ſo beteten. Des 
Grafen frommer Trieb fand übrigens in Dresden nicht 
mindere Arbeit, als in Herrnhut; war ihm hier nach 
innen im Geiſtlichen ſelbſt mancher Kampf geboten, ſo 
hatte er dort nach außen gegen das Weltliche nicht 
minderen zu beſtehn. Die Feinde und Spötter unge— 
rechnet, ſo gab es auch wohlmeinender Freunde genug, 
welche ſeinen Weg mißbilligten, und ihm ernſtlich ab— 
riethen, denſelben ſo offenbar zu gehn; nicht nur für 
ihn ſelbſt, für ſeine Stellung und Verhältniſſe, ſondern 
auch für das Gute, welches bezweckt werden ſollte, fand 
man ſeinen Eifer ungehörig. Er aber beſtand feſt auf 
ſeinem Sinne: „Ich gehöre unter der Zahl derer, — 
ſagte er, — die der Herr berufen hat von der Finſter— 
niß zum Lichte. Darum muß ich von dem Lichte zeu— 
gen. Ich heiße einer der Vornehmen dieſer Welt, ich 
ſoll die Vorrechte davon genießen. Darum bin ich ver— 
bunden, vor Andern, vom Lichte zu zeugen.“ 
Bei dieſer Denkart, die er jederzeit offen darlegte, 
mußte er häufig gegen die ſtärkſten und allgemeinſten 
Herkömmlichkeiten der Geſellſchaftswelt anſtoßen, und 
ihr, wie ſie ihm, unerträglich werden; denn die vor— 
nehme Welt verzeiht Verbrechen und Schandthaten lie— 
ber, als den Abfall von dem Goͤtzendienſte, den fie ſich 
ſelbſt in äußerlichen Dingen eingerichtet hat. Die Be— 


| 


BD 85 Sade 


friedigung, welche der Umgang mit ſeinen Standesge— 
noſſen ihn immer ſeltner finden ließ, gewährte ihm da— 
gegen der Verkehr mit armen und geringen Leuten deſto 
reichlicher; er fand in dieſen äußerlich Niedrigen die 
treuſten Kinder Gottes, und eine ſo geiſtige, fruchtbare 
Geſelligkeit, daß auch in Benehmen und Sprachweiſe 
ihn, den hochgebildeten Grafen, ein ſchlichter Hand— 
werksmann zuweilen verbeſſern konnte; hier ſah Zin— 
zendorf ſich wahrhaft unter ſeines Gleichen, und jene, 
die ſich über ſolche Leute ſtellten, tief unter ihnen. Die 
Verſammlungen, die er in ſeinem Hauſe hielt, wurden 
vorzüglich von Perſonen geringen Standes beſucht, da 
der Zutritt für jedermann ſo offen war, daß ſelbſt ein 
Verhafteter, der für einen Menſchen ohne Religion ge— 
halten wurde, ſich von ſeiner Wache dahin begleiten 
ließ, bekennend, wenn ihn etwas in der Welt zu bekeh— 
ren vermögend ſei, ſo glaube er, da könne es geſchehen. 
Auch hatte der Graf nicht einmal gern, wenn vornehme 
Perſonen, welche aus irgend einer Urſache den Er— 
bauungen beiwohnen wollten, ſich ihm deßhalb beſon— 
ders anmelden ließen, denn er wünſchte ſeiner Unbe— 
fangenheit keinerlei Rückſicht auferlegt. Durch Schrif— 
ten ſprach er ſich eben ſo unverhohlen aus, wie in ſei— 
nen Reden; Abhandlungen und Fragbüchlein erſchienen 
von ihm; Johann Arnd's vier Bücher vom wahren 
Chriſtenthum ließ er ins Franzöſiſche überſetzen, und 
widmete dies Werk dem Kardinal von Noailles, wel— 
chem Watteville daſſelbe nach Paris überbrachte, wor— 


86 A8 


über jener zwar alle verbindliche Theilnahme bezeigte, 
doch aber auch die Erinnerung nicht unterdrückte, daß 
man ihn und ſein Verhältniß durch ſolche öffentliche 
Zueignung eines proteſtantiſchen Buches etwas voreilig 
bloßgeſtellt. Eine Wochenſchrift, der Dresdniſche So— 
krates nachher der deutſche genannt, eine andre, der 
Parther, gab er ohne ſeinen Namen heraus, der jedoch 
bald errathen wurde. Durch dieſe letzteren Schriften 
inſonderheit, welche viel Weltliches tadelten, vermehrte 
er ſeine Feinde, und da man in einigen die Obrigkeit 
und Geiſtlichkeit betreffenden Zügen beſtimmte Anſpie⸗ 
lungen ſehen wollte, ſo fehlte es nicht an böſer Nach— 
rede und Verfolgung. Doch ſeinen Eifer, wo es auf 
die Sache des Herrn ankam, hielt keine Scheu zurück; 
jede Gelegenheit fand ihn ganz und rein. So ſtand 
er nicht an, als man in Dresden einer verſtorbenen 
frommen, ihm übrigens ganz unbekannt geweſenen Gich— 
telianerin, aus Haß gegen dieſe Sekte, ein ehrliches 
Begräbniß verweigern wollte, hierüber ſowohl an den 
vorgeſetzten Miniſter als an den Oberhofprediger Löſcher 
nachdrücklich zu ſchreiben; er höre, ſagte er dem letz— 
tern, daß man die Perſon auf dem Anger begraben 
wolle, weil ſie ſich von Kirche und Abendmahl geſon— 
dert habe, und alſo im Bann ſei, und daß verboten 
worden, einen Sarg für ſie zu machen; er billige der— 
gleichen Abſonderung zwar nicht, halte ſie aber für eine 
Schwachheit, die man an gutmeinenden Seelen tragen 
müſſe, und verabſcheue das gedachte Vorhaben auf's 


DB 87 Gs 


äußerſte; er warnte, daß ein ſo liebloſer und ungött— 
licher Eifer ein unausbleibliches Strafgericht Gottes 
nach ſich ziehen würde, und forderte den Oberhofpre— 
diger auf, wenn ein Funke der Liebe Jeſu in ihm ſei, 
die Sache zu redreſſiren, er werde ſie ſonſt zu ſeiner 
eignen machen, und höhere Vermittelung anrufen. „Ich 
für meine Perſon, — fügte er hinzu, — würde mich 
nach meinem Tode gern auf den Anger begraben laſſen, 
ehe ich etwas wider mein Gewiſſen thun wollte; da— 
durch werden ſolche unehrliche Orte zu Triumph- und 
Ehrenplätzen.“ Er hatte die Genugthuung, 285 Ge⸗ 
wünſchte zu erlangen. 

Eben ſo kühn und frei ſprach er, als der Magiſtrat 
zu Görlitz den dortigen Erweckten ihre beſonderen Zu— 


ſammenkünfte verbot, und dieſe Leute, die durch ihren 


Prediger Schäfer mit Zinzendorf in genauer Verbin— 
dung ſtanden, ihn um guten Rath angingen. Er ſchrieb 
ihnen Verhaltungsregeln der Sanftmuth, der Unterwer— 
fung, der Stille; in der Hauptſache jedoch beſtärkte er 
ſie kräftig, ſie ſollten in ihrer Weiſe nur fortfahren: 
„Die Verſammlungen der Heiligen, wo man ſich unter— 
einander ermahnet, ſoll man nicht verlaſſen. Das iſt 
Gottes Wort. Wenn einem alſo befohlen wird, ſie zu 
verlaſſen, ſoll man es nicht thun. Die Obrigkeit bei 
einer höheren deßwegen zu verklagen, finde ich nicht 
für gut. Aber mit Demuth ihr vorzuſtellen das ſchwere 
Gericht, und die Unmöglichkeit, das Werk Jeſu zu hin— 
dern, halte ich für wohlgethan. Will es nicht helfen, 


on 88 Bio 


fo fähret man in feinem einfältigen Gehorſam gegen 
Gott fort; läſſet ſich vorfordern; antwortet demüthig, 
vernehmlich, gründlich; läſſet ſich ſtrafen und leidet ge— 
duldig. Wird man verwieſen, ſo gehet man fort. Wird 
man in's Gefängniß geworfen, ſo freuet man ſich. 
Gehet es an's Leben, ſo giebt man's hin. Wird man 
losgelaſſen, ſo fährt man fort. Die Leiden muß man 
nicht abwenden, denn darunter wächſet das Reich Jeſu 
gewaltig. Große und Geringe haben hier kein größer 
Recht, Einer als die Andern. Es müſſen eben dieſel— 
ben Leiden über Brüder in der Welt gehen. Dies ſind 
meine Gedanken; und dazu bekenne ich mich gegen je— 
derman, und wünſche den lieben Brüdern viele Kraft 
und Liebe und Demuth.“ Auch dieſe Angelegenheit 
kam ſpäter, da Schäfer auch ſelbſt deßhalb in Dresden 
erſchien, durch Zinzendorf's Bemühn zu friedlicher Aus— 
gleichung. Wegen der Schwenkfelder, denen man neuer— 
dings durch Kontroversprediger hart zuſetzte, machte er 
eine Reiſe nach Schleſien, von der man ihn vergebens, 
durch die Vorſtellungen von Gefahr, die ihm dort 
drohe, abzuhalten ſuchte; dieſe Gefahr jedoch war keine 
eingebildete, denn ſchon war über die Aufnahme, welche 
den Flüchtlingen aus den öſterreichiſchen Erblanden auf 
feinen Gütern zu Theil wurde, ſtarkes Mißvergnü— 
gen laut. 

Eines Beſuchs, welchen der Prediger Schwedler 
aus Niederwieſe um dieſe Zeit in Herrnhut machte, 
wollen wir hier beſonders gedenken, theils weil dieſer 


or 89 Be 


merkwürdige Mann ſchon öfters genannt worden, theils 
weil an ſeiner Erſcheinung ſich willkommen ein Bei— 
ſpiel der tiefwirkenden Kraft und ſchwungvollen Aus— 
übung ergiebt, mit welchen der Geiſt der Frömmigkeit 
in den Erweckten damals Gemüth und Sinn durch— 
drang. Schwedler war kein Pietiſt, ſondern ein eifriger 
wittenbergiſcher Theolog, der aber ſein gewaltiges Feuer 
bis zur lieblichſten Wärme ſänftigen konnte, und damit 
auch ſolche Herzen ergriff, die jenem wohl widerſtan— 
den hätten. Durch Frau von Gersdorf, mit der ihn 
ſeit vielen Jahren ein frommes Herzensband verknüpfte, 
war er mit Zinzendorf befreundet worden, wie auch, 
ungeachtet ſonſtiger Wegesverſchiedenheit, mit den mäh— 
riſchen Brüdern. Von ſeiner Macht im Predigen er— 
zählt Zinzendorf ſelbſt folgendes Probeſtück: „Es wurde 
einmal in der Kirche zu Wieſe vor der Kommunion ge— 
ſungen: „Valet will ich dir geben, du arge falſche 
Welt!“ Indem der ſelige Mann das erſte Wort an— 
ſtimmen hörte von der darauf folgenden Zeile: „Dein 
ſündlich böſes Leben durchaus mir nicht gefällt,“ ge— 
rieth er in einen ſolchen Eliaseifer, daß ihm das An— 
geſicht gleichſam flammete. Er rief, über die Orgel, 
über fo viele tauſend Stimmen, mit einem Donner- 
ſchall: „Um Gotteswillen! was ſingt ihr? was gefällt 
euch nicht? Der Herr Jeſus gefällt euch nicht. Zu 
dem müßt ihr ſagen: Du gefällſt mir nicht; ſo ſingt 
ihr die Wahrheit. Ihr aber ſprecht: die Welt!“ Nach— 
dem er ihnen nun dieſe Wahrheit auf eine ſolche durch— 


a 90 So 


greifende und eindringende Art demonſtrirt hatte, daß 
ſie Alle, von ihrem Gewiſſen überzeugt, in Jammer 
und Thränen da ſaßen, und die Wenigſten wußten, wie 
ihnen geſchahe: Nun, ſagte er, wenn es ſo wäre, wem 
der Welt, — der Welt ihr ſündlich böſes Leben zu— 
wider worden, der ſollte es nur in Jeſu Namen be— 
kennen. Da wurde dann endlich dieſer Vers mehr ge— 
weint, als geſungen.“ Nicht ſelten geſchah es, daß er 
den um 5 oder 6 Uhr frühmorgens begonnenen Gottes— 
dienſt ohne Unterbrechung bis 2 oder 3 Uhr nachmit— 
tags fortſetzte, und mit zuſtrömender Begeiſterung un— 
aufhörlich redete, die kurzen Zwiſchenzeiten abgerechnet, 
da er Lieder ſingen ließ, während welcher ſeine Zu— 
hörer ſich aus den Tauſenden, die draußen des Ein— 
gangs haͤrrten, immerfort erneuten. Auch diesmal in 
Großhennersdorf hielt er eine herrliche Predigt, die 
gegen ſechs Stunden dauerte, mit Kraft und Erfolg. 
Inzwiſchen erhielt Herrnhut neuen Zuwachs durch 
eine Anzahl verfolgter Schwenkfelder, die aus Schle— 
ſien kamen, und unſern Grafen um Aufnahme baten. 
Er machte ihnen bei Frau von Gersdorf ein Unter— 
kommen aus, allein fürerſt wohnten ſie in Herrnhut. 
Sie wußten wenig mehr von ihres Stifters Lehrmei— 
nungen, beſuchten auch gern die Erbauungsſtunden in 
Bertholdsdorf, und waren größtentheils redliche, fromme 
Leute, hatten aber weder Taufe noch Abendmahl, und 
hielten ſich im Ganzen abgeſondert. Ihre Erweckung 
zum Heiland ſuchte Zinzendorf mehr zu betreiben, als 


— — 


e N en 


ihre Vereinigung mit der Lutheriſchen Kirche. Sein 
Eifer erſtreckte ſich nicht minder auf die umherwohnen— 
den Wenden, deren Seelenheil er in Verbindung mit 
ſeiner Großmutter, auf deren Koſten einige Theile der 
Bibel in wendiſcher Sprache gedruckt wurden, möglichſt 


förderte. Die treffliche Frau ſtarb 1726. Schon ſeit 


zwölf Jahren hatte fie in ihren hohen Jahren und. 


ſchwachen Geſundheitszuſtänden ſelten das Haus ver— 
laſſen, als ſie aber ihr Ende herannahen fühlte, ließ ſie 
ſich in's Freie tragen, um noch Herrnhut mit letztem 
Segensblicke anzuſchauen. Daſelbſt aber kamen von 


Zeit zu Zeit immer neue Aus wanderer aus Mähren an. 


— —5 — — — ——— — — 


Ein Religionseid, welchen man ihnen aufdringen wollte, 
trieb ſie nur um ſo entſchiedener aus dem Vaterlande. 
Sie hatten dabei nicht wenige Gefahren zu überſtehen, 
man hielt ſie an, warf ſie in's Gefängniß, zog ihre 
Habe ein. Beſonders ſcharf wurde gegen diejenigen 
verfahren, welche man als Verführer der andern anſah. 
Zinzendorf erkannte das Bedenkliche, welches für ihn 
darin lag, bei der Karferlichen Staatsbehörde als der 
Anreizer jener Leute zu gelten, und bemühte ſich, dem 
allzuhäufigen Auswandern Einhalt zu thun. Er ſtellte 
ſtrenge Prüfungen an, und nahm niemanden mehr auf, 
als wer wirklich aus Gewiſſen, um des Seelenheils 


willen, weggezogen war; man bemerkte, daß auch vor 


allen dieſe, welche meiſtens ihre Habe ganz zurückge— 


laſſen, der aufgeſtellten Wachſamkeit entgingen und 
glücklich durchkamen, ſelbſt mit Kranken und Kindern, 


während andre, welche Geld und Gut zu retten ſuch— 
ten, oft verrathen oder angehalten wurden. Für die, 
welche wahrhaft einem geiſtlichen Rufe folgten, änderte 
Zinzendorf freilich nichts in ſeiner Bereitwilligkeit, ihnen 
hielt er ſich zu jedem Opfer verpflichtet; aber wo ein 
ſolcher Beruf entſchieden fehlte, da wies er die Leute 
ab, und entließ ſie, nachdem ſie geraſtet, mit Geld und 
Empfehlungen wieder in die Heimath. Auch unter 
ſagte er ſtreng, von Herrnhut nach Mähren zurückzu— 
gehen, in der Abſicht, dort neue Auswanderungen zu 
veranlaſſen. Allein ſein Verbot konnte den aufgeregten 
Eifer nicht hemmen; Chriſtian David ſetzte unter viel- 
fachen Lebensgefahren ſeine Umherzüge in Mähren und 
Böhmen wiederholt fort, und auch David Nitſchmann, 
einer der fünf Brüder aus Zauchtenthal, war heimlich 
um ſeinen Vater zu beſuchen nach Mähren zurückge— 
gangen, aber daſelbſt ergriffen und nach Kremſir in's 
Gefängniß gebracht worden. Um dieſen tüchtigen Mann 
wo möglich loszubitten, und irgend eine Verſtändigung 
wegen künftiger Ausgänge ſolcher Leute zu verſuchen, 
wie auch um bei ſolcher Gelegenheit ſein eignes Ver— 
hältniß rechtfertigend ins Klare zu ſetzen, unternahm 
Zinzendorf im Auguſt 1726 eine Reiſe zu dem Kar⸗ 
dinal Grafen von Schrattenbach und zu deſſen Bruder, 
einem Kaiſerlichen Geheimen Rathe, beide in Kremſir “ 
wohnhaft. Hier ging es fehr diplomatiſch zu; vor- 


nehme Höflichkeiten umgaben breit eine kurze Erörte⸗ 


rung, in welcher man ſich unter klugen Verwahrungen 


3 . 


dahin verabredete, daß von beiden Seiten, ohne irgend 
ein Nachgeben in der Hauptſache, mit Billigkeit ver— 
fahren werden ſollte; die einzelnen Auswanderer ſoll— 
ten ruhig abziehen dürfen; aber keine Anſtiftung dazu 
unternommen werden. Von David Nitſchmann ver— 
neinte man etwas zu wiſſen, doch hatte ein Begleiter 
Zinzendorf's den Gefangenen erkundet, aber ſich begnü— 
gen müſſen, ihm durch den Frohn von des Grafen An— 
weſenheit und Bemühen Kunde zu geben, und ihm etwas 
Geld zukommen zu laſſen. Unter allem vornehmen Ge— 
pränge dieſer Auftritte hatte der Graf den Unglück— 
lichen immer ſchwer im Sinne gehegt, und ohne Ex— 
leichterung dieſer Bekümmerniß reiſte er auch wieder 
ab. In Schleſien, in Ebersdorf, Leipzig, Halle, in der 
Lauſitz, und auch in Dresden, auf allerlei Beſuchreiſen 
| und bei gelegentlichen Anläſſen, hielt er häufig Er— 
bauungsſtunden und eifrige Religionsgeſpräche, und in 
derſelben Richtung breitete ſich ſein Briefwechſel aus. 
In Halle beſuchte er auch den berühmten Chriſtian 
Thomaſius, der die neuen Anftalten nicht ohne Zwei— 
fel, doch als dieſe zu ſeinem Verwundern in manchem 
Stücke beſeitigt wurden, mit freundlicher Wohlmeinung 
betrachtete, und glückwünſchend äußerte, um ſolche 
Bauern zu ſehen, die philoſophiren und glauben könn— 
ten, wie von denen in Bertholdsdorf verſichert werde, 
möchte er ſelbſt auf ſeine alten Tage noch eine Reiſe 
thun. Beſondere Sorgfalt widmete der Graf auch 
einem wohlfeilen Bibelabdrucke zu Ebersdorf, und gab 


om 94 


eine Vorrede dazu, welche aber nebft den Hinzufügun- 
gen Rothe's und anderer Gehülfen bald fehr gehäſſig 


getadelt, ſo wie das ganze Unternehmen als eine zw 
verdrehung bezeichnet wurde. 


Während jedoch ſolcherlei Thätigkeit ſi 1 in weitem 


Umkreis ausbreitete, drohte dem Mittelpunkte ſelbſt eine 


ſchlimme Gefahr. Ein Rechtsgelehrter im Voigtlande, 


der ſeine abweichende Meinung vom Abendmahl, wel— 
ches er zuletzt ganz verwarf, gegen die dortige Geiſt— 
lichkeit nicht durchfechten konnte, gab lieber ſeine Stelle 
als Rath auf, und kam nach Bertholdsdorf und Herrn— 
hut, wo er von Seiten des Grafen zwar keine Bei— 


ſtimmung hoffen konnte, aber doch eine Freiſtätte fand. 


Sein von kräftigem Eigenſinn und ſachwalteriſcher Gei— 
ſtesgewandheit unterſtütztes Heiligthum gewann bald 
ein ungemeines Anſehn, er wollte die alte mähriſche 
Kirche in den neuen Einrichtungen verdorben finden; 


ſeine Sätze verwirrten alles, was Zinzendorf und Rothe 
aufgerichtet; es entſtand immer mehr Abſonderung, und 
die Gemeinde löſte ſich in widerſpenſtige Glieder auf. 
Vergebens ſtritt Rothe mit Strenge, begegnete Zinzen- 
dorf, der aus Mähren eben zurückkam, mit liebevoller 
Duldung dieſem Unweſen, der Stifter deſſelben trat 


als offner Feind auf, er übte und begehrte keine Scho— 


nung, vielmehr ſchien er harte Schritte des Grafen zu | 
wünſchen, um über Verfolgung klagen zu können. Sein 


Treiben artete in völligen Wahnſinn aus, in welchem 
er endlich Herrnhut verließ, und nach einiger Zeit ſtarb. 


sn Be 


Allein die Wirkung feines unruhigen Geiſtes erloſch 


damit keineswegs. Die mähriſchen Brüder, mit we— 


nigen Ausnahmen, trennten ſich öffentlich von der Kirche 
und dem Abendmahl zu Bertholdsdorf. Sie ſtießen 
zum Theil die böſeſten Reden gegen Zinzendorf aus, 


nannten ihn das Thier, welches dem falſchen Propheten, 


dem Pfarrer Rothe, die Macht gegeben, ſie auf einen 
verkehrten Weg zu bringen, und auch die Gemäßigteren 
beklagten ihre vermeinte Mißleitung. Die Sache wurde 
ruchbar, und machte überall ſchlimmen Eindruck. Herrn— 
hut war, wie man ſagte, ein Sektenneſt geworden, und 
Zinzendorf, obwohl im Vertrauen nicht wankend, wußte 
keinen Rath in dieſer Noth; ihm fehlte die wiſſen— 
ſchaftliche Erkenntniß, ſowohl die dogmatiſche als die 
hiſtoriſche, welche allein in dieſer Verwirrung ſicher füh— 
ren konnte, er mußte fühlen, daß er ſich in Dinge ein— 
gelaſſen, zu denen mehr gehörte, als guter Wille; und 
doch ſollte dieſer in ſeiner Steigerung auch dieſes Mehr 
zuletzt leiſten! In derſelben Zeit, da ihn dieſer Zu— 
ſtand bekümmerte, widerfuhr ihm in Dresden manches 


Widerwärtige; durch ſeinen Sokrates hatte er manche 


Perſonen ohne es zu wollen verletzt, ſeine Hausver— 
ſammlungen wurden durch Beſucher geſtört, welche nur 


Aergerniß zur Abſicht hatten, am Hof und in der Geiſt— 


lichkeit zeigte ſich böswillige Verſtimmung gegen ihn, 


und bei den nachtheiligen Urtheilen, die man über die 
Vorgänge in Herrnhut fällte und auch über ihn ſelbſt, 
den viele Fromme noch unbekehrt und durch keinen 


er 96 a 


Bußkampf geläutert finden wollten, mußte er befürch— 
ten, daß man gegen ſeine dortigen Anſtalten den Grimm 
wenden würde, den gegen ihn ſelbſt auszulaſſen man 
aus allerlei Rückſichten noch Bedenken trug. Ihm wurde 
daher aus zwiefachen Gründen rathſam, Dresden zu 
verlaſſen und nach Herrnhut zu ziehen, ſowohl um den 
dort ſteigenden Mißverhältniſſen zu entgehen, als um 
hier der eingeriſſenen Unordnung zu ſteuern. Sein 
Amt bei der Regierung war ihm von jeher nur ein 
Joch, das er zwar geduldig trug, aber nicht liebte; 
nach empfangener Einwilligung feiner Mutter entſchloß 
er ſich ſogleich daſſelbe aufzugeben. Auf Anrathen ſei— 
ner Freunde, und weil noch einige Geſchäfte, die jedoch 
nur ſelten ſeine Anweſenheit in Dresden erforderten, 
ihm zur Erledigung anvertraut waren, begnügte er ſich, 
anftatt der völligen Entlaſſung, vor der Hand nur un- 
beſtimmten Urlaub nachzuſuchen, der ihm auch gern be— 
willigt wurde. Ueber ſeine Beweggründe bei dieſem 
Schritt und über ſeine nachfolgende Stellung in Herrn— 
hut, giebt er ſelbſt dieſe gehaltvolle Auskunft: „Ich 
ging aus keiner andern Urſache vom Hofe und aus dem 
Amte, das ich hatte, als darum, weil ich meine inzwi— 
ſchen angelangten Gäſte aus Mähren und andern Or— 
ten, die mir als Kryptokalviniſten und Separatiſten be— 
ſchrieben wurden, von dem Irrthum ihres Weges be— 
kehren wollte, und wenn ich an einigem Orte gewiß zu 
ſein dachte, daß ich meinen Satz zu behaupten und in 
keinem Tüttel nachzugeben hätte, ſo war es da; es 


DM a 


war aber weit gefehlt. Meine Freunde waren im An- 
fang hitziger als ich, denn ſie kamen aus der Verfol— 
gung, und ich kam vom Hofe. Das gab mir einen 
geringen Vortheil über ſie, nachdem ſie mir aber den— 
ſelben abgelernt, und in einer kurzen Zeit mit mehrerem 
Effekt denken und reden gelernt, ſo kam die Reihe an 
mich, wieder was Neues zu lernen. Ich mußte mich 
über manches in Traktaten einlaſſen, darüber ich wie 
über Leimen hinzugehen gedacht hatte, und ich lernte in 
einem halben Jahre mehr Kirchenhiſtorie, und bekam 
mehr Data zu einer ſoliden Kritik über die Häreſiolo— 


gie, als ich mir in Arnolds Kirchen- und Ketzerhiſtoria, 


ja ſelbſt in Bayle, nicht würde geſammlet haben. Nie 
hat mich die über mir waltende Vorſehung vor einer 
nähern Gefahr bewahret, als bei derſelben Gelegen— 
heit; und wenn ich ſehe, was aus einer kleinen Doſis 
von Unpartheilichkeit für ein bewährtes Speeifikum wor- 
den, ſo bete ich an. Das menſchliche Gemüth hat die 
Art nicht, von einem Extreme auf die Mittelſtraße zu 
kommen; es nimmt ſeinen Weg gemeiniglich über das 
andre Extrem: und ſo bin ich einige Jahre lang bei 
der ſorgfältigen Prüfung derer mancherlei Wege, Mei- 
nungen und Verfaſſungen der Chriſtenmenſchen, die ent— 
weder mich aufgeſucht, oder zu denen mich mein Beruf 
direkt oder indirekt geleitet hat, nicht nur Schritt vor 
Schritt gegangen, ſondern ich habe keine einige davon 
ganz oder halb verworfen, die ich nicht vorher eine 
Zeitlang ganz oder halb bewundert. Wie mirs dies— 
Biographiſche Denkmale. V. @ 


om 98 Bo 


falls in Anſehung der Sachen gegangen, fo und noch 
viel eingreifender iſt mir die Rückſicht der Perſonen 
geweſen. Nicht ſelten habe ich einen Menſchen, den 
meine Mitbrüder bei dem erſten Abord für verwirrt 
gehalten, ſtundenweiſe mit Reſpekt angehört, und mich 
kaum bereden können, nichts anders hieraus zu profi— 
tiren, als was ich einige Minuten darauf ſelbſt gefun— 
den. Die Natur der Sache, die oftmalige Erfahrung 
und das Zunehmen meiner Geſchäfte hat mich endlich 
auch in dieſem Theil kondescendenter gegen meine Brü= 
der gemacht, daß ich ihrem Zeugniß von ſolchen Per— 
ſonen, mit denen ich mir viel Zeit verdorben hatte, 
a priori mehr Glauben gegeben.“ 

In Herrnhut fand er die Sachen nur um fo ſchwie— 
riger, als er auch mit dem Paſtor Rothe über die geiſt— 
liche Leitung der Irrenden nicht einverſtanden war. Sein 
erſtes Geſchäft wurde daher, ſich mit dieſem würdigen 
Manne, den er ſonſt achtete und ehrte, ſo zu ſetzen, 
daß jeder, das gleiche Gute bezweckend, nach eignem 
Sinn ungehindert thätig fein könnte. Sie trafen ein 
brüderliches Uebereinkommen, die Rechte des Kirchen— 
patrons und des Pfarramts jedem nach ſeiner Stellung 
unbeſchränkt über das Ganze vorzubehalten, aber die 
eigentliche Seelſorge unter ſich ſo zu theilen, daß Rothe 
in Bertholdsdorf, der Graf ſelbſt aber, als unordinir— 
ter Katechet Rothe's in Herrnhut nach eigner Art fer- 
nen Weg ginge. Den Gemeindegliedern wurde dieſes 
Abkommen nebſt den Gründen dazu aufrichtig bekannt 


l 9 CN 


gemacht, und niemand war dawider. Um durch nichts 
Fremdartiges geſtört zu werden, übergab Zinzendorf 
ſeine ökonomiſchen Angelegenheiten nun völlig ſeiner 
Gattin und ſeinem Freunde Friedrich von Watteville, 
die ihn gleichwohl auch in der Seelenpflege noch treu— 
lich unterſtützten, und begann mit innigem Eifer getroſt 
feine geiſtlichen Arbeiten. Seine Perſönlichkeit wirkte 
ungemein; mit feurigem Zuſpruch, mit heißen Thränen 
und liebevoller Belehrung, die er bald öffentlich bald 
vertraulich ſpendete, brachte er es dahin, daß die Ab— 
ſonderung vom Gottesdienſt und Abendmahl der evan— 
geliſchen Kirche wieder aufhörte. In dem Raume der 
wiedergewonnenen Ausübung konnte die eigentliche Lehre 
der Brüder, in welcher allerdings noch die gründliche 
Feſtigkeit mangelte, und der Graf ſelbſt nicht ſowohl 
ein Wiſſender, als ein begeiſterter Anſtreber war, ſich 
allmählich zurechtſtellen; er vermied in dieſem Betreff 
allzubeſtimmte Einzelheiten, und ſuchte, auch wenn er 
oft kühne und bedenkliche Bilder und Ausdrücke wagte, 
immer wieder in die gemeinſame Mitte chriſtlicher Vor— 
ſtellungen einzulenken, in welcher alle beſonderen Glau— 
beusformen ſich vereinigen könnten. Allein die Mähren, 
auf welche Zinzendorf am meiſten Rückſicht nahm, be⸗ 
wieſen ſich, wenn nicht von dieſer, doch von einer an— 
dern Seite ſchwierig, und verlangten ſchlechterdings die 
althergebrachte geſellſchaftliche Verfaſſung ihrer Kirche, 
wollten auf keinen Theil derſelben verzichten, und er— 


klärten rund heraus, daß ſie lieber aufbrechen und eine 
7 * 


3 100 B- 


andre Zuflucht ſuchen würden. Hiedurch gedrängt, und 


nachdem er dem Grund und Sinne der Sache genauer 
nachgeforſcht und dieſelbe durchaus evangeliſch und heil— 
ſam gefunden, auch ſie mit gewichtigen Theologen über— 
legt und deren Billigung vernommen hatte, beſchloß er, 
dieſe theuererkauften Seelen, nachdem ſie einmal in 
ſeine Aufſicht gekommen, dem Heilande unter jeder 
Form zu bewahren, und ging an's Werk, den Brüdern, 
als einer freien chriſtlichen Sozietät, die nach den 
Rechten der evangeliſchen Kirche ihre beſondern Einrich— 


tungen haben und behalten durfte, ein Herſteller a 


Ordner ihrer alten Satzungen zu werden. 
Sein von Liebe und Geduld geführter Eifer, der 


jeden Einfluß obrigkeitlicher Gewalt und ſonſt welt- 


licher Ueberlegenheit in ſolchen Dingen abwies, bewirkte 
durch bloß freundliche Beſprechungen, daß am 12. Mai 


1727 auf den alten Grundlagen neue Gemeindeordnun- 


gen verfaßt, und als Statuten von ſämmtlichen Brü— 
dern und Schweſtern, durch freiwillige Zuſtimmung, ge— 
nehmigt und unterſchrieben wurden; dies geſchah unter 
freudigem Gebet und wirkſamer Heiligung, welche von 
dieſem Tage an ſegenreich über Herrnhut in beſondern 
Erregungen fortwaltete. Sogleich wurde zur Wahl 
der Gemeindebeamten geſchritten, zwölf Aelteſte, nicht 
nach dem wirklichen Alter ſo heißend, ſondern nach dem 
Anſehn und Vertrauen, das ſie begleitete, wurden zu 
Wachtern der Verfaſſung erwählt, Zinzendorf zum wich— 
tigen Amt des allgemeinen Vorſtehers und Friedrich 


2» 101.883 


von Watteville zu feinem Gehülfen ernannt. Die Lei— 
tung der Angelegenheiten noch bündiger zuſammenzu— 
halten, ohne ſie doch zu ſehr einzuziehen, kamen die 
Aelteſten mit dem Grafen überein, aus ihrer Mitte 
durch das Loos vier Brüder zu beſtimmen, welchen mit 
dem Vorſteher alles Gemeinbeſte wahrzunehmen zu— 
nächſt obläge. Die Berathungen dieſer Behörde er— 
hielten den Namen der Aelteſten-Konferenzen, und wur— 
den die Stätte der wirkſamſten Thätigkeit. Wo der 
ſchlichte Sinn der Frömmigkeit und das Maß der vor— 
handenen Einſichten keine ſichre Entſcheidung gab, da 
wurde das Loos angewandt, deſſen Ausſpruch dann als 
der des Heilandes ſelbſt gelten mußte. Dieſe Zuzie— 
hung des Looſes, welche bei der Brüdergemeinde in 
ſehr ausgedehnten Gebrauch kam, hat vielen Tadel ge— 
funden; allein bei genauer Betrachtung muß man be— 
kennen, daß dem dunklen Gebiet, welches einen Theil 
des Zuſammenhangs menſchlicher Dinge unerforſchlich 
verhullt, und mit welchem zuletzt jeder auf eine andre 
Weiſe ſich abzufinden ſucht, durch das gewählte Mittel 
und deſſen beſcheidene, wirklich nur zur ergänzenden 
Aushülfe, und meiſtens gern auf bloßes Verneinen und 
Unterlaſſen geſtellte Anwendung, ſein Recht auf eine 
Art geſchah, welche der Frömmigkeit noch am wenigſten 
Eintrag that, und auch dem nachgehenden Verſtande 
durch den praktiſchen Erfolg ſich als wunderbar er— 
ſprießlich bewährte. Für die Glaubenslehre und den 
öffentlichen Gottesdienſt war durch die beſtehende Kirche 


& 


39 102 S2 
hinreichend geſorgt, für den Unterricht der Jugend durch 
die mit jener verbundenen Schulen; die adeliche Schule 
wurde aufgeboben, und an deren Statt eine allgemeine 
Knabenanſtalt, fo wie auch, unter weiblicher Aufſicht, 
eine allgemeine Madchenanſtalt eingerichtet. Für den 
inneren Gang der Gemeine und die beſondere Seelen⸗ 
pflege wurden aber noch andre eindringliche 2 
rungsmittel vielfach angeordnet. 

Alles war in Herrnhut und Bertholdsdorf voll 
Eifer und brünſtiger Bewegung; der Geiſt des reli- 
giöſen Schaffens war über die Leute gekommen, und 
raſch entwickelten ſich aus dem gemeinſam erwärmten 
Betriebe die Formen und Richtungen, welche dem neuen 
Verein die Grundlage ſeiner fortdauernden Eigenthüm⸗ 
lichkeit werden ſollten. Zinzendorf's feuriger Sinn gab 
zu dem meiſten die erſte, die ſtärkſte Anregung. An 
einem Tage, da Rothe; Schwedler und Andre in Herrn⸗ 
hut und Bertholdsdorf an verſchiedenen Orten vor ei⸗ 
ner großen Volksmenge zugleich vredigten, entſtand 
durch die an dieſem Tage vorgeſchriebene Betrachtung 
des Beſuchs der Maria bei der Eliſabeth die Vor⸗ 
ſtellung ſolcher Beſuche der Kinder Gottes, und es 
wurden die ſogenannten Banden oder Geſellſchaften 
geſtiftet, zu welchen je zwei, drei oder mehrere fromme 
Seelen, unter denen Jeſus iſt, nach Neigung und An⸗ 
gemeſſenheit der Umſtände, ſich frei vereinigen, über 
ihren ganzen Herzens zuſtand kindlich mit einander fi 
beſprechen und nichts vor einander verbergen. Zinzen⸗ 


sm 103 Bo 


dorf hatte alsbald die ganze Gemeinde, mit ſtrenger 
Scheidung der beiden Geſchlechter, in ſolche Banden 


| eingetheilt, und ſah dieſe noch ſpät für einen Hauptbe= 
trieb des Fortgangs der herrnhutiſchen Dinge an. Die 


Banden wechſelten ihre Glieder nach Erforderniß, oft 


ungern den Führern hierin folgend, aber mit dem 
großen Nutzen, daß die Gemeinde dadurch in die viel— 


fachſte innere Bekanntſchaft mit ſich ſelbſt gerieth. Eine 


| der wichtigſten Einrichtungen aber waren die Chöre, in 
welche die ganze Gemeinde nach Geſchlecht und Alter 


abgetheilt wurde. Jeder Chor bekam ſeine Arbeiter 
und Gehülfen, feine eignen Erbauungen, Lieder, Feſt— 
tage. Inſonderheit erhielten die Schweſterchöre in der 
Folge die größte Ausbildung. Einfache Kleidung war 
allen gemein, aller Modeputz wurde verbannt, mit ihm 
ſogar Sonnenſchirme und Fächer; ein geringer Hut, 
gewöhnlicher aber eine ſchlichte Haube von weißer Lein- 
wand ohne Spitzen, mit einer Schleife von ſeidnem 
Bande zugebunden, diente zur Kopfbedeckung. Die 
Farbe der Bandſchleife ſollte die Chorangehörigen auch 
für den äußern Anblick unterſcheiden; die Wittwen er— 
hielten weißes, die verehlichten Frauen blaues, die 
Jungfrauen roſenrothes, die kleinen Mädchen dunkel— 
rothes Band. Für die Brüder fanden keine ſolche Ab— 
zeichen Statt, doch gingen auch ſie alle ſehr einfach, 
gewöhnlich braun oder grau gekleidet. Eine Trauer— 
tracht gab es für beide Geſchlechter nicht, da der Tod, 
oder das aus der Zeit gehen, wie man in Herrnhut 


7 


* 


e 104 Bo 


das Sterben lieber nennen wollte, für die Frommen 
nicht als ein Anlaß zum Leid angeſehen wurde. Andre 
Vereine bildeten ſich, die in Gebet und frommen Uebun⸗ 


gen die Nächte durchwachten, oder auch die ſchon frü- 
her gewöhnlichen Nachtwachen der Reihe nach beſorg⸗ 


ten. Hieran ſchloß ſich eine andre Einrichtung, das 
Stundengebet, da vierundzwanzig Brüder und Schwe- 


ſtern ſich verbanden, von einer Mitternacht zur andern 


in unaufhörlichem Gebet zu verharren, indem jeder die— 
ſer Stundenbeter eine der vierundzwanzig Stunden auf 
ſich nahm und in ſeiner Einſamkeit dem Gebet oblag, 
ſo daß Tag und Nacht, dem bibliſchen Ausdrucke nach, 
kein Schweigen vor dem Herrn ſein durfte. Die ur— 
ſprünglichen Theilnehmer verdoppelten und verdreifach— 
ten ſich ſpater, jedoch blieb jeder für ſich, und nur die 
gleiche Stunde machte die Gemeinſchaft. Sonſtige 
Bet- und Erbauungsſtunden wurden reichlich angeord— 
net; auch beſondere Singeſtunden, für welche der Se- 
kretair Tobias Friedrich ein trefflicher Lehrer wurde. 
Zinzendorf war von allem dieſen die Seele; ſeine län— 
gern und kürzern Anreden, die ſein Eifer auch bei kirch— 


lichen Handlungen Rothe's, bei Kindtaufen, Trauungen 


und Begräbniſſen, ſelten unterließ, ſtrömten aus erreg— 
ter Bruſt; der geiſtlichen Lieder war er ſo lebendig er— 
füllt, daß er, nach vorhandenem Anlaß, die entfprechen- 
den Verſe aus vielen verſchiedenen Liedern zu neuem 
Zuſammenhang, weglaſſend und hinzudichtend, zu einer 


Art von Liederpredigt anreihte; ebenſo begabt war er 


5 


— — — l— — 


5 105 82 


als Vorleſer, er mochte ein Kapitel aus der Bibel oder 
Briefe und andre Aufſätze vortragen, immer war es 
mit beſonderer Kraft, karaktervoller Deutlichkeit und 


lieblichem Eindruck. Um aus ſolchen gemeinſamen Be— 


ſchaͤftigungen nicht um leiblicher Nahrung willen in zu 
weite Entfernung ſich zerſtreuen zu müſſen, genoß man 
an Ort und Stelle das kärglich Mitgebrachte, oder das 
aus der gräflichen Küche zur Nothdurft Dargebotene, 
woraus nach dem Vorbilde der erſten chriſtlichen Kirche 
bald Liebesmahle oder Agapen entſtanden, welche die 
Gemeinde bald vereint, bald in mehrere Abtheilungen 
geſondert, feierte. 

Alle dieſe Anſtalten, die neben dem öffentlichen 
Gottesdienſte zur Erbauung und Förderung der Seelen 
wirkten, hießen im Allgemeinen ſchlechtweg Gelegen— 
heiten, denn auch eine eigne Sprachweiſe begann in der 
neuen Gemeinde ſchon ſich auszubilden. Für die Lei— 
tung des äußeren Lebenswandels wurde nicht minder 
geſorgt. Wiewohl Zinzendorf als Gutsherr obrigkeit- 
liche Gewalt hatte, und überdies die Leute großentheils 
von ihm ihren Unterhalt bezogen, ſo wollte er doch bei— 
des nur im äußerſten Falle roher Vergehn gelten laſſen, 
und die nöthige Aufſicht und Ordnung, deren Mangel 


auch erweckten Leuten, nach feiner Meinung, nur Scha- 
den bringen würde, durch eine zweckmäßige Gemeinde— 
zucht bewirken. Einige Brüder wurden zu einem Frie— 
densgericht verordnet, dem die Schlichtung aller Irrun- 
gen und Zwiſtigkeiten, die ſich einem ernſtlichen Rechts 


— 106 ey Se 


gang entziehen ließen, aufgetragen war. Andre erhiel- 
ten die Aufſicht über die Gewerbſachen, und trugen 
Sorge, daß jeder ſowohl die nöthige Arbeit erhielte, 
als auch gute um billigen Preis lieferte. Für die 
Armen wurden Almoſenpfleger, für die Kranken Kran- 
kenpfleger beſtellt. Beſondre Gehülfen in der Lehre 
übten, wo es noth that, den Beruf begabten Zuſpruchs. 
Vor allen wichtig war das Amt der Aufſeher, welche 
auf alles noch ſo Geringfügige, woraus Schaden ent— 
ſtehen konnte, Acht hatten, und das bemerkte Rügens— 
werthe wieder eigends beſtellten Ermahnern mittheilten, 
oder auch ihren Antrag, nach Umſtänden, ſogleich an 
die Aelteſten oder gar an die Obrigkeit richteten. Zu 
dieſen bedenklichen Aemtern nur verſtändige, wohlge— 
prüfte, freundliche Perſonen zu ernennen, war Zinzen— 
dorf's angelegentliche Sorge, denn er fühlte wohl, daß 
dergleichen Anſtalten ohne den rechten Geiſt und die 
wahre Liebe das gehäſſigſte Joch und ganz das Ge— 
gentheil ihrer Beſtimmung ſein würden. Aber hierin 
zeigte ſich grade ſein ächter frommer Sinn und ſeine 
praktiſche Menſchenkunde, daß jeder Abweg vermieden, 
und jedes noch ſo gefahrvolle oder ſonderbare Betrei— 
ben unaufhörlich zu dem ſchönen Ziele wahrhaft chriſt— 
licher Vervollkommnung gelenkt wurde. Um die Rein- 
heit der Sitten zu erhalten, ſah er ſorgfältig auf Ab— 
ſonderung der Geſchlechter. Die Schweſtern wurden 
in den verſchiedenen Arbeiten von Schweſtern beauf— 
ſichtet, und dieſe von den Gemeindeälteſten, mittelſt be⸗ 


| 
N 


39 107 2 


ſonders geprüfter und von der ganzen Gemeinde als 
tüchtig anerkannter Brüder, geleitet. Zinzendorf ſelbſt 
war hiemit beauftragt worden, ſowohl ſeines reinen 
Eifers und ſeiner wirkſamen Gaben wegen, als auch 
um feines Standes willen, der eine zu große Annähe— 
rung ſchon durch die äußere Ehrerbietung, die doch nicht 
ganz außer Acht bleiben konnte, verbot. In geiſtlichen 
Dingen ließ er große Freiheit walten, und glaubte ge— 
gen Meinungen, die nicht den Grund ſeiner Sache be— 
trafen, auch nicht ſtreng ſein zu dürfen. Allen Ernſt 
aber wandte er an, ſobald eine Störung dieſes Grun— 
des zu befürchten ſchien. 

Mit beſonderer Liebe nahm Zinzendorf ſich auch 
der Kinder an, unter welchen durch ſein eindringliches 
Reden bald eine allgemeine Erweckung entſtand. Die 
Kleinen fühlten, gleich den Erwachſenen, tiefe Reue 
und Schmerz über ihr ſündiges Weſen, und ſeufzten 
und ſchrieen zum Heiland um Erbarmung. Sie gin— 
gen öfters in dieſer Stimmung, um allein zu ſein, nach 
dem Hutberg, fielen dort auf die Kniee, weinten um 
Gnade, und beteten zum Heilande. Der Graf ſtand 
dann wohl von fern beobachtend, bis alles vorüber war, 
und begleitete zuweilen die Rückkehrenden, mit ihnen 
ſingend, nach Haufe. In den ſogenannten Kinderftun- 
den und Kindergeſellſchaften wurde der Heiland als ein 
Kind vorgeſtellt, ſeine Kindſchaft geprieſen und beſun— 
gen, und ſein ſpielender Umgang und ſeine vertrauliche 
Liebe innigſt erfleht. So wurden die Kinder frühzeitig 


—. 88 108 Do 


— 


in das myͤthiſche Gebiet der Religion eingeleitet, und 
ihre Einbildungskraft mit religiöſen Vorſtellungen er— 
füllt. Aus ſeiner eignen Kindheit brachte der Graf 
dergleichen reichlich mit, und ſeine Vorliebe für tän— 
delnde Spielereien ging auf ſeine Genoſſen und Nach— 
folger über. Es wird erzählt, in dieſer Erweckungszeit 
habe ein ſo gewaltiger Geiſt unter den Kindern ge— 
weht, daß es an Worten, ihn auszudrücken, fehle; 
„Eines Tages, — ſo ſteht berichtet, — kam ein kleines 
Kind von drei Jahren zum Grafen in die Stube, fiel 
auf die Kniee nieder und betete: Ach, mein Jeſu! 
nimm doch hin, was mir drücket Geiſt und Sinn, daß 
ich dich zu jeder Friſt ſehe, wie du ſelber biſt; nebſt 
vielen dahin gehörigen, herzbrechenden Worten, zu großer 
Erbauung des Grafen.“ Die große Gefahr, ſolche Vor— 
gänge auch nur zuzulaſſen, geſchweige denn ſie zu wecken 
und zu hegen, leuchtet jedem ein, der näher beobachtet 
hat, wie Nachahmungstrieb in den Kindern jeden Schein 
ergreift, und dieſen, oft ohne die geringſte Spur der 
Sache ſelbſt, täuſchend verarbeitet. Hier aber iſt wie— 
der die ächte Frömmigkeit in Zinzendorf anzupreiſen, 
deren Fülle auch die Leiſtungen der Verſtandesklugheit 
erſetzte, und jedem eröffneten Treiben wirklichen Ge— 
halt gab, oder wenn dieſer auszugehn drohte, auch ſchon 
wieder in andre Richtungen übergegangen war. Die 
gewagteſten Wege, die bedenklichſten Geſtaltungen, wel— 
chen ſein und der Seinigen oft ſchwärmeriſcher Eifer 
ſich wohl überließ, haben in dem innerſten Kern ſeines 


3 109 222 


Weſens ftets einen Gegenhalt gehabt, welcher trüge- 
riſchen Mißbräuchen, ärgerlichen Enttäuſchungen und 
Beſchämungen meiſt glücklich trotz bot. Wenn auch der 
Hang zum Kindlichen oft nur Kindiſches hervorzubrin— 
gen ſchien, ſo war doch der Sinn, welchen Zinzendorf 
im Ganzen befolgte, ernſt und angemeſſen; folgende 
Worte über die Kinderzucht laſſen auch den klugen An— 
ordner in dieſer Hinſicht neuerdings erkennen: „Die 
Kinderzucht, — ſagt er, — iſt eine heilige, prieſterliche 
Methode, die Seelen, von ihrer Wiege an, nichts an— 
ders wiſſen zu laſſen, als daß ſie für Jeſu da ſind, 
und daß ihre ganze Glückſeligkeit darin beſtehet, wenn 
ſie Ihn kennen, ihn haben, ihm dienen, mit ihm umge— 
hen, und ihr größtes Unglück iſt, auf einigerlei Art von 
ihm getrennt zu ſein, daher der Kinder größte Strafe 
ſein muß, nicht mitbeten, nicht mitſingen, nicht in die 
Verſammlung gehen, nicht lernen dürfen, nach Gele— 
genheit der Umſtände nicht geſtraft werden; eine Füh— 
lung im Gemüthe haben, daß man ſchlecht ſtehe, ohne 
ein Gefühl im äußern Menſchen, daß mans übel habe.“ 
Ein richtiges Gefühl hielt ihn auch ab, ſich mit frem— 
den Kindern einzulaſſen, ſondern er begnügte ſich die— 
jenigen anzuregen, die ſchon durch ihre Aeltern in dem 
Sinn der Gemeinde waren. Ein Liederbuch für Kin— 
der, das er in dieſer Zeit zuſammenwählte und drucken 
ließ, wurde mehrmals aufgelegt. 

Zu den Anordnungen, welche in Herrnhut entſtau— 
den waren, kamen nach und nach mehrere. Am Schluſſe 


e 110 88 


der abendlichen Singeſtunden, welche jeden Tag Statt 
fanden, pflegte Zinzendorf noch über einen Bibelſpruch 
oder Liedervers eine kurze Rede zu halten, und gab 
dann den Zuhörern ſolchen Spruch oder Vers als eine 
Looſung für den folgenden Tag mit nach Hauſe. Dies 
wurde bald zur ſtehenden Gewohnheit; jeder Tag ſollte 
eine beſtimmte, ihn gleichſam beherrſchende Looſung ha— 
ben, und es wurde bald zum angelegentlichen Geſchäft, 
welchem ſich Zinzendorf mit Vorliebe widmete, dieſe 
Looſungen für jedes Jahr vollſtändig auszuwählen und 
der Gemeinde zu übergeben. Dank- und Feſttage, 
ſpäter Bet- und Gemeindetage genannt, wurden nach 
beſonderen Anläſſen gehalten, im Zuſchnitt andren Er— 
bauungen ziemlich gleich, nur daß noch Berichte über 
den Zuſtand des Reichs Gottes und Anträge zur För— 
derung deſſelben mitgetheilt wurden, woraus ſich die 
Neigung und Ausſicht zu Botſchaften in ferne Länder 
unter den Brüdern entwickelte. Die gewöhnlichen Früh— 
verſammlungen der Gemeinde wurden im Sommer 
ſchon um vier und im Winter um fünf Uhr gehalten, 
wodurch Zinzendorf, der oft bis tief in die Nacht ar- 
beitete, an ihrem regelmäßigen Beſuch gehindert war; 
um aber auch in dieſer Gattung nichts zu verſäumen, 
richtete er ſich in ſeiner Wohnung mit ſeinen Hausge— 
noſſen eine um etwas ſpätere Andachtsſtunde ein. Wie 
viele Stunden des Tages auch ſchon auf ſolche Art in 
Anſpruch genommen waren, ſo wußte der Graf doch 
die Werke ſeines frommen Eifers noch immer zu ver— 


39 111 88 


vielfachen. Er gab einer Anzahl junger Männer, die 
ſich zu beſondrer Lebensweiſe vereinigt hatten, eigent— 
lichen Schulunterricht, hielt Reden an die ledigen 
Mannsperſonen, an die Jungfrauen, an die neuange— 
henden Eheleute, und ertheilte jeden beſonders die Leh— 
ren, die ihnen gemäß waren. Einigen auserleſenen 
Brüdern und Schweſtern las und erklärte er Tauler's 
Mark der Seele, worin er doch, bei allen Schönheiten 
und Tiefen dieſes Schriftſtellers, zu wenig von Chri— 
ſtus geredet fand, und nur deßhalb die Sache wieder 
aufgab. Seine raſtloſen Bemühungen wirkten ſo frucht— 
bar, und ſtellten der Gemeinde zu Herrnhut ein ſo ein— 
dringliches Beiſpiel auf, daß endlich Rothe, der bisher 
in vielen Dingen ihr noch abgewendet geblieben war, 
gerührt und erweicht ſich völlig mit ihr vereinigte, und 
am 12. Mai 1728 die Statuten von Herrnhut auch 
auf die Gemeinde von Bertholdsdorf ausgedehnt wur— 
den, ein Ereigniß, welches für das Gedeihen der be— 
gonnenen Sache als ein unſchätzbarer Gewinn erſchei— 
nen mußte. Doch in aller Herzensfreude des Grafen 
über dieſes Gedeihen verblieb ihm ſtets die tiefe De— 
muth, ſeinem Werke keinen andern Beſtand zu wün— 
ſchen, als den es unmittelbar zu verdienen fortführe. 
Dieſen Sinn hatte er auch ſchon in dem Schluß eines 
Liedes ausgedrückt, welches der Gemeinde beſonders 


werth geblieben iſt; daſſelbe hebt an: 


„O ihr auserwählten Seelen 
In dem Pella Herrenhut!“ 


— 58 112 a 


— 8 


Der Schluß aber, von dem Heiland fortredend, 
lautet: N ee ee 
„Herrnhut ſoll nicht länger ſtehen 
Als die Werke ſeiner Hand u 
Ungehindert drinnen gehen, 
Und die Liebe fei fein Band, 
Bis wir fertig 
Und gewärtig, 
Als ein gutes Salz der Erden 
Nützlich ausgeſtreut zu werden.“ 


Zinzendorf's ausgebreitete Verbindungen, die theils 
fein frommer Eifer ihm gab, theils fein Stand ihm 
aufdrängte, ließen ihn auch jetzt, da ſein Wirkungskreis 
ſich nach ſeiner Neigung um ihn geründet zu haben 
ſchien, nicht lange darin abgeſchloſſen. Hätte er bei 
ſeiner Gemeinde zu ruhen vermocht, ſo wäre dieſelbe 
wahrſcheinlich in der Stille mit ſeinem Leben dahinge— 
gangen und erloſchen, und ſchwerlich zu der Kraft ge— 
langt, als eine große religiöſe Stiftung ſelbſtſtändig 
fortzudauern. Erſt aus vielfältigen Verwickelungen und 
Drangſalen ging dieſe Kraft und Geſtaltung hervor; 
die merkwürdigen Wege, welche die Sache durchwan— 
deln mußte, waren faſt ganz durch Zinzendorf's Ka- 
rakter bedingt, der die Frömmigkeit nicht in ſich ruhen 
ließ, ſondern ſie ſtets in zahlreichen Beziehungen auf 


— 


den Schauplatz der thätigen Welt hinausführte, und 


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. 
3m 113 Ba 


diefe wiederum eben fo eifrig zur Frömmigkeit zurüd- 
leitete. Inmitten aller Arbeiten, die zu Herrnhut im 
Gange waren, machte er kleine Reiſen, nach Schleſien, 
nach Dresden, und als einer ſchriftlichen Einladung des 
Erbprinzen zu Sachſen-Saalfeld das befragte Loos zu— 
ſtimmte, über Jena und Rudolſtadt nach Saalfeld, von 
da nach Baireuth und Koburg, und wieder über Saal— 


feld und Ebersdorf nach Herrnhut zurück. Ueberall 


hatte er an den verſchiedenen Höfen die günſtigſte An- 
ſprache, hielt Erbauungsreden, zum Theil auf den 
Wunſch ihm beifälliger Geiſtlichen, vergnügte die Ge— 
ſellſchaft mit Liedern, oder las Predigten vor, oder gab 
auch ſelber in ſchriftlichen Aufſätzen gute Lehren und 
Rath. Oefters aber gerieth er auch mit Andersden— 


kenden, mit Gelehrten und Sektenleuten, in ſtreitende 


Erörterung, die ihn mancherlei Verlegenheiten ausſetzte. 
Dieſe Wanderluſt theilten ſeine frommen Freunde, und 
es entſtand die Gewohnheit der Botſchaften, da einer, 
zwei oder mehrere Brüder ſich in Folge inneren An— 
triebs auf den Weg machten, um etwas, wie ſie es 
nannten, für den Heiland auszurichten. Solche Boten 
gingen ſchon nach dem Voigtlande, nach Schleſien, Böh— 
men und Mähren, Ungarn und nach Dänemark ab; 
nach letzterem Lande die Brüder Johann und David 
Nitſchmann, die für den Prinzen Karl, Bruder des 
Königs Friedrichs des Vierten eine von Zinzendorf 
herausgegebene kurze Brüderhiſtorie und andre Nach— 
richten von Herrnhut mitnahmen. Nach England gin— 


Biographiſche Denkmale. V. 8 
* 


2 114 BE 


gen drei Brüder, um dortige Glaubensgenoſſen zu be— 
ſuchen, welche mit denen in der Lauſitz nähere Verbin— 
dung angeknüpft hatten. An den Profeſſor Buddeus 
zu Jena wurde eine Botſchaft mit der Bitte geſandt, 
er möchte doch des Amos Comenius Geſchichte der böh— 
miſchen Brüder, wie früher lateiniſch, jetzt der neuen 
Gemeinde zu Liebe in deutſcher Sprache herausgeben. 
Nach einiger Zeit, durch Briefe dringend eingeladen, 
reiſte Zinzendorf ſelbſt nach Jena, und nahm ſogar zu 
längerem Aufenthalte Gattin und Kinder mit. Hier 
fanden ſich an hundert erweckte Studenten, mehrere 
Magiſter und ſelbſt Profeſſoren, welche ganz in Zin— 
zendorf's Sinn eingingen, und ſeinen Andachten bei— 
wohnten, die er in einem dazu gemietheten Gartenhauſe 
hielt; fie wünſchten auch durch fein Zuthun die ſchon 
unter ihnen beſtehende fromme Thätigkeit zu einer feſten 
Einrichtung zu ordnen. In dieſer Zahl befand ſich da— 
mals Spangenberg, der ſpäter ein wichtiger Gehülfe 
und Nachfolger des Grafen wie auch deſſen Lebensbe— 
ſchreiber wurde. Unter Zinzendorf's Anleitung wurde 
wirklich die Gründung eines Vereins zur praktiſchen 
Ausübung des Predigtamts beſchloſſen, und Buddeus 
ſollte Vorſteher davon werden. Allein die Sache fand 
Widerſpruch, Buddeus mußte zurücktreten und Zinzen- 
dorf erfuhr mancherlei Anfeindung. Da zu ſeinen Er— 
bauungsſtunden immer mehr Leute zudrangen, ſo er— 
mahnte ihn der ihm ſonſt überaus freundliche Herzog 
von Eiſenach als Landesherr gleichwohl, die Zahl die— 


* 


= 115 S 


ſer Beſucher zu mindern und allzugroßes Aufſehn zu 
vermeiden. Daß die übrigen Studenten, welche ſich in 
eifrige Anhänger Halle's und Wittenbergs theilten, und 
ihre robe Gelehrtenmeinung mit rohen Sitten verban- 
den, ihn perſönlich unbeleidigt ließen, dankte er anfangs 
vielleicht nur ſeinem Stande. Doch nöthigte er ſelbſt 
dieſe durch fein Benehmen und feine Reden zur Ehrer- 
bietung, und wirkte manches Gute unter ihnen. In 
gleichem Anſehn erſchien er hierauf in Weimar, wohin 
der Herzog Ernſt Auguſt ihn eingeladen hatte, der ihn 
ſogar über Regierungsſachen zu Rathe zog, ſodann in 
Gera, wo er mit dem Kronprinzen von Dänemark und 
deſſen Gemahlin zuſammen traf, und ſich mit ihnen 
von geiſtlichen Dingen unterhielt, ferner in Hirſchberg, 
in Koburg, wo er überall mit Erweckten, ſowohl höhe— 
ren als niederen Standes, traulichen Verkehr hatte. 
In Halle, wo er in Lange's, des berühmten Pietiſten, 
Hauſe wohnte, fanden ſich wieder über hundert Stu- 
denten zu ihm, welche von den jenaiſchen Betreibungen 
ſchon wußten, und gleichfalls von ihm eine Veranſtal— 
tung begehrten, in welcher ſie vereint ihrem frommen 
Zwecke nachſtreben könnten. Dies mußte er zwar ab— 
lehnen, da die Schwierigkeiten, die ſich in Jena ge— 
zeigt, auch hier vorauszuſehen waren; allein im Uebri— 
gen wirkte er ganz nach gewohnter Weiſe; hielt Vor— 
träge und religiöſe Unterredungen mit Leuten aller Art, 
ſprach unverhohlen ſeinen ganzen Sinn aus, und machte 
allerdings auch mancherlei Einrichtungen, um die er- 
8 * 


- 116 88 


weckten Seelen fefter mit einander zu verbinden. Von 
Halle reiſte er über Merſeburg nach Pölzig, wo er den 
Grafen von Henkel beſuchte und auch den Grafen von 
Reuß antraf, und dann über Dresden nach Herrnhut 
zurück. h a n 

Dieſer Reiſe verknüpften ſich nach zweien Seiten 
folgenreiche Beziehungen; daheim hatte des Grafen 
Abweſenheit neuen Störungen Raum gegeben, draußen 
ſein Hervortreten bedenklichen Widerſpruch aufgeregt. 
Schon in Jena hatte er von den neuen, in Herrnhut 
ausgebrochenen Widrigkeiten Nachricht empfangen. Kaum 
war ſein zuſammenhaltender und ſtets anfeuernder Eifer 
dort eine Weile vermißt, als einige Mitglieder der Ge- . 
meinde ſich in der vereinzelten und noch wenig befeſtig— 
ten Stellung derſelben unheimlich fühlen mochten, und 
es gerathener fanden, der Lutheriſchen Kirche in That 
und Namen anzugehören. Der Paſtor Rothe, in ſei— 
ner Art immer nur ſchwierig mit dem Grafen einver— 
ſtanden, pflichtete dieſen gern bei, und Chriſtian David 
wurde gleichfalls gewonnen. Viele Verfolgungen und 
Schwierigkeiten, die man befürchten mußte, ſchienen ab- 
gewendet, allgemeine Liebe und Eintracht dagegen her— 
geſtellt, wenn man den Namen der böhmiſch-mähriſchen 
Brüder aufgäbe, und fortan nur Lutheriſch hieße. Der 
Graf hätte dies früher ſelbſt gewünſcht, damals aber 
waren die Anhänger der alten Brüderkirche entgegen; 
jetzt, nachdem eine Menge heilſamer Einrichtungen auf 
dieſe gegründet und alles in gedeihlichem Gange war, 


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sn 117 Do 


drohte ein folder Vorſchlag das Ganze wieder umzu— 
ſtürzen, und in Zwieſpalt aufzulöſen, denn es waren 
auch viele Gemeindeglieder entſchieden dieſer Wendung 
entgegen, und es ſtand zu beſorgen, ſie würden, wenn 
ſie nicht als mähriſche Brüder in der Lutheriſchen Kirche 
ſein könnten, ſich lieber ganz von dieſer losſagen. Gleich 
von Jena her ſandte der Graf in Verein mit den Brü— 
dern, die grade um ihn waren, eine Proteſtation gegen 
das neue Beginnen nach Herrnhut, und ließ auch den 
Eifer der jenaiſchen Magiſter und Studenten gern ge— 
währen, die ein herzliches Mahnungsſchreiben in ſeinem 
Sinn an die Gemeinde richteten, und dieſelbe auffor— 
derten, um weltlicher Rückſichten willen nichts von dem 


zu verläugnen, was ihnen geiſtlich theuer ſei. Die 


Hauptſache blieb jedoch bis zu feiner Rückkunft ver— 
ſchoben, und er bedurfte mehrerer Tage ſtiller Beob— 
achtung, um den Zuſtand in allen Verzweigungen ge— 
nau zu durchſchauen. Dann aber ſchritt er, zwar mit 
liebreicher Schonung, doch mit allem Ernſt, zu durch— 
greifenden Maßregeln. Chriſtian David wurde ſeines 
Aelteſtenamts entlaſſen, nachher auch die übrigen Ael⸗ 
teſten verändert, die Statuten von Herrnhut am 6. No- 
vember 1728 in neue Form gefaßt, und das Verhält— 
niß der Einwohner feſter beſtimmt. Dieſe neue Sta— 
tuten enthielten als erſten Artikel: „In Herrnhut ſoll 
nie vergeſſen werden, daß es auf den lebendigen Gott 
erbauet, und ein Werk ſeiner allmächtigen Hand; auch 
eigentlich kein neuer Ort, ſondern nur eine für Brü⸗ 


m 118 DI 


der, und um der Brüder willen, errichtete Anſtalt iſt;“ 
ferner hieß es: „In allem, was unter uns einzurichten 
iſt, ſoll Liebe und Einfalt geſucht werden;“ ſie ſprachen 
zugleich die bürgerliche Wohlthat aus, daß Herrnhut 
zu ewigen Zeiten von aller Dienſtbarkeit und Leibeigen- 
ſchaft frei und auch keiner nachkommenden Herrſchaft 
jemals wieder dazu verpflichtet fein ſolle; die Schlich 
tung von Streitigkeiten durch ein Gemeindegericht wurde 
angeordnet, Regeln über den Erwerb des Lebensunter— 
halts gegeben, die Liturgie von Bertholdsdorf zwar an— 
erkannt, doch mit Vorbehalt aller Gewiſſensfreiheit und 
innerlichen Verbindung, die den mähriſchen Brüdern 
eigen ſei; ferner wurde die Trennung der Schweſtern 
von den Brüdern ſtreng feſtgeſetzt, und keine Zuſam— 
menkunft ohne Licht mehr geſtattet, nicht ſowohl, weil 
man wirklich Unordnung davon befürchtete, als weil 
die Gegner daran ein Aergerniß nahmen. Weil dieſe 
Statuten mehr bürgerlicher als kirchlicher Art waren, 
und abſichtlich den Schein eines neuen Religionsbe— 
kenntniſſes vermeiden wollten, ſo nannte man ſie auch 
nur herrſchaftliche Gebote und Verbote. Sie wurden 
nach vielfältigen rührenden Reden und Erbauungen in 
neuerweckter Liebe mit allgemeinem Beifall angenom⸗ 
men; die Störer bezeigten innige Reue; mit den neuen 
Gehülfen aber verband ſich Zinzendorf nach geſchehener 
Arbeit in eignen Spätverſammlungen nur um ſo feſter, 
und bei frommen Liebesmahlen erneuten ſie ihre Treue 
zum Heiland innig durch Handſchlag und Bruderkuß. 


* 


— 2119 Do 


Ohne allen Zwang, durch mildes Anregen des uner- 
loſchenen frommen Sinnes, und durch das Beiſpiel 
eines unherrſchſüchtigen, aber vertrauenvollen reinen 
Eifers, wurde dieſe Zurückführung bewirkt, und unter 
dem hinreißenden Einfluſſe der religiöſen Fülle und 
des perſönlichen Anſehns des Grafen aller Zwiſt bald 
vergeſſen. 

Nur um ſo eifriger bearbeitete er darauf das In⸗ 
nere der Gemeinde. Die Erbauungen, Andachten, 
Herzvertraulichkeiten, wurden in allen Geſtalten fortge— 
ſetzt. Außer der Bibelerklärung und beſtimmten Lehr- 
vorträgen, die er an die Gemeinde hielt, gab ihm noch 
jeder beſondre Vorfall Anlaß zu Reden, Geſängen und 
Gebeten. Die vorhandenen Gebräuche vermehrte er 
durch Einführung des Fußwaſchens, welches nach ſeiner 
Meinung als eine von Jeſus geübte und empfohlene 
Handlung bisher mit größtem Unrecht verſäumt wor— 
den ſei. Die Bettage wurden regelmäßig auf vier— 
wöchentliche Friſten feſtgeſetzt, die Looſungen ebenfalls 
beſtimmter angeordnet, und nicht mehr nach Gutdünken 
jedem Tage beſonders gewählt, ſondern ſchon am Vor— 
abend aus den ſämmtlichen für das Jahr gewählten 
durch das Loos gezogen, und ſogleich in der Gemeinde 
von Haus zu Haus durch beſuchende Brüder herumge— 
tragen, die hierauf von jedem Hauſe, wie ſie es ge— 
troffen und was ſie bemerkt, einen treuen Bericht an 
die Aelteſten zurückbrachten. Damit die Betgeſellſchaf— 
ten bei ihren einzelnen Fürbitten die Gegenſtände der- 


a» 120 Bi 


ſelben ſichrer anreihten, entwarf er ein Gedenkbüchlein, 
welches ſie in genauer Folge herzählte, als zuerſt die 
verſchiedenen Religionen und Verfaſſungen, dann die 
Diener Jeſu, insbeſondre die Märtyrer, Evangeliſten, 
Propheten, Prieſter, ferner die verſchiedenen Stände 
und Lebensformen, endlich alle bekannten Perſonen, de— 
ren Weſen oder Verhältniß eine religiöſe Beziehung 
darbot, und deren Namen, in alphabetiſches Verzeichniß 
geordnet, mit tiefem Nachdenken und herzlichem Seuf- 
zen und Segenswunſch dem erinnerungsvollen Herſagen 
empfohlen wurden. Dieſe Art von Litaneien, zuweilen 
auch ſtatiſtiſch nach Ländern und Orten eingerichtet, er— 
hielten ein großes Anſehn, und gewährten eine zuſam— 
menhaltende Beſchäftigung, die jeder nach ſeinem Sinne 
feiner und gröber nehmen konnte; doch wurden ſie auch 
ein Gegenſtand heftigen Tadels von Seiten der Geg— 
ner, welche darin dieſelbe müßige Aeußerlichkeit finden 
wollten, die man den katholiſchen Litaneien vorzuwerfen 
pflegte. Eine neue Form religiöfer Zuchtordnung ent— 
ſtand von ungefähr in der Gemeinde, als dieſe durch 
eingeſchlichene Ränke abermaligen Zerrüttungen ausge 
ſetzt worden. Ein fremder Edelmann hatte in Herrn— 
hut günſtige Aufnahme gefunden, mißbrauchte aber ſei— 
nen Vortheil, machte ſich einen Anhang, und ſtiftete 
Sonderung und Gehäſſigkeit; ſeine Parthei klagte über 
die Gemeinde, verläſterte die Beamten derſelben, und 
feindete beſonders den Grafen an; ja man ging ſo 
weit, deſſen Umgang mit den Schweſtern, der ſich doch 


bei erfolgter Unterſuchung durchaus rein und heilig er- 
wies, zu verdächtigen. Da alles Dulden und Bitten, 
welches nicht geſpart wurde, bei dieſen Leuten nichts 
fruchtete, ſondern die Verführung ſtets um ſich griff, ſo 


glaubte Zinzendorf endlich auch mit Ernſt gegen ſie 


auftreten zu müſſen. Er ſprach in einer Verſammlung 
der Gemeinde klar und offen die Ueberzeugung aus, 


daß alle ſolche ungehorſame, boshafte und verführe— 


riſche Menſchen unter dem Bann und Fluch Gottes 


ſtünden, worauf er mit der Gemeinde auf die Kniee 
fiel, und voll Eifer zugleich und Mitleid über dieſe 
Bannbeladenen zu Gott betete. Wiewohl nun eine 


ſolche Erklärung kein weiteres Verfahren nach ſich zog, 
ſo hatte ſie doch die erwünſchte Wirkung, daß die 
Reuigen leichter zurückkehrten, die Verſtockten aber, ob— 
gleich durch keinen Zwang genöthigt, nn davon⸗ 


gingen. 


Zinzendorf, durchdrungen von der Einſi cht, daß 
alles Angeordnete nur tauge, ſo lange der Geiſt darin 
walte, und daß dieſer in jeder beharrenden Form leicht 
eine Stockung finde, ſorgte unaufhörlich, durch immer 
neue Anregung ſein Werk in ſteter Friſche zu erhalten. 
Hiezu dünkte ihm ein Perſonenwechſel in den Gemein- 
deämtern höchſt erſprießlich. Einige früherhin eifrige 
Beamte waren lau geworden, andre Gemeindeglieder 
dagegen hatten ſich mit neuem Eifer hervorgethan. Zu 
ſolchem Zweck nun legte er ſelbſt im Anfang des Jah— 
res 1730 ſein Vorſteheramt nieder, worin er jedoch 


on 122 S 


fürerſt auch nicht erſetzt wurde. Seinem Beiſpiele 
folgten die bisherigen Aelteſten, und eine neue Wahl | 
fand Statt. Martin Linner, ein junger Bäckergeſell, 
durch Rednergabe und zuverläſſigen Sinn ausgezeich- 
net, wurde zum Aelteſten der Gemeinde, Anna Nitſch⸗ 
mannin, eine erweckte, ſtille Jungfrau, die ſich vom 
Wollſpinnen nährte, zur Aelteſtin der Schweſtern er⸗ 
wählt. Eine Anzahl beſonders wachſamer und thätiger | 


Brüder und Schweſtern übernahmen es, mit Zuſtim⸗ 


mung der Gemeinde, dieſen Aelteſten in allen Bezie— 


hungen mit beſonderer Treue und Eifer beizuſtehn, und 


wurden deßhalb Helfer und Helferinnen ins Ganze ge— 
nannt; nach Gelegenheit ſollten ſie auch als Syndiker 


der Gemeinde dieſelbe nach außen vertreten; fie bilde⸗ 
ten dieſergeſtalt eine freie Behörde, in welcher Auf- 
ſicht, Rath und Ausübung vereinigt waren, und in ihr 
fand auch Zinzendorf ſeine erneute Wirkſamkeit. Wie 


früher mehrere ledige Brüder, ſo traten jetzt auch acht— 


zehn ledige Schweſtern, unter denen die Aelteſtin Anna 
Nitſchmannin, in einen engern Bund zu ſtreng-jung⸗ 


fräulichem, von allen Lockungen der Sinne abgezogenen 
Wandel; ſie verſprachen einander mit Herz und Hand, 


ſich dem Bräutigam ihrer Seelen unbedingt zu erge— 


ben, und nicht anders zu heirathen, als im Sinne des 
Heilandes, nach feinem durch den Ausſpruch der Ge⸗ 


meinde und innere Ueberlegung erkennbaren Willen, 
und mit völliger Ausſchließung aller perſönlichen An⸗ 


triebe. Zur beftimmteren Feſthaltung der religiöſen 


on 123 S 


Grundlagen in Herrnhut, und um auswärtigen Andich- 


| 


tungen ein beglaubigtes Zeugniß entgegenftellen zu kön- 
nen, veranlaßte Zinzendorf, daß über einige weſentliche 
Punkte die Erklärung der Brüder durch einen Kaiſer— 
lichen Notarius aufgenommen wurde; er ſelbſt, als 
Ortsobrigkeit, und Rothe, als Paſtor, unterſchrieben 
dieſes urkundliche Zeugniß, worin es unter andern hieß, 
daß ſie keine offenbare Gemeinde Gottes erkennten, als 
wo das Wort Gottes lauter und rein gepredigt wird, 
und die Glieder derſelben auch heilig als Kinder Gottes 
darnach leben, daß ſie von niemand getrennt ſein woll— 
ten, der, wenn er auch die Schrift hie und da, durch 
Verleitung Andrer oder eignen Unverſtand, irrig aus— 
legt, wahrhaft und herzlich an den Heiland glaubt, 
daß der Mangel an Zucht bei erweckten Seelen ein 
Hauptmangel ſei, und fie dieſelbe unter ſich nicht fah— 
ren laſſen wollten, daher etwanige Unordnung nur den 
Einzelnen, die ſie begingen, nicht aber der ganzen Ge— 
meinde zur Laſt zu ſchreiben ſei, ferner, daß fie in un— 
unterbrochenem Zuſammenhange mit der evangeliſch— 
Lutheriſchen Kirche geblieben, und zwar den Namen der 
Brüder und Schweſtern als einfältig und ſchriftmäßig 
nicht wegwerfen, aber keineswegs den Zuſatz böhmiſch 
und mähriſch als einen ſektiriſchen Trennungsnamen 
führen und eben ſo wenig Huſſiten als Lutheraner hei— 
ßen wollten, endlich, daß fie ihr Leben nicht lieber ha— 
ben wollten, als eine der göttlichen Wahrheiten, denn 
auch in der Meinung, etwas Gutes zu ſtiften, eine 


sm 124 DU 
Wahrheit verläugnen, ſei Unrecht und Sünde. Die— 


ſem letzteren Satze fügte Zinzendorf einſichtig hinzu, 


doch ſei nicht nöthig, die Gotteswahrheiten alle, zu jeder 
Zeit, an allen Orten und jedermann zu bezeugen; denn 


das Heilige, meinte er, ſolle weder dem ſtumpfſinnigen | 


Thoren hingeworfen, noch dem ſchnöden Spiel abficht- 
licher Läſterung preis gegeben werden. Ihn darf hie- 
bei die Art, wie Chriſtus ſelber den Phariſäern und 


Schriftgelehrten geantwortet hat, vollkommen rechtferti— 


gen; allein die richtige Klugheit, die er ausdrückt, und 
vielleicht doch klüger verſchwiegen hätte, wurde ihm von 


Gegnern nur allzu oft als eine ſchlechte Weltrückſicht 


ausgelegt, die ſich auch in den höchſten Dingen handeln 


und abfinden laſſe. Da auch die Zahl der Bewohner 


von Herrnhut noch immer zunahm, und manche fremde 


Familie daſelbſt einzog, deren Geſinnung und Wandel 
nicht die gehörige Sicherheit bot, ſo ließ der Graf, der 
nie gern als Obrigkeit in der Gemeinde auftreten 
mochte, ſich einen Revers von allen Anſäſſigen oder 


Zuziehenden geben, daß ſie ſich entweder der Laſter, die 
Gott und Menſchen zuwider find, enthalten, oder Herrn 


hut räumen und ihren Grundbeſitz an die Gemeinde 
käuflich überlaſſen wollten. 8 
War auf dieſe Weiſe Herrnhut in ſeinen geiſtigen 


wie in ſeinen bürgerlichen Grundzügen neu geordnet 


und geſtärkt, ſo zogen ſich dagegen von außen immer 
drohender dunkle Wolken um den Grafen her. Ihm 


war im Gebiete des chriſtlichen Glaubens keine beſondre 


3m 125 = 


| Lehrform eine Schranke der Bruderliebe noch der Er- 
bauung, im Herzen fand er alle Unterſchiede aufge— 
hoben. Die Schriften der Katholiken, welche dieſer 
| Liebe huldigten, hatten für feinen Sinn denſelben Werth, 
wie die gleichartigen der Proteſtanten. In dieſer Hin- 
ſicht mußten beſonders die ſchönen Lieder des Johann 
Scheffler, die unter dem Titel heilige Seelenluſt des 
Johannes Angelus Sileſius um die Mitte des ſieben— 
zehnten Jahrhunderts in Breslau erſchienen waren, ihm 
| beſonders wohlgefallen; der Verfaſſer war aus der pro— 
teſtantiſchen zur katholiſchen Kirche übergetreten, und 
Prieſter und Eiferer in derſelben geworden, aber dies 

hinderte nicht, daß auch die proteſtantiſchen Geſang— 

bücher viele ſeiner Lieder beibehielten. Zinzendorf's 
unermüdete Thätigkeit fand ſich angeregt, durch eine 
| Sammlung folder Lieder auch für Katholiken etwas zu 
| leiſten, und auch fie, unbeſchadet ihres römischen Zu— 


ſammenhangs, in feinen Andachtsgang einzuleiten. Er 
ſchritt nach feiner Weiſe ungeſäumt zur That, und gab 
gleich im Jahre 1727 ein chriſtkatholiſches Singe- und 
Betbüchlein heraus, das er dem Fürſten von Fürften- 
berg, Kaiſerlichen Prinzivalkommiſſarius bei der Reichs— 
verſammlung, zueignete. Das Buch erhielt bei Katho— 
liken guten Beifall, und wirkte hin und wieder nach 
Wunſch; indeß wurden manche Proteſtanten darüber 
ſtutzig, fürchteten bei dem Grafen Hinneigung zur ka— 
tholiſchen Kirche, oder doch unſichres, bodenloſes Irr— 
| ſchweifen, und fingen an, ihre Zweifel und Wehrufe 


39 126 BI 
darüber höchſt nachtheilig auszuſprechen. Hiezu gab 
Zinzendorf noch ſtärker Anlaß, als er im folgenden 
Jahre mit dem Gedanken umging, ein ſolches katho- 
liſches Liederbuch mit Genehmigung des Pabſtes her— 
auszugeben und dadurch in der katholiſchen Kirche zu 
allgemeinem Gebrauch zu empfehlen. Der damalige 
Pabſt, Benedikt der Dreizehnte aus dem Hauſe Orſini, 
genoß den Ruf eines verſtändigen, duldſamen Mannes; 
mehrere vornehme Katholiken, worunter einige Biſchöfe, 
die mit Zinzendorf in Verkehr ſtanden, hatten längſt 
gewünſcht, ihn mit dieſem Pabſt in nähere Beziehung 
zu bringen. Die Sache ließ günſtigen Erfolg hoffen, 
und Zinzendorf entwarf ſeinem Zwecke gemäß ein 
Schreiben an den Pabſt, das nur wegen Bedenklichkei— 
ten über die Titulaturen unbefördert blieb. Den Ent— 
wurf jedoch fand ein Fremder, der in Großhennersdorf 
die Freifrau von Gersdorf beſuchte, als ein Leſezeichen 
in einem Buche des Grafen, nahm ihn mit, und theilte 
denſelben nachher, als einen Beweis heimlich katholiſcher 
Denkart des Grafen, in mehreren Kreiſen mit. So 
wirkte ſchon jetzt ein tiefes Mißtrauen im Stillen feind— 
ſeligſt, das ſpäter offen ausbrach, und viele Jahre hin— 
durch fortdauerte. In ſpäterer Zeit, als Zinzendorf 
erfuhr, man zeige von ihm ein ſolches Schreiben, läug— 
nete er an den Pabſt je geſchrieben zu haben, und for— 
derte von dem Profeſſor Walch in Jena, der das Blatt 
beſaß, mit Eifer deſſen Auslieferung. Dieſer aber gab 
nur eine Abſchrift, die dem Grafen zwar genugſam ſein 


a 127 


| früheres Vorhaben ins Gedächtniß rief, aber nicht glei— 
cherweiſe feinem heftigen Eifer mäßigte, fo daß Walch 


nun zu ſeiner Rechtfertigung alles drucken ließ. Zin— 
zendorf berief ſich darauf, daß die Abſendung des 


| Schreibens unterblieben, und behauptete noch, daß auch 


dieſe ihm nicht zum Vorwurf gereichen würde, denn 
auch ein ehrlicher Evangeliſcher habe den Pabſt immer 


als einen hohen Fürften anzuſehen, und ihn, fo lange 


derſelbe den gekreuzigten Chriſtus anbete, nicht für den 


Antichriſt zu halten, ſondern für das rechtmäßige Ober— 
haupt derjenigen Kirche, die ſich zu der tridentiniſchen 


Kirchenverſammlung bekenne. Dieſe, auch ſchon früher 


häufig geäußerten Geſinnungen ſchufen dem Grafen 


vielfachen Argwohn und üble Feindſchaft unter ſeinen 


eignen Glaubensgenoſſen, welche, wiewohl mindre 


Strenge, doch größere Eiferſucht, als die Katholiken, 


gegen die zu andrer Gemeinſchaft Hingewandten zu 

nähren pflegen, und die Verdächtigungen und Gehäſſig— 

keiten, welche aus dieſem Anſchein floſſen, gaben ihm 
viele bittre Kämpfe. 


Von einer andern Seite ſollte ihm eine noch üblere 


Stimmung, die er ſich bereitet hatte, kund werden. Er 
war bisher, und beſonders auf ſeiner letzten Reiſe, 


häufig in Religionsgeſpräche mit frommen Gottesge— 
lehrten eingegangen, und hatte deren Beifall bei ſeinen 
meiſt ſchwungvollen, aber auch ungenauen und gewag— 
ten Aeußerungen oft vermißt; die Rechtgläubigkeit ſei— 
ner Meinungen und die Sicherheit ſeiner Bahn wurde 


> 128 . 


großen Zweifeln und Bedenklichkeiten bloßgeſtellt; die 
Quelle vieler Beſchuldigungen und Verdammungsur— 
theile war eröffnet, und die Anklagen des Indifferen— 
tismus, der Heterodorie, der Schwärmerei und Will⸗ 
für verfolgten ihn ſeitdem ohne Aufhören. Aber auch 
mit feinen früheſten Freunden, in deren Mitte er ges 
gen die Angriffe der ſchulgerechten Schriftgelehrten eine 
Zuflucht hätte finden ſollen, mußte er unglücklicherweiſe 
nun zerfallen. In Halle, wo ſeine Aeußerungen ſo zu— 
traulich als freimüthig ſeinen ganzen Seelenzuſtand 
ausſprachen, erkannten die Frommen aus Spener's und 
Francke's Schule mit Erſchrecken, daß ſie ihn für kei— 
nen der Ihrigen halten durften, denn er geſtand offen, 
daß er den Bußkampf, ohne welchen kein Heil ſein 
ſollte, auf die von ihnen geſchilderte Art nicht erfahren 
habe. Dieſer finſtre Zuſtand, daß die Seele unter der 
Laſt ihrer Sünden in Angſt und Noth verzagen müſſe, 
wie ein Miſſethäter, der zum Gericht geführt wird, 
galt den Pietiſten als unerläßliche Bedingung der wah— 
ren Bekehrung, ohne dieſen Durchbruch ſollte man kein 
Kind Gottes ſein können. Zinzendorf aber meinte, der 
heilige Geiſt bringe die Seele, die ſich ihm überlaſſe, 
ganz gewiß dazu, daß ſie ihr ſündlich Elend an ſich 
ſelbſt erkenne; dies könne auch bei Leuten, die noch gern 
etwas beibehalten möchten, zu einem Kampfe werden, 
dem beſchriebenen ahnlich; aber bei den einfältigen See— 
len, die es kindlich angriffen, würde es zu einer großen 
Seligkeit, wenn ſie ſich gleich darein ergäben, in den 


339.129 82 


| Spiegel hineinzuſehen, der ihnen vorgehalten werde. 


Späterhin hat er ſich über dieſen Gegenſtand fo er— 


klärt: „Der ſogenannte Bußkampf kann nichts anders 


ſein, als eine geiſtliche Kolvulſion, die manchmal aus 
dem Kontraſte des agirenden Verderbens und des Ge— 
ſundwerdenwollens des Patienten, oder aber aus der 
Repräſentation der geſetzlichen Pflichten und der Zähig— 


keit der denenſelben widerſtreitenden Neigung entſtehet. 


Da läugne ich nun keinesweges die Exiſtenz ſowohl 
des einen als des andern Bußkampfs, aber wie es 
einestheils unſtreitig beſſer iſt, die Zähne brechen durch, 


wenn's auch vermittelſt des Stäupchens geſchähe, als 


daß das Kind über dem Zahnen durch die Inaktion der 
Natur krepire, anderntheils kein Medikus in der Welt 
noch ſo methodisch geweſen iſt, den Kindern zu verbie— 
ten, daß ſie außer der Ordnung des Stäupchens zah— 
nen, ſo wäre es wohl beklagenswürdig, wenn die Theo— 
logi ſo unbarmherzig ſein, und die Seelen, die ohne 
dergleichen geiſtliche Konvulſionen aus dem Geiſte ge— 
boren und dem Hirten in ſeine Arme geliefert worden 
wären, dem Wolfe zuſprechen wollten, weil ſich Mutter 
und Kind nicht nach ihrem tropo paedagogias gerichtet. 
Ich weiß alſo, daß die geiſtliche Zeugung nicht ohne 
Empfindlichkeit geſchehen: daß ich aber den gradum der 
Schmerzen determiniren, oder den Bußkampf, wie er 
von den geiſtlichen Hebammen getrieben wird, und eher 
ein tauſend Abortus, als eine wohlgeſtalte Geburt her— 
ausbringt, rekommandiren ſollte, dazu würde mich kaum 


Biographiſche Denkmale. V. 9 


—29 130 3% 


die augsburgiſche Konfeſſion perſuadiren können, wenn. 
ſie es ſagte, vielweniger aber werde ich's den Theolo— 
gis glauben, da ſie es nicht ſagt. Ich halte alſo alle 
Geburtsarbeit, dazu man die Seelen anſtrenget, nicht 
nur zur Geburt aus dem Geiſte unnöthig, ſondern auch 
ſchädlich. Giebt es ein dergleichen ſchmerzhaftes Ge— 
bären, nach der verſchiedenen Eigenart des Subjekts, 
von ſelbſt, ſo wird es auch ſelbſt bis zur Ausgeburt 
ſouteniren, und Menſchen könnten dabei aufs höchſte 
nichts thun, als dergleichen Motus möglichſt moderiren.“ 
An einem andern Orte ſagt er: „Die Leute wollen, 
daß eine Seele, die zum erſtenmal um den Heiland 
weinet, noch etliche Wochen, Monate oder Jahre auf— 
gehalten werden, den und jenen Prozeß durchpaſſiren, 
darnach abſolvirt werden, und dann in einer Ordnung, 
die wieder ihre Aphorismen hat, ein Heiliges werden 
muß. In meiner Idee iſt das ein Heiliges, das zu 
den Füßen des Heilands um Gnade weint; — das iſt 
ein ſolcher geheimnißvoller Moment der Freiheit, da 
man mit Liebesthränen zu thun hat, die uns keine Freude 
wehren. — Alle die ſcholaſtiſchen Geſchwätze haben dieſe 
Ideen in meinem Herzen nicht ausgelöſcht.“ Solche 
Anſichten gaben hinlänglichen Grund, ihm die Kindſchaft 
Gottes abzuſprechen; er mache den Leuten, hieß es, das 
Chriſtenthum allzu leicht, und ſie dadurch des wahren 
Heils, das nur durch Anſtrengung errungen werde, ver— 
luſtig. Auch mißfiel ſeine wenige Abgeſchloſſenheit, ſein 
thätiges und freudiges Weltwirken, das ſeiner Fröm— 


— 8 131 ao 


migkeit unaufhörlich zur Seite blieb. Die Pietiſten 


verwarfen ihn bald völlig, und einige Gottesgelehrte 
aus ihrer Mitte erhoben ihm heftige Streitigkeiten, 
worin dieſe Gegenſtände, zum Theil öffentlich, mit Bit— 
terkeit durchgefochten wurden. Zinzendorf ſah nun mit 
Schaudern in dieſe Finſterniß hinab, und trat bald als 
entſchiedener Widerſacher derſelben auf. Er warf den 
Pietiſten, außer der Uebertreibung des Bußkampfs, ihren 
unnatürlichen Zwang zum Gebet und Bibelleſen, ihre 
thörichtängſtliche Enthaltung von den ſogenannten Mit- 
teldingen, und ihr zur Unwiſſenheit und Heuchelei füh— 
rendes Formenthum vor, ja er dichtete in der Aufre— 
gung, die ſein Gemüth durch den weiteren häßlichen 
Verlauf dieſer Sachen erfuhr, 3 denkwürdige 
Liederzeilen: 
4 „Ein einzig Volk auf Erden 
Will mir anſtößig werden, 
Und iſt mir ärgerlich; 
Die miſerabeln Chriſten, 
Die kein Menſch Pietiſten 
Betitelt, als fie ſelber ſich.““ 
Solcher Zornausdruck iſt auch den frömmſten Gemüthern 
eigen, und bei Zinzendorf um ſo weniger zu verwun— 
dern, als es für ihn ſelbſt hier in der beiligften Sache 
die bitterſte Enttäuſchung galt. Daß ihn aber auch 
wahrhaft gottesfürchtige Leute verkannten und verur— 
theilten, das gereichte ihm zu tiefem Leid, welches er 
mit gedrücktem Herzen trug. 

9 * 


5 132 K 


Doch kam einer der heftigſten Angriffe, die er um 
dieſe Zeit erfuhr, nicht von dieſer proteſtantiſchen Seite 
her. Ein Jeſuit in Schleſien, Pater Regent, der da— 
ſelbſt als Miſſionar die Schwenkfelder zu bekehren 
ſuchte, voll Verdruß, daß ihm ſeine Bemühungen durch 
Zinzendorf's Einfluß, wie er glaubte, bei dieſen Leuten 
mißlangen, gab eine Druckſchrift heraus, welche den 
Titel führte: „Nachricht von einer in der Oberlauſitz 
und Schleſien einreißenden neuen Sekte.“ Der Graf 
ſelbſt antwortete gar nicht darauf, allein Schwedler, 
Schäfer und Rothe, welche gleichfalls namentlich ange— 
griffen waren, führten ihre und Herrnhuts Vertheidi— 
gung, doch ohne namentlich des Grafen, der es nicht 
wollte, zu erwähnen. Inzwiſchen machte jene Streit- 
ſchrift, an die ſich andre knüpften, hin und wieder nach— 
theiligen Eindruck, und konnte beſonders wegen einiger 
politiſchen Hindeutungen, welche tückiſch darein verfloch— 
ten waren, ſchlimme Folgen haben. Zinzendorf wußte 
dieſen dadurch zu begegnen, daß er ſogleich an die 
oberſte Behörde ging, wohin dem Manne ſeines Stan— 
des jeder Weg offen ſtand. Er ließ durch ſeinen Agen— 
ten in Wien dem Kaiſerlichen Beichtvater, Pater Tönne— 
mann, dem ſein Amt weitgreifenden Einfluß gab, das 
Verhältniß vorſtellen, und dieſer umſichtige Mann er— 
klärte ſich ſo billig und ordnete alles zu ſolchem Glimpf, 
daß von dieſer Seite kein Nachtheil erfolgte. Schon 
früher hatte Zinzendorf bei dem Kaiſerlichen Beicht- 
vater ſich für einige proteſtantiſche Prediger verwendet, 


3m 133 Bo 


die in Schleſien wegen ihres hervortretenden frommen 
Eifers als Pietiſten verſchrieen und als angebliche 


Neuerer verfolgt wurden; unter ihnen befand ſich der 


DD JÄBj n ůòr.;..ʃd.ʃꝛʃ:ʃ ͤ;öxß ͤ Ü—mʃg ⅛——ͤ— nne 


Paſtor Steinmetz in Teſchen, welchen der Graf per— 
ſönlich kannte. Auch an den Kaiſer ſelbſt hatte er ſchon 
deßhalb ein Schreiben gerichtet, das aber, weil die 
Sache ſchon zu weit war, nicht abgegeben wurde. 
Tönnemann ſeinerſeits konnte nicht mehr hindern, daß 
Steinmetz ſein Amt verlor, indeß verſprach er dem 
Grafen in freundlicher Antwort, daß er alles beitragen 
wolle, um das gute Vernehmen zwiſchen Katholiken 
und Proteſtanten aufrecht zu erhalten. In der That 
bewirkte er, als Zinzendorf's dringende Empfehlung 
ſväterhin bei dem Markgrafen von Baireuth eine Su— 
perintendentenſtelle in Neuſtadt an der Aiſch für Stem- 
metz eröffnete, dieſem die zur Annahme derſelben nö— 
thige Kaiſerliche Vergünſtigung. Nach einigen Jahren 
wurde Steinmetz von dem Könige von Preußen zum 
Abt nach Kloſter Bergen berufen, wo ſein redliches 
Wirken Höchft fruchtreich und nach Verdienſt berühmt 
geworden. Zinzendorf's vornehme Fürſprache wurde 
gleicherweiſe einem andern Geiſtlichen erſprießlich, der 
in Preußen im Gefängniß lag. Ein Prediger Tucht— 
feld, aus dem Kreiſe der Pietiſten zu Halle ausgehend, 
tadelte die geſammte Kircheneinrichtung, wollte die Lehr— 
vorträge weder den Geiſtlichen vorbehalten noch auf die 
Kanzeln beſchränkt wiſſen, widerſprach den halliſchen 
Gottesgelehrten in der Kirche öffentlich, und predigte 


ſelber umherziehend auf Marktplätzen, Kirchhöfen, im 
Walde und auf offnem Feld; wegen der Unordnungen, 
die daraus entſtanden, war er zuletzt in Berlin ver- 
haftet worden. Zinzendorf, der doch Gutes in dem 
Manne ſah, richtete eine Fürbitte geradezu an den Kö— 
nig, und Friedrich Wilhelm der Erſte gewährte ſie in 
Gnaden, Tuchtfeld wurde aus ſeinem harten Gefäng— 
niſſe zuerſt in ein milderes gebracht, und bald völlig 
freigelaſſen. Günſtig für Zinzendorf war in Berlin 
der Oberhofprediger Jablonski geſtimmt, welcher großes 
Vertrauen beim Könige genoß; er war ein Enkel des 
berühmten Brüderbiſchofs Amos Comenius und führte 
ſelbſt das Biſchofsamt über die Brüder in Polen. Mit 
ihm hatte ſich Zinzendorf in Briefwechſel geſetzt, ihm 
Nachricht von ſeinen Unternehmungen gegeben, und 
Rath von ihm begehrt. Derſelbe antwortete, es käme 
ihm vor, als ſähe er die uralte apoſtoliſche Lebensart 
der erſten Chriſten wieder neu aufleben, und das in 
der That erſcheinen, was man bisher etwa nur, gleich 
der Platoniſchen Republik, als einen frommen Wunſch 
habe anſehn wollen. Der Beifall und die Freude, 
welche Jablonski dem Grafen bezeigte waren für die— 
ſen eine große Stärkung, und gaben ſeiner Sache auch 
in weltlicher Beziehung hinwieder ein bedeutendes Ge— 
wicht. 5 2 

Abermalige Ausflüge nach Ebersdorf, Saalfeld und 
Jena waren theils Folge der ſchon geknüpften Verbin⸗ 
dungen, theils Anlaß zu nennen. Niemand wußte, fo 


— 88 135 Bo 


wie der Graf, feine Beſchäftigungen und Thätigkeiten 
zu vervielfachen, immer neue Gegenſtände zu den vor— 
handenen ſo förderlich zu geſellen, und alles, Neues 
wie Altes, ſo gemeinſam zu erwärmen und zu nähren. 
Seine Reiſen erhielten ein neues Ziel durch wieder— 
holte Einladung von Seiten des Grafen von Wittgen— 
ſtein- Berleburg, der durch feinen Oberhofmeiſter von 
Kalkreuth über Herrnhut, wo derſelbe zum Beſuch ge— 
weſen, viel Gutes gehört hatte. Zinzendorf traf im 
Laufe des Septembers 1730 zu Berleburg und Schwar— 
zenau ein, wo er viele, jedoch durch Meinungen von 
einander getrennte Fromme fand, die er zu vereinigen 


ſuchte. Ein Kanzleirath Dippel, bekannt als Schrift— 


ſteller, der die Religionswahrheiten mit den Waffen, 
welche man ſonſt gegen ſie anzuwenden pflegt, mit 
Spott und Laune vertheidigte, gewann anfangs den 
Beifall des Grafen, der von einer Schrift deſſelben 


ſagte; fie ſei fere divina, und jener ſchien auch ſeiner— 


ſeits in den Geiſt Herrnhuts einzugehn. Als jedoch 
der Helfer Martin Dober nach Berleburg kam, und 
näher in Dippel eindrang, entdeckte ſich bald, daß die— 
ſer in einer Hauptſache, in der Lehre vom Verdienſte 
Chriſti, ſehr abweichende Meinungen hatte, und da er 
nach mancherlei Rührungen ſich doch wieder verſtockte, 
ſo brach Zinzendorf zuletzt völlig mit ihm. Im übrigen 
hatte des Grafen Bemühen guten Fortgang; Bekehrte 
und Unbekehrte, unter dieſen auch Juden und Jüdinnen, 
ließen ſich von ihm erweichen, verſprachen ihre Herzen 


25 136 G8 


dem Heilande, und ſchloſſen ſowohl in Berleburg als 
in Schwarzenau, mit Zuthun des Grafen von Witt— 
genſtein und einiger erweckten Pfarrer, eine Verbindung 
der Seelen, die durch eigne Statuten befeſtigt wurde. 
Im Aſenburgiſchen gab es Gemeinden ſogenannter In— 
ſpirirten, welche Zinzendorf'en einluden, auf ſeiner Rück— 
reiſe ſie zu beſuchen. Ein Sattler in Büdingen, na— 
mens Friedrich Rock, war durch ſeine Inſpirationen oder 
göttliche Ausſprachen, wie man es nannte, in dieſen 
Gemeinden beſonders ausgezeichnet; ſein Handwerk ver— 
mochte den Trieb zu geiſtlichen Dingen, von denen er 
auch, da ſein Vater und Großvater Prediger geweſen, 
einige Ueberlieferungen hatte, nicht zu hemmen. Seine 
ächte Frömmigkeit, ſein geſetztes und beſcheidenes We— 
ſen, ohne Härte, ohne Rechthaberei, und dabei ſeine 
große Erfahrung in Gemeindeſachen und Seelenfüh— 
rungen, machten den angenehmſten Eindruck auf den 
Grafen, der ſich in große Vertraulichkeit mit ihm ein— 
ließ, und gleich Andern von ihm du genannt ſein wollte, 
wie er überhaupt ſich nicht gern gnädiger Herr nennen 
hörte, Rock und ſeine Anhänger wollten gern ein nä— 
heres Verhältniß mit Herrnhut knüpfen, und der Geiſt 
gebot es ihnen durch eine Inſpiration, welche Rock in 
Gegenwart ſeiner Freunde und Zinzendorf's hatte; der 
ruhige, verſtändige Mann erfuhr plötzlich eine allge— 
meine Erſchütterung, ſeine Augen blickten verzerrt, und 
alsbald gerieth ſein Kopf in die heftigſte Bewegung, 
indem derſelbe mit außerordentlicher Geſchwindigkeit 


f 


J 


5 137 2 


| rechts und links fih nach dem Rücken hindrehte; die 


kurzen Redensarten, die er in dieſem Zuſtande weiſſa— 
gend hören ließ, galten als das lebendige Wort Gottes 


ſelbſt, und wurden ſorgfältig aufgefaßt, bewahrt und 


| angewandt. Dieſer Anblick war Zinzendorf'en erſchreck— 
lich; derſelbe Mann, der in ſeinem gewöhnlichen Weſen 


ihm als ein wahres Kind Gottes ungemein lieb und 


vertraut war, erregte ſeinen ganzen Widerwillen, ſo— 


— 4 ͤ ö — 


bald er auf ſolche Art weiſſagte. Daraus entſtand in 
des Grafen Gemüth ein feindlicher Zwieſpalt, der ſich 
nicht ausgleichen ließ. Die Verbindung mit Herrnhut 
unterblieb, doch beſtand noch längere Zeit ein naher 
Verkehr, und Zinzendorf bekannte ſpäter, daß er Rock'en 
einige Jahre lang geehrt, geliebt und bewundert habe, 
ja daß, nach gänzlicher Entzweiung, die zuletzt durch 
Rock's unbedingte, vom Geiſt in ihm ausgeſprochene 
grobe Verwerfung der Taufe und des Abendmahls 
zum Ausbruch gekommen, er dennoch nicht aufgehört 
habe, den Mann zu bewundern. Wir aber müſſen Zin— 
zendorf's tiefen und feinen Sinn anerkennen, der in 
allen Geſtaltungen der Frömmigkeit das zum Grunde 
liegende Wahre und Gute liebevoll umfaßte und um 
deßwillen auch manches Abweichende nachſichtig walten 
ließ, bei allem Hange jedoch, der auch ihn dem Aben- 
theuerlichen und Ausſchweifenden mit Wärme zuwandte, 
und oft geraume Zeit in deſſen bedenklichſten Einflüſſen 
hielt, niemals in ihnen befangen wurde, ſondern über 
jeden Abweg immer nur wieder zu dem wahren Ziel 


> 138 3 


gelangte. Die Art, wie er ſich der verirrten Seelen, 
welche einſeitigen, doch ihrem Urſprunge nach nicht fal— 
ſchen Religionstrieben gefolgt waren, liebreich und her— 
ablaſſend annahm, fiel aber um ſo mehr auf, als in 
jener Zeit die proteſtantiſchen Geiſtlichen gewöhnlich 
ſehr ſtreng und hart in ihren Zurechtweiſungen zu ſein 
pflegten, und es konnte nicht fehlen, daß ihm ſeine Hin— 
neigung zu dergleichen Menſchen, wie Rock, und ſein 
herzliches Benehmen mit ihnen, von allen Seiten ſehr 
übel gedeutet wurde, und zu vielen mehr oder minder 
öffentlichen Beſchuldigungen Anlaß gab. Gegen die 
der Werkheiligkeit, als wolle er die Seligkeit, anſtatt 
durch das Verdienſt des Heilandes, durch ſein eignes 
erwerben, vertheidigte ihn der Helfer Martin Dober 
in einem nachher gedruckten Schreiben, worin er ver— 
ſicherte, der Graf achte alle Vorzüge eines unſträf— 
lichen Wandels, alle Einſicht und Gelehrſamkeit, gegen 
die überſchwengliche Erkenntniß Jeſu Chriſti für nichts. 
Die Rückreiſe machte er größtentheils zu Fuß, in— 
dem er den Wagen leer nachfahren ließ. Unterwegs, 
in Ebersdorf und andern Orten, wo er verweilte, und 
oft nur mit Mühe ſich losreißen konnte, wirkte er nach 
gewohnter Weiſe im Dienſte des Heilandes, beſprach 
ſich mit Frommen, erweckte und beſtärkte gute Geſin— 
nungen, und kam ſo, ohne ſeine Thätigkeit unterbrochen 
zu haben, am 15. Oktober 1730 wieder in Herrnhut 
an. Hier war alles in gewohntem Gange. Die An- 
dachten und Erbauungsweiſen wurden noch vermehrt 


—:>9 139 93 


durch tägliche Unterredungen, die er, ſowohl in feinem 
Hauſe als in der Gemeinde, für alle Bedenken, Zwei— 
fel, und was ſonſt Herz und Sinn drücken möchte, er— 
öffnete, und wobei jeder ſagen durfte, oder auch gefragt 
wurde, wie es mit ſeinem Herzen ſei, und ob er gegen 
einen Bruder etwas habe, oder in einer Sache Erläu— 
terung wünſche. Ueber die Schriften der Frau von 
Guion, die hin und wieder Eingang gefunden hatten, 
hielt er kurze Vorträge, Viertelſtunden genannt, welche 
jenen Myſtizismus mehr zu befeitigen, als zu fördern 
geeignet waren. Es wurde feſtgeſetzt, jeden Monat 
gemeinſchaftlich das Abendmahl zu nehmen. Der Ein- 
richtung der Chöre, welche zu beſondern Erbauungen 
vereinigt waren, ſchloſſen ſich noch eigne Chorliebes- 
mahle an, bei welchen Perſon für Perſon nach ihrem 
| Seelenzuftande gefragt, und demſelben gemäß einer be— 
ſtimmten Klaſſe des Chors zugetheilt wurde. Ferner 
wurde eine ſonntägliche Verſammlung der unmündigen 
Kinder veranſtaltet, die ſich ſchon auf dem Arm der 
Waärterinnen gewöhnen ſollten, den Geſang und das 
Gebet anzuhören; auch dieſe Kinder mußten dem Gra— 

fen einzeln vorgezeigt, und ihm über ſie Bericht gege— 

ben werden. In den vielfachſten Gliederungen ſo ge— 

trennt und vereint, überall bewacht und geleitet, immer 

beſchäftigt und angeregt, war die Gemeinde ſich ſelber 
das Werkzeug ihrer thätigſten Förderung. Aber Zin— 

zendorf und ſeine perſönliche Leitung waren überall in 

dieſer Ordnung ndch beſonders gegenwärtig. In der 


35m 140 2a 


Gemeindezucht übte er große Strenge, hauptſächlich ge- 
gen diejenigen Brüder und Schweſtern, die irgend ein 
Amt hatten, oder ihm vorzüglich lieb waren; doch war 
neben ſeiner Strenge die liebreichſte Milde ſtets bereit, 
den Sünder zu tröſten, mit ihm zu weinen, ihm neue 
Hoffnung einzuflößen; auch beurtheilte er grobe äußer⸗ 
liche Vergehen und ſolche, die im Gemüthe wurzeln, 
ſehr verſchieden, und ahndete z. B. Geſchlechtsſünden 
weniger ſcharf, als Hochmuth, Gehäſſigkeit, oder Neid, 
gegen die er, nach Spangenberg's Ausdruck, wie ein 
Löwe losfuhr. Eben ſo eifrig nahm er ſich der Kran— 
ken an, deren Genefung ihm von der Seele her um ſo 
ſicherer anfangen zu müſſen ſchien, als er überzeugt 
war, daß alle Krankheiten, einige durch geringere Uebel 
abgerechnet, gegen welche durch Pflege und Schonung 
ebenſoviel und mehr, als durch Arzneimittel, ausgerich— 
tet würde, ihre beſondre Abſicht hätten, und der Hei— 
land fie als Botſchaften ſende, deren Sinn man zu er⸗ 
forſchen und zu beachten habe; ſobald man aber dieſe | 
Urſache mit Innigkeit erkenne, und nicht etwa ein Ab- 
ruf aus der Zeit damit gemeint ſei, ſo dürfe man auch 
zu geneſen hoffen. Manche Wunderkuren, die ſich in 
Herrnhut um dieſe Zeit ereigneten, daß Kranke durch 
ein Glaubenswort, oder durch das Gebet eines Andern, 
von gefährlichen Schäden oder ſchweren Krankheiten 
auf der Stelle befreit wurden, konnte und durfte Zin— 
zendorf nicht in Zweifel ſtellen, ihm ſelbſt war ein ſol— 
ches Gebet für Martin Dober, det beiuah ſchon im 


5 1 a 
Verſcheiden lag, einft wunderbar erhört worden; er 
läugnete dieſe Kraft des Glaubens nicht, ſondern freute 


ſich vielmehr ihrer Aeußerung. Inzwiſchen hielt ſeine 
ächte Frömmigkeit, die ſtets auf ihren innerſten Kern 
zurückging, und aus höherem Stoffe auch die gerin— 
geren Werke der Klugheit leiſtete, ihn von den gefähr— 


lichen Lockungen des Wahns und der Einbildung, die 
in ſolcher Richtung liegen, treulich bewahrt. Er meinte, 
von dergleichen Ereigniſſen dürfe man nicht viel reden; 
auch ſeien die Wunder nicht um der Gläubigen willen, 
ſondern wegen der Ungläubigen; wer die Gabe des 


Wunderglaubens habe, ſei darum kein beſſeres Kind 


Gottes, ſondern vielleicht gar ſchlechter, als Andre, die 
ſolche Gabe nicht beſäßen, noch ſelbſt erſtrebten. In 
dieſem ſichern, wohlzeitigen Einlenken und Innehalten, 
bei ſo kühnem und leichtbeweglichem Vorſchreiten finden 
wir Zinzendorf's hohen Werth ächt bethätigt, und die 
Reinheit ſeiner Antriebe ſchön verbürgt. 

Merkwürdig aber iſt es, daß grade jetzt, da Herrn— 
hut in Einigkeit zu gedeihen ſchien, und im Innern kei— 
nen Widerſpruch kund gab, Zinzendorf ſelbſt das Eigen— 
beſtehn ſeines ganzen Werks durch Aufwerfung der be— 
denklichſten Frage gefährdete, die er kurz vorher mit 
allem Ernſt und Eifer glücklich beſeitigt hatte. Die 
Sache verhielt ſich folgendergeſtalt. Der Ruf des 
neuen Gemeindeweſens und der ſegenreichen Frömmig— 
keit in Herrnhut zog eine Menge von Beſuchen dahin; 


Vornehme und Geringe wollten an den Gnadenwirkun— 


2% 9 142 ee 


gen Theil haben, Andre wenigſtens die Anſtalten ken— 
nen lernen, Manchen war es auch nur um Befriedi— 
gung der Neugier zu thun. Da ergab ſich denn, daß 
die Urtheile nicht nur vieler weltlichgeſinnten Leute, 
ſondern auch mancher durch ihre Geſinnungen und Ein— 
ſichten wie durch ihren Wandel ehrwürdiger Perſonen, 
welche der Graf als ächte Kinder Gottes erkennen 
mußte, für Herrnhut ſehr ungünſtig ausfielen, und be— 
ſonders die Verfaſſung und Zucht der Brüderkirche, im 
Gegenſatze der Lutheriſchen, hart getadelt wurden. Man 
ſah darin ein unſichres, ſchwankendes Beginnen, das 
einen Boden erſt erwerben wolle, der ſchon längſt all— 
gemein und feſt vorhanden ſei, und grade durch ſolche 
Unternehmung nur geſchmälert werde. Dergleichen 
Mißvergnügen von bedeutenden Stimmen ausgeſprochen 
und oft mit wohlmeinender Warnung begleitet, wirkte 
nun auf den Grafen ein, er gab ſich allerlei Zweifeln 
hin, und entſchloß ſich bald, den Aelteſten und Helfern 
die Sache vorzutragen. Mit ihrer Zuſtimmung brachte 
er am 7. Januar 1731 in einem Gemeinderath die 
Frage vor, ob man nicht, um alles Aufſehen, Anſtoß 
und Hinderniß der Vereinigung mit andern Kindern 
Gottes in der Lutheriſchen Kirche zu heben, ſich da— 
durch allgemeiner zu machen, und mehr Nutzen zu 
ſchaffen, die Brüderverfaſſung fahren laſſen und ſich 
lediglich ohne Unterſcheidung unter die Lutheriſche Ver— 
faſſung begeben ſollte? Er bemerkte, daß jetzt nicht, 
wie früher, Beſorgniß wegen Verfolgungen und andre 


1 


> 143 & 


| Weltrückſicht, fondern nur das Beſte der Gottesſache 
ſelbſt den Vorſchlag begründe. Allein dieſer, ehmals 


in der Gemeinde ſelbſt ſo eifrig betrieben, fand nun— 


— — m — 
— — — — 


mehr in ihr den ſtärkſten Widerſpruch. Die allermeiſten 


Stimmen waren für die Beibehaltung einer dreihun— 
dertjahrigen, trotz grauſamer Verfolgungen ſegenreich 
beſtandenen Ordnung, die in der proteſtantiſchen Kirche 
als ein wahres Kleinod zu betrachten ſei, welches ſie 
den Nachkommen treu überliefern müßten; ihre Ein— 
richtungen ſeien dem Worte Gottes gemäß, ſo lange 
ſie dies wären, dürften ſie nicht verlaſſen werden, und 
böten grade ſie jedem frommen Verlangen die offne 
Vereinigungsſtätte dar, die man ihnen jetzt anmuthe 
anderswo zu ſuchen. Zinzendorf beharrte indeß noch 
bei ſeinem Vorſchlag, und ſuchte denſelben mit manchen 
Gründen zu unterſtützen. Da man aber auf dieſem 
Wege zu keinem Ergebniß gelangen konnte, ſo ver— 
einigte man ſich dahin, mit kindlicher Hingebung in den 
Willen des Heilands, das Loos entſcheiden zu laſſen. 
Zwei Stellen aus der Bibel wurden demnach als Looſe 
aufgeſetzt; die eine, aus der erſten Epiſtel an die Ko— 
rinther genommen, hieß: „Denen, die ohne Geſetz ſind, 


werdet ohne Geſetz, ſo ihr doch nicht ohne Geſetz ſeid 


vor Gott, ſondern ſeid in dem Geſetz Chriſti, daß ihr 


die, die ohne Geſetz ſind, gewinnet;“ die andre Stelle 
war aus der zweiten Epiſtel an die Theſſalonicher: 


„Stehet nun, lieben Brüder! und haltet ob den Satzun— 
gen, die ihr gelehret ſeid.“ Man hielt inniges Gebet, 


22 144 8 


um des Heilands Entſcheidung zu erflehen, und Zin⸗ 
zendorf's noch nicht vierjähriger Sohn zog hierauf das 
Loos; es erſchien das letztere, wodurch, nach der Ab⸗ 
rede, die Brüderverfaſſung beſtätigt wurde. Dieſe Ent— 
ſcheidung ſchlug jeden Zweifel nieder, der Bund wurde 
nun um ſo kräftiger aufgerichtet, und Zinzendorf hielt 
in dieſem Sinn eine feurige Rede, die mit der für den 
folgenden Tag beſtimmten Looſung aus dem ſechsund— 
vierzigſten Pſalme ſchloß: „Jeruſalem, Jeruſalem wird 
dennoch bleiben.“ Hiemit war der Zerſtörungskeim, 
der ſich über Herrnhut aus deſſen eignem Innern ent⸗ 
falten konnte, auf dem höchſten Punkte, den er zu er— 
reichen vermochte, für immer ausgelöſcht. Daß der 
Stifter ſelbſt zur Vernichtung ſeines Werkes rieth, war 
eine Gefahr und Prüfung, die beſtanden zu haben ihm 
ſelber vielleicht ein nothwendiges Bedürfniß war. Wie 

ſonderbar und auffallend auch Zinzendorf hiebei er— 

ſcheinen mag, der ſein früher mit beharrlichem Muthe | 
gegen inneren Feind vertheidigtes Unternehmen jetzt, 
da es keinen ſolchen Feind mehr hegt, ſelber angreift 
und endlich das Ganze auf die Spitze eines unzube⸗ 

rechnenden Zufalls ſetzt, ſo können wir doch ſein Ver⸗ 
fahren nicht grade aus Schwäche und Wankelmuth her— 

leiten, einem ſolchen Vorwurfe, ſofern er Weſentliches 

berühren ſollte, widerſpricht ſein ganzes Leben; aber 

keine Geſtaltung, wie beſeelt und wie lieb und theuer 
ſie auch erſcheinen mochte, konnte ihn ganz beruhigen, 

das Leben der Frömmigkeit hielt ſich ihm, wie jedes 


y 


Hm 145 ao 


andre Leben, nur in täglich von Grund auf erneuter 


Frag- und Kampfſtellung friſch, höchſte Ruhe und 


Sicherheit war ihm nur in dem Heiland; durch das 
Loos aber dieſem die Entſcheidung anheimgeben, hieß 
in ſeinem Sinne nicht den Zufall, ſondern die höchſte 
Einſicht fragen. . 

Von Zinzendorf's perſönlichem Benehmen ſind hier 


| noch einige Züge anzuführen. Seine Geduld und Milde 
in allem Widerwärtigen, das nur den Menſchen, nicht 


eine höhere Angelegenheit betraf, war muſterhaft. Der 
Magiſtrat einer benachbarten Stadt ließ die Brüder, 
welche ſein Gebiet zu geiſtlichem Beſuch oder auch ſelbſt 
in bürgerlichem Geſchäft betraten, ins Gefängniß wer— 
fen und ſonſt hart behandeln; auch die erweckten From⸗ 
men, welche in jenem Gebiete wohnten, hatten viel Un— 
gemach zu dulden, und wurden geſtraft, wenn ſie ihre 


gemeinſamen Erbauungen hielten. Zinzendorf hätte 


durch ſein weltliches Anſehn dieſe Behandlung leicht 
abwehren können, allein er mahnte zur Geduld, und 
ſchloß vielmehr in der Gemeinde Gebet nebſt den ge— 
fangenen Brüdern auch jenen Magiſtrat liebevoll ein, 
gegen welchen klagbar zu werden er den Gekränkten 
auch dann noch abrieth, als nach längerer Zeit eine 
landesherrliche Unterſuchung, wegen andrer Beſchwer— 
den eingeleitet, auch dieſen das günſtigſte Gehör ver— 
ſprach. Dieſes edle Beiſpiel chriſtlicher Vergebung 
verfehlte ſeine Wirkung nicht, die Gegner ſchämten ſich, 


und die Verfolgten blieben lange Zeit unangefochten. 


Biographiſche Denkmale. V. 10 


sm 146 Bi 


Auch in der perſönlichſten Berührung behauptete er 
dieſen Sinn. So berichtet er, in ſeinem Tagebuch aus 
dieſer Zeit, ein ihm ſonſt werther, aber damals miß— 
trauiſch und feindlich geſtimmter Mann habe ihm einen 
ganzen Tag hindurch unter dem Namen von Fragen 
und Bedenklichkeiten die allerhärteſten und unglaublich— 
ſten Injurien geſagt, der Herr Jeſus aber Gnade ge— 
geben, daß ſie durch Geduld und Gelaſſenheit alle 
prompt gehoben worden. Zweien auswärtigen Män— 
nern, die über das Verhältniß des Grafen zu den 
Schweſterchören grobe Verläumdungen in die Welt ge— 
ſandt hatten, darauf ihr Unrecht einſahen, und in großer 
Gewiſſensangſt ihre bittre Reue in Herrnhut kund ga— 
ben, bezeigte er, was ſie ſelber nie hoffen zu dürfen 
meinten, ſeine herzliche Vergebung und Liebe, und 
wandte alles an, ſie in ihrem untröſtlichen Leide zu 
beruhigen. Von ſeiner Gewalt über die Menſchen und 
ſeiner lebendigen Beziehung mit ihnen können folgende 
Beiſpiele Zeugniß geben. Ein Bruder aus Mähren, 
der in Herrnhut anfangs in vieler Gnade gelebt, aber 
durch Unfrieden in düſtre Verſtockung gerathen war, 
beſchloß den Ort zu verlaſſen und nach Mähren zu— 
rückzukehren. In der Nacht aber, die er zur heimlichen 
Ausführung ſeines Vorhabens auserſehn, wurde er dem 
Grafen, dem er ſchon dreiviertel Jahre ſchweigend im 
Sinne gelegen, durch wunderbaren Zug der Einbildung 
beſonders gegenwärtig, dieſer ſuchte ihn trotz der nächt— 
lichen Weile ſogleich auf, und als er bei ihm eintrat, 


45 


5 147 2 


wollte derſelbe eben hinausgehen, um nie wiederzukeh— 


ren. Betroffen durch Zinzendorf's unerwarteten An- 


blick, konnte er der liebreichen Frage, wie es ihm gehe? 
nur antworten: „Nicht gut.“ Der Graf erwiederte: 


„Das höre ich nicht gern:“ und erweichte bald durch 


ſein herzliches Weiterreden ihn zu vielen Thränen. 
Tages darauf kam der Mann von ſelbſt, beichtete ſei— 


nen ganzen Zuſtand wie auch ſein gehegtes Vorhaben, 


ergab ſich dem Grafen mit neuem Vertrauen, folgte 


| demſelben zu der nächſten Abendmahlsfeier nach Bert— 


holdsdorf, und blieb ſeitdem zufrieden und fröhlich bis 
an feinen Tod im Schooße der Gemeinde. Eben fo 
bewog Zinzendorf einen ſeiner Schutzunterthanen, der 
gegen die Kindertaufe eifernd ſein Kind nicht wollte 


taufen laſſen, und deßhalb von Paſtor Rothe bei der 


Obrigkeit verklagt wurde, durch freundlichen Unterricht 
und herzlichen Zuſpruch, daß er ſich willig in den Kir— 


chengebrauch fügte, welchen der Graf ſich nicht berech— 


tigt hielt jemanden gegen ſeine Erkenntniß aufzudrin— 
gen. Ein andresmal verſetzte er eine Frau, welche 
krank und aufgeregt in religiöſem Triebe nach Herrnhut 
gekommen war, aber mehr Aufhebens mit ihren Klagen 
als Fortſchritte im Heil machte, und einen andern See— 
lenzuſtand vorgab, als ſie wirklich hatte, durch eine 
ftarfe Rede von der Heuchelei und ihrer Abſcheulichkeit 
in ſolche Erſchütterung, daß ſie ohnmächtig aus 

Saale getragen werden mußte, und ihre bisherige Be— 
trügerei darauf reuig eingeſtand. Zinzendorf hielt da— 

10 * 


5m 148 22 


für, daß ein Menſch, der ſich dem Heilande noch nicht 
ergeben, und dies nur aufrichtig bekenne, demſelben 
ſchon mehr gehöre, als ein andrer, der ſich zum Beten 
und Weinen anſtelle, und ſeinen wahren eee dar⸗ 
über verläugne. 

Schon längſt fühlte Zinzendorf in ſeiner n 
ten Lebensbahn einen Mangel, dem er ernſtlich abzu⸗ 
helfen beabſichtigte. Es war dies die Nichtübereinſtim⸗ 
mung ſeines äußeren weltlichen Standes mit ſeinem 
inneren geiſtlichen Beruf; um letzteren ganz zu erfüllen, 
mußte er wirklich ein Geiſtlicher werden, und förmlich 
dieſem Stande angehören, erſt dann konnte er feſten 
Schrittes auf nicht mehr ſchwankendem Boden auftre— 
ten, und Freunden und Gegnern eine genügende Hal— 
tung bieten. Den Studien nach durfte er längſt als 
ein Gottesgelehrter gelten, ſeine Thätigkeit umfaßte 
nicht minder das ganze Gebiet eines Predigers und 
Seelſorgers, es kam alſo nur wirklich auf Aneignung 
der äußeren Form und der damit verbundenen Berech— 
tigungen an. Seinen ererbten Standesvorzug und an— 
geſehenen Rang achtete Zinzendorf perſönlich für nichts, 
und er war ſtets bereit, ſie gegen äußerlich geringere, 
ihm aber dem Weſen nach erhabnere Verhältniſſe aug- 
zutauſchen. Auch konnte ihm hiebei das Beiſpiel des 
Fürſten Georg von Anhalt, der zur Zeit Luther's re= 
gierxender Fürſt und zugleich ordinirter evangeliſcher 
Prediger war, herrlich vorleuchten. Allein er glaubte 
in dieſer Beziehung den Vorurtheilen Andrer vielfache 


3 


b 149 84 


Rückſicht ſchuldig zu ſein, und wollte unnöthiges Auf— 
ſehn, oder gar Zwieſpalt und Aergerniß möglichſt mei— 
den. Hier kam es nun darauf an, einen ſchicklichen 
Uebergang, eine Art Mittelſtufe, zu gewinnen. Zuerſt 
mußte er ſein Verhältniß im ſächſiſchen Staatsdienſte, 
das nur noch locker beſtand, völlig auflöſen, und dazu 
ſchien die Annahme anderer Dienſtverhältniſſe, die ihn 
auf andrer Seite doch nicht bänden, ein ſchicklicher 
Schritt, für welchen der Hof von Kopenhagen der gün— 
ſtigſte Ort dünkte. Der Kronprinz von Dänemark 


hatte als König Chriſtian der Sechſte den däniſchen 


Thron jüngſt beſtiegen, und der gottfelige Sinn des 
frommen Fürſten bewährte ſich in jeder Art; dem gan- 
zen däniſchen Hauſe war Zinzendorf innig befreundet, 
und es fügte ſich ihm der Anlaß leicht, zur bevorſtehen— 
den Krönung des Königs nach Dänemark zu reiſen. 
Er wünſchte jedoch hiebei nicht ohne Wiſſen und Gut— 
finden der Gemeinde zu verfahren, trug ihr daher ſein 
Vorhaben im Allgemeinen vor, und erhielt ihre Zu— 
ſtimmung durch hunderachtunddreißig bejahende gegen 
vier verneinende und fünfzehn unentſchiedene Mitglie— 
der; er glaubte überdies von dem Heilande ſelbſt die 
Billigung der Reiſe zu vernehmen. So trat er denn 
mit Zuverſicht, wiewohl mit wehmüthigen Thränen we— 
gen der Trennung von der lieben Gemeinde, am 
25. April 1731 in Begleitung einiger Brüder ſeine 


Wanderung an. Die Reiſe ging ziemlich raſch, doch 
fand ſich noch immer Gelegenheit, hin und wieder 


an 150 EI 


Fromme zu befuchen und Erbauungen zu halten. In 
Kopenhagen war ihm die beſte Aufnahme bereitet, die 
Mutter der Königin, Markgräfin Sophia Chriſtiana 
von Brandenburg-Kulmbach, und viele andre Perfonen- 
am Hof und in hohen Staatsämtern, waren ſchon aus 
früherer Zeit ihm befreundet, andere wurden es gern 
bei ſo günſtigen Umſtänden; denn auch dieſe wirkten 
ein, und ihm entging nicht, daß die fromme Sinnesart 
des Königs, welche die Frommen gern hervorhob, zur 
Frömmigkeit auch die hartherzigen Leute heranzog, und 
ſelbſt die ganz herzloſen, welche eben ſo jeder andern 
Weiſe des Fürſten gehuldigt hätten. Indeß befanden 
ſich in der dortigen vornehmen Welt, und in der Kö— 
niglichen Familie ſelbſt, manche wahrhaft Erweckte, mit 
welchen Zinzendorf des liebreichſten Umganges genoß. 
Der König zeichnete ihn ſehr aus, und da er an ihm 
vorzügliche Gaben bemerkte und allgemein rühmen hörte, 
ſeinen Verſtand, ſein Betragen, ſeine Geſchicklichkeit, 
und dabei große Gradheit und Offenheit, ſo ließ er 
ihn unter der Hand befragen, ob er eine Stelle im 
Staatsminiſterium annehmen würde. Zinzendorf aber 
verbat eine ſo hohe Würde durchaus, und machte andre 
Vorſchläge zu ſeiner Anſtellung, die jedoch ſo beſchei— 
den waren, daß man an ihrem Ernſte zweifeln wollte, 
denn ihm war nur daran gelegen, ein Amt zu erlan— 
gen, das ihn dem Dienſte des Heilands nicht entzöge, 
und ihn auch nicht nothwendig in Dänemark feſthieltes 
Die Sache kam nicht zu Stande, indem einflußreiche 


3 151 Be 


Perſonen, und unter ihnen ſolche, die ihn öffentlich am 
ſtärkſten lobten, heimlich ihm entgegen wirkten, und ſein 
Bleiben in Dänemark nicht wünſchten. Der König lud 
ihn nach Friedrichsburg ein, um der Krönungsfeierlich— 
keit beizuwohnen, und verlieh ihm bei dieſer Gelegen— 
heit den Orden von Danebrog. Der Graf, von dieſer 
Abſicht im Voraus benachrichtigt, ſah in dieſer welt— 
lichen Ehre nur ein Hinderniß für den Dienſt des— 
Heilands, brachte die ganze Nacht vorher in Gebet und 
Thränen ſchlaflos zu, und war ſchon entſchloſſen den 
Orden nicht anzunehmen, was ihm jedoch die Mark— 
gräfin von Kulmbach, die ihn zu ſich rufen ließ, mit 
Erfolg ausredete; ebenſo nachher, als er ſich wegen 
dieſes Schmuckes ſehr unglücklich fühlte, und den Or— 
den zurückgeben wollte, vermochten ernſtliche Zureden 
doch, daß er ihn einſtweilen noch behielt. Der König 
zog ihn über manche Angelegenheiten zu Rath, und der 


Kronprinz, in der Folge als König Friedrich der Fünfte 


der Freund Bernſtorff's und der Beſchützer Klopſtock's, 
damals aber noch in zartem Alter, hörte wohlgefällig 
ſeine Reden von dem Heilande. Ungeachtet des großen 
Wirkungskreiſes, den er hier offen fand, mußte er ſich 
zuletzt geſtehen, daß auch ein frommer Hof, weil er 
doch immer ein Hof bleibe, ihn ſchwerlich befriedigen 
könne. Er ſchrieb hierüber an ſeine Gemahlin: „Wenn 
das Gute bei Hofe gefördert werden muß, ſo kann 


ich's nicht unternehmen. Denn es geht ſo viel edle 


Zeit oft auf die geringſte Kleinigkeit, daß man bei 


HR 152° 82 


Gott nicht verantworten kann, feine Stunden und W 
ſo ſehr zu mißbrauchen; | 

Mein Beruf heißt: Jeſu nach, 

Durch die Schmach; 

Durch's Gedräng von auß- und innen; 

Das Geraume zu gewinnen, 

Deſſen Pforten Jeſus brach.“ 
Mehr als Gunſt und Ehre beſchäftigte ihn bier die 
Bekehrung der armen Heiden in Grönland und im dä— 
niſchen Weſtindien, wozu die Anſtalten theils ſchon be— 
ſtanden, theils noch zu treffen waren. Die helden— 
müthige, mit unendlichen Drangſalen verbundene, und 
bei aller anſcheinenden Erfolgloſigkeit beharrlich fortge— 
ſetzte Unternehmung des däniſchen Predigers Hans Egede 
und deſſen Sohnes Paul, das Chriſtenthum unter den 
Grönländern zu verbreiten, regte ſeinen ganzen Eifer 
an, und er beſchloß, Paul Egede's jetzt eben bedrohtes 
Werk thätig zu unterſtützen. Am 1. Juli reiſte der 
Graf von Kopenhagen wieder ab, hatte auf beiden Bel 
ten während der Ueberfahrt heftigen Sturm zu beſte— 
hen, wobei die Looſung des Tages und ein gotterge— 
benes Lied ihm freudigen Muth erhielten, ſah in Schles— 
wig nochmals die Königliche Familie, von welcher er 
in herzlicher Liebe und in dankbarer Ergebenheit Ab— 
ſchied nahm, und feste darauf feinen Weg über Rends— 
burg und Hamburg fort. In Statthagen beſuchte er 
die verwittwete Gräfin Sophie zur Lippe, Stiefmutter 
des nachher berühmt gewordenen Grafen Wilhelm zur 


= 153 


Lippe, in Wolfenbüttel die verwittwete Herzogin, in 
Wernigerode die dortige gräfliche Familie; überall war 
er beſtens aufgenommen, und hielt Betſtunden und er— 
bauliche Unterredungen. In Halle, wo ihn auch Baum— 


| garten beſuchte, führte er ein wichtiges fünfſtündiges 


Geſpräch mit dem Profeſſor Francke, dem Sohne, er— 
richtete, wie er ſich ausdrückt, mit ihm ein Bündniß, 


Chriſti Reich auf den Grund der Einfalt mit aller 


Treue auszubreiten, und hielt nun die Scheidewand 


zwiſchen Halle und Herrnhut für weggenommen. Die 
Folge jedoch zeigte darin keinen Beſtand, indem Francke 


ſpäterhin mehrmals dem Grafen erklärte, wie er außer 


der allgemeinen Liebe mit ihm zu konnektiren nicht ge— 
meint ſei, worauf indeß Zinzendorf, von wärmerer 
Liebe beſeelt, edel erwiederte, ihm ſolle deßungeachtet 
Francke'ns Andenken noch werther ſein, als es die ge— 
nerale Chriſtenpflicht erfordern möchte. Am 21. Juli 


früh um 2 Uhr traf er in Herrnhut ein, wo er die 


ledigen Brüder zu ſeiner — noch im Gebet bei— 
ſammen fand. 

Die Reiſe, wiewohl in der Folge durch vielfache 
Beziehungen fruchtbar, war für jetzt ganz gegen die 
Abſicht ausgefallen; anſtatt minder drückende Verhält- 
niſſe vermittelſt des frommen Hofes zu gewinnen, ſah 
er durch denſelben die vorige Laſt nur mit neuem Ehren— 


glanze vermehrt, welcher nicht wenige Mißreden und 


Verläumdungen auch bei ſonſt wohlmeinenden verur— 
ſachte, und ihm ſelbſt manche Bekümmerniß gab. Um 


2 154 9 


fo freudiger fand er ſich wieder in dem geliebten Herrn- 
hut, wo ſeine Thätigkeit alsbald vielfach in Anſpruch 
genommen wurde. Das Gedeihen des Orts war ſicht— 
bar, der Verſammlungsſaal auf das Doppelte erwei- 
tert, fünf neue Häuſer im Bau; ſein eignes Hauswe⸗ 
fen war durch die Sorge der Gräfin, ungeachtet Miß⸗ 
wachs und die Unterkunft neuer Ankömmlinge manche 
Bedrängniß verurſachten, in gutem Stande; vierund⸗ 
ſiebenzig neue Auswanderer waren nämlich während 
feiner Abweſenheit aus Mähren eingetroffen, und hat 
ten Obdach und Nahrung empfangen. Der Graf lud 
dieſe Leute bald nach ſeiner Ankunft alle zu ſich zum 
Eſſen, und behandelte ſie ſehr liebevoll. Sie machten 
ihm jedoch große Sorge wegen des Lärms, der ſich 
ſtets erneute, als würden dieſe Auswanderungen von 
ihm angeſtiftet; ein Ermahnungsſchreiben, welches deß— 
falls an ihn aus Dresden erging, beantwortete er bün= | 
dig, indem er den Ungrund jenes Vorgebens darlegte; 
jeder Einzelne jener Ankömmlinge war genau verhört 
und unterſucht; nur dem reinen Verlangen, den evan— 
geliſchen Glauben zu bekennen, die Aufnahme gewährt; 
das Zurücklaſſen zeitlichen Guts faſt immer als Be— 
weis gefordert worden. Da man nichtsdeſtoweniger 
fortfuhr, in Schleſien durch allerlei Druckſchriften ſolche 
Beſchuldigungen auszubreiten, ſo wandte er ſich aber— 
mals nach Wien an den Pater Tönnemann, welcher 
freilich genugſam wiſſen konnte, daß ſie falſch ſeien, 
und daher gern einwirkte, dergleichen Verläumdung 


) 
r 


n 155 9 


fernerhin abzuſtellen. Eine Sendung, welche die Ge— 
meinde von Zauchtenthal in Mähren eigends abordnete, 
um zwei ihrer ansgewanderten Mitglieder in Anſpruch 
zu nehmen, erhielt in Betreff einiger Schuldforderun⸗ 
gen Befriedigung, wurde aber in Abſicht der Perſonen 
ſelbſt, deren Rückkehr ſie verlangte, verneinend abge— 
fertigt, da dieſe Leute in Mähren als Evangeliſche 
nicht leben dürften, katholiſch zu werden aber gegen ihr 
Gewiſſen fänden. Dagegen waren Brüder aus eignem- 
Antriebe nach Mähren zurückgegangen, um ihre Ange— 
hörigen zu beſuchen, und geriethen daſelbſt in mancher— 
lei Gefahr. Einer derſelben, in Geſellſchaft einiger 
Aus wanderer unſchuldig verhaftet, entzog ſich dem Ge— 
wahrſam, und als er dies bereuend ſich wieder ſtellen 
wollte, fand er keine Wache mehr an dem Orte, wo 
er ſie verlaſſen. Ein Andrer wurde aus dem Gefäng— 
niß fortgeſchickt mit einem unbegehrten offnen Briefe 
des unwahren Inhalts, daß er ſeinen Irrthümern ent— 
ſagt habe. Beide kamen ſo nach Herrnhut zurück, wo 
aber die Umſtände, welche ſie erzählten, eine eigne Un— 
terſuchung veranlaßten. Sie mußten ſich reinigen, der 
erſtere durch die einſtimmigen Zeugniſſe ſeiner in Herrn⸗ 
hut nach und nach anlangenden damaligen Gefährten; 
der andre wurde ſogar zur Rückkehr bewogen, um die 
Behörde aufmerkſam zu machen, jener offne Brief ent- 
halte Falſches, dem er ſeine Freiheit nicht verdanken 
wolle; zum Glück für ihn mochte die Behörde, über 
den neuen Fall verdrießlich, von ſolchen Weitläuftig— 


32 156 DU 


keiten nichts hören, hieß ihn kurzweg ſich fortpacken, und 
gab ihm noch auf ſeine Bitte nur die mau | 


daß er dort gewefen. 
Dieſe faſt ängſtliche Strenge des — und der 


Gemeinde war durch beſondre Umſtände, die ſich in der 
Nähe geſtalteten, nur zu ſehr gerechtfertigt. Seine ge- 


liebte Tante, Henriette von Gersdorf, hatte ſchon ge- 


raume Zeit ſeinen Anſtalten und Einrichtungen keinen 


Beifall bezeugen können, und wie gering der Unter- 
ſchied ihrer beiderſeitigen Sinnesart auch ſein mochte, 


ſo war er doch vermögend, einander ſo werthe Perſo— 
nen ganz zu trennen. Im Weſentlichen jedoch mit 
dem Grafen von gleichem Triebe geleitet und in ähn— 
liche Verhältniſſe geſtellt, hatte die Freiin von Gers— 


dorf, als damalige Gutsherrſchaft von Großhenners-⸗ 


dorf, daſelbſt einigen böhmiſchen Familien, die um des 
Glaubens willen ſchon vor Jahren nach der Lauſitz ge— 
zogen waren, eine Zuflucht gewährt, und ihnen einen 
Lutheriſchen Geiſtlichen Johann Liberda aus Schleſien 
berufen, der durch ſeine Predigten eine große Erweckung 


ringsumher bewirkte, ſo daß aus der Lauſitz und aus 


Böhmen ſelbſt eine große Zahl neuer Anſiedler nach 


Großhennersdorf kamen, und für die Böhmen ein eig- 
ner Ort gebaut wurde, den man ſchon als ein Gegen— 
Herrnhut bezeichnete; wie Zinzendorf mit den Mähren, 
ſo wolle ſeine Tante, hieß es, mit den Böhmen ihren 


Eifer zeigen. Der lebhafte Religionsverkehr, welcher 


ſich hier auf der Gränze zwiſchen Sachſen und Böh— 


| 


>. 157 & 


men entwickelte, die Ausbreitung proteſtantiſcher Ein— 
flüſſe in letzterem Lande, und das Hinüberziehen ſo 
mancher Aufgeregten in erſteres, veranlaßte Beſchwer— 
den des Kaiſerlichen Geſandten am ſächſiſchen Hofe. 
Hier war man bereit, jede Befriedigung zu gewähren, 
und da man von ſolch dunklen Vorgängen nur unſichre 
Kunde hatte, aber durch Zinzendorf's Namen und Rang 
| doch längſt auf Herrnhut höchſt aufmerkſam geworden 
war, ſo glaubte man den Grund jener Beſchwerde nur 
dort vorausſetzen zu müſſen. Das Staatsminiſterium 
zu Dresden verordnete daher, da der harte Antrag, 
daß alle Auswanderer aus den Kaiſerlichen Landen 

ohne alle Rückſicht und Unterſchied dahin zurückgeliefert 

werden ſollten, ſchon bei ihm nicht durchging, eine lan— 
desherrliche Kommiſſion, welche den ganzen Zuſtand 
von Herrnhut in Lehre und Leben, beſonders aber auch 
die gegen Zinzendorf perſönlich vorgebrachten Klagen 
| zu unterfuchen den Auftrag hatte. Der Amtshaupt— 
mann von Gersdorf zu Görlitz war zu Führung dieſer 
Kommiſſion ernannt, und verfügte ſich im Januar 1732 
nach Herrnhut. Viele Fremde aus nächſter und ſelbſt 

entfernterer Umgegend ſtrömten herbei, um die erwar— 
tete Aufhebung von Herrnhut mit anzuſehen. Hier 

zeigte ſich nun Zinzendorf in der ganzen Stärke ſeiner 

Geſinnung. Wegen der Beſchuldigung, Unterthanen 

des Kaiſers aus deſſen Erblanden herausgelockt zu 

haben, war die Rechtfertigung leicht; es ergab ſich klar, 

daß dieſe Leute insgeſammt von ſelbſt, und nur um des 


a 158 


Glaubens willen, mit Aufgebung ihrer Habe, das Land 
verlaſſen hatten, wo man ſie zum katholiſchen Glauben 
hatte nöthigen wollen, und daß es ein ſchrecklicher Ge— 
wiſſenszwang wäre, ihnen die Rückkehr dorthin aufzu— 
erlegen. Bedenklicher mußte die Prüfung der Lehre 
und Zucht der Brüder werden, denn hier war zufälligen 
Eindrücken und argen Mißdeutungen ein weites Feld 
eröffnet. Anſtatt nun das, was übler Auslegung fähig 
war, zu mildern und zu verhüllen, verordnete der Graf, 
daß alles in gewohnter Weiſe ohne Zurückhaltung vor 
ſich ginge; die Kommiſſion ſah das Weſen von Herrn— 
hut in allen ſeinen Zweigen ganz unverſtellt, und er— 
hielt alle Aufſchlüſſe und Erläuterungen, die ſie be— 
gehrte, mit gewiſſenhafter Genauigkeit, ja eher in zu 
ſtarken als in zu ſchwachen Ausdrücken, damit keine 
Beſchönigung aus kleinmüthiger Menſchenfurcht dabei 
Statt fände. Nachdem die Kommiſſion, theils in Bei— 
ſein Zinzendorf's, theils ohne daſſelbe, allen Arten von 
Verſammlungen beigewohnt, jedes Mitgled der Ge— 
meinde und auch den Grafen einzeln befragt, von allen 
vorgelegten Schriften genügende Einſicht genommen, und 
ſo binnen vier Tagen ihre Arbeit vollendet hatte, 
brachte ſie das Ergebniß ihres Geſchäfts nach Dresden. 
Zinzendorf ſchrieb bei dieſem Anlaß auch ſelbſt an den 
König, wie auch an das Staatsminiſterium, ſtellte das 
Weſen ſeiner Sache bündig dar, zeigte die Ueberein— 
ſtimmung Herrnhuts mit der Lutheriſchen Kirche und 
das Unverfängliche der Brüderverfaſſung, erbot ſich aber. 


9 159 882 


dennoch, gleich der ganzen Gemeinde, im Fall die 
Obrigkeit das Verbleiben oder den Anwachs der mäh— 
riſchen Leute bedenklich fände, auf den erſten Wink mit 
ihnen das Land zu räumen, und zwar ſo ſtill und ru— 


hig, daß für die ſächſiſche Regierung jeder Verfolgungs— 


anſchein dabei vermieden bliebe. Der günſtige Bericht 
der Kommiſſion brachte in Dresden die Widerſacher 


für den Augenblick zum Schweigen, aber ausdrücklich 


gutheißen wollte man die Sache auch nicht; und ſo 


unterblieb jede Entſcheidung und Antwort ganz. Nur 
eine allgemeine Bekanntmachung erfolgte, daß künftig 


keine neue Auswanderer aus den öſterreichiſchen Erb— 
landen in Sachſen dürften aufgenommen werden, wel— 
ches indeß Zinzendorf ſchon früher, in Betracht der 
vielfachen daraus erfolgten Ungelegenheiten und des 
traurigen Schickſals einiger in harte Gefangenſchaft ge— 


rathenen und zweier darin verſtorbenen Brüder, für 
ſeine Güter völlig eingeſtellt hatte. 


Bereits vor dieſen Verhandlungen hatte Zinzen— 


dorf, der nach ſeinem in Kopenhagen nicht gelungenen 


Verſuch es aufgab, einen neuen Umweg zu finden, die 
nun auch von ſeiner Mutter nicht mehr mißbilligte 
Bitte um Entlaſſung aus dem ſächſiſchen Staatsdienſte 
gradezu dem Könige eingereicht. Sie wurde ihm jetzt 
in Gnaden gewährt, und am 8. März 1732 legte er 
zu Dresden ſeine Stelle als Regierungsrath vor dem 
verſammelten Kollegium förmlich nieder, wobei er eine 
Rede hielt, und feine gottesfürchtigen Geſinnungen und 


aD 160 2 


das Weſen der Gemeinde zu Herrnhut, der fortan 


ſeine Thätigkeit ganz gehören ſollte, offen darlegte. 


Die Förderung der Seelen blieb in der That ſein 


hauptſächliches Geſchäft, bei dem ihn weder die Arbei— 
ten nach außen, zu denen das Verhältniß der Gemeinde 


ſelbſt Anlaß gab, noch die ſonſtigen Aemter und Pflich-⸗ 
ten, die ihm oblagen, zerſtreuen konnten. Die Helfer 
der Gemeinde verſammelten ſich täglich bei ihm, um 
nach jedesmaliger Kenntniß den Gang jeder einzelnen 
Seele näher zu beſprechen, das Zweckmäßige zu bevas | 


then, das Merkwürdige kurz aufzuzeichnen. Ein andres 


Geſchäft machte er ſich mit den kleinen Knaben, die er 
insgeſammt mit ihren Lehrſtunden und Arbeiten auf 


fein Vorzimmer verſetzte, wo er fie denn jeden Augen— 
blick beſuchen, unterrichten, und nach ihren Umſtänden 


einzeln befragen konnte; dies war jedoch nicht von 


Dauer, da ihm das Maß einer richtigen Behandlung 


dieſer Kinder, deren gewöhnliche Unarten ihn gleich zu | 
ſehr betrübten, nicht zu Gebote ſtand. Deſto glücklicher 
war ſein Sinn und Takt bei dem bedenklichen Beſuche, 
welchen erſt Rock und dann Tuchtfeld in Herrnhut 
machten; ſie konnten durch ihre Sonderbarkeiten viel 


Verwirrung anſtiften, und doch wollte er ſie nicht grade 
mißbilligen. Indem er ihnen nun ohne Mißtrauen 
freie Bahn ließ, aber einfach und würdig ihnen gegen— 


überſtand, nahmen auch jene mehr Haltung an, und 


ſprachen ſich in ihren Vorträgen nur allgemein erbau⸗ 
baulich aus; ein paar Inſpirationen, welche Rock in 


Herrnhut hatte, gingen ohne Aufſehn vorüber, obwohl 
eine derſelben hart auf Rothe zu deuten war, der in 
ſeine Predigten ſtets gern etwas Anzügliches gegen den 
Grafen und die Gemeinde einmiſchte; man ſuchte das 
Gute heraus, und ließ das Seltſame unbeachtet. So 
verzog ſich der Beſuch ohne merklichen Eindruck, und 
ö die befürchtete Störung unterblieb. Die Gemeinde, 
mit Rothe nicht ganz zufrieden, und von Bertholdsdorf 
im Winter durch ſchlechte Wege oft abgeſchnitten, 
wünſchte jetzt auch einen eignen Prediger. Der Graf 
hatte ſchon den Magiſter Steinhofer von Tübingen be— 
rufen, aber die von Dresden eingeholte Erlaubniß be— 
dingte, daß der Prediger für Herrnhut dort nur als 
der Subſtitut Rothe's auftreten dürfe, wahrſcheinlich 
um deſto ſichrer zu ſein, daß alles im Lutheriſchen Ge— 
leiſe bliebe; weil aber Rothe gar keinen Subſtituten 
wollte, ſo konnte die Sache nicht zu Stande kommen. 
Für Herrnhut eröffnete ſich dagegen auf einer andern 
Seite ein unabſehbares Gebiet eigner Wirkſamkeit durch 
den inzwiſchen bei vier jungen rüſtigen Brüdern gereif— 
ten Entſchluß, als Boten des Heilands zu den Neger— 
ſklaven in Weſtindien und zu den Grönländern zu gehn. 
Des Grafen Erzählungen, nach ſeiner Rückkehr aus 
Dänemark, von dem ungluckſeligen Zuſtande jener Halb- 
wilden, und darauf der Beſuch eines in Kopenhagen 
getauften Mohren in Herrnhut, der ſeiner Brüder Elend 
mit heißem Antheil ſchilderte, waren die erſte Anre- 
gung jenes Vorhabens geworden, das ohne wechſelſei⸗ 


Biographiſche Denkmale. V. 11 


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> 162 88 


tige Beſprechung gleichzeitig in den Gemüthern ent⸗ 
ſtanden war. Die Sache wurde mit großer Ueberle⸗ 
gung berathen, ihre Wichtigkeit im ganzen Umfang ein— 
geſehn. Zinzendorf wollte keinen im Glauben noch Un— 
befeſtigten, keinen ſeines Berufes noch irgend Unſichern, 
zu ſolcher Heidenbotſchaft entlaſſen, geſchweige denn je= 
manden dazu bereden; die geringſte Reue, das leiſeſte 
Wanken, ſollte den ſchon verkündigten Vorſatz aufheben. 
Allein jene Brüder beſtanden feſt auf ihrem Sinn, und 
nach gehöriger Prüfung traten Leonhard Dober und 
David Nitſchmann im Auguſt 1732 die Reiſe nach der 
weſtindiſchen Inſel Sankt Thomas an, denen im An- 
fange des folgenden Jahres Chriſtian David und zwei 
Gebrüder Stach nach Grönland in gleichem Berufe 
nachfolgten. Dies war der Beginn des in der Folge 
ſo ausgebreiteten und ſegenreichen Miſſionsweſens der 
Brüdergemeinde. Den Bruder Leonhard Dober hatte 
der Graf, um ihn näher kennen zu lernen und zu prü= 
fen, vorher auf eine Reiſe mitgenommen, die er im 
Frühjahr in Thüringen und Franken gemacht. In Neu⸗ 
ſtadt an der Aiſch beſuchte er den Superintendenten 
Steinmetz, der ſchon den Ruf als Abt nach Kloſter 
Bergen erhalten hatte, und traf daſelbſt auch den Pro— 
feſſor Reuß von Tübingen, der auf Zinzendorf's Em— 
pfehlung von dem Könige von Dänemark zum Hofpre— 
diger nach Kopenhagen berufen war. In Jena, Saal⸗ 
feld, Baireuth, Nürnberg, und zuletzt in Ebersdorf, 
hielt er gewohnten Verkehr mit Freunden und From⸗ 


e 163 &- 


men jedes Standes. Begleitet von Profeſſor Reuß 
und den Brüdern, welche die Wanderung mit gemacht, 
war er am 20. Mai 1732 in Herrnhut zurück. 
| Im Laufe des erwähnten Sommers ereignete ſich 
| eine neue Verwickelung, die für Zinzendorf und ferne 
Anſtalten gefährlich wurde. Die in Großhennersdorf 
aufgenommenen Böhmen geriethen mit der Freiin von 
Gersdorf in Streit, fie widerſetzten ſich den Verord— 
nungen, nach welchen ſie nicht mehr über die Gränze 
| gehen, keine großen Verſammlungen halten, keine Aus⸗ 
legungen der Bibel machen ſollten, noch weniger woll— 
ten ſie der Gutsherrſchaft unter ſolchen Umſtänden den 
Eid der Unterthänigkeit ſchwören, was jene verlangte, 
weil ſie dieſelben nur als ihre Unterthanen behalten 
und vertreten konnte. Einige der Widerſpenſtigen, 
| weie im Gegentheil ein beſonderes Gemeindeweſen 
mit eigner Kirche, Predigern, Gerichts- und Verwal— 
| 
| 


tungsfreiheiten zu fein begehrten, wurden in Verhaft 
genommen, andre aus dem Orte verwieſen. Darüber 
zogen die Böhmen haufenweiſe von Großhennersdorf 
ab, und nahmen ihre Zuflucht gleich nach Herrnhut, wo 
ſie alle Häufer füllten, und zum Theil auf der Straße 
lagerten. Alle Rückſichten der Weltklugheit geboten dem 
Grafen, dieſe Leute nicht aufzunehmen; aber fie waren 
in tiefſter Armuth, führten viele Schwerkranke mit ſich, 
und konnten überdies ihre Noth in fremdartiger Sprache 
kaum verſtändlich machen; dies genügte dem ächten 
Chriſten, ſie wenigſtens unterzubringen, ihnen leiblich 
11 * 


164 8 


und geiftlih nach Kräften beizuſtehn. Als jedoch die 
Freiin von Gersdorf ihr Recht an dieſe Leute nicht 
aufgeben wollte, mußte Zinzendorf, der ihrethalben an 


ſeine Tante geſchrieben hatte, ihnen die Rückkehr an— 


rathen, wenigſtens ferneren Aufenthalt in Herrnhut ver 
ſagen. Sie wollten aber ein andres Unterkommen ſu⸗ 
chen, und hofften ſolches in Berlin zu finden, wohin ſie 


ihren Prediger Liberda mit acht Männern als Bittende 


an den König Friedrich Wilhelm den Erſten ſandten. 
Günſtige Ausſicht als ſchon ertheilte Bewilligung deu 
tend, riefen die Harrenden indeß aus Böhmen andre 
Schaaren herbei, und machten ſich in getheilten Zügen 


auf den Weg; aber an der brandenburgiſchen Gränze 


wurden ſie vorläufig noch zurückgewieſen, in Sachſen 


durften ſie auch nicht bleiben, und ſo irrten ſie arm— 
ſelig in jener Gegend umher, manche wurden verhaf— 


tet, viele kamen in der Wintersnoth um, andre ſchlichen 
einzeln in das innere Land zurück, die meiſten aber ge- 
langten dennoch unvermerkt nach Berlin, wo der König 
ſich ihrer annahm, ihnen auf der Wilhelmsſtraße Woh- 


nungen einrichten und in der Folge eine Kirche bauen 
ließ; ſie hielten ſich fernerhin, obgleich ſie früher ſich 
zu den Brüdern geneigt hatten, zum Lutheriſchen und 
theils auch zum reformirten Glauben; die eigentliche 
böhmiſche Brüdergemeinde in Berlin und Rüdersdorf 


entſtand erſt ſpäterhin aus andern Anſiedlern. Wie⸗ 


wohl nun jene Bewegungen mit Herrnhut keinen eigent- 
lichen Zuſammenhang hatten, ſo verurſachten ſie doch, 


3» 165 ao 


wie die gleichzeitige Auswanderung der um des Glau— 


— —— — 


bens willen verfolgten Salzburger, welche in Preußen 
Aufnahme fanden, die nachtheiligſten Rückblicke auf je- 
nen Ort, und man wollte in Zinzendorf einen Haupt- 
urheber und Beförderer aller ſolcher Störungen ſehn; 
viele Perſonen urtheilten falſch aus Unkunde, andre be— 
nutzten wiſſentlich den Anſchein, um gegen den Grafen, 
deſſen Frömmigkeit und Tugend ihnen zum Aergerniß 
war, ſcharfe Maßregeln hervorzurufen. Sie erfolgten 
auch in der That. Bald nach der Rückkehr von einer 
zweiten Reiſe, die er in dieſem Jahre nach Ebersdorf, 
um daſelbſt in der Gemeinde der Erweckten einige aus— 
gebrochene Störungen zu ſchlichten, und gelegentlich 
auch wieder nach Jena und Halle gemacht, erhielt er 
einen Königlichen Befehl, ſeine Güter zu verkaufen. 
Dahin hatten ſeine Freunde die Sache gemildert, denn 
es war im Betrieb geweſen, ihn als einen gefährlichen 
Mann feſtzunehmen, und auf den Königsſtein zu ſetzen; 
jener Befehl, hieß es, ſei eine Andeutung für ihn, 
außer Landes zu gehn, er möchte nicht ſäumen, den 
Wink zu befolgen, denn einmal in Verhaft dürfte er 
lange darin bleiben müſſen. Das Beiſpiel Liberda's, 
der in das Zuchthaus nach Waldheim abgeführt wor— 
den war, durfte mit Recht ſchrecken, wenn auch ſonſt 
wohl ein vornehmer Graf nicht leicht zu fürchten hatte, 
mit einem armen wandernden Prediger in gleichem 
Falle, der gleichen Behandlung ausgeſetzt zu werden. 
Zinzendorf wußte, daß die wiederholten, dringenden 


>» 166 322 


Warnungen nicht ohne Grund waren, allein er hatte 
ſeinerſeits nicht minder Grund, ihrer dennoch nicht zu 
achten. Er gab ſeine Sache in den Willen des Hei— 
lands, worauf er in ſeinem Innern die Ueberzeugung 
empfing, er müſſe ſtandhaft ausharren, und nun aller 
Menſchenfurcht ſo fern blieb, daß er ſogar ſeine Briefe 
und Schriften ungeſichtet jeder Beſchlagnahme bloßge⸗ 
ſtellt ließ, obgleich darin vieles für Uebelwollende höchſt 
Mißdeutbare vorkommen mußte, und ſeine Freunde die— 
ſes Benehmen ganz unverantwortlich fanden. 

Den Befehl wegen des Verkaufs der Güter eg: 
er wunderbar genug aus freiem Antriebe bereits er- 
füllt, und den längſt gehegten Vorſatz, um auch n 
dieſer Seite kein weltliches Amt mehr zu haben, ſein 
ganzes Beſitzthum auf ſeine Gemahlin übergehn zu 
laſſen, kürzlich ausgeführt. Die Sache war in Geſtalt 
eines Verkaufs geſchehen, und der Gemeinde bekannt 
gemacht worden. Es kam nun alſo nur noch darauf 
an, die gerichtliche Uebergabe zu vollziehen, und der 
höheren Behörde das Geſchehene anzuzeigen, welche 
mit dieſem denn auch, in Erwartung, daß er ſelbſt 
außer Landes gehen werde, ſich begnügen ließ. Nach— 
dem es unzweifelhaft geworden, daß jener Befehl durch 
aus in dieſem Sinne gemeint ſei, machte der Graf nun 
auch wirklich Anſtalt, ſeine Verweiſung anzutreten. Die 
Heimath war ihm überaus lieb und angenehm, aber 
um des Heilands willen fie zu verlaſſen, und ein Welt- 
bürger zu werden, der überall ein Fremdling und überall 


* 


167 S 


zu Hauſe iſt, konnte ihm nicht allzu ſchwer dünken; 
ſelbſt den Verluſt ſeines Vermögens würde er leicht 


verſchmerzt haben. Seine Geſinnung in dieſem Betreff 


hatte er ſchon vorahndend ſo ausgedrückt: „Meine Ab— 
ſicht geht auf gar nichts anders in der Welt, als auf 
das Wohlſein der Seelen, und auf die Beförderung 


einer ſolchen Herrlichkeit, die mit den Hoheiten dieſer 
Welt nichts zu thun hat. Und da ich von langer Zeit 
her ein armer Diener meines anbetungswürdigen Hei— 


lands bin, und nichts anders wünſche noch verlange, 


als daß auch ſogar mein Name bei der Welt ins Ver— 
geſſen kommen möchte, und ich meine Gedanken und 
Verſtand auf nichts anders gerichtet habe, als wie ich 
es dahin bringen möge, daß das Leben Jeſu Chriſti 
in der Seele dieſes und jenes armen Bauersmannes 
herrſchen möge, ſo übergebe ich mich ſeinen Händen, 
und überlaſſe es ihm, wie er es mit alle demjenigen, 
was er mir anvertrauet hat, machen will. Sollten wir 
um ehrlicher Urſachen willen um all unſer Hab' und 
Gut kommen, weil wir nämlich einige hundert Seelen 
von ihrem Elend befreit haben, ſo würde ſolches mir 
und meiner Frau ſehr erfreulich ſein.“ 

Wie weit die Gegner ihre Maßregeln gegen Herrn— 
hut ſelbſt treiben würden, war nicht abzuſehen; indeß 
war der Graf und die Gemeinde ſchon darauf gefaßt, 
in fremden Ländern eine neue Wohnſtatt aufzuſuchen. 
Mittlerweile ging alles in gewohnter Weiſe ſeinen 
Gang; die nach Grönland beſtimmten Heidenboten mach- 


on 168 22 


ten ſich auf den Weg; dem Grafen wurde aufs neue, 
da er ſchon fortzureiſen dachte, das von ihm früher 
niedergelegte Amt eines Vorſtehers der Gemeinde über— 
tragen, damit ein deſto feſteres Band auch mit dem 
Abweſenden geknüpft bliebe, und am 26. Januar 1733 
zog er ſelber, nicht ohne inneren Kampf, in ſein erſtes 
Exil, begleitet von den Brüdern Martin Dober, Jo— 
hann Nitſchmann und Matthäus Mickſch. Er wandte 
ſich zunächſt nach Ebersdorf, wo ungeachtet ſeines Kum— 
mers er dennoch nicht ohne Nutzen war. Hier traf ihn 
alsbald die Nachricht von dem in Warſchau am 1. Fe— 
bruar erfolgten Tode des Königs, und dieſe Verände- 
rung konnte auch auf ſeine Sache günſtig einwirken, 
allein er mochte dies weder betreiben noch dableibend 
abwarten, ſondern verfolgte nun lieber das inzwiſchen 
gereifte Vorhaben einer Reiſe nach Tübingen, zu wel- 
cher ihn Zwecke von größter Wichtigkeit beſtimmten. 
Der zum Prediger nach Herrnhut berufene Magiſter 
Steinhofer war in Tübingen Repetent bei der theolo— 
giſchen Fakultät, und hatte derſelben, um bei ſeinem 
neuen Berufe ganz ſicher zu gehn, die Frage zur Ent— 
ſcheidung vorgelegt: Ob die mähriſche Brüdergemeinde 
in Herrnhut, nach vorausgeſetzter Uebereinſtimmung mit 
der evangeliſchen Lehre, bei ihren ſeit dreihundert Jah 
ren her gehabten Einrichtungen und bekannten Kirchen— 
zucht verbleiben, und dennoch ihre Konnexion mit der 
evangeliſchen Kirche behaupten könne und ſolle? Die 
Entſcheidung dieſer Frage durch eine angeſehene theolo— 


di 


169 Bo 


giſche Behörde war um fo wichtiger, als ſchon immer 
grade dieſerhalb der größte Zwieſpalt in den Meinun— 
gen beſtand, und innerhalb wie außerhalb der Gemeinde 
ihr der Vorwurf gemacht wurde, daß ſie nicht das 
| reine Lutherthum fer, auf welches fie zurückzuführen 
man bald der Obrigkeit, bald dem Grafen ſelbſt zur 
Gewiſſensſache machen wollte. Letzterem war daher 
| gleichfalls angelegen, über dieſen Punkt völlig klar zu 
werden, und einen Ausſpruch zu gewinnen, auf den 
| man ſich fernerhin ſtützen könnte. Um der theologiſchen 
Fakultät nun, außer den ſchriftlichen Zeugniſſen, die ihr 
in reicher Fülle zugefertigt wurden, noch fernere Rechen— 
ſchaft mündlich ertheilen zu können, reiſte Zinzendorf in 
Begleitung Martin Dober's ſelbſt nach Tübingen. Un⸗ 
terwegs fehlte es nicht an erbaulichem Verkehr, noch 
gan Gelegenheiten zu Andachten und Vorträgen. Am 
4. März trafen ſie in Tübingen ein, wo beide in des 
| Profeſſors Pregizer Haus eine freundliche Aufnahme 
fanden. 
Hier ſchien aber ein neues Uebel ihn ernſtlich ſtö— 
ren zu wollen; ſeine Geſundheit war niemals ſehr feſt, 
er that nichts ſie zu ſchonen, und wenig ſie wiederher— 
zuſtellen; faſt das ganze erſte Jahr ſeines Aufenthalts 
in Herrnhut hatte er, wohl durch die Feuchtigkeit ſei— 
ner noch friſchen Wohnung, an heftigen Zahnſchmerzen 
gelitten, ſo daß er einigemal Gott um Linderung und 
nicht vergeblich angefleht; ſpäter warf ſich das Uebel 
ihm auf die Augen, welche durch die ſchlafloſen Nächte, 


en 10 3 


in denen er meiſt gearbeitet, noch beſonders angegriffen 


wurden; ſein Eifer ließ ihn die rechte Beſſerung nicht 
abwarten; trat ſie endlich ein, fo wollte er das Ver— 


ſäumte ſchnell nachholen, und wurde auf's neue krank; 


ſo kam er in keine rechte Ordnung, und machte dann 
auch wieder darüber ſich Vorwürfe. Jetzt, im unglück— 
lichſten Zeitpunkt, befiel ihn ein ſchmerzhaftes Fieber, 
und er mußte daniederliegen. Doch für ſeinen Zweck 
fand ſich unvermuthet dabei dennoch ein guter Fort— 


| 


gang; die Profeſſoren kamen vor fein Bette, und die 


ganze Sache von Herrnhut wurde hier freundlich durch— 
geſprochen; dann kamen auch Fromme jedes Standes, 
ſeine erbaulichen Reden zu hören; eine Anzahl Sepa— 
ratiſten vergoſſen an ſeinem Lager viele Thränen. Kaum 
etwas geneſen, redete er in den Verſammlungen der 
Erweckten, machte Beſuche in der Umgegend, und fand 
überall eifrige Zuhörer, denen er ſich mittheilen konnte; 
bei ſolcher Gelegenheit gefragt, wie man die Gemein— 
ſchaft der erweckten Seelen zu Stande bringe, gab er 
den kurzen Ausſpruch, es ſei ſchwer zu ſagen und leicht 
zu thun, und erklärte es dahin, man brauche nur für 
dieſen Zweck ebenſoviel Aufmerkſamkeit und Eifer zu 
bezeigen, als die Weltkinder für ihre Zwecke. Ueberall 
in Würtemberg, wurde er hoch geehrt, die angeſehen— 
ſten Geiſtlichen, unter dieſen der Kanzler Pfaff, und 
der gelehrte, mit Deutung der Offenbarung Sankt— 
Johannis beſchäftigte Probſt Bengel, ferner ein Ma— 
giſter Oettinger, der eine Art hellere und ſanftere 


35H 171 


Pietiſten, als die halliſchen, ſtiftete, bezeigten ihm ihren 
Beifall, ihre Zuneigung. Die theologiſche Fakultät 
ſetzte inzwiſchen die Prüfung des ihr vorgelegten Ge— 
| genftandes lebhaft fort, und gab endlich durch ein in 
aller Form ausgefertigtes Bedenken die einmüthige Be— 
| jahung der aufgeftellten Frage. Mit dieſem wichtigen 
Zeugniſſe verſehen, reiſte Zinzendorf in hoher Befrie— 
digung von Tübingen wieder ab, und zunächſt nach 
Ebersdorf. Sein Verhältniß in Sachſen hatte ſich in— 
| fofern geändert, daß die neue Regierung ſogleich mil— 
deren Sinn zeigte, und er daher ohne Bedenken ſchon 
im Anfange des Mai nach Herrnhut zurückkehren konnte, 
wo fernerhin ſich in Ruhe aufzuhalten ihm bald förm— 
lich wieder erlaubt wurde; er dankte dem Kurfürſten 
hiefür mit Innigkeit, und ſagte in ſeinem Schreiben, 
| da er ſich fo gar nicht im Stande fehe, zu Seiner Kö— 
| niglichen Hoheit Dienſt etwas beizutragen, fo wünſche 
er ſich von Gott die Weisheit, auch nicht die geringſte 
Gelegenheit zu Höchſtdero Mißfallen oder auch nur 
mindeſten Behelligung zu geben. Der Verkauf ſeiner 
Güter war genehmigt, und das Dableiben der mäh— 
riſchen Auswanderer erlaubt worden, nur für die noch 
in Bertholdsdorf wohnenden Schwenkfelder fand nicht 
gleiche Billigkeit Statt, ſie ſollten das Land verlaſſen, 
welches ſie denn auch, da ſich ihnen, nach vieler ver— 
geblichen Bemühung Zinzendorf's, eine Zuflucht in Pen— 
ſylvanien eröffnete, ohne Schwierigkeit ausführten. Drei 
Brüder aus Herrnhut wurden ihnen nachgeſandt, um 


sm 172 Di 


die geknüpfte Beziehung nicht ganz aufzugeben, fon- 
dern wo möglich eindringlicher zu machen, was jedoch 
nicht gelang, indem die Schwenkfelder in ue Tren⸗ 
nung blieben. 

Indeß vermehrte ſich unter allem ene die Wirk 
ſamkeit von Herrnhut ſowohl in den Verhältniſſen nach 
außen, als auch im Innern. Hunderte von erweckten 
Wenden ſtrömten aus der Umgegend zum Beſuch her— 
bei, und erbauten ſich in den neuen Glaubenstrieben, 
nicht ohne Eiferſucht ihrer Geiſtlichen, die gern deß— 


halb neue Unzufriedenheit gegen den Grafen in Dres- 


den angeregt hätten. Zu den vertriebenen Salzbur— 
gern gingen einige Brüder als Boten, um ſie zu höhe— 
rer Frömmigkeit zu wecken, und eine ihnen heilſame 
Annäherung zu verſuchen. Mit zahlreichen Gemeinden 
und Geſellſchaften von Erweckten wurde eine herzliche 
und einwirkende Verbindung unterhalten, und der Kreis 
dieſes Verkehrs hatte ſich durch die Reiſe nach Schwa— 
ben nur erweitert. Wieviel es auch ſchon umfaßte, 
immer hatte der Graf ein friſches Herz und volle Thä— 
tigkeit für jedes neue Verhältniß, das ſich ihm darbot, 
und niemals mochte er einen Gegenſtand wegen andrer, 
ihn ſchon erfüllender, ablehnen. Nur mit den eigent— 
lichen Pietiſten wollte es durchaus nicht gelingen in 
gutem Zuſammenhange zu ſtehn. Von Herrnhut war 
Spangenberg nach Halle berufen worden; jetzt bewirk— 
ten die dortigen Theologen ſeine Vertreibung, und er 
kehrte nach Herrnhut zurück; Zinzendorf wurde beſchul— 


* 


e 173 S 


digt, die Mißhelligkeit veranlaßt zu haben, und es ent- 
ſtand eine heftige Anfeindung; er ſelbſt erließ darüber 
harte Briefe, beſonders auch an den Abt Steinmetz, 
und ſprach unverhohlen ſeinen Unwillen aus; doch kam 
es wenig zum öffentlichen Streit, indem Zinzendorf 


und ſein Freund durch eine von Seiten der Gemeinde 
erlaſſene Erklärung ſich ein edles Schweigen auferleg— 


ten. Spangenberg wurde darauf zum Adjunktus des 


Grafen und zum Helfer in der Gemeinde gewählt, und 
blieb fortan ganz in dieſer Richtung thätig. Mit un— 
verdroſſenem Eifer betrieb Zinzendorf die verſchiedenen, 
zunächſt auf das Seelenheil gehenden Arbeiten in der 
Gemeinde. Die eingeführten Anſtalten und Gelegen— 
heiten ließen das religiöſe Leben nicht erkalten, und 
neue Wärme trat noch immer hinzu. Sonntags früh 
pflegte er die ihm vertrauteſten Brüder und Schweſtern 
in zwei nebeneinander liegenden Zimmern zu verſam— 
meln, und in der Thüre ſtehend, nach beiden Seiten 


zugleich ſeinen Vortrag zu richten, wie grade die Ta— 


gesumſtände ihn eingaben; oft auch lag man auf Knieen 
und Angeſicht betend und weinend in der Stille, oder 
ſang einen Liedervers. Die Anziehung dieſer herrn— 
hutiſchen Erbauungsweiſe war ſehr groß. Einſt an 
einem Bettage geſchah es, daß ein Abtrünniger, der 
von Herrnhut nach Großhennersdorf gezogen war, und 
ſehr viel Böſes gegen den Grafen und die Gemeinde 
verübt hatte, krank und elend voll Reue ſich in die ver— 
ſammelte Gemeinde tragen ließ, ſeine Sünde bekannte, 


29 174 2 


und um Wiederaufnahme bat, die ihm durch die Für— 
bitte des Grafen, der ihn gerührt umarmte und küßte, 
unter vielen beiderſeitigen Thränen auch gewährt wurde. 

Unter den kleinen Kindern, den Jungfrauen, den 
Wittwen, den ledigen Brüdern, und ſo faſt in allen 


Chören, war der Graf geſchäftig, die Liebe des Hei 


lands recht zu gründen und zu erhalten; doch zeigte er 
nicht für jede dieſer Abtheilungen gleiches Geſchick, 
ſeine zu große Strenge verſchüchterte und verſtockte die 
Kinder, und als er dies verbeſſern wollte, übertrieb es 


ſeine Nachſicht wieder; auch die Entwickelung und den 


Beruf der Jünglinge beurtheilte er oft voreilig, und 
traute ihnen mehr zu, als fie leiſten konnten; im All— 
gemeinen und Ganzen aber zeigte er große Menſchen— 
kunde, die er auch im Einzelnen ſehr vermehrte, indem 
er gern eines jeden innere Zuſtände vernahm, und auch 
ganze Abtheilungen der Reihe nach abhörte, was auch 


öfters der Gemeinde insgeſammt widerfuhr. Nicht 


minder legte er der Gemeinde auch ſeinen eignen Zu— 
ſtand dar, rügte ſeine Fehler, und ſtrafte ſich wohl gar, 
Andern zum Beiſpiel, durch Ausſchließung vom heiligen 
Abendmahl. In beſondre Verlegenheit brachte ihn ein 
Geſuch aus Kopenhagen; der Oberkammerherr von 
Pleß, ökonomiſche Zwecke mit religiöſen vereinigend, 
wünſchte für die Zuckerplantagen, die er auf der weſt— 
indischen Inſel Santa-Cruz anlegen wollte, eine An- 
zahl Brüder zu Aufſehern, wobei denn zugleich das 
Chriſtenthum unter den arbeitenden Negerſklaven beför— 


i 
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- rn 175 8 


dert werden konnte. Die Beſchäftigung mit Dingen 
weltlichen Vortheils, ſofern fie über perſönlichen Ar— 


beitserwerb hinausging, war dem Grafen bedenklich, 


doch weil die Sache in der Gemeinde Beifall erhielt 
und Hoffnungen weckte, ſo wollte er ſie nicht gradezu 


hindern. Nach vielen Unterredungen und Prüfungen, 


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in welchen er die zur Reiſe erbötigen Brüder, nach 
vergeblichem Abrathen, ſorgfältig ermahnt und unter— 
wieſen hatte, wurden vierzehn Brüder, worunter vier 
verheirathete, die ihre Frauen mitnahmen, nach Kopen— 
hagen abgefertigt, um von da ihrer weiteren Beſtim— 
mung zu folgen. Dieſe Miſſionsſache, das Ungewiſſe 
der landesherrlichen Aufenthaltserlaubniß für die ur— 
ſprünglichen Ausländer, und der noch immer unruhige 
Zweifel über das Verſchmelzen mähriſcher Kirchenzucht 
mit Lutheriſchem Glaubensbekenntniß, vereinigte ſich in 
dem praktiſchen Sinn des Grafen zu einem Geſammt— 
anlaß, eine wichtige Anordnung zu treffen, welche in 
allen erwähnten Beziehungen überaus zweckmäßig er— 
ſchien. Er ſchied nämlich die Bewohner von Herrnhut 
in zwei Haupttheile; zu dem einen gehörten hauptſäch— 
lich die Eingeborenen und Lutheraner, ſämmtlich zum 
Bleiben mehr geneigt und berechtigt, und auf ein ſtilles 
Leben in Fleiß und Gottſeligkeit angewieſen; der andre 
begriff die Eingewanderten aus Mähren und andre 
Fremdlinge, ſchon durch ihr bisheriges Geſchick zu einem 
Zeugenvolke geweiht, und daher zum Pilgern und Dienſt— 
berufe des Heilands vorzugsweiſe auserſehn. Jeder 


a 3.) 176 Fe 


Theil bekam feine beſondern Verſammlungen, Helfer 
und Arbeiter; doch in andern Beziehungen galt wieder 
mannigfache Gemeinſchaft, fo daß überall Zufammen- 
gehöriges, aber nirgends Getrenntes war. 

Jetzt wollte Zinzendorf auch fein langgenährtes 
Vorhaben, in den geiſtlichen Stand zu treten, endlich 
ausführen. Er trug die Sache zuerſt den Aelteſten 
und Helfern der Gemeinde vor, wo ſie aber nur Zwei— 
fel und Einwendungen fand; noch ſtärker rieth ihm 
ſeine Gemahlin ab, deren Zuſtimmung er bei einem 
ſolchen Schritte nicht entbehren mochte. Doch alle Ge— 
gengründe wichen zuletzt vor dem göttlichen Ruf, den 
er bekannte, das Evangelium zu predigen, und zwar in 
der Kirche und von der Kanzel herab, als welche Orte 
die Verkündigung geſegneter machten. Zuletzt wurde 
dem Heilande die Entſcheidung überlaſſen, und das 
Loos entſchied bejahend. Als man noch die Ausfüh— 
rung überlegte, kam ein Schreiben aus Stralſund von 
einem dortigen Kaufmann Richter, der für ſeine Kin— 


0 


der einen Hauslehrer von Herrnhut wünſchte. So 


gleich war Zinzendorf entſchloſſen, und nahm für ſich 
ſelbſt dieſen Ruf an, der ihm den nächſten Weg zum 
Predigtamte zu eröffnen ſchien; er ließ nur in Kürze 
antworten, es werde der Berufene kommen, und trat 
dann, mit Zuſtimmung der Gemeinde, am 17. März 


1734 ſeine Wanderung wirklich an. Anfangs reiſte er 


mit eignen Pferden, dann mit dem Poſtwagen. Unter- 
wegs mußte er über den Grafen von Zinzendorf viel 


m 


Pe a" 


sn 177 2 


Arges anhören, und durfte doch kaum etwas entgegnen, 
wenn er ſich nicht verrathen wollte. Nach zwölftägiger 
Reiſe traf er in Stralſund ein, ging unter dem Namen 
Ludwig von Freideck — von einem ſeiner Titel ent⸗ 
lehnt — zuerſt zu dem Superintendenten Langemack, 
dem er als ein fremder Kandidat ſein Vorhaben wegen 
des Predigtamtes eröffnete, und dann zu dem Kauf- 
mann in's Haus, wo er ſich ſogleich in ſein angenom- 
menes Verhältniß ſchickte, und den Kindern, ſchlechtweg 
als Herr Ludwig, Unterricht ertheilte. Es währte nicht 
lange, ſo übertrug der Superintendent, welcher durch 
Krankheit verhindert war, dem vermeinten Kandidaten 
eine Predigt, und Zinzendorf hielt auf dieſe Weiſe am 
11. April ſeine erſte öffentliche Kanzelrede. Seine 
Stimmung dabei war, wie er ſelbſt ſchrieb: „Armuth 
und Ohnmacht bis zum Verſinken, und ſodann ein ſo 
herzlicher Beweis der Gnade, mit ſolchen zur Sache 
dienlichen Ausdrücken als noch niemals;“ auch gefiel 
ſeine Predigt ſehr. In weiteren Geſprächen mit Lange— 
mack ergab ſich, daß dieſer grade eine Schrift zur 
Widerlegung Zinzendorf's und der Herrnhuter ausar— 
beitete, die er jedoch nur durch die Schriften ihrer 
Gegner kannte; der Graf gab ihm die nöthigen Auf— 
ſchluſſe, theilte ihm die eignen Schriften mit, und 
konnte alsbald ohne Bedenken ſich ſelbſt und feine Ab— 
ſichten völlig zu erkennen geben. Er fand die beſte 
Aufnahme, und alles wurde nun raſch in's Werk ge— 
ſetzt. Langemack unterwarf mit Zuziehung des Doctor 


Biographiſche Denkmale. V. 12 


—. 8 178 a 


Sibeth, eines nicht minder angeſehenen Gottesgelehr— 
ten, den Grafen einem mehrtägigen ſtrengen theolo— 
giſchen Examen, prüfte deſſen Schriften und Meinun- 
gen, letztere nach zum Theil neuen und für dieſen Zweck 
eigends und ausführlich verfaßten Darlegungen, wozu 
auch noch vier Predigten kamen, welche der Graf im 
Laufe dieſer Verhandlungen hielt, und ertheilte demſel— 
ben hierauf ein von Sibeth mitunterſchriebenes aus— 
führliches Zeugniß der Rechtgläubigkeit. Hiebei war 
auf manche paradoxe Aeußerungen, auf die ehmalige 
Billigung verdächtiger Lieder, welche man ihm zum 
Vorwurf machen wollte, ſo wie auf ſeine beſondern 
Meinungen vom Eheſtande, vom Fußwaſchen, vom Va— 
terunſer, welches Gebet er als ein bei beſtimmtem An— 
laß beſtimmten Perſonen empfohlenes nicht allgemein 
und täglich gebraucht wiſſen wollte, und anderem der— 
gleichen, Rückſicht genommen, und alles dies als Dinge 
bezeichnet, welche der Hauptſache, daß er reinen evan— 
geliſchen Sinnes und Glaubens ſei, keinen Abbruch 
thäten. 

Mit dieſem Zeugniſſe begab ſich Zinzendorf, nach— 
dem er noch zwei durchreiſende Brüder, die nach Lapp— 
land als Heidenboten gingen, zu Schiff gebracht, und 
zuletzt auch ſeinem Hausherrn, zu deſſen großer Ver— 
wunderung, den ganzen Zuſammenhang entdeckt hatte, 
freudig auf die Heimreiſe, und traf den 8. Mai glück- 
lich in Herrnhut ein. Hier ſchrieb er an den Superin— 
tendenten Löſcher nach Dresden, und theilte demſelben 


HH 179 Bo 


das Geſchehene mit; dieſer antwortete bedenklich, worauf 
aber Zinzendorf in ferneren Briefen ſeine Sache ge— 
nauer darlegte, und unter andern ſagte: „Was mein 
Talent betrifft, ſo iſt mein Sinn von Jugend auf dar— 
auf gerichtet, Seelen zu Jeſu zu bereden, und ich kann 
mich unter die Prophetenknaben zählen.“ Auch von 
Kopenhagen, wohin er ſein Vorhaben gemeldet, erhielt 
er keine beifällige Antwort; allein ihn konnte nichts irre 
machen. Seine nächſte Sorge war, wo möglich auf 
ſolche Weiſe in den geiſtlichen Stand öffentlich einzu— 
treten, daß die Vorurtheile der Welt nicht zu hart an— 
geſtoßen würden, wobei auch der däniſche Orden, wel— 
chen er noch trug, — den Degen hatte er in Stral— 
ſund für immer abgelegt, — beſonders zu beachten 
war. Hiezu ſchien eine Gelegenheit in Würtemberg 
ſich darzubieten, wo es proteſtantiſche Prälaten gab. 
Er ſandte daher den Bruder Spangenberg nach Stutt— 
gart, mit dem Geſuch an den Herzog von Würtem— 
berg, derſelbe möchte ihn zum Prälaten des verfallenen 
Kloſters Sankt-Georgen ernennen, welches er alsdann 
auf eigne Koſten herſtellen und zu einem theologiſchen 
Seminarium einrichten wollte. Der von der proteſtan— 
tiſchen Kirche zur katholiſchen übergetretene Herzog Karl 


Alexander ging jedoch auf die Sache nicht ein, weil er 


ein zu großes Aufſehn und ſelbſt ein Mißtrauen der 

katholiſchen Geiſtlichkeit, als wende er ſich wieder den 

Evangeliſchen zu, befürchtete. Inzwiſchen hatte Span— 

genberg mit dem Kanzler Pfaff in Tübingen nähere 
12 * 


> 180 B&>- 


Verhandlung angeknüpft, und ihn ſchriftlich gefragt, ob 
es denn dem Grafen mit einigem Schein der Billig— 
keit zu verdenken wäre, wenn er ganz einfach den Stand 
eines Geiſtlichen annähme? Der Kanzler gab hier— 
über ein umſtändliches Gutachten im Namen der theo— 
logiſchen Fakultät, worin es unter andern hieß, wenn 
es in der römiſchen Kirche nicht lächerlich ſei, daß auch 
große Fürſten geiſtliche Aemter bekleideten und predig— 
ten, ſo würden ja die Evangeliſchen nur wunderlich 
fein, dies einem gottſeligen Grafen zu verargen, der 
noch dazu hier in ganz andern und rechtſchaffenen Grün— 
den ſtehe, und, während jene Hoheit und Intereſſe ſuch— 
ten, die Hoheit ſeines Standes um Jeſu willen hie— 
durch lauterlich verläugne. Spangenberg meldete vor 
ſeiner Abreiſe nach Georgien, wohin er eine Brüder— 
kolonie begleitete, dieſe günſtigen Umſtände dem Grafen. 
Dieſer, der ſchon dem würtembergiſchen Kirchendirek— 
torium nach Stuttgart geſchrieben hatte, daß er im 
Namen Gottes den Entſchluß gefaßt, mit Ergreifung 
des geiſtlichen Standes, nach dem apoſtoliſchen Exem— 
pel 1. Kor. 16. ſich ſelbſt zum Dienſt zu verordnen, 
reiſte darauf ſelbſt nach Tübingen, übergab der theo— 
logiſchen Fakultät eine lateiniſch geſchriebene Erklä— 
rung ſeines Berufs und Wandels, und wurde darauf 
am 19. Dezember durch ein Programm der Fakultät, 
welche ſich auf ihre eignen früheren Unterſuchungen 
und auf das Zeugniß von Stralſund hiebei ſtlützte, 
förmlich in den geiſtlichen Stand aufgenommen. Gleich 


> 181 N22 


an demſelben Tage predigte er in Tübingen zweimal 


öffentlich. 5 

Nach feiner Rückkunft in Herrnhut, die am Neu- 
jahrstage 1735 erfolgte, trat er in ſeine gewöhnlichen 
Beſchäftigungen wieder ein. Er führte mit nachdrück— 
licher Ermahnung den Bruder Leonhard Dober, welcher 
dazu aus Weſtindien zurückberufen worden, an die 
Stelle des verſtorbenen Martin Linner in das Aelteſten— 
amt ein, deſſen ausgedehnte Wirkſamkeit alle Brüder, 
wo fie auch immer fein mochten, ja die nachherigen 
Biſchöfe ſelbſt, umfaßte, und verſprach, gleich allen 
Andern, ihm Ehrerbietung und Gehorſam. Mit Dober 
war auch ein junger Neger, der nachher feierlich ge— 
tauft wurde, und auch der Zimmermann David Nitſch— 
mann der Aeltere, aus Weſtindien gekommen. Uebri— 
gens waren die Nachrichten von den ausgeſandten Hei— 
denboten nicht erfreulich; von den nach Santa-Cruz 
gegangenen Brüdern und Schweſtern waren ſchon 
über die Hälfte geſtorben, was einen übeln Eindruck 
machte, und gegen den Grafen, der doch ſelbſt das 
Unternehmen wenig gebilligt hatte, viele Mißur— 
theile veranlaßte. Aber noch andre Schwierigkeiten, 
an welche man bisher nicht gedacht, ſtellten ſich dem 
Bekehrungswerk entgegen. Die ausgeſandten Boten 
waren meiſt unſtudirte Handwerker, ohne geiſtliche Weihe, 
gleichwohl geriethen ſie ſofort in den Fall, die Taufe 
zu verrichten und das Abendmahl auszutheilen, zu wel— 
chen Handlungen, wenn auch nicht die Gemeinde, 


29 182 Ge 


doch gewiß jede fonftige geiftliche und weltliche Be— 
hörde ihnen alle Befugniß abſprechen durfte. Zinzen- 
dorf überlegte mit ſeinen Vertrauten, wie hier zu hel— 
fen ſei, und da man nicht hoffen konnte, daß irgend ein 
Lutheriſches Konſiſtorium ſolche Brüder zu Geiſtlichen 
würde ordiniren wollen, ſo beſchloß man, hiezu in eig— 
ner Mitte eine Behörde aufzuſtellen. Die alten mäh— 
riſchen Brüder hatten Biſchöfe, welche durch Hände— 
auflegen die geiſtliche Weihe ertheilen konnten, es kam 
nur darauf an, auch in Herrnhut für die auswärtigen 
Brüdergemeinden einen Biſchof einzuſetzen. Nachdem 
das Vorhaben durch das Loos die Beſtätigung des 
Heilands erlangt, ſchrieb Zinzendorf nach Berlin an 
den Oberhofprediger Jablonski, als damaligen älteſten 
Biſchof der Brüderkirche, trug ihm die Sache vor, und 
empfahl ihm zugleich den vorerwähnten David Nitſch⸗ 
mann, für welchen ſich die Ueberlegungen und Prüfun— 
gen entſchieden hatten. Der alte Jablonski war hoch— 
erfreut über dieſen Antrag, zog ſeinen Kollegen zu Liſſa 
in Großpolen, den Biſchof Sitkovius, hinzu, und nach— 
dem er den Kandidaten näher kennen gelernt und ge— 
prüft, ertheilte er demſelben feierlich die Weihe zum 
Biſchof und alle Vollmachten, welche mit dieſem Amte 
verbunden ſind. Ein großes Hinderniß war auf dieſe 
Weiſe für das auswärtige Wirken hinweggeräumt, aber 
eine andre Verlegenheit ſtellte ſich dafür ſogleich in 
der Heimath ein. Es entſtand nämlich die Frage, wie— 
fern die Gemeinde von Herrnhut, nachdem ſie einen 


e 183 42 


Biſchof in ihrer Mitte habe, noch in Verbindung mit 
der Gemeinde und Kirche von Bertholdsdorf bleiben 
könne? Die Abtrennung von dieſer wurde zugleich 


eine Aufhebung der Gemeinſchaft mit der Lutheriſchen 
6 Kirche, und dies wäre in allem Betracht unerſetzlicher 
Schaden geweſen; daher die Gegner um ſo mehr eine 
nothwendige Folgerung daraus machten, und die Sache 
ein bedenkliches Anſehn erhielt. Zinzendorf erklärte 
zwar ausdrücklich, daß der Prediger in Bertholdsdorf 


nach wie vor auch für Herrnhut gelte, und widerlegte 


auch ſchriftlich manche Beſchuldigungen, welche öffent— 
lich gegen ihn vorgebracht waren. Indeß hatten doch 
ungünſtige Eindrücke auch bei ſonſt Befreundeten Raum 


gewonnen, und dies beſonders in Kopenhagen, wo die 


Verhältniſſe ihm ſo wichtig dünkten, daß er deßhalb 


ſelbſt dahin zu reiſen beſchloß. 
Von David Nitſchmann begleitet kam er am 8. Mai 
1735 dort an. Seine Gegenwart hielt ſeine Feinde 


im Dunkeln, die Beſchuldigungen verſchwanden, und 


der Hof, zuvorkommend und freundlich wie ſonſt, ließ 
deßhalb den Vorſchlag, welchen er ſelbſt dem Grafen 
gemacht hatte, das Mißtrauen einiger Theologen durch 
ein Kolloquim zu beſeitigen, wieder fallen. Unbefrie— 
digt durch dieſe Wendung reiſte Zinzendorf nach acht 
Tagen von Kopenhagen wieder ab, nahm den Rückweg 
durch Schweden über Malmoe und Aſtadt, wo er ſich 
einſchiffte, und kam ohne weiteres Begebniß ſchon am 
28. Mai wieder in Herrnhut an. Da er in Malmoe 


ch 184 Bo 


einige Beſuche gemacht und empfangen, und in Aſtadt 


längeren Aufenthalt zu beabſichtigen, worauf der Be— 


fehl erging, es ſolle ihm dies, der ſchon von Kopen- 
hagen wegen ſeiner Irrthümer weggewieſen worden, 


nicht verſtattet werden. Als er hievon in Herrnhut 
Nachricht empfing, glaubte er ſo viele falſche Angaben 


nicht unberichtigt laſſen zu dürfen, und verfaßte daher 


ein ausführliches Schreiben an den König von Schwe— 


den, worin er die Uebereinſtimmung der Brüder mit 


der augsburgiſchen Konfeſſion gründlich erörterte, und 


ſich und die Seinigen gegen die mannigfachſten Ankla= 
gen vertheidigte; dieſes Schreiben ließ er ſpäter drucken, 


und auch andern Königen und Fürſten zufertigen, ſo 


ö 
mehrere Tage auf guten Wind gewartet hatte, ſo war 
über ihn nach Stockholm berichtet und dort der Irr- 
thum veranlaßt worden, er ſcheine in Schweden einen 


wie in Regensburg an ſämmtliche Reichstagsgeſandte 


austheilen. An den König von Preußen ſandte er 
daſſelbe unter dem 14. Februar mit folgendem Beglei— 
tungsbriefe, den wir zum erſtenmale dem Druck hier 


zu übergeben begünſtigt ſind: „Allerdurchlauchtigſter 


großmächtigſter König, allergnädigſter König und Herr! 
Das glückſelige Loos meines Lebens, unter lauter Bauern 
und Exulanten zu wohnen, hat mich wohl gegen die 
Hohen dieſer Erde ziemlich fremde gemacht, und wenn 
ich zugleich die Seligkeit genöſſe, in meiner lieben 
Stille gelaſſen zu werden, ſo wollte ich mich gern da— 
mit begnügen, jedem Geſalbten des Herrn den Segen 


des Herrn zu wünſchen, und meinem theuerſten Lan- 
desherrn überdies mit zärtlichſter Unterthanstreue zu 
den Füßen zu liegen, ohne ein oder andere unter den 
Majeſtäten mit meinem geringen Namen und Zeilen 


zu behelligen. Allein, allergnädigſter König und Herr, 


| 


da ich wahrnehme, daß fih viel Menſchen bemühen, 
mir Glimpf und Namen zu brechen, und dadurch nicht 
ſowohl mich, als meine liebe mähriſche Brudergemeinde 
zu ruiniren, ſo finde ich mich im Gewiſſen verbunden, 
ein unterthänigſtes Gegenwort zu ſprechen, wo es zu— 
weilen erforderlich ſein will. Die Gelegenheit dieſer 
beiliegenden Schrift war, daß, nachdem man Ihro 
Majeftät den König von Dänemark zu bereden geſucht, 
ich ſei irrig und verfübriſch, und werde deßhalb aus 
den ſach ſiſchen Landen geſchaffet werden, welches ohne 
allen Grund war, und damit einige Motus in Kopen⸗ 
hagen erreget, ſo hatte man kurz darauf den König in 
Schweben, ober den Senat oder auch was ein Kolle— 
gium daſelbſt, das nomine regis ſchreibet, abermals da= 
mit geblendet, als ob ich Ketzerei halber aus den dä— 
niſchen Landen vertrieben worden. Hierauf reſolvirte 
man daſelbſt etwas hurtig, mir dergleichen consilium 
abeundi aus Schweden zu geben, und die supposita 
aus Sachſen und Dänemark waren irrig. Weil ich 
nun faſt beſorgen muß, man werde auch Ew. Majeſtät 
nach und nach ſolche Inſinuation von mir und meiner 
Gemeinde zu machen ſuchen, welche mein etwa vor 
Standesperſonen, die in weltlichen otficüs bereits 


— 


geſeſſen, nicht allzu gewöhnliches Amt eines evange— 
liſchen Predigers ſchmälern können, fo habe dieſe ein- 
fältige und wahrhaftige Schutzſchrift auch zu Ew. Ma- 
jeſtät Füßen niederlegen und allerunterthänigſt bitten 

wollen, wenn etwa von mir etwas zu wiſſen wäre 
(denn außerdem wollen Ew. Majeſtät ſich mit Leſung 
dieſer Blätter nicht beſchweren,) ſolche des Anſehens 
zu würdigen. Ich bin nun 24 Jahr und drüber darin- 
nen begriffen, zu thun was ich heute thue, nämlich mei— 
nen theuren Heiland, den ich liebe als mein Leben, je— 
dermann ſüß zu machen, daraus iſt noch nirgends keine 
Unordnung entſtanden, obgleich bis in dieſes mein 35ſtes 
Jahr gar ſehr viel Verfolgung erfahren, wofür ich den 
Herrn preiſe, und gegen keinen Menſchen etwas habe; 
o daß fie alle ſelig würden! Ich depreeire mit tief— 
ſtem Reſpekt meine genommene Freiheit, und werde 
mit der größten Submiſſion verbleiben lebenslang Ew. 
Königlichen Majeſtät allerunterthänigſt gehorſamſter Die— 
ner Ludwig Graf und Herr von Zinzendorf.“ Seine 
Thätigkeit in der Gemeinde, ſein Antheil an den Er— 
bauungen, ſeine Beſeelung und Vermannigfaltigung der— 
ſelben, blieben ſich ſtets gleich. Auch als Schriftſteller 
wirkte er unabläſſig; ſeine Gedichte, ſeine kleineren 
Aufſätze, kamen theils einzeln, theils geſammelt her- 
aus; es erſchien ein Geſangbuch für die Gemeinde von 
Herrnhut, von welchem in der Folge noch die Rede 
ſein wird; es wurden Verſuche gemacht, die Bibel zu 
erklären, auch wohl in einzelnen Stücken neu zu über- 


m 18T ER 


ſetzen, was jedoch, wegen des Vorzugs, welchen nach 


Aller Geſtändniß die Arbeit Luther's immer behaup— 
tete, bald wieder aufgegeben blieb. Aber auch im In— 


nern des Herzens und Geiſtes war ſeine Regſamkeit 
in dieſer Zeit zu neuen Stufen emporgeſtiegen. Durch 


mancherlei Erörterungen und hauptſächlich durch Dip⸗ 


pel's heftigen Widerſpruch, war ihm ſchon früher die 
Lehre von der Verſöhnung beſonders wichtig geworden; 
er fand in dem ſogenannten Löſegelde, welches Chriſtus 
für uns gezahlt, den ausſchließlichen Quell alles Heils 
in Zeit und Ewigkeit, und bildete aus dieſer Ueberzeu— 
gung eine neue Grundlage und einen neuen Aufſchwung 


der in Herrnhut gepflogenen Gottſeligkeit. „Chriſti 
Verdienſt, Löſegeld, und Genugthuung durch ſein eigen 
Blut, — ſagte er, — iſt mein einiger Weg zum Him— 
mel.“ Die Gnade im Blute des Heilands, ſeine Wun— 
den und Male, wurden ſeitdem immer heißer ange— 
ſchaut und mächtiger geprieſen, und die vervielfachten 
Bilder vom Lamm, welches der Welt Sünde trägt, 
und deſſen Blut alle Sünden abwäſcht, gewannen vor 
allen andern Vorſtellungen ein ſolches Uebergewicht in 


Zinzendorf's Reden und Schriften, und von daher in 


dem ganzen Umfange der Brüdergemeinde, daß die 


ſpielenden Ausdrücke einer beſonderen Andacht zum 


Lamme, bald ein unterſcheidendes Kennzeichen des 

Herrnhuterthums für Gegner und Angehörige wurden, 

und ſeitdem ſtets geblieben ſind. 1 
Die Nähe konnte ſeinen Wirkungseifer nie ganz 


> » 188. On 


befriedigen, und leicht fand ſich ein Beweggrund zu | 
neuer Wanderung. Im Spätherbſte des Jahres 1735 
trat er mit Genehmigung der Gemeinde eine Reiſe an, 
welche ihn bis Konſtanz und Zürich führte. Gleich im 
Anfange derſelben ereignete ſich ihm ein wunderbarer 
Vorgang. Er war in der Gegend von Bautzen bei 
einem Grafen von Gersdorf eingekehrt, und hatte mit | 
dieſem bis gegen Mitternacht erbauliche Geſpräche ge- 
führt; man wies ihm ſein Schlafzimmer an, ein ängſt⸗ 
liches Gefühl aber drängte ihn zur Abreiſe; ungewiß 
was er thun ſollte, fragte er den Heiland, und da er 


in ſeinem Innern deſſen Zuſtimmung erfahren, ließ er 
ungeſäumt anſpannen, nahm Abſchied von ſeinem er— 
ſtaunten Wirthe, und fuhr in dunkler Nacht davon. 


Gleich nachher ſchlug die Zimmerdecke auf das Bett 


nieder, in welchem er hatte ſchlafen ſollen, und jener 


Ahndung dankte er das Leben. Von Freiberg ſandte 
er einen Bruder, der ihn bis dahin begleitet hatte, 
nach Herrnhut zurück, und reiſte fortan zu Fuß und 
ganz allein weiter, um ſich den vertraulichen Unterhal- 
tungen, die er mit dem Heilande ſo laut und eifrig 
führte, als wäre derſelbe leibhaftig ſein Gefährte, deſto 
freier hinzugeben. So wanderte er denn einher, edlen, 
raſchen Ganges, erhobenen Hauptes, voll Gedanken und 


Empfindungen, mit allem andern mehr, als mit dem 


Wege, der Zeit und den Umſtänden beſchäftigt, auf 


dieſe Weiſe freilich kein guter Fußreiſender; nur in 
der größten Nähe ſcharfſehend, erkannte er, wenn er 


| —>H 189 s. 


fie überhaupt bemerkte, die Gegenſtände zu ſpät, oft 
erſt, wenn er ſich ſchon geſtoßen oder in Ungelegenheit 
verwickelt hatte; auch verfehlte er häufig die rechte 
Straße, oder blieb bis tief in die Nacht unterwegs, 
wenn er ſich den Tag über zufällig mit Leuten aufge— 
halten, die ſeinen Antheil weckten. Wer ihn um Hülfe 
anſprach, dem gab er nach deſſen Bedürfen, ohne ſein 
eignes im geringſten zu beachten; auch kannte er die 
verſchiedenen Münzſorten nicht, welche damals in Deutſch— 
land häufiger als jetzt wechſelten. Oft war er ganz 
entblößt, und fand nicht ſogleich die nöthige Aushülfe; 
einſt bot er ganz ermattet für etwas Brot und Waſſer 
ein paar Pfennige, die ihm geblieben, und wurde mit 
Spott abgewieſen. Die neuen Erfahrungen dieſer Reiſe 


mehrten allerdings ſeine Welt- und Menſchenkenntniß, 
ohne doch feinen Eifer zu ſchwächen. In Konſtanz fer— 
tigte er die Gemeindelooſungen für das folgende Jahr, 
und ſang auf der Stätte, wo Johann Huß und Hiero— 
nymus von Prag einſt, nach dem Spruche der Kirchen— 
verſammlung, den Feuertod gelitten, ein Lied zu Ehren 
dieſer Glaubenshelden. In Zürich, und auf der Rück— 
reiſe in Nürnberg ſcheint er dem Heilande Seelen zu 
gewinnen mit Erfolg beſchäftigt geweſen zu ſein. Nach— 
dem er noch in Ebersdorf einige Zeit verweilt, wo die 
kleine Gemeinde der Erweckten, deren jetzt auch der 
als Hofprediger dorthin berufene Magiſter Steinhofer 
ſich annahm, immer gern ſeine Einwirkung empfing, 
kam er zum Jahresſchluß nach Herrnhut zurück, wo er 


5 190 So 


am letzten Dezember die Nachtwache hielt, und bis zum 
folgenden Morgen um vier Uhr im Gebet zubrachte. 


Er lag hierauf mehrere Tage krank danieder, vermuth- 
lich in Folge der ungewohnten Beſchwerden einer Reiſe 


in ſo ungeſunder Jahrszeit; allein dies konnte ſeine 


Thätigkeit immer wenig hemmen. In dem Gefühl der 
Demuth und Entſagung, das ihn beſeelte, that er jetzt 
einen Schritt, welchen, nach der letzten lauen Aufnahme 


in Kopenhagen, eben fo ſein Stolz hätte begründen kön- 
nen. Gleich am 1. Januar 1736 ſchrieb er an den 


König von Dänemark, um entweder deſſen Einwilligung 
in ſeinen geiſtlichen Stand, oder die Erlaubniß zur 
Rückſendung des däniſchen Ordens zu erbitten; als letz— 
teres genehmigt wurde, ſandte er den Orden zurück, 
doch aus einem Schicklichkeitsgefühl, welches ihn auch 
die weltlichen Dinge nach angenommenem Werthe be— 
handeln ließ, nicht an den Ceremonienmeiſter, wie ihm 
angedeutet worden, ſondern an den König ſelbſt, aus 
deſſen Hand er ihn vormals empfangen hatte. In die— 
ſer Zeit dauerten ſeine Konferenzen mit Brüdern und 
Schweſtern über das Wohl der Gemeinde oft von früh 
Morgens bis ſpät in die Nacht; der Zuſtand jeder 
Seele in Herrnhut wurde beſprochen, die Mittel zur 
Förderung für jede beſonders überlegt; man prüfte die 
mannigfachen Behandlungsweiſen, Anſtalten und Ver— 
bindungen, bei welcher Gelegenheit Zinzendorf die Art 
und die Schriften Luthers nachdrücklich empfahl; man 


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| BIN RR 


ſtellte einige Mißbräuche ab, und neue Verpflichtungen 
zum Guten wurden wechſelſeitig ausgeſprochen. 
| Mittlerweile reifte bei dem Grafen ein neuer 
Reiſeplan, zu welchem Spangenberg's Thätigkeit die 
erſte Anregung gegeben. Dieſer hatte in Amſterdam, 
als er nach Amerika reiſte, für die Handlungsſozietät 
von Surinam, um ihr die künftig etwa dorthin reiſen— 
den Brüder zu empfehlen, eine kurze Nachricht von 
ihnen aufgeſetzt, und dem Zwecke gemäß in's Hollän— 
diſche übertragen laſſen. Der Ueberſetzer, Iſaak Le- 
long, für die Sache eingenommen, und zugleich auf 
Erwerb bedacht, vereinigte mit dieſem Aufſatz noch an— 
| dre Nachrichten und Urkunden, und gab alles zufammen 
in holländiſcher Sprache unter dem Titel heraus: „Gottes 
Wunder mit ſeiner Kirche.“ Das Buch machte großes 
Aufſehn, und hatte zu Folge, daß viele gottfelige Per— 
| fonen in Holland, angeſehene Prediger, hohe Staats- 
beamte und ſelbſt die verwittwete Fürſtin von Oranien, 
| an den Grafen ſchrieben, und mit ihm in Verbindung 
| zu ſtehn begehrten. Das Buch war ihm nicht lieb, 
| weil er in den damaligen Umſtänden für Herrnhut die 
ärgſte Läſterung für weniger ſchädlich hielt, als ſolch 
öffentlichen Lobpreis. Doch kam gegen ſeinen Wunſch 
auch ein zweiter Theil heraus, und den neugeweckten 
Lebensverhältniſſen ſelbſt konnte Zinzendorf nur Sorg— 
falt und Eifer widmen. Wiederholte, dringende Ein— 
ladungen beſtimmten ihn zur Reiſe nach Holland, und 
ſchon am 15. Februar, nachdem er zuletzt noch alles 


ee 192 & 5 


reiflich geordnet, und bis tief in die Nacht über ſechzig 
Perſonen einzeln geſprochen hatte, trat er feinen. Weg 


an. Diesmal reiſte er nicht allein, ſeine Gemahlin und | 


feine älteſte Tochter Benigna begleiteten ihn, und eine | 


Anzahl von Brüdern und Schweftern vermehrten die 
Geſellſchaft. In Hof, zwiſchen Meißen und Leipzig, 


beſuchte er ſeinen älteren Bruder, der zwar auch ein 


frommer Mann, aber ihm an Eifer und Betriebſamkeit 


nicht ähnlich war. In Jena verweilte er drei Tage, 


und erbaute die dortigen Frommen, die er auch der 


Reihe nach einzeln ſprach, durch Reden und Lieder. 
Nach fortgeſetzter beſchwerlichen Winterreiſe traf er 
endlich am 4. März in Amſterdam ein, wo er gleich, 
im Hineinfahren auf der Straße eine dran laut ſin⸗ 
gen hörte: N 

„Sing, bet, und geh auf Gottes on 


‚+ 


Verricht das Deine nur getreu, 
Und trau des Himmels reichem Segen, 


So wird er bei Dir werden neu!“ 


When Spruch er als glücklichſtes verheißendes Zei⸗ | 


chen mit Rührung und Dank aufnahm. 

In Amſterdam erhielt er gleich zahlreichen Beſuch 
von vornehmen und geringen Leuten, ſchon irgendwie 
ihm bekannten oder Bekanntſchaft wünſchenden. Eine 
geräumige Wohnung wurde von ihm und den Seinigen 


ganz erfüllt. Seine Hausgenoſſenſchaft, ſchon durch ſo 
viele Begleiter aus Herrnhut beträchtlich, vermehrte 


ſich noch durch beſuchende Brüder aus England und 


r 


| rn 193 C2 — 


Holſtein. Die Gräfin führte mit treuer Sorgfalt ſelbſt 
die Wirthſchaft; Dienende unterſchieden ſich als ſolche 
kaum, manche waren nur aufgenommen, damit ihnen 
geholfen würde, andre beeiferten ſich zu jeder Leiſtung 
auch unverpflichtet; an jedem geiſtlichen und leiblichen 
Wohl hatten Alle nach ihrem Bedürfniſſe Theil. Der 
Graf beobachtete genau dieſelbe Hausordnung, wie in 
Herrnhut. Morgens um 8 Uhr hielt er eine Rede 
über die Looſung des Tages; in der Abenddämmerung 
wurde geſungen; um eilf Uhr zur Nacht eine kurze 
| Erbauung zum Tagesſchluſſe gehalten, welche die Abend— 
viertelſtunde hieß; außer dieſen regelmäßigen Verſamm— 
lungen fanden noch beſondere nach gelegentlichen An— 
läſſen Statt; an Bettagen, Gedächtnißtagen, ganz wie 
daheim. Fremde, die grade zum Beſuch da waren, 
wenn Singe- oder Betſtunden eintraten, mochten den— 
ſelben wohl aus Andacht beiwohnen; bald aber kamen, 
theils aus Herzenstrieb und theils auch wohl aus Neu 
gierde, abſichtliche Beſuche, um den Grafen predigen 
zu hören, und in kurzem ſo viele, daß der Raum zu 
enge wurde, es mußten die Frauen und die Männer 
abgeſondert auf verſchiedene Stunden angewieſen wer— 
den. Doch hiebei entſtand Irrung und ein Gedräng 
und Auflauf vor dem Hauſe, ſo daß der Graf vor die 
Thüre heraustreten und durch eine Anrede die Menge 
beſchwichtigen mußte, welche ſich denn auch bald ver— 
lief. Um jedoch ferneren Auftritten dieſer Art auszu— 
weichen, ſtellte er die Verſammlungen lieber ganz ein, 
Biographiſche Denkmale. V. 13 


m 194 2. 


und hielt nur hin und wieder noch einzelne Vorträge 
außerhalb des Hauſes vor ausgewählten Zuhörern. 
Die Wirkung ſeiner Predigten und Unterredungen war 
außerordentlich. Außer den Reformirten, die ſich näher 
mit ihm einließen, und deren ächte Frömmigkeit und 
mildes Benehmen ihn hier beſonders anſprach, empfan— 
den ſeine Anziehung wie immer auch die verſchiedenen 
Sekten und Sonderlinge im Glauben; eine religiöſe 
Kraft war hier faſt immer mit Gewißheit vorauszu— 
ſetzen, es galt nur die erſtarrten Formen, in welchen 
ſie befangen lag, wieder einzuſchmelzen, und hiezu war 
die eindringliche Herzenswärme des Grafen überaus 
geeignet. In Holland hatte er es beſonders mit Sy 
zinianern und Mennoniten zu thun, deren viele durch 
ihn aufrichtige Bekenner des Heilands wurden. Ein 
gelehrter Sozinianer, Samuel Crellius, wurde von den 
liebreichen Unterredungen ſo hingeriſſen, daß er mit den 
Seinigen nach Herrnhut ziehen wollte; zwar änderte er 
ſeine Richtung wieder, kam aber zehn Jahre ſpäter 
nochmals zu dem theuren Gotteslamme, wie er es 
nannte, zurück, und ſtarb mit der ausgeſprochenen Zu— 
verſicht, in deſſen Wunden ſein Heil zu finden. 

Der Umgang jedoch mit fo vielerlei Perſonen ver- 
ſchiedenen Glaubens wurde ein Grund neuer Mißur— 
theile über Zinzendorf; man legte ihm Meinungen bei, 6 
die er beftritt oder nur anhörte, man beſchuldigte ihn 
der Hinneigung, wo eine zu ihm Statt fand, ja man 
wollte in ſeinem religiöſen Treiben ein politiſches zu 


eh 195 S8 


Gunſten des Hauſes Oranien ſehn. Eine von ihm in 
Druck gegebene Erklärung über ſeinen Umgang und ſein 
Wirken in Amſterdam konnte dergleichen Mißreden nur 
theilweiſe hemmen. Für die Sache der Brüder zeigte 
ſich indeß thätige Förderung. Die Schwierigkeiten, 
welche der Zulaſſung der Brüdermiſſionen in den hol— 
ländiſchen Kolonien entgegenſtanden, wurden durch den 
Eifer des Grafen, der mit den Direktoren der oſtin— 
diſchen und der ſurinamiſchen Handelsgeſellſchaft, ſo 
wie mit den wichtigſten Mitgliedern der Verwaltungs- 
behörden und des Seeweſens klug und eindringlich zu 
reden wußte, wo nicht ganz gehoben doch ſehr vermin— 
dert. Die verwittwete Fürſtin von Oranien wünſchte 
aber auch eine Niederlaſſung der Brüder in Holland 
ſelbſt, wo ein ſolcher Zwiſchenort für den Verkehr der 
Miſſionen mit Herrnhut ein großer Vortheil ſein mußte. 
Ein Prediger van Alphen und ein reicher Kaufmann 
Beuning unterſtützten den Vorſchlag bei Zinzendorf, 
und boten ihre hülfreiche Vermittelung; demnach wurde 
in der Herrſchaft Aſſelſtein, welche der Fürſtin gehörte, 
ein Stück Land angekauft, auf welchem ſpäterhin der 
Ort Heerendyk emporſtieg. Der Graf aber dachte 
hierauf an die Heimreiſe, und traf wegen ſeiner immer 
noch zahlreicher gewordenen Hausgenoſſenſchaft ver— 
ſchiedene Anordnung; ein Theil blieb in Holland wegen 
der beſchloſſenen Anſiedlung in Aſſelſtein, ein andrer 
Theil ſchlug den nächſten Weg nach Herrnhut ein, ein 
dritter Theil blieb mit ihm und ſeiner Gemahlin, die 
13 * 


9 196 DI 


— 


zum Beſuche der Fürſtin nach Leuwarden abreiſte, wo⸗ 


hin er ſelbſt über Gröningen nachfolgte. Geſpräch über 
Seelenzuſtände, Erbauungen, Abrede wegen Heerendyk, 


für welches der Graf alle Geldbeiträge verbat, indem 


die Brüder ſich ſchon durchbringen würden, erfüllten 


hier mehrere Tage in gewohnter Weiſe. Endlich am 


16. April brach die Geſellſchaft von Leuwarden auf, 


verließ unter Seegenswünſchen Holland, und verfolgte 


ihren Weg zur Heimath. 


In Kaſſel fand Zinzendorf Briefe aus Herrnhut | 
mit der Nachricht, daß ihm durch eine Königliche Ver- 
fügung jeder fernere Aufenthalt in Sachſen unterſagt 


worden. Er trug dieſen unerwarteten Schlag ſtandhaft, 
und in tröſtlicher Unterredung mit dem Heiland ſetzte 
er die Reiſe fürerſt nach Ebersdorf fort. Unterwegs 
kam David Nitſchmann, der von Herrnhut ihm entge- 


gengeſchickt war und das Königliche Reskript über— 


brachte; er meldete, daß eine zweite Kommiſſion in 
Herrnhut erwartet werde, deren Zweck, wie man fürchte, 
die gänzliche Zerſtörung der Gemeinde ſei. Als Grund 


wurden die alten Klagen über die Aufnahme fremder 
Unterthanen und einige Störungen angegeben, die ſich 
in der Lauſitz durch die Verſammlungen der Erweckten 
hin und wieder ereignet, und den Gegnern Zinzendorf's 


am Hofe gut gedient hatten. In Ebersdorf angelangt, 


dachte der Graf daran, wie und wo er die Brüder und 
Schweſtern, wenn ſie vertrieben würden, unterbringen 
könnte, ſo daß auch fernerhin gründlich für ihre See— 


= 


sm 197 Be 


lenpflege dabei geforgt wäre. Da er ſelbſt nicht mehr 
durfte, ſo ließ er ſeine Gemahlin nach Herrnhut reiſen, 
um dort alle nöthigen Vorkehrungen zu treffen, die be— 


ſonders in wirthſchaftlicher Hinſicht manche Schwierig— 
keit hatten. Die ſeitherigen großen Ausgaben für die 
beträchtlichen Bauten und für die Aufnahme ſo vieler 
Hülfloſen waren nicht aus dem Vermögen des Grafen 


allein beſtritten, ſondern zum Theil durch aufgenom— 
mene Gelder gedeckt worden. Glücklicherweiſe hatte 


der obengenannte Beuning den Grafen vermocht, dieſe 
Gelder, deren Kündigung zu befürchten und deren Zin— 
ſen hoch waren, durch ein neues in Holland zu mäßigen 
Zinſen bewirktes Anlehn abzutragen. Allein, ungeach— 
tet dieſer, wie durch höhere Fügung, im voraus ge— 
wonnenen Hülfe, ſtanden die Sachen noch ſehr beſorg— 
lich, und es bedurfte genauer Einrichtung, um für alle 
möglichen Fälle bereit zu ſein; Zinzendorf wollte daher 
auch nicht, daß ihm von ſeiner Gemahlin Geld geſchickt 
würde, er meinte nebſt ſeinen Mitpilgern ſchon ander— 
weitig fortzukommen, die regelmäßigen Einkünfte ſoll— 
ten, nach Abzug des an Zinſen Abzutragenden und für 
die Hauswirthſchaft Unentbehrlichen, ganz für die Sache 
des Heilands verwandt werden. Die Gräfin war kaum 
angekommen, als auch die Königliche Kommiſſion in 
Herrnhut eintraf, zu welcher diesmal auch der Superin— 
tendent Löſcher gehörte; ſie unterſuchte den ganzen Zu— 
ſtand genau, erhielt alle verlangte Auskunft, und zeigte 
ihrerſeits redlichen und milden Sinn; ſie entfernte ſich 


5m 198 Bo 


oO 


wieder, indem fie bekannte, nur günſtige Eindrücke em— 
pfangen zu haben. Inzwiſchen ſetzte Zinzendorf als 
Verbannter nun um fo mehr ſein ſchon vorher übliches 
Wanderleben fort; ſeine Umgebung war der Art nach 
ſtets dieſelbe, wenn auch in den Perſonen häufig wechſelnd, 
da bald einige verſchickt wurden, bald andre ſich an— 
ſchloſſen; jeder diente nach feiner Fähigkeit der Ge- 
meindeſache oder dem Hausweſen, und fiel dieſem nur 
zur Laſt inſofern es die Noth erforderte; die Verſamm— 
lungen zum Gebet, zum Singen und andrer Erbauung 
fanden einen Tag wie den andern Statt; die Sonn— 
und Feſttage wurden in herkömmlicher Weiſe begangen. 
Von Ebersdorf reiſte der Graf über Ulſtedt nach Frank- 
furt am Main, wo er am 26. Mai ankam, und ſo— 
gleich vielen Beſuch hatte. Man machte ihm und fei- 
ner Pilgergemeinde, wie ſein Gefolge genannt wurde, 
allerlei Vorſchläge, der Freiherr von Schrautenbach bot 
ihm ſein Schloß in Lindheim an, aber ihn lockte von 
allen dieſen Anträgen keiner, außer dem kaum annehm⸗ 
baren, auf der Ronneburg zu wohnen, einem alten hall⸗ 
verfallenen Schloſſe der Grafen von Aſenburg-Wäch— 
tersbach, wo eine Menge armer und ganz vernachläſſig— 
ter Leute lebten, unter welchen er Seelen für den Hei— 
land zu gewinnen hoffte. 

Unterdeſſen war die Gräfin mit den Kindern, mit 
Friedrich von Watteville, Chriſtian David, Leonhard 
Dober und anderer Begleitung von Herrnhut, wo ſie 
alles nach den Umſtänden geordnet hatte, glücklich ein- 


e 199 9 


getroffen; man fand die Ronneburg ganz unbewohnbar, 
der Graf aber war dieſer Meinung nicht, ſondern mie— 
thete von dem Amtmanne die leeren Zimmer, zog am 
13. Juni hinauf, und begann ſeine Predigten und Er— 
bauungen für die armen Leute; die Kinder ließ er zu 
ſeinen Kindern zum Eſſen einladen, ſorgte für den nö— 
thigen Unterricht, und ſuchte ſie durch Austheilung von 
Brot und Kleidung vom Betteln abzuhalten. Da man 
davon ſprach, ſeine Verſammlungen zu verbieten, ſo ge— 
rieth er in Eifer, und meinte, er würde ſich die Arbeit 
an den Seelen nicht wehren laſſen, ſondern über dieſer 
ſeiner Paſſion alles dran wagen. Ueberhaupt konnte 
man bemerken, daß ſein Treiben im Ganzen unruhiger 
und leidenſchaftlicher wurde, ſein Zorn leichter und un— 
gemeſſener ausbrach, und ſein durch Erfolge und Wider— 
ſtand aufgereiztes Gefühl ihn bisweilen an die Klippe 
geiſtlicher Machteinbildung warf. Doch bevor noch 
eine Störung wirklich verſucht wurde, verließ er die 
Ronneburg wieder, und trat am 27. Juli eine Reiſe 
nach Liefland an, wohin die dortigen Frommen, beſon— 
ders eine aus Sachſen gebürtige Generalin von Hallart, 
ihn eingeladen hatten. In Magdeburg beſuchte er den 
Abt Steinmetz, in Berlin ſeine Mutter und ſeinen 
Stiefvater, den Feldmarſchall von Natzmer, mit wel— 
chen er das herzlichſte Vernehmen fand. Ueber Königs- 
berg kam er den 8. September nach Riga, nachdem er 
die letzten ſechzig Meilen größtentheils zu Fuß, in ſteter 
Unterhaltung mit dem Heilande, zurückgelegt, im Wa- 


32 200 823 


gen aber, fo oft er eingeftiegen, auch den Fuhrmann 
oder etwa einen Reiſegefährten mit Bekehrungseifer 
heimgeſucht. In Riga und Reval, wohin er weiter— 
reiſte, fand er vielen Anhang unter Weltlichen und 
Geiſtlichen, predigte mit großem Zulauf, beförderte die 
damals angefangene Ueberſetzung der Bibel in's Eſth— 
niſche und Lettiſche, und gab zu andern frommen Wer— 


ken Rath und Hülfe. Man wünſchte ihn dort zu be 
halten, allein er konnte ſich auf etwas Feſtes nicht ein- 


laſſen. Briefe ſeiner Gemahlin meldeten ihm den Tod 
eines Söhnchens, und manche Bedrängniſſe, welche ſie 
inzwiſchen auf der Ronneburg erfahren. Er trat dar— 
auf die Rückreiſe an. | | 


In Memel ſchrieb er am 15. Oktober an den Kö- 


nig von Preußen, dem er einiges die Salzburger Be— 
treffende herzlich vortrug. Der Brief iſt merkwürdig, 
und da beſondere Gunſt hiezu uns in Stand ſetzt, ſo 


verfehlen wir nicht, den noch ungedruckten hier zum 


erſtenmal mitzutheilen. Er lautet wie folgt: „Aller- 
durchlauchtigſter u. ſ. w. Die beſondere Liebe, die ich 
zu Exulanten trage, bewegt mich, Ew. Königlichen Ma— 


jeſtät dieſes Blatt zu Füßen zu legen, und Selbter 


allerdemüthigſt anheim zu ſtellen, ob Sie geruhen möch— 
ten, bei Dero Salzburgiſchem Pflanzgarten in Litthauen 
mich zu einem unwürdigen aber treuen Handlanger mit 
aufzunehmen, und mir zu vergönnen, bei Erhaltung 
des großen Zwecks mit dieſen Dero Pflegekindern, ein 
weniges zu befördern. Die Weitläuftigkeit meiner 


9 201 8 


äußerlichen Umſtände geſtattet mir zwar nicht, mich der 
Sache ganz aufzuopfern, oder allenthalben in Perſon 
zu ſein. Ich hoffe aber doch durch Gottes Gnade 
Mittel zu finden, hierunter nicht ohne Nutzen zu arbei— 
ten, wenn Ew. Majeſtät ſich meine allerunterthänigſte 
ö Dienſte dabei nicht mißfallen laſſen, und der Fortgang 
des guten Zwecks ſoll meine Belohnung ſein. Zweier— 
lei bitte von Ew. Majeſtät mir allerunterthänigſt zu 
| Gnaden aus. Eines iſt, meine allerunvorgreiflichſten 
Vorſtellungen, ſowohl im Ganzen, als bei deſſen künf— 
tigen Theilen, nur unter Wenigen zu erhalten, damit 
ich nicht vor der Zeit hinderlichen Vorurtheilen ausge— 
| ſetzt werde, und daß ich insbeſondere die Nachrede ver— 

meide, ob wollte ich die Gemeinde zu Herrnhut dahin 
überführen, welches um ſo viel weniger nöthig, aber 
auch bei allen ſich vorzuſtellenden Möglichkeiten eini— 
gergeſtalt vermuthlich iſt, als Ew. Königlichen Majeſtät 
ich zuverläſſigſt bezeugen kann, daß dieſe Gemeinde, 
und ich, von der Perſon des Königs von Polen Ma— 
jeſtät, darunter wir wohnen, bis anhero und noch täg— 
lich, Gerechtigkeit, Geneigtheit, und ich darf wohl ſa— 
gen, viel Tragſamkeit und Geduld zu erfahren haben, 
welches ich gegen das gemeine Gerücht darzuthun im 
Stande bin. Das andre iſt, daß Ew. Königliche Ma— 
jeſtät die Sache ſelbſt, Dero von Gott verliehenen 
hohen Begabniß nach, weislichſt beurtheilen, und wenn 
ſich dahero in Dero Gemüth keine Abneigung finden 
ſollte, mich vorher allenthalben, durch getreue und tüch- 


* 202 8 


tige Männer, in genaue und ernſtliche Prüfung neh- 
men zu laſſen, wie weit meine Perſon und Vorſchläge 
hierunter annehmlich ſein könnten. Und da es dann 
von meiner wenigen Perſon ziemlich verſchiedliche Mei— 
nungen giebt, ſich diesfalls in eine ſolche Gewißheit 
ſetzen wollten, nach welcher Ew. Majeſtät keinen Zwei— 
fel übrig behalten, daß mein Gemüth aufrichtig, mein 
Zweck gerade, mein Vermögen von der göttlichen Güte 
unterſtützet, und die von mir zu erwartenden Fehler, 
theils in Gnaden zu überſehen, theils ohne Weitläuf⸗ 
tigkeit zu verbeſſern ſein werden. Ich verharre in tief— 
ſter Demuth und Ehrerbietung Ew. Königlichen Mas 
jeſtät allerunterthänigſt allergehorſamſter Nikolaus Lud— 
wig Graf von Zinzendorf. Selbſtkonzipirt. Auf der 
Rückreiſe aus Liefland am 15. Oktober 1736.“ In 
Königsberg hielt er eine geiſtliche Verſammlung und 
ſchrieb an den König von Polen einen demüthigen 
Brief, worin er um Unterſuchung ſeiner Sache bat, 
in Stolpe predigte er; am 25. Oktober traf er in Ber- 
lin ein. 

Hier empfing er ſogleich ein Handſchreiben des 
Königs, und Jablonski hatte ſchon den Auftrag, ihn 
nach Wuſterhauſen einzuladen, wo der König ihn ſpre— 
chen wollte. Friedrich Wilhelm J. vereinigte ſtreng— 
gläubige Frömmigkeit mit gradſinnigem Verſtand, gleich 
abhold den Schwärmern wie den Freigeiſtern; ſchon 
ſeit zehn Jahren hörte er von dem Grafen Zinzendorf, 
dem Stiefſohne ſeines Feldmarſchalls, die wunderlich— 


| h 203 S. 


ſten Dinge, und nach allem war das Vortheilhafteſte, 
was er von ihm urtheilen konnte, derſelbe müßte ein 
luſtiger oder melankoliſcher Fanatikus ſein, ein halb 
ridikuler, halb gefährlicher Menſch, wie Zinzendorf ſelbſt 
es ausdrückt, der ſich auch mit einer Verweiſung aus 
den preußiſchen Landen nah genug bedroht glaubte. 
Gleich nach den erſten Worten jedoch ſah der König, 
daß der Graf der Mann nicht ſei, als den man ihn 
geſchildert hatte, ſondern durchaus verftändig, weltkun— 
dig, und dabei höchſt unbefangen und aufrichtig. Er 
ließ ſich daher in gründliche Beſprechung mit ihm ein, 
und ſah ihn drei Tage hinter einander mit ſteigender 
Theilnahme, ſo daß er am dritten Tage vor dem gan— 
zen Hof in derben Ausdrücken bekannte, er ſei wegen 
des Grafen belogen und betrogen, es habe weder der 
Ketzerei noch der Staatsverwirrung halber mit ihm 
Noth, ſeine ganze Sünde ſei, daß er als ein Graf und 
in der Welt angeſehener Mann ſich dem Dienſte des 
Evangeliums ganz widmete. Von einer dieſer Unterre— 
dungen welche auf dem Schloßhofe zu Wuſterhauſen 
vor vielen Perſonen geſchah, berichtet Zinzendorf ſelbſt: 
„Ihro Majeſtät fragten mich, nach einem generalen 
gnädigen Empfang und realen Spezialfragen, dabei 
Sie mit meiner Antwort zufrieden ſchienen, endlich 
ganz gerade: Warum ich gleichwohl ſo traduzirt würde, 
wenn ich doch ſo dächte, wie Sie es jetzt vernähmen? 
Ich antwortete, davon wüßte ich etliche Urſachen, und 
Gott möchten noch mehrere bekannt ſein. Die erſte ſei 


— ET 7 


wm 


e- 204 BI 


meine ungewöhnliche Lebensart, darinnen viel, dem An- 


ſehn nach, Kontradiktoriſches ſei. Die andere mein 
esprit critique, der mir in meinen jüngern Jahren ſehr 
zugeſetzt, davon die Nachwehen ſich nun zeigten; denn 
nachdem ich meine Inſpektion über andere Leute einige 


Jahre aufgegeben, ſo machten ſich nun andere Leute 
mit mir mehr zu thun, als ſie nöthig hätten. Die 


dritte, meine Kondeszendenz und Freundſchaft mit jeder- 


man, und ſonderlich gegen ſolche Perſonen, die entweder 


nur mit den gewöhnlichen Argumenten und Behand- 


lungen nicht zu bedeuten, aber ſonſt wohl doeil wären, 


oder auch ſolche, die in der That irrig wären, und deß— 


wegen von denen, die die Wahrheit hätten, oder vor— 
gäben, meines Erachtens nicht menſchlich genug traktirt 
würden. Dieſer Kondeszendenz mißbrauchten ſich meine 
Gegner, mich mit dergleichen Perſonen zu konfundiren.“ 
Der König fand dieſe Angaben einleuchtend, und ſagte 
ſpäter öffentlich, der Teufel aus der Hölle könne nicht 
ärger lügen, als die Gegner Zinzendorf's gelogen hät— 
ten. Zinzendorf benutzte die gute Stimmung des Kö— 
nigs, und legte demſelben einen beſtimmteren Plan we— 
gen der Salzburger Sache vor. Seine eingereichte 
Schrift iſt ein ſprechendes Zeugniß ſeiner meiſterlichen 
Staatsklugheit, ſo gut erwogen in der Sache und ſo 
genau berechnet für den König, daß der feinſte Diplo— 
mat ſie nicht gehaltvoller und ſchicklicher abzufaſſen ver— 
mocht hätte. Wir theilen dieſelbe hier mit, um ſo 
mehr, als fie bisher noch nicht gedruckt worden. „Nä— 


T 


\ 


205 83 


here Erläuterungen des allerunterthänigſten Vorſchlages 


zu einer ſalzburgiſchen Anſtalt. I. Dieſe wichtige Ab— 
ſicht muß Zeit haben, und darum muß ſie, bis zu ihrer 


Vollſtändigkeit, nur denen bekannt werden, ohne welche 
ſie nicht auszuführen, inzwiſchen aber in großer Stille, 
Niedrigkeit und Treue beſorget werden. II. Ein Pri— 
vatus, der etwa in Litthauen oder Preußen eine mit 


dem ſalzburgiſchen Etabliſſement verwandte Kommiſſion 


hätte, welches aber nur zu Bedeckung und Konnektirung 
des Kaufs dienete, und weiter keine Verantwortung 
nach ſich ziehen müßte, erhandelte in Litthauen einen 
bequemen und anmuthigen Platz, legte daſelbſt einen 
Meierhof an, zu welchem geſchickte Salzburger als Ar— 
beiter angenommen würden. III. Nach und nach bauete 


ſich daſelbſt ein Flecken an, wozu man (unter allergnä= 


digſter Konnivenz) unter der Hand gottesfürchtige und 
behülfliche Salzburger ausſuchete, die entweder noch 
nicht, oder nicht genugſam etablirt, oder durch die 
Ihrigen, und fonft, füglich zu remplacıren wären, und 
das könnte allenfals, wenn es ein wenig eflatter würde, 
gelegentlich einmal durch einige nicht eben importante 
Begnadigungen in Bewegung gebracht werden. IV. Die 
erſten Jahre müßte man ungeſtört bleiben, und von 
dem Entrepreneur nicht begehret werden viel aufzuwei— 
ſen, ja es wäre am beſten, daß, dem Anſehen nach, 
überhaupt wenig Reflexion auf dieſes Tentamen ge— 
macht, und wenn man es entweder ridiküle, oder be— 
denklich, oder unmöglich beſchreiben hörte, nicht viel 


—2>D 206 C 


fonderliches darauf geantwortet würde. V. An eine 
Pfarrthei wird nicht ehe gedacht, vielweniger an einen 
Kirchenbau, bis ſich der Haufe zum Bleiben eingerich- 
tet, mithin würde das Werk durch einen, und nach und 
nach mehr Katecheten, bei Großen und Kleinen ver— 
ſehen, inzwiſchen ließe man jedem die Freiheit, ſich an 
den nächſten, oder bisher gewohnten Ort zur Kommu— 
nion zu halten, mit Vorbehalt der Parochie, im Fall 
einer eignen Gemeinde, Waiſenanſtalt oder dergleichen 
Emergentien. VI. Das wäre ſo der Weg, unter gött— 
lichem Gedeihen, einen Ort mit ſolchen Salzburgern 
zu beſetzen, die in Verfolg der Zeit, nach Geiſt- und 
Leiblichem, Andern zum Exempel, denen Proteſtanten 
zur Erbauung, und vielleicht gar der Anlaß zu einem 
mehreren Commercio in Litthauen werden könnte. VII. Und 
gleich wie dieſe heilſame Anſtalt von Gott durch Ihro 
Majeſtät Hand gemacht würde, alſo richtete man die 
Auslage nicht größer ein, als der Ertrag davon natür— 
licherweiſe folgen müßte, und die ſämmtliche Nutzung 
würde in Ihro Majeſtät Kaſſe geliefert, weil der Pri— 
vatus nur zu der anfangs nöthigen Verbergung der 
führenden Abſicht, ſich in dieſen Handel einläſſet, wäre 
es aber Ihro Majeſtät gefällig, das Werk dem Entre— 
preneur auf ſein Riſiko zu geben, und alſo nur die 
landesherrlichen Gefälle daraus zu erheben, ſo müßte 
dießfalls eine eigentlichere Abrede genommen werden, 
weil Ihro Majeſtät allerunterthänigſter Diener, wenn 


h 207 I 


er mit einem Handel der Nahrung zu Werke gehen 
muß, ſich nicht gern über fein Ziel waget.“ 


Der König ging zwar auf dieſe Vorſchläge nicht 


weiter ein, doch verſicherte er den Grafen wiederholt 


ſeiner Liebe, völligen Vertrauens, und daß er nichts 
mehr wider ihn glauben, ſondern ihm dienen wolle, wo 
er wiſſe und könne. Hiezu war ſogleich Gelegenheit. 


Die Verhältniſſe der Brüdergemeinde, in Deutſchland 
ſowohl als im Auslande, machten es wünſchenswerth, 
daß der Graf die biſchöfliche Würde annähme, wobei 


ihm vor allem daran gelegen war, dieſen Schritt nur 
in ausgeſprochener und durch gehöriges Anſehn vertre— 


tener Uebereinſtimmung mit der Lutheriſchen Kirche zu 
thun. Dies war nur in Berlin möglich, und der Kö— 


nig bot gern dazu die Hand. Er ſchrieb unter dem 
28. Oktober an ſeinen Oberhofprediger Jablonski: 
„Würdiger, lieber Getreuer! Da ich nunmehr den 
Grafen Zinzendorf ſelbſt geſehen und geſprochen habe, 
und gefunden, daß er ein ehrlicher und vernünftiger 
Mann iſt, deſſen Abſichten bloß dahin gehen, ein wah— 
res, rechtſchaffenes Chriſtenthum und die heilſame Lehre 
des Wortes Gottes zu befördern, ſo will ich, daß, wenn 
Ihr denſelben in Berlin ſprechen werdet, ihr diejenigen 
Punkte, ſo er zu proponiren hat, mit ihm erwägen, und 
mir hiernächſt euren unterthänigſten Bericht davon er— 
ſtatten ſollet, nach Maßgabe des heute deßhalb an euch 
bereits ergangenen Schreibens. Ich bin euer wohl— 
affektionirter König Fr. W.“ Der König befahl hier— 


> 208 I | 


auf den beiden berliniſchen Pröbſten Reinbeck und Ro— | 
loff, dem Geſuche des Grafen zufolge, deſſen Recht 
gläubigkeit und Religionsmeinungen überhaupt einer 
ſorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Dieſe würdigen 
Männer, ſtreng in ihrem Amte, jedoch vorurtheilsfrei 
in ächt chriſtlicher Geſinnung, und mit Jablonski im 
Weſentlichen gleichgeſtimmt, gingen ſogleich an's Werk, 
und Zinzendorf lieferte ihnen dazu ſeinen ganzen Vor— 
rath von Schriften und Urkunden. 

Indeſſen genügte ihm für jetzt, die weitausſehende 
Sache gehörig eingeleitet zu wiſſen, und nachdem der 
König ihm noch ein kräftiges Empfehlungsſchreiben an 
den Grafen von Degenfeld, ſeinen Geſandten beim 
oberrheiniſchen Kreiſe mitgegeben, eilte er am 2. No- 
vember nach der Wetterau zu den Seinigen. In 
Gelnhauſen erfuhr er, daß die Gräfin auf Betrieb 
übelgeſinnter Gegner doch genöthigt worden, die Ron- 
neburg zu verlaſſen, und ſich nach Frankfurt begeben 
habe, wo ſie mit ihrer Begleitung, die damals aus un— 
gefähr dreißig Perſonen beſtand, die gewohnte Lebens— 
art fortführe. Der Graf wünſchte nach ſeiner dortigen 
Ankunft die Verſammlungen, an welchen nach wie vor 
eine große Zahl Beſuchender Theil nahmen, auf ſeine 
Hausgenoſſen einzuſchränken; allein von Seiten der 
Behörden ſelbſt machte man ihm bemerklich, die Leute 
würden ſich dennoch hinzudrängen, und daraus könnten 
leicht Unruhen und Auflauf entſtehn. Die Stadtobrig— 
keit war ihm nicht abgeneigt, und behandelte ihn mit 


39 209 . 


aller Auszeichnung, wozu die preußiſche Empfehlung 
ſehr beitrug, eben ſo bezeigten ſich auch die meiſten 
Prediger ſehr freundſchaftlich. In ſeinen Reden ver— 
kündigte er nun vor allem die in dem Blute des Lant- 
mes Gottes gegründete Gnade, der man auch nicht 
einen Funken eignes Gute beimiſchen dürfe, denn der 
ehrlichſte und frömmſte Bürger in Frankfurt werde 
nicht anders ſelig, als der Straßenräuber, den man 
auf das Rad lege. An der Wärme ſeines Herzens 
ſchmolz die Härte dreier Separatiſten, die ſeinen Vor— 
ägen beſonders fleißig zuhörten. Sie bekamen, wie 
pangenberg ſagt, in das Wort der Verſöhnung eine 
erzgefühlige Einſicht, und verließen ihren bisherigen 
Gang. Dies wollte jedoch Andreas Groß, ein unter 
den Separatiſten in höchſtem Anſehn ſtehender Mann, 
er ſchon vorher dem Grafen trotzig und ſpöttiſch ent— 
egengetreten war, auf alle Weiſe hindern, und Zin— 
endorf, der früher, ganz gegen ſeine Art, erklärt hatte, 
er wolle ſich mit dieſem Manne, der ihm durchaus zu— 
ider war, gar nicht einlaſſen, gerieth in die äußerſte 

ntrüftung; fein Schmerz, die dem Heilande gewon— 
| nene Seelen zu verlieren, ließ ihn jede Wehr gerecht— 
fertigt finden, und er ging ſo weit, den Mann wiſſen 
zu laſſen, daß, wenn er das Unglück haben ſollte, eine 
jener Seelen von ihrer Gnade wieder abzubringen, er 
gewiß noch das Jahr ein Mann des Todes ſei. Dieſe 
Drohung hemmte den Mann wirklich, allein er wurde 

Biographiſche Denkmale. V. ? 124 


’ 


35H 210 BL 


nur um ſo mehr ein Feind des Grafen, und häufte 


harte Beſchuldigungen gegen ihn. 
Man fand in der That jenes Wort Zinzendorf's, 


der ſich darin als mit göttlicher Strafgewalt begabt 
vorſtellte, höchſt vermeſſen, und warf ihm fanatiſchen 


Eifer und Bosheit vor. Er blieb indeß dabei, und er— 
klärte in einer beſondern Schrift an Herrn Andreas 
Groß nochmals: er ſei in der Aufnahme neuer Glau— 
bensfreunde nicht nur ſehr gleichgültig, ſondern ſogar 
ſehr furchtſam und bedenklich; auch ſei es ihm ganz 


unmöglich, jemanden zu haſſen, der ihn haſſe oder be- 
ſtreite; „Wenn ich hingegen ſehe, — fährt er fort, — 


daß Seelen, die in der wahrhaftigen Gnade oder auf 
dem Wege dazu ſind, von Andern geärgert oder ver— 
führt werden, ſo ergrimme ich im Geiſt, und ich ſtehe 
auf den Fall keinem Menſchen für das, was ich ſeinet— 
halben mit dem Heiland rede; es kann auch ſein, daß 


ich ihn ausgerottet wünſche; aber ich warne, und ehe 
ich zum Heiland gehe, ſo bekenne ich meinen Vorſatz 
Allen, die es angeht, ganz aufrichtig, damit ſie ſich be⸗ 
ſinnen und wiſſen können, daß ich nicht ſpiele. Ich 


würde mir eine vergebliche Mühe geben, wenn ich mich 
in der Sache frömmer beſchreiben wollte, als ich bin; 
denn meine Praxis iſt am Tage, und ich habe ſie im 
geringſten nicht willens zu ändern.“ Später führt er 
an einem andern Orte, damit die göttlichen Strafge- 
richte niemanden ungewarnt treffen, folgende Beiſpiele, 
wie es den Frevlern ergangen, zur Warnung an: „Eine 


— 88211 a 


Perſon iſt raſend worden, und wenigſtens neun Jahr 
blieben, zwei andere haben, ohne daß man ſie angere— 
det oder genannt, zu der Zeit, da man nur in genere 

von demjenigen Bann geredet, womit ſie, ohne unſere 

Reflexion darauf, behaftet geweſen, ſich darüber ſo al— 

teriret, daß ſie vor der Gemeinde für todt hingefallen, 

und heraus haben müſſen getragen werden. Ein an— 
derer hat geſagt, er wolle es glauben, daß ihn die Ge— 
meinde in Zucht nehmen könne, wenn er verkrumme, 
| das ift mit einem landkündigen Schreckexempel geſche— 
hen, und bis zu Todesnöthen gegangen, bis endlich, da 

er ſich, von allen Aerzten verlaſſen, in den letzten Zügen 
auf einem Wagen nach Herrnhut führen und in die Ge— 
| meinde tragen ließ, die Wunderkur in der Gemeinde— 
verſammlung mit ſeiner öffentlichen Abſolution zugleich 
erfolgte. Sie iſt von vierhundert Menſchen zugleich 
geſehen, und von ihm ſelbſt nicht nur nicht geläugnet, 
ſondern überall, und nur zuviel, ausgebreitet worden. 

Den fünften hat einige Minuten darauf, daß er mit 

| Verächtlichkeit und Inadvertenz aus der Aelteſten-Kon— 

ferenz gegangen, nachdem er durch all ihr Bitten und 

Flehen nicht zu erweichen geweſen, ſondern ſich auf ein 

göttlich decisum berufen, der Donner auf der Stelle 

todt geſchlagen.“ Man erſtaunt mit Recht, denſelben 

Zinzendorf, den man bisher geſehen, hier eine ſolche 

Sprache führen zu hören, welche eher die eines ſchlim— 
men Höflings ſcheinen könnte, der ſich rühmt, über ſei— 
nes Herrn Gunſt oder Zorn nach Gefallen zu verfügen, 

14 * 


ed 212 - 


als die einem frommen Gottesfreunde geziemende. Auch 


| 


ift dieſe unter feinen wenigen Abirrungen von feinem | 
rechten Weg und Benehmen gewiß die ſtärkſte, und | 
wir dürfen ihn nach ſolchen unbewachten Augenblicken | 
nicht beurtheilen. Dieſer ihn bisweilen anwandelnde 
geiſtliche Hochmuth, als ſtünden ihm oder der Gemeinde 
Zeichen und Wunder zu Gebot, iſt ihm von den Geg⸗ 
nern mit aller Härte genug vorgeworfen worden. Seine 
eigentlichen Grundſätze für den Verkehr mit Wider— | 


ſachern hat er fonft beſtimmter ſo dargelegt: „Ent— 
weder der Gegner will alleine reden, ſo läßt man ihn; 


oder er will Antwort haben, ſo giebt man ſie; oder er 


erklärt ſich beſſer, als ers meint, fo läßt mans dabei; 
oder er erklärt ſich ſchlechter, als er gleichwohl denkt, 


ſo führt man ſein Wort; oder er iſt irre, ſo weiſet 


man ihn gerne zurechte; oder er iſt böſe, ſo begütigt 


man ihn; oder er iſt beleidiget, ſo giebt man ihm gute 


Worte; oder er will herauslocken, ſo ſchweigt man; 


oder er iſt bitter, ſo erträgt man ihn; iſt er indifferent, 
fo ſchont man ſeiner; iſt fein Wort gefährlich, fo ent 


deckt man es; iſt es reißend, ſo ſchlägt man drauf, daß 
es liegen bleibt; iſt er begierig, ſo iſt man offen; iſt 
er beſcheiden, ſo beugt man ſich unter ihn; hat er Recht, 
ſo läßt man ihm mit Dankbarkeit Recht; wo er nur 


läſtert, das überſchlägt man; wo er Grund fordert, da 


giebt man ihm; wo er an dem Grunde ſchüttelt, da 
zeigt ſich Felſengrund. Ueberhaupt iſt man ſo kurz und 
klar, ſo rund und ſo verſtändlich, als möglich iſt; in 


4 
11 


= 213 . 


Nebenſachen zugebend, in Hauptſachen unbeweglich; bei 
allen Gelegenheiten muß herzliche und Menſchenliebe, 
oder brüderlicher Reſpekt gezeigt werden, ſo viel man 
davon gegen den Gegner im Gemüth haben kann; ſon— 


derlich in allen den Umſtänden, da das Gegentheil 


1 


Statt haben könnte, muß ſolches aus allen Zeilen deut— 
lich hervorleuchten.“ Und ferner giebt er in Anſehung 
der Sache des Herrn noch folgende beſondre Vorſchrift: 


„Gegen die Mitknechte ſoll man treuherzig und ernft- 


| 


lich fein, gegen alle fremde Knechte beſcheiden und nach— 
barlich, gegen die Miethlinge unpartheiiſch, gegen die 


reißende Wölfe attent und kurz reſolvirt. Dein Auge 
ſoll ihrer nicht ſchonen, man ſoll ſie aber weder im 


| 
| 
| 


| 


| 


Walde aufſuchen, noch in der Grube todtſchlagen, dar— 
ein ſie gefallen ſind.“ Ueber Wundergaben, Gebeter— 
hörungen und dergleichen, erklärt er ſich häufig dahin, 
daß er fie zwar nicht läugnet, aber davon kein Auf- 
heben gemacht, noch dieſe Richtung mit Abſicht beför— 
dert wiſſen will. Uebrigens bekannte er frei, daß er 
keinen Beruf habe, in den Religionen zu ſtören, und 
Leute aus der einen in die andere überzuholen; er trage 
vielmehr die Lehre des Evangeliums gerne ſo vor, daß 
er Seelen für den Heiland werben möge, und die armen 
Sünder, ſie mögen Lutheriſch, reformirt, katholiſch oder 
gar Heiden ſein, dem zu Füßen fallen, der ſie alle er— 
löſet habe. In dieſer Hinſicht war ſeine Arbeit in 
Frankfurt, jenen herben Vorgang abgerechnet, von gro— 
ßem Segen. 


214 2 


Um alles in beſter Gemeinſchaft und Einheit zu— 
ſammen zu halten, dünkte ihm zweckmäßig, eine Synode 
für die Brüder auszuſchreiben. Sie fand vom 6. bis 
zum 9. Dezember in Marienborn Statt, wo von Herrn— 
hut die Aelteſten der Gemeinde und auch aus andern 


Gegenden die für das Ganze der Brüderſache thätig- 


ſten Mitarbeiter eintrafen, und vieles Förderliche be— 


rathen und abgeredet wurde. Mit den Aelteſten von 


Herrnhut ging Zinzendorf's Tochter Benigna nebſt meh— 
reren Brüdern und Schweſtern dorthin zurück; ſein 
Sohn Chriſtian Renatus wurde unter Aufſicht Johann 
Nitſchmann's, der ſich zugleich der erweckten Studenten 
dort annehmen ſollte, nach Jena geſchickt, wohin auch 
der junge von Schrautenbach mitging; der Graf ſelbſt 
aber und die Gräfin reiſten nebſt der Gemeindeälteſtin 
Anna Nitſchmann, dem Freiherrn von Watteville und 
andrem Gefolge, nach Holland, um von da nach Eng— 
land überzuſchiffen. 

In Amſterdam, obgleich nur auf der Durchreiſe, 
hielt er ſogleich Erbauungsſtunden, und wagte außer 
ſeinen deutſchen Vorträgen auch deren in holländiſcher 
Sprache nicht ohne Gläck. In Begleitung des Pre— 
digers van Alphen machte er Abſtecher nach Utrecht und 
nach Aſſelſtein, wo die Brüder ſich bereits anbauten; 
den Freiherrn von Watteville ſandte er nach Leuwar— 
den zur Fürſtin von Oranien, und machte auch die 
Bekanntſchaft des franzöſiſchen Geſandten Marquis von 
Fenelon; mit einem Prediger Manger jedoch, den er 


215 
fonft ſehr liebte und hochhielt, gerieth er durch unnö— 


thig gegebenen Anlaß über dogmatiſche Sätze von der 


Seligkeit in harte Streitreden, und überließ ſich un— 


glaublicher Heftigkeit, über die er ſich nachher zwar 


Vorwürfe machte, aber doch bald wieder tröſtete. Am 
20. Januar 1737 kam er, nach einer dreitägigen ſtür— 
miſchen Ueberfahrt von Helvoetſluys nach Harwich, in 
London an, wo bald auch die Gräfin, welche mit ihrem 
Gefolge den Weg über Calais genommen hatte, glück— 
lich eintraf. Sein Abſehn war hier hauptſächlich auf 
die Miſſionsanſtalten und auf das Verhältniß gerichtet, 
welches die engliſche Kirche ſeinem mähriſchen Biſchofs— 
amte würde zugeſtehn wollen. Die zu London befte- 


hende Geſellſchaft zur Bekehrung der Negerſklaven in 


den brittiſchen Pflanzungen richtete eine Anfrage, mit 
Zinzendorf's Beirath, an den Erzbiſchof von Canter— 


bury, Johann Potter, wiefern die mähriſche Kirche mit 


der engliſchen übereinſtimmte, oder ihr widerſpräche? 
Der Erzbiſchof, ein gelehrter und liebreicher Mann, 
ſchon mit der Sache bekannt, und durch des Grafen 
perſönliche Beſuche noch näher unterrichtet, gab die be— 
friedigende Auskunft, die mähriſche Kirche ſei biſchöf— 
lich orthodox und apoſtoliſch und behaupte in ihren Leh— 
ren nichts, was mit den neun und dreißig Artikeln der 
engliſchen ſtreite, daher den Brüdern der Zugang zu 
den Heiden nicht zu verwehren ſei. Mit dieſer Aeuße— 
rung einſtweilen begnügt, dachte Zinzendorf nun wieder 


abzureiſen, und die in Berlin feiner wartenden Angele- 


genheiten, die er mit Fleiß fo lange hingehalten, wie- 
der aufzunehmen. Inzwiſchen hatte er auch in Eng⸗ 
land ſeine Erbauungen nicht verabſäumt, und näheren 
Verkehr mit Quäkern und Methodiſten angeknüpft. 
Mit den letztern war anfangs große Freundlichkeit; die 
Führer derſelben, die beiden Wesley, John und Charles, 


und Georg Whitefield, hoben aber nachher alle Ge— 
meinſchaft wieder auf, und wurden zuletzt öffentliche 


Widerſacher. Auch der Orden vom Senfkorn, an wel- 


chem Zinzendorf in ſeiner Jugend zu Halle Theil ge— 
habt, kam hier in neue Anregung, und es wurden meh— 
rere Perſonen aufgenommen; von den bei dieſer Gele— 
genheit nur für die Mitglieder gedruckten Statuten 
verirrte ſich ein Blatt in fremde Hände, und dadurch 
wurde das Ganze bald bekannt, da denn die ärgerliche 
Mißdeutung, dieſer Orden fer ein herrnhutiſcher, aus— 
drücklich zurückzuweiſen war. 


Nachdem der Graf unter ſolchen Geſchäften bis 


zum 6. März in England geblieben, reiſte er über 
Holland, wo er ſich wieder vierzehn Tage aufhielt, 
nach Frankfurt am Main zurück, wo er am 26. März 
eintraf. Die dort zurückgebliebene Abtheilung ſeiner 
Pilgerfamilie hatte die bis dahin mit Eifer fortgeſetz— 
ten Verſammlungen nur eben am Tage vorher auf 
obrigkeitlichen Befehl eingeſtellt. Er ließ es dabei be- 
wenden, da er ohnehin diesmal nicht dableiben wollte, 
richtete aber doch ein Abſchiedsſchreiben an den Rath 
der Stadt, und ſagte dieſem und der Geiſtlichkeit darin 


MT 88 


feine Meinung ziemlich hochfahrend und anmaßlich, wie 


denn überhaupt in dieſem Zeitraum eine ſolche Stim⸗ 
mung in ihm mehr als ſonſt vorherrſchte, und ihn auf 


Abwege und in Gefahren brachte. Auch ließ der Rath 

das Schreiben nicht unbeantwortet, und der Graf mußte 

nochmals die Feder nehmen, und ſich vertheidigen. 
Die Hauptſache blieb indeß der in Berlin zu er— 


reichende Zweck, und Zinzendorf eilte, dort noch vor 


Oſtern einzutreffen. An den König von Preußen hatte 


er mehrmals geſchrieben; mit welcher Sorgfalt und 
Zartheit er dieſen Fürſten zu behandeln wußte, zeigt 


unter andern die Nachſchrift eines Briefes, welche we— 
gen der zu befolgenden Einrichtung des Schreibens 
überhaupt ſo anfragt: „Auch allergnädigſter König und 
Herr, wollte mich allerunterthänigſt um gnädigſten Ver— 
haltungsbefehl angemeldet haben, ob Ew. Königlichen 


Majeſtät meine Schreiben zu lang, nach dem ange— 


wohnten Kanzleiſtilo zu weitläuftig, und überhaupt, da 


— — — 


Ew. Königlichen Majeſtät der arbeitſamſte, aber auch 
mit Arbeit überladenſte Monarch in Europa ſind, ob 
Ihro Majeſtät lieber auf einmal viel, oder vielmals 
wenig ſchreiben ſolle. Ew. Majeſtät allergnädigſte 
Ordre gemeſſenſt zu befolgen wird mir ſo viel leichter 
werden, da ich mir eine Freude daraus mache.“ Der 
König gab zwar hierauf, jo wie auch auf andre Zu— 
ſchriften, keine Antwort, allein Zinzendorf kannte die 
Geſinnungen deſſelben zu gut, um nicht auf ſie ferner 
zu bauen. Er zeigte dem Könige ſeine bevorſtehende 


2 218 8 


5 


Ankunft durch folgendes Schreiben an: „Allerdurch— 


lauchtigſter u. ſ. w. Wenn man ſonſt von Potentaten 
keine Antwort bekommt, ſo pfleget es von geringem 


Effekt zu fein, und man hat es nicht anders vermuthet. 


Wenn man aber von Ew. Königlichen Majeſtät ein 
oder mehrmalen keine Befehlſchreiben auf allerunter— 


thänigſte Vorträge erhält, ſo macht es Nachdenken, 


denn die Data von Ew. Majeſtät Antworten verwöh— 


nen, und man weiß, daß Sie ſichs weder an Zeit feh- 
len laſſen, noch an Reſolution. Ich habe aus Ew. Ma- 


jeſtät bisherigem Stillſchweigen dreierlei ſchließen kön— 
nen, entweder daß Ihro mein allzuvieles Suchen und 
Projektiren nicht anſtändig ſei, oder daß Ew. Majeſtät 
die gnädigſte Opinion von mir geändert, oder daß 
Ihnen nicht gefällig geweſen, daß ich mein poſitives 
Verſprechen, im Januario wiederzukommen, nicht gehal— 
ten. Es kann alles dreies beiſammen ſein, und ich habe 
auch Urſache gehabt zu hoffen, daß keines von allen ſei, 


das erſte fiel mir weg, als ich mich beſann, daß ich 


alles in Ew. Majeſtät gnädigſten Willen geſtellet, das 
andre, als ich Dero Königliches Wort bedachte: daß 
Sie ungefraget nichts gegen mich aufkommen laſſen 
wollten, das dritte, da ich nicht zweifelte, daß Ew. Ma- 
jeſtät die wundervolle Begebenheit wiſſen, daß der 
Windſturm von England her auf die holländiſche Küſten 
zu anderthalb Monate angehalten, und der König erſt 
8 Tage nach mir hingegangen. Ich habe alſo den 
Schluß gemacht: Ew. Majeſtät laſſen es bei dem Vori⸗ 


—5 — 219 


gen bewenden, und erwarteten meine Zurückkunft; und 


in dieſer Hinſicht berichte Ew. Majeſtät allerunterthä— 


nigſt, daß, nachdem ich durch eine beſondere Gnade des 


Herrn (denn in dem Moment meines Anlandens in 


Holland drehete ſich der Wind und ward Oſt) noch bei 
rechter Zeit übergekommen, ich Holland und Frankfurt 


und die Wetterau, aller meiner Verrichtungen daſelbſt 
ungeachtet, nur geſtreifet, und mit Ueberlaſſung meines 
hieſigen Negotii an meine Frau in procinctu ſtehe, 
direkte nach Berlin zu gehen, wovon auch bereits die 
Herrn Pröbſte benachrichtiget. Ich werde, Ew. Ma— 


jeſtät Intention nach, daſelbſt ſo inkognito ſein als 
möglich, damit das Geſchäft in äußerſter Stille möge 
vollzogen werden, wozu Ew. Majeſtät gnädig kondescen— 
diret, und woraus ich eine wahre Realität hoffe; ich 
werde auch zu dem Ende bei meinen Aeltern nicht lo— 
giren, ſondern in der Nähe der Pröbſte ein Quartier 


miethen, und Ew. Majeſtät den Moment meiner An— 


kunft allerunterthänigſt Anzeige davon thun. Inzwi— 
ſchen beharre ich mit aller profundeſter Ehrerbietung 
Ew. Königlichen Majeſtät allerunterthänigſter-treuge— 
horſamſter Zinzendorf. Lindheim in der Wetterau den 
16. April 1737.“ 

In Berlin angelangt, nahm er ſeine Wohnung an 
der Petrikirche, und ſeine Prüfung durch die Pröbſte 
Roloff und Reinbeck, welche ſeither unausgeſetzt mit 
der Sache beſchäftigt geweſen, fand nun ohne Verzug 
Statt. Sie bezeugten, daß ſeine Lehre keine andre ſei, 


m 220 Bo Ä 
als die in der evangeliſchen Kirche geführt werde; auch | 
gegen feine Ordinirung überhaupt ſchien kein Einwand 
zu ſein, nur die Ordinirung durch Jablonski zum mäh⸗ 
riſchen Biſchof, woran ihm doch in ſeinen Verhältniſſen 
und bei ſeinen Abſichten alles gelegen ſein mußte, durfte 
noch in Frage zu ſtellen bleiben. Der König aber, be- 
wogen durch Zinzendorf's Beharren und Jablonski's 
Zeugniß von der Unſchuld der Sache, hob alle Bedenk— 
lichkeit, und erlaubte, daß die Ordination, jedoch in der 
Stille vollzogen würde. Sie erfolgte am 20. Mai in 
Jablonski's Wohnung durch ihn und David Nitſch— 
mann, mit ſchriftlicher Einſtimmung des Biſchofs Sit— 
kovius in Großpolen. Dem Könige zeigte er das Ge— 
ſchehene am Tage darauf durch ein ehrerbietiges Schrei— 
ben an, worin es heißt: „Ich wünſche mir ſo viel 
Treue und Weisheit, als ich Einſicht in meine Glück— 
ſeligkeit habe. So wird meine Gemeinde keinen Scha— 
den, und das Wort des Herrn, das ich gern umſonſt 
predige, Dienſt davon haben. Ich aber werde lebens— 
lang daran denken, was ich in dieſer wichtigen Sache, 
darinnen mich ſo Wenige gefaſſet, und niemand unter— 
ſtützet, von dem Könige in Preußen erlangt habe. Ew. 
Majeſtät haben nicht Zeit, viel Wünſche und Dankſa— 
gungen zu leſen, und ich habe die Gabe nicht, ſie in 
die gehörige Schranken zu faſſen; ich will aber mit 
einer tiefen Submiſſion lebenslang verbleiben, in mei— 
nem Theil, durch Gottes Gnade, Ew. Königlichen Ma— 
jeſtät allerunterthänigſt gehorſamſter Zinzendorf.“ Der 


J 


iD 221 2 


König ſandte ihm hierauf ein Glückwünſchungsſchreiben, 
und ſpäter trafen ähnliche auch von Sitkovius und dem 


Erzbiſchofe von Canterbury ein. Die Sache machte 
1 großes Aufſehn, und die Gunſt, in welcher Zinzendorf 
beim Könige ſtand, gab zu allerlei Gerüchten Anlaß. 
| Man fürchtete ſchon, er möchte die allgemeine Aufſicht 


1 


über die Kirchenſachen im preußiſchen Staat erhalten, 
und einen fortgeſetzten, für viele Perſonen unerwünſch— 


ten Einfluß üben. Er aber dachte nur an feine Rück— 
kehr nach Herrnhut, wozu ſich die Ausſicht neuerdings 


eröffnete. Sein Stiefvater, der Feldmarſchall von Natz— 
mer, hatte ſeinethalb an den König von Polen geſchrie— 
ben, und erlangte wirklich, daß Zinzendorf nach Sachſen 
zurückkehren durfte. Die Gräfin eilte von Berlin nach 
Herrnhut voraus, und kam den 24. Mai dort an. Der 
Graf ſelbſt aber folgte am 30. Juni. 

Nach einiger Zeit erſchien auch der Königliche Aus— 
ſpruch in Folge der zuletzt in Herrnhut geweſenen Kom— 
miſſion, welcher dahin lautete, daß die Gemeinde, ſo 
lange ſie bei der Lehre der ungeänderten augsburgiſchen 
Konfeſſion beharre, bei ihrer bisherigen Einrichtung und 
Zucht gelaſſen werden ſolle. Die Arbeiten in der Ge— 
meinde wurden nun wieder mit erhöhtem Eifer und 
Muth von ihm in Gang geſetzt, alle Einrichtungen un— 
terſucht, geläutert, ergänzt, alle verſchiedene Chöre ein— 
zeln gemuftert, an beſonderen Bettagen durch Anreden 
und Lieder erbaut. Die Wunden des Heilands, die 
Opferung des Lammes, waren ſeine Lieblingsgegen— 


ad 222 S 


ſtände; die ledigen Schweſtern ermahnte er, fo lange 
zu Jeſu Füßen zu weinen, bis ſie in ſeinem Blute 
Gnade und ein von Liebe zu ihm brennendes Herz er— 
hielten, und viele empfanden bald die ſegenreiche Wir— 
kung ſeines Rathes. Neue Aelteſten wurden für die 
Gemeinde zu Herrnhut eingeſetzt, weil die bisherigen, 
welche den Grafen begleitet hatten, auch ferner bei der 
Pilgergemeinde verbleiben ſollten. Inmitten dieſer Ar— 
beiten ſtörte den Grafen die Zumuthung, welche von 
Dresden her an ihn gemacht wurde, einen Revers we— 
gen ſeines künftigen Benehmens zu unterſchreiben; der 
Eingang beſchuldigte ihn mancher Dinge, zu denen ſich 
zu bekennen eine Unwahrheit geweſen wäre, die ihm 
ſein Gewiſſen nicht erlaubte; er verweigerte daher ſeine 
Unterſchrift, und bat um Aenderung der Ausdrücke oder 
um neue Unterſuchung, und wollte, im ſchlimmſten Falle, 
lieber auf's neue Herrnhut verlaſſen, und nach einigen 
fruchtloſen Verhandlungen blieb in der That kein andrer 
Ausweg. Seine Anſtalten waren bald gemacht, er ging 
nochmals alle Einrichtungen der Gemeinde durch, und 
gab Vorſchriften und Anleitung für die Führung der 
verſchiedenen Aemter. Den Paſtor Rothe zu Bert— 
holdsdorf, der ſich nicht abhalten laſſen wollte, einem 
anderweitigen Rufe zu folgen, erſetzte er durch einen 
frommen Prediger aus der Nachbarſchaft. Einem Ober— 
ſten, welchen der König von Preußen, der zu allen Ge— 
ſchäften gern ſeine Offiziere brauchte und fähig hielt, 
nach Herrnhut geſandt hatte, um den Ort in der Stille 


sm 223 2 


zu beobachten, gab er Gelegenheit, von allen Sachen 


unverſtellten und genauen Bericht abzuſtatten. Zuletzt 


überlegte er noch vor der ganzen Gemeinde an einem 


beſondern Bettage die ſeit zehn Jahren ihr widerfah— 
renen Gnadenwunder, ließ vierzig Brüder und Schwe— 


ſtern konfirmiren oder zu Akoluthen aufnehmen, fertigte 
mehrere Brüder zu Botſchaften ab, und ſtärkte ſie durch 
Anreden und Gebet zu ihrem ſeligen Beruf. Am Tage 


vor ſeiner Abreiſe gab er noch den Brüdern und Schwe— 


ſtern, die ihn zu ſprechen wünſchten, oder denen er 


ö 


4 
z 


etwas ſagen wollte, der Reihe nach beſonders Gehör, 


welches von früh 5 Uhr bis nachts um 11 dauerte, 


und trat dann am 4. Dezember, nach einem nochmali— 


gen Vortrag an die Gemeinde, mit anſehnlicher Pil— 
gerbegleitung wieder ſein Exil an. Die nunmehr be— 
ginnende Abweſenheit dauerte zehn Jahre. „In der 
Zeit, — ſagt Zinzendorf, — iſt Herrnhut als eine 
Hütte Gottes bei den Menſchen geſtanden, und nie⸗ 
mand hat einen Nagel verrückt.“ 

Er reiſte zuerſt nach der Wetterau, beſuchte die 
Ronneburg, den Freiherrn von Schrautenbach in Lind— 
heim, und ſeine Freunde in Frankfurt am Main. Zwei 
Monate vorher war in den dortigen gelehrten Zeitun— 
gen ein Aufſatz erſchienen, der einige Fragen an den 
Grafen enthielt, über die Abſonderung der Herrnhuter 
von der Lutheriſchen Kirche, die Hausverſammlungen, 
den Eheſtand, bie Lieder und anderes dergleichen, woran 
bisher das meiſte Aufſehn und Aergerniß haftete. Der 


> 224 G2 


Graf beantworteze jetzt dieſe Fragen, die er fo gründ- | 
lich als beſcheiden vorgetragen fand; ihr Verfaſſer 
nahm hinwieder die Beantwortung ſehr artig auf, 
äußerte jedoch noch einige Bedenken; dieſer war Herr 
von Loen, ein wackrer Geſchäftsmann, freidenkend, 
weltkundig, und von damals bemerkenswerthem ſchrift— 
ſtelleriſchem Talent, wegen welcher Eigenſchaften ihn 
Friedrich der Große ſpäterhin als Kammerpräſidenten 
nach Lingen berief. Als ein Zeugniß, wie ein ſolcher. 
Mann zu der Zeit, da ſchon die gehäſſigſten Verläum— 
dungen und roheſten Mißhandlungen gegen den Grafen 
allgemein in Umlauf waren, über ihn urtheilte, ſchal— 
ten wir billig die Schilderung hier ein, welche er eben 
damals von ihm entwarf: „Alles iſt voller Affekten, — 
ſo hebt er an, — wenn man von dem Grafen von 
Zinzendorf ſpricht; und es ſcheinet faſt, als ob man 
keine Freiheit hätte, eine Wahrheit zu prüfen, ſobald 
ſich der Eifer der Religion darunter miſchet. Einige 
machen dieſen Grafen zu einem Erzbetrüger und zu 
einem andern Mahomet; Andere betrachten ihn im Ge— 
gentheil als einen von Gott geſandten neuen Apoſtel 
und als einen Heiligen. Ich halte beide Meinungen 
für übertrieben. Der Graf ſcheinet mir weder ein 
Betrüger noch ein Apoſtel zu ſein, Gleichwohl aber 
find' ich in feinem Karakter und in feinen Unterneh— 
mungen etwas, das zu beiderlei Urtheil Anlaß geben 
kann. Der Graf von Zinzendorf hat nicht allein viel 
Witz, ſondern auch ein eine ſtarke Einbildungskraft, 


| 
| | 
welche aber, wenn fie außerordentlich aufgebracht wird, 
die gemeine Art zu denken verlieret, ſich ſelbſt über— 
ſteiget, und nicht ſelten neben ausſchweifet. Man darf 
nur ſeine Gedichte und Lieder leſen, ſo wird man von 
dieſem Karakter ſeines Verſtandes gar bald überzeugt 
werden. Man findet darinnen ſolche Stellen, die, ſo 
| zu reden, aus den erften Quellen des Parnaſſus ſchei— 


= 225 = 


nen gefloſſen zu ſein. Andere hingegen ſind überaus 
trüb und ſumpfig. — Hätte der Graf nichts Außeror— 
dentliches und nichts ungleich Scharfſinniges, ſo wür— 
ö den ſeine Einſichten klar und lauter ſein; man würde 
| fie leicht faſſen und verſtehen können, und man würde 
in ſeiner Art zu denken diejenige Ordnung finden, die 
man darinnen vermiſſet. Was die äußerliche Geſtalt 
des Grafens anlangt, ſo hat derſelbe ein gutes An— 

ſehen. Er iſt wohlgewachſen, und hat eine feine Bil— 

dung. Seine Augen ſind weder zu finſter, noch zu leb— 

haft. Er hat eine friſche Farbe, fleiſchichte Theile, und 

alle Anzeigen eines ſanguiniſchen Temperaments. Er 
ſieht einem ehrlichen Manne und nicht einem Betrüger 
ähnlich; ſeine Manieren ſind edel und ſeiner Geburt 
gemäß, man ſieht, daß er unter hohen Standesperſonen 
iſt erzogen worden, daß er die große Welt geſehen, 
und daß er ſowohl mit Majeſtäten, als mit ſeinen 
Brüdern, die meiſtens geringe Handwerksleute ſind, 
umzugehen weiß. Er beobachtet überhaupt einen üb- 
lichen Wohlſtand. Man ſieht aber, daß er denſelben 
alsdann hintenanſetzet, wenn er glaubet, daß ſich ſolcher 


Biographiſche Denkmale. V. 15 


226 4-48. 


— 


mit derjenigen Perſon nicht reime, die er in der Welt 
vorſtellen will. Hier ereignet ſich öfters eine Gegen- 
einanderſtoßung der Hoheit und der Niedrigkeit, wobei 
der Graf ſtark ins Gedränge kommt. Er iſt von Na— 
tur hitzig, gäh und leicht aufgebracht. Er trotzet auf 
ſeinen hohen Stand, wenn man ſein Lehramt angreifet, 
und fucht gleichwohl jenen aufzuopfern, um dieſes zu 
erheben. Er ſchreibt ſehr demüthig, wenn man aber 
ſeine Schriften angreifet, und ſucht gleichwohl jenen 
aufzuopfern, um dieſes zu erheben. Er ſchreibt ſehr 
demüthig, wenn man aber ſeine Schriften angreifet, ſo 
antwortet er hochmüthig. Er läſſet ſich nicht gern etwas 
ſagen oder einreden. Dieſes iſt ein kleiner Fehler, der 
öfters die größten verurſachet. Er trinket meiſtens 
Waſſer, er iſſet gewöhnlich ſtark; zuweilen aber ent— 
ziehet er ſich auch die Nahrung, und beobachtet weder 
in der Zeit, noch in den Speiſen ſelbſt, eine ſolche 
Ordnung, wie es die Unterhaltung ſeiner Geſundheit 
erfordert. Er will in allen Stücken feinen Leib ge- 
wöhnen, daß ihn weder eine weichliche noch rauhe Le 
bensart in ſeinen Unternehmungen hindern möchte. Sehet 
hier den Grafen von Zinzendorf, wie ich Gelegenheit 
geha habe, ihn ſelbſt kennen zu lernen! Was ſeine 
neue Verfaſſungen in dem Religionsweſen betrifft, ſo 
muß ich bekennen, daß es mir zu ſchwer vorkommt, 
darüber ein Urtheil zu fällen; es iſt zu viel Gutes, 
um alles zu ſchelten; es iſt zu viel Zweideutiges, um 
alles zu loben; es iſt zu viel Seltſames, um nicht 


— 88227 23 


einigem Verdacht Raum zu laſſen. Ich bin verſichert, 
daß dieſer Graf an und für ſich ſelbſt keinen vorgefaß— 
ten Anſchlag habe, die Welt unter dem Schein der 
Heiligkeit zu betrügen. Allein man hört von ihm gleich— 
wohl ſo viel Beſonderes, daß es eben ſo ſchwer fällt, 
diejenigen, die ihn deſſen beſchuldigen, für Lügner, als 
ihn ſelbſt für einen vorſätzlichen Betrüger zu halten. 
Hätte ihn nichts als der bloße Ehrgeiz geplaget, wo 
hätte er ihn beſſer vergnügen können, als an einem 
großen Hof, wo ihn ſeine Geburt, ſein Verſtand und 
ſeine Wiſſenſchaft zu den erſten Staatsämtern würden 
erhoben haben, und wo er allenfalls genug von ſich in 
der Welt hätte können reden machen! Es muß alſo, 
nach aller Wahrſcheinlichkeit, etwas von Religion und 
von Frömmigkeit in ſeinen Bewegungen mit unterlau— 
fen, wenn man auch gleich zugiebt, daß im Geiſtlichen 
der Hochmuth ja ſo viel, wo nicht noch mehr Nahrung, 
als im Weltlichen findet. Wie ſollte der Graf, ja nicht 
allein er, ſondern ſein ganzer Anhang, darunter ſich ſo 
viele ehrliche Leute befinden, mit einander dahin ſich 
verſtanden haben, zum Hohn des Allmächtigen und zur 
Verläſterung unſers Erlöſers, eine ſolche Maskerade in 
der Welt zu ſpielen? Nein, dieſes kann ich nicht glau— 
ben. Man kann ſo leicht aus guten Abſichten irren, 
als aus böſen die Wahrheit ſagen. Es iſt bei dieſen 

Leuten ein ſich ſelbſt ſchmeichelnder Wahn, welcher ſich 
der Sinnen und Einbildungskräfte um ſo vielmehr be— 

meiſtert, weil ſie wiſſen, daß ſie keinen andern als 

13 * 


en 228 . 


einen guten Endzweck haben. Wie man nun von einer 
Sache immer weiter und weiter geführet wird, je mehr 
ſie gewiſſe Fortgänge begleiten, ſo geht es auch mit | 
dem herrnhutiſchen Weſen. — Der erleuchtetfte unter 
den Apoſteln ſagt zwar von ſich felbft, daß er über dem 
Rühmen von Chriſto wäre zum Thoren worden. Aber 
dieſes war nur allein in Anſehung der Ungläubigen 


welche das Evangelium für eine Thorheit hielten; — 
wenn hingegen der Graf von Zinzendorf von ſich ſelbſten 


ſagt, er habe den Heiland mit zu Hülfe genommen, 
wenn er eine künſtliche Lektion bei dem Tanzmeiſter 
hätte machen ſollen, ſo kann es derſelbe der vernünf— | 


tigen Welt mitnichten verdenken, daß fie über dieſe und 


dergleichen Ausdrücke die Richtigkeit ſeiner Denkensart 
in Zweifel ziehet, und dieſes beſonders an ihm auszu- 


ſetzen findet, daß hin und wieder er das Lächerliche mit 


demjenigen, was heilig und anbetungswürdig iſt, ver 


menget. Es iſt mir dieſes an dem Herrn Grafen um 


fo viel unbegreiflicher, weil ich ſonſt in feinem äußer⸗ 


lichen Umgang und Weſen nicht das mindeſte Gaufel- 


haftes oder Zweideutiges entdeckt habe. Es iſt alſo 
vermuthlich nichts anders, als die außerordentliche Leb⸗ 
haftigkeit eines Geiſtes, der ſich ſtets in ſich ſelbſt be⸗ 


ſchäftiget, und eine Menge außerordentlicher Bilder 


zeuget. — An Scharfſinnigkeit, Einſicht und guten Ein- 


fällen fehlet es dem Grafen gar nicht; ja man kann 


von ihm mit Grund und Wahrheit ſagen, daß er ehen- 


der zu viel, als zu wenig Witz habe. Man muß inſon⸗ 


8 


> 229 Bo 


derheit deſſen artige Schreibart in franzöſiſcher Sprache 
bewundern. Ich habe Briefe von ihm geleſen, die ein 
ſo feiner Witz, eine ſo zärtliche Wendungskunſt und 
eine ſolche Stärke in den Ausdrücken belebet, daß man 
ſolche den geſchickteſten Skribenten dieſes Volks zu— 
ſchreiben ſollte. Von ſeinen Gedichten und Liedern iſt 
ſchon oben Meldung geſchehen. Wenn er die heilige 
Schrift erkläret, oder von geiſtlichen Dingen ſpricht, fo 
braucht er öfters ſolche Redensarten, die ganz außer— 
ordentlich ſind, und ſehr von der Eigenſchaft der hei— 
ligen Sprache abgehen; wenn er von der Liebe des 
Heilandes redet, ſo treibt er nicht ſelten die Einbil— 
dungskraft fo weit, daß er dazu die ſchlüpfrigſten Vor— 
ſtellungen der fleiſchlichen Liebe entlehnet. — Ich glaube, 
daß der Graf dieſe Sachen in dem beſten Sinn von 
der Welt mag geſchrieben haben. Ich ſelbſt bin auch 
nicht in Abrede, daß ſie in einem reinen geläuterten 
Verſtand von der Braut Chriſti wohl alſo mögen an— 
gebracht werden; allein man muß gleichwohl die Myſtik 
hier nicht zu weit treiben. Die Bilder von der fleiſch— 
lichen Liebe ſind voller Unreinigkeit und Befleckung: ſie 
erwecken ſolche Begriffe und Vorſtellungen, die ſich zu 
einer reinen Andacht gar nicht ſchicken; ja ſie machen 
ſelbſt die Unſchuld und die Schamhaftigkeit erröthen. 
Kein Apoſtel, kein Heiliger bedienet ſich ſolcher Aus— 
drucke, die man in den herrnhutiſchen Liedern findet. 
Warum bleiben wir nicht einfältig bei der Sprache des 
Evangelii? Ich weiß zwar wohl, daß ſich zuweilen 


| 


die Propheten, und infonderheit der Verfaſſer des hohen | 
Liedes, dergleichen Ausdrücke und Redensarten bedienet 
haben; allein die Zeiten haben einen großen Unter⸗ 
ſchied in der Lebensart und in der Sprachweiſe der 
Menſchen gemacht. — Die Gelegenheit zu der neuen 
herrnhutiſchen Sekte waren einige mähriſche Familien, 
die ſich auf der Herrſchaft des Grafen von Zinzendorf 
in der Lauſitz niederließen, und den Ort Herrnhut er— 
baueten. — Leute von verſchiedenen Sekten und Mei- 
nungen ſchlugen ſich zu ihnen; ſie errichteten unter dem 
Schutz und unter dem Anſehen des Grafens eine neue 
Art der geiſtlichen Brüderſchaft, und machten allerhand 
gute Anſtalten, das Leben, die Aufführung und die 
Sitten ihrer Mitglieder zu formiren, ja ſie trieben 
ihren Eifer zur Ausbreitung des Chriſtenthums bis in 
die entfernteſten Weltgegenden; — ich verwundere mich 
nicht, daß dieſe Leute ſo große Dinge unternehmen; 
ich verwundre mich aber, daß ſie von Statten gehen, 
und daß binnen einer Zeit von fünfzehn Jahren die 
halbe Welt von dieſen Dingen iſt angefüllet worden. 
Die allenthalben täglich mehr überhandnehmenden Miß— 
bräuche, welche ein närriſcher Hochmuth und eine zaum 
loſe Ueppigkeit emportreiben, und die beſten Haushal- 
tungen in Unordnung bringen, mögen gleichfalls, ſo— 

wohl als der Trieb zur Frömmigkeit, die Urſache ſein, 

daß ſich ſo viele Leute zu den Herrnhutern geſellen, 

darunter inſonderheit einige reiche Engländer, Holländer 

und Schweizer ſich befinden, welche durch große Geld— 


D 230 & 


2 


— — 


e 8 231 83. 

ſummen den Grafen von Zinzendorf in den Stand 
ſetzen, ganze Herrſchaften hin und wieder anzukaufen 
und ganze Länder zu bevölkern. Wenn ich alle dieſe 
Dinge an und für ſich ſelbſt, als ein Menſch, der un⸗ 
partheiiſch die Wahrheit liebet, und ohne einige mir 
wohlbekannte Vorurtheile zu prüfen, vor mich nehme, 
ſo kann ich unmöglich in meinem Herzen den Verdacht 
rechtfertigen, daß die ſo übel beſchrieenen Herrnhuter 
ein ſo böſes und abſcheuliches Volk ſein ſollen, als ſie 
insgemein beſchrieben werden. Ich finde nicht, daß die 
Wahrheit der Religion dadurch etwas gewinnet, wenn 
man in dem Eifer gegen Irrende ſich ſelbſt aus der 
Freiheit ſetzet, ein gründliches Urtheil zu fällen. Daß 
es aber unter ihnen viele Schwärmer, Fantaſten, Müßig— 
gänger und dergleichen gebe, ſolches iſt nicht zu läug— 
nen; man müßte denn die allerunverwerflichſten Zeug— 
niſſe einiger unſrer größten Theologen einer Unrichtig— 
keit beſchuldigen wollen, welches ich mir nicht in den 
Sinn kommen laſſe. Wo find aber Gemeinden, da 
nicht Böſe und Gute untereinander ſind? Ich muß 
hier der Wahrheit Zeugniß geben, diejenigen, die ich 
von ihnen gekannt habe, waren meiſtens artige, wohl— 
gezogene, und in den göttlichen Wegen wohlerfahrene 
Leute: inſonderheit die mähriſchen Leute ſelbſt, die, 
wenn ich ſie ſchelten wollte, bewundern müßte.“ So 
weit der genannte Schriftſteller. 


aD 232 K. 


Unſre Erzählung, wie das eben Geleſene bezeugt, 
ſchreitet ſchon inmitten der Zeiten, welche für Zinzen— 
dorf's Leben und Wirken als die heißeſten gelten kön— 
nen. Seine Unternehmungen waren im höchſten Auf— 
ſchwung und ſahen weithin neue Grundlagen ihrer ge— 
deihlichſten Niederlaſſungen verbreitet. Ein religiöfes 
Treiben, welches aus der Stille, in der es aufgewach— 
ſen, nun durch Verkündigung in Hauptſtädten, durch 
Aufſtellung ungewöhnlicher kirchlichen Würden, durch 
Gründung neuer Ortſchaften in verſchiedenen Ländern, 
und durch Miſſionen in fremden Welttheilen, auf den 
großen Schauplatz der Oeffentlichkeit hervorgetreten 
war, mußte jedes Geſchick erfahren, welches der Ta— 
gesantheil einer aufgeregten großen und kleinen Welt 
immer ſeinen Gegenſtänden mitbringt. Während Bei— 
fall und Nachfolge ſich vielfältig und bedeutend zeig— 
ten, wurden zugleich Haß und Verwerfung laut, und 
von allen Seiten ſtürmten ergrimmte Feinde gegen 
Zinzendorf perſönlich, wie gegen die Brüdergemeinde, 
gewaltſam an. Beſonders machten es ſich die Geiſt— 
lichen zur Pflicht, die Lehre und den Wandel der neuen 
Sekte ſcharf zu prüfen, und fie als verkehrt und gott— 
los darzuſtellen. Angeſehene Prediger und berühmte 
Gottesgelehrte führten dieſen Kampf mit aller Leiden— 
ſchaft, und mit allen Vortheilen ihrer perſönlichen Stel— 
lung. Aus dem Leben und den Aeußerungen des un— 
aufhörlich thätigen, nicht ſelten über unſichern Boden 
hineilenden Grafen und ſeiner Anhänger, einiger tau— 


4 


sm 233 DI 


fend in ihrem Eifer nichts weniger als vorfichtigen, und 
durch Bildung felten unterſtützten Leute, war leicht fo 


viel Gift abzuſondern, als nöthig ſchien, um das ganze 


Weſen, weil es dergleichen enthalte, für verdammens— 
würdig zu erklären. Frühere Vertraute, welche ſich 
dann zurückzogen, abtrünnige, wohl gar ausgeſtoßene 
Brüder, welche ſich an der Gemeinde durch Verrath 
rächten, vermehrten die Zahl der Feinde, und man 
glaubte ihnen um ſo lieber, da ſie das Anſehn hatten, 
mit völliger Sachkenntniß zu urtheilen. Dieſer Haß, 
dieſe Verläumdungen und Läſterungen, und der fortge— 
ſetzte Kampf, zu welchem ſie nöthigten, erſtreckten ſich 
über Zinzendorf's nächſtfolgende Jahre mit geſteigerter 
Wuth und Gefahr. Mancher Schlag mußte tief tref— 
fen, manche Wunde ſchwer heilen, und oft für den 
Grafen und feine Mitardeiter ſich die Ausſicht völlig 
trüben; allein ihr Muth erlag nicht, ſelber das, was in 
ihnen Irriges und Schwächeres war, ging durch den 
Kampf allmählich in Trümmer, und ihr Beſſeres fand 
nur um ſo feſteren Beſtand. Was in Betreff der Re— 
ligionswiſſenſchaft ihnen als Irrlehre, als falſche Aus— 
legung der heiligen Schrift, oder als Widerſpruch ge— 
gen dieſelbe, vorgeworfen wurde, überlaſſen wir billig 
Andern zu erörtern, welche dieſes Gebiet zu betreten 
näheren Beruf haben. Uns darf in ſolcher Hinſicht ge— 
nügen, daß Zinzendorf von dem augsburgiſchen Glau— 
bensbekenntniſſe in der Lehre nicht abweichen wollte, 
und ihm das Zeugniß der Uebereinſtimmung mit dem— 


iD 234 3 


— 


ſelben von theologiſchen Behörden und einzelnen Gottes— 


gelehrten ſeiner Zeit wirklich gegeben wurde. 
Dagegen dürfen wir Anlaß nehmen, hier einige 
Beſonderheiten, die ſich in ſeinen praktiſchen Einrich— 
tungen darſtellen, und von jeher am meiſten die An— 
griffe und das Geſpött der Gegner erduldet haben, 
näher einzuſehn. Der Gebrauch des Looſes, beſonders 
auch bei Eheſtiftungen, wo daſſelbe jedoch nicht ſowohl 
Verbindungen angab, als vielmehr ſchon anderweitig 


vorgeſchlagene nur beſtätigte oder verwarf, wurde viel- 


fältig gemißbilligt; man ſah darin einen Frevel gegen 


die Vernunft, und vielmehr eine Abgötterei für den 


Zufall, als eine Verehrung des Heilands; ja man ſcheute 
ſich nicht zu behaupten, der Graf lenke das Loos be— 
trügeriſch nach ſchon vorgefaßter Abſicht. Eben fo 
wurde das Zuſammenwohnen lediger Perſonen in Brü— 
der- und Schweſternhäuſern, in deren eigenthümlicher 
Lebensordnung doch niemand zu verbleiben gezwungen 
war, als eine Anſtalt, welche zum katholiſchen Kloſter— 
weſen hinneige, hart getadelt. Allein dies und andres 
der Art erregte nur eine untergeordnete Aufmerkſamkeit 
in Vergleich mit dem allgemeinen und ſchreienden Aer— 
gerniß, welches die herrnhutiſchen Eheſachen anrichten 
mußten. Eine noch in keiner Geſetzgebung oder Sit— 
tenordnung völlig gelöſte Schwierigkeit iſt die Behand— 
lung des Geſchlechtlichen im Menſchen. Hier verflech— 
ten ſich in der That ſo mannigfache Verhältniſſe, Be— 
dingungen und Folgen, daß es unmöglich ſcheint, für 


* 


DB 235 S8. 


alle den einen, nach jeder Seite zugleich wirkenden und 
ausreichenden, feſten Beſtimmungsgrund zu finden. Den 
mächtigſten und unabweislichſten Trieb, worin ſich Höch— 
ſtes und Niedrigſtes verbindet, zu unterdrücken, iſt eben 
ſo unthunlich, als ihn freizulaſſen, und hinwieder thun 
Maß und Schranken jeder Art unzulänglich und wider— 
ſprüchig faſt nur das eine mit dem andern. Frühere 
Zeiten hatten, in unbedingter ſittlicher Forderung, alles 
verſucht, den Störungen, welche von daher dem geſell— 


ſchaftlichen Zuſtande kamen, mit äußerſter Strenge zu 


begegnen; gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhun— 
derts wurde in dieſer Beziehung, weil man mehr die 
Natur betrachtete, Milde und Nachſicht herrſchend, und 
in der That pflegt noch bis ſpät herab nichts milder 
beurtheilt, leichter verziehen, mehr dem perſönlichen 


Gutdünken anheimgeſtellt zu werden, als die Behand— 


lung dieſer Verhältniſſe. Auf ſolche Weiſe die Sache 
zu nehmen, war nun Zinzendorf gar nicht geneigt, ſeine 


ganze Richtung ſtand in dieſem Betreff mit der ihn 


umgebenden Welt im ſtärkſten Widerſpruch. Die Sit— 
ten, welche er in Paris, am Hofe zu Dresden und 
andern Orten, nah genug geſehen und beſeufzt, muß— 
ten ihn abſtoßen. Aber auch die finſtern Ergebniſſe 
der äußerlichen Geſetzesſtrenge, die bei den Pietiſten 
oder bei klöſterlichen Entſagungsgelübden Statt fan— 
den, konnten ſein heitres, liebevolles Gemüth nicht an— 
ziehen. Seine Vorſtellungen gingen vielmehr einen 
eignen Gang, der nicht ſowohl die Unterdrückung der 


en 236 S. 


Sinnlichkeit, als ihre Erhebung und Heiligung bezweckte, 
und dadurch ihren ſtörenden Beſtandtheil beſeitigen wollte. 
Wir vereinigen hier einige Stellen, in welchen er ſelbſt 
ſeine Meinung über dieſe zarten Gegenſtände unum— 
wunden genug ausſpricht. Von der Sinnlichkeit im All— 
gemeinen ſprechend läßt er ſich alſo vernehmen: „Das 
iſt eine wichtige Materie von dem nöthigen Gefühl, 
das einem jeden körperlichen Weſen eigen. Ich habe 
oft obſervirt, wenn man ſich ſtößt am Fuß, und man 
fühlt nicht drauf, ſo kriegt man keinen blauen Flecken; 
bloß darum, weil das Gemüth nicht entrirt. Wenn 
man's aber berührt, ſo wird's oft ſchlecht. Es iſt ein 
großer Unterſchied unter dem Gefühl, das per se iſt, 
und dem Gefühl, das in die Gedanken geführt wird. 
Das Gefühl, das Grundgefühl bei einer Sache, kann 
kein Menſch evitiren: aber er kann ſchon den zweiten 
Gedanken und alle darauf folgenden vermeiden. Es 
ſind gewiſſe einander ganz ähnliche Gefühle in der Na— 
tur, z. B. das Jucken, wenn eine Wunde heilt, iſt 
accurat ſo als das, was man ſonſt Wohlthun nennt; 
und wenn das Gefühl wieder in Exceß geht, ſo wird 
ein Wehthun daraus. Denn Wohl- und Wehthun 
kann ſich in einem Moment zuſammenfinden. Was iſt 
der Wolluſt näher als der Kitzel? und derſelbe kann 
ſich doch in eine hölliſche Pein verwandeln, die den Tod 
nach ſich ziehet. Alſo iſt das, was man Luſt nennt, 
eine bloße Wirkung des menſchlichen Gemüths; und es 
giebt keine Luſt, die in einer bloßen unreflektirten Sen— 


e 237 93 


fation beſtünde. So iſt's auch mit der Augenluſt. 
Ich kann eine Schönheit ſehen, davon hab' ich keinen 
Schaden. Ich kann dazu denken: das iſt eine Schön— 
heit; aber es fehlt noch ein Gedanke, ehe es Schaden 
thun kann, und ehe ich aus der angeliſchen Idee her— 
auskomme. Ich kann noch eine angeliſche Reflexion 
dazu haben, ehe es zur andern Reflexion kommt. Und 
was muß da deeidiren? Nichts als das Herz. Wenn 
das Herz einmal dahinein geſchickt iſt, wo es ewig 


wünſcht zu ſein, und wenn alles, was das Herz denkt, 


aus der Quelle kommt: if iſt man mit der Luſt auf 
ewig getrennt, und ſie hat Abſchied genommen. Was 


hernach die Empfindung iſt, die allen Weſen eigen iſt, 


nach der verſchiedenen Modifikation, die zu diverſen 
Sachen gehört: da iſt die Empfindlichkeit oder Unem— 
vfindlichkeit mehr im natürlichen Temperament und Kom— 
voſition der äußeren Theile zu ſuchen, als im Gemüth. 
Ein ganz unbekehrter Menſch kann unempfindlich ſein, 


und ein edles Gemüth kann eine geplagte Hütte haben; 


und je edler es iſt, je mehr es drüber ſorgt, je mehr 
ſich's drüber grämt, je geplagter wird's; und nichts iſt 
unnützer und alberner, als die Remeduren, die man 
durch vertrauliche Geſpräche, Gemüthsunterhandlungen, 
oder gar Diät u. ſ. w. ſchaffen will. Denn je we— 
niger die Sachen in Gedanken, geſchweige in Worte 
kommen, je ſorgfältiger man ſich ſelber alle Gedanken 
drüber erſpart, je beſſer iſt's. Aber ich glaube freilich, 
daß Eheleute darin einen Vorzug haben vor ledigen 


- 2 
238 S2 


Leuten. Denn die ledigen Leute, die keinen ſakrament— 
lichen Gebrauch und befohlne Anwendung einer gewiſ— 
ſen Fakultät haben können, die doch in ihnen liegt, kön— 
nen auch das exereitium apathias nicht fo haben und 
erlangen, als durch Zeit und Jahre: da hingegen ein 
junger Ehemann in den Zwanzigen zu einer Apathie 
kommen kann ungeſucht, durch den bloßen realen, mo— 
deſten, andächtigen Gebrauch aller ihm gegebenen Werk— 
zeuge. Das iſt die einige Differenz, worin die treuen 
ledigen Geſchwiſter uns allezeit reſpektabel bleiben, wo | 
wir Eheleute in merito zurückbleiben, und die Segel 
vor ihnen ſtreichen müſſen.“ Die wahre Bedeutung 
der chriſtlichen Ehe ſelbſt, deren höchſte Art, daß die 
Frau den geiſtlichen Beruf des Mannes ganz mitüber— 
nimmt, und Heimath, Wohlſtand, ja ſelbſt die eignen 
Kinder zu verlaſſen, und ihn um des Heilands willen 
in jede Noth und Ferne zu begleiten ſtets fertig iſt, er 
zum Unterſchiede einer gewöhnlichen, ordentlichen, eine 
Streiterehe nannte, erklärt er folgendergeſtalt: „Ich 
bin dazu berufen, daß ich meiner Schweſter ſoll anſtatt 
des Heilands, ihr Prieſter ſein, eine kleine Hauskirche 
mit ihr konſtituiren, die entweder ſo bleiben, oder nach 
des Heilands Willen zu einer größern Synagoge wer— 
den ſoll, und die, wenn ich einmal tractu temporis zwan— 
zigtauſend Kinder habe, von Rechts wegen eine aparte 
Synagoge und Geſellſchaft unter dem großen Haufen 
muß abgeben können, die bloß um's Heilands willen 
da, um's Heilands willen erzeugt ſein, und die, in alle 


15 


b 239 N 


— 


die Branchen ausgetheilt, noch immer wiſſen kann, was 
ihr Urvater gewollt, da er das erſte Kind gezeugt hat. 
Das heißt eine Familie Gottes in die Welt pflanzen, 
die, wenn fie ſich auf viele tauſend Menſchen erſtreckt, 
| doch noch immer dieſelbe erſte Familie iſt. — Wenn 
ein Menſch denkt, und keinen andern Zweck hat, ſo iſt's 
keine Kunſt, daß er den Eheſtand heilig führt. Was 
man in der Welt von Stillung der Lüfte ſpricht, kommt 
da nicht in Komputation. Man hat darum nicht ge— 
heirathet; die Kohabitation ſelbſt iſt nur ein Special— 
kaſus, nur eine der zwanzig andern Schuldigkeiten, die 
in der Ehe vorkommen. Sie iſt im Namen Jeſu vor— 
| zunehmen, und zu erwarten, ob fie der Heiland ſegnen 
will zu einer Gottesfamilie auf Erden, oder ob er zwei 
ſelige und unter ſich ſelbſt vergnügte Herzen singulatim 
erhalten will. Denn ein Eheſtand ohne Kinder iſt in 
ſich ſelbſt eben ſo groß und wichtig, als mit Kindern. 
— — Das Kinderzeugen iſt unter die Dinge rangirt, 
die man nun eben um's Heilands willen auf ſich nimmt. 
Wer hat denn geſagt, daß die Sache die geringſte Kon— 
nexion mit dem fleiſchlichen Plaiſir hat? Das iſt eine 
Phantaſie, die hat entweder der Satan in die menſch— 
liche Idee gezaubert, oder auch der kondeſcendente 
Schöpfer darum zugelaſſen, weil ſonſt niemand hei— 
rathen würde, als ſeine wenigen Leute auf Erden. 
Wenn man des Heilands iſt, ſo fallen auch die Schup— 
pen von den Augen weg: man ſieht was anders, es iſt 
das nicht, was man ſich vorſtellt. — Der Ehrenge— 


* 
* 


danke Ebr. 13, 4. hat ſollen in unſre Geſchwiſter hin⸗ 
einkommen, daran iſt zwölf Jahre gearbeitet worden, 
und das iſt geſchehen: das iſt ein univerſeller Gedanke 
worden: und wer von unſern Geſchwiſtern, die in der 
Gemeinde heirathen, anders dächte, der käme ſich ſelbſt 
wie ein Spektakel vor, wie ein Barbar unter den An— 
dern.“ An ſolchen Vorſtellungen, denen man das Geiſt— 
reiche nicht abſprechen wird, brauchte man noch eben 
nicht Anſtoß zu nehmen; allein die ſtrenge Folgerichtig— 
keit, mit welcher Zinzendorf ſie unmittelbar auf die 
Wirklichkeit des Lebens auch im Einzelnen anwenden 
wollte, mußte die gewaltigſten Aergerniſſe hervorrufen. 


Er konnte hiebei die Klippe nicht vermeiden, an welche, 


bei ſorgfältiger Auseinanderſetzung ähnlicher Bezüge, 


der ſpaniſche Jeſuit Sanchez, in ſeinem faſt nur dieſer— 


halb noch berühmten Werke von der Ehe, ſtoßen mußte, 
die Klippe nämlich, mit dieſen Gegenſtänden ſich zu ge— 
nau zu beſchäftigen, ihre Arten zu unterſuchen, ſie nach 
ihren Zweckmäßigkeiten abzuwägen, auszuſondern, und 
nicht nur im Allgemeinen ein Kundiger zu ſein, ſon— 
dern auch im Beſondern der einzelnen Verhältniſſe ſich 
als Dritter in die vertraulichſten Geheimniſſe einzu— 
drängen. Hiebei mußte natürlich jede Zurückhaltung 
weichen; die Benennung der menſchlichen Glieder und 
der verſchiedenen Handlungen, welche hier in Betracht kom— 
men, geſchah, gleich dieſen Handlungen ſelbſt, ohne Scham 
und Scheu; Zinzendorf bekannte frei, daß er die Glieder 
zur Unterſcheidung des Geſchlechts für die ehrwürdig— 
ſten am ganzen Leibe achte, weil ſie ſein Herr und 


e 
11 ö 


Gott theils bewohnet, theils ſelbſt getragen habe; ja 
die Scham wurde ausdrücklich verdammt, als vom 
Satan in eine heilige Handlung hinein gehext und ge— 
zaubert, welche, da fie in ihrem höchften Augenblicke 
nur die Vereinigung Chriſti mit ſeiner Kirche bedeute, 
— erſterer durch den Mann, gleichſam den Vice-Chriſt, 
letztere durch die Frau, deren eigentlicher Mann immer 
nur Chriſtus bleibe, vorgeſtellt, — für diejenigen, welche 
dieſen Sinn und dieſes Bewußtſein dabei hegen, ſo 
| wenig mit der ſinnlichen Wolluſt gemein habe, als der 
Genuß des heiligen Abendmahls mit der Begierde eines 
Weintrinkers! Auch bis dahin läßt ſich das Erhabene 
und Reine in der Betrachtungsweiſe Zinzendorf's nicht 
verkennen, wiewohl auch das Bedenkliche nicht, ſie auf 
jeden vorkommenden Fall ausdrücklich anzuwenden. Je— 
mehr er dieſe Dinge überdachte, um ſo mehr fiel ihm 
ihre Wichtigkeit auf, und glaubte er ſie dem Zufall 
und der Willkür auch im Kleinſten entreißen zu müſſen. 
Daher wurden Anſtalten aller Art getroffen, vorberei— 
tender Unterricht ertheilt, jedwedes Benehmen und Un— 
terlaſſen genau vorgeſchrieben. Bald kam von dieſen 
Sachen einige Kenntniß ins Publikum; man erzählte 
von dem blauen Kabinet, in welchem die Neuvermähl— 
ten ihre Viertelſtunden halten mußten, und welches, 
außer einem Tiſche mit brennendem Lichte und einem 
Bänkchen oder Hutſche, kein andres Geräth mehr hatte, 
von der feſtgeſetzten, ohne vorgängiges Geſpräch und 
Liebkoſen zu haltenden Vereinigung, von der Liederbe— 


Biograpbiſche Denkmale. V. . 16 


<> 241 E22 


2 242 B 


gleitung, welche dazu im Nebenzimmer von Brüdern 
und Schweftern gemacht wurde, von den ausforſchen— 
den Fragen und Verhören, welche ſodann folgten, und 
von andern ſolchen Gebräuchen und Umſtänden, deren 
auffallende Eigenart bald dem zürnenden Unwillen, bald 
dem ſchnödeſten Hohne zum Gegenſtande dienen mußte. 
Dergleichen Heimlichkeiten, welche im perſönlichen in— 
nigſten Vertrauen zwiſchen Zweien vorgehen, in irgend 
allgemeine Beziehung bringen, Erfahrungen daraus auf— 
ſtellen und Grundſätze herleiten wollen, iſt ſchon der 
ärztlichen Naturforſchung ein bedenkliches Vorhaben, 
dem Sittengeſetzgeber das allerbedenklichſte. Um wie 
viel ſchlimmer ſtellt ſich nun die Sache, wenn gar die 
öffentliche Verhandlung hinzukommt, welche bei dieſen 
Gegenſtänden ſchon das Gewöhnliche zum Aergerniß 
macht, hier aber das Ungewöhnlichſte mit ſchonungs— 
loſer Rohheit zu mißhandeln bekam! Ganz abzuläug— 


nen waren die Sachen nicht; mochte vieles übertrieben, 


andres mißverſtanden, allem das urſprünglich Zarte 
und Geiſtige genommen ſein, ſo blieb doch die Haupt— 
ſache wahr. Wir ſehen dies aus Zinzendorf's eignen 
Worten, ſelbſt indem er durchaus glaubhaft ſeine Be— 
ſcheidenheit in dieſer ſtets mißlichen Beſchäftigung ver— 
ſichert, läßt er uns erkennen, daß, auch indem er ſich 
zurückzuhalten wähnt, ſchon einiger Fürwitz ihn allzu 
weit geführt habe. Er ſagt in einer Stelle ganz auf— 
richtig: „Es iſt eigentlich nichts gefährlich, als der 
erſte Eingang in die Ehe. Ich frage nichts darnach, 


= 


55 243 I 


wenn einem die Geſchwiſter in ihrem ganzen Leben 
nichts mehr von ihren Umſtänden ſagen; wenn ich nur 
um den Eingang weiß. Was fie darnach machen, 
überlaſſe ich ihnen. Wenn ſie mich nicht brauchen, fo 
brauche ich fie auch nicht. Die Kuriofität, zu wiſſen was 
ſie machen, reizt mich nicht. Die erſten Anfänge haben 
was Schweres und oft Intrikates. Im erſten Anfang 
ſind ſie Schüler, und je weiter ſie in den ledigen 
Chören in der Gnade wachſen, und je mehr ſie von 
allen fleiſchlichen Ideen abkommen, je unbeſonnener und 
kindiſcher werden die Geſchwiſter in der Materie, ſo, 
daß die Welt nicht konzipiren kann, was junge Ehe— 


leute in der Gemeinde vor Kinder find: fie dachte, man 


hätte ſie zum Narren, wenn man's ihr ſagte. Unter— 
deſſen können wir's nicht ändern: wenn's gleich in der 
ganzen Welt anders iſt, ja wider alle Welterfahrung 
zu ſtreiten ſcheint.“ — In dieſem Sinne ſchrieb er in 
feinem Bericht an die engliſche Kirche: „There are 
some oddities in our way, in our constitution.“ Wenn 
es wahr iſt, was dem Grafen nachgeſagt wird, daß er 
in Herruhut nachts Umgänge gehalten, die ſchlafenden 
Eheleute — da keine Thüre verſchloſſen ſein durfte — 
unvermuthet beſucht, ſie befragt, geprüft, und nach Be— 
fund geſcholten habe, ſo muß man freilich dieſe Oddi— 
taten, wie er auch im Deutſchen zu ſagen pflegte, reich— 
lich zugeſtanden ſein laſſen. ü 

Im nächſten Zuſammenhange mit dieſen Eheſachen 
ſtand das Liederweſen der Herrnhuter; war bei jenen 

16 * 


im Praktiſchen allerdings Geheimniß und Zurückhal— 
tung beabſichtigt und eine Zeitlang wenigſtens gegen 
die Welt bewahrt, ſo kamen ſie dennoch durch die Ge— 
ſangbücher der Gemeinde, in der hier unbewachten An— 
wendung der außerordentlichſten Ausdrücke und wun— 
derbarſten Bilder, unvermeidlich zur größten Oeffent— 
lichkeit. Der dichteriſche Sinn des Grafen hatte ſich 
von jeher mit großer Vorliebe den Liedern zugewendet, 
welche in dem proteſtantiſchen Gottesdienſte ſchon ſeit 
Luther eine fo bedeutende Stelle haben. Durch Aus- 
wahl und Zuſammenſtellung aus dem ungeheuern Vor— 
rath ein neues Geſangbuch für die Gemeinde anzufer— 
tigen, ſtellte ſich von ſelbſt ihrem Stifter zur Aufgabe. 
Zinzendorf's eigner Verſuch war jedoch, wie wir geſe— 
hen, zuerſt auf ein Unternehmen gerichtet, welches den 
katholiſchen Frommen dienen ſollte. Später gab im 
Jahre 1731 der Gerichtshalter Marche, der in Görlitz 
einen Buchhandel anlegte, eine Sammlung alter und 
neuer Lieder heraus, welche der Graf ausgeſucht und 
durch Weglaſſungen und Zuſätze möglichſt nach ſeinem 
Sinn eingerichtet hatte. Seine Abſicht aber war, da— 
durch einige Liederbücher zu verdrängen, welche vieles 
Gefährliche und Verwerfliche enthielten, aber bei Se— 
paratiſten und Sektirern beliebt waren; um dieſen den 
Tauſch annehmlich zu machen, durfte nicht alles An— 
ſtößige oder Bedenkliche ſogleich weggeräumt werden, 
es ſchien genug, fürerſt das Schlimmſte fortgeſchafft 
und das weniger Schlimme unter vieles Beſſere ge— 


— 88 245 . 


ſtellt zu haben. Die vielen Einwendungen, welche ge— 
gen dieſes freilich nicht ohne Mißgriffe gebliebene Ver— 
fahren laut wurden, und die ſtarken Vorwürfe und 
argen Verdächtigungen, die ſich deßhalb erhoben, be— 
wirkten doch, daß man dieſes Geſangbuch bald wieder 
fallen ließ. Inzwiſchen mehrte ſich in der Gemeinde 
die Luſt und Uebung des Geſanges; die Gabe des 
Grafen, Lieder aus dem Herzen zu ſingen, wirkte als 
Beiſpiel fruchtbar, und es fehlte nicht an Männern, 
Frauen, ja ſelbſt Kindern, welche ihre frommen Em— 
pfindungen oder Einfälle in bekannten Liederweiſen gut 
oder übel auszudrücken ſuchten. Unter den Händen oft 
gänzlich unterrichts- und bildungs loſer Leute mußte des 
Rohen und Abgeſchmackten auf dieſe Art mehr entſtehn, 
als des Edlen und Würdigen, und Gunſt und Luſt der 
Menge haftete, nach mannigfachen beſondern Einwir— 
kungen und Nebenumſtänden der Entſtehung, oft vor— 
zugsweiſe an dem Werthloſen oder Abentheuerlichen. 
Zinzendorf ſelbſt hatte bei ſeiner leichten Dichtungs— 
gabe den unlauterſten Geſchmack, ihm ſtand die Wohl— 
meinung des Inhalts, oder auch nur der Abſicht, für 
alles Ungefüge der Bilder und der Sprache reichlich 
ein, und er ſelbſt beſtärkte nur die ſchlechte Richtung 
durch ſeinen Beifall wie durch ſein Vorbild. Ein zwei— 
tes, im Jahre 1735 für die Gemeinde zu Herrnhut er— 
ſchienenes Geſangbuch enthielt, mit vielem älteren und 
neueren Guten auch vieles Geringe und Anſtößige, be— 
ſonders in den Anhängen, welche größtentheils das 


<> 246 . 


eigne Erzeugniß des Grafen und feiner herrnhutiſchen 
Dichtungsverwandten lieferten. Außer den in dem Ge— 
ſangbuch enthaltenen war aber noch eine große Menge 
andrer Lieder im Schwange, deren Bekanntwerden nicht 
verhindert blieb. Da fanden ſich denn hohle, zum völ— 
ligen Ueberdruß wiederkehrende Formenſpiele, angehäuf— 
ter Wortſchall, und verrenkte Sprachwendungen aller 
Art, um die Verliebtheit in den Heiland, den Lobpreis 
des Lammes und andre ſolche Vorſtellungen auszu— 
drücken. Beſonders gaben die Wunden des Heilands 
einen unerſchöpflichen Stoff der überſchwänglichſten Be— 
ſingung. Wir dürfen manches der Zeit nach Spätere 
gleich in denſelben Zuſammenhang mitfaſſen, und da— 
her eben hier auch der ſogenannten Wundenlitanei er— 
wähnen, welche mit angereihten Fürbitten abwechſelnd 
dieſe Wunden als würdige, liebſte, kräftige, geheime, 
klare, funkelnde, hohle, ſaftige, nahe, niedliche, warme, 
weiche, heiße, ewige anrief, und mit noch andern ſol— 
chen Bezeichnungen, welche kaum etwas wahrhaft Un— 
terſcheidbares lieferten. Zu dieſem Wechſel der Bei— 
wörter giebt die Vervielfachung des Hauptworts in 
nachſtehender Strophe das Gegenſtück: 


„Des wunden Kreuzgotts Bundesblut, 
Die Wunden-Wunden-Wundenfluth, 
Ihr Wunden, ja ihr Wunden! 

Eur Wunden-Wunden-Wundengut, 
Macht Wunden-Wunden-Wundenmuth, 
Und Wunden, Herzenswunden. 


BD 247 I 


Wunden! Wunden! Geißelwunden! 
Dornenwunden! Nägelſchrunden! 
Speerſchlitz! Grüß euch Gott, ihr Wunden!“ 
Vor den andern erhielt hauptſächlich die Seitenwunde, 
welche der Speer geriſſen hatte, den Preis der Andacht 
und Zuneigung in vervielfachten Ausdrücken der ver— 
liebteſten Entzückung; das Seitenhöhlchen, wie ſie es 
nannten, wurde die Zuflucht der Sünder, die warme 
Lagerſtätte, worin die Kinder Gottes, nach ihrem Be— 
hagen, in die Länge oder Quere ſich ausſtrecken, worin 
ſie ſpielen, ein Mund, welchen ſie küſſen, und tauſend 
andres ſolcher Art. Man würde nicht glauben wie 
weit dieſes kindiſche Getändel ſich verirren konnte, wenn 
wir nicht eine Probe davon in folgender Liedweiſe zu 
geben hätten, welche jedweden Gegenſtand, der ſich von 
ungefähr dem Blicke darbot, ſogleich zu ihrer unend— 
lichen Fortſetzung verbrauchen mochte; ſo hieß es denn 
wohl beliebig: | 
„Seitenhöhlchen küßt das Döschen, 
Döschen küßt das Seitenhöhlchen, 
Seitenhöhlchen küßt das Uhrchen, 
Uhrchen küßt das Seitenhöhlchen, 
Seitenhöhlchen küßt das Händchen, 
Händchen küßt das Seitenhöhlchen, 
Seitenhöhlchen küßt die Schweſter, 
Schweſter küßt das Seitenhöhlchen. 
Küſſe, küſſe, küſſe, küſſe, küſſe, küſſe!“ 


Einzelne mißgeartete Ausdrücke wurden in dieſen Wahn— 


ſpielereien zur allgemeinen Gunſt erhoben und überall 
angewandt. Da ſich in Wunden leicht Würmer erzeu— 
gen, ſo war auch ein Wundenwürmelein in dem Sei— 
tenhöhlchen bald gefunden, und die Blutwürmeleins— 
mäßigkeit davon als ein ungeheures Abſtraktum. Die 
Verſchränkung und Ausdehnung der Bilder gränzte nicht 
ſelten an das Auffallendſte, was in dieſer Art die mor⸗ 
genländiſche Dichtkunſt hat. Den meiſten Lärm und 
Spott hat aber das Wort Kreuzluftvögelein aufgeregt, 
welches Zinzendorf in einem Liede auf den Geburtstag 
ſeines Sohnes Chriſtian Renatus zuerſt in den Verſen 
gebraucht hatte: 


„Ein Kreuzluftvögelein, 


* 


Kränkelnd vor Liebespein 

Nach Jeſu Seitenſchrein,“ 
und das nebſt den ähnlich gebildeten Kreuzluftbienelein, 
Kreuzluftkerzelein, Kreuzluftwägelein, Kreuzluftmägde— 
lein, in unzähligen Wendungen immerfort wieder vor— 
kam. Zinzendorf bemühte ſich zwar, in dem bald all— 
gemein verrufenen Wort einen leidlichen Sinn nachzu— 
werfen; die Ausdünſtung des Leichnams am Kreuze, 
ſagt er, iſt die Kreuzesluft, ſie zieht die Seelen her— 
bei, welchen ſolcher Geruch angenehm iſt und ihre 
Speiſe verkündigt, wie ja auch die Vögel ihre Nah— 
rung wittern; allein der Ausdruck blieb verſchrieen, und 
man hat lange Zeit alles Abentheuerliche der Herrn— 
huter nur kurzweg ihre Kreuzluftvögelein genannt.“ 
Wenn nun gar die eigenthümlichen Liebes vorſtellungen 


— 88 249 > 


— 


und Eheheimlichkeiten in ſolchen Liedern durchſchim— 
merten, ſo war freilich das Aergerniß höher nicht zu 
treiben. Die Trunkenheit in folgenden Strophen konnte 
nur allzu thöricht dünken: N 


„Ach wir zwei Seelchen 
Du Seitenhöhlchen, 

Und ich, ſind nur Ein Herz, 
Das ſing ich ohne Scherz, 
In Ewigkeit; 

Mein Herzempfinden 

Läßt ſich entzünden, 

So oft er immer will, 

Und ich halt' ihm nur ſtill, 
In Ewigkeit. 


Ach welche Blicke 

Ich dir itzt ſchicke! 

Ich bin Ein Geiſt mit dir, 

Und du Ein Leib mit mir, 

Und Eine Seel. 

Du Seitenkringel, 

Du tolles Dingel, 

Ich freß und ſauf mich voll, 

Und bin vor Liebe toll, 

Und außer mir!“ 
Aber das grobe Eſſen und die verdächtige Imagination 
in einem andern Lied überſteigen alle Schicklichkeit: 


„Wenn ich ihn eſſen kann, 
So iſt's mir am gefündften, 


Und wenn mein lieber Mann, 
Sein Oel läßt in mich dünſten; 


Weil aber dieſe Gnad 
In einem Sakrament, 
Das man nicht immer hat, 


Dem Leib wird zugewendt, 


So muß ich mir nun ſchon, 
Beim Wachen und beim Schlafen, 
Imagination 


Für meine Seele Schaffen.‘ 8 


Und die Anſpielungen in dem folgenden verrathen in 
jedem Falle ſchon zu viel. 


„Höhlchen, du charmirſt mich ſo, 
Das macht mich von Herzen froh, 
Springerhaftig, luſtig, fröhlich, 
Und ſo über alles ſelig; 

Klopfet, klopfet in die Händ! 
Klopfet, klopfet in die Händ! 


Und was er im Kabinet, 

Oder in dem Ehebett, 

Will mit ſeinem Bräutel machen, 
Das ſind gar geheime Sachen, 
Die unter vier Aeugelein, 
Müſſen bleiben ganz allein.“ 


Welch ein Aufſehn dergleichen Lieder machen mußten, 
welches nachtheilige Licht ſie auf den Grafen und die 


— 8 251 > 


Gemeinde zurückwarfen, läßt ſich genugſam faſſen, wenn 
man bedenkt, wie verſtändig und keuſch im Ganzen die 
vroteſtantiſche Kirche ihre Ausdrucksweiſe gehalten hat. 
Auch in der Litteratur waren damals noch keine Ver— 
ſuche gemacht, das Gemeine erhaben vorzutragen. Das 
große Aergerniß und die ſchreienden Vorwürfe, welche 
ſich dieſem Liederweſen verknüpften, und ſelbſt von ſon— 
ſtigen Freunden durch entſchiedene Mißbilligung ver— 
ſtärkt wurden, hatten zwar zur Folge, daß die anſtö— 
ßigſten Lieder ſpäterhin wegblieben, und die Gemeinde 
überhaupt in dieſen Empfindungsweiſen ſich einer ern— 
ſteren Richtung befliß. Doch war in der Zeit, wo wir 
jetzt auf unſerem Gange weilen, die Sache noch erſt 
recht im Steigen; ja grade ſolche Lieder und Ausdrücke, 
in welchen die höchſte Uebertreibung herrſchte, wurden 
als die köſtlichſten geachtet. Wir aber wollen nicht un— 
gerecht ſein, und neben dem Widerwärtigen und Ver— 


werflichen, von dem wir Proben gegeben haben, auch 


das Liebliche und Zarte, das auf ſolchem Wege ſich 
entwickeln kann, bereitwillig anerkennen; der Fehler 
liegt hier zumeiſt nur darin, daß der Reiz des Kind— 
lichen und Spielhaften, welcher faſt nur dem perſönlich 
Eigenſten und Flüchtigſten des lebendigen Augenblickes 
gehört, nun in einer ſtehenden Form allgemeiner Em— 
pfindung feſtgehalten werden ſollte, ohne daß wahrer 
Dichtergeiſt und ächte Künſtlergaben, welche allein das 
Augenblickliche zum Dauernden erheben können, dabei 
mitwirkten. 


m 252 Bi 


o 


Nachdem Zinzendorf während feines diesmal nur 
ganz kurzen Aufenthalts in der Wetterau den Ankauf 
eines Stückes Land bei Büdingen, zum Behuf einer 
herrnhutiſchen Niederlaſſung, mit den Grafen von Aſen— 
burg-Büdingen richtig gemacht, und einige Brüder nach 
England, wo ſie zu weiterer Verſchickung gefordert 
worden, abgefertigt hatte, verließ er jene Gegend, und 
reiſte über Jena nach Berlin, welches für ſein Wirken 
jetzt als der günſtigſte Ort ſich darbot. Unterwegs 
ging ihm das Reiſegeld aus; in Halle, wo er um ein 
Darlehn anſprach, wollte man ihm nichts geben, und er 
mußte daher zu Fuß und ohne Geld fortwandern. In 
Radegaſt erbarmte ſich ſeiner ein guter Bauersmann, 
fuhr ihn bis Koswig, und lieh ihm das nöthige Geld 
zur Weiterreiſe mit der Poſt. Von Berlin, wo der 
Graf am 25. Dezember 1737 anlangte, ſandte er ſo— 
gleich das empfangene Geld mit einem herzlichen Dank— 
ſagungsſchreiben an den guten Bauer, ſeinen lieben und 
werthen Freund, wie er ihn nannte, und grüßte ihn 
freundlich von der Gräfin. Dieſe war mit ihrer Be— 
gleitung ſchon früher angekommen, auch der junge Graf 
Chriſtian Renatus traf von Jena mit ſeinem Pilger— 
anhang ein, und ſo füllte die zahlreiche Genoſſenſchaft 
ein geräumiges Haus, welches Zinzendorf in der Leip— 
ziger Straße (das Haus Numero 15) gemiethet hatte, 
und nun mit allen Seinigen bezog. Seine Mutter 
aber ſchien über ſein weiteres Beginnen nicht ohne Ver— 
legenheit, das unvermeidliche Aufſehn war ihr in ſol— 


2 253 3 


cher Nähe nicht angenehm; mit ſeinem perſönlichen Be— 
nehmen gegen ſie war ſie übrigens ſehr zufrieden, und 
hatte auch an ſeinen Kindern große Freude. Der Kö— 
nig indeß bezeigte dem Grafen ſchriftlich ſeine Wohl— 
geneigtheit, verſicherte ihn ſeines Schutzes und gab ihm 
die Erlaubniß, bei vorkommenden Anläſſen ſich unmit— 
telbar an Seine Majeſtät zu wenden, welches der Oberſt 
von Thümen ihm nachher auch noch mündlich zu be— 
ſtellen hatte. Seine Hausandachten nahmen alsbald 
ihren gewohnten Gang, täglich waren Stunden zum 
Beten, Singen und Leſen feſtgeſetzt; doch geſtattete er 
den Zutritt aus Vorſicht noch keinem Fremden. Auf— 
gefordert, das Evangelium öffentlich zu verkündigen, 
fragte er deßhalb bei dem Könige an, und als dieſer 
ihm allen Segen dazu wünſchte, ſo eröffnete er die Er— 
bauungsreden in ſeinem Hauſe, da die Prediger ihm 
ihre Kanzeln einzuräumen wenig geneigt ſchienen, nun 
auch für fremden Beſuch. Da zeigte ſich denn in der 
großen Hauptſtadt, die ſchon damals für alles Geiſtige 
ſehr empfänglich war, eine außerordentliche Regung. 
Sein Zimmer wurde bald zu klein, das hinzugenom— 
mene Vorzimmer half nicht lange aus, man mußte auf 
dem großen Boden unter dem Dache den nöthigen 
Raum ſuchen, wo viele hundert Menſchen den Vortrag 
ſtehend anhörten, denn zum Sitzen war auch hier noch 
nicht Platz genug. Außer den geringen Leuten drängten 
ſich auch die Vornehmen herbei, ſo daß die Straße 
weithin von Kutſchen erfüllt war; alle Zuhörer aber 


ee m rn DA 
TI 5) 254 5 


ftanden gemischt, wie der Zufall es wollte, Dienft- 
mägde und Damen vom Hofe, Staatsbeamte und Hand— 
werker, Kriegsleute jedes Grades. Endlich mußte Zin— 
zendorf noch die Männer und Frauen trennen, und bei— 
den beſonders predigen, für jene am Sonntag und 
Mittwoch, für dieſe am Montag und Donnerstag, und 
auch jetzt, bei verdoppeltem Raum, war gleiche Fülle. 
Der Eindruck dieſer Predigten, welche vom 1. Januar 
1738 bis zum 27. April regelmäßig fortgeſetzt wurden, 
war ungemein groß, das feurige Ergriffenſein des Red— 
ners theilte ſich den Zuhörern mit, häufige Thränen 
wurden vergoſſen, und das Begeiſterte des Vortrags 
führte über manches Auffallende des Inhalts leicht hin— 
weg; im Ganzen wurde darin die ächtevangeliſche Lehre 
und eine innigfromme Geſinnung von den Hörern ſtets 
anerkannt. Allein in weiterer Mittheilung, durch Er— 
zählen, Nachſchreiben und ſogar Drucken, erfuhren dieſe 
Reden, wie es zu geſchehen pflegt, vielfache Entſtel— 
lung; Weſentliches blieb weg, Abentheuerliches kam 
hinzu, und die ärgſten Mißdeutungen wurden gemacht 
und ausgebreitet. Da war es ſehr erwünſcht, daß ein 
geliebter Jünger des Grafen, ein mit deſſen Sohne 
von Jena gekommener Student, Johannes Langguth, 
die Reden unter dem Vortrage ſelbſt aus Liebeseifer 
nachgeſchrieben hatte, zwar nicht eben wörtlich, denn oft 
hinderten ihn die Thränen an Führung des Griffels, 
aber doch dem Sinne nach getreu genug, um ein wah— 
res Bild des Inhalts wiederzugeben. Dieſe Hand— 


e 255 8 


ſchrift konnte dazu dienen, die falſchen Mittheilungen 
zu berichtigen; ſie wurde daher, nachdem auch Jablonski 
ſie gutgeheißen, in Druck gegeben; die Königin von 
Preußen bewilligte ſogar, daß die an die Frauen ge— 
haltenen Reden ihr zugeeignet wurden. Sie entgingen 
zwar auch in dieſer Geſtalt dem Mißverſtande nicht, 
noch den bösartigen Angriffen und Verläumdungen, 
welche ſich je länger je mehr gegen Zinzendorf häuf— 
ten, allein es durfte ihm doch nicht mehr ſo leicht 
gradezu Fremdes angedichtet werden, und ſeine Erläu— 
terungen hatten einen feſten Buchſtaben, an welchem ſie 
ſich anhalten konnten. Der König ſelbſt war veran— 
laßt, über manche Vorſtellungsweiſen und Ausdrücke, 
die man ihm hinterbracht hatte, den Grafen zu befra— 
gen, zeigte ſich aber durch deſſen Antworten bald befrie— 
digt. Ueber das Liederweſen gab Zinzendorf dem Kö— 
nige in einer eignen Schrift umſtändlich Auskunft, und 
ſagte darin unter andern: „Es iſt zu wiſſen, daß in 
unſerer Gemeinde keine Lieder ganz geſungen werden: 
der Kantor nimmt die Materie der Reden, die eben 
gehalten worden, und ſetzet unterm Singen aus zwan— 
zig, dreißig Liedern ganze und halbe Verſe zuſammen, 
welche die Materie ordentlich und deutlich vortragen, 
und darinnen iſt Kantor, Organiſt, Lehrer und Zuhörer 
ſo geübt, daß keines innehalten, keines ein Buch auf— 
ſchlagen darf; welches ſich ungeſehen nicht demonſtriren 
läßt. Mein Sohn von zehn Jahren kann, wenn er in 
den Hausſingſtunden ſpielet, aus einer Melodie unver— 


* 


2 256 G 


merkt in die andere fallen, daß niemand weiß, ob die 
ganze Singſtunde expreß ſo komponirt iſt, denn es wird 
nicht innegehalten, und ein jedwedes Kind ſingt mit, 
ohne in ein Buch zu ſehen, denn ſie können die Lieder 
auswendig; wie das zugehet, weiß ich ſelbſt nicht, weil 
kein Kind zum Auswendiglernen angehalten wird. In 
den öffentlichen Betſtunden aber laſſe ich zuerſt ein ge— 
wöhnlich Lied vorſagen, nach der Rede aber, wenn kei— 
nes im Geſangbuch finde, das ich gerne geſungen hätte, 
und die Materie meiner Rede theils dem Auditorio 
nochmals einſchärfen, theils dem Heilande gebetsweis 
vortragen kann, ſo mache ich im Vorſagen ein neu Lied, 
von dem ich vorher nicht gewußt habe, und das ſo bald 
wieder vergeſſen iſt, als es ſeinen Zweck erreichet; das 
Auditorium wird deſſen nicht inne, und ich führe es 
nur erläuterungsweiſe an, wie wir unſere Sache zu, 
traktiren pflegen.“ Nicht günſtig war im Ganzen das 
Urtheil der Geiſtlichen über das neue religiöſe Treiben, 
auch die näheren Freunde, welche der Graf unter ihnen 
hatte, konnten ſich nicht immer in ſeinen Sinn finden. 
Unter dieſen Umſtänden und bei den Rückſichten welche 
überhaupt das berliniſche Verhältniß ihm aüferlegte, 
lehnte er das Begehren vieler Frommen, in Berlin eine 
Gemeinde von Brüdern mit herrnhutiſcher Verfaſſung 
zu ſtiften, anfangs beharrlich ab, und gewährte nur zu— 
letzt, als auch ein Prediger ihn deßhalb angegangen 
war, die Errichtung einer Brüderſchaft erweckter Män— 
ner, ohne für die Frauen eine gleiche Anordnung treffen 


isn 257 So 


zu wollen. Er ſelbſt bekannte übrigens, in feinem Le= 
ben ſei es ihm ſo wohl nicht gegangen, wie diesmal in 


Berlin. 


Inzwiſchen war ſeine Weigerung, den ihm vorge— 
legten Revers zu unterſchreiben, in Dresden übel em— 
pfunden worden, und er empfing von der ſächſiſchen 
Behörde die Anzeige, daß er auf immer das Land zu 
meiden habe. Da nun ſeine Hoffnung, durch Verwen— 


dung von Berlin her die freie Rückkehr nach Herrnhut 
zu erlangen, völlig fehlgeſchlagen war, ſo reifte um ſo 


ſchneller in ihm der Gedanke, welcher ſchon einige Zeit 
in ihm keimte, nun auch ſelbſt eine Reiſe nach Weſt— 
indien zu machen, um das dortige Bekehrungswerk zu 
unterſuchen und zu befördern. Man hatte ihm vorge— 


worfen, er ſchicke die Brüder und Schweſtern unbarm— 
herzig in den gewiſſen Tod, den ihnen das mörderiſche 
Klima bringe; jetzt wollte er zeigen, daß er ſich ſelbſt 
nicht zu ſchonen meine. So bewegte ſich ſeine Einbil— 
dungskraft in ſtets größeren Kreiſen, und ergriff immer 


auf's neue Weitentlegenes, ohne daß die Fülle des 
Nahbegonnenen ihn daran hindern konnte. Nachdem er 
dem Könige noch zuletzt in Potsdam aufgewartet und 
ſich bei ihm beurlaubt hatte, reiſte er am 29. April 
1738 zuerſt nach Kotbus, wohin von Herrnhut die wich— 


tigſten ſeiner Mitarbeiter gekommen waren, um ſich mit 


ihm über manche die Führung der Gemeinde betreffende 

Dinge näher zu berathen. Hierauf ging er über Jena, 

wo ſein Sohn inzwiſchen ſeine frühere Lebensart wie— 
Biograph iſche Denkmale. V. 17 


sm 258 Do 


der angefangen hatte, und über Erfurt und Gotha, wo 
er die Frommen befuchte, mit Langguth nach der Wet— 
terau, zuerſt auf die Ronneburg, wo noch einige Brü- 
der von der früheren Zeit her wohnten, und dann auf 
das Schloß Marienborn, welches er von dem Grafen 
von Aſenburg-Meerholz miethete, und ſogleich für ſeine 
Pilgergemeinde einrichtete. Es kamen aus der Umge— 
gend viele Brüder und Freunde herbei, um an ſeinen 
Geſchäften wie an ſeinen Erbauungen Theil zu neh— 


men. Das Zuſammenſtrömen ſo vielen Eifers wirkte 


fruchtbar; der Anbau eines neuen Orts bei Büdingen, 
der den Namen Herrnhaag erhielt, wurde beſchloſſen, 
und das erforderliche Geld größtentheils auf Zinzen— 
dorf's Bürgſchaft angeliehen; man ſprach zwar damals 
ſchon von einer ſogenannten Heilandskaſſe, in welche 
die Brüder ihr Geld niederlegen müßten, um die Aus⸗ 
gaben des Gemeinweſens zu decken, allein dies Vor— 
haben war ohne Grund, die Mitglieder der Brüderge— 
meinde lebten, je nach ihrem Verhältniſſe, von ihrer 
Arbeit, oder von ihrem Vermögen; wo beides fehlte, 


hatte die Gemeinde Fürſorge, und in den meiſten Fällen 


Zinzendorf allein; Hülfsgelder wurden von bemittelten 
Freunden wohl öfters gegeben, aber nie gefordert; der 
Graf war auch in dieſer Beziehung, wie in jeder an— 
dern, das Haupt und die Kraft des Ganzen. Die 
Kolonie Herrnhaag beſtimmte er, nach einem glück— 
lichen, fruchtbaren Gedanken, der ihm aufgegangen war, 
hauptſächlich für diejenigen Brüder, welche dem Lehr— 


— 


— » 


— 259 DS 


begriffe der reformirten Kirche zugethan ſein wollten, 
ſo daß dieſer Ort nach der reformirten Seite die Brü— 
derſache eben ſo darſtellte, wie Herrnhut dies bisher 
nach der Lutheriſchen Seite ſo glücklich geleiſtet hatte, 
und demnach die Brüderfirche, außer ihrem eignen Be— 
ſtande und dem in allen Sekten ihr Anziehbaren, in 
den beiden proteſtantiſchen Hauptkirchen zugleich feſten 
Fuß behauptete. Dieſer Gedanke ging aus dem We— 
fen feiner tiefſten religibſen Ueberzeugung hervor, welche 
in der Liebeswärme für den Heiland über alle Verſchie— 
denheit der Lehrmeinungen hinausſtrebte, ohne dieſe 
darum aufheben zu wollen; aber auch zum Behuf welt— 
kluger Förderung konnte der kundigſte Geſchäfts- und 
Staatsmann nicht leicht eine wirkſamere Anordnung 
treffen. — Nach mehreren Ausflügen in der Umgegend 
machte Zinzendorf auch einen nochmaligen Beſuch in 
Jena, und als er zurückkam, fand er ſeine Gemahlin 
von einem Sohn, ihrem eilften Kinde, entbunden, bei 
welchem er dann ſelbſt die Taufe verrichtete. Auch 
taufte er in dieſer Zeit ein Mädchen von dreizehn 
Jahren, die unter den Inſpirirten dieſer Gnade nicht 
theilhaftig geworden war; er glaubte aber in Blick und 
Weſen ſowohl des Mädchens ſelbſt, als ihrer anweſen— 
den Eltern, noch etwas Arges zu ſpüren, und war in 
ſeinem Gewiſſen zweifelhaft, ob er die Handlung ver— 
richten dürfe; da fuhr er plötzlich, ihm ſelbſt und Allen 
unerwartet, gegen den böſen Geiſt drohend heraus, 
dem er im Namen Jeſu zu weichen gebot, daß alle 
17 * 


— 2 260 Be 


Anwesenden ſchauderten, und die Kraft feiner Worte 
ſich durch die That bewährte, indem die befreiten Her— 
zen nun ungeſtört ſich der heiligen Handlung hingaben. 
Nicht fo glücklich und erfolgreich, wie in ſeinem unmit⸗ 
telbaren Lebenswirken, trat Zinzendorf auf, wenn ſein 
Geiſt in das Gebiet der wiſſenſchaftlichen Theologie 
ſich verſtieg, und neue Wahrheiten daſelbſt finden oder 
feſtſtellen wollte. So war er in dieſer Zeit dahin ge— 
kommen, dem heiligen Geiſte, der ihm in der Dreiei— 
nigkeit neben dem Vater und dem Sohne bisher eine 
minder klare Bedeutung gehabt, eine ſolche in der Be— 
zeichnung beizulegen, daß derſelbe die Mutter der Gläu— 
bigen ſei, eine Behauptung, welche er auf ſeine Her— 
zenserfahrung ſolcher Muttertreue ſtützte, in aller Weiſe 
zu erläutern und zu rechtfertigen ſuchte, und darüber 
mit gelehrten Männern in dogmatiſche Streitigkeiten 
gerieth, denen er auf keine Weiſe gewachſen war, und 
die ihm und der Gemeinde, welche den Einfall des 
Grafen nicht aufgeben wollte, den größten Schaden zu— 
gefügt haben. 5 

Doch zunächſt erfüllte ihn jetzt ſein Reiſevorhaben, 
und er traf zu demſelben ernſtliche Anſtalten. Von der 
Gräfin nahm er in Marienborn zärtlichen Abſchied; ſie 
dichtete ein Lied an ihn, er antwortete eben ſo; beide 
waren in ihren Herzen nicht verſichert, daß ſie einander 
wiederſehen würden, aber in den Willen des Heilands 
wollten ſie ſich getroſt ergeben. Nach vielen anderwei— 
tigen Verabredungen reiſte er gegen Ende des Oktobers 


DB 261 K 


nach Holland ab. In Amſterdam fand ſich unerwartete 
Verzögerung für das Schiff, welches ihn nach Sankt-Tho— 
mas bringen ſollte, und die Zwiſchenzeit wurde durch 
einen höchſt verdrießlichen Streit erfüllt. Der Pre— 
diger Manger im Haag und noch andre holländiſche 
Prediger hatten einige heftige Aeußerungen Zinzen— 
dorf's gegen die Anſicht der Reformirten von der Gna— 
denwahl auf ihren Synoden zur Sprache gebracht; bier— 
auf und auf mancherlei Lieder und Aufſätze der Brü— 
der geſtützt, erließen die Prediger von Amſterdam einen 


Hirtenbrief, durch welchen die Herrnhuter als abwei— 


chend von der wahren Chriſtuslehre dargeſtellt wurden; 
die Stadtbehörde von Amſterdam, dem Grafen günſtig, 
wollte dieſen Hirtenbrief unterdrücken, vermochte es aber 
doch nicht, und mußte ihm ſeinen Lauf laſſen. Eine 
Erklärung der herrnhutiſchen Brüder in Holland, unter 
dem Namen Friedrichs von Watteville herausgegeben, 
und von dem Grafen voreilig gebilligt, machte das 
Uebel durch eine Ungeſchicklichkeit nur ärger, denn an— 
ſtatt ganz einfach die augsburgiſche Konfeſſion als ihr 

laubensbekenntniß zu nennen, weigerten ſie überhaupt 
ein ſolches aufzuſtellen, und ſchienen dadurch einzuge— 
ſtehen, jene Konfeſſion ſei nicht die ihrige. Dieſe Hän— 
del verfolgten den Grafen mit ihren Schriften und Ge— 
genſchriften bis an Bord, und er hatte nur den Troſt, 
daß vier Prediger den Hirtenbrief zu unterſchreiben 
verweigert hatten, unter ihnen Franco Debruin, ein 
gottſeliger Mann, aus deſſen Anſichten über die Gna— 


> 262 3 


denwahl Zinzendorf die ſeinigen zum Theil erſt ge— 
ſchöpft hatte, und der auch die Lehre von der Vorher— 
beſtimmung zu des Grafen Freude kürzlich ſo erklärte: 
„Jeſus muß ein gewiſſes Erbtheil haben, das ihm der 
Vater beſtimmt hat, und das ſind ſeine Gläubige und 
Kinder, die ihm nicht aus der Hand geriſſen werden 
können; im Uebrigen wird niemand weggewieſen, wer 
außerdem durch ſeine Gnade kommt.“ Die Streitig— 
keiten hinderten ihn auch nicht, ſich eines ſtillen Glückes 
im kindlichen Umgange mit dem Heilande zu erfreuen; 
er ſchildert dies mit eignen Worten, wie folgt: „Wir 
haben darüber müſſen weinen, wie nahe einem der 
Heiland ſein kann; wie ſimpel und einfältig es ſich 
mit ihm umgehen läßt; wie man ſo einen ganzen Tag 
mit ihm zubringen kann; wie man keinen Gedanken, 
keine Nothdurft, kein Anliegen hat, das man nicht viel 
ſimpler und natureller bei ihm niederlegen kann, als 
bei ſeinem allervertrauteſten Herzen, da man doch manch— 
mal ein Menagement brauchen muß; aber beim Heiland 
iſt das gar nicht nöthig: ſondern wer es dahin ge— 
bracht hat, daß er mit Wahrheit ſagen kann: „Wenn 
nur mein Herz Fenſter hätte, daß meine Geſchwiſter 
hineinſehen könnten!“ der hat den Troſt, daß der Hei— 
land auch hineinſieht, und die allerverborgenſten Win— 
kel klar und lichte vor ſich hat, und daß nichts drinnen 
vorgeht, das er nicht weiß.“ Er ſchrieb auch einen 
Aufſatz über das Verhältniß von Herrnhut zu Bert— 
holdsdorf, und indem er der Gemeinde empfahl, ihre 


D 263 K 


Verbindung mit der Lutheriſchen Kirche treu zu be— 
wahren, die ſich äußernden Gaben aber, wie den Trieb 
unter die Heiden zu gehn, die Gabe geſund zu machen, 
nur in der Stille zu üben, ſprach er gegen den einſtigen 
Prediger, der ſein Amt je zum Untergang oder zur 
Plage der Gemeinde mißbrauchen würde, den Fluch 
und Bann aus, wobei er jedoch den Ausdruck nicht im 
Sinne einer kirchlichen Macht, ſondern nur in dem eines 
letzten Willens gemeint haben wollte. Auch dichtete er 
in Amſterdam einige Lieder, die er zum Theil nach ſei— 
ner Weiſe aus dem Herzen ſang. Endlich ging er am 
11. Dezember zu Schiff, allein widrige Winde hielten 
ihn noch eine Reihe von Tagen im Texel auf, wo er 
die Looſungen auf das nächſte Jahr, und, ſchon in See, 
ein großes Schreiben an die Aelteſten und Helfer der 
Gemeinde verfertigte, welches er ſein eventuelles Teſta— 
ment nannte, und worin er die wichtigſten Vorſchriften 
und Rathſchläge wiederholt einſchärfte. Merkwürdig 
ſind darin unter andern folgende Worte, welche den 
praktiſchen Sinn des Grafen abermals bezeugen kön— 
nen: „Die Aemter in der Gemeinde können auch, nach— 
dem ſie ſind, von Leuten bekleidet werden, die noch 
keine Kinder Gottes ſind, und alſo beweiſen dieſelben 
und ihre gute Ausrichtung nichts für die Kindſchaft 
Gottes. Es iſt ein großer Verſtoß, wenn man redliche 
Leute, die ihr Amt treulich thun, und die zuweilen wie 
Bezaleel dazu begabet ſind, darum nicht achten, ſich 
nicht mit ihnen einlaſſen, noch mit ihnen an Einem 


DB 264 2 


Joche ziehen will, weil ſie noch nicht Kinder Gottes 
ſind.“ Erſt am 26: Dezember konnte das N ſeine 
eigentliche Fahrt beginnen. 

Die Seereiſe geſchah, unter begünſtigendem Sturm— 
winde, gefahrvoll, aber raſch und glücklich. Zinzendorf 
litt gewöhnlich ſehr an der Seekrankheit; diesmal, im 
Drange der vielen Arbeiten, die er ſich vorgeſetzt, ſah 
er ein längeres Unwohlſein mit Bekümmerniß; er re— 
dete daher mit dem Heilande, wie es nicht wohl an— 
ginge, daß er krank wäre, und wirklich dauerte die 
Krankheit nur Einen Tag. In 33 Tagen gelangte das 
Schiff nach Weſtindien, und lief am 28. Januar 1739 
in Sankt-Euſtachius ein. Des Grafen Ziel aber war 
die däniſche Inſel Sankt- Thomas, wohin er, wiewohl 
man ihn dringend von dem Beſuch dieſes in ſolcher 
ſchlimmſten Jahrszeit ungeſundeſten Aufenthalts ab— 
mahnte, in einem beſonders gemietheten Fahrzeuge ſo— 
gleich überſchiffte. Hier traf er alles in traurigem Zu— 
ſtande; die Brüder, welche den Negerſklaven das Evan— 
gelium verkündigt, lagen ſeit drei Monaten im Ge— 
fängniſſe, weil ſie einen Eid verſagten, der bei einer 
gerichtlichen Unterſuchung von ihnen verlangt wurde, 
— denn die Lutheraner und Reformirten unter den 
Herrnhutern ließen ſich wohl zum Schwören herbei, die 
eigentlichen mähriſchen Brüder aber glaubten ihr Wort 
durch keinen Eid, ſondern nur durch einen Handſchlag 
bekräftigen zu dürfen; — die Neger zeigten zwar guten 
Willen, aber ſeufzten unter hartem Druck, den die 


6 


Pflanzer nur um fo ftärfer ausübten, jemehr fie Nei- 
gung zum Glaubensheil bei ihnen wahrnahmen. Der 
däniſche Gouverneur gab zwar auf das Fürwort eines 
Mannes wie Zinzendorf, der auch beſonders am Hofe 
zu Kopenhagen ſo gute Verbindung hatte, die Gefan— 
genen ſogleich los, und ließ auch ſonſt dem Grafen bei 
ſeinem Beginnen gern Schutz angedeihen, allein dieſer 
war gegen die allgemeine Stimmung der Weißen nicht 
wirkſam genug. Die Verſammlungen, welche Zinzen— 
dorf zu halten anfing, und vom Abend — denn wäh— 
rend des ganzen Tages durfte die Arbeit der Neger 
nicht ruhen — bis tief in die Nacht hinein fortzuſetzen 
pflegte, wobei er in kreoliſcher Mundart zu ſprechen be— 
müht war, fanden den größten Zulauf; die Unglück— 
lichen empfingen voll Begier und Eifer und mit ſicht— 
barem Erfolge den Troſt und das Heil, die ihnen dar— 
geboten wurden. Allein grade dieſes mißfiel den Pflan— 
zern. Sie hatten die Unverſchämtheit, bei dem Gou— 
verneur den Grafen zu verklagen, daß er die Neger 
lehre, beſſere Chriſten zu werden, als ihre Herren ſeien, 


ja man verhehlte nicht die unwillige Beſorgniß, die 


Negerinnen würden nach ihrer Bekehrung den fünd- 
lichen Lüſten der Weißen weniger dienen wollen. Ein 
reformirter Prediger klagte ſeinerſeits über die Brüder, 
ſie maßten ſich unbefugt des Taufens und andrer geiſt— 
lichen Handlungen an. Doch bevor dieſe Beſchwerden 
unterſucht und beurtheilt ſein konnten, eilte die Leiden— 
ſchaft ungeduldig zur Selbſthülfe; die aufgebrachten 


DB 266 28 


Pflanzer ſtürmten unvermuthet auf die verſammelten 
Neger ein, trieben ſie mit Hauen, Stechen und Schießen 
auseinander, und wiederholten dieſe grauſame Luſt nach 
Belieben, denn wenige Wütheriche waren genug, viele 
hundert Neger zu mißhandeln, da dieſe bei geſetzlicher 
Strafe gegen keinen Weißen jemals ſich wehren durften. 

Da der Gouverneur dieſen Abſcheulichkeiten nicht 
ſteuern konnte oder wollte, ſo ſah Zinzendorf kein andres 
Mittel, als in Kopenhagen Beſchwerde zu führen, und 
zu dieſem Zwecke ſelber nach Europa zurückzureiſen. 
Er nahm die Klageſchriften, welche ſchon die getauften 
Neger ſelbſt in kreoliſcher Sprache an den König von 
Dänemark gerichtet, in Empfang, ordnete die zurück— 
bleibende Miſſion, für welche er auch ein Haus und 
Grundſtück ankaufte, nach den Umſtänden möglichſt an, 
erließ ein Abſchiedsſchreiben an die Neger, worin er 
ſie zum Beharren bei dem Heiland ermahnte, und be— 
gab ſich am 17. Februar unter vielen Thränen auf die 
Rückreiſe. Auf den däniſchen Inſeln Sankt-Jan und 
Santa-Cruz beſuchte er die Gräber der dort im Miſ— 
ſionsgeſchäft verſtorbenen Brüder und Schweſtern, und 
eilte dann nach Sankt-Euſtachius, wo er ſich auf einem 
holländiſchen Schiffe am 28. Februar nach Amſterdam 
einſchiffte. Ein junger Neger, den er losgekauft, und 
ein Däne, der ihm wegen frommen Berufes lieb war, 
begleiteten ihn. Ein dritter Gefährte fand ſich im letz— 
ten Augenblicke noch dazu. Ein portugieſiſcher Jude 
Nunnez Dacoſta, der bei vielen guten Eigenſchaften 


267 S 


des Geiſtes und Gemüths in ſeinen äußeren Umſtän— 
den ſo bedrängt war, daß er die Heimkehr aus Weſt— 
indien nach Holland nicht beſtreiten konnte, bat den 


Grafen mit Thränen, ihn und ſeine Frau nach Europa 
mitzunehmen. Zinzendorf hegte von jeher beſondre 
Vorliebe für die Juden, ging gern mit ihnen um, em— 


pfahl ſie dem Gebet und freundlichen Wohlwollen der 


Brüder, und erinnerte ſtets, daß auch Jeſus ein Jude 


geweſen, ja in einem Liede, welches er dieſes näm— 
liche Jahr am Tage des Verſöhnungsfeſtes der Juden 
aus dem Herzen ſang, redet er zu dem Heiland aus— 
drücklich: 


„Wann, großer Jude, wann kommt deine Stunde? 
Wann ſieht das Volk hinein in deine Wunde! — — 
Wenn dieſe auserwählte Stunde käme, 

Und ihre Schuppen von den Augen nähme, — — 

So hätten wir die erſtgebornen Brüder 

In unſers lieben Vaters Hauſe wieder.“ 

Dem Grafen gefiel Dacoſta durch ſeine geiſtige 
Bildung, und zog ihn noch beſonders durch den Eifer 
an, mit dem er auf ſeinem jüdiſchen Glauben hielt. 
Zinzendorf bewilligte ihm nicht nur jene Bitte, ſondern 
überließ ſogar ſein eignes, neben der allgemeinen Ka— 
jute befindliches Kabinet, mit allen Bequemlichkeiten, 
dem Ehepaar, indem er ſich ſelbſt in einem Verſchlage 
behalf, welchen der Kapitain ihm dann als Nothbehelf 
machen ließ. Sie hatten viele Geſpräche mit einander, 
und erörterten oft bis tief in die Nacht ihre abweichen— 


ed 268 .. 


den Religionsmeinungen, ohne Widrigkeit, ohne falſchen 
Eifer, und Dacoſta weinte oft gerührt über des Gra— 
fen liebevolle Frömmigkeit. Mit der übrigen Schiffs— 
geſellſchaft benahm ſich Zinzendorf mäßig, hielt jeden 
Sonntag eine Predigt, miſchte ſich aber ſonſt in die 
tägliche Weiſe der Leute nicht, und nur als zwei der— 
ſelben einſt die Degen gegen einander zogen, that er 
ihnen Einhalt, indem er den Erzürnten mit eigner Ge— 
fahr die Waffen wegriß. Inzwiſchen arbeitete er auf 
dem Schiffe mit ungeheurem Fleiß, er ſchrieb unab— 
läßig, Briefe, Lieder, Reden, auch verſuchte er ſich 
abermals in Ueberſetzung des neuen Teſtaments. Die 
Bewegung des Schiffes war ihm hiebei ſehr hinder— 
lich, verwirrte die Schriftzüge, deren mancher, durch 
unwillkührlichen Stoß, gegen die Abſicht ganze Worte 
und Zeilen wieder ausſtrich, und wurde auch ſeinem 
Kopfe bei dieſer Arbeit ſehr anſtrengend. Er aß we— 
nig, hatte ein ſchlechtes Lager, entbehrte meiſtens der 
Ruhe, wurde hinfällig, und bekam Schwären und Wun— 
den am Leibe. Dacoſta pflegte ſeiner treulich in die— 
ſem Zuſtande, der doch ſeinen Geiſt und ſeine innere 
Zufriedenheit nicht ſchwächen konnte. Nach ſieben— 
wöchentlicher Fahrt, an der engliſchen Küſte vorbei— 
ſchiffend, verließ Zinzendorf ſeine Gefährten, und ſe— 
gelte auf einem Boote in den Hafen von Dover ein, 
um zuvörderſt ſeine Freunde in Oxford und London zu 
beſuchen, wo er ſich indeß nicht lange aufhielt, ſondern 
alsbald ſeine Ueberfahrt nach Amſterdam beeilte. 


8 269 S2. 


| Seine ſchnelle Rückkunft nach Europa machte eini— 
ges Aufſehen, man hatte ihn auf lange Zeit entfernt 
geglaubt, ſogar ſchon todt geſagt, nun ſtand er unver— 
muthet ſeinen Freunden wie ſeinen Feinden vor Augen; 
jetzt wollte man gar unglaublich finden, daß er über— 
haupt ſo weit geweſen. In Holland war durch die 
proteſtantiſche Geiſtlichkeit die Aufregung gegen die 
Brüder ſehr geſtiegen, dieſe aber trugen allen Unglimpf 
mit großer Geduld. Zinzendorf befeſtigte in Amſter— 
dam und in Heerendyk gegen dieſe Widrigkeiten den 
frommen Sinn der Seinen, trat aber auch öffentlich 
für fie auf, indem er unter dem 24. Mai eine Erklä— 
rung erließ, durch welche er die holländiſchen Streit— 
ſchriften, ohne ſich beſonders auf ſie einzulaſſen, abfer— 
tigte. Inzwiſchen fand er, daß ſeine Anweſenheit in 
Deutſchland dringend nöthig werde, und kam den 1. Juni 
zu Marienborn an, wo die Gräfin und alle ſeine Kin— 
der ihn erwarteten; auch ſein Sohn Chriſtian Renatus 
war mit ſeinen Haus- und Studiengefährten von Jena 
dort eingetroffen. Der Graf war mit dem viertägigen 
Fieber behaftet, abgezehrt und wund, allein er achtete 
alles nicht, hielt ſogleich einen außerordentlichen Ge— 
meindetag, und gab erbaulichen Bericht von ſeiner 
Reiſe; auch wurden zwei Brüder, durch Auflegung der 
Hände, zu Predigern des Evangeliums ordinirt, wobei 
er gegen Ueberſchätzung dieſer Weihe warnte, als welche 
nur eine gute Ordnung ſei, aber an ſich weder einen 
Vorzug verleihe noch bedeute; nach dieſen und andern 


sn 270 . 


Geſchäften, welche die wenigen Tage feines Aufent- 
halts in Marienborn ſchnell ausfüllten, begab er ſich 
mit mehreren Brüdern auf die Reiſe nach Ebersdorf, 
wohin eine Synode auf den 9. Juni ausgeſchrieben 
war. Die Veranlaſſung dazu war folgende. Durch 
ſeine Reiſen und ſein Predigen hatte Zinzendorf überall 
in nahen und fernen Kreiſen ſolche Sinnesart und Nei— 
gungen erweckt, wie ſie in Herrnhut in freieſter Ent— 
wickelung vollſtändig hervorgetreten waren. Die Er— 
weckten, durch den inneren Gehalt noch nicht begnügt, 
wünſchten auch der entſprechenden Form theilhaft zu 
ſein, und an vielen Orten wurden Einrichtungen ver— 
ſucht, welche ganz die herrnhutiſche Verfaſſung nach— 
ahmten. Aber ohne den Grund und Boden von Herrn— 
hut, unter ganz andern ſtaatsbürgerlichen Umſtänden, 
inmitten Lutheriſcher oder reformirter Kirchengemein— 
ſchaft, welche dadurch Abbruch litt, mußten jene Ein— 
richtungen äußerſt mißlich dünken, und konnten Wirr— 
niſſe herbeiführen, deren Folgen nicht zu berechnen 
waren. Zinzendorf befürchtete, an Lutheriſchen und re— 
formirten Orten entſtehende Aftergemeinden, wie er ſie 
nannte, möchten um des unweſentlichen Aeußern willen 
die ganze Richtung ſeiner Sache in Gefahr bringen; 
auch entging ſeinem Blicke nicht, wie ohne Vergleich 
vortheilhafter es ſeinen Brüderanſtalten ſei, mit der 
geſammten proteſtantiſchen Kirche in Frieden und ihrer 
allgemeinen Verbindung offen zu ſtehen, als, in förm— 
lichem Gegenſatz, äußere Eroberungen über ſie zu machen, 


9 271 88 


die nach Verhältniß doch immer nur geringe fein konn— 
ten. Er wünſchte daher durch die Synode zu bewir— 
ken, daß dergleichen Gemeinden gemißbilligt, und die 
Verbindung erweckter Seelen mit der Brüdergemeinde 
auf eine unverfängliche Weiſe geordnet würde, ſo daß 
ſie der Sinnesart nach überall ohne Aufhebung bishe— 
riger Kirchenbande beſtehen könnte, der äußeren Ver— 
faſſung nach aber nur an den Orten, die eigends dazu 
gegründet worden. Seine Anſicht fand indeß nicht ge— 
nugſamen Eingang, und der Eifer der Brüder wollte 
ſich einem ſo ſichtbaren Aufſchwung ihrer Sache nicht 
entgegenwenden. Inzwiſchen mußte eine Fußreiſe nach 
Schwaben, wo er überall predigte und ſonſt in frommer 
Weiſe thätig war, dem Grafen neue Befriedigung, aber 
auch neue Anſtrengung geben. Nach Marienborn hier— 
auf zurückgekehrt, verfiel er, der ſich von der weſtin— 
diſchen Reiſe noch nicht erholt hatte, in gänzliche Ent— 


kräftung. Er ſelbſt glaubte ſeinen Tod nah, und freute 


ſich darauf, ja er gab den Seinigen eilf Urſachen an, 
aus denen er ſeine Abrufung jetzt als beſonders ange— 
meſſen erachten wollte. Das Verwechſeln der ihm ver— 
ordneten Arznei mit einer andern, welches tödtlich wer— 
den zu müſſen ſchien, wurde jedoch heilſam, und ein 
ungeheurer Schweiß brachte ihm Geneſung. Hatte er 
ſchon inmitten der Krankheit nicht ganz geraſtet, fo 
zeigten jetzt Briefe, Lieder, Anordnungen aller Art, ihn 
bald wieder in voller Thätigkeit. Ein Chorhaus der 
ledigen Brüder wurde in Herrnhaag erbaut, ebenda— 


m 272 Ba 


ſelbſt ein theologiſches Seminarium gegründet; nach 
der Wallachei, nach Nordamerika, nach Ceylon und nach 
Algier wurden Glaubensboten ausgeſandt, nach letzte— 
rem Orte der Bruder Richter, in deſſen Hauſe, als 
derſelbe noch Kaufmann in Stralſund war, einſt der 
Graf als Kandidat gelebt hatte. Auch Druckſchriften 
kamen an den Tag, jedoch theilweiſe zu großem Ver— 
druß. So hatte man während Zinzendorf's Krankheit 
ſeine auf der See gemachten Ueberſetzungsproben des 
neuen Teſtaments unbedacht zum Druck befördert, ohne 
nur die mangelhafte Handſchrift dieſer übereilten, ge— 
ſtörten, und in jeder Hinſicht unreifen Arbeit gehörig 
durchzuſehn; äußerliche Entſtellungen aller Art kamen 
nun zu den Mißgriffen und Eigenheiten des für ſolche 
Unternehmung nicht befähigten Verfaſſers, und das 
Buch wurde zum ſchreienden Aergerniß, und erfuhr 
allgemein Spott und Tadel. Er ſah das Uebel ein, 


und ließ die Abdrücke möglichſt wieder einfordern und 


vernichten; er beharrte aber doch in dem Unternehmen 
ſelbſt, und gab einige Jahre ſpäter nochmals ſeinen 
Ueberſetzungsverſuch heraus, welcher zwar beſſer als 
vorher, aber noch immer nicht nach Wunſch ausfiel. 
Um ſeine Geſundheit zu ſtärken machte Zinzendorf 
noch im Dezember dieſes Jahres 1739 mit Friedrich 
von Watteville eine Reiſe nach der Schweiz, wo ihnen 
bei Bern begegnete ſich zu verirren, und Zinzendorf in 
der Noth den Heiland um Hülfe anrief; ein Knabe, 
der aus dem Buſch hervorkam, zeigte ihnen darauf den 


ad 273 S2 


Weg. Sie beſuchten in Sankt-Johann Watteville's 
alten Vater, und ſahen in Bern, Baſel, Schaffhauſen 
Rund andern Orten viele Freunde, ſolche, die es ſchon 
waren, oder es nun wurden. Ein Brief, welchen er 


auf dieſer Reiſe in Baſel geſchrieben, enthält Betrach— 
tungen über ſeinen inneren Lebensgang, die wir, wegen 
einiger merkwürdigen Bekenntniſſe, hier im Auszuge 


mittheilen. „Ich habe, — ſagt er, — lediglich um 
Jeſu willen gehandelt, und keinesweges aus einigen 
Nebenabſichten. Denn daß ich durch die Sache Jeſu 
hätte berühmt werden wollen, war meinem Tempera- 


ment ungemäß. Ich liebte Pferde, Grandeurs, und 


meine Natur portirte mich, einen Kenophon, Brutus, 
Seneca abzugeben. Die Modelle von meinen Aeltern 


Rund Groß- und Urältern waren dem gemäß; meine 


Erziehung auch; und ſoviel wußte ich, daß bei der 


Lehre Jeſu kein Staat auf dergleichen Etabliſſements 


konnte gemacht werden. Aber das habe ich Jeſu wiſ— 


ſentlich aufgeopfert. Meine Führung ging darum ziem— 


lich langſam und konfus. Weil ich keine Führer hatte, 
und wir die Schrift heut zu Tage nicht mehr verſte— 


hen, wie ſie iſt, ſondern wie man ſie mühſam verſtellet 


und paraphraſirt hat, ſo führten mich die Exempel der 
Heiligen, und keine Principia. — Unerachtet ich nun 
zu verſchiedenen Zeiten ſolche innige Begnadigungen 
gefühlt, und der Seligkeit ſo gewiß war als meines 
Lebens, ſo geſtund ichs doch dem, der mirs negirte, 
leichtlich zu, daß ich vielleicht noch nicht bekehrt ſei. 


Biographiſche Denkmale. V. 18 


— 8274 


Und da kam ich in ein (nach meiner itzigen Idee) un— 
nöthiges, mir aber doch ſehr wohl bekommenes Ringen 
und Flehen, und habe die Verſiegelung des ewigen 
Friedens und der Kindſchaft ſeit der Zeit mehrmalen 
ſo empfindlich erfahren, daß ich endlich inne gehalten, 
ſie weiter zu begehren, damit ſich keine geiſtliche Eitel— 
keit drein mengen möge. — Was meinen Generalplan 
betrifft, ſo habe ich gar keinen, ſondern gehe dem Hei— 
land von Jahr zu Jahr nach, und thue was ich ſoll, 
doch gerne. Auf ein oder zwei Jahr habe ich zuwei— 
len einen Spezialplan, weil ich durch die Sache felbft 
darauf gebracht werde; und was dergleichen Spezial— 
plans betrifft, ſo habe ich zu einem Plan, die mähriſche 
(ohne mich entſtandene) Kirche dem Heiland zu kon— 
ſerviren, daß ſie bei meinen Lebzeiten, und wo möglich 
noch lange darnach, kein Wolf zu faſſen kriege; einen 
Plan, ſo viel heidniſche Völker aufzuſuchen, als ich 
kann, und zu ſehen, ob ſie des für alle Welt vergoſſe— 
nen Blutes können theilhaftig werden; einen Plan, des 
Heilands Teſtament (Joh. 17.), ſoviel mir möglich iſt, 
durch Gnade ausführen zu helfen, damit die zerſtreueten 
Kinder Gottes allenthalben in Ordnung zuſammenkom— 
men, wo ſie leiblich beiſammen ſind, nicht ins mähriſche 
(da arbeite ich vielmehr dagegen), ſondern ins allge⸗ 
meine Band der Gemeinſchaft, dahin endlich secta mo- 
ravica auch ſoll, doch erſt nach ihrer völligen Abnutzung 
in dem Theil ihres itzigen Looſes; einen Plan, ſo viel 
Seelen als ich kann zur Sünderſchaft und Gnade zu 


sm 275 Bo 


bringen, darum habe ich die Kanzel lieb, und reifete 


einer Kanzel zu Gefallen funfzig Meilen; und einen 
Plan, alle auch nicht beiſammen wohnende Kinder Gottes 
zu vereinigen, dem ich ſeit 1717 bis 1739 unverrückt 


gefolgt, laſſe ihn aber itzt fahren, weil ich nicht allein 
kein Durchkommen damit ſehe, ſondern in dem Gegen— 


theil anfange ein Geheimniß der göttlichen Vorſehung 


zu merken.“ Im Anfange des Februars 1740 kam er 


nach Marienborn zurück. 


Zu dieſer Zeit erſchollen öftere Nachrichten von 


bedenklichen Krankheitszuſtänden, in welchen der König 


von Preußen ſich befände. Friedrich Wilhelm der Erſte 
war bei ſtrenger und gewaltſamer Gemüthsart ein recht— 


ſchaffner und frommer Herr, und Zinzendorf vor An— 


dern hatte vielfachen Anlaß gehabt, ihn mit Ueberzeu— 


gung dafür anzuerkennen. Gleichwohl konnte er einen 
letzten Zweifel über den Seelenzuſtand des Königs nicht 


verbannen, und hiedurch im Innerſten bewegt, und ſeine 
tiefe Theilnahme für den von ihm wahrhaft geliebten 
Fürſten in einer ſo wichtigen Angelegenheit nicht be— 
meiſternd, ergriff er das Mittel, an ihn zu ſchreiben. 
Sein Brief, der gleich dem nachfolgenden bisher noch 
nicht gedruckt war, lautete, wie folgt: „Allerdurchlauch— 
tigſter u. ſ. w. Ew. Königliche Majeſtät geruhen mir 
dieſes unterthänigſte Schreiben gnädigſt aufzunehmen, 
und meine Bitte zu erhören. Ich bin Ihnen ſo viel 
ſchuldig, denn Sie haben mir viel Treue und Gnade 
erwieſen, und wenn nichts wäre, als daß ſie mich in 
18 * 


BD 276 I 


Berlin hätten fo viele Reden halten laſſen, die mein | 


lieber Heiland, ſeitdem fie im Druck find, in fo vielen 
Ländern und Religionen gebraucht hat, daß ſich Seelen 


auf das Wort verlaſſen und zu ſeinen Wunden geflo— 
hen ſind (denn ſie ſein ſchon das ſechstemal aufgelegt, 


welches mich ſehr erfreuet), ſo könnte ich Ihnen dieſe 
Liebe nicht genug vergelten. Da nun Ew. Majeftät 


oft kränklich iſt, kann ich nicht darüber hin kommen, zu 


Bezeugung meiner innigen Dankbarkeit Ew. Majeſtät 


einmal herzlich und aufrichtig zu ſagen, wie ich glaubte, 


daß Ihnen mein gekreuzigter Heiland auch noch alles 
werden könnte. Ich habe aus Ew. Majeſtät ſchönen 
und erbaulichen Diskurſen deutlich geſehen, daß es 
Ihnen damals nicht bekannt war, und Sie den Weg 
viel zu ſchwer machten, wie es denn ſo ſchwer gemacht 


wird, ordinair. Weil aber Ew. Königliche Majeftät 


meinem theuren Erlöſer ja fo ſauer zu ſtehen gekom⸗ 


men find, als ich, fo denke ich, hat er mich armen Sün— 
der gern angenommen, er nimmt Sie auch gerne an, 


wenn Ihnen alles daran gelegen iſt. Ich agire weder 


aus Fürwitz, noch wegen Anderer, denn niemand als 
der Zeiten Ew. Majeſtät und ich wiſſen etwas von 
dieſem Briefe; ich wollte auch unterthänigſt gebeten 
haben, ihn ſogleich zu kaſſiren oder zu remittiren, und 
nur auf den nächſten Fall folgende allergnädigſte Re— 


ſolution drauf zu ſchreiben, mit der Hand, wenn ich 


mich in Ihre Seelenſache mengen darf, Ja, und wenn 


Sie es nicht für gut befinden, Nein. Ich werde mich 


Hm 277 S 


nach einer oder der andern allergnädigſten Erklärung 
poſitio richten, und gleichwie ich hoffe, Ew. Majeſtät 
werden mein redlich Herz fühlen, und dieſe Propoſition, 
die in der Welt ridikül iſt, bei Ihnen ſelbſt behalten, 
alſo werde auch ich niemand als den Herrn und Ew. 
Majeſtät wiſſen laſſen, was ich hierunter tentirt, und 
künftig entweder thun oder unterlaſſen werde. Ver— 
harre mit tiefſtem, aber einem Reſpekt, der die red— 
lichſte und wahrhafteſte Treuherzigkeit nicht hindert, 
Ew. Königlichen Majeſtät allerunterthänigſt treuerge— 
benſter Zinzendorf. Marienborn bei Frankfurt am 
Main, am 24. Februar 1740.“ Der König ſchrieb mit 
Bleiſtift eigenhändig auf dies Blatt: „Obligirt vor 
| den guten Rath, fo er Mir gebe, Ich ſtünde mit Gott 
und Meinem Heiland ſehr gut, und unterwürfe ſolchem 
Mich und Meine zeitliche und ewige Wohlfahrt, er 
würde Mich zu Gnaden nehmen. Meine Sünden be— 
reute, und würde ſuchen ſolche noch mehr, ſoviel ſchwa— 
chen Menſchen nur möglich iſt, abzulegen, und ſuchen 
Gott dankbar zu werden. Ein Kopfhänger wäre ich 
nicht, und würde es auch nicht werden, und glaubte 
nicht, daß es darin beſtehe; Meinen Feinden vergäbe 

ich von Herzen alles ſo ſie mir gethan.“ Hiernach 

wurde die Antwort ausgefertigt, unter welche der Kö— 

nig noch eigenhändig ſchrieb: „Ich erwarte Antwort. 

Friedrich Wilhelm.“ Welcherlei Denkungsart man auch 

über den Gegenſtand ſelbſt haben möge, immer wird 

man bekennen müſſen, daß dieſer Briefwechſel ſowohl 


sm 278 Bo 


dem Könige wie dem Grafen zur hohen Ehre gereicht. 
Auch wurde er fortgeſetzt, und zwar ſchrieb Zinzendorf 
wieder an den König ſo beſcheiden als kühn: „Aller— 
durchlauchtigſter u. ſ. w. Ew. Königliche Majeſtät ha— 
ben in Dero Allergnädigſtem vom 5. d. zwar geruhet 
mir zu erlauben und anzuordnen, daß Ihnen darauf 
antworten ſolle, es wäre auch gar vieles zu antworten, 
weil mir aber ſo poſitiv nicht bewußt iſt, wie Ew. Ma— 
jeſtät Dero gnädiges Schreiben beantwortet haben wol— 
len, ob Dero vergnügten Zuſtand durch einige erbau— 
liche Zeilen nur konfirmiren, oder die mir bei Leſung 
deſſelben aufgeſtiegenen dubia einfältig entdecken ſolle, 
ſo gedenke ich mit dem letzten mich nicht zu übereilen, 
ſondern Dero höchſten Verhaltungsbefehl in specie dar— 


über abzuwarten, inzwiſchen will ich nicht verſäumen, 


täglich mit meinem einziggeliebten Heiland Ew. Ma— 
jeſtät halben zu reden, und ihn kindlich zu bitten, daß 
wenn Ew. Majeſtät in dem Zuſtande ſind, darinnen er 
Sie gerne hat, er Ihnen eine in Zeit und Ewigkeit 
fortwährende Gnade dazu ſchenken wolle, ſo zu blei— 
ben, und wenn er eben das dabei zu erinnern hätte, 
was mir über Leſung Dero Gnadenzeilen in den Weg 
gekommen, er Ew. Majeſtät Herz hinnehmen, und alles 
das noch drinnen machen wolle, was er nöthig achtet. 
Dann es wird wenig dazu erfordert, aber das wenige 
iſt deſto nöthiger, und weil es viel Millionen Chriſten 
nicht finden, ſo iſt das Werk der Seligkeit, ungeachtet 
es aller Menſchen iſt, ein Geheimniß und bleibt eins. 


j 


. 279 48 


Ich bin mit einem treuergebenen, demüthigen und tief 
venerirenden Herzen Ew. Königlichen Majeſtät aller— 
unterthänigſter Diener Zinzendorf. Marienborn, am 
15. März 1740.“ Der König ſchrieb abermals in der 
Kürze die Weiſung: „Soll ſeine dubia ſchreiben, ſoll 
ſich mir explieiren.“ Und hienach erging am 22. März 
wieder die Antwort an Zinzendorf. 

Jetzt glaubte ſich dieſer endlich genugſam berufen 
und ermächtigt, ſeine Meinung gradezu herauszuſagen, 
doch immer mit Rückſicht, daß er nur ſeine Anſicht 
überhaupt vorzutragen habe, und eine perſönliche Mah— 
nung nicht begehrt worden wäre. Er entwarf daher 
einen Aufſatz von der Bekehrung auf dem Krankenbette, 
an eine Königliche Perſon auf ihr ernſtes und anhal— 
tendes Begehren geſchrieben. Spangenberg theilt die— 
ſen Aufſatz ganz mit, und enthält derſelbe allerdings ſo 
erbauliche als angemeſſene Betrachtungen; von ihrer 
Freimüthigkeit gebe folgende Stelle Zeugniß: „Wenn 


ein Partikulier ſo was Böſes thut, ſo geht ihn das 


alles an, was vorherſtehet. Iſt's ein Regente, ſo iſt's 
nicht anders; nur daß dergleichen Perſonen ihre Sün— 
den nie einfach ſind, ſondern von ſoviel hundert und 
tauſend Menſchen nachgemacht werden, daß ein großer 
Herr niemals fündiget, ohne fündigen zu machen, und 
alſo ein Lehrer der Sünde wird; mithin, wenn er 
Gnade gekriegt hat, ſich nicht nur länger ſchämet, ſon— 
dern auch mehr Zeit braucht, alles zu redreſſiren, was 
ihm nur offenbar wird. Dieſe Konſideration macht 


— 8 280 Fe 


Leute, die die Macht der Gnade nicht kennen, ſo ſchüch— 
tern und verzagt, daß ich einen Potentaten kenne, der 
mehr als einmal ſagte, es könne kein großer Herr ſelig 
werden; und man muß antworten: Bei den Menſchen 
iſt es unmöglich, aber bei Gott ſind alle Dinge mög— 
lich!“ Und weiterhin: „Sobald der arme Sünder, er 
ſei ein Bettler oder Fürſt, (denn das iſt in der Ma⸗ 
terie eins) Gnade kriegt und annimmt, ſo freuet er 
ſich wie ein Kind, und iſt im Himmel, und hat das 
Lamm lieb, als wenn er es da vor ſich ſähe. In 
etlichen Tagen ſchämet er ſich, wird ſeriös, und denkt: 
Was? ich hätte Gnade, und habe doch (da kommt ein 
Sündenregiſter, daß man erſchrecken möchte) das, das, 
das gethan! Antwort: dir ſind deine Sünden verge— 
ben: aber iſt was, das noch zu ändern iſt? vieles nicht, 
aber doch abzubitten. Ach ja, das geſchehe dann; und 
was iſt noch zu ändern? das und das. Da fragt ſich's 
nicht mehr, ob das das Liebſte iſt, ein Ding, daran den 
Fürſten vordem niemand erinnern durfte; die Gnade 
hat das Herz; der Sinn iſt weg, der vorher war; die 
Berge des Eigenwillens ſind weggeheißen, die Steine 
der Hinderniß abgewälzet, es iſt alles hin: weg mit 
dem, weg mit jenem: ich habe den Heiland, ich habe 
das ewige Leben; da arbeitet ſich's fröhlich auf's Gut— 
machen los. Der Heiland hilft, alle Engel ſind parat, 
eine ganze Monarchie reinigen zu helfen von den Sün— 
den, die der erſt begnadigte Sünder verurſacht hat, und 
die keine menſchliche Macht heben kann. Der Regent 


ch 281 BI 


wird ein Prediger des Evangelii durch fein allgegen— 
wärtiges Exempel, in ſeinem Bezirk und umher weit 
und breit; da iſt Freude im Himmel, da wird's ſchön 
auf Erden: da erſtaunt der Sünder über die Macht 
der Gnade.“ Wir finden nicht angegeben, ob König 
Friedrich Wilhelm, der am 31. Mai 1740 ſeiner Krank— 
heit erlag, dieſen Aufſatz noch empfangen, oder gar 
eine Antwort darauf erlaſſen hat; es iſt aber bekannt, 
daß der König in derſelben frommen und ſtarken Ge— 
ſinnung, die er Zeitlebens gehegt, ſo heldenmüthig als 
getroſt dahingeſchieden. 

Außer den perſönlichen Obſorgen und Arbeiten, 
welche Zinzendorf in ſeinem nächſten Kreiſe Tag für 
Tag ausübte, und unter keinerlei Umſtänden ganz aus— 
ſetzte, nahmen ihn ſtets wieder außerordentliche und 
allgemeine Beſchäftigungen in Anſpruch. Eine im Juni 
1740 in Gotha, nach vorgängig eingeholter Erlaubniß 
des Herzogs, gehaltene Synode, auf welcher die Miſ— 
ſionsreiſe des Biſchofs David Nitſchmann und der bis— 
herigen Aelteſtin Anna Nitſchmannin nach Nordamerika 
genehmigt wurde, gab dem Grafen Anlaß, eine zweck— 
mäßige Beſchränkung ſeiner vielfachen Wirkſamkeit nach— 
zuſuchen. Beſonders wünſchte er, der ihm ausdrücklich 
auferlegten Leitung der Seelenpflege des weiblichen Ge— 
ſchlechts überhoben zu ſein, da die Abreiſe ſeiner ge— 
liebten und treuen Gehülfin Anna ihn für dieſes Amt 
ganz unzureichend laſſe; doch wollte niemand in ſeine 
Stelle treten, und er mußte fernerhin, nachdem ihm die 


DB 282 . 


Schweſter Lawatſchin als ſtellvertretende Aelteſtin bei— 
gegeben worden, dieſe Leitung beibehalten. Glücklicher 
war ſein Bemühen in Betreff des Biſchofsamtes, deſſen 
Verwaltung er ſich, wenigſtens auf einige Zeit, entzie— 
hen wollte, um durch ſeinen ſo vielfach angeſchuldigten 
und verläſterten Namen nicht am Ende der ganzen 
Brüderkirche, wenn dieſe keinen andern Vorſteher hätte, 
zu ſchaden; ungeachtet auch hier ſein Wunſch den ſtärk— 
ſten Widerſpruch fand, ſo bewirkte er doch, daß wirk— 
lich ein andrer Biſchof, der Bruder Polykarpus Müller, 
vormals Profeſſor in Leipzig, gewählt wurde. Die 
vielen Streit- und Schmähſchriften, welche gegen die 
Brüderſache und inſonderheit gegen den Grafen her— 
auskamen, und nach jedem neuen, noch ſo beſcheidenen 
Auftreten deſſelben ſich nur ſtets mehrten, wie denn 
ſein Lehrbüchlein für die Brüdergemeinden eben große 
Anfechtung erfuhr, kamen hier ebenfalls zur Sprache. 
Die Falſchheit und Bosheit der meiſten Beſchuldigun— 
gen war offenbar, allein man konnte ſich nicht verheh— 
len, daß auch mancher Anlaß zu Mißverſtändniſſen ge— 
geben war, und es wurde erklärt, daß die Brüderkirche, 
abgeſehen von den zufälligen und perſönlichen, wenn 
auch ſonſt wohlgemeinten und unſchuldigen Aeußerun— 
gen ihrer Mitglieder, nur diejenigen Schriften als ihre 
Lehrſätze enthaltend zu vertreten habe, welche von ihr 
gemeinſchaftlich und mittelſt Synoden anerkannt wor— 
den. Da man ſich eingeſtand, daß unter den Gegnern 
auch ſolche Männer ſeien, denen man ächte Frömmig— 


sm 283 2 


keit, wahren Eifer und Einſicht nicht abſprechen könne, 
ſo drang Zinzendorf darauf, daß man zuerſt dem eig— 
nen Unrechte nachſpüre und daſſelbe gut mache; dies 
führte dahin, daß nach Halle an Francke den Sohn und 
deſſen Freunde zwei Brüder, unter welchen der neue 
Biſchof, mit einem Schreiben abgefertigt wurden, um 
einiges, worin man gegen ſie zu weit gegangen zu ſein 
glaubte, ihnen abzubitten; doch fand die Sendung, wie 
löblich ſie gemeint war, dort nicht den gewünſchten Ein— 
gang. Zinzendorf pflegte überhaupt alle Schriften, die 
ihn perſönlich angriffen, der Gemeinde ſelbſt vorzule— 
ſen, und zwar in Gegenwart der Fremden, die etwa 
zum Beſuch da waren; „Mir geſchieht dadurch, — 
ſagte er, — ein zwiefacher Dienſt, erſtlich verliert ein 
Theil der Gemeinde von Zeit zu Zeit etwas von der 
inwendigen Hochachtung gegen mich, die ich für über— 
flüſſig, ſchädlich, und in ihren letzten Folgen für anti— 
chriſtlich halte, ſie brauchen mich darum doch in der 
Gabe, die mir der Heiland gegönnet hat; zweitens 
mache ich die erſte Anwendung meiner von der Ge— 
meinde erkannten Gabe damit, ihr, wenn ich dieſen oder 
jenen Fehler wirklich begangen habe, ſolches zu bedeu— 
ten, die Urſachen davon anzuzeigen, und ſie aus mei— 
nem Exempel zu warnen.“ Die Brüder litten es aber 
zuletzt nicht mehr, und wollten ſein Bild in ſo ſchmäh— 
licher Entſtellung nicht ferner anblicken. Sein Vorſatz, 
auf keine Streitſchrift mehr zu antworten, mußte doch 
zuweilen höheren Rückſichten weichen, und mehrere 


— 8 284 Ei 


ſeiner Vertheidigungsaufſätze kamen um dieſe Zeit in 
Druck. ‚ g 

In Marienborn und Herrnhaag entwickelten fi 
mittlerweile mancherlei mißliche Umſtände. Außer den 
Schwierigkeiten, mit welchen Herrnhut in ſeinen An— 
fängen gerungen hatte, zeigten ſich hier andre, welchen 
ſchwerer abzuhelfen war. Man befand ſich nicht auf 
eignem Grund und Boden, die obrigkeitlichen und geiſt— 
lichen Verhältniſſe lagen getrennt, und ſtatt einander 
gegenſeitig zu tragen, widerſtritten ſie einander oft; 
mit den anders geſinnten Nachbarn gab es bösartige 
Reibungen; die Bürger von Büdingen waren bei dem 
Reichskammergericht zu Wetzlar gegen ihre Landesherr— 
ſchaft klagbar geworden, wobei die Verhältniſſe der 
Brüdergemeinde ſtark in Betracht kamen. Zinzendorf 
wollte hievon Anlaß nehmen, das Reichskammergericht 
zu einer gründlichen Unterſuchung der ganzen Brüder— 
ſache aufzufordern, da er denn nicht zweifelte, zu ihren 
Gunſten künftig das Anſehen dieſes höchſten Gerichts— 
hofes mitwirken zu ſehen; allein der Kammerrichter 
Graf von Virmond bemerkte ihm freundſchaftlich, daß 
der Reichsfiskal ſich in dieſe Religionsſache nicht ein— 
laſſen könne. Ein Hauptübelſtand war aber die Be— 
ſchaffenheit der Gemeinde ſelbſt. Schon dieſe Gegend, 
hier am Rhein, in dem belebten, verkehrvollen Lande, 
wo ſo viele Geſtaltungen des Lebens ſich drängen, ein— 
heimiſche und fremde Richtungen ſich durchkreuzen, brachte 
ganz andre Bedingungen mit ſich, als die ſtille Lauſitz 


— — 285 23 


mit ihren einfacheren, abgeſchloßneren Verhältniſſen. 
Die Menge von Theilnehmern und Beſuchern, die hier 
zuſammenſtrömten, hatten mannigfachere Beziehungen 
der Welt, des Standes, der Bildung, die in der Ge— 
meinde fortwirkten. Vergebens wünſchte Zinzendorf 
den Zulauf abzuwehren, der aus allen Ländern nach 
Herrnhaag Statt fand, theils zum vorübergehenden, 
theils zum bleibenden Aufenthalt; vergebens ſuchte er 
dieſe vielartigen Elemente gründlich zu ſichten und zu 
ordnen. Die Einführung von feſten Gemeindeſtatuten, 
welche in Herrnhut ſo ſegenreich geworden, war bisher 
nicht gelungen, zu viele widerſtreitende Triebfedern und 
unvereinbare Vorſtellungen hinderten ein ſolches Unter— 
nehmen. Auch war es ungünſtig, daß Zinzendorf in 
Marienborn wohnte, und kein Haus in Herrnhaag hatte, 
denn einiger Unterſchied zwiſchen ſeiner nächſten Umge— 
bung und der großen Gemeinde mußte merklich wer— 
den, und die letztere ſeiner unmittelbaren perſönlichen 
Einwirkung mehr entzogen bleiben. Doch inmitten die— 
ſer Zuſtände, in welchen ſein eignes Werk ihm zu ent— 
wachſen ſchien, blieb er getroſten Muthes und Eifers. 
Um den Beſuch der Fremden, der bisher meiſt läſtig 
und verwirrend geweſen, nutzbar aufzufaſſen, traf er 
die Anordnung, daß täglich eine Stunde ihnen beſon— 
ders gewidmet wurde. Für die Gemeinde kamen wich— 
tige Einrichtungen zu Stande; für die verſchiedenen 
Chöre der Brüder und Schweſtern wurden aus ihrer 
Mitte Vorſteher gewählt, und zu ihren Aemtern einge— 


fegnet; der Graf felbft nahm ſich in dieſer Zeit vor— 
züglich der ledigen Brüder mit Eifer an. Nicht weni— 
ger als die einheimiſchen Angelegenheiten beſchäftigten 
ihn die Miſſionen zu den Heiden; nach Surinam und 
nach Grönland, welches ihm beſonders wichtig war, 
fertigte er neue Boten ab. In einem eignen Aufſatz 
ertheilte er bündige Vorſchriften, wie das Bekehrungs— 
werk überhaupt anzufaſſen und zu führen ſei; er ver— 
bot gegen andere chriſtliche Miſſionen ſtreitend oder 
auch nur wetteifernd aufzutreten, die Heiden von der 
Zertheilung der Chriſtenheit in verſchiedene Partheien 
unnöthig zu unterrichten, irgendwie der Obrigkeit ent— 
gegenzuhandeln, ſich mit Geſchäften irdiſchen Gewinnes 
abzugeben; und bei dieſen Regeln leitete ihn wiederum 
eben ſo ſehr die Klugheit als die Frömmigkeit. Bei 
allen dieſen Arbeiten und Geſchäften war Zinzendorf 
eines innigbewegten Gemüths; er ſang bei jedem An— 
laſſe Lieder aus dem Herzen, und deren einmal bis zu 
ſechs in demſelben Zuge; ſeine Stimmung wurde durch 
eine abermalige Krankheit, von der er nicht zu geneſen 
meinte, nur erhöht. Die Gräfin, die eine Reiſe nach 
Herrnhut gemacht hatte, fand ihn aber bei ihrer Rück— 
kunft zu Anfange Novembers wieder in der Beſſerung. 
Beinahe den ganzen Dezember bis zum Schluſſe des 
Jahres erfüllten die Berathungen einer Synode, die zu 
Marienborn gehalten wurde, und größtentheils Glau— 
benslehren betraf, über die man ſich näher zu verſtän— 
digen und richtiger auszudrücken ſuchte. 


sm 287 DI 


Bei aller fortwährenden Zunahme der Brüder— 
ſache, mußten doch die gehäuften Angriffe von außen, 
welche zum Theil von unläugbar frommen und gelehr— 
ten Theologen herrührten, und die Hemmungen im 
Innern, die ſich vielfältig kund gaben, den Grafen zu 
mancherlei Nachdenken führen. Er war klug genug 
einzuſehen, daß manches hier an einer mangelhaften, 
unzureichenden Leitung liegen müſſe, und blieb auch 

über beſtimmte Mißgriffe und Verſehen, die er ſich 
ſchuld zu geben hatte, nicht in Zweifel; dazu kamen 
ſeine öfteren Krankheiten, welche ihn in ſeiner Ueber— 
zeugung nur beſtärkten, daß er beſſer thäte, ſich von 
der Gemeinde zurückzuziehen. Er machte demnach am 
3. Februar 1741 den Brüdern feinen Entſchluß bekannt, 
das Amt eines Gemeindevorſtehers, welches er bisher 
geführt, niederzulegen, indem er vorſtellte, wie feine 
Perſon zwar früher der Gemeinde genützt, nunmehr 
jedoch ihr nur Schaden bringe; er ſei ein vom Herrn 
gelähmtes Mitglied derſelben, und wolle fröhlich im 
Staube ſitzen, bis ihm Gott ſelbſt heraushelfe; die 
Brüder möchten indeß der Arbeiter, die ihnen Gott ge— 
geben habe, inſonderheit der Gnade und der Gabe, der 
Treue und des Glücks feiner Gemahlin ſich bedienen; 
wolle der Heiland ihm neue Gnade ſchenken, ſo werde 
er auch wieder zum Dienſte ganz da ſein. Jedoch 
willfahrte man ſeinem Wunſche keineswegs, und er 
mußte ſein Amt einſtweilen noch beibehalten. Wäh— 
rend er nun nach gewohnter Weiſe Reden, Muſterun— 


A 288 42 


gen der Herzen, Predigten und andre erbauliche Uebun— 
gen hielt, fühlte ſich ſein bewegter Sinn aus dieſem 
gewohnten Geleiſe abermals in die Ferne hingezogen, 
zu neuen, perſönlichen Ausrichtungen, die mehr als feſt— 
ſtehendes Geſchäftswalten ſein Beruf ſchienen. Dem 
Gedanken zu einer Reiſe nach Genf vereinigte ſich 
mancherlei unverwerfliche Zweckmäßigkeit. Sein Sohn 
Chriſtian Renatus ſollte dort weiterſtudiren; für die 
Brüderſache, zu deren Gunſten frühere Ausſprüche Cal— 
vin's gelten konnten, war vielleicht die Billigung der 
dortigen Theologen zu gewinnen, und ein neuer kirch— 
licher und gelehrter Anhalt dieſer Art in feinen Vor— 
theilen unberechenbar; auch mußte in der Schweiz über— 
haupt von der Erſcheinung einer Pilgergemeinde, wie 
er ſie mit ſich zu führen dachte, manches Ergiebige zu 
hoffen ſein. Nach einigen für die Abweſenheit getrof— 
fenen Einrichtungen zu Marienborn und Herrnhaag, 
und nachdem ſich die zum Mitreiſen ausgewählten Brü— 


der und Schweſtern bei einem Liebesmahl auf Zefu 


Blut und Tod innig verbunden hatten, begaben ſich die 
Pilger, gegen funfzig Perſonen von allen Chören, all— 
mählig auf den Weg; zuerſt reiſte die Gräfin mit ihrer 
Tochter und zweien Begleiterinnen, einige Tage ſpäter 
der Graf Chriſtian Renatus mit einer Anzahl Gefähr— 
ten, nach gleichem Zwiſchenraum andre Abtheilungen, 
endlich Zinzendorf ſelbſt von mehreren Brüdern und 
den zwei Aelteſtinnen Lawatſchin und Linnerin beglei— 
tet, und eine ſechste Abtheilung machte den völligen 


9 289 G2 
* 


Beſchluß. Erſt nach fünf Wochen, zu Anfang des 
März 1741, war die Geſellſchaft wieder vollſtändig in 
Genf beiſammen, wo mehrere Häuſer zu ihrem Unter— 
kommen erforderlich waren. Hier wurde nun ſowohl 

in abgetheilten kleineren Geſellſchaften, als auch im 
Geſammtverein, jede gewohnte Andacht geübt, alle 
Stunden des Tages, und ſelbſt die der Nacht, hatten 
in wechſelndem Gebet ihre beſtimmte Anweiſung; die 
Beſuche, welche zu den eigentlichen Hausverſammlun— 
gen, um Anſtoß zu meiden, nur ſparſam zugelaſſen, 
aber übrigens zahlreich empfangen und erwiedert wur— 
den, gaben dieſer Frömmigkeit eine günſtige Wirkung 
auch in größerem Kreiſe. Zinzendorf ließ ſich perſön— 
lich angelegen ſein, insbeſondre die Genfer Profeſſoren 
und Paſtoren mit ſeiner Sache bekannt zu machen; er 
fand kluge und wackre Männer, die ſeine Eröffnungen 
ſehr beſcheiden aufnahmen. Ein ausführliches fran— 
zöſiſches Sendſchreiben über den Urſprung, die Ge— 
ſchichte, Zucht und Lehre der Brüder, von ihm an die 
venerable compagnie des pasteurs et professeurs de 
leglise de Geneve gerichtet, wurde von dieſer durch 
eigne Abgeordnete beantwortet, welche dem Grafen als 
dem Biſchofe der Brüderkirche für jene Mittheilung 
eifrigen Dank und viele gute Wünſche zu bezeugen 
hatten; allein zu weiteren Anknüpfungen wollte es nicht 
kommen, und zuletzt, als er ein franzöſiſches Textbüch— 
lein den beiden Profeſſoren Vernet und Lullin unver— 
muthet zueignete, konnte deren Höflichkeit nicht alle 

Biographiſche Denkmale. V. 19 


239 290 82. — 
. 


Befremdung und Widerſpruch verbergen. Dem Gra— 
fen widerfuhr ſonſt von Behörden und Bürgern dieſer 
gebildeten Stadt alle Ehre; er blieb in ſeinem Trei— 
ben ungeſtört, und hielt zuletzt auch einige Vorträge 
für die dortigen Erweckten in franzöſiſcher Sprache; 
den Genfer Theologen übergab er dagegen lateiniſche 
Theſes, die ſeinen Sinn von dem Heilande genau dar— 
legen ſollten. Seine Thätigkeit war unermüdet, und 
in ſeinem Eifer nahm er nichts anderes wahr, als was 
ihn grade innerlich erfüllte; durch Erweckung ſolchen 
Eifers mittelſt geiſtlicher Geſpräche führten ſeine Be— 
gleiter einſt auf Gebirgswegen ihn ſicher an Abgrün— 
den vorüber, die ihm, der unſicher zu Fuß und zum 
Schwindel geneigt war, wenn er ſie bemerkt hätte, 
höchſt gefährlich geweſen wären. Da indeß ſeine eigent— 
lichen Zwecke nicht erreicht wurden, ſo reiſte er nach 
zehnwöchentlichem Aufenthalte mit ſeiner Pilgergemeinde 
von Genf wieder ab. Ganz unvermuthet ſammelte ſich 
hiebei ein Haufen Uebelgeſinnter, deren man bisher 
ganz unkundig geweſen, und verfolgten die Abreiſenden 
mit Lärm und Hohn, und außerhalb der Stadt ſogar 
mit Steinwürfen, die jedoch glücklicherweiſe unſchädlich 
blieben. 5 

Im Anfange des Juni war die ganze Pilgerge— 
ſellſchaft nach und nach wieder in Marienborn einge— 
troffen, und Zinzendorf hielt mit ihr zum Dank für die 
glückliche Heimkehr ein Liebesmahl. In ſeiner Seele 
war aber wieder ein neues Reiſevorhaben inzwiſchen 


N 


en 291 2 


gereift, und er gedachte diesmal nach den engliſchen 
Niederlaſſungen in Nordamerika überzuſchiffen. Er 
machte dazu alsbald nähere Vorkehrungen. Auf einer 
Synode zu Marienborn legte er fein Biſchofsamt nun 
wirklich nieder, und veranlaßte, daß außer dem ſchon 
im vorigen Jahr erwählten Biſchof Müller noch ein 
andrer beſtellt wurde; die Wahl fiel auf Johann Nitſch— 
mann. Da jedoch für die ausgebreiteten und ſich täg— 
lich mehrenden Geſchäfte noch immer nicht hinlängliche 
Fürſorge getroffen ſchien, ſo wurden noch einige Brü— 
der für den allgemeinen Dienſt ernannt, welche mit den 
Biſchöfen vereint unter dem Namen Generalkonferenz 
alle wichtigen Angelegenheiten zu beſorgen hatten. An 
demſelben Tage nahm Zinzendorf einen Herrn von 
Hermsdorf, der ſchon achtzehn Jahre ſich zu ihm ge— 
halten, in die Gemeinde auf; ſelbſt bei den beſten 
Freunden, wenn er ſie nicht reif erkannte, wollte er 
hierin dem Heilande nicht vorgreifen, und kein Abwar— 
ten der rechten Stunde däuchte ihn zu lange. So ge 


duldig er in dieſer Beziehung ſein konnte, ſo heiß 


brannte ſein Eifer dagegen in andrer. Seine Arbeiten 
in der Gemeinde gingen bis zu ſeiner Abreiſe in ge— 
ſteigertem Schwunge, ſeine Unterredungen der Reihe 
nach mit jedem Einzelnen durch ganze Chöre, ſeine Lie— 
der aus dem Herzen, die Looſungen, die Lehrvorträge, 
alles zeigte von der Unermüdlichkeit feines glühenden 
Dranges; die letzteren jedoch, welche gedruckt wurden, 
gaben neuerdings großes Aergerniß, indem ſie über die 
19 * 


sm 292 I 


Gottheit Chriſti ſich ohne Maß verſtiegen, und fo hal— 
tungslos und abſchweifend ausfielen, daß nichts beſſeres 
zu thun blieb, als dieſe Reden, wie auch von Seiten 
der Brüder und des Grafen nachher geſchah, ganz 
preiszugeben. Nach ſolchen gehäuften Abſchiedsarbeiten 
trat er endlich mit den Seinigen am 7. Auguſt die 
Reiſe an. 

In Utrecht, Amſterdam und Heerendyk verweilte er 
einige Wochen, richtete an ein paar proteſtantiſche Geiſt— 
liche in Deutſchland, welche gegen die Brüder heftig 
ſchrieben, noch zuletzt Abmahnungsbriefe, die aber wie— 
der als Bannbriefe verſchrieen wurden, und ſchiffte 
dann nach London über. Hier wurde in einer Synode 
mit den Brüdern und Schweſtern inſonderheit die fer— 
nere Bedienung der Gemeinde überlegt, und man ge— 
rieth durch den Austauſch ſo vieler Innigkeit und hei— 
ßen Beeiferung, welche dieſer Gegenſtand hervorrief, 
in die erhöhteſte Stimmung, die gleich bei dem näch— 
ſten Anlaſſe ihre merkwürdige Wirkung zeigte. Das 
Aelteſtenamt über alle Brüdergemeinden war vor ſechs 
Jahren dem Bruder Dober anvertraut worden, der 
daſſelbe auf vieles Bitten ſo lange fortgeführt hatte, 
jetzt aber alles Ernſtes niederlegte. Ihn zu erſetzen 
war ſchwierig, man ſann vergebens umher, den rechten 
Mann zu finden, und blieb lange Zeit in rathloſer Be— 
kümmerniß. Da hieß es, wie Spangenberg erzählt, 
der ſelbſt mit dabei war: „Wird nicht der Herr unſer 
Heiland ſo gnädig fein, und dieſes Amt ſelbſt überneh- 


59 293 SL. 


men? Er iſt's doch allein, bei dem niemand einen 
Anſtand hat!“ Alle Anweſenden ſtimmten lebhaft ein, 
ſie flehten mit herzinnigem Gebet den Heiland um Ent— 
ſcheidung an, und empfanden alsbald die Verſicherung, 
daß er ihr Aelteſter ſein wolle; dies war in dem Sinne 
eines ganz beſonderen Bundes gemeint; nicht nur der 
Hirt und Biſchof ihrer Seelen, auch der Anwalt, Rath— 
geber und Fürſorger all ihrer kleinſten Umſtände und 
Vorgänge ſollte er ſein, und jenes Amt wirklich dem 
ganzen Umfange nach durch die That verwalten! Die— 
ſer Beſchluß wurde am 16. September unter größter 
Herzensbewegung gefaßt, und der 13. November als 
der Tag beſtimmt, an welchem allen Gemeinden gleich— 
zeitig durch einen Bericht des Grafen das Segenser— 
eigniß eröffnet werden ſollte. Um die Sache noch frucht— 
barer zu machen, beſchloß die Synode, bei dieſer Ge— 
legenheit allen Abtrünnigen von der Gemeinde, die 
wohl gar als Feinde und Läſterer derſelben aufgetre— 
ten waren, Vergebung und Wiederaufnahme anzubie— 
ten, ein Beginnen, welches gewiß löblich gemeint war, 
aber durch unbedachten Eifer, ohne des Grafen Schuld, 
die Geſtalt eines Ablaßbriefes bekam, woraus denn 
neue Verunglimpfungen erwuchſen, und der Tadel, wel— 
chen die ganze Sache erfahren mußte, ſich nur verviel— 
fältigte. Wirklich konnte dieſer dem Heiland abſonder— 
lich aufgetragene Gemeindedienſt einerſeits überaus an— 
maßlich, andrerſeits unziemlich ſpielend erſcheinen, und 
ſo auch den Frommen wie den Weltlichgeſinnten ein 


— 8 294 BI 


(ab Eur: ] 


widerlicher Anſtoß werden. Zinzendorf aber und die 
Seinigen waren durch die empfangene Gnade ſehr be— 
glückt, doch ohne ſich darum erheben zu wollen; im 
Gegentheil fand er darin nur eine neue Aufforderung 
zur Demuth, und ſagte: „Daß der Heiland unſer Ael— 
teſtenamt bekommen, iſt keine Schönheit von uns, ſon— 
dern ein Mangel; wir haben niemand unter uns ge— 
funden, der das Amt führen könnte; die geſchickt und 
niedlich genug dazu waren, waren nicht unanſtößig ge— 
nug, und die unanſtößig genug waren, die waren zu 
rauh. Darum waren wir abſolut genöthigt, uns des 
Vortheils zu bedienen, daß der Heiland bei uns iſt 
alle Tage.“ Bemerkenswerth iſt auch, daß Zinzendorf 
in dieſer Zeit zwiſchen den Stimmungen reinſten Froh— 
ſeins auch denen tiefſter Trauer und einſamſten Schmer- 
zes nachhängen konnte. Auf der Synode in London 
wurde ferner eine wichtige Anordnung verabredet in 
Betreff der wirthſchaftlichen Dinge. Bisher hatte Zin— 
zendorf ſein Vermögen und ſeinen Kredit angewendet, 
um für die Gemeinden oder Pilgerſchaften die nöthigen 
Mittel aufzubringen, und die Gräfin war eine ſo treue 
als geſchickte Hausmutter, die mit dem Beiſtande zweier 
Brüder beſonders für die Pilgergemeinde gute Sorge 
trug. Jedoch in allen dieſen Sachen wurde der Maß- 
ſtab ſtets größer und die Geſchäfte vielartiger, auch 
erforderten die Kinderanſtalten, Kolonieen und Miſſionen 
oft unvorhergeſehene Ausgaben. Zinzendorf liebte Geld— 
einſammlungen nicht, ſondern rieth eher anzuleihen, wo 


5 295 88 


die unaufgeforderten Hülfsgaben nicht ausreichten. Dies 
alles zu ordnen und zu verwalten wurde ein Diako— 
nus, nachher mehrere, ernannt, und ſo durfte man 

auch dieſe Seite der Gemeinde nunmehr wohlbeſtellt 
glauben. 

Der Graf nahm von ſeiner Gemahlin, die in Eng— 
land zurückblieb, herzlich Abſchied; hingegen machte er 
ſeiner ſechszehnjährigen Tochter Benigna den Antrag, 
ihn auf ſeiner Reiſe zu begleiten; ein Uebel am Fuß, 
den ihr die Aerzte deßhalb ſchon hatten ablöſen wollen, 
hinderte ſte nicht, ſie willigte mit Zuſtimmung der 
Mutter freudig ein, und ihr Muth fand bald einen 
Lohn ſchon darin, daß ihr Fuß durch die Seereiſe un— 

| erwartet geheilt wurde. Einige Brüder und Schwe— 
ſtern, die ſich der Bedienung der jungen Gräfin wid— 
meten, gingen gleichfalls mit zu Schiff. Zinzendorf 
aber wollte ſich weder auf ein Kriegsſchiff begeben, 
noch unter Bedeckung eines ſolchen fahren, wiewohl 
damals bei dem Kriege, welchen Spanien und England 
gegeneinander führten, die feindlichen Kaper ſehr um— 
herſchwärmten. Einem Gefechte beizuwohnen wäre ihm 
ſchrecklicher geweſen, als in Gefangenſchaft zu gera— 
then, und der Vorzug, den er deßhalb einem ganz un— 
bewaffneten Schiffe gab, war auch ganz im Sinne der 
Quäker und Mennoniten, auf welche er in Amerika 
hauptſächlich zu wirken, und daher gleich zuerſt einen 
günſtigen Eindruck zu machen wünſchte. Die Abfahrt 
geſchah am 28. September 1741 von Graveſand bei 


<> 296 I 


widrigem Winde, der einige Zeit anhielt. Während 
der zweimonatlichen Seereiſe ſchrieb Zinzendorf wieder 
fleißigſt; unter andern eine Zuſchrift an alle Obrig— 
keiten, unter welchen Brüder wohnten, mit der drin— 
genden Bitte, die Lehre und den Wandel derſelben 
gründlich zu unterſuchen, bevor ein Ausſpruch gegen 
ſie gethan würde; ferner Briefe, und beſonders Lieder, 
deren Born ihm jederzeit ergiebig floß. Mit Ende 
des Novembers kam er in Neuyork wohlbehalten an, 
und hielt gleich, da mehrere Fromme ſich zu ihm ein— 
fanden, einige Verſammlungen; begab ſich aber dann 
nach Philadelphia, wo er ein Haus miethete, und ſich 
nach ſeiner Art einrichtete. Dem engliſchen Gouver— 
neur der Provinz Pennſylvanien meldete er ſeine An— 
kunft und ſein lediglich auf die Verkündigung des Hei— 
landes gerichtetes Abſehen, mit dem Wunſche, daß von 
Seiten der Obrigkeit ein Beauftragter, der deutſch 
wüßte, ſeinen Vorträgen beiwohnte. Zunächſt aber be— 
reiſte er das Land, um ſich von dem Zuſtande der dort 
angeſiedelten Deutſchen, deren Zahl in Pennſolvanien 
ſchon damals über hunderttauſend war, mit eignen 
Augen zu unterrichten. Er fand hier am Fluſſe Dela- 
ware eine Brüderkolonie im Anbau, den alten Vater 
David Nitſchmann, deſſen Tochter die Gemeindeälteſtin 
Anna, und den Biſchof Johann Nitſchmann, nebft-eini- 
gen Brüdern, welche als Boten zu den Indianern zu 
gehen im Begriff waren; aus dieſem Anbau erwuchſen 
ſpäterhin die blühenden Niederlaſſungen Nazareth und 


* 


Bethlehem. Sein Beſuch führte ihn über noch andre 
Orte nach Germantown, und von da nach Philadelphia 
zurück. Er war hier gleich anfangs unter dem Namen 
von Thürnſtein aufgetreten, um durch ſeinen Grafen— 


titel keinen Anſtoß zu geben, denn die Bewohner jenes 


Landes waren durch religiöſe Denkart wie durch bür— 
gerliche Lage den europäiſchen Standesunterſchieden ab— 
hold und fremd; allein da viele Leute, ſchon aus Wider— 
ſpruch, ſein Inkognito nicht gelten ließen, ſo glaubte er 


ſich ernſtlicher entſcheiden und ſeinen Grafenſtand öf— 
fentlich niederlegen zu müſſen. Er that dies ſpäterhin 


am 26. Mai als ſeinem Geburtstage, im Hauſe des 
Gouverneurs, vor vielen angeſehenen Zeugen, worunter 
auch Benjamin Franklin, durch eine lateiniſche Rede, 
in welcher die Beweggründe ſeiner Handlung entwickelt 
wurden, wobei freilich auch der von allen Seiten un— 


haltbare, damit durch die üble Behandlung, welche er 


als ein Diener Jeſu zu erdulden habe, der Gräflich 


Zinzendorfiſchen Familie ferner kein Tort geſchähe! Die 


Rede war gedruckt, er forderte aber alle Abdrücke der— 


ſelben wieder ein, und hinterlegte fie verfiegelt, bis auf 


die Zeit, da dieſe Sache auch in Europa würde geord— 


net fein. Der Name von Thürnftein wurde aber den— 


noch wenig gebraucht, der Graf hieß den Meiſten nur 
ganz kurz Bruder Ludwig oder Freund Ludwig, wie 
denn die Anrede Freund in jener Gegend durch die 
Quäker ohnehin ſchon ganz gewöhnlich war. Mit die— 


ſen Leuten indeß, die er doch vorzüglich im Sinne ge— 


en 298 Dit 


habt, gerieth er fürerſt nicht in nähere Berührung, ihr 
Weſen hatte in ſich ſelbſt alle Haltung und Pflege, 
und bedurfte keiner neuen Aufhülfe. Anders war es 
mit den Lutheranern; nicht nur auf dem Lande, ſon— 
dern auch in den Städten waren dieſe großentheils 
ohne Lehrer und ohne kirchliche Ordnung; ſie kamen 
daher häufig in des Grafen Hausverſammlungen, und 
da ihnen ſein Vortrag gefiel, und ächt Lutheriſch dünkte, 
ſo trugen ſie ihm die ſonntägliche Predigt in dem Bet- 
hauſe auf, das ſie mit den Reformirten gemeinſchaft— 
lich beſaßen; nach einigem Zögern gab er denen, welche 
ein herzliches Verlangen darnach und Würdigkeit zeig— 
ten, auch das heilige Abendmahl. Er brachte ferner 
den Entwurf einer Lutheriſchen Kirchenordnung zu 
Stande, und bewirkte die Berufung eines Predigers, 
der das von ihm begonnene Werk fortſetzen ſollte, da 
er ſelbſt an dieſer Stelle zu verbleiben nicht beabſich— 
tigen konnte. Auch für die auf dem Lande zerſtreuten 
Lutheraner beſorgte er Schullehrer und beſuchende Pre— 
diger. Dieſer gute Fortgang wurde jedoch bald ge— 
ſtört; zuerſt äußerlich durch einen gewaltſamen Ueber— 
fall der Reformirten, welche den neuberufenen Luthe— 
riſchen Prediger unter vielen Mißhandlungen aus der 
Kirche riſſen, und ſich den alleinigen Beſitz derſelben 
anmaßten, weßhalb Zinzendorf lieber auf eigne Koſten 
eine neue Lutheriſche Kirche bauen ließ; ſodann von 
innen her durch einen aus Deutſchland geſandten Lu— 
theriſchen Prediger, der mit dem Grafen nicht einver- 


ed 299 S 


ſtanden war, ihm entgegenarbeitete, und bald mit allen 
denen, welche bisher nicht zum Abendmahl zugelaſſen 
worden, den größeren Theil der Gemeinde auf ſeiner 
Seite hatte, ſo daß Zinzendorf, welcher in dem Manne 


ſonſt große Gaben und die ächte Lehre erkennen mußte, 


zu Verhütung weiteren Zwieſpaltes ſich zurückzog, ohne 
doch die eingeriſſene Trennung dadurch ganz aufzu— 
heben. 

In Betreff der übrigen Religionspartheien herrſchte 
in Nordamerika die verwirrendſte Mannigfaltigkeit; die 
verſchiedenartigſten Sekten lebten in völliger Freiheit 
nebeneinander, und fielen in immer größere Trennung 
und Auflöſung. Männer von Einſicht und Frömmig— 
keit hatten ſchon mehrmals verſucht, eine heilſame An— 
näherung ſo vieler vereinſamten Glieder zu bewirken, 
und auch neuerdings war von Heinrich Antes, einem 
angeſehenen deutſchen Reformirten, ein Aufruf an alle 
Erweckten unter den Landleuten ergangen, über ver— 
einigende Grundſätze und Anſtalten in eine Berathung 
zuſammenzutreten. Zinzendorf wurde zu dieſen Kon— 
ferenzen eingeladen, welche in ſieben jedesmal drei— 
tägigen Synoden vom Januar bis in den Juni 1742 
meiſt in Germantown gehalten wurden, und nahm an 
den Verhandlungen eifrig Antheil. Nachdem er auf 
der erſten Synode faſt wie ein Beklagter ſich gegen 
jede der beſonderen Glaubensanſichten hatte vertheidi— 
gen müſſen, kam er ſchon auf der zweiten in ſolches 
Anſehn, daß er einſtimmig zum Syndikus für alle fol— 


e 300 3 


genden erwählt wurde. Als ſolcher hatte er doppelte 
Mühe und Arbeit mit ſo vielen ſchwer zu behandeln— 
den Sektengeiſtern, die hier zuſammenkamen; doch 
brachte er alles auf gute Bahn, und einige Grundſätze 
zur Anerkennung, auf welchen ſich glücklich weiterbauen 
ließ. So lautete gleich die erſte Uebereinkunft: „Alle 
Arbeiter in allen Partheien, denen es um ihre und der 
Ihrigen Seligkeit zu thun iſt, wollen ſich kurz dazu 
reſolviren, dem allgemeinen Heilande zugleich zu hul— 
digen, ihn um Vergebung aller unter ihnen vorgegan— 
genen Dinge anzuflehen, ihre unter ſich habende Per— 
ſonalſachen gleich fallen zu laſſen, ohne weiter daran 
zu gedenken; und hierauf, der unterſchiedlichen Haus— 
haltungen ungeachtet, ſich über einen Hauptgrund zu 
vereinigen, und auf demſelben fo zu arbeiten, daß nie- 
mand dem andern in ſeiner Sprache mehr barbariſch 
vorkäme, der Jeſum hätte oder redlich ſuchte.“ Ueber 
paradoxe Reden, die man den Sekten ſchon einiger— 
maßen geſtatten mußte, wurde feſtgeſetzt: „Weil ſich 
der Satan in einen Engel des Lichts verſtellet, und 
die theuerſten Wahrheiten mitprediget, um ſie zu ent— 
kräften und tumm zu machen, wenn er ihren Lauf nicht 
hemmen kann: ſo iſt des Heilands Methode, die Wahr— 
heit herbe, derbe, ja paradox und ſo vorzutragen, daß 
ſie ſo niemand annehmen kann, als der ſie wirklich in 
der Kraft annimmt, unſtreitig für Zeugen nöthig und 
unentbehrlich;“ jedoch ſollte dabei kein Leichtſinn, noch 
gelehrte und fürwitzige Kunſt, ſondern einzig frommer 


— . 301 = 


— 


Zbweck walten. Dies war ganz im Sinne des Grafen, 


der ſchon immer, nicht bloß aus angeborner Geiſtesart, 


ſondern auch aus Ueberzeugung und Vorſatz, paradoxe 


Reden geführt, und ſich dadurch vielen Vorwürfen bloß— 


| geſtellt hatte. In dem Gedränge der Meinungen, de— 


ren jede immer gern wieder allein gegolten und auf 
ihren Weg alle andern fortgeriſſen hätte, bedurfte er 
nicht geringer Gewandtheit, Ausdauer und Sicherheit, 
um das Rechte, Vereinigende, nicht bei jedem Schritte 


zu verlieren, und ſich ſelbſt als Lutheriſcher Prediger 


zugleich und als Diener der mähriſchen Kirche zu be— 


haupten. Nach Maßgabe jedoch, daß er einige Seelen 


wirklich zu ſeiner Sinnesart gewann, fielen andre wie— 
der in die vorigen Wege ab, die Synoden wurden 


immer kleiner, mit Schmerz ſah er die daran geknüpf⸗ 


ten Hoffnungen nach und nach wieder ſchwinden, und 


zuletzt blieb nur ein kleines Häuflein übrig, das zwar 


auch keine gemeinſame Verfaſſung nahm, aber in Liebe 


verbunden bleiben wollte, und ſich daher die Gemeinde 


Gottes im Geiſt nannte; die Quäker, ſogenannten Täu— 


fer, Siebentäger, Schwenkfelder und andre Sekten, an 


die er noch insbeſondre geſchrieben hatte, waren gar 


nicht erſchienen, und hatten zum Theil ſchnöde geant— 


wortet. 

Von dieſen wenig fruchtbaren Bemühungen wandte 
ſich der Graf mit deſto beſſerem Erfolge wieder zu ſei— 
ner ſchon beſtehenden Brüderſache. Eine Anzahl Brü— 
der und Schweſtern, welche bisher in Holſtein gelebt, 


—:25 302 33 


aber nach anfänglicher Begünſtigung dort manche Stö— 
rung erfahren hatten, wegen deren ſie ausgewandert, 
kamen über England im Juni 1742 nach Philadelphia, 
und wurden in verſchiedenen Abtheilungen nach Beth— 
lehem befördert, wo ſie mit den ſchon vorgefundenen 
Anſiedlern ſich zu einer Gemeinde ordneten. Zinzen— 
dorf half ihre Einrichtung gründen, und hielt ihnen ſo— 
wohl, als den aus der Nachbarſchaft herbeiſtrömenden 
fremden Hörbegierigen erbauliche Vorträge. Hier ſtimmte 
er auch, nach gründlicher Ueberlegung der Sache im 
Gemeinderathe, gern dem einmüthigen Beſchluſſe bei, 
den ſiebenten Tag der Woche als einen Ruhetag zu 
feiern. Schon längſt hatte er dieſen Tag, welcher allein 
der göttlichen Einſetzung des Sabbaths zu entſprechen 
ſchien, beſonders geehrt, anſtrengende Leibes- oder Ge— 
müthsarbeit an demſelben gern unterlaſſend, und lieber 
andächtige Feſtlichkeiten in die Stelle geſetzt, Verſamm— 
lungen zum Gebet oder Liebesmahle der Kinder und 
Erwachſenen, wobei die Hausdiener ebenfalls mitfeier— 
ten, indem nur Thee und Weißbrot gereicht wurde, 
was leicht bereitet war. Doch legte er auf dieſe Feier 
keineswegs den Werth, welchen die ſogenannten Sab— 
bather in England ſo damit verknüpften, daß ſie nun 
den Sonntag dafür als Werktag behandelten, und dar— 
über in Strafe kamen; im Gegentheil war ihm der 
Sonntag ſtets ein heiliger Tag, für den Gottesdienſt 
wie für die bürgerliche Ordnung höchſt wichtig, und 
jetzt in keinem Falle zu beeinträchtigen; nur für den 


h 303 S3- 


Sabbath, von welchem die Schrift redet, und welches 


nur der ſiebente, nicht der erſte Tag der Woche ſein 
kann, wollte er ihn nicht halten. Seine Arbeit in 
Bethlehem war ſehr geſegnet, und wurde dankbar von 
| den Brüdern und Schweſtern anerkannt. Anna Nitſch— 


mann ſchrieb von dieſer Zeit an die Gemeinde in Eu— 


ropa: „Wie ſchön und lieblich es in Bethlehem aus 
ſieht, kann ich euch nicht beſchreiben. Es iſt mir in 


meinem ganzen Leben noch nie ſo wohl, als da, gewe— 


ſen. Wir waren einen Monat alle beiſammen, als die 


Gemeinde hinzog und eingerichtet wurde. Wir liebten 


uns wie die Kinder. Das thut das herzliche Gottes— 


lamm, das macht aus ſeinen Sündern ſolche ſelige 
Gnadenkinder. — Unſer gewiß theurer und lieber Bru— 
der Ludwig wird nun jetzt ſeine Reiſe zu denen Wil— 
den endigen, und dann noch ein und anderes in Penn— 
ſylvanien und den Gemeinden in Ordnung ſetzen. Penn— 


ſolvanien hat zwar ſehr lieblos an ihm gehandelt, ſon— 


derlich die daſigen Feinde des Kreuzes Jeſu und ſei— 
nes ſeligen Sünderkirchleins; doch haben ſie nichts aus— 
gerichtet. Der Herr iſt mit uns.“ Die Gemeinde er— 
hielt die beſondre Beſtimmung, gleich der Pilgerge— 
meinde in Europa, nicht nur für ſich des Heils zu pfle— 
gen, ſondern daſſelbe auch für andre wirkſam zu machen; 
daher ſie auch eine gemeinſchaftliche Haushaltung zu 
führen, und den Ertrag ihrer Tagesarbeiten, nach Ab— 
zug des ihr ſelbſt Unentbehrlichen, zu den Zwecken und 
Anſtalten der Brüder überhaupt, und inſonderheit zu 


559 304 28 


den Miffionen unter den Indianern, anzuwenden be- 
ſchloß. Damit ſolches glückliche Gedeihen nicht ohne 
Beimiſchung bliebe, drohte jedoch von ganz unerwar— 
teter Seite plötzlich eine ſchlimme Störung. Die In— 
dianer ſprachen den Grund und Boden, wo die Brü— 
der die Niederlaſſung Nazareth angelegt, als ihr Eigen— 
thum an, und wollten darauf nicht verzichten. Eine 
große Verlegenheit entſtand hieraus für Zinzendorf; er 
hätte dieſen armen Wilden das Land gern überlaſſen, 
oder es ihnen auf's neue abgekauft, allein die Frage 
knüpfte ſich höher an das Recht der engliſchen Landes- 
herrſchaft, und dieſem durfte er nichts vergeben; der 
Gouverneur von Pennſylvanien befahl auch wirklich, 
die Indianer ſollten weggewieſen werden; aber dieſ 4 
blieben darum nicht weniger, und behaupteten ihre An⸗ 
ſprüche. Erſt nach gemeinſamer Erörterung der Sache 
in Philadelphia, und nach Einſicht der urſprünglichen 
Kaufbriefe der erſten Ankömmlinge, welche den In— 
dianern das Land abgekauft hatten, erkannten dieſe 
ſelbſt, daß jener Boden ihnen nicht gehöre, und ließen 
die Brüder in deſſen ungeſtörtem Beſitz; doch ſorgte 
Zinzendorf dafür, daß ihnen gleichwohl nochmals der 
höchſte Preis, den ſie ſelbſt gefordert hatten, aber als 
Geſchenk, ausgezahlt wurde. 

Er dachte nunmehr auch ernſtlich an Ausführung 
ſeiner eignen Miſſionsverſuche unter den Indianern. 
Gegen Ende des Juli begab er ſich auf die Wande— 
rung, begleitet von ſeiner Tochter Benigna und von 


2305 & 


mehreren Brüdern und Schweſtern, welche fein Unter— 
nehmen theilen wollten. Der erſte Ausflug geſchah 
über die blauen Berge zu den Delawares, einem der 
Stämme, die von den Irokeſen oder dem Bunde der 
funf Nationen, wie dieſer kriegeriſche Volksverband 
hieß, kürzlich unterjocht worden. Man machte mit die⸗ 
ſen Leuten, welche des Umgangs mit Europäern ſchon 
kundig waren, gute Bekanntſchaft, wohnte unter einem 
Gezelt neben ihren Hütten, und predigte ihnen das 
‚Evangelium unter mancherlei Ungemach nach beſtem 
Vermögen; ein Erfolg wollte ſich indeß von dieſer Be— 
| ung, wobei ein ſchon bekehrter Indianer nothdürf— 
tig als Dolmetſcher diente, fürerſt nicht zeigen. Auf 
einer andern Reiſe, in der Mitte des Auguſt, traf er 
zu Tulpehokin mit dreien Sachems oder Häuptlingen 
zuſammen, welche grade von Philadelphia, wo ſie den 
Friedensbund der fünf Nationen mit der Regierung 
von Pennſylvanien erneuert hatten, in ihre Heimath 
zurückkehrten; dieſe Gelegenheit ergriff er ſogleich, um 
gute Verbindung anzuknüpfen, und ließ den Männern 
bedeuten, er habe weder Land zu kaufen im Sinne, 
noch Handel zu treiben, aber eine Botſchaft Gottes fer 

ihm an ſie und ihre Völker aufgetragen, um ihnen den 

Weg zur Seligkeit zu zeigen, ſie möchten erklären, ob 
ſie dieſe Botſchaft geſtatten wollten? Der Friedens- 

richter und Regierungsdolmetſcher Weißer, aus Nei— 

gung dem Grafen folgend, verſtändigte die Indianer 
in ihrer Sprache über den Zweck und die Meinung 

Biographiſche Denkmale. V. 20 


sm 306 2 


o 


deſſelben, und gab ihren dem Herkommen gemäß zu— 
gleich ein Geſchenk. Sie beſprachen ſich unter einan— 
der, fanden die Botſchaft ehrenwerth, und hießen den 
Grafen und ſeine Brüder willkommen, indem ſie zu— 
gleich das urkundliche Zeichen ihrer zuverläſſigen Ge— 
ſinnung, eine Schnur aufgereihter, nach ihrer Zahl ge— 
nau bemerkter Korallen, Wampom genannt, darboten. 
Auf dieſer Reiſe begegnete ihm der ſeltſame Zufall, 
daß er an einem Sonntage, den er um der Puritaner 
willen mit Bedacht durch Raſten feierte, nebſt ſeiner 
Tochter und einem Gehülfen abends beim Aufſchreiben 


eines Liedes, das er eben auf die Indianer verfertigt 


hatte, von einem Friedensrichter überraſcht wurde, der 


ſie am folgenden Tage durch den Konſtable verhaften 


ließ, und alle drei als Sabbathſchänder in Geldſtrafe 
nahm, wogegen alle Einwendung nichts fruchtete. In 
Chekomeko, jenſeits der blauen Berge, wohin er bald 
mit zunehmendem Gefolge zog, fand er einige ſchon 


bekehrte Indianer, für welche er zweckmäßige Einrich- 
tungen anordnete; der neuen Bekehrungen blieben aber 


wenige, weil er weder die Abſicht noch ſelbſt die Ge— 
ſchicklichkeit hatte, eine große Zahl dieſer Halbwilden 
fürerſt äußerlich anzuwerben, wobei die innere Neigung 
nur allzuoft ausblieb, und nach kurzem Verſuch die 


vorige Gewohnheit leicht wieder ſiegte. Eine andere 
Reiſe zu den Indianern an dem Fluſſe Susquehanna 


nach Schomokin, Otſtonwakin und Wajomik, damalige 
Wohnorte herumziehender Stämme, hatte gleichfalls. 


e 307 Ge 


wenig Erfolg, dagegen größtes Ungemach, indem die 
Wildniß der Wälder nicht Bahn noch Zufluchtsorte bot, 
bald Fluß und Sumpf, bald Baumfälle und Steilhöhen 
den Schritt hemmten, und bei der ſchon gras- und 
laubloſen Jahrszeit auch inmitten der Waldung das 
Futter für die Pferde mangelte. Die Indianer im 
Allgemeinen bezeigten dem Grafen wohl Achtung und 
Aufmerkſamkeit, aber doch machten die Schawanos, ein 
beſonders grauſamer Stamm, den Anſchlag, ihn mit 
ſeiner ganzen Begleitung zu ermorden, welches nur 
eben noch, indem ein unerklärbares Angſtgefühl den 
Dolmetſcher, welcher nach andrer Gegend verſchickt war, 
zu beſchleunigter Rückkehr trieb, wie durch ein Wunder 
entdeckt und gehindert wurde. Nach vielen andern über— 
ſtandenen Gefahren und Beſchwerniſſen kamen doch Alle 
am 9. November wieder in Bethlehem glücklich an. 
Mit unermüdeter Thätigkeit ging Zinzendorf ſo— 
gleich wieder an andre Arbeiten, zu welchen Anlaß oder 


auch nur Raum war. Die Gemeinde in Bethlehem, 
nach ihrem Bedürfniß im Ganzen, ſo wie nach dem 


eines jeden einzelnen Mitglieds, die Miſſionen der 


Brüder in Nordamerika und in Weſtindien, die nicht 


aufgegebene Einwirkung auf die vielartigen Religions- 
partheien in Pennſylvanien, die Anlegung von Schulen 
und Erziehungsanſtalten, deren eine für junge Mäd— 
chen in Germantown an der Gräfin Benigna ſelbſt eine 
thätige Gehülfin hatte, ferner die Predigten und Er— 


bauungen, die er ſeinen lieben Deutſchen aller Orten 


20 * 


> 308 8 


zum Abſchied halten wollte, und zum Theil, bei dem 
Mangel an Kirchen, auch in Scheunen und Häuſern zu 
halten ſich bequemte, ſodann Aufſätze und Büchlein 
mancher Art und Sendſchreiben, die er drucken ließ, — 
dieſe Gegenſtände insgeſammt zeugten von dem Um— 
fang und der Kraft ſeines Eifers, der zwar in ſtetem 
Wechſel begriffen war, aber überall, wo er, wenn auch 
nur auf kurze Zeit, einwirkte, die Sachen gefördert 
ihrem Weitergang überließ. Leider mußte er in aller 
dieſer Thätigkeit auch erfahren, daß die Miſchung der 
ſittlichen Stoffe, worin die geſellſchaftliche Welt ſich 
gährend fortbewegt, in der neuen Welt nicht anders, 
als in der alten, beſchaffen ſei. Das Auffallende der 
Erſcheinung des Grafen war den meiſten Leuten ſchon 
genug, ihn zu verdammen; den Einen war es anſtößig, 
daß er in leinenen Sommerkleidern, wie ein geringer 
Mann, zum Theil zu Fuß umherwanderte, den Andern 
hingegen, daß ſie ihn von den Seinigen gleichwohl als 
einen vornehmen Mann geehrt und faſt immer von 
zahlreichem Gefolge begleitet ſahen. Man ſpottete ſei- 


ner in den öffentlichen Blättern, man verfolgte ihn mit 


Schimpf und Verläumdung, und ſparte auch die ſchänd— 
lichſten Beſchuldigungen nicht. Anfangs ſuchte er ſol— 
chen Angriffen Einhalt zu thun, und erließ zu dieſem 
Zweck ein paar Briefe, welche Benjamin Franklin in 
ſeine Zeitung aufnahm, allein die Bosheit mied den 
offenen. Kampf, und hielt ſich in ſchleichender Tücke 
ſchadlos. Manche Prediger, in ihm einen Feind ihrer 


1:9 309 a3 


Zunft ſehend, erklärten ihn für den falſchen Propheten, 
für das gräuliche Thier aus der Offenbarung Johannis. 
Man wollte erfahren haben, er ſei wegen Trunkenheit 
und ſonſtigen ſchlechten Lebenswandels in Deutſchland 
ganz verrufen und zum Fortgehen genöthigt geweſen, 
habe darauf die Tochter eines Schifflieutenants ent— 
führt, die er jetzt für ſeine Tochter Benigna ausgebe, 
mit dieſer Perſon lebe er in Unehren, und wäre ſie 
wirklich ſeine Tochter, ſo ſtelle ſich die Sache nur um 
ſo gräuelhafter; andre Verläumdungen kamen ihm aus 
Europa nach, er habe es nicht aushalten können, von 
feiner Geliebten, der ehemaligen Aelteſtin Anna Nitſch— 
mann, getrennt zu leben, nur ihretwegen ſei er nach 
Amerika gereiſt, um fernen ſündlichen Umgang mit ihr 
fortzuſetzen. Die Tändeleien, welche dem Grafen, wie 
mit andern theuern Perſonen, ſo auch mit dieſem Frauen— 
zimmer gewöhnlich waren, daß er ſie ſeine Nitſch-Annel 
nannte, und anders dergleichen, wurden zum Beweiſe 
des unrechten Wandels angeführt. Wir gedenken die— 
ſer abſcheulichen Nachrede mit Bedacht, weil jedes Zeit— 
alter ſeine höchſten und würdigſten Ehrenmenſchen gern 
verunglimpft, und in dem Spiegel deſſen, was ſchon 
dageweſen, ihm nicht oft genug vorgehalten werden 
kann, wie groß und rein doch ſtets das Edle aus der 
abfließenden Verläumdung ſich wieder emporhebt! Zin— 
zendorf konnte jedoch unter ſolchen Widrigkeiten in Ame— 
rika die Schwingen weniger entfalten, als in Europa, 
in deſſen Bildung, bürgerlicher Einrichtung, und ein- 


BD 310 3 


geübten Verhältniſſen bei allem Wechſel doch immer 
grade ihm die größten Vortheile geſichert blieben. Auch 
riefen die zahlreichſten Anforderungen ihn lebhaft dort— 
hin zurück. Nachdem er alſo noch mancherlei für das 
Gedeihen der Brüder geordnet, in Pennſylvanien guten 
Samen ausgeſtreut, und zuletzt in Philadelphia mit 
Predigten und Reden Abſchied genommen, ſchiffte er 
ſich am 9. Januar 1743 zu Neuyork mit feiner Toch— 
ter, mit Anna Nitſchmann, und ſonſtiger Begleitung 
ein, und ging nach England unter Segel. Die See— 
fahrt war glücklich, bis am 14. Februar ein heftiger 
Sturm das Schiff an die Klippen von Seilly zu wer— 
fen drohte; der Kapitain, ſelbſt ein Frommer, und das 
Schiffsvolk erſahen ſchon den gewiſſen Tod, Zinzendorf 
allein war heitern Sinnes, verkündete Allen ſichres Lan— 
den, und fügte die beſtimmte Vorherſagung hinzu, daß 
der Sturm nach zwei Stunden vorüber ſein würde; 
man achtete dieſer Tröſtung wenig, als aber die ge— 
nannte Zeit um war, erſuchte er den Kapitain, auf dem 
Verdeck nach dem Wetter zu ſehen, und wirklich legte 
ſich der Sturm in den nächſten Minuten. Der Kapi- 
tain befragte nachher den Grafen, was es mit ſeiner 
Vorherſagung für eine Bewandtniß gehabt, und dieſer 
ſtand nicht an, im Vertrauen, daß kein Mißbrauch da— 
von gemacht würde, Folgendes ihm darüber zu ſagen: 
„Es ſind ſchon über zwanzig Jahre, daß ich mit mei— 
nem lieben Heiland einen herzvertraulichen Umgang 
habe. Wenn ich nun in gefährliche und ſeltſame Um— 


58 31 So 


ftände komme, fo iſt mein Erſtes dabei, daß ich genau 
unterſuche, ob ich daran ſchuld ſei oder nicht. Finde 
ich nun etwas, damit er nicht zufrieden iſt, ſo falle ich 
ihm gleich zu Füßen, und bitte um Vergebung. Da 
vergiebt mir's dann mein guter Heiland, und läßt mich 
gemeiniglich zugleich wiſſen, wie es ablaufen werde. 
Wenn es ihm aber nicht gefällt, mich den Erfolg vor— 
her wiſſen zu laſſen, ſo bin ich ſtille, und denke, es iſt 
das Beſte für mich, daß es mir unbekannt bleibe. Das— 
mal aber hat er mich es wiſſen laſſen, daß der Sturm 
noch zwei Stunden dauern würde.“ Wir haben in 
unſrer Erzählung dergleichen Züge nicht ausgelaſſen; 
daß ſie einer ſehr verſchiedentlichen Beurtheilung an— 
heimfallen, können wir nicht hindern. 

In Dover am 17. Februar gelandet reiſte Zinzen— 
dorf ſogleich nach London und von da weiter nach 
Aorkſhire, wo Spangenberg unter den zahlreichen Brü— 
dern mit vielem Segen thätig war. An dieſem gedeih— 
lichen Fortgang erquickte ſich ſein Herz, und ſtärkte ſich 
zu vielem Ungemach und Arbeiten, die ihm bevorſtan— 
den. Ueber Cambridge und Broadoaks, an welchem 
letztern Orte, den er Lambs inn nannte, die Brüder auf 


dem gemietheten Schloſſe ihre Kinderanſtalt hatten, und 


ſeine Tochter Benigna kurze Zeit verweilte, kam er am 
11. März nach London zurück. Hier hatten die Brü— 
der, weil die obrigkeitliche Erlaubniß für ihre gottes— 
dienſtlichen Verſammlungen ſie unterſcheidend benennen 
mußte, ſich als mähriſche Brüder angegeben; dies wider— 


1 


= 312 8 


ſprach den Hauptgrundſätzen und Abſichten, welche Zin— 
zendorf bisher befolgt hatte, gradezu; er meinte in dem 
von ihm geſtifteten Religionsweſen nicht ausdrücklich 
die mähriſche Kirche zu verſtärken, wobei ſein Unter— 
nehmen einerſeits beſchränkt und andrerſeits mannigfach 
gefährdet bleiben mußte, ſondern wollte die fromme 
Gemeinſchaft, welche ſich durch ſein Wirken geſtaltet 
hatte, in alle beſtehenden chriſtlichen Kirchen hineinbil— 
den oder aus ihnen entwickeln, wodurch ſein Werk an 
jedem Orte ſeine beſondre Sicherheit und mit einem 
univerſellen Karakter den weiteſtausgedehnten Wir— 
kungskreis erhielt; fchon von Philadelphia her hatte er 
gegen jene Benennung Einſpruch gethan, jetzt aber, da 
ſonſt alles in kräftigem Gedeihen und deßhalb ſchon 
weniger auch für ihn biegſam war, ſah er die Sache 
in England kaum zu ändern, und fügte ſich ſchweigend 
darein. War auf ſolche Weiſe die Anbrüderung mit 
der engliſchen Kirche verſäumt, ſo wollte er doch we— 
nigſtens von den ihr ſcharf entgegengeſetzten Metho— 
diſten geſchieden bleiben, und wandte die Gefahr einer 
Vermiſchung mit ihnen eifrig ab, indem er gegen die 
beiden Wesley, die Stifter der Methodiſten, eine Er— 


klärung ausgab, und an ihren Prediger Whitefield, der 


ſich den Brüdern wiederholt genähert hatte, ein ernſt— 
liches Schreiben erließ. In der Gemeinde ſelbſt wirkte 
er mit belebender Thätigkeit, ließ ſich der Reihe nach 
Perſon für Perſon vorſtellen, und ſprach mit jeder 
einige Worte, hielt beſondre Homilien für die Chöre, 


— e 313 S 


— 


engere und allgemeinere Verſammlungen, und jeden 
Tag in der Brüderkirche öffentlich eine deutſche Pre— 
digt, von der am folgenden Tage dann auch eine eng— 
liſche Ueberſetzung vorgeleſen wurde; ja er wagte ſo— 
gar, um einiger anweſenden Franzoſen willen, zum er— 
ſtenmal franzöſiſch zu predigen. Auch in einer Geſell— 
ſchaft, welche ſich zu dem Zweck, unter den Heiden das 
Evangelium zu befördern, in London gebildet hatte, 
und den Miſſionen der Brüder hülfreich wurde, nahm 
er öfters berichtend und vorſchlagend das Wort. Mit 
Vornehmen, Gelehrten und Frommen, die ſich günſtig 
bezeigten, fand ein freundlicher Umgang Statt, der un— 
ter andern auch die erſte Einladung für die Brüder, 
ihre Sache nach Schottland zu verpflanzen, veranlaßte. 
Doch konnte er dieſes Wirken in England nicht lange 
fortſetzen, denn dringend rief die Lage der Sachen ihn 
nach dem Feſtlande. Auch dort offenbarte ſich in dem 
Brüderweſen ein ſtarker Hang, die Geſtalt eines ſei— 
ner Theile zu der des Ganzen zu machen, und überall 
ſich als zur mähriſchen Kirche gehörig aufzuſtellen. In 
Holland, auf dem Herrnhaag, in Gotha, Berlin, und 
andern Orten, war dieſer Zug nicht weniger als in 
England hervorgedrungen. Die Biſchöfe und Aelte— 
ſten, welche mit Beihülfe einiger andern Brüder, unter 
dem Namen der Generalkonferenz, in Zinzendorf's Ab— 
weſenheit mit Leitung der Geſchäfte beauftragt waren, 
hatten darin unläugbar ſehr viel geleiſtet, aber ſie 
waren viel weiter gegangen, als ſie nach ſeiner Mei— 


ca 5 314 2 


nung gehen ſollten, ſie hatten ſeinen Sinn wie ſeine 
Zuſtimmung außer Acht gelaſſen, neue Dinge kräftig 
unternommen, und indem ſie ſich mannigfachen Gelin— 
gens freuten, nur um ſo mehr alles verwirrt und ge— 
fährdet. Zinzendorf ſah die Nothwendigkeit, die Sachen 
wieder ganz in ſeine Hand zu nehmen, das Gethane 
möglichſt aufzuheben, und ſein leitendes Anſehn gründ— 
lich herzuſtellen. In einer Sache, welche ſich vor an— 
dern anfaßlich darzubieten ſchien, that er dies unver— 
züglich noch von London aus. Der Graf von Prom— 
nitz, ein reicher Standesherr aus Schleſien, hatte das 
Gut Neudietendorf bei Gotha gekauft, um eine mäh— 
riſche Gemeinde dort aufzunehmen, und die Anſiede— 
lung war bereits angefangen, obgleich die Kirchenver— 
faſſung des Landes entgegen war. Hier keine weitere 
Verwickelung entſtehen zu laſſen, ſchrieb Zinzendorf ſo— 
gleich an den Herzog, tadelte das Unternehmen als un— 
befugt und voreilig, und erklärte, nicht eine mähriſche, 
ſondern nur eine Lutheriſche Brüdergemeinde, nach dem 
Beiſpiele von Herrnhut, in Gotha beabſichtigen zu kön— 
nen, im Fall man hiezu die Hand böte; und an die 
ſchon hingezogenen Gemeindeglieder erließ er eine Ab— 
berufung, die auch alſobald befolgt wurde. Nicht überall 
jedoch war es leicht oder überhaupt ſtatthaft, ſo zurück— 
zuwirken, und Zinzendorf verkannte nicht, welch ſchwie— 
rigen Aufgaben er entgegenging. 

Er landete in Rotterdam im Anfang Aprils, und 
eilte nach dem Haag, wo er ſeinen Sohn Chriſtian 


— 9 — 315 BR 


Renatus fand, der ihm ganz verändert und aus frü— 
herer Dumpfheit jetzt erſt als geiſtlich erweckt erſchien. 
Auch traf er hier Abraham von Gersdorf als Abgeord— 
neten der Brüderkirche, der ihm wohl ſonſt lieb, aber 
deſſen Geſchäftstrieb bei den Generalſtaaten von Hol— 
land ihm ſchon nicht genehm war. In Amſterdam, wo 
er den 4. April ankam, traf er die Biſchöfe und Ael— 
teſten, welche auf die Nachricht ſeiner Rückkehr ſich da— 
ſelbſt eingefunden hatten, und ſeiner harrten, um ihn 
zu bewillkommen und ihm von ihrer Verwaltung Be— 
richt zu geben. Er hielt ſogleich ausführliche Erörte— 
rung mit ihnen, tadelte ſie wegen ihrer Unberückſich— 
tigung ſeines Vorſteheramtes, welches er, zwar wider 
ſeine Neigung, aber doch in der That behalten habe, 
und daher auch zu handhaben verpflichtet ſei, fand un— 
begreiflich, daß ſie ſo viel Wichtiges und Neues ange⸗ 
fangen, ohne ſeinen Rath und ſeine Billigung zu ver— 
nehmen, die ſie auch aus Amerika ſehr wohl hätten 
ſchriftlich einholen können, und machte ſie auf ſo man— 
ches Nachtheilige und Bedenkliche aufmerkſam, das in 
dem Gewirkten ſelbſt lag. Zwar gab er billigen Ge- 
gengründen ſeinerſeits auch wieder Raum, und ließ ſich 
über einiges beruhigen, aber im Ganzen beſtand er auf 
ſeinem ausgeſprochenen Sinn. Einen befremdlichen Ein— 
druck mußte auch der Graf von Promnitz auf ihn 
machen, den er in Amſterdam zuerſt kennen lernte; die— 
ſer war in die Brüdergemeinde erſt vor kurzem aufge— 
nommen und ſogleich in bedeutenden Geſchäften ge— 


5m 316 BI 


braucht worden, denen das perſönliche Gewicht einer 
vornehmen Vertretung wohl zu Statten kommen durfte; 
Zinzendorf war von jeher, dem Spruche des Apoſtels 
gemäß, daß nicht viel Edle, nicht viel Weiſe berufen 
ſind, mißtrauiſch gegen den Eintritt der Vornehmen und 
Gelehrten in die Gemeinde, und fand in Betreff ſol— 
cher beſondere Vorſicht und Prüfung nöthig; ſein eignes 
Beiſpiel hielt er für eine Ausnahme, nach welcher viel— 
leicht kein andres zu beurtheilen ſei; hier ſah er nun 
zum erſtenmal in der Gemeinde einen Mann, der ihm 
durch Geburt, Vermögen und Weltbildung äußerlich 
etwa gleichzuſtehen ſcheinen konnte, der ebenfalls dich— 
tete oder reimte, und deſſen frommer Eifer im Glanze 
ſolcher Vortheile auch in der Gemeinde leicht Anſehn 
und Einfluß davon trug, und ſchon auf Stufen der 
Wirkſamkeit gehoben war, welche, wie die ihm aufge— 
tragenen Geſchäfte in Berlin und Gotha, dem Syn— 
dikus der Gemeinde oblagen; ohne ihm grade Eifer— 
ſucht aufzuregen, von welcher Zinzendorf gewiß weit 
entfernt war, mußte ihm doch ſolch äußerliches Nach— 
bild ſeiner ſelbſt höchlich mißfallen, und ſein perſön— 
liches Gefühl ſich mit dem des Rechtes, der Ordnung 
und des Gemeinwohls verbinden, um alles auf ſein 
natürliches Maß zurückzuführen. Er ſprach ſich unver— 
hohlen darüber aus, ſowohl gegen Promnitz ſelbſt, deſſen 
redliches und frommes Gemüth er liebend anerkannte, 
als auch gegen die Aelteſten, welchen er die Gefahr 
jedes unwachſamen Schrittes vorhielt. Das Syndikat 


e 317 2 


der Brüderkirche, welches Amt während ſeiner Abwe— 
ſenheit ſich in mehrere Hände ſchwankend vertheilt hatte, 
nahm er feſt und beſtimmt als das ſeine wieder auf. 
Durch eine franzöſiſche Denkſchrift an die General— 
ſtaaten ſetzte er, was Gersdorf nicht gehörig gethan, 
das Verhältniß der mähriſchen Kirche in das rechte 
Licht, und die Brüder blieben fortan in Holland unan— 
gefochten. Aber ſein Wiedereingreifen mußte nun ſo— 
fort auch in Deutſchland wirkſam werden, und nach 
einem Beſuch in Heerendyk reiſte er am 20. April über 
Utrecht nach der Wetterau. . 

Im Herrnhaag war die nee bei feiner An— 
kunft grade zum Bettage verſammelt, und er hielt ſo— 
gleich eine Rede an ſie, worauf er noch vielerlei von 
ſeinen Reiſen und Verrichtungen erzählend mittheilte. 
Am folgenden Sonntage predigte er, hielt jedem Chor 
eine Homilie, und ſprach die ledigen Brüder Mann für 
Mann, mit den Helfern und Hauptarbeitern aber hatte 
er ausführliche Unterredungen. Die Chöre beſprach er 
eifrig, und dichtete für ſie beſondre Lieder, unter wel— 
chen die für das Ehechor freilich im Ausdruck nicht die 
beſonnenſten waren. Bald war er mit den innerſten 
Zuſtänden der Gemeinde, wie mit ihren äußeren Ver— 
hältniſſen, wieder ganz vertraut, und konnte nur um ſo 
klarer einſehn, welche bedeutende Ablenkung alles von 
dem früheren Wege genommen hatte, und wie durch 
andres Wirken und Anſehn das ſeinige zum Theil er— 
ſetzt und abgeſchloſſen war. Seinem Sinne gradezu 


BD 318 So 


entgegen war die Gemeinde im Geiſtlichen und Welt— 
lichen auf einen ganz neuen Fuß geſetzt. Anſtatt im 
Herrnhaag eben ſo an die reformirte, wie in Herrnhut 
an die Lutheriſche Kirche, ſich anzuſchließen, hatten die 
Brüder durch einen neuen Vertrag mit dem Landes— 
herrn, dem Grafen von Aſenburg-Büdingen, ſich aus— 
drücklich zur mähriſchen Kirche und unter deren Biſchöfen 
ſtehend bekannt; andrerſeits waren ſie auf ein Darlehn 
eingegangen, welches, unter Vermittelung des ſchon er— 
wähnten Beuning von Amſterdam, theils für den Gra— 
fen von Büdingen, theils für den Grafen von Meer— 
holz bewirkt worden war, wogegen erſterer den Ort 
Leuſtadt mit Schloß und Kirche, letzterer das Schloß 
Marienborn auf dreißig Jahre an Beuning verpfändet 
hatte. Zinzendorf mußte im letzten Augenblick, da Beu— 
ning doch die Geldſummen nicht ſogleich aufbringen 
konnte, hiezu noch mitwirken, obgleich er die Sache, 
wie ſie geſtellt war, ganz mißbilligte. Das theologiſche 
Seminarium zu Marienborn, welches ſpäter nach Lind— 
heim verlegt wurde, fand er ebenfalls in einer Rich— 
tung, die ihm äußerſt bedenklich ſchien. Unter der 
wohlmeinenden Leitung des ſehr gelehrten Biſchofs Po— 
lykarpus Müller war daſſelbe tiefer in die Schulweis— 
heit gerathen, als mit der Einfalt und Kindlichkeit, 
welche die Brüderſache doch bewahren ſollte, verträglich 
dünkte. Doch ſah er für den Augenblick ohne große 
und zweifelhafte Störung allen dieſen Dingen keine 
Abhülfe, ſondern wollte erſt wieder ſein Anſehn und 


=D 319 8 


feinen Einfluß im Stillen nach und nach gehörig er— 
ſtarken laſſen. Er hielt ſich von allen Geſchäftsbera— 
thungen einſtweilen entfernt, und nahm nur an den 
Erbauungen und Seelenarbeiten der Gemeinde, an die— 
ſen aber ſehr innig und lebhaft Theil. Er predigte in 
der Schloßkirche zu Marienborn und auf der Ronne— 
burg, die von den Brüdern gemiethet und der Wohn— 
ort einer kleinen Gemeinde war, und zeigte ſich uner— 
müdet im Dienſte des Heilands. Nach Verlauf eini— 
ger Wochen traf in Marienborn auch der Theil ſeiner 
aus Pennſylvanien mitgekommenen Begleiter ein, der 
von Holland her auf dem Rhein langſamer nachgereiſt 
war, und am Tage nachher kam auch die Gräfin da— 
ſelbſt nach langer Abweſenheit wieder an. Dieſe Dame 
hatte es dem Gemahl an Unternehmungseifer und Reiſe— 
fertigkeit inzwiſchen muthig nachgethan, war nach Herrn— 
hut und Ebersdorf, wo ſchon ſeit einiger Zeit die Ge— 
meinſchaft mit Herrnhut ſtockte, darauf nach Berlin, 
und endlich ſogar nach Kopenhagen und Sankt-Peters— 
burg gereiſt, um für das Reich des Heilands zu wir— 
ken; ſie hatte auch die Königin von Dänemark ge— 
ſprochen, in Rußland aber bei der Kaiſerin keinen Zu— 
tritt erlangt, ſondern durch ihren Aufenthalt in Lief— 
land ſich ſogar Ungelegenheiten ausgeſetzt, indem fie 
beſchuldigt worden war, eine neue Sekte ſtiften zu 
wollen, wogegen der Graf, als er die Sache vernahm, 
nachdrückliche Verantwortungsſchreiben, ſowohl an ruſ— 
ſiſche Staatsbeamte, als an die heilige Synode der 


2 2320 33 


ruſſiſchen Kirche ergehen ließ. Die Gräfin war auf 
dieſen Reiſen von ihrer Begleitung Mama genannt 
worden, und wurde von Einigen fortwährend ſo ge— 
nannt; dies brachte den Grafen, für den man ſchon 
längſt keine ganz angemeſſene Anrede zu finden wußte, 
der in Pennſolvanien zwar Freund Ludwig oder Bru— 
der Ludwig, in Deutſchland aber meiſt wieder gnä— 
diger Herr genannt wurde, auf den Gedanken, ſich 
Papa nennen zu laſſen. Bald geſchah dies allgemein, 
ſelbſt in Schriften und von Fremden, und wurde da— 
durch ärgerlich. Der Anklang von Pabſt lag faſt be— 
denklich nah, und als ein Bruder ihm vorhielt, Chriſtus 
habe ſeinen Jüngern ausdrücklich verboten, jemanden 
Vater zu heißen auf Erden, wies er zwar jede Miß— 
deutung, als habe er das Wort in höherem geiſtlichen 
Sinne genommen, unwillig von ſich ab, ſuchte aber doch 
den Gebrauch ſofort einzuſtellen, und mußte in die frü— 
here Verlegenheit ferner ſich ergeben. 

Durch die Anweſenheit ſeiner Gemahlin und die 
wieder zahlreichere Umgebung der Getreuen, die ihn 
auf der Reiſe begleitet hatten, fühlte er ſich auf's neue 
geſtärkt und ermuthigt, und konnte, auf dieſes Häuf— 
lein geſtützt, ſchon kräftiger auftreten. Um das Ver— 
trauen und die Freudigkeit, deren das Beſtehn und 
Handeln inmitten von Widrigkeiten ſo beſonders be— 
darf, noch mehr zu ſichern und zu erhöhen, ſchloß er 
mit jenen Brüdern und Schweſtern einen engeren Bund, 
der aber nur auf Einfalt und Innigkeit des Herzens 


| 


59 321 Go 


ging; auf dieſem reinen Grunde gedieh dann von ſelbſt 
manch edle Frucht, die für das Ganze zu nutzen war. 
Die Verbindung dauerte einige Zeit mit großem Nutzen 
fort, ſie wirkte, wie jede kleinere Geſellſchaft, nur um 
ſo feuriger; nachdem ſie jedoch ihren Zweck erfüllt und 


ſich dabei zu größerer Anzahl ausgedehnt hatte, hob 


Zinzendorf, von ſichrem Takt hierin geleitet, ſie zu rech— 
ter Zeit wieder auf, und vermied ſo jeden Abweg, der 
weiterhin daraus entſtehen konnte. Dieſe Getreuen, 
mit ihm Gewanderten, verblieben indeß vorzugsweiſe 
als Glieder der Pilgergemeinde um ihn, die für den 
Dienſt des Heilands jederzeit fertig ihn bald mehr bald 
minder zahlreich umwallte. Mit neuer Kräftigung 
wandte er ſich nun wieder auf das Allgemeine der 
Brüderſache, und beſchloß ihre wichtigeren Verhältniſſe 
gründlich vorzunehmen. Eine Synode, welche auf ſei— 
nen Betrieb zum 1. Juli nach Hirſchberg im Voigt— 
lande ausgeſchrieben wurde, ſollte dieſem Zweck ent— 
ſprechen. Der Graf verabſchiedete ſich mit der Ge— 
meinde zu Herrnhaag in gewohnter Weiſe, Erbauun— 
gen und Geſchäfte drängten ſich, die Chöre wurden 
bearbeitet, Brüder und Schweſtern zu Aemtern einge— 
ſegnet, Lieder geſungen und Reden vorgetragen, end— 
lich das Abendmahl genommen, alles in fortdauerndem 
Zuge von zwei Uhr nachmittags den Abend und die 
Nacht hindurch bis um 5 Uhr morgens. Dann reiſte 
er mit großem Gefolge von Brüdern und Schweſtern 


nach Hirſchberg ab, wo er am 30. Juni eintraf, und 


Biographiſche Denkmale. V. 21 


159 322 93 


gleich am folgenden Tage die vorbereitenden Konfe— 
renzen anfingen. 


Um die hier gepflogenen Verhandlungen richtiger 
einzuſehen, bedarf es eines Rückblicks auf einige Um— 
ſtände damaliger volitiſcher Welt. In Preußen war 
durch den Tod Königs Friedrich Wilhelms des Erſten 
ein völliger Umſchwung eingetreten, der Sinn und Geiſt 
ſeines Nachfolgers bewegte Staat und Volk in ganz 
neuen Richtungen, und beſonders zeigten ſich für reli— 
giöſe und kirchliche Angelegenheiten ganz veränderte 
Ausfihten. Man kannte den jungen König als einen 
Gegner alles deſſen, was auf überliefertem Wunder— 
glauben ruhte, aller Schwärmereien und Satzungen, 
die ſich dem Gemeinbegreiflichen nicht anſchloſſen, oder 
ihm gar widerſprachen; für kirchliches und geiſtliches 
Treiben ſchien da überhaupt nicht viel zu hoffen, ein 
Mann wie Zinzendorf aber dem lebhaften Jünger und 
Freunde Voltaire's gar zum Geſpött ſein zu müſſen; 
die Feinde, welche den Schutz und die Gunſt des Gra— 
fen bei dem vorigen Könige ſchon mit tiefem Neid an— 
geſehen, triumphirten in ihrer Schadenfreude, daß es 
mit jener Stütze nun vorbei ſei, und manche heftigere 
Gemüther überſahen um ſolcher Befriedigung willen 
gern den Nachtheil, der auch ihnen ſelbſt etwan aus 
dieſer allgemeinen Denkart des Königs erwachſen konnte. 
Allein dieſe Sachen ſtellten ſich anders; Friedrich der 


| 


| 


— 323 BU 


Große ließ in dieſem Gebiete alles frei, beſchützte, was 
beſtand, hemmte weder Vor- noch Rückſchritt, und ſorgte 
nur dafür, daß nach keiner Seite die ihm heilige Glau— 
bensduldung verletzt würde. Sogar mußten die Sek— 
ten und kleineren Religionsgeſellſchaften, als bisher ge— 
drückte oder doch angefeindete Partheien, gegen die 
mächtigeren Kirchen eher im Vorzuge ſtehn, und wirk— 
lich zeigte ſich bald, daß die Brüderſache bei dem ge— 
fürchteten Wechſel faſt eben ſo gut ſtand, als vorher. 
In größter Bedeutung aber entwickelte ſich dies Ver— 
hältniß, als Friedrich der Große gleich in den erſten 
Jahren durch die Gewalt ſeiner ſiegreichen Waffen das 
Herzogthum Schleſien eroberte, und dieſes Land an 
jener allgemeinen Duldung und Gewiſſensfreiheit Theil 
nehmen konnte. Wo bisher die reichsgeſetzlich aner— 
kannten Lutheriſchen und Reformirten in ſtetem Nach— 
theil gegen die herrſchende katholiſche Kirche und Re— 
gierung gerungen hatten, da fand ſich plötzlich jede bis— 
her verfolgte und auch von jenen angefochtene Glau— 
bensart erleichtert oder befreit, und aller Orten ath— 
meten die langgehemmten Geſinnungen auf. Unver— 
hohlen bekannten jetzt Einzelne und Gemeinden die 
Eigengeſtalt ihrer Frömmigkeit, mähriſche Brüder offen— 
barten ſich zahlreich, eben ſo unter den Erweckten viele, 
die ſich ihnen zuneigten, auch kamen ſtarke Auswande— 
rungen neuerdings aus Mähren. In Burau bei dem 
Grafen von Promnitz, in Ober-Peile bei Julius von 
Seidlitz, in Großkrauſcha, in Rösnitz, und andern Orten 
21 * 


ed 324 .. 


Schleſiens, waren Sammelſtellen der Brüder, und mit 
großem Eifer nutzten ſie den neuen Zuſtand, und ſuch— 
ten ſich deſſelben zu verſichern. Ihre Abgeordneten 
fanden in Berlin gutes Gehör, und erlangten nicht nur 
völlige Religionsfreiheit in allen Königlichen Landen, 
ſondern auch die Gunſt, in geiſtlichen und Kirchenſachen 
keinem Konſiſtorium, ſondern unter dem Schutze des 
Königs bloß ihren Biſchöfen untergeben zu ſein. In 
Berlin, Stettin, und ſelbſt im Fürſtenthum Neufchatel 
zu Montmirail, that ſich hierauf die Brüderſache ſtär— 
ker hervor; den ſtärkſten Schwung aber nahm ſie in 
Schleſien. Nicht zufrieden mit der allgemeinen Er— 
laubniß, forderte man hier meiſt auch für jeden be— 
ſtimmten Fall noch gern eine beſondere, bei der man 
ſich nur um ſo feſter glaubte, und die mehrentheils 
ohne Schwierigkeit erfolgte. Demnach erhoben ſich, 
außer den ſchon genannten, die Brüderorte Gnaden— 
berg, Gnadenfrei und Neuſalz, an welchen letztern Ort, 
weil auf Befehl des Königs auch einer der Biſchöfe 
der Brüder in Schleſien reſidiren ſollte, nachgehends 
der dazu erſehene Polykarpus Müller hinzog, und einen 
Theil des theologiſchen Seminariums und der Erzie— 
hungsanſtalten aus der Wetterau mitbrachte. 

Alles dieſes, mit Eifer und Erfolg und in Berlin 
großentheils unter Mitwirkung des Grafen von Prom— 
nitz betrieben, hatte nun wohl einen glänzenden An— 
ſchein, aber Zinzendorf ſah dieſen Gang mit äußerſter 
Mißbilligung, die er auf der Synode jetzt ausführlich 


f 1 


2 325 G88 


— 


entwickelte. Zuerſt tadelte er ſehr ſtark, daß alle dieſe 
Schritte im Namen der mähriſchen Kirche und aus— 
drücklich für dieſe gethan worden, wodurch die Brüder 
ihr unſtreitiges, und bis dahin behauptetes Gleichrecht 
an beide evangeliſche Religionen, die Lutheriſche und 
reformirte, und ſomit eine ihrer vorzüglichſten Eigen— 
heiten unverwahrt außer Acht gelaſſen. Ferner hielt 
er ihnen vor, daß ſie ihre ſchon längſt ausgeübten und 
anerkannten Rechte aus Unkunde und Uebereilung durch 
Geſuch und Annahme neuer Gewährungen in Frage 
geſtellt und geſchmälert hätten, denn die neuen Aus— 
fertigungen, mit denen ſie ſich ſo viel wußten, lauteten 
ja nicht anders, als ob die Brüderkirche in den bran— 
denburgiſchen Landen erſt von jetzt an geduldet werden 
ſollte, da fie dies ja ſchon über hundert Jahre ſei, und 
zwar ſo ſehr, daß der Königliche Hofprediger und re— 
formirte Theolog Jablonski zugleich Biſchof der Brü— 
der habe ſein können, und beide ganz abweichende Li— 
turgieen über dreißig Jahre ohne Widerſpruch neben— 
einander geführt habe. Dann klagte er ſie arger Ver— 
ſäumniß an, nicht auf's neue ausdrücklich ihre Ueber— 
einſtimmung mit dem augsburgiſchen Glaubensbekennt— 
niß erklärt, und nicht, ſeinem öftern Beiſpiele nach, 
auf vorgängige Unterſuchung ihrer Kirchenſache gedrun— 
gen zu haben, ehe ſie die Königlichen Gewährungen 
hingenommen; ſollte es nicht ferner ihre Meinung ſein, 
feſt an der Lehre des augsburgiſchen Bekenntniſſes, 
welche keine andre als die der heiligen Schrift ſei, zu 


8 326 > 


halten, fo müßte er ſich dem Dienſte der Brüderge— 
meinden ganz entziehen, läge aber eine Nachläſſigkeit 
zum Grunde, ſo möchten ſie bedenken, welch leichtes 
und ihnen ſelbſt höchſt verderbliches Spiel ſie ihren 
Gegnern bereitet hätten, welche dieſen Stand der Sachen 
ſchrecklich mißbrauchen könnten, um alles anzugreifen, 
was die Brüder bisher behauptet, wie denn ſchon ein 
Beiſpiel vorgekommen, daß einem ihrer Prediger, der 
als Lutheriſch vorher keine Schwierigkeiten gefunden, 
jetzt die Kanzel in Lutheriſchen Kirchen aus dem Vor— 
wande verſagt worden, daß die Brüder nun eine pri— 
vilegirte beſondre Religionsübung hätten; unverant— 
wortlich ſei der Leichtſinn, mit dem ſie ihr wahres Ver— 
hältniß verkannt und preisgegeben, den feſten Boden, 
worauf ſie gegründet, ohne Noth verlaſſen, um ſich auf 
unſichren und zweifelhaften zu bewegen, der unter ihnen 
einzubrechen drohe, und ſo das Ganze ihrer Sache, 
unter ſcheinbarer Förderung, nur in Verwirrung und 
Gefahr gebracht hätten. 

Die rückhaltloſe Sirenge, mit welcher Zinzendorf 
ſeine volle Meinung unumwunden vortrug, hatte bei 
aller Eindringlichkeit nichts Verletzendes; ſo ſtark er 
auf die Sache hielt, ſo gelaſſen, mild und nachgiebig 
ſtellte er alles Perſönliche, weder gab er den Andern 
unreine Triebfedern ſchuld, noch konnte man ihm ſolche 
beimeſſen; in Liebe und Vertrauen wurde das Geſche— 
hene bſp chen, als ein Uebel, das gemeinſam zu tra— 
gen und dem gemeinſam auch abzuhelfen ſei. Gewiß 


14 


2 327 2 


iſt es ſehr zu verwundern und ein hohes Zeugniß der 
Aechtheit im Karakter des Grafen, daß in ſo großer 
und langdauernder Kriſis, da er ſo herbe Unzufrieden— 
heit nicht verhehlte, ſo durchgreifende Rückwirkung ver— 
langte und faſt gebot, und durch ſein Betragen ſo leicht 
den Vorwurf des Ehrgeizes und der Herrſchſucht auf 
ſich ziehen konnte, doch nie der liebevolle Bruderſinn 
und die herzliche Innigkeit geſtört wurde, auf welche 
das ganze Verhältniß urſprünglich gegründet war. Auch 
drang er mit ſeinen Vorſtellungen vollſtändig durch; 
man erkannte die Wahrheit derſelben nach fruchtloſem 
Widerſtreben endlich an, und mußte wohl einfehen, daß 
nichts Klügeres zu thun ſei, als die ganze Angelegen— 
heit ſeinen Händen zu übergeben. Er empfing mit vier 
andern Brüdern von der Synode eine Vollmacht, alles 
noch Thunliche in Berlin und in Schleſien nach beſter 
Einſicht anzuordnen und abzumachen. 

Von der Synode aus beſuchte Zinzendorf ſeine 
Schwägerin, die Gräfin Benigna von Reuß in Pottiga, 
und ging dann nach Ebersdorf, wo er einige öffentliche 
Reden hielt. Inzwiſchen war David Nitſchmann nach 
Berlin vorausgegangen, und nachdem er dem vorlie— 
genden Geſchäfte den Weg gebahnt, folgte Zinzendorf 
mit Gattin und Sohn und den drei übrigen Mitbe— 
vollmächtigten nach, und kam den 21. Juli daſelbſt an. 
Er hatte ſchon vorläufig an den preußiſchen Staats— 
miniſter von Cocceji, welcher mit der Brüderſache beauf— 
tragt war, ſeinen Wunſch geſchrieben, daß bis zum Aus— 


ed 328 S 


gange der Synode alles ruhen möchte; jetzt richtete er 
eine ausführliche Denkſchrift an den König ſelbſt, worin 
er das Verhandelte darlegte, mehrere neuerlich erho— 
bene Beſchuldigungen abwies, und in Betreff der Ueber— 
einftimmung der Brüder mit dem augsburgiſchen Be— 
kenntniſſe dringend um gründliche Unterſuchung bat. 
Allein man fand dieſe nicht nöthig, beſonders da Zin— 
zendorf perſönlich eine Prüfung in Berlin ſchon be— 
ſtanden hatte, und nach dem Sinne des Königs wären 
die Brüder, hätten ſie auch von jenem Bekenntniſſe 
ganz abweichend ſich erwieſen, nicht weniger alles 
Schutzes werth und theilhaft geblieben. Die Bemü— 
hungen des Grafen, daß die Brüder, anſtatt ihren 
Biſchöfen, mit vorbehaltener Verfaſſung und freier 
Wahl ihrer Lehrer dem Lutheriſchen Konſiſtorium un— 
tergeben würden, fanden nicht nur bei der preußiſchen 
Staatsbehörde keinen Eingang, ſondern auch bei den 
ſchleſiſchen Gottesgelehrten nicht, welche den Brüdern 
abgeneigt und von deren Uebereinſtimmung mit der 
augsburgiſchen Lehre nicht überzeugt waren, und daher, 
ſchon künftige Feindſeligkeiten ſinnend, keine nähere 
Verbindung mit ihnen wollten. Weil auf die Mei— 
nung dieſer Gottesgelehrten das kurz vorher erſchienene 
Bedenken des halliſchen Profeſſors Baumgarten, wel— 
cher die Angehörigkeit der Brüder zur evangeliſchen 
Kirche gegen den bejahenden Ausſpruch der tübingiſchen 
Fakultät gradezu verneinte, beſonders eingewirkt zu 
haben ſchien, ſo machte Zinzendorf, unermüdlich wie er 


e 329 3 


war, ſich gleich daran, jene Schrift zu widerlegen, und 
gab unter dem Namen Siegfried eine Beleuchtung des 
Baumgartenſchen Urtheils heraus, welche zwar die 
Freunde beſtärkte, aber die Widerſacher nicht herum— 
wandte. Hatte nun in dem Kampfe der beiden wirk— 
ſam gewordenen Behandlungsarten, — der einen, nach 
der die Brüderſache als etwas Beſondres und Selbſt— 
ſtändiges durch neue Rechtsverleihungen Boden und 
Sicherheit gewinnen wollte; der andern, wonach ſie 
dem Altbeſtehenden eingeſchoben nur in und mit die- 
ſem berechtigt ſein ſollte, — Zinzendorf auf der Synode 
auch für die letztere geſiegt, ſo blieb doch, nachdem die 
preußiſche Regierung mit zuſtimmendem Eifer der Brü— 
der in die erſtere ſo weit eingegangen, das Bemühen 
einer völligen Umlenkung nun fruchtlos, die Sachen 
waren ſchon zu weit gediehen, und man mußte ſich der 
denn doch unläugbaren Vortheile getröſten, welche ſich 
auf dem andern Wege wirklich ergeben hatten. Zin— 
zendorf aber beſtand darum nicht minder auf ſeinem 
erklärten Grundſatz, und that allem dawider Gehenden 
eifrigſt Einhalt; ſo gelang es ihm noch zuletzt in Ber— 
lin, als die preußiſche Regierung, welche ihrem Geiſte 
nach mehr die allgemeine Glaubensfreiheit, als irgend 
eine Rechtgläubigkeit, im Sinne hatte, zu Gunſten der 
Brüder eine Anzeige bei dem evangeliſchen Körper am 
Reichstage machen wollte, dieſen höchſt verfänglichen 
Schritt durch die Bemerkung, daß die Brüder im rö— 
miſchen Reiche als Mitbekenner des augsburgiſchen Be— 


D 330 33 


kenntniſſes ſchon völlig angenommen, zu hintertreiben, 
und an deſſen Stelle den Vorſchlag einzulegen, daß 
Preußen mit den andern evangeliſchen Reichsſtänden 
lieber darauf hinwirken möchte, den Schwarm von 
Läſterſchriften zu hemmen, durch welche die Brünn 
öffentlich verläumdet würden. 


Zinzendorf reiſte von Berlin am 8. Auguſt nach 
Schleſien ab, um die dortigen neuen Gemeinden einzu— 
richten, für welches Geſchäft er von den Brüdern be— 
vollmächtigt und durch ein Königliches Schreiben an 
die Regierungen zu Breslau und Glogau des Beiſtan— 
des dieſer Behörden verſichert war. An der Gränze 
der Lauſitz, auf dem Schloſſe des Grafen von Prom— 
nitz in Burau, welchen Ort er Gnadeck nannte, nahm 
er ſeinen Aufenthalt, hielt Erbauungen und Predigten, 
arbeitete Schriften und Liturgieen aus, betrieb die ihm 
obliegenden kirchlichen und weltlichen Geſchäfte, und 
bereiſte deßhalb auch die Orte Schleſiens, wo ſich Brü— 
der niedergelaſſen hatten. Die Nähe von Herrnhut 
gab Gelegenheit, mit dieſer geliebten Gemeinde, welche 
zu beſuchen ihm nicht erlaubt war, den lebhafteſten 
Verkehr anzuknüpfen. Die Brüder und Schweſtern 
kamen, je nachdem er ſie bezeichnete, abtheilungsweiſe 
nach Burau, wo zu ihrer Aufnahme weder Raum noch 
Bewirthung fehlte, und nahmen Theil an den frommen 
Uebungen wie an den geſellſchaftlichen Berathungen. 
Auswanderer aus Mähren kamen an, wurden beſprochen, 


N 


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DB 331 3-2 


angeleitet und untergebracht; hingegen eine Anzahl Ehe— 
paare, welche nach Nordamerika zu reiſen entſchloſſen 
waren, nach dieſer Beſtimmung abgefertigt. Weil ſich 
der Dienſt der Brüderkirche durch deren ſtarken An— 
wachs täglich vermehrte, wurden Friedrich von Watte— 
ville und ſpäter Johannes Langguth, von welchem noch 
ferner die Rede ſein wird, zu Biſchöfen erwählt. Kaum 
waren hier die Sachen nur auf leidlichen Fuß gebracht, 
als Zinzendorf's Gedanken auch ſchon wieder neue Thä— 
tigkeit in der Ferne ſuchten. Ihn ſchmerzte, daß ſeine 
Gemahlin ſo ungünſtig in Rußland gewirkt hatte, und 
nach ihrer Abreiſe nur nachtheilige Eindrücke dort ge— 
blieben waren; dies alles wieder auszugleichen fühlte 
er ſich unwiderſtehlich angereizt. Eine ſeinen bisherigen 
ganz entgegengeſetzte Aufgabe war ihm dort geſtellt; 
liefländiſche Geiſtliche hatten in die Lutheriſche Kirche 
die mähriſche Kirchenzucht einführen wollen, und ihr 
gewaltſamer, von den Brüdern unbedacht unterſtützter 
Eifer, der ſelbſt eine Kaiſerliche Kommiſſion nöthig ge— 
macht hatte, mußte mißbilligt, das Angefangene rück— 
gängig gemacht werden. Inzwiſchen konnte dem Gra— 
fen bei ſeinem Vorhaben nicht entgehen, welchen Ge— 
fahren er die Brüderſache durch ſeine neue Entfernung 
preisgab. Gewarnt durch das, was ſich während ſei— 
ner Abweſenheit im vorigen Jahre zugetragen, nahm 
er diesmal ſeine Vorkehrungen nur deſto ſorgſamer. 
Schon hatte er ein Schreiben an alle Brüder gerichtet, 
worin er nachdrücklich darauf drang, daß aller Orten 


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auf die Grundideen gehalten würde, befonders in den— 
jenigen Bezügen des inneren Verkehrs, welche die Lei— 
tung des geſellſchaftlichen Ganzen betrafen; er verhehlte 
nicht, daß hievon abhängen würde, ob er der Gemeinde 
ferner dienen ſolle. Jetzt erließ er einen neuen Brief, 
worin er verlangte, ſeines Vorſteheramtes und aller 
Verantwortung entbunden, oder durch eine neue Voll— 
macht in Stand geſetzt zu werden, allem Unzeitigen 
oder Schädlichen, was in der Gemeinde unternommen 
werden möchte, mit Nachdruck zu begegnen, und alles 
dagegen, was er für nützlich und nöthig halten würde, 
gehörig auszuführen. Sein Anſehn war ſo vollkommen 
hergeſtellt, daß ohne irgend einen Widerſpruch, mit 
größten Lobreden und gänzlichem Vertrauen, ihm ſein 
Vorſteheramt beſtätigt, ſein Vorwiſſen und Gutfinden 
zu allen wichtigen Dingen für unentbehrlich erklärt, 
und ihm ſogar überlaſſen wurde, ſeinen Nachfolger in 
dieſem Amte ſelber zu ernennen. So ausgerüſtet und 
ſichergeſtellt, doch ohne ſich noch zu äußern, wiefern er 
ſich gebunden achten wolle, trat er in Begleitung ſei— 
nes Sohnes und einiger Brüder ſeine Reiſe nach Ruß— 
land an, und kam den 23. Dezember wohlbehalten 
nach Riga. 

Hier aber, als er bei dem Feldmarſchall Grafen 
Lascy, dem er ſchon von unterwegs ſein Vorhaben 
ſchriftlich gemeldet hatte, um Päſſe zur Weiterreiſe 
nach Sankt- Petersburg anhalten ließ, wurden nicht 
nur dieſe verweigert, ſondern auch er ſelbſt und ſeine 


8 333 92 


Begleiter auf die Feſtung in Verhaft gebracht, wo man 
ſie zwar ſchonend und freundlich behandelte, doch aber 
ihre Papiere wegnahm und mit dem Bericht über den 
ganzen Vorgang zur Unterſuchung nach Sankt-Peters— 
burg mitfandte. Zinzendorf ſchrieb aus dieſem Ver— 
haft ausführlich an die ruſſiſche Kaiſerin Eliſabeth, in— 
dem er ſeine Abſichten darlegte, ſein Benehmen recht— 
fertigte, und um gründliche Unterſuchung aller mit ihm 
zuſammengehörigen Verhältniſſe bat. Auch an feine 
Gemahlin durfte er ſchreiben, und er meldete ihr, daß 
es ihm wohlginge, daß er auf den Heiland vertraue, 
und alle beſte Hoffnung habe; er ſagte am Schluſſe: 
„Ich habe mein Lebtage zu nichts weniger Inklination 
gehabt, als zu Arreſten, da es nun aber dazu kommt, 
iſt mirs recht. Ich kann weiter nichts ſagen, als was 
ich dir ſchon ehmals geſagt habe: Wenn ich nicht da 
bin, ſo ſei du ganz da, und thue meine Treue doppelt.“ 
Die Antwort aus Sankt-Petersburg kam ohne Zögern, 
man hatte dort weder Sinn noch Zeit, in dergleichen 
Angelegenheiten unterſuchend einzugehen, und nahm den 
kürzeſten und förderlichſten Ausweg, den Grafen des 
Weges, den er gekommen, ohne weiteres zurückzuſchicken. 
Als ihm dies angezeigt und er bedeutet wurde, daß er 
nun ohne Säumen abzureiſen habe, betrübte ihn ſehr, 
daß keine Unterſuchung Statt finden ſollte, und er bat 
um einigen Aufſchub, weil er noch eine Aenderung des 
Befehls von Sankt- Petersburg nachträglich ankommen 
zu ſehen hoffte, allein die Friſt wurde nicht bewilligt, 


iD 334 8 


und er mußte am 12. Januar 1744 unter militairiſcher 
Begleitung, die ihn erſt an der preußiſchen Gränze 
verließ, die Rückreiſe antreten. Seine in Rußland ge— 
ſcheiterten Erwartungen ſuchten ſich in Königsberg eini- 
germaßen ſchadlos zu halten, indem er bei der theolo— 
giſchen Fakultät daſelbſt auf Unterſuchung ſeines Grun— 
des und ſeiner Handlungen antrug; ſein eiliges Drin— 
gen erlangte auch ſchnell genug Antwort, allein ableh— 
nende, und ſelbſt ſein Begehren, mit einem oder dem 
andern Fakultätsmitgliede ein theologiſches Geſprach 
über die Gemeinſchaft der ſeit dem Jahre 1724 neu 
hervorgetretenen mähriſchen Brüder mit der Lutheriſchen 
Kirche zu halten, fand keinen Eingang, und unverrich— 
teter Dinge ſetzte er ſeine Reiſe nach Berlin fort. Da 
er jedoch ganz darauf verſeſſen war, dieſe Gemeinſchaft 
zu erweiſen und anerkannt zu ſehen, wozu er die Leute, 
ſobald ſie ſich nur auf die Sache einließen, zwingen zu 
können meinte, ſo entwarf er noch ſpäterhin eine Reihe 
von Fragen, deren Beantwortung den Gottesgelehrten 
in Königsberg durch die höchſte Behörde in Berlin be— 
ſtimmt abgefordert werden ſollte, worauf aber eben ſo 
wenig geachtet worden iſt. In Berlin blieb er nicht 
lange, ſondern begab ſich nach Burau, wohin von Herrn- 
hut feine Gemahlin und feine älteſte Tochter, nebft 
mehreren Brüdern und Schweſtern, zu feinem Em— 
pfange gekommen waren. Gleich an demſelben Tage 
traf die Nachricht ein, daß der Graf von Promnitz in 
Erbach, wo er ſich grade aufhielt, nach einem gottſeli— 


| 


b 335 a 


gen Abſchied aus der Zeit gegangen ſei, wodurch in— 
zwiſchen den Verhältniſſen in Burau keine Verände- 
rung gekommen ſcheint. Zinzendorf drückte ſeine Em— 
pfindungen bei dieſem Todesfall in einer Ode aus, 
worin er das Thema des mit vornehmem Stande ver 
knüpfbaren frommen Berufs in ſehr fließenden Reim— 
zeilen, aber höchſt proſaiſcher Redeſtellung, ſeltſam er— 
örternd abhandelt. So heißt es unter andern, nach— 
dem er ſein Mißtrauen gegen die Frömmigkeit der 
Vornehmen angedeutet: 

„Nicht, daß mir die Adelſchaft 

Dieſer Erd' und ihrer Ehre 

Gräulich wäre, 

Oder ich mich gegen Herrn 

Wollte ſperrn, 

Nein! in Wahrheit, wenn ſie wiſſen, 

Wie ſich Herren halten müſſen, 

Hab' ich ſie von Herzen gern.“ 


Weiterhin wird von dem Abgeſchiedenen wohl geſagt; 
„O wie drückte ihn ſein Stand! 
Und er war ihm doch nicht ſchädlich, 
Sondern räthlich. 
Seine anvertraute Leut 
Zeugen's heut: 
Herr zu heißen hoc respectu, 
Da man Herr iſt cum effectu, 
Das iſt keine Eitelkeit.“ 


Allein die früheren Bedenklichkeiten, welche anfangs 


2 336 33 


auch gegen Promnitz gehegt waren, werden im Allge— 
meinen doch feſtgehalten: 

„Aber mit dem Zeugenſtab 

Nach Regentenſtäben greifen, 9 

Arbeit häufen, 

Die man nicht beſtreiten kann 

Ohne Bann, 

Das iſt weder kompatibel 

Mit der Lehre in ver Bibel, 


Noch mit einem klugen Mann.“ 


Nach einer Beſichtigungsreiſe in Schleſien, und 
einem zweimaligen kurzen Beſuch in Herrnhut und 
Bertholdsdorf, wohin, bei noch beſtehendem, aber von 
der ſächſiſchen Behörde ſchon minder ſtreng angeſehenem 
Verbot, ihn das Herz unwiderſtehlich gezogen, und nach— 
dem er fruchtlos noch ſtets dahin gearbeitet, die Brü— 
der mit dem Lutheriſchen Konſiſtorium in das gewünſchte 
Verhältniß zu bringen, in dieſen Bemühungen aber nur 
ſteigende Widerſpenſtigkeit erfahren, ſchickte er ſich an, 
dieſe Gegenden zu verlaſſen und wieder nach der Wet— 
terau zu ziehen. Er traf den 1. Mai zu Marienborn 
ein, wohin ſeine Pilgergemeinde ihm theils vorausge— 
gangen war, theils nachfolgte, und bald auch ſeine 
ganze Familie ſich verſammelt hatte. Die Pfandſchaft 
des Schloſſes ließ er, in Folge einer mit Beuning ge— 
pflogenen Unterhandlung, auf ſich übertragen, und rich— 
tete ſich daſelbſt völlig zum Bleiben ein. Hier dräng— 
ten ſich nun wieder die Arbeiten und Gefchäfte von 


ed 337 8. 


allen Seiten. Er übernahm jetzt ausdrücklich den Be— 
ruf eines vollmächtigen Dieners der Brüderkirche, wor— 
über er ſich bis dahin nur bedingt erklärt hatte, und 
die geiſtlichen und weltlichen Angelegenheiten aller Ge— 
meinden, Anſtalten und Miſſionen floſſen in ſeiner Hand 
zuſammen; da hiebei ſeine innere Beſchäftigung mit 
religiböſen Gegenſtänden, fein Umgang mit dem Hei— 
land, ſeine Erbauungen und Predigten, ſeine Sorgſam— 
keit fur den Gang jeder Abtheilung, ja für den See— 
lenzuſtand jedes Einzelnen, im geringſten nicht abnahm, 
und dazwiſchen Synoden, Streitigkeiten und andre Vor— 
gänge ſeine Zeit oft ausſchließlich anſprachen, ſo wurde 
das Bedürfniß eines vermehrten Beiſtandes täglich grö— 
ßer, und er ſuchte dieſen ganz natürlich in ſeinen Näch— 
ſten und Vertrauteſten. Der Gräfin verblieb die Sorge 
für das Hausweſen, welches, bei dem fortwährenden 
Ab- und Zufluſſe von Pilgern und Gäſten aller Art, 
einer großen Freiherberge glich. Für die Gemeinde 
ſachen wurde der Aelteſtin Anna Nitſchmann ihre Nichte 
beigegeben, und beide blieben, als die zuverläſſigſten 
Gehülfinnen für alles die Schweſtern Betreffende, fortan 
ſtets um den Grafen; ſein Sohn Chriſtian Renatus 
erhielt das Amt eines Mitälteſten der ledigen Brüder; 
ſeine Tochter Benigna wurde Vorſteherin bei der Ge— 
meinde in Herrnhaag; Langguth, welchen Friedrich von 
Watteville dem Verhältniſſe zu Liebe, das zwiſchen die— 
ſem jungen Mann und der Gräfin Benigna wünfchens- 
werth erſchien, förmlich zum Sohn annahm, wurde als 
Biographiſche Denkmale. V. . 22 


> 338 88 


nächſter Mitarbeiter des Grafen beſtellt. Zum Theil 
mußte auch dieſer ſein Biſchofsamt, ungeachtet er daſ— 
ſelbe längſt niedergelegt, wieder für einzelne Thätig— 
keiten aufnehmen. Da für alle dieſe Verhältniſſe keine 
Benennung ausſchließlich angemeſſen ſein wollte, und 
doch eine allgemein brauchbare nöthig ſchien, ſo fing 
Zinzendorf in dieſer Zeit an, ſich den Ordinarius der 
Brüder zu nennen, eine Bezeichnung, welche mancherlei 
ſchicklichen Sinn vereinigte, ohne mit den ſchon gang— 
baren beſtimmten Bedeutungen völlig zuſammen zu fal— 
len. Dieſer Name verblieb ihm bis an ſein Ende. 
Um jeden Anſtoß, welchen ſein Grafenſtand noch geben 
konnte, zu entfernen, ging er mit Ernſt darauf aus, 


ihn, wie früher in Amerika, nun auch in Deutſchland 


abzulegen, und reiſte deßhalb nach Wetzlar, um eine 
Urkunde darüber auszuſtellen; allein der Reichskammer— 
richter Graf von Virmond brachte ihn von dem Vor— 


ſatz ab, indem er ihm die wichtigſten Gegengründe und 
beſonders die Verwirrung und die Widerſprüche vor⸗ 


hielt, welche ſein Beiſpiel anſtiften würde, wenn daſſelbe 


für Andre als Anforderung zur Nachfolge erſcheinen 


ſollte, wodurch zahlloſe Verhältniſſe beunruhigt werden 
müßten. 


ſogenannten Tropen oder Richtungen in dem Brüder— 


Eine Hauptſorge blieb nun die Befeſtigung der | 


verein, deren Erhaltung und Ausbildung ihm ungemein 


am Herzen lag, denn er ſah darin eine Bewahrung ge— 
gen vieles Uebel und einen ſichern Gewinn großer Vor— 


* 


be 339 3. 


theile. Er fand zwar eine merkliche Verſchiedenheit 
unter den Brüdern, indem die eigentlichen Mähren ſteif 
an den Bibelworten feſthielten, die Reformirten genau 
forſchten und faſt ängſtlich im Ausdruck waren, die 
Lutheriſchen hingegen eher zu getroſt und muthig her— 
vortraten, allein dieſe Verſchiedenheit konnte in der 
Gemeinde ganz gut erhalten werden, ohne deren Ein— 
heit zu gefährden. Dieſen Gegenſtand vorzüglich bear— 
beitete er auf einer Synode, die zu Marienborn vom 
12. Mai bis 15. Juni gehalten wurde; hier faßte man 
den Beſchluß, daß jedes in die Brüdergemeinde einge— 
tretene Mitglied bei ſeinem urſprünglichen Glauben 
treulich bleiben, dieſer aber in der Gemeinde ſeinen 
eignen Vorſteher oder Biſchof haben ſollte; die Mäh- - 
ren hatten ſchon ihre Biſchöfe, für die Reformirten 
wurde jetzt Watteville als ſolcher eingeſetzt, für die 
Lutheriſchen wünſchte man einen angeſehenen Geiſtlichen 
in Holſtein zu gewinnen, der aber ſich mit Alter und 
Schwachheit entſchuldigte. Mit den Lutheriſchen Geiſt— 


lichen näher zuſammen zu kommen, und ſie zu einer 


gewiſſen Anerkennung zu zwingen, machte Zinzendorf 
in ſeiner unermüdeten Beharrlichkeit auch noch in Er— 
furt einen Verſuch, als er auf einer Reiſe nach Gotha, 
wo er mit dem Herzoge wegen der wieder eingeleite— 
ten Niederlaſſung in Neudietendorf zu ſprechen hatte, 


einige Tage dort ſich aufhielt; allein auch hier wich 


man ſeinem Andringen aus. Später fand noch eine 


zweite Synode in dieſem Jahre zu Marienborn Statt, 


22 * 


— 82340 Be 


auf welcher neben andern Gegenſtänden beſonders auch 
die Reinhaltung der Gemeinde beſprochen wurde, daß 
keine Heuchler in ihr entſtehn, ſondern Seelenführung 
und Lebens wandel ſtets nach der inneren Wahrheit er⸗ 
ſcheinen möchte. 

Jemehr die Brüderſache ſich ausbreitete, jemehr 
ſtiegen damit auch ihre Anfechtungen, und ſie bedurfte 
eines um ſo ſtärkeren Gewichts in ihrem Innern. An 
manchen Orten wurden obrigkeitliche Verordnungen ge— 
gen den Grafen und die Brüder gegeben, andrerſeits 
ſchrieben angeſehene Gottesgelehrte, wie der gelehrte 
und fromme Probſt Bengel, deſſen Erklärung der Offen— 
barung Sankt-Johannis vielen Ruhm hatte, mit großer 
Wirkung in ſolchem Sinn. Zu neuen Anfechtungen 
gab Zinzendorf ſelbſt unaufhörlich den reichſten Anlaß. 
Während ſeine einſichtsvolle, verſtändige und kluge Thä— 


tigkeit den geſellſchaftlichen Zuſtand der Brüder, unter 


Schwierigkeiten aller Art, mit oft ſcheiterndem und doch 
im Ganzen fortſchreitenden Erfolg, leitend, zurücfüh- 
rend, vordringend, zuſammenhaltend, zu behaupten und 
zu fördern ſtrebte, und man ſeine geſammte Kraft da— 
hin geſpannt glauben konnte, blieb ein Theil immer 
noch einer inneren Beſchäftigung zu Dienſt, einem un— 
reifen Erkenntnißgrübeln, einem grillenhaften Phantaſie— 


ſchwunge; dieſen im warmen Gefühle ſeines ächten 


Eifers allzu leichtſinnig vertrauend, konnte er in der 
Einſamkeit, die er neben ſeinem vielen Weltverkehr jetzt 
häufig ſuchte, die abentheuerlichſten Vorſtellungen aus- 


e 341 3 


— 


hecken, wagte die ſeltſamſten Bilder und bedenklichſten 
Lehrſätze. Manches von dem, was wir des Zuſam— 
menhanges wegen ſchon früher angedeutet haben, die 
Wundenlitanei, viele der nicht zu rechtfertigenden Lie— 
der, die willkührlichen Annahmen über die Dreieinigkeit, 
beſonders die Aeußerungen über den heiligen Geiſt, der 
durchaus unter den drei Perſonen als die Mutter ſich 
darſtellen ſollte, entſtand in dieſer Zeit, oder wurde 


doch mehr geſtaltet und ruchtbar. Die Brüder, ſchon 


ganz wieder in ſeiner Leitung, folgten ihm nach dieſer 
Seite nur um ſo leichter, als nicht in ihm allein ſolch 
phantaſtiſcher Trieb ſich regte, und was er vortrug, 
wurde gern gebilligt und geſteigert. Die Lehre von 
dem Mutterthum des heiligen Geiſtes nahm die Synode 
freundlich an, indem die Herzen in ſich unmittelbar von 
dieſer Muttertreue überzeugt wurden. Spangenberg 
ſagt, er könne den Grafen nur bedauern, daß er in 
ſeinen Aeußerungen von der ewigen Gottheit ſo weit 
gegangen, mit ſeinen eignen Grundſätzen, nach welchen 
die Frömmigkeit mehr mit dem Herzen, als mit dem 
Erkennen zu thun habe, im Widerſpruch, und feinen 
Kräften und Gaben, welche auf ſolche tiefeindringende 
Forſchungen nicht geſtellt geweſen, noch weniger gemäß. 
Unglaublich war das Aergerniß, welches die Welt an 
dieſen Bildern und Redensarten nahm, die bald überall 
bekannt wurden; der Lärm, die Feindſchaft und der 
Spott, welche darüber ausbrachen, verurſachten dem 
Grafen unſägliche Beſtürzung und Schmerz; er nahm 


— - 342 2 


o 


zwar fpäter den Ausweg, im Allgemeinen alles zurück— 
zunehmen und zu verdammen, was er in ſolcher Art 
Anſtößiges geäußert, allein im Einzelnen behauptete er 
gleichwohl die Zuläſſigkeit mancher ſolchen Vorſtellung, 
und konnte beſonders von der Mutterſchaft des heiligen 
Geiſtes nie ganz abkommen. Die Seltſamkeit ſeiner 
Ausdrücke, die einſeitige Uebertreibung, in welcher ſein 
Eifer um irgend eines Spruches willen jede andre 
Wahrheit vergeſſen konnte, machten ſeine Vorträge und 
Lieder, welche in der zu Marienborn angelegten Pri— 
vatdruckerei zur ſchnellen Verbreitung unter den Brü— 
dern gedruckt, aber oft noch ſchneller in den Händen 
der Fremden und Gegner geſehen wurden, zum fort— 
dauernden Anlaß des Geſpöttes und Haders; beſonders 
fiel das zärtliche Tändeln auf, in welchem jeder tüch— 
tige Ernſt unterzugehen drohte. Zinzendorf hielt das 
kindliche, innig vergnügte und gleichſam ſpielerliche 
Weſen eines am Heilande hängenden Herzens für eine 
große Seligkeit, und meinte, jeder Menſch habe ſich 
aus ſeiner Kindheit etwas zurückzuholen, etwas Spie— 
lendes, Herzliches, Grades, und man dürfe ſich durch 
den Mißbrauch, der dabei Statt finden könne, eben ſo 
wenig ſtören laſſen kindlich zu ſein, als man wegen des 
Mißbrauchs der Vernunft aufhören dürfe vernünftig 
zu ſein. Allein eben er ſelbſt übte ſolchen Mißbrauch, 
und gab auch Andern den freieſten Anlaß dazu. Per— 
ſonen ſeiner nächſten Umgebung griffen dieſe Richtung 
lebhaft auf, und unterhielten ſich in engerem Verein 


wur 


ere 343 G8 


mit Gedichten auf das Leiden und die Wunden des 
Heilandes; da überbot man ſich in ſonderbaren und 
willkührlichen Bildern, und wußte der Thorheit keine 
Gränze. Es entſtand eine neue theologiſche Sprache, 
eine kauderwelſche Wortſpielerei, nur den Eingeübten 
verſtändlich, aber dem Grafen, welcher der leeren Form 
leicht aus ſeinem Innern einen überſchwellenden Inhalt 
lieh, gar genehm und vertraulich, und er ließ ſich ganz 
und gar zu ihr verführen. 

Was er und ſeine Nächſten thaten, das thaten aber 
auch Andre; die Brüdergemeinde hatte ſeit einiger Zeit 
durch fremden Zudrang ſich außerordentlich vermehrt, 
und wenn auch Zinzendorf dieſen äußeren Anwachs be— 
denklich fand und lieber gehemmt hätte, ſo war doch die 
Sache bereits geſchehen und auch noch immer ſchwer 
zu hindern. Unter den neuen Mitgliedern aber fanden 
ſich ungeprüfte, verworrene und doch nicht unbegabte 
Leute, welche für ihre beſondern Unarten, Schwärme— 
reien und Wunderlichkeiten hier freien Raum hatten, 
und bald auch ältere Mitglieder hineinzogen. Dies ge— 
ſchah um ſo leichter, als die Gemeinde zu Herrnhaag 
in einer Art von Ungebundenheit lebte, wozu der Man— 
gel an Gemeindeſtatuten und die Vernachläſſigung der 
Kirchenzucht nicht wenig beitrug, welche Zinzendorf mit 
Bedacht, weil die Gegner ſie als ein päbſtliches und 
unerträgliches Joch verſchrieen, und weil er die vor— 
waltende Neigung zu ihr dem Lutheriſchen Tropus hin— 
derlich erachtete, allmählig ſehr hatte erſchlaffen laſſen. 


* 


Daraus entſtand nun ein Gewirr der mannigfachften- 


Ketzereien und Ausſchweifungen in Worten und Beneh— 
men. Vieles Unanſtändige, was in dieſer Art vorging, 
blieb dem Grafen längere Zeit verborgen, theils weil 
er ungern perſönliche Anklägereien vernahm, theils weil 
man ſeinen allzu heftigen, bei wirklichen Fehlern nicht 
immer Maß haltenden Eifer ſcheute, oder auch wohl 
ihn ſelbſt dem Irrwege folgen ſah. Endlich aber mußte 
die Sache doch zum Ausbruch kommen; die Ernſterge— 
ſinnten hielten ihren Tadel über die unwürdigen Spie— 
lereien ihrer Brüder nicht länger zurück, die nächſten 
Mitarbeiter des Grafen, und nach und nach faſt die 
ganze Gemeinde, theilten ſich in zwei Partheien, welche 
einander mit Leidenſchaft befehdeten, und ſich wechſel— 
ſeitig verachteten und verdammten. Zinzendorf war ſehr 
erſchrocken, als plötzlich dieſer Zuſtand ſich vor ihm ent— 
hüllte; er ſah mit Unwillen, daß der Weg, welchen er 
gegangen und begünſtigt, über alle Gränzen hinaus ge— 
führt war, und daß er ſelbſt ſolchen Ausſchweifungen 
unwiſſend gedient hatte, aber auch mit Mißvergnügen, 
daß dieſe Verirrungen auf der Gegenſeite mit allzu 


ſtrenger Härte verurtheilt wurden. Seine Neigung konnte 


er der mißbrauchten Richtung doch nicht ganz entziehen, 
am wenigſten vermochte er dasjenige, was er ſelbſt da— 
rin gethan, zu verdammen, und ſo ſchränkte er das Un— 
weſen zwar möglichſt ein, tadelte aber doch am meiſten 
diejenigen, welche darauf ein nach ſeiner Meinung über— 
großes Gewicht legten, und ein ſo ſtrenges Richtamt 


4 


e 345 93 


ausübten. Diefe Partheiung war für den Augenblick 
nicht völlig zu beruhigen, ſondern wogte noch längere 
Zeit fort, bis nach und nach eine maßhaltende Mitte 
ſich verſtärkte, vieles Störende beſeitigte, und der Auf— 
regung allmählig Einhalt that. 

Während dieſer Zerrüttungen ſetzte Zinzendorf alle 
ſonſtigen Arbeiten, die ihm oblagen, gleichmäßig fort, 
und ließ weder in den gewohnten Erbauungen noch in 
irgend einer andern Thätigkeit für die Gemeinde nach. 
An dieſem unermüdeten, täglich in ächter Frömmigkeit 
rein und kräftig erneuten Eifer, an dieſem unauslöſch— 
lichen Feuer und Triebe des Herzens, hing die Erhal— 
tung des Ganzen, welches bei ſeinen inneren Schwan— 
kungen, Kämpfen und Verwirrungen, und bei den äu— 
ßeren Verfolgungen und Gefahren, ohne dieſes frucht— 
bringende Walten des Grafen hundertmal auf dem 
Punkte ſtehen konnte, auseinander zu fallen oder ge— 
ſprengt zu werden. Im Jahre 1745 ſahen die Haupt- 
orte der Brüder auch durch die großen Welthändel ſich 
bedroht; doch blieb jedes größere Unglück günſtig ab- 
gewendet. Herrnhut lag mitten im Schauplatze des 
Krieges, welchen Friedrich der Große abermals gegen 
Oeſterreich und gegen Sachſen zu führen hatte; die 
Fürſorge des wohlwollenden und ſiegreichen Königs 
ſchützte dieſen Ort. Bei Marienborn ſtanden eine Zeit— 
lang die öſterreichiſchen und engliſchen Truppen den 
franzöſiſchen ſchlagfertig gegenüber, allein die Feind— 
ſeligkeiten verzogen ſich, und in allem Wechſel der krie— 


DB 346 83 


geriſchen Bewegungen erhielt die Gemeinde nur fried- 
lichen Beſuch, indem Generale und Offiziere ſich mit 
ihr bekannt zu machen wünſchten, und dann meiſtens 
mit vortheilhaften Eindrücken ſchieden. 

Auf zweien Synoden, welche während dieſer Zeit 
zu Marienborn gehalten wurden, betrieb Zinzendorf 
wieder vor allem die nähere Geſtaltung der Tropen, 
und ſuchte die Brüder mehr und mehr dafür zu ge— 
winnen. Er warnte gegen Dünkel und ſtolze Zuver— 
ſicht auf die Vorzüge ihrer Gemeindeordnung und Kir— 
chenzucht, hielt ihnen vor, daß nicht Liebhaberei für 
ſolche Formen, ſondern nur Gnade, welche ſchon bis 
dahin ſie gebracht habe, ſie auch weiter bringen könne, 
und forderte ſie zu Dank und Demuth auf. Zugleich 
traf er Einrichtungen zur Förderniß der Geſchäfte; nach 
dem Vorbilde der alten Brüderkirche wurden zum Be— 
triebe der äußeren Angelegenheiten, welche für die Bi— 
ſchöfe weniger geeignet ſchienen, zwei bürgerliche Aelteſte 
nebſt zweien Gehülfen ernannt, für geiſtliche Hülfs— 
beſorgungen mehrere Diakonen und Diakoniſſen einge— 
ſegnet, verſchieden von den bisherigen Helfern und Hel— 
ferinnen, und auch von den ſchon beſtehenden, mit Lei- 
tung des Gemeindehaushalts beauftragten Diakonen. 
Die Weihung, welche einzelne Brüder und Schweſtern, 
nach ihrem Wunſche, zu unbedingtem Dienſte des Hei— 
lands und der Gemeinde bisher durch eine ſogenannte 
Konfirmation zu empfangen pflegten, erhielt die Benen— 
nung der Annahme zur Akoluthie, wie die alſo Ge— 


ren 347 c 2. — 


weihten die der Akoluthen. Die mancherlei Zuſtände, 
in welchen die Brüderſache bald hie bald da Nachhülfe 
nöthig hatte, ließen den Grafen nie lange bei demſel— 
ben Geſchäft gleichmäßig ausdauern, ſondern riefen ihn, 
wozu auch ſchon Gewohnheit und Neigung einſtimmten, 
immer auf's neue nach den verſchiedenſten Ländern und 
Orten ab. So reiſte er im Anfange des Jahres 1745 
mit ſeiner Gemahlin nach Holland, wo er ſich mit dem 
reformirten Tropus, für welchen er an Watteville's 
Stelle irgend einen angeſehenen reformirten Prediger 
zum Vorſteher wünſchte, wieder vergebliche Mühe machte, 
die Brüder in Heerendyk beſuchte, deren Verpflanzung 
nach der bei Utrecht von einem holländiſchen Brüder— 
freund angekauften Baronie Zeyſt berathen half, und 
auch für die Miſſionen thätig war. Zu Ende des 
Aprils nach Marienborn zurückgekehrt, fand er wegen 
der Brüdergemeinde in Preußen ernſtliche Schwierig— 
keiten zu verhandeln, wegen deren er im Oktober ſelbſt 
nach Berlin reiſte. Sein Sohn Chriſtian Renatus und 
ſeine Tochter Benigna begleiteten ihn, ſeine Gemahlin 
und Watteville aber kamen von Herrnhut, wohin ſie 
ſchon früher der dortigen Geſchäfte wegen gereiſt wa— 
ren, gleichzeitig daſelbſt an, wo die Mutter Zinzendorfs 
ſie alle freundlich aufnahm, und ſich herzlich der her— 
angewachſenen Enkel freute, deren frühe geiſtliche Rich— 
tung und Thätigkeit ihr ſeltſam und wunderbar genug 
ſein mußte. Er ſpeiſte bei der Königin Mutter; dem 
Könige ſelbſt aber perſönlich zu nahen, war auch dies— 


m 348 Bo 


mal, wie früher, keine Gelegenheit. Einigen Beſchwer— 
den der Brüder wurde durch des Grafen Verwendung 
abgeholfen, wegen des reformirten Tropus wollte ſich 
aber auch hier noch nichts fügen. Ueber Neuſalz, Bu— 
rau und Neudietendorf, wo überall die gewohnten Be— 
ſchäftigungen, Anſprachen und Erbauungen vorgingen, 
kehrte die Pilgerſchaft nach Marienborn zurück, wo ſo— 
gleich wieder eine Synode, hauptſächlich den inneren 
Gemeindegang betreffend, dann das theologiſche Semi— 
narium und andre Anſtalten und Verhältniſſe, neuen 
Drang der Geſchäfte gaben. 

Im April 1746 reiſte Zinzendorf mit ſeinem Pil— 
geranhang wieder nach Holland, um die in ihrer Ver— 
pflanzung von Heerendyk nach Zeyſt nun wirklich be— 
griffenen, aber auf beiden Orten eben deshalb getheilt 
wohnenden Brüder zu beſuchen. Er predigte wieder— 
holt in Heerendyk, feierte ein Feſt der Aufnahme in 
die Gemeinde, und reiſte darauf über Utrecht nach Am— 
ſterdam, wo er ſogleich eine große Gefahr zu beſtehen 
und der Vorſehung die glücklichſte Rettung zu danken 
hatte. Spät abends angelangt legte er ſich um Mitter— 
nacht nieder, und las, wie er pflegte, um fein Gemüth 
von den gehäuften Eindrücken des Tages zu befreien, 
wozu weniges ihm ſchon genügte, vor dem Einſchlafen 
in einem Buche. David Nitſchmann, der mit ihm in 
demſelben Zimmer ſchlief, wachte nach einigen Stunden 
plötzlich auf, ſah den Tiſch und das Bett des Grafen 
in Flammen, ja deſſen Schlafkleider ſchon angebrannt, 


239 349 823. 


G o 


und konnte das Feuer nur eben noch theils mit den 
Händen erſticken, theils mit Waſſer löſchen; er voll— 
brachte dies ſo ſchnell und ſtill, daß Zinzendorf gar 
nicht aufwachte, ſondern ruhig fortſchlief, und erſt am 
Morgen hörte und ſah, was geſchehen war. In Zeyſt 
wurde eine Sonode gehalten, auf welcher der Graf 
nochmals das augsburgiſche Bekenntniß eifrig zur 
Sprache brachte, und die holländiſchen Brüder dahin 
zu vermögen ſuchte, daß ſie insgeſammt demſelben offen 
beipflichteten, allein vergebens, denn der Lehre jenes 
Bekenntniſſes hielt man ſich ohnehin zugethan, mit den 
Lutheriſchen Geiſtlichen aber, aus deren Mitte die hef— 
tigſte Feindſchaft gegen die Brüder überall hervorging, 
wollte man keine nähere Verbindung knüpfen. Das 
Vorſteheramt des Lutheriſchen Tropus übernahm nun, 
damit daſſelbe fürerſt nur in ſichern Händen wäre, Zin— 
zendorf ſelbſt, indem er ſeine Eigenſchaft als Biſchof 
wieder hervorwandte. Wegen des allgemeinen Haus— 
halts wurde vieles berathen, und der Graf, welcher 
auch dieſer Verwaltung, jedoch nicht mit ſonderlichem 
Geſchicke, vorſtand, wünſchte manches geändert; viele 
der Ausgaben, welche für das Ganze der Brüderge— 
meinden geſchahen, floſſen in den Aufwand ein, welchen 
er für ſich und die Seinigen ganz aus eignen Mitteln 
machte; er litt auf ſolche Weiſe beträchtliche Einbuße, 
allein man wußte für jetzt noch keine Abhülfe zu tref— 
fen. In Zeyſt erfolgte auch die eheliche Verbindung 
der Gräfin Benigna mit Johannes von Watteville, eh— 


3m 350 Ss 


mals Langguth genannt; dieſe Heirath war längſt vor— 
bereitet, ſie entſprach den Neigungen und Abſichten aller 
Betheiligten, man hoffte ſegenreiche Wirkungen davon; 
die Standeserhöhung Langguths erleichterte die Sache 
für die weltlichen Meinungen, Zinzendorf aber hatte 
erklärt, daß es für ihn dergleichen nicht erſt bedurft 
hätte. Nach einigem Aufenthalte in Amſterdam, wo 
ihn die Miſſionsſachen viel beſchäftigten, ſeine Haus— 
verſammlungen aber durch übergroßen Zulauf der Menge 
geſtört wurden, reiſte er mit geringer Begleitung, in— 
dem ein zahlreiches durch Gegenwind verſpätetes Ge— 
folge auf einem eigends gemietheten Schiffe nachkam, 
von Helvoetſluys nach England ab, und war den 18. 
Juli in London. 

England war noch im Kriege mit Frankreich be— 
griffen, und wegen der noch nicht gedämpften, zu Gun— 
ſten des vertriebenen Hauſes Stuart gegen das regie— 
rende Haus Hannover gemachten Aufſtandsverſuche in 
großer innerer Bewegung. Die Brüder hatten hin und 
wieder Verdächtigungen erlitten, welche der Umſtand 
beſtärkte, daß ihnen der Eid, welcher gefordert wurde, 
außer dem König Georg habe niemand ein Recht zur 
Krone von England, bedenklich war, beſonders den Miſ— 
ſionaren in Nordamerika, weil ihnen das Leiſten dieſes 
Eides bei den dortigen Anſiedlern alles Vertrauen neh— 
men mußte, indem die Mehrzahl derſelben ſchlechter— 
dings jedes Schwören für Sünde hielt. Zinzendorf 
ſuchte durch ſeine vielfachen Verbindungen dahin zu 


wirfen, daß den Brüdern jener Eid erlaffen würde, 
welches auch in der Folge durch eine Parlamentsakte 
wirklich geſchah. Die beiden Wesley ſuchten abermals 
nähere Vereinigung mit den Brüdern, zu denen auch 
mehrere Methodiſten, da Zinzendorf eine Gemeinſchaft 
beider Verfaſſungen unzuläſſig fand, völlig übertraten. 
Eine Synode, auf welcher das Verhältniß der Brüder 
zur engliſchen Kirche beſprochen wurde, hatte nicht den 
gewünſchten Erfolg; der Erzbiſchof von Canterbury, 
Johann Potter, mit welchem Zinzendorf in freundſchaft— 
lichem Verkehr geblieben war, zeigte günſtige Geſinnun— 
gen, allein die Brüder, welche aus der engliſchen Kirche 
zur Gemeinde gekommen waren, hatten keine Neigung, 
ſich auch an jene noch anzuſchließen. Dagegen lief die 
erfreuliche Nachricht ein, daß der Oberhofprediger Co— 
chius in Berlin, mit Zuſtimmung ſeiner geiſtlichen und 
weltlichen Behörde, nun endlich eingewilligt habe, dem 
reformirten Tropus vorzuſtehen. Zinzendorf verließ 
jetzt England wieder, und kam, nach überſtandenem See— 
ſturm, den 4. November wieder in Helvoetſluys an, 
beſuchte Heerendyf und Zeyſt, wo neuerdings Reden 
und Berathungen Statt fanden, und ging von da nach 
der Wetterau zurück. Aber auch hier war diesmal kurze 
Raſt. Seinem Schwager dem Grafen von Reuß, mit 
dem er in Holland zuſammengetroffen, hatte er das 
Verſprechen gegeben, nach Ebersdorf zu kommen, und 
das vorige Verhältniß mit den dortigen Frommen wie— 
der anzuknüpfen; dies gelang mit Hülfe des Hofpredi— 


— 352 822 


gers Steinhofer vollkommen, und nach einem kurzen, 
mit Arbeiten und Andachten erfüllten Aufenthalt, kehrte 
er ſehr befriedigt, im Dezember, abermals nach der 
Wetterau zurück. 

Hier hatte ſich indeß für die Verhältniſſe, welche 
mühſam genug ihre Laſt im Innern trugen, nun auch . 
von außen ſchwieriges Ungemach entwickelt; und zwar 
aus dem Gedeihen und Vortheil ſelbſt, in welchem . 
Sachen erſchienen, ſollte dieſe Gegenwirkung hervorge- 
hen. Die Geldmacht, welche bei Stiftung des Herrn— 
haags thätig geweſen, hatte der Niederlaſſung falſche 
Grundlagen zugemiſcht; anftatt ſich im Kreiſe der rei— 
nen Geſinnung abzuſchließen, welche hier alleinige Trieb— 
feder bleiben mußte, war man auf einen Boden hin— 
ausgeſchritten, welcher wenigſtens für den andern Theil 
die Beziehungen der Herrſchaft und des Eigennutzes 
aufregte. Die großen Geldvorſchüſſe, welche der Reich— 
thum der holländiſchen Freunde für die Brüderſache 
dargeboten, zwiſchen den Häuſern Yfenburg- Büdingen 
und Iſenburg-Meerholz getheilt, waren zwiſchen beiden 
ein Gegenſtand des Neides und der Eiferſucht, jedes 
dankte es den Brüdern übel, daß ſie ſich auch mit dem 
andern eingelaſſen hatten; für jene Summen waren 
mit dem Boden zugleich bedeutende Stücke der obrig— 
keitlichen Gewalt verpfändet, und es machte Verdruß, 
ſo weſentliche herrſchaftliche Rechte nun von Fremden 
ausgeübt zu ſehen. Die Niederlaſſungen zu Herrnhaag 
und Leuſtadt gediehen zuſehends, und dehnten ſich mehr 


j 
I 


8 353 En 


und mehr in der Umgegend aus; viele reiche Leute aus 


Holland, England und der Schweiz wurden angezogen; 


in den Kinderanſtalten allein befanden ſich ſechshundert 
Kinder, großentheils von auswärtigen Aeltern; Ver— 
kehr und Gewerbe blühten. Beſonders glaubte das 
Haus Büdingen ſich unter dieſen Umſtänden verkürzt, 
die Brüder in zu großem Vortheil, die geſchloſſenen 
Uebereinkünfte irrig. Nun fehlte es nicht an Gegnern 
aller Art, welche das herrnhutiſche Weſen als abſcheu— 
lich und gottlos verdammten, und es unverantwortlich 
finden wollten, daß ein ſolcher Staat im Staate, wie 
die Brüder durch Aneignung jener obrigkeitlichen Rechte 
nun wirklich bilden ſollten, geduldet würde. Dies er— 
griffen die büdingiſchen Behörden begierig, ſie verſuch— 
ten Beſchränkungen jener Rechte, oder beſtritten deren 
Ausübung ganz, machten dagegen neue Forderungen, 
und es entſtand das widerwärtigſte Verhältniß, in wel— 
chem die Brüder nicht ausharren konnten. Der Kampf 
war lebhaft auf beiden Seiten, und man glaubte auf 
beiden Seiten Recht zu haben. Zinzendorf hatte an 
jenen Uebereinkünften wenig Theil genommen, vieles 
darin ſogar ganz mißbilligt, allein zur Vermittlung der 
Streitigkeiten, welche ſich daraus erhoben, wollte er 
ſeine Hand gern bieten. Auf das Verlangen von Bü— 
dingen übernahm er die Vermittlung förmlich, allein 
verdarb es bald mit beiden Theilen. Sein Anerbieten, 
Leuſtadt oder ein andres peichsfreies Gut, für eine au— 
ßerordentlich hohe Summe zu kaufen, erregte in Bü— 
Biographiſche Denkmale. V. 23 


ran 354 


dingen neuen Argwohn, bei den Brüdern den ſtärkſten 
Tadel einer unbefugten Freigebigkeit, wobei ſie zu 
Grunde gehen würden. Die Verhandlungen wurden 
durch ſich ſelbſt und durch begleitendes Thatwirken nur 
ſtets herber, und zogen ſich in die Länge mit düſtrer 
Ausſicht; einſtweilen wurde die Pfandſchaft von der 
einen Seite nicht mehr gehalten, von der andern kün— 
digte Beuning ſeine dargeliehene Summe von 150,000 
Gulden dem Hauſe Büdingen. Mit Anfang des Jah— 
res 1747 gab Zinzendorf ſeine Wohnung in Marien— 
born auf, wegen deſſen Verpfändung der Graf von 
Meerholz ihm auch Verdrießlichkeiten machte, und zog 
nach dem Herrnhaag, wo er ſich ein Haus mit einem 
Gemeindeſaal hatte erbauen laſſen, dagegen verlegte er 
die Mädchenanſtalt nach Marienborn und das Semi— 
narium nach Lindheim. Seine Arbeit in der Gemeinde 
war jetzt nur noch unermüdeter, und keine äußerlichen 
Geſchäfte konnten ihn darin ſtören. Durch Predigten, 
Anreden, einzelne Beſprechungen, wirkte er bald öffent— 
lich, bald vertraulich, mit größtem Zudrang von Brü— 
dern und Fremden. Unter den Fremden, welche nach 
Herrnhaag kamen, war auch ſein alter Freund Nikolaus 
von Watteville, den er in Paris gekannt, und den er 
ſich herzlich freute wiederzuſehn. Sein Schwager Graf 
von Reuß, jetzt völlig der Brüdergemeinde angehörig, 
ſtarb während ſeines erneuten Beſuchs in Herrnhaag, 
und hinterließ einen Sohn, der ſpäter mit des Grafen 
von Promnitz hinterlaſſener Tochter vermählt wurde, 


am 355 Ba 


indem der Zweck, dieſe bedeutenden Namen und Ver— 
hältniſſe durch ihre Vereinigung den Brüdern nur um 
ſo feſter zu erhalten, den Abſichten der Vorſehung ſelbſt 
nur gemäß dünken konnte. i 
Auf einer Synode, die vom 12. Mai bis zum 14. 
Juni dauerte, wurden an die Stelle des Biſchofs Po— 
lykarpus Müller, der eben verſtorben war, zwei neue 
gewählt, Johannes von Watteville und Leonhard Dober, 
überdies dreißig Diakonen und Diakoniſſen und zwei— 
hundert Akoluthen ernannt. Für den Lutheriſchen Tro— 
pus bewies Zinzendorf unausgeſetzt den größten Eifer, 
und bemühte ſich wegen öffentlicher Anerkennung des 
Glaubensbekenntniſſes der Brüder als eines mit dem 
augsburgiſchen übereinſtimmenden abermals fruchtlos 
bei dem würtembergiſchen Oberkonſiſtorium, welches die 
Entſcheidung der Sache höflich ablehnte. Die Parthei— 
ung unter den Brüdern dauerte übrigens fort, und es 
erforderte große Sorgfalt, die ſtreitigen Anſichten, welche 
zum Vorſchein kamen, in kampfloſem Gleichgewicht zu 
halten. Zinzendorf bemühte ſich zwar, einige ausſchwei— 
fende Vorſtellungsarten und Ausdrucksweiſen zu be— 
ſchränken, allein hiezu ſtrengere Maßregeln anzuwenden 
hielt er für unſtatthaft, wie er denn in dieſer Zeit 
überhaupt aller Kirchenzucht abhold war, und ſich dahin 
äußerte, der Gemeindegehorſam ſei eine Seligkeit, und 
brauche nicht erſt vorgeſchrieben zu werden, ſo lange 
das Herz des Menſchen mit den Grundideen ſeiner 
Gemüthsſchule harmoniſch bleibe, denke es aber anders, 
23 * 


356 828 


fo werde alle Art eines geiftlichen Zwanges gegen das— 
ſelbe nicht eine Gelegenheit zum Beſinnen, wie die leib— 
liche Zucht gebe, ſondern ein Krankheitsſtoff zu Ver— 
härtung und Heuchelei, ja er wünſchte ſich Glück, daß 
er durch die Freiheit, die er geſtattet, manches an den 
Tag gebracht, was ſich ſonſt heuchleriſch verborgen ha— 
ben würde. Und er ſelbſt, jenem einlenkenden Streben 
zum Trotz, gab fortwährend das Beiſpiel eines unge— 
bundenen, phantaſtiſchen Schwunges, wie denn auch 
ſeine Predigten und Reden erfüllt von Bildern und 
Spielereien blieben, welche ſeine eifrigſten Anhänger 
ſpäterhin nur beſeufzen konnten. 

Inzwiſchen ergab ſich aus eben den Umſtänden, 
welche für Zinzendorf in der Wetterau den Geſichts— 
kreis verdüſterten, eine wundervolle Aufhellung derſel— 
ben in der Lauſitz. Er hatte ſchon immer geſagt, ſeine 
Verbannung aus Sachſen würde zehn Jahre dauern, 
dieſe waren nun verfloſſen, allein es zeigte ſich keine 
Aenderung. Sein großmütterliches Gut Großhenners— 
dorf war ihm zum Kauf angeboten worden, allein er 
hatte es abgelehnt, weil er noch verbannt war, und nur 
endlich doch ſich bewegen laſſen, es für ſeine Tochter 
Benigna zu erſtehen. Dies wurde in Dresden beſpro— 
chen, man rühmte den Wohlſtand von Herrnhut, den 
Fleiß und die Ordnung der Brüder, ihre großen Ver— 
bindungen in Holland und England wurden nicht ver— 
geſſen, und die Geldſummen, über welche ſie in der 
Wetterau verfügt hatten, und noch ſonſt wohl verfügen 


. 
sm 357 BL 


— 


könnten, entgingen der Aufmerkſamkeit nicht. Die Feinde 
Zinzendorf's waren zum Theil verſtorben, die Freunde 
benutzten die Gelegenheit, und ſo geſchah es, daß un⸗ 
erwartet von hoher Hand die Eröffnung an ihn gelangte, 
der König erlaube ihm nach Sachſen zurückzukommen. 
Man war ſo aufrichtig, ihm hiebei zugleich die Erwar— 
tung zu zeigen, daß er bei ſeinen auswärtigen Freun— 
den ein anſehnliches Darlehn für die ſächſiſche Kammer 
vermitteln werde, und wirklich ſäumte Zinzendorf nicht, 
dieſen Beweis ſeiner treuen Ergebenheit für das Kur— 
haus zu geben, und bewog den Bruder Beuning, jene 
dem Hauſe Büdingen gekündigten 150,000 Gulden der 
ſächſiſchen Kammer zu verſprechen. Die Nachricht hie— 
von machte am Königlichen Hofe den beſten Eindruck, 
und man ließ den Grafen nun ſogar wiſſen, man wün— 
ſche mehrere ſolche Niederlaſſungen, wie Herrnhut, im 
Lande zu haben, und biete ihm hiezu, und zugleich zum 
Unterpfande für jenes Darlehn, die Erbpacht des Kur— 
fürſtlichen Schloſſes Barby und des Amtes Döben an. 
Zinzendorf reiſte hierauf am 10. September über Neu— 
dietendorf nach der Lauſitz, und kam in Bertholdsdorf 
am 16. in derſelben Stunde an, in welcher vor ſechs 
Jahren der Heiland als Aelteſter der Gemeinde war 
erkannt worden. Nach kurzem Verweilen in Herrnhut 
und Großhennersdorf, wo er ſich nicht einrichten wollte, 
bis alles in Dresden völlig in's Reine gebracht wäre, 
ging er nach Gnadenberg und Gnadenfrei in Schleſien, 
wo auch ſeine Gemahlin eintraf, und von hier im An— 


\ 


fang Oktobers nach Leipzig, wo er mit dem Staats 


miniſter Grafen von Hennike nähere Abrede wegen ſei— 
Zurückrufung zu nehmen hatte. Anfangs wollte er die 
Gnade, die ihm den Aufenthalt in Sachſen wieder ge— 
ſtattete, nicht eher förmlich ausgeſprochen wiſſen, bis 
man ſeine und der Brüder Sache durch die von ihm 
ſchon längſt begehrte Kommiſſion neuerdings gründlich 
unterſucht hätte; doch das Dekret war ſchon ausgefer— 
tigt, und auf den Rath des Miniſters nahm er daſſelbe, 
mit dem Vorbehalt einer künftigen Unterſuchung, einſt— 
weilen dankbar an. Am 14. Oktober war er wieder in 
Herrnhut, und ſetzte hier alsbald ſeine gewohnte Thä— 
tigkeit fort; unter andern Gegenſtänden wurde beſon— 
ders die Diakonie berathen, und der Haushalt der Pil— 
ger unter der Benennung des Gemeindehauſes feſtge— 
ſtellt, wo für die Aufnahme und Beförderung der 
Diener Jeſu beſtens geſorgt wurde. Er ſelbſt war ab— 
wechſelnd in Bertholdsdorf und Großhennersdorf, am 
meiſten doch in Herrnhut. Bei ſeinen Sabbathsliebes— 
mahlen wurden über zweihundert Perſonen bewirthet. 
Am 26. November reiſte er wieder nach dem Herrnhaag 
ab, wo dringende Geſchäfte ſeiner harrten, beſuchte auf 
der Durchreiſe in Bauzen ſeine Tante Henriette, von 
der ihn ſeither, bei aller urſprünglichen Liebe, einige 
Mißverſtändniſſe getrennt hatten, in Dresden den Gra— 
fen von Hennike, raſtete in Neudietendorf, und traf am 
7. Dezember auf dem Herrnhaag ein. 

Der Frieden war mit dem Hauſe Büdingen noch 


* 


39 359 3 


nicht hergeſtellt. Der regierende Graf begünftigte zwar 
die Brüderſache genug, aber dem Erbgrafen war ſie 
zuwider, und deſſen Sinn überwog in mancherlei Ein— 
flüffen, die feine Stellung ihm leicht machte. Zinzen— 
dorf, der bisher mit einem ſtreitfertigen Beamten zu 
thun gehabt, bewies die Klugheit, von dieſem ab un— 
mittelbar an den Erbgrafen zu gehen, der hiedurch in 
ein neues Verhältniß geſetzt wenigſtens darauf einging, 
vorläufig die Sachen auf fünf Jahre unverändert, und 
ſich mit einer feſtgeſetzten jährlichen Summe für die 
herrſchaftlichen Einkünfte von Herrnhaag abfinden zu 
laſſen. Dieſer Erfolg befriedigte für den Augenblick, 
und der Graf wandte ſich getroſt mit neuer Kraft auf 
die Arbeiten im Innern der Gemeinde, die er mit Pre— 
digten, Chorreden und ſonſtigen Anſprachen, auch das 
theologische Seminarium mit Vorträgen über das augs— 
burgiſche Bekenntniß, treu bediente. Seiner Tochter 
Benigna und deren Gemahle Johannes von Watteville, 
welche ſich berufen fühlten, nach Amerika zu reiſen, gab 
er, nach ausführlicher Unterredung über die Wirkſam— 
keit, welche jenſeits des Weltmeers ihrer wartete, ſei— 
nen Segen, und das junge Ehepaar reiſte nach Holland 
ab. Er ſelbſt aber hatte ſein Hauptanliegen ſtets im 
Sinne, die kirchliche und obrigkeitliche Unterſuchung und 
Anerkennung der Brüder als einer dem augsburgiſchen 
Bekenntniß angehörigen Religionsgeſellſchaft. Er war 
ſeiner Sache hierin ſo gewiß, daß er es ordentlich dar— 
auf anlegte, wie in neuerer Zeit ein deutſcher Philo— 


259 360 923 


ſoph die Leute zum Verſtehen feiner Lehre zu zwingen 
meinte, dieſes Eingeſtehen auch den Widerſetzlichſten 
abzunöthigen; die Schwierigkeit war ihm nur, ſie da— 
hin zu bringen, daß ſie die Sache wirklich anfaßten. 
Dies in Dresden durchzuſetzen ſchien die Gelegenheit 
jetzt vorhanden, und er reiſte daher im März wieder 
nach Sachſen. Unterwegs in Neudietendorf und beſon⸗ 
ders in Ebersdorf, und darauf in Herrnhut und Groß— 
hennersdorf, wohin auch ſeine Gemahlin und ſein Sohn 
aus der Wetterau nachkamen, widmete er den Gemeinde— 
ſachen den größten Eifer, hielt Berathungen, in welchen 
er die Tropen wieder fleißig erörterte, arbeitete die 
Tageslooſungen aus, und zeigte ſich überall wirkſam, 
wo irgend ein frommes Anliegen oder ein Häuflein 
Erweckter ſeiner bedürfen konnte. In Dresden hatte 
er ſein Begehren, nachdem er andre Wege vergebens 
geſucht, unmittelbar bei dem Könige angebracht, und 
mußte nun den Erfolg abwarten. 

Inzwiſchen veranſtaltete er gegen Ende des Juni 
zu Gnadenberg in Schleſien eine Synode, zu welcher 
auch der Vorſteher des reformirten Tropus, Oberhof— 
prediger Cochius, aus Berlin ſich einfand, ein erſtes 
Beiſpiel dieſer Art, und um ſo wichtiger, als Cochius 
ausdrücklich die Erlaubniß des Königs von Preußen 
empfangen hatte, der Synode, ſofern ſie in preußiſchen 
Landen gehalten würde, in jener Eigenſchaft beizuwoh— 
nen. Hier war denn hauptſächlich wieder von dem 
augsburgiſchen Bekenntniſſe die Rede, damit unter den 


BD 361 . 


Brüdern ſelbſt keine Zweideutigkeit in dieſem Betreff 
übrig bliebe. Mittlerweile war in Dresden das Dar— 
lehn auf Barby in Richtigkeit gebracht, den mähriſchen 
Brüdern daſelbſt und in ganz Sachſen die nämlichen 
Vorrechte, die ſie bisher in Herrnhut genoſſen, vorläufig 
zugeſichert, und nach vielen Zweifeln auch die vielge— 
wünſchte Unterſuchungskommiſſion bewilligt worden. 
Man hatte dem Grafen bemerkt, daß über Herrnhut 
ſchon vor eilf Jahren günſtig geſprochen worden, und 
es unthunlich ſein würde, das ſchon Abgemachte wieder 
in Frage zu ſtellen, es könne die neue Unterſuchung 
daher, mit Ausſchluß jenes Ortes, nur auf die Brüder— 
ſache überhaupt gehen; der Graf ſah die Richtigkeit 
und den Vortheil dieſer Bemerkung ein, und es wurde 
angenommen, daß die Unterſuchung nur die eigentlich 
mähriſche Brüderkirche, nicht aber ihren Lutheriſchen 
und reformirten Tropus angehe. Die Kommiſſion traf 
endlich zu Ende des Juli in Großhennersdorf ein; ſie 
beſtand aus ſieben Mitgliedern, worunter der Oberkon— 
ſiſtorialpräſident Graf von Holzendorf, der Oberamts— 
hauptmann Graf von Gersdorf, der Landeshauptmann 
von Löben, und die Profeſſoren der Theologie, Doktor 
Teller aus Leipzig, und Doktor Weikmann aus Witten— 
berg, lauter einſichtsvolle und den Brüdern eher gün— 
ſtige als abgeneigte Männer. Eilf Abgeordnete der 
Brüder, von den Biſchöfen hiezu beauftragt, traten mit 
der Kommiſſion ſofort in Verhandlung. Hier gab es 
nun Schriften zu prüfen, Erörterungen anzuſtellen, Fra— 


N 362 4-22 


gen hin und wieder zu wenden, Sätze durchzuführen 
oder zu erläutern, theils in ſchriftlicher Form, theils 
in mündlichem Geſpräch. ö 
Zinzendorf hatte anfangs den Verhandlungen per— 
ſönlich aus Beſcheidenheit ausweichen wollen, aber die 
Kommiſſarien und die Brüder begehrten ſeine Mitwir— 
kung einſtimmig, und er mußte nun redend und ſchrei— 
bend die Seele des Ganzen ſein. Dabei ſetzte er ſeine 
täglichen Hausverſammlungen fort, denen wie ſeinen 
Predigten die Kommiſſion öfters beiwohnte; ferner dich— 
tete er für den Geburtstag des Königs eine Kantate, 
welche feierlich aufgeführt wurde, und ſo verabſäumte 
er überhaupt nichts Weltliches noch Geiſtliches, was 
die Tage mit ſich brachten. Eiferſüchtig aber betrieb 
er vor allem die erſehnte Anerkennung; ſie ſollte nicht 
durch Annahme bloßer Erklärungen der Brüder, noch 
durch ſtillſchweigende Vorausſetzung abſeiten der Kom- 
miſſarien, ſie ſollte durch deren eindringliche Prüfung 
und perſönliche Ueberzeugung ausdrücklich und beſtimmt 
erfolgen; darauf ging ſein ganzes Trachten, dahin 
glaubte er die Sache zwingen zu müſſen. Allein dies 
wollte ſich keineswegs ſo ſchnell ergeben, und da einige 
Gegenſtände unvermuthet in hitzige theologiſche Strei— 
tigkeiten führten, in welchen der Graf mit ſeiner viel— 
geſtaltigen Gemüthlichkeit nicht im Vortheil gegen die 
feſtgeſtellte Wiſſenſchaft der Univerſitätsgelehrten ſtand, 
von welchen der eine, Doktor Weikmann, die Brüder 
nun ſchlechterdings nicht als augsburgiſche Bekenntniß— 


ein) 363 S2 — 


verwandte anerkennen, und lieber aus der Kommiſſion 
ausſcheiden wollte, ſo hätte die Sache gar leicht, unge— 


achtet der befriedigenden Erklärungen der Brüder, eine 
ſehr widerwärtige Wendung nehmen können, wäre nicht 
die Kommiſſion im Ganzen ſo einſichtsvoll- gerecht und 


billig-wohlgeſinnt geweſen, um das Weſentliche unter 
ſolchen Zwiſchenfällen feſt im Auge zu behalten. In— 


deß wurde der heftige Wunſch Zinzendorf's nicht ſo— 
gleich erfüllt; die Kommiſſarien hielten ſich gegen die 
Brüder zu keinem Ausſpruche verpflichtet, wiewohl ſie 
nicht verhehlten, daß derſelbe günſtig lauten würde, 
und die Anerkennung der Brüder als augsburgiſcher 


Bekenntniß verwandten nicht zu bezweifeln ſtehe. Man 


konnte demnach die Kommiſſion dennoch als glücklich 
ausgegangen anſehen, und den vollgültigen Erfolg in 


der nächſten Zeit erwarten. Nach dieſem großen Siege, 


denn das war es in der That, verweilte Zinzendorf 


nur noch kurze Zeit in der Lauſitz, reiſte gegen die 
Mitte des Auguſt nach Ebersdorf, und von da nach 


dem Herrnhaag, wo er am letzten Tage des Monats 
ankam, und darauf, in eigends gehaltenen Berathungen, 
theils von dem Geſchehenen Bericht gab, * neue 
Geſchäfte fleißigſt betrieb. 

Die Nachrichten aus England lauteten in dieſer 


Zeit wenig tröſtlich, die in Deutſchland gedruckten 


Schmähſchriften waren ſeit einiger Zeit in's Engliſche 
überſetzt worden, fanden große Verbreitung, und wirk— 


ten ſehr nachtheilig; auch wurden die Brüder oft mit. 


ed 364 Bi 


den Methodiſten als ein- und dieſelbe Sekte angefehn, 
daher von der engliſchen biſchöflichen Kirche übel ver— 
kannt und angefeindet, und geriethen darüber in Be— 
drängniſſe, welche beſonders für ihre zahlreichen Miſ— 
ſionen die ſchlimmſten Folgen haben konnten. Es er— 
ſchien dringend nothwendig, daß ihre Sache dort neuer— 
dings kräftig vertreten und geſchickt durchgefochten 
würde; zu einer obrigkeitlichen Anerkennung, wie man 
ihrer nun in Sachſen ſchon gewiß fein konnte, mußte 
es auch in England gebracht werden. Zinzendorf be— 
ſchloß, die Sache zu verſuchen, und ließ ſich eine Voll— 
macht ausfertigen, kraft deren er befugt wurde, alle in 
Holland, England und andern Ländern eingeleiteten 
Unterhandlungen der Brüder nach ſeiner Einſicht zu 
führen und abzuſchließen, wobei er jedoch nicht umhin 
konnte, über die Laſt weltlicher Geſchäfte, die auf ihm 
läge, zu klagen, und beſonders den Wunſch zu äußern, 
der Diakonie, oder der Verwaltung des Haushalts der 
Brüderkirche, überhoben zu ſein; er gab zu erkennen, 
wie er am liebſten fortan dem Innern der Gemeinde, 
den Herzen der Brüder und der Seelenſache dienen 
möchte, welches ſein eigentlichſter Beruf von jeher ge— 
weſen ſei. Doch war er weit entfernt, ſich deßhalb 
der äußeren Vertretung der Brüder ſchon wirklich ent— 
ziehen zu wollen. Er reiſte vielmehr im Herbſt mit 
ſeiner Gemahlin und ſeinem Sohne, mit Friedrich von 
Watteville, dem jungen Grafen von Reuß und anſehn— 
lichem Pilgergefolge nach Holland ab, wo er in Zeyſt 


— 2 — 365 & Seen 


den inneren Gemeindegang fleißig bearbeitete, mancher— 


lei Geſchäfte berathen half, und zum Schluſſe des Jah— 
res ſich nach England auf dem Paketboot einſchiffte, 
wo er äußerst ſeekrank dennoch eine Singeſtunde hielt, 
und dem Heiland die Brüder und das Werk Gottes in 
ihnen anempfahl. Ein Schiff, Irene genannt, welches 


in Neuyork für die Seereiſen der Brüder gebaut wor— 


den war, und jetzt hundertundfünfzig derſelben unter 
Johann Nitſchmann's Anführung über England nach 
Nordamerika bringen ſollte, hatte ihn wegen des Sturms, 
der das Annahen der Schaluppen unmöglich machte, 
nicht mehr aufnehmen können; ſie kamen aber beider— 
ſeits glücklich in England an. Ein Edikt, welches in 
Hannover gegen die Brüder, obgleich deren keine dort 
wohnten, ergangen war, und in England ungünſtige 
Aufmerkſamkeit erregte, gab dem Grafen Anlaß, dar— 
über in einem Schreiben an den König einige Vorſtel— 
lungen zu machen. 

Die Hauptſache blieb jedoch, in England ſelbſt 
eine obrigkeitliche Unterſuchung der Brüder zu bewir— 
ken, wozu irgend eine Petition an das Parlament den 
ſchicklichen Anlaß geben mußte. Dieſe Sache war nicht 
ſo leicht abzuthun; ſie mußte zuerſt unter den Brüdern 
zur Reife kommen, dann jeder Anſtoß der engliſchen 
Kirche möglichſt vermieden, und endlich im Parlament 
die nöthige Fürſprache und Stimmung gewonnen wer— 
den. Das erſte wurde durch eine Provinzialſynode ge— 
fördert, wo man die Sache gründlich beſprach, für das 


m 366 Bo 


— 


zweite dienten dem Grafen ſeine ſchon beſtehenden Be— 
kanntſchaften, zu dem dritten war beſonders der Gene— 
rallieutenant Oglethorpe behülflich, ein vieljähriges 
Parlamentsglied, und den Brüdern gewogen, die er in 
Nordamerika genau kennen gelernt hatte. Nach dem 
Rathe dieſes und andrer geſetzkundigen Freunde wurde 
dem Hauſe der Gemeinen eine Petition der Brüder 
um Freiheit von Eid und Waffendienſt durch den Ge— 
neral eingereicht, der ſie durch eine ausführliche Rede 
unterſtützte; zwar drang ein angeſehenes Mitglied in 
einer heftigen Gegenrede auf Abweiſung der Petition, 
allein fünf andre Mitglieder vertheidigten ſie, und das 
Haus übergab ſie einem Ausſchuſſe von mehr als vier— 
zig Mitgliedern, unter welchen auch jener Gegenredner 
war, zur gründlichen Unterſuchung. Zinzendorf hatte 
als Advokat der Brüder die Obliegenheit, dieſe Ver— 
handlung zu leiten, allein er wollte und konnte nicht 
perſönlich darin auftreten, ſondern bevollmächtigte fünf 
des Engliſchen vollkommen mächtige Brüder, unter wel— 
chen auch der Freiherr von Schrautenbach war, denen 
er Tag für Tag das Nöthige angab, auf die Fragen 
des Ausſchuſſes zu antworten. Das Ergebniß fiel ganz 
nach Wunſch aus, der Ausſchuß berichtete günſtig, die 
Petition wurde in eine Bill verwandelt, als ſolche noch— 
mals einem Ausſchuſſe von ſiebenzig Mitgliedern über— 
geben, und ging darauf im Unterhauſe einmüthig durch. 
Größere Schwierigkeiten waren im Oberhauſe zu ge— 
wärtigen, der alte Biſchof von London, Doktor Sher— 


lock, wollte fih der Bill entſchieden widerſetzen, und 
Zinzendorf ſchrieb deßhalb an den Biſchof von Lincoln, 
welcher deutſch konnte, er möchte eine Unterredung zwi— 


ſchen ihm und jenem Biſchofe vermitteln; allein die 


übrigen Biſchöfe hatten in einer gehaltenen Verſamm— 
lung fihon beſchloſſen, für die Brüder zu ſtimmen, und 
nach Einſicht des dem Unterhauſe erſtatteten Berichts 
gab auch Doktor Sherlock ſeinen Widerſpruch auf. 
Zwar ſprachen mehrere Lords entgegen, und nament— 
lich der Großkanzler, welchem Zinzendorf ſogar ſchrieb, 
er wolle, bei ſo wichtigen Anſtänden, lieber die Sache 
zurücknehmen, da der eigentliche Zweck, die Unterſuchung 
der Brüderkirche und ihrer Lehre und Verfaſſung, ſchon 
erreicht ſei, allein der Großkanzler wünſchte nur einige 
Ausdrücke abgeändert, und nachdem dies geſchehen, wurde 
die Bill einſtimmig angenommen, darauf, der Verände— 
rungen wegen, von dem Unterhauſe nochmals gutge— 
heißen, und endlich durch die Königliche Beſtätigung 
am 6. Juli 1749 zur Parlamentsakte erhoben. Die 
Brüder wurden als Mitglieder einer alten evangeliſchen 
biſchöflichen Kirche anerkannt, von Eidleiſtung, ſofern 
ſie ihnen bedenklich erſchiene, befreit, eben ſo vom Waf— 
fendienſte ganz und vom Antheil an den Geſchwornen— 
gerichten in peinlichen Fällen. Die Erlangung eines 
ſolchen Anerkenntniſſes, und auf ſolchem Wege einer 
öffentlichen und großartigen Staatsverhandlung, war 
der wichtigſte weltliche Vorſchritt, welchen die Brüder— 
ſache bis dahin gemacht; ſie ſtand nun in den Reichs— 


9 368 & 


geſetzen eines Landes, wo die Geſetze alles, und kei— 
nem leichten Wechſel unterworfen ſind, gründlich feſt; 
während anderswo die noch ſo große Beſchützung und 
Gunſt widerrufbar von jedem neuen Zufall abhängig. 
erſchien. Die Wirkung dieſes Erfolges zeigte ſi ſich als⸗ 
bald bedeutend; an vielen Orten in England, Schott— 
land und Irland und in den nordamerikaniſchen Pflan— 
zungen lud man die Brüder zu Niederlaſſungen ein, 
deren auch einige zu Stande kamen, in England beſon— 
ders nahm die Gemeinde einen neuen Schwung, der 
auch günſtig auf das Feſtland zurückwirkte. Zinzendorf 
ſuchte den guten Eindruck zu verftärfen; er hatte mit 
den Biſchöfen von London und Lincoln freundliche Un— 
terredungen, ſchrieb in engliſcher Sprache eine Darle— 
gung der Lehre und Verfaſſung der Brüder, und be— 
reiſte die Gemeinden, die ſich im Lande ſchon ſehr ver— 
mehrt hatten, beſonders in Norkſhire, wo Fulneck als 
ein bedeutender Bruderort heranwuchs. Nicht unwich— 
tig war auch in Bezug auf dies Gedeihen der Brü— 
derſache in England, daß der engliſche Biſchof, von 
Sodor und Man ſich entſchloß, die Leitung des durch 
das Ableben des Oberhofpredigers Cochius erledigten 
reformirten Tropus zu übernehmen. 

Seiner Hausgemeinde, welche durch ab- und zu— 
gehende Pilger, beſonders auch durch das Verweilen 
vieler nach Weſtindien, Nordamerika und Grönland 
abzufertigenden Heidenboten, zeitenweiſe ſehr anſehnlich 
war, widmete der Graf ungewöhnliche Fürſorge. Nicht 


29 369 . 


nur arbeitete er, wie immer, mit eifrigſtem Antheil für 
den Seelenzuſtand der Einzelnen und den ſegenreichen 
Gang der Geſammtheit, zu deſſen beſſerer Führung und 
Berathung er, außer feinen Reden, Bet- und Singe— 
ſtunden, auch noch eine beſondre Hauskonferenz einrich- 
tete, ſondern auch auf das Aeußere erſtreckte ſich die 
Sorgfalt, es ſollte den ihn umgebenden Pilgern auch 
in dieſer Beziehung an nichts fehlen, und eine gewiſſe 
Strenge und Aermlichkeit, welche bisher bemerkbar ge— 
weſen, wich einer minder einfachen und reichlicheren 
Lebensweiſe. In der Kleidung entſtand auch eine merk— 
liche Aenderung, ſie wurde reicher grade dadurch, daß 
man ſie vereinfachen wollte; denn bisher hatte ſich je— 
der, wiewohl ohne Prunk, doch nach Gewohnheit ſeines 
Standes getragen, jetzt wünſchte Zinzendorf dieſen Un— 
terſchied aufgehoben; man wählte daher eine mittlere 
Tracht, zu welcher zwar einige Brüder und Schweſtern 
aus ihrer bisherigen um vieles hinabſtiegen, die große 
Mehrzahl aber bedeutend herauf, und das Ganze mußte 
ſich daher ungemein erhöht darſtellen. Offenbar wirkte 
hier der Anblick und die Berührung der geordneten 
engliſchen Lebensart der Mittelklaſſen ein, deren Ehr— 
barkeit und Bildung dort mehr als anderswo mit einem 
gewiſſen Wohlſtand und Aufwand in Verbindung ſteht. 
Seine Hausverſammlungen mußte er gegen den allzu 
großen Zulauf bewahren; nicht geringer war der Drang 
zu den deutſchen Predigten, welche er in der Brüder 
kapelle hielt, und die unmittelbar darauf ein Bruder in 
Biographiſche Denkmale. V. 24 


m 370 = 


engliſcher Sprache genau wiederholte. Außer dieſen 
beſtimmten Beſchäftigungen ſuchte Zinzendorf in dieſer 
Zeit gern einſam zu bleiben, wozu mancherlei Urſachen 
beitrugen. Er bedurfte, und grade im Glück am mei— 
ſten, des ſtärkenden Umgangs mit dem Heilande, ohne 
welchen er ſich gebeugt und verlaſſen fühlte; nur mit 
dieſer ſtets erneuten Kräftigung konnte er zu den vielen 
und wechſelnden Arbeiten, die er betrieb, getroſt her— 
vortreten. Aber auch Trübſale machten ihn dieſer 
Stärkung jetzt ſehr bedürftig. Briefe aus Deutſchland 
gaben ihm zum erſtenmale deutliche und umfaſſende 
Einſicht des Uebels, welches im Stillen das Innere der 
Gemeinde durchwuchert hatte, und ihr eine gränzenloſe 
Verwilderung drohte. Die ausſchweifenden Spiele der 
Einbildungskraft, die ſchwächliche Tändelei und das 
kindiſche Weſen mit dem Heiland, welche ſich im Herrn— 
haag erzeugt hatten, waren auf den Gipfel der Albern— 
heit geſtiegen; in erſchreckender Weiſe enthüllte ſich 
plötzlich das Verderben durch eine Menge von That— 
ſachen, in welchen die Frömmigkeit zum Unweſen ge— 
worden ſchien. Zinzendorf hatte vieles dieſer Art 
ſchon gewußt, einiges ſelbſt verſchuldet, aber das Uebel 
nie ſo arg und die Heilung deſſelben ſchon im Zuge 
geglaubt. Jetzt wurde ihm zum erſtenmal kund, was 
alles ihm bisher entgangen, und noch in vollem Fort— 
ſchritte begriffen war. Erſchrocken ſchauderte er vor 
dem Bilde zurück, das ihm nun in unläugbarer Wahr— 
heit die Augen traf. Schnelle und entſchiedene Ab— 


— > 371 a 


— 


hülfe, das war klar, mußte verfügt werden. An der 
Spitze dieſer Verirrung, welche in ſolcher Uebertrei— 
bung der Graf nicht mehr als ſeine eigne anſehn konnte, 


ſtand ſein Sohn Chriſtian Renatus, den er ſogleich zu 


ſich nach London berief. David Nitſchmann dagegen 
mußte nach Deutſchland eilen, um alle Gemeinden zu 
beſichtigen, das Unweſen überall zu erforſchen und mög— 
lichſt auszurotten. Der Sohn kam an, erfuhr die 
Strenge des Vaters, aber auch deſſen Liebe, und gab 
willig dem andern Wege ſich hin, auf den man ihn 
jetzt umlenkte. Zinzendorf ſelbſt aber gerieth in große 
Beklommenheit; er konnte die Quelle jener Schwär— 
mereien nicht ſo ganz, und ſelbſt ihre Wirkungen nicht 
alle gleichmäßig verdammen, auch ſchien derſelbe Fall 
bei dem Einen zu entſchuldigen, bei dem Andern nicht; 
einzelne Thatſachen ſprachen ſeine Milde an, andre reg— 
ten unmittelbar ſeinen ärgſten Zorn auf. In dieſem 
Gedränge, da er nicht hoffen konnte, ſein inneres Ge— 
fühl mit äußerer Gerechtigkeit in Einklang zu bringen, 
wählte er ſich eine ſonderbare Zuflucht. Er verſchloß 
ſich allen weiteren Mittheilungen, mied alle darauf 
hinlenkenden Geſpräche, und wies mit Unwillen die 
näheren Anzeigen von ſich, die man ihm geben 
wollte, er behauptete nachdrücklich ein völliges Igno— 
riren. Sein Betragen in dieſer Hinſicht war auffallend 


und unbegreiflich, er verweigerte ſchlechterdings jede 


Aufklärung, und gerieth darüber in dauernden Zwiſt 
mit einigen Brüdern, welche die Sache gründlich durch— 
24 * 


on 372 


zuarbeiten wünſchten, aber er wollte lieber den Seini⸗ 
gen ein Räthſel und von ihnen mißbeurtheilt ſein, als 
einen Gegenſtand anrühren, der ſein Inneres zerriß, 
und bei dem er eben fo ſehr feine Milde wie feine 
Strenge fürchtete. Für das Allgemeine hatte er die 
nöthigen Maßregeln angeordnet, die Sichtung war ein— 
geleitet, das Einzelne in dieſem betrübten Wirrweſen 
wollte er dem Heiland und deſſen Fügung anheimſtel— 
len, wobei das Gute ſchon ohne menſchliches Zuthun 
in jedem am ſicherſten würde gerettet und das Schlechte 
zerſtört werden. Und in der That, es ſcheint, daß 
Zinzendorf in dieſem bedenklichſten Falle nicht klüger 
hätte handeln können. 

Inzwiſchen waren gute Nachrichten aus Weſtindien 
eingegangen, wo Johannes von Watteville und Be— 
nigna mit gutem Erfolge wirkten. Aus Sachſen kam 
die Verſicherung, daß der König das Dekret zu Gun— 
ſten der Brüder nun wirklich erlaſſen habe. Leonhard 
Dober traf aus Liefland ein, und als David Nitſch— 
mann von ſeiner Beſichtigung der Gemeinden aus 
Deutſchland wiederkehrte, wurde Dober dahin abge— 
ſandt. Die dortigen Liederſachen enthüllten ſich immer 
mehr in ihren ungeahndeten Fortſchritten, allein ſie 
waren bereits in der Umkehr und ließen völlige Hei— 
lung hoffen. Als darauf Johannes von Watteville 
aus Amerika zurückkam, wurde auch dieſer nach Deutſch— 
land geſchickt, um die Gemeinden zu bereiſen, und die 
Reinigung derſelben zu vollenden. Bei allen dieſen 


| 


373 G 


Maßregeln verharrte Zinzendorf aber dennoch in der 
angenommenen Stellung, und wollte hinſichtlich dieſer 
Angelegenheit nichts Näheres mehr vernehmen, noch 
geſprächsweiſe äußern, ſondern ſtritt gegen alles, was 
man ihm dieſerhalb aufdringen wollte. Seiner Thä— 
tigkeit fehlte es während ſeines fortgeſetzten Aufent— 
halts in England nicht an andern Gegenſtänden. Eine 
Synode im September 1749 zu London, hauptſächlich 
dem Gemeindegang gewidmet, eine andre im Juni 1750 
ebendaſelbſt, auf welcher unter andern die Stellung der 
Gemeinde gegen ihre und des Grafen perſönliche Wi— 
derſacher beſprochen wurde, mannigfache Berathungen 
wegen einzelner Gemeinden, dabei die Geſchäfte des 
Syndikats und der Diakonie, und zwiſchen allem die— 
ſen immerfort die eifrigſte Beſorgung der Seelen, die 
täglichen und öfteren außerordentlichen Andachten und 
Reden, ungerechnet den ſtets zunehmenden Briefwechſel 
und den unvermeidlichen Umgang mit Perſonen, deren 
Bekanntſchaft wichtig war, dies ungefähr bezeichnet den 
Kreis von Beſchäftigungen, von welchen Zinzendorf ſich 
nicht ablöſen konnte. Zwar äußerte er wiederholt den 
Wunſch, alle ſeine Aemter niederzulegen, und von der 
Leitung der Gemeinde zurückzutreten, womit die mei— 
ſten Feindſeligkeiten, wie er glaubte, da ſie hauptſäch— 
lich auf ſeine Perſon gerichtet wären, gegen die Brü— 
der von ſelbſt wegfallen würden; auch fer nur die Pre— 
digt des Evangeliums ſein wahrer Beruf, meinte er, 
nicht aber das Syndikat noch die Diakonie, zu deren 


DB 374 9 


Geſchäft er wenig tauge; und in der That zeigte er 
ſich beſonders der letzteren Aufgabe nicht gewachſen, in— 
dem er weder die nöthige Kenntniß des bürgerlichen 
und gewerblichen Lebens, der Bedürfniſſe und Hülfs— 
quellen, der vortheilhaften und nachtheiligen Wege deſ— 
ſelben hatte, noch in dieſen Verhältniſſen ein richtiges 
Maß vorausbeſtimmen, oder das beſtimmte, bei aller 
Sparſamkeit, die er ſich zum Geſetz gemacht, mit er— 
forderlicher Strenge feſthalten konnte; gleichwohl hätte 
ihn auch in dieſem Amte nicht gleich jemand zu erſetzen 
vermocht, ſein Eifer, ſeine Selbſtaufopferung, ſein eig— 
nes bedeutendes Vermögen, und das große Zutrauen, 
welches er nach allen Seiten einflößte, gab ſeiner Ver— 
waltung in zahlreichen Fällen Nachdruck und Hülfe, 
wie ein noch ſo gründlicher Kenner und Rechner ſie 
ſchwerlich finden konnte; auch war die Gemeinde von 
der Ueberzeugung durchdrungen, daß ſie ſeiner nicht 
entrathen könne, und er fühlte ſelbſt, daß er, wenn 
auch ſonſt für jene Geſchäfte gar nicht der rechte Mann, 
doch unter dieſen Umſtänden noch unentbehrlich ſei, und 
ließ ſich daher gefallen, die bis dahin getragene Laſt 
auch ferner noch zu tragen. In der Einſamkeit von 
Ingatſtonehall, einem Landſitze, den er eine halbe Tage— 
reiſe von London gemiethet hatte, und wohin er ſich 
bisweilen zurückzog, bearbeitete er unter andern auch 
vielfache Verzeichniſſe, ſowohl der Orte, Gemeinden, 
Chorhäuſer, und Anſtalten der Brüder, als auch der 
Perſonen, welche bisher dem Dienſte der Gemeinde 


sn 375 


auf irgend eine Art vorgeſtanden, ja auch folcher, die, 
ohne zur Gemeinde zu gehören, ihr wichtig und werth 
geworden waren; an dergleichen ſtatiſtiſchen Ueberſich— 
ten und Aufzählungen hatte er von jeher beſondere 
Freude, und die Namenreihen dienten ihm auch zu den 
Fürbitten, mit welchen er ſein Gebet ausführlich auf 
alles Einzelne zu heften liebte. 

In Sachſen und in England hatte die Brnderſoche 
jetzt unter obrigkeitlicher Gewähr feſten bürgerlichen 
Boden erlangt, der auf einem anderen Punkt hingegen 
ihr wieder entſchlüpfen ſollte. Der alte Graf von 
Aſenburg-Büdingen war im Oktober 1749 geſtorben, 
und der Erbgraf hatte die Landesregierung angetreten. 
Die Verhältniſſe von Herrnhaag waren dieſem ſchon 
längſt ein widriges Augenmerk, und bereitwillig folgte 
er den Rathſchlägen, welche die Feinde der Brüder 
ihm eingaben. Man hatte ihm vorgeſtellt, die Ge— 
meinde ſchmälere ihm ſeine Rechte, und wenn die Sachen 
ſo fortgingen, würde Zinzendorf ihn mehr und mehr 
verdrängen, und ſich als Herr des Landes einſchleichen. 
Die Aufkündigung des Darlehns hatte die Erbitterung 
gegen Zinzendorf vermehrt, und die Brüder ihrerſeits tru— 
gen durch eitle Reden und unſchicklichen Trotz, wie ihre 
eignen Berichte geſtehen, nicht wenig dazu bei, die 
Sachen zum Aeußerſten zu treiben. Die in Druck— 
ſchriften mehr als je gehäuften Anſchuldigungen gegen 
die Brüder, die Verirrungen, welche in Herrnhaag 
Statt gefunden, konnten ein ſtrenges Verfahren gegen 


sn 376 


die Gemeinde leicht beſchönigen. Der junge Graf nahm 
ſich vor, die Sache jetzt, da er die Gewalt hatte, ſcharf 
anzufaſſen. Gleich bei der Huldigung, die ihm zu lei— 
ſten war, verlangte er von der Gemeinde, ſie ſollte 
eidlich verſprechen, daß ſie durch ihre Einrichtung und 
Verfaſſung keine Unterthänigkeit unter dem Grafen von 
Zinzendorf oder den Vorſtehern und Aelteſten, die mit 
ihm zuſammenhingen, ſuchen wollten. Nach mannig- 
fachem hin und her ſchreiben, beharrte der regierende 
Graf unter geſteigerten Vorwürfen in ſeinem Begeh— 
ren, ſie ſollten ſchlechterdings dem Grafen von Zinzen— 
dorf und ihren Aelteſten und Leitern abſagen, die Brü— 
der dagegen weigerten ſich ſtandhaft, und baten um 
Unterſuchung und Gelegenheit ſich zu verantworten, je— 
doch vergebens, denn es hieß, die Sachen wären durch 
öffentliche Streitſchriften hinlänglich aufgeklärt. End— 
lich erſchien am 18. Februar 1750 ein landesherrliches 
Patent, welches den Einwohnern von Herrnhaag, die 
ſich von dem herrnhutiſchen Weſen losſagen wollten, 
Freiheit zu bleiben und Schutz verſprach, allen denen 
aber, welche dies verweigerten, binnen drei Jahren 
auszuwandern befahl. Zinzendorf, von den frühern 
Vorgängen benachrichtigt, hatte durch ein Schreiben 
aus London ſich dem regierenden Grafen zu einem frei— 
willigen Verlaſſen des Herrnhaags unter billigem Ab— 
kommen erboten, allein dieſes gewaltſame und vertrags— 
widrige Verfahren ſchnitt alle Unterhandlung ab, und 
eine Gemeinde, welche noch vor kurzem ſorglos den 


IT 


luftigſten Tändeleien nachgehangen, mußte plötzlich in 
härteſter Prüfung zu wirklichſter Sorge für Boden und 
Fach übergehen! Aber hier trat der gute Grund der 
Brüder ſogleich klar und feſt aus jeder Umdämmerung 
hervor. Wohlmeinende Fremde riethen zwar, die Brü— 
der ſollten ihr gutes Recht behaupten, und es fehlte 
nicht die Wahrſcheinlichkeit, daſſelbe glücklich durchfech— 
ien zu können; andre Wege der Vermittelung ſchienen 
auch nicht ganz verſchloſſen; allein die ſämmtlichen Ein— 
wohner des Herrnhaags, durch den Biſchof Johannes 
von Watteville, der grade zu dieſen entſcheidenden Ta— 
gen aus London angelangt war, glücklich geleitet und 
geſtärkt, faßten den Entſchluß, zu ſchweigen und zu lei— 
den, verwarfen das Anerbieten der Regierung, und 
ſchickten ſich ſofort an, ihre Wohnungen, Werkſtätten 
und Nahrungen zu verlaſſen. In den erſten drei Ta— 
gen machten neunzig ledige Brüder ſich auf den Weg 
nach Pennſylvanien. In kurzen Friſten folgten andre, 
die theils nach Sachſen und Schleſien, theils nach 
Holland und England abzogen, die Kinderanſtalten wur— 
den nach der Lauſitz, nach Ebersdorf und andern Orten 
beſtimmt, und es zeigte ſich, daß der vor kurzem noch 
blühende Ort ſchon vor der feſtgeſetzten Zeit ganz ge— 
räumt ſein würde; der Verluſt an liegender und fah— 
render Habe, welcher bei dem ſchnellen Aufbruch un— 
vermeidlich war, indem die Häuſer gar nicht, manches 
nur zu geringſten Preiſen verkauft werden konnte, ſchien 
den Brüdern gar nicht in Betracht zu kommen. Um 


sm 378 DR 


fo mehr war der Graf von Büdingen durch dieſen Er— 
folg ſeiner Maßregeln betroffen, und ſeine anwohnen— 
den Unterthanen, ihrer noch vor kurzem gegen die Brü— 
der beim Reichskammergericht geführten Klagen unein— 
gedenk, jammerten laut über einen Abzug, der auch 
ihren Wohlſtand empfindlich verletzen mußte. Nun er— 
hob ſich die Beſchuldigung, die Vorſteher der Gemeinde 
wirkten durch Drohungen und falſche Verſprechungen 
auf die Leute, und verführten oder zwängen ſie wider 
Willen zum Auswandern; jeder Einzelne wurde nun 
von der Gräflichen Behörde befragt und geprüft, und 
auf alle Weiſe zum Bleiben ermahnt, allein vergebens, 
die Auswanderung blieb im Zuge, fremde, zum Theil 
vornehme Perſonen, kamen nun erſt um Aufnahme bit— 
tend nach Herrnhaag, und begehrten mit auszuwandern; 
über vierhundert und ſiebzig Köpfe zogen gleich im 
erſten Jahre wirklich ab. Nur Ein Mann, durch An— 
erbietungen verführt, ſagte ſich von der Gemeinde los 
und wollte in Herrnhaag bleiben, aber zur Beſchämung 
der Behörde fühlte er bald Reue, bat die Brüder um 
Verzeihung, und ergriff ebenfalls den Wanderſtab. 
Als Zinzendorf in London die ausgebrochene Ver— 
folgung erfuhr, war er anfangs tief betrübt, bald aber, 
als die Gemeinde ſich ſo herrlich bewährte, empfand er 
die freudigſte Beruhigung, und hielt ſich überzeugt, daß 
der Heiland den Brüdern durch ſolche Schmach nur 
himmliſche Gnade ſende, und nach ſo vielen zweifelhaf— 
ten und mißlichen Vorgängen die denn doch wohl zu 


— 82379 Bo 


— 


hart beſchuldigte Gemeinde durch die ſprechendſte That— 
ſache im wahren Lichte zeigen wolle. Seine Gemahlin, 
welche dieſe ſchweren Tage im Herrnhaag miterlebt 
und keine ſchonende Behandlung erfahren hatte, und 
ſein Schwiegerſohn, der als ein würdiger Jünger des 
Heilands erſchienen war, brachten ihm nach London den 
genaueſten Bericht. Die Sorge für das Unterkommen 
der Ausgewanderten und ihrer ferneren Nachfolger 
mußte nun in vielfachſte Thätigkeit übergehn; ſie ver— 
theilte ſich zwar auf die ganze Brüdergemeinde, lag 
aber im Ganzen doch hauptſächlich dem Grafen ob. 
Er blieb in England, ſowohl der vielen Hülfsmittel 
wegen, die ihm dort zu Gebote ſtanden, als auch um 
das Aufſehn und vielleicht den Haß zu vermeiden, 
welche ſein übrigens unfruchtbares Erſcheinen in Deutſch— 
land jetzt hätte wecken können. Zwar ſchrieb er noch 
an den büdingiſchen Regierungsrath Brauer mild und 
verſöhnlich, und erbot ſich ſogar, den Herrnhaag mit 
andern als den weggezogenen Leuten zu beſetzen, allein 
ohne Wirkung. Die Auswanderung wurde ſtill und 
demüthig fortgeſetzt, ohne Aufſehen und Unruhe. Nach— 
dem in England auf der letzten Synode der Gang der 
Gemeindeſachen nochmals gründlich berathen worden, 
glaubte der Graf, nach anderthalbjähriger Abweſenheit, 
doch wieder nach dem Feſtlande zurückkehren zu müſſen. 
Er nahm von den Brüdern und Schweſtern in London, 
die er noch Perſon für Perſon ſprach, liebevollen Ab— 
ſchied, und ſchiffte ſich am 11. Juli in Harwich ein. 


9 380 So 


Sein Sohn und Schwiegerſohn begleiteten ihn, die 
Gräfin war vorausgereiſt. Bis zum 1. Auguſt blieb 
er in Zeyſt, wo er unter ſtärkſtem Zudrange öffentliche 
Verſammlungen hielt, und reiſte dann über Neuwied, 
wo der regierende Graf ſchon längſt eine Niederlaſſung 
der Brüder wünſchte, nach Lindheim und Marienborn, 
beſuchte die im Herrnhaag noch verbliebenen Brüder 
und Schweſtern, die er durch eine Rede tröſtend er— 
freute, ſetzte dann ſeinen Weg nach Sachſen fort, und 
erreichte am 14. Auguſt das Schloß Barby, welches 
den Brüdern bereits übergeben war, und wo ſeine Ge— 
mahlin ſeiner ſchon wartete, ſeine Pilgerbegleitung aber 
bald nach ihm eintraf. Hier wurde ſogleich eine ſchon 
vorbereitete Synode gehalten, auf welcher die im In— 
nern der Gemeinde feſtzuhaltenden Grundideen, die 
Sichtung der Mitglieder, der Umſturz von Herrnhaag 
und die fortdauernden Streitſchriften gegen die Brü— 
der, zur Sprache kamen. Ueber die Ausſchweifungen, 
welche in Bildern und Wortſpielen waren getrieben 
worden, äußerte er ſich unumwunden, verwarf die Mei— 
nung, als hingen jene im geringſten mit der Lehre von 
der Verſöhnung zuſammen, und verſprach, ſo lange er 
Athem habe, ſolchen Verirrungen, die er als Teufels— 
ſchule bezeichnete, kräftig entgegenzutreten. Uebrigens 
bekannte er, die Brüder und Schweſtern verdienten ſei— 
nen Dank, welche ihm den größten Theil dieſes Un— 
fugs in der Zeit, da ihn die großhennersdorfiſche Kom— 
miſſion und die engliſche Parlamentsverhandlung vollig 


sm IE a 


hingenommen, ſchonend vorenthalten hätten, indem dieſe 
wichtigen äußeren Angelegenheiten mit der eben ſo wich— 


tigen inneren ſich in feinem Denken und Thun nur übel 
durchkreuzt haben würden. Nach der Synode ſprach er 
jedes Mitglied derſelben noch beſonders, prüfte auch 


die dem Seminarium angehörigen Brüder der Reihe 
nach in einzelner Unterredung, wie er von jeher zu 


thun liebte. Im Oktober reiſte er dann über Leipzig 
und Dresden, wo er wegen Barby noch manches ver— 


abredete, und kam den 13. nach Herrnhut, wo er in 


Berathungen, Werken der Andacht und Erbauungen, 
und vielfachen ſchriftlichen Arbeiten, den ganzen Win— 


ter verblieb. Was an Herrnhaag verloren ſchien, wuchs 
in dem feſtgegründeten Gedeihen Herrnhuts und der 


vielen neuen Gemeinden in Sachſen, Schleſien, Holland 
und England, der Miſſionen zu geſchweigen, den Brü— 
dern reichlich wieder zu, und die Gemeinde bewegte ſich 


auf wogendem Gewinn und Verluſt doch im Ganzen 
höchſt gedeihlich vorwärts. 

Ehe wir nun der Lebensbahn Zinzendorf's weiter 
folgen, haben wir ſeine während der letzteren fünf Jahre 
ſehr bedeutende ſchriftſtelleriſche Thätigkeit und Wirkung 
näher anzuſehen. Die Streitſchriften gegen die Brü— 
der, oder — wie man ſie durchaus nennen wollte — 
Herrnhuter, hatten ſich, nach Maßgabe der Ausbreitung 
der Gemeinde, mitausgebreitet und geſteigert. Sie wa— 
ren großentheils wahre Schmähſchriften, Zeugniſſe lei— 
denſchaftlichen Haſſes und beſchränkteſter Schulgelehr— 


un 382 S 


— 


ſamkeit, voll grober Verläumdungen und elenden Miß— 
verſtandes. Dieſe Schriften unbeachtet zu laſſen, we— 
nigſtens einer unmittelbaren Widerlegung ſie nicht zu 
würdigen, war im Allgemeinen Zinzendorf's Grundſatz; 
doch wurde der Anreiz, dem Falſchen das Wahre nicht 
nur durch That und Wandel, ſondern auch ſchriftlich 
entgegenzuſtellen, oft unwiderſtehlich, und führte auf 
den Kampfplatz, um, wenn auch nicht die Gegner ſelbſt, 
doch ihre Waffen zu treffen. Grade die Geiſtlichen 
und Prediger waren es, welche am heftigſten eiferten, 
und ſich nicht ſcheuten, ihre vor der Welt meiſt ehren— 
haften Namen mit denen der niedrigſten Ausgewieſenen 
oder Ausreißer zuſammenzuſtellen, welche in der Ge— 
meinde ihre Rechnung nicht gefunden hatten, und ſich, 
durch verrätheriſche Mittheilung angeblicher Geheimniſſe 
und Schandſachen, für ihre getäuſchten ſelbſtſüchtigen 
Erwartungen oder vermeintlich erlittenes Unrecht ſchad— 
los halten wollten. Von namhaften Männern, unter 
welchen Bengel, Walch und Baumgarten durch ihr An— 
fehn, Häntzſchel, Winkler, Fröreiſen, Freſenius und 
Andre durch ihre Heftigkeit ſich auszeichneten, zählte 
man ſchon gegen zwanzig Hauptſchriften gegen den Gra— 
fen, ſeine und feiner Anhänger Lehre, Verfaſſung und: 
Wandel. Einige Verirrungen und Unſicherheiten, welche 
nicht zu läugnen waren, mußten den Gegnern trefflich 
dienen, das Tollſte und Abſcheulichſte, was geiſtloſe 
Bosheit erſinnen konnte, damit zu verknüpfen und wahr- 
ſcheinlich zu machen. Um nicht dieſe zum Theil ge— 


— . 383 S 


wichtvollen Beſchuldigungen, wenn ſie ganz unwider— 
ſprochen blieben, zum Nachtheil ſelbſt der bürgerlichen 
Verhältniſſe der Gemeinde werden zu laſſen, fühlte ſich 
der Graf im Jahre 1745 gedrungen, eine allgemeine 
Vertheidigungsſchrift herauszugeben; ſie führt den Titel: 
„Die gegenwärtige Geſtalt des Kreuzreichs Jeſu in 
ſeiner Unſchuld, das iſt, verſchiedene deutliche Wahr— 
heiten denen unzähligen Unwahrheiten gegen eine be— 
kannte evangeliſche Gemeinde entgegen,“ und ſtellt, ohne 
Nennung einzelner Gegner und Schriften, doch mit ſte— 
ter Rückſicht auf ſie, eine Reihe von Sätzen auf, welche 
den Sinn und das Weſen der Brüderſache nach ihren 
mannigfachen Beziehungen beſtimmt ausſprechen; eine 
Anzahl von Briefen, Eingaben und andern Verhand— 
lungsſchriften ſind als Belege beigefügt. Dieſes Buch, 
mit vieler Wärme und nicht ohne Beſonnenheit abge— 
faßt, machte bei Unbefangenen guten Eindruck. Bald 
nachher begann der Graf eine Folge von Aufſätzen, 
worin er, nach Art perſönlicher Denkſchriften, ſich ſelbſt 
und ſein ganzes Treiben mit vertraulicher Offenheit 
darlegt; das erſte und zweite Stück dieſer Mittheilungen 
erſchienen zuEEbersdorf, wo fie im Dezember 1746 geſchrie— 
ben worden; die nach und nach entſtehende Folge vonzwölf 
Stücken nebſt Beilagen wurden zuletzt in einen Band ver— 
einigt, und unter dem Titel gedruckt: „Ludwigs von Zin— 
zendorf ar ,,), das iſt, naturelle Reflexiones über 
allerhand Materien, nach der Art, wie er bei ſich ſelbſt 
zu denken gewohnt iſt.“ Dies iſt ohne Zweifel die eigen— 


2 384 


thümlichſte und merkwürdigſte Schrift des Grafen, aus 
der wir deßhalb öfters ganze Stellen hier angeführt 
haben, beſonders über ſeine früheſten Begegniſſe und 
Geſinnungen. Das Buch iſt in der perſönlich erzäh— 
lenden und betrachtenden Weiſe, wie es anhebt, leider 
nicht fortgeführt, ſondern lenkt bald in Verhandlung 
und mitunter in bloße Aufrechnung von Beſonderem 
ein, welches den Antheil des Leſers nicht ſehr feſthält; 
und ſo bleibt uns eines der anziehendſten Bücher, das 
hier hätte entſtehen können, und in der deutſchen Litte— 
ratur ein wichtiges Denkmal geworden wäre, doch nur 
zu miſſen! Von Zinzendorf's Reden an die Gemeinde 
wurde im Jahre 1746 eine Sammlung herausgegeben, 
unter dem Titel: „Zweiunddreißig einzelne Homilien;“ 
ferner neun ſeiner in London gehaltenen Predigten, ſo— 
dann die in Zeyſt an die Synode gehaltenen Reden. 
Zwei Theile ſeiner öffentlichen Gemeindereden des Jah— 
res 1747 folgten, dann „Einunddreißig Diskurſe über 
die augsburgiſche Konfeſſion,“ welche er dem theologi— 
ſchen Seminarium vorgetragen hatte, endlich noch die 
gewöhnlichen Looſungsbüchlein, einzelne Aufſätze, Lieder. 
Mit den Reden und Vorträgen war es nicht immer 
richtig beſtellt, vieles war von ihm ſelbſt nachläſſig hin— 
geſchrieben, andres von fremder Hand unvollkommen 
aufgefaßt, alles aber hätte einer genauen Durchſicht 
und ſtrengen Zurechtſtellung bedurft, denn außer dem 
Willkürlichen, Gewagten und Tändelhaften, was nur 
allzurichtig der damaligen Meinung und Art des ur— 


ed 385 5 


ſprünglichen Verfaſſers entſprach, war auch andres Stö— 
rende vorhanden, was durch Unkunde und Nachläſſigkeit 
der Gehülfen verſchuldet war. Und die guten Eindrücke, 
welche dem Kreuzreich und den naturellen Reflexionen 
etwa folgten, wurden mehr als aufgewogen durch die 

zahlloſen Blößen und Anſtößigkeiten, welche der Druck 
aller dieſer Reden einem großen Theile der theologi— 
ſchen Leſewelt unvermeidlich darbot. Die Angriffe hör— 
ten nicht auf, und wiewohl Zinzendorf ſich in Streitig— 
keiten nicht einlaſſen wollte, ſo wurde er doch wiederholt 
auf den Kampfplatz gezogen. Eine Hauptarbeit wurde 
von Spangenberg theils unternommen, theils veranlaßt; 
er las alle Gegenſchriften aufmerkſam durch, ſchrieb 
alle Beſchuldigungen und Anklagen, ohne Verfaſſer und 
Buch zu nennen, auf einzelne Zettel aus, welchen dann 
der Graf ſeine bald kürzere bald ausführlichere Beant— 
wortung hinzufügte. Die Schriften Spangenberg's: 
„Darlegung richtiger Antworten auf mehr als dreihun— 
dert Beſchuldigungen,“ im Jahre 1751 erſchienen, und 
„Apologetiſche Schlußſchrift, worin über tauſend Be— 
ſchuldigungen nach der Wahrheit beantwortet werden,“ 
ein Jahr ſpäter herausgekommen, liefern nebſt eignen 
Aufſätzen, Briefen und andern Beilagen, den ganzen 
Verlauf dieſer Erörterungen, in welchen, man kann es 
nicht läugnen, Zinzendorf oft ſehr gründlich, geſchickt 
und geiſtreich erſcheint. Allein er erſchrack doch beim 
Ueberblick einer ſolchen Maſſe von Anklagen und Vor— 
würfen, und wurde über das arge Mißverſtehen ſeiner 

Biographiſche Denkmale. V. 25 


— 


> 386 3 


Schriften nun ſelbſt bedenklich; er ſah viele Schwächen 
derſelben ein, glaubte in vielen Behauptungen zu weit 
gegangen zu ſein, manchen Ausdruck mißbraucht zu ha— 
ben, und um ſich aus aller dieſer Verwirrung und Pein 
mit einemmale zu befreien, erwählte er das große Mit— 
tel, öffentlich zu erklären, er wolle ſämmtliche Ausga— 
ben ſeiner bis dahin gedruckten Schriften, als mangel— 
haft und mancher Erläuterung bedürftig, für das Pu— 
blikum kaſſirt haben, und bei künftigen Ausgaben mit 
Vorſicht und Genauigkeit jede gewünſchte Läuterung 
vornehmen, wobei er freilich bedaure, daß auch die 
ſchlichte Natürlichkeit und unbefangene Zuverſicht ſeiner 
Aeußerungsweiſe hin und wieder leiden würden. 
Mittlerweile ging in Herrnhut alles den beſten 
Gang. Der im Februar 1751 eintretende Tod Chri— 
ſtian David's, des erſten mähriſchen Anſiedlers in Herrn— 
hut und Führers der erſten Heidenboten nach Grönland, 
beraubte den Grafen eines erprobten, ungemein thätigen 
und einflußreichen Mitarbeiters; man pflegte von ihm 
zu ſagen: wir haben nur Einen ſolchen Mann! jedoch 
beſaß die Gemeinde in ihrer Mitte genugſame Gaben, 
um einen ſolchen Verluſt nicht grade als einen Mangel 
fühlen zu müſſen. Zinzendorf's Verluſt allein wäre in 
dieſer Zeit noch unerſetzlich geweſen. Seine Thätigkeit 
ſchien mit den Jahren zu wachſen, und theilte ſich auf 
das zweckmäßigſte zwiſchen den großen weltlichen Ge— 
ſchäften und der inneren Gottſeligkeit; zu der letzteren 
wandte ihn ſtets der tiefſte Herzenstrieb, zu den erſte— 
ren riefen ihn Pflicht und Talent. Im April 1751 


\ 


55H 387 E22 


mußte er nach Dresden reifen, um mit der dortigen 
Behörde, und mit dem Premierminiſter Grafen von 
Brühl ſelbſt, der mit Zinzendorf perſönlich wohl den 
größten Abſtich machte, aber den Zuſammenhang deſſel— 
ben mit bedeutenden Geldquellen höchlich ſchätzte, we— 
gen einiger Verhältniſſe in Barby beſtimmtes Abkom— 
men zu treffen. Hierauf beſuchte er Niesky, einen von 
böhmiſchen Auswanderern, die man in Herrnhut auf— 
zunehmen nicht gewagt hatte, ſeit dem Jahre 1742 auf 
dem Boden eines Herrn von Gersdorf unweit Herrn— 
hut gegründeten Brüderort. Im Mai hielt er wieder 
in Herrnhut mancherlei Berathung, begab ſich im Juni 
nach Gnadenberg, dann nach Barby, wo das Semina— 
rium und das Archiv von Marienborn und die Knaben— 
anſtalt von Lindheim eingetroffen waren, und ſeiner 
und ſeines Sohnes Chriſtian Renatus beſonderen Sorg⸗ 
falt, die ſich der Reihe nach auf jeden Einzelnen er— 


ſtreckte, theilhaft wurden. Nachdem er auch den öffent— 


lichen Gottesdienſt in der Schloßkapelle eingerichtet 
hatte, reiſte er von hier im Juli nach Ebersdorf, wo 
er von zahlreichen Mitarbeitern umgeben war, denn 
immer fand ſich eine Pilgerſchaar zu ihm, theilweiſe 
ſeine Schritte begleitend, theilweiſe ihnen vorauseilend 
oder nachfolgend. Er bekannte hier in mehrtägigen Be— 
rathungen, daß ſein eigentlicher Beruf der Umgang mit 
dem Worte Gottes und die Sorge für das Heil der 
Seelen ſei; als ein Jünger Jeſu werde er dieſem Be— 
rufe fortan ausſchließlich folgen, und alles meiden, was 


25 * 


sm 388 322 


ihn nach andrer Richtung zerſtreuen könnte. Er hatte 
England mit der Abſicht verlaſſen, nach ſeinem in 
Deutſchland gemachten Beſuche dorthin zurückzukehren; 
denn er fand den Aufenthalt daſelbſt ungemein günſtig, 
um zwiſchen den europäiſchen Gemeinden und den ame— 
rikaniſchen Miſſionen mitteninne zu ſtehen, und zugleich 
die zahlreichen und wichtigen Angelegenheiten der Brü— 
der in England perſönlich zu beſorgen. Nun ſchien ibm 
zweckmäßig, die Oberleitung der Brüderſache auf län— 
gere Zeit ganz nach England zu verpflanzen, wo der 
geſetzliche Schutz, welchen die Brüder erlangt hatten, 
ihnen zugleich den ſicherſten Boden gab. In dieſem 
Sinne waren bereits die letzten Verabredungen in Herrn— 
hut genommen, und hatte jetzt der Abſchied in Ebers— 
dorf Statt. Zinzendorf trat am 21. Juli ſeine Reiſe 
an, wollte aber, bevor er das Feſtland verließ, auch 
noch die kleine Gemeinde der Brüder zu Montmirail 
im Fürſtenthum Neufchatel beſuchen; er kam den 1. Au- 
guſt dort an, blieb acht Tage, ſprach von der Liebe und 
Vertraulichkeit zum Heiland, gab ſonſt Rath und An— 
leitung, und reiſte dann durch Frankreich, wo er ſich 
wenig aufhielt, nach London. 

Hier wünſchte er ſich in großer Stille zu halten, 
ohne deßhalb ſeine Erbauungen und Geſchäftsarbeiten 
aufzugeben. Er hielt ſeine deutſchen Predigten wie 
früher, und ſeine Hausverſammlungen täglich in ge— 
wohnter Weiſe. Seine bisherige Wohnung in Bloome- 
bury mußte er eines Baues wegen verlaſſen, und bezog, 


39 389 93 


weil das von ihm gekaufte Haus des Grafen von Lind— 
ſey in Chelſea die nöthigen Einrichtungen noch nicht 
hatte, abermals eine gemiethete Wohnung in Weſtmin— 
ſter. Er gab hier auf's neue die mündliche und ſchrift— 
liche Erklärung, daß er ſeine Aemter insgeſammt ab— 
geben, und fortan nur als Jünger Jeſu leben wolle. 
Dies hatte die Wirkung, daß er unter den Brüdern 
ſeitdem gewöhnlich nur der Jünger, ſeine Wohnung das 
Jüngerhaus genannt wurde; im Uebrigen aber, da kein 
Nachfolger für ihn eintrat, auch er ſelbſt ſich keinen zu 
geben wußte, blieben die Geſchäfte nach wie vor in ſei— 
ner Hand. Im September kam Spangenberg mit zahl— 
reicher Begleitung aus Deutſchland, um abermals nach 
Nordamerika mit ihr abzugehen; dieß gab dem Grafen 
Anlaß, ſowohl mit dieſen Brüdern als mit den Miſſions— 
ſachen im Allgemeinen ſich angelegentlich zu beſchäftigen. 
Im Oktober ſah er ſich zu einer Reiſe nach Bedford 
bewogen, um die dortige Gemeinde zu beſuchen. Da 
es ihm ungeachtet ſeines Wunſches und Bedürfniſſes 
nicht gelingen wollte, im gewöhnlichen Zuge des Lebens 
zu einiger Ruhe zu kommen, ſo mußte er ſich wohl 
entſchließen, dieſelbe durch ernſtliche Vorkehrung wenig— 
ſtens auf einige Zeit zu erzwingen. Seinen Hausge— 
noſſen ſagte er, der Gemeinde ſchrieb er, daß er die 
nächſten zwei Monate ſich die Muße nehmen wolle, 
alles ihm ſeit dreißig Jahren Begegnete zu überdenken, 
er habe vieles nachzuleſen und mit dem Heilande dar— 
über zu ſprechen, hierin dürfe er nicht unterbrochen wer— 


2 390 


den, und er wünſche deßhalb, daß man ihn während 
jener Zeit ganz als einen Abweſenden anſehen möchte. 
Man konnte nicht anders als ſeinem Begehren willfah— 
ren; dennoch nicht ſo völlig, daß er nicht häufig über 
manche Dinge befragt worden wäre, über welche er 
allein Auskunft geben konnte. Man pflegte ihn aber 
ſchon längſt nicht ohne Noth in dieſer Art zu ſtören, 
ſowohl, weil er in ſeinen Sinn vertieft oft kaum die 
Fragen vernahm, und verkehrten oder unſichren Beſcheid 
ertheilte, als auch um der Aengſtlichkeit willen, die er 
im Gebrauche ſeiner Zeit hatte, denn er pflegte die 
ganze Fülle obliegender und bevorſtehender Arbeiten 
ſorgfältig zu überſchauen, und dieſe nach zugemeſſenen 
Zeiträumen im voraus einzutheilen, ſo daß er nicht nur 
Monate und Wochen, ſondern auch Tage und Stunden 
auf weithinaus für dieſes oder jenes Geſchäft als Ziel 
vormerkte, wobei es denn ſowohl durch die Sache ſelbſt 
als durch äußere Zufälle ſehr oft unmöglich wurde, 
ſolcher Zeitrechnung zu genügen, und er nicht ſelten die 
Nächte zu Hülfe nahm, um das Rückſtändige, welches 
er ſich meiſt als ein Verſäumtes zur Schuld rechnete, 
nachzuholen. Mit Thränen beſeufzte er dann vor dem 
Heilande ſein vermeintliches Vergehen, und unterließ 
nicht, ſobald er wieder aufathmete, durch neue Voraus- 
beſtimmung ſich neuen Anlaß zu bereuenden Vorwürfen 
zu bereiten. So quälte ſich der treffliche Mann, ſeiner 
bewegten, allen Wellenſchlägen der unberechenbarſten 
Zuſtrömungen ausgeſetzten Lebensart eine Ordnung auf— 


5 391 42 


zubürden, die kaum für die ſtillſte, den Ereigniſſen mög— 
lichſt entrückte Tagesfolge ohne ſtete Gefahr größerer 
oder minderer Brüche ſich behaupten läßt! 

Die Beſchäftigung ſeiner Einſamkeit war nicht be— 
ſonders fruchtbar; ſeine Natur wies ihn auf geſelliges 
Wirken an. Vorarbeiten zu einem Geſangbuche für 
die Brüder rangen in ſeiner Hand noch zu ſehr nach 
verſchiedenen Richtungen; ein Auszug aus der Bibel, 
welcher alles Weſentliche aufnehmen und nur Unweſent— 
liches und Wiederholungen weglaſſen ſollte, wobei nach 
früherem, noch immer regem Triebe, auch neue Ueber— 
ſetzung mancher Stellen nicht glücklich verſucht wurde, 
blieb aus Mangel an Zeit und auch wohl um des Be— 
denklichen und Schwierigen willen, das in der Sache 
lag, mit dem Anfange, der gedruckt erſchien, auch ſchon 
abgeſchloſſen. Seine Hausgemeinde jedoch durfte auch 
während dieſer Zeit ſeine Sorgfalt nicht entbehren; 
eben ſo bedachte er ſtets die Gemeinde der Stadt. Er 
hielt in dieſer Zeit Predigten, welche ſich beſonders auch 
durch Kürze auszeichneten, jede dauerte kaum eine Vier— 
telſtunde, wie er denn ſchon immer die Andachten, um 
Ermüdung und Unaufmerkſamkeit zu vermeiden, gern 
in kürzeſten Abſchnitten von halben und Viertelſtunden 
wechſeln ließ, dagegen die zuſammenhängende Folge 
derſelben auch um ſo weiter ausdehnte. Im Januar 
1752 kamen achtzehn Brüder und Schweſtern aus Nord— 
amerika zurück, andre wurden dahin abgeſandt, alle nahm 
der Graf einige Zeit in ſein Haus. Die Eingezogen— 


IN -. 


heit öffnete fich fo wieder mehr und mehr dem zudrin— 
genden Leben, und Zinzendorf mußte wohl einſehen, 
daß er doch nur den Wogen des Tages ſich hinzugeben 
habe! Bald ſtand er nach allen Seiten wieder in vol— 
lem Verkehr; der Umgang mit einigen Biſchöfen der 
engliſchen Kirche, mit mehreren Lords, Gelehrten und 
angeſehenen Fremden, hatte ſeinen Reiz wie ſeinen 
Nutzen, der mannigfachſte Briefwechſel war nicht ab— 
zulehnen, die Geſchäfte drangen mit Macht heran. Zwar 
hatten, nach des Grafen Wunſch, einige Brüder als 
Beauftragte die Advokatie mit Erfolg übernommen, 
allein für die Verwaltung der Diakonie bot ſich keine 
ſolche Aushülfe dar. Die Brüderſache war überall im 
Wachſen, man durfte fie nicht ſtocken laſſen; ihre Be— 
dienung, die Reiſen, Unterrichtsanſtalten, Miſſionen und 
Kolonien, erforderten große Auslagen; ſo kaufte die 
Gemeinde von Lord Granville 100,000 Aeres Land in 
Nordkarolina zum Anbau einer Kolonie; Zinzendorf 
ſelbſt hatte Ankäufe und Bauten in England unternom— 
men; die Auswandrer von Herrnhaag bedurften man- 
nigfacher Hülfe; die Zuſchüſſe waren gering, und die 
Verlegenheiten fielen alle auf den Grafen zurück; er 
ſchaffte Rath, ſo gut er konnte, lieh an, verbürgte ſich, 
aber der Zuſtand war beſorglich, um ſo mehr, als in 
den Verhältniſſen ſelbſt ein feſtes Maß des Bedarfs 
gar nicht zu ermitteln war; der Sache des Heilands 
ließ ſich kein Budget vorausbeſtimmen. Auch gehörte 
wirklich zum Gedeihen der Sache die frohe Zuverſicht, 


— 393 2 


das friſche Wagen, mit welchem Zinzendorf getroſt vor— 
anging, und dieſe Stärke des Vertrauens und Mutbes, 
welche zu jedem möglichen Gewinn ein erfolgreichſter 
Miteinſatz ſind, müſſen von den Rechnern ſelbſt, obwohl 
ihren Ziffern entzogen, wenigſtens neben dieſe geſtellt 
werden. Allein Zinzendorfs Vertrauen war nicht ſo 
blind noch trotzig, um jedes Verhältniß und jeden Au— 
genblick aus dem Kreiſe gewöhnlichen Weltlaufs in ei— 
nen höheren Kreis einer unmittelbar göttlichen Einwir— 
kung zu verſetzen, und er fühlte, daß menſchliche Klug— 
heit, Einſicht und Sorgfalt auch im Dienſte der Vor— 
ſehung ſtehen, und in ihnen dieſer verſäumt werden 
könne. Er bemühte ſich daher nach beſten Kräften, die 
Sachen zu halten, und einem Ausbruche vorzubeugen; 
das Erbieten eines fremden Mannes, ihm für die Brü— 
der eine namhafte Summe darzuleihen, wurde dankbar 
angenommen. Uebrigens aber ſuchte er auch die Ver— 
waltung beſſer zu ordnen, wünſchte die allgemeinen Aus— 
gaben der ganzen Brüderſache von denen einer jeden 
beſonderen Gemeinde genau getrennt, und faßte die 
Leitung, da er ſich ihr einmal nicht entziehen konnte, 
nun auch um ſo ſtrenger in ſeine Hand zuſammen, in— 
dem er die Brüder neuerdings ermahnte und verpflich— 
tete, fortan nichts Neues ohne ſein Wiſſen und Rathen 
zu unternehmen, und ihm von dem Stande der Sachen 
in jeder Gemeinde, außerordentliche Vorgänge unge— 
rechnet, jeden Monat regelmäßigen Bericht zu geben. 


5m 394 Bit 


Bei fernen Arbeiten ging ihm fein Sohn Chriſtian 
Renatus bisher treulich zur Hand, und mit ſolchem 
Eifer, daß er, ohne daß man es wußte, oft ganze 
Nächte hindurch am Schreibtiſch durchwachte. Dieſen 
Anſtrengungen erlag ſein durch Ueberreizungen weicher 
Gefühle ſchon geſchwächter Körper, und er ſtarb zu 
Ende des Mai's 1752 an der Auszehrung. Der Graf 
war tief bekümmert über dieſen Verluſt, er mochte wohl 
auch jetzt in manchen Augenblicken die frühere Strenge 
zu hart finden, welche er gegen die ſchwärmeriſchen 
Verirrungen des Sohnes bewieſen hatte. Die Gräfin 
eilte von Herrnhut nach London, um den ſterbenden 
Sohn noch zu ſehen, allein in Zeyſt angelangt erfuhr 
fie feinen Heimgang, und blieb nun wo fie grade war; 
erſt nach vier Wochen ſetzte ſie die Reiſe nach London 
fort, theilte Schmerz und Liebe mit ihrem Gemahl, 
und reiſte dann, nach ausführlichen Geſchäftsverabre— 
dungen, gegen Ende des Auguſt wieder nach Herrnhut 
zurück, wo ihre Anweſenheit dringend erfordert wurde. 
Zinzendorf erhielt durch die hinterlaſſenen Papiere ſei— 
nes Sohnes die vielfachſten Zeugniſſe von deſſen in— 
niger Frömmigkeit und glühendem Eifer für den Hei— 
land; in ſeinen Tagebüchern und zahlreichen Liedern 
fand ſich neben dieſer Geſinnung die tiefſte Bekümmerniß 
über den Schaden ausgedrückt, den er angerichtet zu 
haben glaubte, und ſelber kaum verwinden zu können 
ſchien, obgleich er ſeither alles angewandt hatte, die 
Verirrten von dem Abwege zurückzubringen. Er wirkte 


| 


=D 395 88 


auch in der That mit großem Einfluß auf die Herzen 


die ſein liebevolles Zartgefühl ihm aller Orten gewon— 
nen hatte, und um den lieben Grafen Chriſtel, wie 
man ihn nannte, floſſen viele Thränen. Allein Zinzen— 
dorf mußte bald gewahr werden, daß in den Aufſätzen 


und Liedern ſelbſt, worin der Verſtorbene jener Rich— 


tung abſagte, noch vieles von derſelben zu finden war, 
und daß im Grunde, bei veränderter Stellung des Ge— 
genſtandes, die gleiche Gefühls- und Einbildungsweiſe 


unverändert fortgedauert hatte. Noch deutlicher trat 


dies hervor, als er, im theuren Andenken feines Sohnes, 
auf einige Zeit die Leitung der von dieſem bisher ge— 
führten Chöre der ledigen Brüder in allen Gemeinden 
nun ſelbſt zu übernehmen anfing. Das Spielende und 
Tändelnde der Ausdrücke zeigte ſich hier noch keines— 
wegs verbannt, und Zinzendorf, der endlich alle Arbei— 
ter dieſer Chöre zu einer Synode nach London berief, 


mußte ſeinerſeits, indem er dieſe Art eifrig verwerfen 


wollte, ihr doch ſelbſt einigermaßen nachgeben, und auch 
er fiel in ſeinen Liedern und Reden in manche Wen— 
dung zurück, die er ſchon mißbilligt hatte, und die auch 
jetzt eher Gebrauch als Billigung finden konnte, indem 
kindliche Neigung argloſen Gefühls und einſichtiges Ur— 


theil prüfenden Verſtandes friedlich nebeneinander gin— 
gen. Vielleicht hat grade dieſe halbe Nachgiebigkeit, 
wenn ſie auch gar nicht ſo beabſichtigt war, dem Un— 
weſen ein ſchnelleres Ende gebracht, als irgend eine 


folgerechte Strenge es vermocht hätte, denn in der 


o 396 G8 


That mußte ſich allmählig der Hang zu einer Sache 
verlieren, welche keinen Reiz des Widerſtandes wecken 
konnte, weil ſie genug geduldet war, und doch keinen 
Reiz der Aufmunterung fand, weil ein ausgeſprochener 
Tadel ſie fortwährend traf. 

Im folgenden Jahre 1753 brach ein Unheil, wel— 
ches unter allem Bemühen der Abwehr doch nur ge— 
wachſen war, unaufhaltſam aus. Einige Brüder, ver— 
mögende Kaufleute, hatten den Diakonen anſehnliche 
Summen dargeliehen, welche ſie ſchleunigſt wiederfor- 
dern mußten, da fie durch einen betrüglichen Bankrott 
unerwartet ſelbſt in's Gedränge kamen. Als dies ver— 
lautete, ſäumten auch die andern Gläubiger nicht, deren 
Zahl ſich nun bedeutend genug zeigte, die Diakonen 
ſahen ſich von allen Seiten beſtürmt, und hatten keine 
Zahlungsmittel. In Gefahr, ſich zahlungsunfähig er— 
klären zu müſſen, was nicht ohne den unerſetzlichſten 
Schaden der Brüdergemeinde geſchehen konnte, wandten 
ſie ſich an den Grafen, welchen zugleich jene Kaufleute 
und von den fremden Gläubigern die Freundgefinnten 
lebhaft angingen, durch ſeine Vermittlung ein Abkom⸗ 
men zu bewirken. Zinzendorf war über die Größe des 
Unheils betreten, er hatte die Diakonen eingeſetzt, ver— 
meintlich geleitet, aber freilich die Geldgeſchäfte ihrem 
Gutdünken überlaſſen, und ſie waren weiter gegangen, 
als er es genehmigt haben würde; was begegnet war, 
ſah er demnach als ſeinen Fehler an, und machte ſich 
über feinen Mangel an Aufſicht bittre Vorwürfe. Wie— 


sm 397 22 


wohl er feine Mittel jetzt ſelbſt nicht überſehen konnte, 


da mancherlei Schulden, Bürgſchaften und Verpflich- 


tungen ſchon auf ihm laſteten, vielerlei Ausgaben vor— 
ausbeſtimmt und auf manche Einnahme nicht ſicher zu 


rechnen war, ſo entſchloß er ſich doch ſchnell, ungeachtet 
der ernſtlichen Abmahnung eines angeſehenen Rechtsge— 


lehrten, der die Sache allzu bedenklich fand, und ſchrieb 


an die ſämmtlichen Gläubiger, er übernehme die ganze 


Schuld, und wolle ſie friſtweiſe abzahlen, inzwiſchen 
aber verzinſen. Jener Rechtsgelehrte wurde durch die 
großmüthige und gottvertrauende Handlung des Grafen 


ſo gerührt, daß er mit Thränen die Gläubiger zum 
Vergleich ermahnte; die meiſten willigten ein, nur 
einige derſelben, welche den Brüdern größeres Unheil 
wünſchten, wollten keine Bedingungen annehmen, ſon— 
dern gleich uͤnd voll bezahlt ſein; alle Vorſchläge und 
Bitten waren fruchtlos, aber die Kraft der guten Sache 
bewies ſich nur um ſo glänzender, da grade hiedurch 
andre freundlichgeſinnte Gläubiger bewogen wurden, 
aus eignen Mitteln jene hartherzigen zu befriedigen, 
und den Vergleich nur um ſo günſtiger zu ſtellen. 
Aber auch bei dieſem Abkommen dauerte die Verlegen— 
heit noch lange fort, die Verwirrung und Hülfloſigkeit 
kam immer auf neuen Seiten hervor, erwartete Sum— 
men blieben aus, verſuchte Schritte mißlangen, feſt und 
unwandelbar ſtand nur das zu Leiſtende; ſchon war 
eines Tages Zinzendorf bedroht, ins Gefängniß abge— 
führt zu werden, als noch zu rechter Zeit die Poſt, 


er 398 3 


früher als gewöhnlich eintreffend, ihm die nöthige 
Summe brachte. Die Schuldennoth war eine ſchwere 
Prüfung der Brüder, in welcher nicht alle ſo beſtanden 
wie Zinzendorf, den ſie doch am härteſten traf. Als 
die Ausſichten am meiſten verdunkelt waren, und faſt 
kein Durchkommen mehr zeigten, da wurde er wieder 
ganz freudig und zuverſichtlich; wo die menſchliche 
Klugheit völlig ausging, da vertraute er um ſo hinge— 
gebener der Hülfe des Heilandes. Gegen ſich ſelbſt 
war er in dieſer Sache ungemein hart; er berief die 
Aelteſten der Gemeinde zu ſich, und bekannte ihnen mit 
vielen Thränen ſein Verſchulden, daß er nicht beſſer 

Aufſicht geführt, und ſein Amt ſo übel verwaltet habe, 
er verlangte, ſie ſollten ihn, wie er verdient, aller ſei— 
ner Aemter entſetzen, und dies allen Gemeinden anzei— 
gen. Ihm wurde nun zwar keineswegs hierin will⸗ 
fahrt, allein er benahm ſich ſeitdem als ein ſeines Amts 
einſtweilen Erledigter, und ertheilte zwar den Aelteſten 
auf Befragen ſeinen Rath, ordnete aber ſelber nichts 
an, und redete während einiger Zeit ſogar in ſeiner 
Hausgemeinde ſeltner. Der gewohnte Gang erlitt da— 
durch keine Störung, der lebendige Einfluß war vor- 
handen, auf die Form kam es weniger an. Schon die 
Pilgerreiſen und Miſſionsſachen, von denen er ſich nicht 
ablöſen konnte, hielten den Grafen regſam; es fand 
darin ein beſtändiger Wechſel Statt, und namhafte 
Dinge wurden unternommen. Johannes von Watte— 
ville, der bereits Vater geworden, hatte eine Beſichti— 


| 
| 8 


— D 2399 A 


gungsreiſe nach Grönland gemacht; ein Bruder Hokker 
verſuchte als Arzt in Aegypten und Abyſſinien der Sache 


des Heilands neue Wege zu bahnen; Spangenberg 


reiſte mit dem Brüderſchiff Irene zwiſchen England 


und Amerika her und hin. 
Lindſeyhouſe, wo der Graf jetzt wohnte, war 5 


Mittelpunkt all dieſes Verkehrs, die Pilger nahmen 


ihre Wohnung hier, und blieben oft längere Zeit, auch 


kamen alle Berichte an den Grafen. Uebrigens war 


ſeine neue Wohnung ganz für den Zweck eingerichtet, 


daß die Oberleitung der geſammten Brüdergemeinde 


hier nach Zeit und Umſtänden ihren Sitz haben könnte; 
große Säle zu Andachten und Berathungen fehlten 
nicht, viele Gaſtzimmer waren eingerichtet, eine Ka— 
pelle, ein Gottesacker, und außer den nöthigen Schreib— 
anſtalten auch eine Buchdruckerei. Eine Synode wurde 
hier gehalten, bei welcher, weil Zinzendorf ihn durch— 
aus ablehnte, den Vorſitz Leonhard Dober übernehmen 
mußte. Die große Demuth des Grafen ſchloß aber 
keineswegs ſeinen freieſten Antheil an den Verhand— 
lungen aus, er ſtrafte ſich ſelbſt ohne Schonung, aber 


auch Andre ohne Scheu, ja bisweilen gerieth er in ſo 


heftigen Eifer, daß er nachher tagelang Reue darüber 
hatte. In ſeinen Predigten drang er auf die Liebe 
zum Heilande, auf kindliches Vertrauen zu ihm, und 


auf Abwendung von Dünkel und Eitelkeit. Seine Aus- 
drücke fielen hiebei oft ſo zärtlich und kindlich aus, daß 
man wohl ſehen konnte, die verrufenen Lieder wirkten 


29 400 33 


in ihm noch fort. In der That hatte er ſich feit eini— 
ger Zeit vorzugsweiſe mit der Auswahl eines Geſang— 
buchs beſchäftigt, und den erſten Theil deſſelben in Lon— 
don unter dem Titel: „Alt- und neuer Brüdergeſang“ 
im Jahre 1753 drucken laſſen; er enthielt über zwei— 
tauſend Lieder, ältere, neuere, überſetzte, bearbeitete. 
Zehn Brüder wurden beauftragt, das Buch zu prüfen, 
an welchem ſie nichts Erhebliches auszuſetzen fanden. 
Im folgenden Jahre kam der zweite Theil heraus, 
über tauſend neuere, beſonders eigne Lieder des Grafen 
enthaltend, und obgleich er den Willen gehabt, alles im 
Ausdruck Bedenkliche, Spielende und Ungewöhnliche 
ſorgfältig wegzulaſſen, ſo war ihm dies doch ſo wenig 
gelungen, daß vielmehr neues Aergerniß daraus ent— 
ſtand, und er das ganze Buch in der Folge preisgab. 
Auch an einem engliſchen Brüdergeſangbuch half er 
thätig arbeiten, ſammelnd und überſetzend. Um der 
großen Fluth von Schmähſchriften zu begegnen, welche 
jetzt in England, größtentheils aus dem Deutſchen über- 
ſetzt, gegen die Brüder hervortraten, ließ er einige, 
früher deutſch verfaßte, wahrhafte Nachrichten über die 
Brüder jetzt in engliſcher Sprache drucken. 8 
Nach ſo viel Spannungen und Stürmen befiel den 
Grafen im Anfange des Jahres 1754 eine Krankheit; 
ſie hinderte ihn nicht, auch in Geſchäften noch Rath zu 
ertheilen, und ſie begünſtigte ſeine Hinwendung zu dem 
Heiland, in deſſen Umgang er die angenehmſten und 
ſeligſten Stunden genoß. Er überdachte mit innigſter 


59 401 BL 


Rührung die Gnade, welche der Gemeinde doch unter 
ſo drohenden Erſchütterungen zu Theil geworden, und 
hielt zum Danke dafür, als er geneſen war, mit ſeiner 
Hausgemeinde ein feierliches Gebet und Liebesmahl. 
Förderſamſt betrieb er darauf, gewarnt durch die Uebel, 
deren Wiederkehr abzuwenden war, eine beſſere Anord— 
nung der Diakonie, ſetzte eine neue Behörde ein, und 
trennte ſo viel als möglich die Verwaltungen der Ge— 
ſammtheit und der beſonderen Gemeinden, ſo wie der 
einzelnen Anſtalten; auch die Miſſionen erhielten ihre 


eigne Diakonie. Seine Berathungen dieſer Art fan— 


den eine große Stütze an ſeiner Gemahlin, die wieder 
von Herrnhut auf einige Monate nach London kam; in 
andern Angelegenheiten ſtand ihm vorzüglich Johannes 
von Watteville bei, welcher die deutſchen Gemeinden 


beſichtigt hatte, und ihm von allen Sachen Bericht er— 


theilte. Er ſelbſt machte im Juni eine Reiſe zum Be⸗ 
ſuche der Brüdergemeinden durch England. In Briſtol 
entſtand eine neue Gemeinde, deren Theilnehmer ſchon 
längſt den Brüdern angehört hatten. In Fulneck wurde 
Grundbeſitz erworben, an anderen Orten anderes ein— 
gerichtet. Ueberall hielt er Muſterung und Anreden, 
jetzt auch in engliſcher Sprache, an die Chorabtheilun— 
gen, die Gemeindearbeiter, an jeden Einzelnen, in Ful— 
neck nach einander an mehr als zwölfhundert Perſonen. 
An dieſem Orte geſchah es, daß er in der Singſtunde 
nach dem abweſenden Organiſten John Worthington 


fragend erfuhr, derſelbe liege in den letzten Zügen, 


Biographiſche Denkmale. V. 26 


29 402 3: 5 


darauf ihn beſuchte, von ihm die Hoffnung bald bei 
Chriſtus zu ſein vernahm, aber dagegen ihm erklärte, 
er hätte ihn noch gern auf den Gemeindeſaal bei der 
Orgel, dann hinzutrat, dem von heftigem Huſten Be— 
fallenen die Hand ſegnend auflegte, und hierauf weg— 
ging; der Kranke fiel in tiefen Schlaf, erwachte ge— 
ſtärkt, ſpielte am dritten Tage die Orgel wieder, genas 
völlig, und lebte noch über zwanzig Jahre. Bei ſol— 
chen Wirkungen, deren die Brüder doch mit heimlicher 
Freude zu ſehr gedenken mochten, lange zu verweilen 
oder ſie beſonders hervorzuſtellen, verbot das richtige 
Gefühl Zinzendorf's, welches, die Gefahren des furcht— 
baren Abweges ahndend, in dieſem Betreff ernſtlich jede 
Spielerei mied. Auf einer Synode im November 1754 
wurde John Gambold, bisheriger Prediger der Ge— 
meinde in London, zum Biſchof erwählt und eingeſeg— 
net, da es bei der Vermehrung der Brüder in Eng— 
land angemeſſen erſchien, daß dieſe Würde daſelbſt blei— 
bend beſetzt wäre. In ſeinen Predigten und Reden 
fuhr Zinzendorf mit Eifer fort, auf den Kern aller 
Frömmigkeit, auf die Reinheit des Herzens und die 
Liebe zum Heilande zu dringen. Von den Streitig— 
keiten, von welchen die Brüderſache noch ſtets umgeben 
war, ſuchte er ſich möglichſt abzuwenden; er bekannte 
übrigens, daß er darin häufig gefehlt habe, bald zu 
nachgiebig, bald wieder — wie namentlich gegen die 
beiden Wesley — zu ſtreng, und durch ſeine Aeußerun— 
gen über die Dreieinigkeit Urſache zu vielen Mißver— 


—sn 403 Bi 


ſtändniſſen geweſen ſei; man ſolle überhaupt, meinte er, 
in die Geheimniſſe der Gottheit nicht eindringen wol— 
len, ſondern vor allem ſich an des Heilands Perſon 
und Verdienſt halten. Ein kleines Geſangbuch, ein 
Kinderbüchlein, und Liturgien und Litaneien zum Ge— 
brauch der Gemeinde, gingen in dieſer Zeit aus ſeiner 
frommen Stimmung hervor; dieſer, auf herzählendes 
Vergegenwärtigen gerichteten Stimmung war auch ver— 
wandt, daß er die Namen der im Dienſte des Heilands 
heimgegangenen Brüder, ferner die Namen aller Lieb— 
haber Jeſu nach der Folge der Jahrhunderte, an die 
Saaleswände ſchreiben ließ, und dem Ueberblicke dieſer 
Reihen gern erbauliche Betrachtung verknüpfte. Von 
dieſer, unter ſolchen friedlichen Arbeiten ruhiger hinge— 
gangenen Zeit ſchrieb er: „Es iſt dieſes Jahr 1754 ein 
ſtilles liturgiſches Jahr geweſen, ein Jahr eines beſon— 
dern Umgangs mit dem Heiland. Viel Erfahrungen; 
viel Verheißungen; viel Lektionen.“ 

Seit beinahe viertehalb Jahren ohne Unterbrechung 
befand ſich nun Zinzendorf in England, eine für ſein 
bisher ſo wechſelvolles Leben ungewöhnliche Stätigkeit. 
Aber endlich riefen Holland und Deutſchland um ſo 
ſtärker den ſo lange Abweſenden in ihre Mitte zurück, 
als die Nothwendigkeit ſeiner nachhelfenden Hand überall 
gefühlt wurde. Zwar gedieh aller Orten die Brüder— 
ſache, der Gang der inneren Seelenarbeit wie der Zu— 
ſtand der äußeren Anſtalten war im Ganzen befriedi— 
gend, doch fehlte es im Einzelnen hie und da, und die 

26 * 


2 404 32 


Brüder hatten ſich ſchon gewöhnt, den Grafen, wie fehr 
dagegen er auch eiferte, für den unentbehrlichſten Mann 
zu halten. Er wollte jedoch England nicht verlaſſen, 
ohne dort alles wohlbeſtellt zu haben. Zur Beſichti— 
gung der Gemeinden in England und Irland wurde 
Johannes von Watteville, und zu mannigfachen Ge— 
ſchäften in verſchiedener Richtung noch gegen dreißig 
Mitarbeiter entſandt. Seine nach dieſem Abgange noch 
übrige Hausgemeinde ließ er im Februar 1755 größ— 
tentheils nach Holland vorausgehen, er ſelbſt aber hielt 
ſich noch einige Zeit einſam und ſtill in Lindſeyhouſe, 
wo er mit großem Eifer noch die nöthigſten Geſchäfte 
ordnete, und auch noch zwei engliſche Schriften für den 
Druck ausarbeitete, deren eine in Geſtalt eines Hir— 
tenbriefes, zuſammengeſetzt aus Bibelſprüchen, ſoge— 
nannte Statuten oder allgemeine Grundſätze des thä— 
tigen Chriſtenthums lieferte, eine andre gegen die Feinde 
der Brüder eine neue Vertheidigung verſuchte, wozu 
er, ungeachtet er dergleichen nicht mehr ſchreiben wollte, 
durch vieles Zureden angeſehener Freunde, worunter 
auch einige Biſchöfe der engliſchen Kirche, noch zuletzt 
vermocht worden war. Auch gab er in einem Anhange 
zu den Brüderliedern eine große Anzahl der unver— 
fänglicheren Lieder ſeines Sohnes in Druck. Nach 
herzlichem Abſchied von ſeinen zurückbleibenden Mit— 
arbeitern, ſchiffte er bei widriger See nach Holland 
hinüber, und kam den 31. März in Zeyſt an, wo er 
die Gemeinde ſogleich durch eine Singſtunde erbaute. 


sm 405 2 


— 


Seine Verſammlungen, Anreden, Berathungen und ver— 
traulichen Geſpräche waren wie immer. Ein Hauptan— 
liegen aber wurde ihm hier die beſſere Geſtaltung der 
Diakonie; man hatte im Beginn nach einem zu großen 
Maßſtabe gehandelt, ein bedeutendes Schuldenweſen 
war zu ordnen, und ein billiger Vergleich mit den 
Gläubigern, wie er in England gelungen, ſehr zu wün— 
ſchen. Allein die Sache war für diesmal nicht zu be— 
werkſtelligen, auch keine baldige Beſeitigung der Hin— 
derniſſe zu hoffen, und der Graf ſetzte nach vierwöchent— 
lichem Aufenthalt ſeine Reiſe nach Neuwied fort. Die 
kleine Gemeinde daſelbſt beſtand größtentheils aus fran— 
zöſiſchen Mitgliedern, die von Herrnhaag dorthin ge— 
zogen waren; er hielt ihnen einige Reden in franzö— 
ſiſcher Sprache, und gab ſeinen Rath zum erſt begin— 
nenden Anbau und noch dürftigen Erwerbweſen. Ueber 
Neudietendorf und Ebersdorf, dann über Kleinwelke 
und Niesky, wo überall ſein Eifer etwas zu thun fand, 
gelangte er am 2. Juni nach Herrnhut. 

Dieſer Ort, ſeitdem er des obrigkeitlichen Schutzes 
und Wohlmeinens genoß, hatte ſich zum Erſtaunen ge— 
hoben und ausgedehnt, neue Gebäude ſtiegen empor, 
die Gewerbe blühten, zahlreicher Fremdenbeſuch von 
Geringen und Vornehmen fehlte nicht, beſonders zogen 
die Kinderanſtalten, welchen auch Auswärtige gern ihre 
Söhne und Töchter anvertrauten, viele Perſonen her— 
bei. Zinzendorf ſah gerührt dieſes ſichtbare Gedeihen 
ſeines Werkes, er dankte dafür dem Heiland innigſt, 


— 8 406 22 


aber ruhte ſelbſt nur um fo weniger. Eine vorüber— 
gehende Krankheit durfte ihn kaum ſtören, unermüdlich 
arbeitete er in Berathungen, Erbauungen und Ge— 
ſprächen, ſowohl für das Ganze, als für beſondere 
Theile und für Einzelne; zu feinen Hausverſammlun— 
gen ſtrömte alles herbei, der Saal faßte die Zuhörer 
nicht. Dem Chor der Eheleute hielt er beſondre Re— 
den, die unerwartet im Druck erſchienen, und nicht 
weniges Aergerniß verurſachten; allein ſie waren nach 
einem ſchlechtgeſchriebenen Hefte gegeben, das ein Geiſt— 
licher in der Lauſitz durch Zufall erhalten, und ohne 
allen Fug der Oeffentlichkeit überliefert hatte, ſie konn— 
ten daher mit Grund verläugnet werden. Bei dem 
Chor der ledigen Schweſtern war nach wie vor Anna 
Nitſchmann ſein treuer Beiſtand. Ganz vorzüglich aber 
nahm er ſich der Kinderanſtalten an, hielt Bet- und 
Singeſtunden und Liebesmahle mit den Kindern, fragte 
nach ihrem Herzenszuſtand, und ſuchte ihnen die heißeſte 
Liebe zu dem Heiland einzuflößen. Nicht wenigeren 
Fleiß widmete er den äußeren Geſchäften; in mehr— 
tägigen Berathungen wurde der Haushalt ſtrenger ge— 
ordnet, der des Grafen und ſeiner Familie von dem 
der Gemeinde beſtimmt abgetrennt, das Schuldenweſen 
erwogen, und die ſchon angeordnete eigne Diakonie 
jeder beſondern Gemeinde und Anſtalt neuerdings be— 
ſtätigt. Im Oktober beſuchte der Graf die Anſtalten 
in Barby, wo das Seminarium und Pädagogium der 
Brüder blühten, und ſeit kurzem auch ein akademiſches 


9 407 G2 


Kollegium errichtet war, in welchem außer der Gottes— 
gelehrtheit auch die Rechtswiſſenſchaft und Heilkunde 
gelehrt wurden, damit die Zöglinge der früheren An— 
ſtalten innerhalb des Brüderkreiſes ihren ganzen Stu— 
dienlauf vollenden könnten, weil der Beſuch andrer Uni— 
verſitäten, wiewohl niemand daran gehindert wurde, 
doch in mancher Beziehung ſich nachtheilig gezeigt hatte. 
Für die Weltweisheit waren keine Lehrſtühle angeord— 
net; fie ſtand in ihrer damaligen Geſtalt bei den From— 
men ſehr ungünſtig; von Zinzendorf ſelbſt hatte man 
den Reimſpruch: 

„Beſſer noch in Phantaſie 

Stehn, als in Philoſophie; 

Fühlen wird durch Prüfen juſt, 

Raiſonniren iſt Verluſt.“ 


Mit den neuen Lehrern, beſonders aber mit den Aerzten, 
unterhielt ſich der Graf ausführlich über die Stellung 
und den Gebrauch ihrer Wiſſenſchaften zu der Sache 
des Heilands, und empfahl dringend, dieſe in allem als 
Richtſchnur feſtzuhalten. Er empfing hier auch vielen 
Beſuch von Erweckten aus der Nachbarſchaft, unter de— 
nen auch einige Prediger waren, welche, wie auch an— 
derwärts häufig vorkam, in ihren ſonſtigen Verhältniſ— 
ſen ganz verharrend mit den Brüdern innigſte Gemein— 
ſchaft hielten. Im Anfange des Novembers traf er in 
Herrnhut wieder ein, zog aber bald nach Bertholdsdorf 
in ſein altes Haus, welches er Bethel nannte, richtete 
ſeine, der Oertlichkeit gemäß, nur kleine Hausgemeinde 


D 408 Es 


bei fih ein, und hielt Verſammlungen, Predigten und 
Chorreden. Die Chöre der Eheleute, der Wittwer und 
Wittwen und der ledigen Schweſtern erfreuten ſich 
wiederholt ſeines beſondern Eifers. Er ſuchte jede 
Perſon einzeln genau kennen zu lernen, und jeder das 
ihr Heilſamſte darzubieten. Mit den Helferinnen hatte 
er noch eigne Berathungen, in welchen hinſichtlich der 
Jungfrauen unter andern ausgeſprochen wurde, fie hät— 
ten ſich dem Heilande treu und keuſch zu bewahren, 
auf daß alle ihre Glieder, alle ihre Handlungen, alle 
Umſtände ihres Lebens, dem Herrn zur Ehre und Freude 
werden möchten. 

So ferner in dem Kreiſe von Bertholdsdorf und 
Herrnhut, Großhennersdorf, Barby und andern nahen 
Orten ſeine perſönliche Anweſenheit wechſelnd, ſetzte er 
ſeine mannigfachen Thätigkeiten unermüdet fort. Im 
April 1756 wurde eine Synodalkonferenz gehalten, 
welche zunächſt die mähriſchen Brüder betraf, und die— 
ſen Tropus in ſich ſelbſt und in dem Ganzen der Brü— 
dergemeinde abermals befeſtigen half. Eine allgemeine 
Synode, zur Berathung und Stärkung in den einge— 
ſchlagenen Hauptwegen, und zur Beſorgung vieler ein— 
zelnen Geſchäfte, fand im Juni und Juli deſſelben Jah— 
res Statt. Während derſelben erlebte Zinzendorf den 
härteſten Verluſt, der ihn betreffen konnte. Die Gräfin 
war durch das bewegte und angeſtrengte Leben, welches 
ſie mit ihrem Gemahl geführt, in ihrer Geſundheit 
ſchon lange geſchwächt; ſeit dem Tode ihres geliebten 


e 409 BI 


Sohnes Chriſtian Renatus hatte ſich ihr Sinn merklich 
verändert; ohne beſonders zu leiden, nahm ſie allmäh— 
lig ab, und entſchlief endlich am 19. Juli ſanft und 
ſchmerzlos im dreiundfünfzigſten Lebensjahre. Sie wurde 
allgemein ſo ſchmerzlich beweint, daß Zinzendorf ſelbſt 
als Tröſter auftreten mußte, und die Rathſchlüſſe des 
Heilands auch in dieſem Heimgange zu ehren mahnte; 
ſie ſei müde geweſen, ſagte er, und habe ſich nach dem 
Sabbath geſehnt. Ihren hohen Werth und das reine 
Glück ſeiner Ehe hatte er von jeher liebend und prei- 
ſend anerkannt. Neun Jahre vor ihrem Tode bezeugte 


er öffentlich von ihr in den naturellen Reflexionen: 


„Ich habe fünfundzwanzig Jahr aus Erfahrung gelernt, 
daß die Gehülfin, die ich habe, die einzige geweſen, die 
von allen Enden und Ecken her in meinen Beruf paßt. 
Wer hätte ſich in meiner Familie ſo durchgebracht? 
Wer hätte vor der Welt ſo unanſtößig gelebt? Wer 
hätte mir in Ablehnung der trocknen Moral ſo klug 
aſſiſtirt? Wer hätte den Phariſäismus, der ſich alle 
dieſe Jahre hindurch immer herbei gemacht, ſo gründ— 
lich gekannt? Wer hätte die Irrgeiſter, die ſich von 
Zeit zu Zeit ſo gerne mit uns vermengt hätten, ſo tief 
eingeſehen? Wer hätte meine ganze Oekonomie ſo viele 
Jahre ſo wirthſchaftlich und ſo reichlich geführt, wie 
es die Umſtände erfordert? Wer hätte mir den Detail 
des Hausweſens ſo ungerne und doch ſo ganz abgenom— 
men? Wer hätte ſo ökonomiſch und doch ſo nobel ge— 
lebt? Wer hätte ſo apropos niedrig und hoch ſein kön— 


32 410 88 


nen? Wer hätte bald eine Dienerin, bald eine Herrin 
repräſentirt, ohne weder eine beſondere Geiſtlichkeit zu 
affektiren, noch zu mundaniſiren? Wer hätte in einer 
Gemeinde, wo ſich alle Stände beeifern einander gleich 
zu werden, aus weiſen und realen Urſachen eine gewiſſe 
Diſtinktion von außen und innen zu mainteniren ge— 
wußt? Wer hätte einem Ehegatten ſolche Reiſen und 
Proben paſſiren laſſen? Wer hätte zu Land und See 
ſolche erſtaunliche Mitpilgerſchaften übernommen und 
ſoutenirt? Wer hätte die Welt ſo apropos zu ehren 
und zu verachten gewußt? Wer hätte unter ſo man— 
cherlei faſt erdrückenden Gemeindeumſtänden ſein Haupt 
immer empor gehalten und mich unterſtützt? Wer end— 
lich unter allen Menſchen hätte, ereignenden Falles, ein 
wahreres, ein plauſibleres, ein überzeugenderes Zeugniß 
von meinem innern und äußern Privatweſen ablegen 
können, als eine Perſon von ihrer Kapaeität, von ihrer 
Nobleſſe zu denken, und von ihrer Unvermengtheit mit 
allen den theologiſchen Vorgängen, in die ich verwickelt 
worden!“ Früher ſchon, im Jahre 1738, ſagte er in 
einem Gedicht von ihr: 

„Ihre wicht'ge Rede, 

Die ſie an mich thut, 

Und ſo manche Töde 

Lieblich nennt und gut, 

Ihres Geiſtes Weide, 

Was die Sinnen ſchmerzt, 

Macht mein Herz voll Freude, 

Munter und beherzt. 


45 411 92 


Meine Herzensſchweſter! 
Du biſt wirklich ſo, 

Wie die Fürſtin Eſther, 
Deines Stands recht froh. 
Unter Centnerlaſten 
Stehſt du aufgericht, 

Als wenn ſie dir paßten; 
Ja, ſie drücken nicht! — 


Einen Blick der Freude 
Und der Innigkeit, 

Sah man, wenn wir beide 
Eine kurze Zeit 

Von einander waren, 

Und uns wiederſahn, 

In den ſechszehn Jahren 
Dir beſtändig an.“ u 
Sie wurde von Allen, welchen fie näher bekannt gewor— 
den, auf gleiche Weiſe geſchildert; da aber keine Ei— 
genſchaft tüchtig ſein kann, ohne Widerſpruch zu wecken, 
ſo hatte auch die ſeltene, hochſinnige Frau die bedenk— 
liche Ehre allgemeinen Lobes nicht, ſondern manche An— 
feindung, und ſogar die gröbſten Verläumdungen wohl— 
gemuth erfahren! Zinzendorf machte ſich es zum eig— 
nen Geſchäft, die mit ihr verlebten vier und dreißig 
Jahre vor dem Heilande ganz zu überdenken, die em— 
pfangenen Gnaden mit beſchämtem Dank, ſeine dabei 
nunmehr ihm bemerklichen Fehler und Mängel aber 
mit reuigen Thränen anzuerkennen. 


9 412 Bo 


Die Güter, welche bisher auf feiner Gemahlin 
Namen geſtanden, ließ Zinzendorf, der ſich mit welt— 
lichem Eigenthum nicht mehr befaſſen wollte, nunmehr 
auf ſeine Tochter Benigna übergehen, welcher demnach 
von den ſämmtlichen Erbunterthanen und Schutzgenoſſen 
in herkömmlicher Art gehuldigt wurde. Er ſelbſt wandte 
ſeine Thätigkeit unverdroſſen wie ſonſt auf die Sache 
des Heilands; er ſorgte nah und fern für die Angele— 
genheiten der Gemeinde, erbaute ſie durch Reden und 
Schriften, und traf die wichtige Einrichtung, daß alle 
Aemter, damit es nie an geübten und bewährten Die— 
nern fehlen möchte, doppelt beſetzt wurden. Nach Ae— 
gypten und Abyſſinien gingen neue Boten ab. Große 
Mühen gaben auch die Niederlaſſungen der Brüder in 
Nordamerika; der Krieg zwiſchen Frankreich und Eng— 
land brachte dort vielfache Bedrängniſſe. Der Einbruch 
der Preußen in Sachſen, mit welchem in dieſem Jahre 
der ſiebenjährige Krieg anhob, wurde zur bedenklicheren 
Störung, deren Ausgang Zinzendorf, welcher nicht ohne 
tiefe Bekümmerniß, doch mit gottergebener Faſſung in 
dieſen Sturm hineinſah, nicht mehr erleben ſollte. Herrn— 
hut ſah die kriegführenden Heere ganz in ſeiner Nähe, 
von beiden Theilen ſtanden ſogar öfters große Streit— 
kräfte, im Auguſt 1757 bis zu 200,000 Mann, in die⸗ 
ſer Gegend angehäuft, und Durchmärſche, Lieferungen 
und andres Ungemach verſchonte die Brüderorte nicht. 
Allein im Ganzen blieben ſie vor ärgſten Schreckniſſen 
bewahrt, und Beſuche frommer oder auch bloß neugie— 


39 413 83 


riger Kriegsbefehlshaber brachten Schutz und Anſehn. 
Die Gemeinde blieb in ihrem gewohnten Gange, alle 
Arbeiten wurden fortgeſetzt; auch Zinzendorf ſelbſt än— 
derte nichts in ſeinem Thun, nur hielt er ſich einſamer 
als ſonſt in ſeinem Hauſe, und litt nicht, daß von den 
Zeitläuften viel die Rede wäre. Sogar neue Bauten, 
ein neuer Gemeindeſaal, ein Haus für die Mädchen— 
anſtalt, ein neues Chorhaus für die Wittwen, kamen 
in dieſer Kriegeszeit, von welcher man ſonſt nur Hem— 
mung und Zerſtörung zu ſehen hatte, glücklich zu Stande, 
und zeugten von dem beſonderen Segen, der über Herrn— 
hut waltete. 

Seine ſtilleren Arbeiten unterbrach Zinzendorf auch 
jetzt bald wieder durch kleine Reiſen; er beſuchte im 
März 1757 Ebersdorf, im Mai die Gemeinden in Schle— 
ſien. Im Juni und Juli hielt er Synodalberathungen 
wieder in Herrnhut, wobei zur Leitung der Geſammt— 
ökonomie, ſo wie der verſchiedenen Diakonien der ein— 
zelnen Zweige, ein oberſtes Kollegium wirklich gebildet 
wurde; man fand auch im Geiſtigen ohne Unterlaß zu 
wachen und zu beſſern, und ließ ſich durch die merkliche 
Abnahme der früheren Anfeindungen nicht einſchläfern. 
Nicht nur wurden die Laſter, welche ſich in einzelnen 
Unwürdigen etwa zeigten, mit ſtrengem Eifer ausgetilgt, 
auch den Irrthümern und Unarten, welche hin und wie— 
der noch vorkamen, wandte man ſorgſame Abhülfe zu, 
und ſuchte die Gemeinde in jeder Hinſicht rein zu hal— 
ten, indem auch die Aufnahme in dieſelbe ſtets erſchwert 


em 414 Di 


wurde. Das Wichtigfte jedoch, was ſich für den Gra— 
fen und für die Gemeinde in dieſer Zeit ereignete, war 
ſeine neue Verheirathung. Durch den Tod der Gräfin 
hatte ſeine ganze Lebenseinrichtung einen großen Riß 
erfahren, ſein gewohnter Gang war unterbrochen, und 
ſeine Tage geriethen in merkliche Unordnung. Der 
Haushalt kam in Zerrüttung, die Pilgergemeinde, welche 
demſelben angehörte, ging auseinander. Zinzendorf 
ſelbſt gab ſich ungeregelt ſeinen Arbeiten hin, nahm 
gewöhnlich die Nacht zu Hülfe, und ſchwächte damit 
feine ohnehin ſchon wankende Geſundheit. Seine ein— 
ſichtsvollen Freunde und Mitarbeiter überlegten die 
Sache, und kamen dahin überein, daß er ſich baldigſt 
wieder vermählen ſollte. Dieſer ihm eröffnete Rath 
und Wunſch fand Eingang, und mit dem Entſchluſſe 
war auch ſogleich die Wahl entſchieden. Sollte ihm 
eine zweite Gattin werden, ſo konnte dieſe nur Anna 
Nitſchmann ſein, die bewährte Freundin und Gehülfin 
des Grafen und vieljährige Aelteſtin der Gemeinde, in 
welcher ihre Arbeit unter den Schweſtern reich geſegnet 
war. Ihr reiferes Alter, noch jüngere Tage gleichſam 
bewahrend, ſchien den Verhältniſſen eben gemäß, ihre 
geringe Herkunft durfte nach der Denkart der Brüder 
kein Hinderniß ſein. Die Verläumdungen, welche ſchon 
längſt den reinen und edlen Umgang dieſer befreunde— 
ten Seelen zu ſchmähen geſucht, waren zu niedrig, um 
irgend berückſichtigt zu werden. Da ſich alles günſtig 
für den neuen Bund vereinigte, ſo konnte die Trauung 


oe 415 S 


ſchon am 27. Juni 1757 in Bertholdsdorf vor ſich ge— 
hen, wovon Zinzendorf nachher alle Gemeinden durch 
ein beſonderes Schreiben, mit Angabe ſeiner Gründe 
und Betrachtungen, benachrichtigte. Seine Lebensweiſe 
geſtaltete ſich hierauf wieder freundlicher; die Hausge— 
meinde wurde hergeſtellt; ſeine Reden und Erbauungen, 
ſeine vielfachen Geſchäftsarbeiten gingen wie ſonſt, nah— 
men aber auch mit ſichtbarem Nachtheil ſeine Nächte 
noch oft in Anſpruch, welches man vergeblich abzuſtel— 
len ſuchte. 8 

Zwei Monate darauf trat er mit ſeiner Gemahlin 
eine Reiſe nach der Schweiz an; ſein Schwiegerſohn 
und ſeine beiden Töchter, Benigna und Eliſabeth, be— 
gleiteten ihn nebſt mehrerem Pilgergefolge. Ueber Barby 
und Marienborn begab er ſich zunächſt nach Montmi— 
rail, um die dortigen Brüder zu beſuchen. Hierauf 
ging er nach Genf, Bern, Aarau und Baſel, an wel— 
chen Orten aus allen Gegenden der Schweiz und aus 
dem Elſaß die zahlreichſten Freunde ſich um ihn ver— 
ſammelten, und ſeinen Vorträgen, die er theils deutſch 
theils franzöſiſch hielt, mit Eifer beiwohnten. Die 
Rückreiſe fiel ſchon in den Winter; durch die mannig— 
fachen Anſtrengungen ſeiner geiſtigen Arbeiten geſchwächt, 
wie er denn inmitten alles übrigen Treibens auch noch 
die Looſungen und andre erbauliche Schriften zum Druck 
förderte, und von den Beſchwerden der Jahrszeit hart 
befallen, kam er durch Schwaben und Franken erkrankt 
nach Ebersdorf, wo ſein Zuſtand den Seinigen und 


sm 416 Et 


ihm ſelbſt einen nahen Heimgang anzudeuten ſchien. 
Doch in des Heilands Willen gern ergeben, nahm er 
nun ſeine unvermuthete Geneſung dankbar an, wie er 
ſeine Abberufung empfangen hätte, und traf am Ende 
des Januars 1758 wieder in Herrnhut ein. Seine 
Thätigkeit konnte aber nicht ruhen; er gab ſich mit ge— 
wohntem Eifer ſeinen Vorträgen und allen Anſprachen 
hin, die ſich ihm zudrängten; er hielt neue Berathun— 
gen, aus welchen eine nochmalige Vermehrung der Ar— 
beiter, die Abtheilung der Chöre in mehrere Klaſſen, 
die Verfertigung von Hymnen und Liturgien für jedes 
Chor, und ſonſtige Nachhülfe aller Art hervorging; da— 
zwiſchen machte er kleine Reiſen, oft in ungünſtigſtem 
Wetter, und ſtrengte ſich durch alles dieſes dergeſtalt 
an, daß ihn im April ein Entzündungsfieber, welches 
damals herrſchte, gewaltig ergriff und dem Sterben 
nahe brachte. Doch genas er auch diesmal, aber wie— 
derum nur, um ſich neuen Arbeiten zu unterziehen. 
Bei kaum hergeſtellter Geſundheit reiſte er im Juni 
gleich wieder nach Neuſalz, um dortigen Berathungen 
beizuwohnen, wo vieles von der Lehre und den Ein— 
richtungen der Brüder verhandelt wurde. In Klein- 
welke bei Bauzen beſuchte er eine Gemeinde von Wen— 
den, die er in ihrer frommen Richtung und ihrem ei— 
genthümlichen Beſtehen ernſtlich bekräftigte. Nachdem 
er hierauf in Barby einige Wochen zugebracht, entſchloß 
er ſich ſogar zu einer größeren Reiſe nach Holland, wo 
mancherlei Verhältniſſe der Brüder ſein Wiederkommen 


e 417 a 


wünſchenswerth zu machen ſchienen, und auch vieles 
Nöthige in Betreff der Niederlaſſungen in Nordamerika, 
welche der Krieg durch Indianer und Europäer hart 
heimſuchte, ſo wie überhaupt der Miſſionen, deren Ge— 
deihen ſtets Einwirken erforderte, gelegner anzuordnen 
war. 

In Heerendyk, wo er mit ſeiner Hausgemeinde ſich 
zum Wohnen einrichtete, nahm er, auf Rath und An- 
dringen ſeiner Nächſten, zwar einige Rückſicht auf ſeine 
Geſundheit, lebte ſehr mäßig, hielt feſtgeſetzte Stunden 
zum Mittag- und Abendeſſen, arbeitete nicht in die 
Nacht hinein, und widmete täglich eine beſtimmte Zeit 
dem Spazierengehen und freundſchaftlichem Geſpräch; 
allein er ſchonte ſich in der übrigen Zeit um ſo weni— 
ger, hielt täglich drei Verſammlungen mit feiner Haus— 
gemeinde, mannigfache Berathungen, und griff, wie im— 
mer, redend, ſchreibend und ordnend überall ein. Vor 
allem drang er unabläſſig dahin, daß die Gemeinde 
von innenher blühte und gediehe; es ſei möglich, meinte 


er, daß noch eine höhere Gnadenökonomie komme, wenn 


aber das Evangelium irgend in einer größeren Klarheit 
ausbrechen ſollte, als die Brüder bis dahin es gehabt, 
ſo wären ſie verbunden, ſich gleich mit anzuſchließen, 
und ihre bisherige Geſtalt nicht länger zu bewahren, 
als dieſelbe dem Heiland ein nützliches Werkzeug ſeiz 
in dieſer Geſinnung freilich dürften, ſo hoffte er, ſie 
dem Geiſte nach ein ſolches Werkzeug bis zum Ende 
aller Zeiten bleiben. Er fertigte von Holland aus 
Biographiſche Denkmale. V. 27 


Sm 418 DU 


— 


mehrere Boten ab, nach Grönland, nach Nord- und 
Südamerika, und zum erſtenmale nach Oſtindien, wo— 
hin die Brüder auf die däniſchen Beſitzungen durch den 
König ſelbſt eingeladen worden. Die beſondre Sorg— 
ſamkeit des Grafen erfuhr auch der nächſtliegende Brü— 
derort Zeyſt, den er häufig beſuchte, und wo der Ge— 
meinde, durch ſeine Vermittelung, wichtige Grundſtücke 
geſichert wurden. Eine allgemeine Synode, die er zu 
verſammeln wünſchte, mußte wegen des fortwährenden 
Kriegs noch aufgeſchoben bleiben. Die Noth und Ge— 
fahr dieſer Unruhen traf die Brüder an manchen Orten 
ſehr hart; Sachſen und beſonders Schleſien waren der 
Schauplatz der blutigſten Schlachten und verderblichſten 
Truppenzüge; Herrnhut ſah wechſelnde Sieger; viele 
Ortſchaften, wo Brüder wohnten, wurden gänzlich zer— 
ſtört; die meiſten Gemeinden litten von Einquartierung 
und Geldforderungen großes Ungemach, ſo Neuwied, 
wo die franzöſiſchen Truppen lange gehauſt hatten, und 
ein troſtreicher Beſuch des Grafen ſehr willkommen 
war. Er kehrte von hier nach Holland zurück, wo er 
bis gegen die Mitte des Novembers noch in Zeyſt un— 
ter gewohnten Arbeiten verweilte, dann aber mit ſeinem 
Gefolge, jedoch ohne ſeine Tochter Benigna und ihren 
Gatten, welche nach England zur Viſitation der dorti— 
gen Gemeinden übergeſchifft waren, ſeine Rückreiſe nach 
Sachſen antrat. Nach einigem Aufenthalt in Barby 
und Kleinwelke kam er zur Chriſtnacht in Herrnhut an, 
und beging dieſe und den Antritt des Jahres 1760 mit 


39 419 2 


der Gemeinde ſehr andächtig und feierlich. Hier fan— 
den ſich auch alsbald Benigna und Johannes von Wat— 
teville aus England wieder ein, und Zinzendorf hatte 
die Freude, mit letzterem, der in Anſichten und Hand— 
lungsweiſe ſeit einigen Jahren merkbar von ihm abwich, 
welches ihrer Liebe zwar nicht Eintrag gethan, doch 
aber manche Aeußerung über den beſtehenden Unterſchied 
verurſacht hatte, durch herzliche Verſtändigung in die 
frühere Einigkeit zurückzukehren. Ueberhaupt widmete 
er dem inneren Zuſtande der Seelen, auf welchen ihm 
alles ankam, auf's neue den ſorgſamſten Fleiß. Die 
ganze Gemeinde beſprach er einzeln der Reihe nach, um 
jedes Mitglied ganz kennen zu lernen, ihm zu helfen, 
zu rathen, und alle in gleicher Richtung zu erhalten. 
Das Fortbeſtehen der Brüderfache glaubte er neben der 
Führung der Aemter beſonders von der Wahl der Per— 
ſonen abhängig, welchen die Aufnahme in die Gemeinde 
geſtattet würde. Man ſolle hiebei, empfahl er dringend, 
nur mit größter Vorſicht verfahren, und die Schwierig— 
keiten lieber mehren als mindern; die Brüdergemeinde 
ſei als eine Anſtalt zu betrachten, welche beſonderen 
Zwecken der Vorſehung diene, nicht aber für jeden Men— 
ſchen zum Seelenheil erfordert werde; nicht wer über— 
haupt ſelig werden wolle, ſondern wer zu dieſem eigen— 
thümlichen Wege, das Heil zu erlangen und zu fördern, 
ſeinen beſondern Beruf unzweifelhaft darthue, ſei in 
die Gemeinde aufzunehmen; ebenzſo habe man bei den 
Verheirathungen, durch welche der eigentliche Stamm 
27 * 


3m 420 BL 


der anfäffigen Einwohner und Bürger der Gemeinde— 
orte fortgepflanzt würde, genau darauf zu achten, was 
dem Ganzen erſprießlich ſei; das Häuflein ihrer Mit— 
glieder möchte immerhin klein bleiben, wenn es nur die 
Gnade des Heilands bewahre. Eifrig empfahl er hin— 
gegen zu herzlichem Verkehr und traulichem Anſchließen 
die ächten Kinder Gottes und Liebhaber des Heilands, 
welche ſich in allen Religionen vertheilt fänden, und, 
ohne Glieder der Gemeinde fein zu können, doch an 
deren ſegenreichem Wirken Theil zu haben wünſchten. 
Solcher zugewandten Freunde, in der Welt ausgeſtreut, 
und daher Diaſpora genannt, haben in der That von 
jeher eine große Zahl ſich den Brüdern angehörig er— 
halten, und als eine auch dieſen fruchtbare Genoſſen— 
ſchaft erwieſen. So ſtellte Zinzendorf gegen das Ende 
ſeiner Laufbahn das ausgebildete Werk ſeines Lebens 
auf denſelben Grundſätzen neuerdings feſt, auf welchen 
daſſelbe auch im unentwickelten Anfang ſchon glücklich 
gediehen war. Mit Dank und Rührung blickte er häu— 
fig auf jene frühere Zeit zurück, heiter und muthig ſah 
er eben ſo der nächſtkommenden entgegen. Für die Sy— 
node, welche mit dem erſehnten Frieden erwartet wurde, 
ſuchte er die Arbeiten mit großem Fleiße möglichſt vor— 
zubereiten. Seine täglichen Geſchäfte betrieb er mit 
großem Eifer. Die Looſungen für das Jahr 1761 fer— 
tigte er zum Druck. Im Anfange des Mai unterbrach 
er dieſe Arbeiten, und ſchickte ſich an, nochmals eine 
Reiſe nach Holland zu machen. Eine andre Unter— 


brechung jedoch war dieſem und jedem ferneren Vor— 
haben zugedacht. 

Seine Gemahlin erkrankte, und zwar ſo heftig, 
daß man alsbald an ihrem Aufkommen zweifeln mußte. 
Doch ehe noch dieſe Krankheit zur Entſcheidung kam, 
ſah er ſich ' ſelbſt von einer ſchneller entſchiedenen be— 
fallen. Sein Körper befand ſich ſchon ſeit längerer 
Zeit, wie die häufigeren Krankheiten der letzten Jahre 
bewieſen, in einem Zuſtande der Schwächung, der ihn 
für jeden Eindruck empfindlicher machte. Den 5. Mai 
1760 fühlte er ſich unwohl, verrichtete aber noch ſeine 
vormittägige Arbeit, ſetzte ſich mittags zu Tiſch, machte 
dann ein Gedicht auf den Feſttag der ledigen Schwe— 
ſtern, und beſuchte deren Liebesmahl, bald jedoch mußte 
er ſich zu Bette legen, und von dem herbeigerufenen 
Arzte wurde die Krankheit für ein hitziges Katharral— 
fieber erklärt. Schon gewohnt an ſolches ihm mehr— 
mals im Jahre wiederkehrendes Uebel, ſah er doch gleich 
den jetzigen Anfall als etwas beſonderes an. Abends 
redete er mit ſeinen drei Töchtern und einigen Haus— 
genoſſen ſehr vertraulich und lieblich über ſeinen Zu— 
ſtand. In jeder Krankheit, ſagte er, habe er ſonſt einen 
Wink des Heilands vorausgeſetzt, und auch immer, bei 
genauerem Forſchen, leicht erkannt, und darauf gethan, 
was zu ſeiner inneren Beſſerung nöthig geweſen, wor— 
auf die äußere bald erfolgt; diesmal aber ſei es an— 
ders, der Heiland verweiſe ihm nichts, ſondern gebe 
ihm ein heitres Gemüth und einverſtandene Zuverſicht. 


559 422 83 


In großer Schwäche brachte er die nächften Tage, in 
faſt gänzlicher Schlafloſigkeit die Nächte zu, doch wollte 
er nicht gleich allem Antheil an den Geſchäften ent— 
ſagen, und ließ ſich noch die neueſten Nachrichten von 
den Heidenbotſchaften der Brüder vorleſen. Der zu— 
nehmende Huſten hinderte ihn am Reden, doch bekam 
er am 8. einige Erleichterung, und ſprach viel mit den 
Umſtehenden, unter welchen ſeines älteſten Freundes 
Friedrich von Watteville Gegenwart ihn beſonders 
freute; die vertrauteſten Gemeindearbeiter wechſelten 
Stunde um Stunde bei ihm ab, und empfingen ſeine 
liebevollſten, zärtlichſten Worte, die er mit den freu— 
digſten Blicken begleitete. Einem Anfall von Steckfluß, 
der ihm die Zunge ſchwer machte, entrang er ſich wie— 
der, ließ am 9. Mai in aller Frühe Johannes von 
Watteville rufen, und ſagte ihm, der ganz nahe zu ihm 
ſich hinbeugen mußte, mit ſchwacher Stimme: „Mein 
lieber Sohn, ich werde nun hingehen. Ich bin mit 
meinem Herrn ganz verſtanden. Er iſt mit mir zu— 
frieden. Ich bin fertig zu ihm zu gehen. Mir iſt 
nichts mehr im Wege.“ Darauf ſprach er mit ihm 
noch über einige Gegenſtände der letzten Berathungen, 
und empfahl ſie ſeiner Obhut. Friedrich von Watte— 
ville und David Nitſchmann empfingen auch noch liebe— 
volle Worte von ihm. Seine Töchter, die er ſodann 
rufen ließ, grüßte und ſegnete er mit freundlichen 
Blicken und Neigung des Hauptes, konnte aber, durch 
einen neuen Steckfluß gelähmt, nicht mehr mit ihnen 


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reden. Um fein Bette her und in den nächſten Zim⸗ 
mern hatten ſich unterdeß wohl hundert Brüder und 
Schweſtern verſammelt; er ſah ſich einigemal freund— 
lich nach ihnen um, nahm ihre thränenvollen Abſchieds— 
blicke heiter auf, legte ſein Haupt zurück, ſchloß die 
Augen, und während Johannes von Watteville die 
Worte ſagte: „Herr! nun läſſeſt du deinen Diener in 
Frieden fahren!“ hauchte er mit dem Worte „Frieden“ 
den letzten Athem aus. Alſo verſchied Zinzendorf, 
deſſen Sterben nicht, wie das mancher Andern, nur 
als das Ende ihres Lebens obenhin, ſondern, als eine 
weſentliche Mitgift und Verherrlichung m. Lebens, 
umſtändlich zu berichten war. 

Sein Heimgang wurde der Gemeinde, wie dies 
bei jedem Sterbefalle an Brüderorten zu geſchehen 
pflegt, durch Poſaunentöne verkündiget. Die ganze 
Gemeinde verſammelte ſich nachmittags auf dem Bet— 
ſaale, vernahm von Johannes von Watteville eine 
kurze, dem Vorgang gewidmete Rede, fiel auf die 
Kniee, und pries den Heiland, der durch den Abgeſchie— 
denen ſo viele Gnade gewirkt. Am folgenden Tage 
wurde der Leichnam mit einem weißen Talar bekleidet, 
wie ſolchen bei Kirchenhandlungen die Biſchöfe der 
Brüder zu tragen pflegen, in einem violet beſchlagenen 
Sarge ausgeſtellt, und von der ganzen Gemeinde chor— 
weiſe beſichtigt. Erſt am 16. Mai, nachdem bis dahin 
der geſchloſſene Sarg noch immer von wechſelnden Ge— 
ſellſchaften der Brüder und Schweſtern unter erbau— 


iD 424 I 


lichen Geſprächen und Geſängen umſtellt geblieben, er: 
folgte das Begräbniß. Daſſelbe mitanzuſehen waren 
aus der umliegenden Gegend über zweitauſend Fremde 
nach Herrnhut gekommen, unter ihnen angeſehene öſter— 
reichiſche Offiziere, und ſelbſt von den in Zittau ſtehen— 
den Truppen eine Ehrenwache Kaiſerlicher Grenadiere. 
Außer den fremden Zuſchauern begleiteten zweitauſend— 
einhundert Gemeindeglieder den Sarg, welchen zwei— 
unddreißig Prediger und Diakonen, wie ſie eben aus 
verſchiedenen Gemeinden, zum Theil aus Holland, Eng— 
land, Nordamerika und Grönland, zugegen waren, ab- 
wechſelnd trugen. Unter Muſik und Abſingung von 
Liedern, auch des Chorals: „Ei wie ſo ſelig ſchläfeſt 
du, und träumeſt ſüßen Traum!“ geſchah die Beſtat— 
tung auf dem Hutberge, dem Gottesacker der Ge— 
meinde, mit den üblichen Gebräuchen, während eine 
ſtille Ehrerbietung alle Anweſenden und ein ſeliger 
Frieden ganz Herrnhut erfüllte. Dem Grafen wurde 
ſpäter ein Leichenſtein geſetzt, als beſondre Ausnahme 
von der ſonſtigen Gleichheit für ihn ein größerer, als 
die der Andern, mit der Inſchrift: „Allhier ruhen die 
Gebeine des unvergeßlichen Mannes Gottes, Nikolai 
Ludwigs, Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pot- 
tendorf, der durch Gottes Gnade und ſeinen treuen 
und unermüdeten Dienſt in dieſem achtzehnten Sekulo 
wieder erneuerten Brüderunität würdigſten Ordinarit. 

Er war geboren zu Dresden am 26. Mai 1700 und 
ging ein zu Herrnhut in ſeines Herrn Freude am 


m 425 Bi 


9. Mai 1760. Er war dazu geſetzt, daß er Frucht 
bringe, und eine Frucht, die da bleibe.“ Ihm zur Lin- 
ken lag ſeine erſte Gemahlin begraben, bald auch wurde 
zu ſeiner Rechten ihm die zweite zugeſellt; ſie folgte 
ihm noch in demſelben Monate nach, mit gleicher hei— 
teren Ergebung in des Heilands Willen. Mit ſeiner 
erſten Gemahlin hatte Zinzendorf ſechs Söhne und 
ſechs Töchter gehabt, von welchen aber die meiſten früh 
wieder verſtorben waren, nur drei Töchter überlebten 
ihn, Benigna, vermählt mit Johannes von Watteville, 
Marie Agnes, welche den Grafen Moritz von Dohna, 
ebenfalls ein Mitglied der Brüdergemeinde, heirathete, 
und Eliſabeth, deren Gemahl ein Freiherr Friedrich 
von Watteville wurde. Sie folgten nebſt ihren Gatten 
den Wegen des Vaters treu und eifrig nach, und blie— 
ben der Brüdergemeinde hülfreich angeſchloſſen und in 
geſegnetem Andenken. 

Zinzendorf war von Geſtalt groß, in der Jugend 
ſchlank, in ſpäteren Jahren wohlbeleibt; ſein Anſehn 
deutete auf Kraft und Geſundheit, die nur durch An— 
ſtrengungen erſchüttert worden. Seine Haltung und 
Geberden waren ungezwungen, oft nachläſſig, doch vor— 
nehm und bedeutend; man ſah ihm den höheren Stand 
an, in welchem er geboren worden. Sein Geſicht hatte 
wohlgebildete Züge, einen ſchönen Mund, eine hohe 
Stirn, ſeine blauen Augen waren voll dunklen Feuers 
und milder Freundlichkeit. Sein Erſcheinen war ſo— 
gleich gewinnend, ſein Benehmen offen, zutraulich und 


BD 426 S 


liebreich, mit Leuten geringen Standes voll gleichſtel— 
lender Güte, mit Gebildeten und Vornehmen fein und 
gemeſſen. Weich und klangvoll trug ſeine Stimme 
ſeine fließende Rede, ſeinen wohltönenden Geſang; ſein 
Geſpräch reizte durch eigenthümlichen Gehalt und an— 
muthige Wendungen. Unter allen Umſtänden behielt 
ſeine Rede die ſorgloſe Natürlichkeit der gewöhnlichen, 
bequemen Umgangsſprache, ohne Schmuck und Aufſpan— 
nung, und nur erhaben, feierlich, rührend und fort— 
reißend, wenn die Gewalt des Innern ſie dazu machte. 
Mit jeder Sinnesweiſe und Denkart, auch mit ganz 
feindlicher, wußte er geſchickt und nicht ſelten fruchtbar 
zu verkehren; dabei verläugnete er ſeine eigne Mei— 
nung keineswegs, ſondern ſagte ſie in unverſtellter Auf— 
richtigkeit grade heraus, und damit bisweilen dem Hörer 
die härteſte Wahrheit, ohne daß dieſer beleidigt wor— 
den wäre. Ein überwiegendes Anſehn, das von ihm 
ausging, kannte er wohl, und mochte deſſen Wirkung 
nicht grade zurückhalten. Die natürliche Stimmung 
ſeines Weſens aber, wenn ſie nicht geſtört wurde, war 
zutrauliche Einfalt und harmloſe Fröhlichkeit, ſie ging 
in muntre Laune und ſogar in ſtreitbaren Scherz und 
Witz über, wenn hiezu der Anlaß war. Regten irgend 
Eindrücke ihn tiefer an, ſo entfaltete ſich die Kraft ſei— 
nes drangvollen Herzens, ſeines feurigen Gemüths und 
beflügelten Geiſtes in leidenſchaftlicher Fülle. Die reiz— 
barſte Seele, von lebhaften Vorſtellungen bewegt, führte 
jeden ergriffenen Gegenſtand ſtets allzu leicht zur Ueber— 


BD 427 


treibung, und welchſelte darin von einem Aeußerſten 
zum andern. Sein aufwallender Eifer übte häufig zu 
große Strenge, ſeine zärtliche Vorliebe nicht ſelten zu 


große Nachſicht; oft ertrug er mit größter Geduld har— 


ten Widerſpruch und Tadel, meiſt aber ſetzte ihn auch 
ſchon der kleinſte Einwurf, den er nicht erwartet hatte, 
in unverhältnißmäßige Hitze, bis er Zeit gewann ſich 
zu beſinnen. Ein bei kleinen Umſtänden hartnäckig ver— 
weilendes Schelten und Zanken, z. B. über eine nach 
ſeinem Dünken unrecht geſtellte Bank, war ihm, wie 
überhaupt jenem Zeitalter, eigen; hatte ſein Unmuth 
ſich ergoſſen, ſo war jedoch alles vorbei, und ſeine 
Heiterkeit jedes hohen Schwunges fähig. Leicht ein— 
genommen von einer Vorſtellung, ließ er ſie dann un— 
bedingt herrſchen, ſo lange es ging; ſo war in einer 
Zeit das Wort arme Sünder alles bei ihm, in andrer 
war es das Blut der Verſöhnung, und eben ſo ver— 
tauſchte er dies wieder mit andrem Lieblingsausdruck, 
worein man ſich denn fügen mußte. In ſpäterer Zeit, 
da fein großes, umfaſſendes Gedächtniß öfters in der! 
Treue nachließ, wurde dies eine Quelle mancher Son— 
derbarkeit, da er Dinge läugnete, deren Beweiſe vor— 
lagen, und andre behauptete, die nie ſo geſchehen waren; 
denn er hatte ſich gewöhnt, ganze Ereigniſſe nur in 
Einem ihrer Bezüge zu beurtheilen und feſtzuhalten, 
und wollte dann in der Folge ſie auch nur in dieſem 
einen, oft von andren Mitwiſſern unbeachteten Bezuge 
gelten laſſen. 


on 428 8-8 


Mit einer großen Phantaſie begabt, aus deren 
mächtiger Gluth ſeine raſtloſe Thätigkeit ſich ſtets er— 
neute, war er jeden Augenblick ſich ſelber zum Ge— 
brauche fertig, der Begeiſterung ſicher, wo und wie ſie 
gefordert war. Doch ihm diente das Feuer ſeiner Ein— 
bildungskraft nicht ſowohl, als es ihn vielmehr be— 
herrſchte und leitete; die von daher belebten Vorſtellun— 
gen wirkten mächtiger ſogar, als das unmittelbare Ge— 
fühl, welches ſeinem Herzen zu jeder menſchlichen Theil— 
nahme ſonſt reichlich inwohnte. Hierüber ſagt er ſelbſt 
im Anfange der naturellen Reflexionen: „Ich habe die 
Bequemlichkeit nicht, unter die Leute zu gehören, die 
entweder vom Gefühl regieret, oder durchs Gefühl ſa— 
tisfacirt, oder auch nur durch Gefühl amufirt würden: 
ich gehöre unter die denkende Leute, und unter die 
Leute, die ſehr abftraft denken, die geſchwind denken, 
und denen die Gedanken zu nahe an einander hängen, 
um einen oder mehreren übrigen Bildern dazwiſchen 
Raum zu laſſen. Ich verwerfe die Empfindung nicht; 
ich halte ſie für einen beſondern Tropum der Providenz 
mit dem menſchlichen Gemüth zu handeln; ich habe 
durch meinen Beruf was davon kennen gelernt; ich bin 
ſelbſt nicht ohne Empfindung geblieben; und in ſo ferne 
ſie unter die inneren Fakultates gehört, ſo habe ich 
doch das unentbehrlichſte davon bei Gelegenheit auch 
zur Hand gehabt: aber ich kann mich auf keine Weiſe 
unter diejenige zählen, die die Empfindung als ein Ta— 
lent anzuſehen haben.“ Seltſam aber nennt er hier 


aD 429 K 


Denken, was eben nicht dieſes, wobei es vor allen 
Dingen auf geſetzlichen Zuſammenhang der Begriffe 
ankommt, ſondern nur gleichſam ein raſches Bewegen 
eines geiſtigen Inhalts iſt, und ungeachtet der logiſchen 
Gebilde dieſes aufgeregten Inhalts doch weſentlich der 
Phantaſie angehört. Denn wiewohl Zinzendorf ſich 
mit den höchſten Gegenſtänden der Erkenntniß unauf— 
hörlich beſchäftigte, und oft die tiefſinnigſten Erſchaue 
glücklich faßte, ſo kann man doch den Namen eines 
Denkers dem nicht vorzugsweiſe beilegen, der ſeine 
Gedanken nur als eine Mannigfaltigkeit beſitzt, ohne je 
eine Einheit und Mitte zu geſtalten, aus der ſein ge— 
ſammtes Wollen und Schauen ſich folgerecht ableitete. 
Wir haben geſehen, wie ſehr der Mangel an Wiſſen— 
ſchaftlichkeit in ſeiner Glaubenslehre ihn ſelbſt und ſeine 
übereilt nach Zufall ergriffenen Behauptungen bloßge— 
ſtellt ließ. Seine Begabung lag nicht nach dieſer 
Seite, deſto reichlicher nach einer andern. Er war 
auserſehen zu lebendigem Wirken auf Welt und Men— 
ſchen, und darin iſt er gewiß den erſten Männern aller 
Zeiten zu vergleichen. Hiezu waren alle Talente in 
ihm vereinigt; Fähigkeit, einen großen würdigen Ge— 
genſtand zu erfaſſen, und in allen ſeinen Zerſplitterun— 
gen und Verfremdungen niemals zu verlieren; richtige 
Einſicht im Allgemeinen von Welt und Menſchen, takt— 
volles Urtheil über ſie im Einzelnen, vielartigſte Klug— 
heit und Gewandtheit ſie zu behandeln; Leichtigkeit 
zum Anordnen und Ausführen; erfinderiſche Mannig— 


BD 430 8-3 


faltigkeit in Hülfsmitteln und Auswegen, mit ſtets 
feſtem Abſehn auf das Ziel; kühnes Vorſchreiten und 
behutſames Maßhalten; Stärke des einſamen wie des 
öffentlichen Handelns; Muth, Geiſtesgegenwart, Aus— 
dauer, ohne welche nichts vollbracht wird; zu allem 
dieſen das unauslöſchliche Feuer der arbeitſamſten Thä— 
tigkeit, und die ſtets gerüſtete Macht der Beredſamkeit, 
der ſchriftlichen und mündlichen, das wahre Meiſter— 
zeichen des Staatsmannes, — wir fragen, welcher we— 
ſentlichen Eigenſchaft Zinzendorf zu einem ſolchen wohl 
noch entbehrte? Ein Staatsmann unſtreitig war er, 
ein Staatsmann erhabner Art, wie der Fürſt und das 
Reich ihn bedingten, denen ſein Dienſt gewidmet war. 
Er floh die hieſigen Geſchäfte nur aus Liebe zu den 
höchſten, die allein ihm genügen konnten. Auf dieſem 
Standpunkt, auf dieſer Bahn möchte gegenwärtige Le— 
bensbeſchreibung ihn vorzugsweiſe gezeigt haben. 

Doch ſo große und reiche Eigenſchaften, wie glän— 
zende Perſönlichkeit ſie auch für die Welt gebildet hät— 
ten, würden hier noch wenig bewirkt haben, ohne den 
tiefen und mächtigen Gehalt, der ſie als heilige Flamme 
durchleuchtete und bewegte, die Glaubensbegeiſterung 
und Frömmigkeit, welche von Anbeginn und bis zum 
letzten Hauche das Leben Zinzendorf's erfüllten. Ins— 
beſondre auf den Heiland bezogen, war dieſe religiöſe 
Durchdrungenheit der unerſchütterliche Grund alles ſei- 
nes Treibens. Welcherlei Drangſal ihn auch betreffen, 
in welche Verwirrung er auch gerathen mochte, ſtets 


j 
| I 
4 


— 8431 > 


fand er in ſeinem Innern die heilige Stätte wieder, 
in welcher ihm Zuflucht und Stärkung ſicher war. Da— 
her konnten keine Abſchweifungen der Phantaſie, keine 
Schwachheiten des Gemüths und Mängel des Geiſtes 
ihm dauernd ſchaden, weil unter allem dieſen der ächte 
Quell der Frömmigkeit dort fortrauſchte, und er zur 
Rückkehr dahin den Weg nie verlor. Daß man an der 
Aechtheit dieſer Frömmigkeit oft gezweifelt, daß auch 
wohl ſeine Nächſten an ihm irr geworden, und ſogar 
ſeine Tante witzig von ihm geſagt, er habe im Reiche 
der Demuth nach der oberſten Stelle geſtrebt, dies 
darf uns nicht befremden. Auch wir läugnen die Ein— 
miſchung vieler Irrthümer, weltlicher Abſichten und ir— 
diſcher Hülfsmittel in Zinzendorf's Handlungen keines— 
wegs; er war allerdings neben dem frommen auch der 
vornehme Mann, zugleich ein Diener und das Haupt 
der Gemeinde, ließ oft den ſchmeichelhaften Verehrun— 
gen ſeiner Perſon und ſeines Namens allzu vielen Raum, 
ſuchte ſein Werk und Anſehn auch vor der Welt gün— 
ſtig herauszuſtellen; oft beherrſchte ihn Willkür, leitete 
ihn Vorurtheil, beſtimmte ihn perſönliche Rückſicht; dem 
allgemeinen Menſchengeſchick im bewegten Weltleben 
entging er nicht. Doch die Perſönlichkeit, welcher Gro— 
ßes aufgetragen iſt, muß auch ſelber bedeutend auftre— 
ten, ihr eignes und die höheren Intereſſen verſtricken 
ſich unauflöslich, und laſſen ſich nicht mehr getrennt 
behandeln. Ein erfahrner und dabei kindlicher Menſch, 
wie Zinzendorf war, wird immer ſich ſelbſt als näch— 


55 432 . 


ſten Gegenſtand empfinden, wird oft und ausführlich 
von ſich zu reden haben, ſein Thun und Leiden, ſein 
Wollen und Hoffen, ja ſein Verdienſt und ſeine Tugend 
erörtern müſſen, ohne daß man ihn deßhalb eitler Selbſt— 
liebe beſchuldigen darf. Allein hier kann Zahl und Art 
ſolcher Mängel, wie ſie der gemeine Tag erſcheinen 
läßt, nichts entſcheiden; wenn die Frage iſt nach Fal— 
ſchem oder Aechtem, ſo kommt es auf die Urbezeichnung 
an, welche das innerſte Weſen trägt, und in dieſem 
Betreff, wir wiederholen es, ſteht uns Zinzendorf in 
unzweifelhafter Reinheit und Würdigkeit. 

Was er hervorgebracht, iſt ſeine beſte Lobrede. 
Sein Werk, verbreitet in allen Welttheilen, beſtehet in 
ſegenreichem Fortgang. In Deutſchland, Holland, Groß— 
britannien, Dänemark, Schweden, Rußland, in Nord— 
und Südamerika, Grönland, Afrika, Weſt- und Oſt— 
indien, ſind herrnhutiſche Gemeindeorte, Kolonien oder 
Miſſionen, in welchen überall, nach jetzt einſtimmigen 
Zeugniſſen, ſtiller Fleiß und glücklicher Frieden herrſcht, 
und ein eigner Geiſt der Frömmigkeit ſich in den Ein⸗ 
richtungen Zinzendorfs mit ſeltner Treue fortpflanzt. 
Nicht jeder nach einem ſeligen Leben verlangende Fromme 
darf die Brüderanſtalten für ſein Bedürfniß angeordnet 
glauben, Zinzendorf ſelbſt warnt oft gegen dieſen Irr— 
thum, aber jedem unbefangenen Beobachter werden ſie 
in ihren Ergebniſſen ſtets achtungswerth erſcheinen müf- 
ſen. Ein vorzügliches Bild herrnhutiſcher Sinnesart 
und Verhältniſſe hat Goethe in den Bekenntniſſen einer 


e 433 S 


ſchönen Seele niedergelegt; daſſelbe iſt dem inneren 
Gehalte nach ſo wahr und ächt, als durch die Dar— 
ſtellung reizend und eindringlich, und wir müſſen mit 
Schiller übereinſtimmend hier die Macht des Genie's 
bewundern, durch welche dieſen Stoff die Dichtung ſo 
gründlich, wie es ſonſt nur die von der Sache ſelbſt 
erzeugte Geſinnung könnte, ſich angeeignet hat. Frie— 
drich Leopold Graf zu Stolberg bezeugt dies gültig. 
Ein würdiges Bild von Zinzendorf's perſönlichem Auf— 
treten hat Steffens in den Kreis ſeiner Dichtungen von 
den Familien Walſeth und Leith erfreuend eingeflochten. 

Blicken wir von dem gelungenen Werke Zinzen— 
dorf's auf ſein ſtrebendes Wirken zurück, ſo finden wir, 
daß allerdings dieſes letztere durch eine wunderbare 
Vereinigung vieler mitwirkenden Vortheile begünſtigt 
werden mußte, um ein ſolches Ergebniß liefern zu kön— 
nen. Schon der Grafenſtand Zinzendorf's iſt in dieſem 
Betracht von nicht zu überſehender Wichtigkeit; nach 
ganzen Richtungen hin und durch manchen ſchwierigen 
Moment erhielt ſich die Sache vorzugsweiſe auf jener 
Stütze. Es bedurfte der politiſchen Verhältniſſe von 
Deutſchland, ihrer Zerriſſenheit und Gegenſätze, ferner 
der erſchöpften Zuſtände der proteſtantiſchen Kirche über— 
haupt, damit ſolch neue Religionsweiſe Boden gewänne, 
und ſich zu eigenthümlichem Beſtande ausbildete. Nicht 
weniger gehörte dazu, daß der Stifter nur mit Be— 
geiſterung, aber ohne eigentlichen Plan handelte, denn 
einen ſolchen, dem er nach ausgedachten Grundlinien 

Biographiſche Denkmale. V. 28 


Hm A434 Bi 


zu einem beſtimmten Ziel gefolgt wäre, hat er nie ge— 
habt; in der freien Lebensbewegung allein konnte dieſe 
Sache den wenigſten Hinderniſſen begegnen, nur nach 
und nach aus ſich ſelbſt und den Umſtänden ſich geſtal— 
ten. Merkwürdig bleibt es immer, auch unter allen je— 
nen Begünſtigungen, wie grade zwiſchen den verheerend— 
ſten Weltſtürmen — die Kriege Karls des Zwölften 
wütheten im Anfange des Jahrhunderts, die Kriege 
Friedrichs des Großen über die Mitte hinaus, — und 
neben der entgegenſtehenden, erfolgreichen, zu Glanz 
und Herrſchaft gelangenden Denkart des Zeitalters, in 
welchem das Genie und die Thätigkeit Voltaire's wirk— 
ten, dieſe milde Friedensgeſtalt chriſtlicher Frömmigkeit 
glücklich emporwachſen konnte. Nicht vergeſſen ſei hier 
auch die große Zahl tüchtiger und zuverläſſiger Män— 
ner, die als treue Gehülfen ſich zu dem Grafen fanden, 
die Chriſtian David, Nitſchmann, Dober und ſo viele 
andre Männer zum Theil von größtem Karakter und 
Gaben, und wie ſie ſtets um einen Höheren, zu deſſen 
Beglaubigung und Dienſt, unbegreiflich woher auf ein— 
mal, ſich verſammeln. Dieſe waren zugleich eine Pflanz⸗ 
ſchule würdiger Nachfolger Zinzendorf's. Unter ihrem 
ordnenden Wirken, durch Johannes von Watteville, 
Gregor, Layritz und Andre, beſonders aber durch Span— 
genberg's langjährige Thätigkeit, hat die Brüderge— 
meinde ſich in der Folge von vielen Uebertreibungen 
gereinigt, die Spielereien und Ueppigkeiten in Liedern 
und Gebräuchen noch mehr abgeſchafft, und ihre Ver— 


on 435 


faffung auf gründlichen Einrichtungen neu befeftigt. 
Auch der Haushalt der Geſammtheit, welche bei Zin— 
zendorf's Ableben noch gegen 150,000 Thaler Schulden 
gehabt haben ſoll, kam auf ſichern Fuß. Dabei wurde 
in den weſentlichen Anordnungen des Stifters, deſſen 
Namen ſtets in größten Ehren gehalten wird, nur we— 
niges geändert; noch immer waltet ſein Geiſt und Sinn; 
auch ſeine beſondre Sprachweiſe, in zarter Naivetät 
vieler herkömmlichen Ausdrücke die gleiche für den ge— 
wöhnlichen Umgang wie für den kirchlichen Gebrauch, 
verblieb den Herrnhutern bis auf den heutigen Tag ein 
treulich überliefertes Vermächtniß. 

Als Schriftſteller war Zinzendorf ungemein frucht— 
bar und wirkſam; über hundert ſeiner Werke, größere 
und kleinere, ſind gedruckt, ſie finden ſich an den ge— 
wöhnlichen Orten verzeichnet, die wichtigſten theils im 
Früheren auch hier ſchon angegeben; eine Menge von 
Briefen, Tagebüchern und andern Aufſätzen, find hand⸗ 
ſchriftlich aufbewahrt. Der Werth dieſer Arbeiten iſt 
ſehr ungleich, es findet ſich kein einziges durchbildetes, 
gediegenes Werk darunter, aber in den meiſten ſchöne 
Gedanken, hinreißendes Gefühl, anmuthige und geiſt— 
reiche Wendung. Die natürliche, nach Eingebung und 
Behagen des Augenblicks leicht hinfließende Umgangs— 
ſprache, die er auch im Schreiben behielt, verſchaffte 
ihnen bei den verſchiedenſten Klaſſen deſto leichter Ein— 
gang. In ſeinen Gedichten trägt er meiſt die Schuld 
ſeiner Zeit, welche in dichteriſcher Bildung ſehr zurück— 

28 * 


9 436 8. 


ſtand; wir haben daher nur genügende, nicht reichliche 
Proben ſeiner Verſe mitgetheilt, laſſen jedoch gern hier 
zum Schluſſe noch einige ſchöne, an einem Thomastage 
von ihm verfaßte Strophen folgen, welche durch Inhalt 
und Ausdruck gleicherweiſe befriedigen: 

„Ach einem Thomasglücke 

Auf ein paar Augenblicke, 

Dem wollt' ich zu gefallen 

Gern tauſend Meilen wallen. 


Mich zum Gerippe ſehnen, 
Und einen Bach von Thränen 
Aus meinen Augen ſchütten, 
Wenn Er ſich ließ erbitten! 


Doch, lieber Gott, was wähl' ich? 
Mach mich beim Glauben ſelig: 
Willſt du die Augen binden, 
Das Herz kann blindlings finden.“ 


Seine Proſa hingegen iſt ſehr oft vortrefflich, und läßt 
bedauern, daß ſo ſchöne Anlagen nicht in eine günſti— 
gere Zeitbildung gefallen ſind. Die deutſche Sprache 
rang damals in roher Unſicherheit zwiſchen den trau— 
rigſten Abwegen hin; ſie ſchleppte ein barbariſches Ge— 
miſch, das ſie weder abwerfen noch bemeiſtern konnte. 
Die Verhältniſſe, unter welchen Zinzendorf ſchrieb, lie— 
ßen ihn grade am tiefſten in dieſen Uebelſtand eingehen. 
Er weiß es ſelbſt, daß er darin alles Maß überſchrei— 
tet, allein er kann und mag dies nicht ändern, und lei— 


sm 437 


tet den Fehler nicht nur genügend her, ſondern verfucht 
ihn ſogar mit Gründen zu rechtfertigen. Er beginnt 
die Vertheidigung ſeines Stils mit einem Geſchichtchen: 
„Der Graf N. in Ungarn, — erzählt er, — (iſt er 
geſtorben, ſo iſt's nicht lange), hatte vielleicht die be— 
ſten Pferde in ganz Europa. So wenig aber vor die— 
ſem die Offiziers von einer Uniforme wußten, ſo wenig 
bekümmerte ſich der Graf N. feiner Pferde couleur zu 
egaliſiren. Dahero konnt's leicht ſein, daß Braune und 
Rappen vor Eine Kutſche kamen. Kurz, ohne zu ſagen, 
wie weit es ging, ſo waren eben feine Karoſſiers di- 
versi coloris. Das werden ihm nun wohl die Herrn 
Ambaſſadeurs in den nächſten Jahren kaum nachthun: 
aber Herren, die zugleich gute Wirthe ſind, haben ihm 
das ſchon abgelernet, nämlich mehr auf die Gleichheit 
der Güte, als der Farbe der Pferde zu reflektiren.“ 
Dies wendet er nun auf die Miſchung verſchiedener 
Sprachen an, und fährt fort: „Ich weiß, daß die 
bigarrure des stili, welchen ich auf den Kredit eines 5 
meiner Herren Gegner nunmehro ins ſiebzehnte Seku— 
lum ſetze, mit Vorbehalt, mein jus quaesitum auf die 
Schreibart des ſechszehnten, debito loco et tempore, 
auch wieder hervorzuſuchen, in Deutſchland ganz ab— 
kommt, und daß der Karakter des achtzehnten Sekuli, 
welches ſich ſehr mit der Bagatelle vecupirt, und über 
welches unſre ſpäte Nachkommen gewiß mehr kritiſiren 
werden, als wir über alle vorhergehenden, hat es bei 
unſern Landsleuten ſo mit ſich gebracht, daß ſie es 
Biographiſche Denkmale. V. 29 


5 438 So 


kurzum mit der freien deutſchen Sprache in dreißig 
Jahren dahin haben wollen, wohin es mit der franzö— 
ſiſchen, die doch von dem nutu eines einzigen und ziem— 
lich abſoluten Kollegii dependirt hat, binnen hundert 
Jahren kommen iſt; ohne im geringſten zu konſideriren, 
daß ſich ein franzöſiſcher Profeſſor in der Provinz zu 
Tod ſchämen würde, wenn er ander Franzöſiſch redte 
und ſchriebe, als zu Paris; da hingegen in Deutſch— 
land faſt auf einer jeden Univerſität der Jargon des 
Landes in vollem Flor bleibt, darinnen die Univerſität 
liegt. — Dieſer Inkorrigibilität des Dialekts ungeach— 
tet find fie faſt alle eins worden, ihre Sprache wort— 
reicher zu machen meme aux depens du sens commun, 
und ſich lieber nur halb und noch zehnmal unverſtänd— 
licher, als zuvor, auszudrucken, ehe ſie ein fremd Wort 
brauchten. Wie die ehrbare deutſche Tracht abkam, die 
in einem Theil des Reichs und zu Zürich noch am 
eigentlichſten obtinirt, ſo behielten ſie die Prediger; da— 
her ich immer den Separatiſten gezeigt, daß ſie dieſe 
Tracht der Prediger billiger zur Modeſtie als zum 
Hochmuth auszulegen hätten. So geht mir's mit dem 
stilo des ſiebzehnten Sekuli. Ich halte darüber, ja ich 
pouſſire ihn weiter als zuvor, und vermehre ſeine la— 
teiniſche und griechiſche und franzöſiſche emphases mit 
engliſcher, auch wohl holländiſcher Energie: aber gewiß 
nicht ſowohl, um mich in dieſen Sprachen zu exereiren, 
als aus der allerſeriöſeſten Abſicht, meinen wahren 
Sinn ſo gut als möglich auszudrucken, und von aller 


— = 439 Bo 


Aequivokation zu befreien, und dabei freilich Einigen 
lieber ganz unverſtändlich zu bleiben, denen ich doch 
mit einer noch ſo deutſchen Expreſſion mich nicht deut— 
licher machen könnte, hingegen andern und geſetzten 
Leuten, die ſich das Forſchen nicht verdrießen laſſen, 
eine möglichſt unzweideutige Auskunft zu geben. Ich 
bin von Herzen bereit, alle die fremden in einheimiſche 
phrases zu verwandeln, ſobald mir jemand aquipollente 
Ausdrücke in meiner Mutterſprache dazu zeigt. Bis 
dahin will ich den engliſchen und holländiſchen bon sens 
imitiren, der alle benachbarte Sprachen naturaliſirt hat, 
die ihm ſeinen Sinn ganzer machen helfen. Denn das 
iſt ja der Zweck aller Sprachen: das dient ad esse der 
Sprachen; die Eleganz gehört nur ad bene esse.” In- 
zwiſchen will er dieſes Einmengen nicht über das Be— 
dürfniß treiben, ſondern die Reinigung, ſobald ſie ge— 
ſchehen kann, ſtets vorziehen. So ſagt er ausdrücklich: 
„Die Poeſieen in den Sammlungen waren ſo beſchaf— 
fen, daß ſie noch alle erſt ihre letzte limam künftig 
kriegen ſollten, und wurden nur einſtweilen aufbehal— 
ten. Daher ſetzte man eben den Sinn hin, in was für 
einer Sprache man ihn am nächſten und glücklichſten 
exprimiren könnte, en attendant, daß ſich das deutſche 
Wort einmal dazu fände.“ Man ſieht, daß er mit der 
Praxis eine leidliche Theorie verband, in einigem ſo— 
gar dem Einſpruche zuſtimmte, welchen der große Phi— 
lolog Friedrich Auguſt Wolf gegen übertriebenen Pu— 
rismus zu erheben pflegte. . 
29 * 


2m 440 Bo 


Zinzendorf's Leben iſt ſchon oftmals befchrieben 
worden, am ausführlichſten von Spangenberg, in ehren— 
werthem Sinn und mit genauem Fleiß, indeß bei allem 
Raume von acht Bänden in einigen Richtungen doch 
nur allzu kurz gefaßt. Gedrängtere Darſtellungen ha— 
ben Reichel und Duvernoy verſucht. Die Nachrichten 
des Grafen von Lynar ſind nur bedingt anzunehmen; 
er hat Zinzendorf'en nie geſehen. Die Schilderung, 
welche Johann Georg Müller in Schaffhauſen aus ge— 
druckten Hülfsmitteln zuſammengeſtellt hat, iſt ein ſehr 
gelungenes Werk. Ein kurzer Aufſatz von Herder faßt 
bezeichnende Züge in raſchen Ueberblick. Aus vertrau— 
ter perſönlicher Bekanntſchaft hat der jüngere Freiherr 
von Schrautenbach, der Sohn deſſen, bei welchem Zin— 
zendorf in Lindheim zu Beſuch geweſen, eine merkwür— 
dige Karakterzeichnung des Grafen entworfen, die erſt 
neuerlich im Druck herausgegeben worden, ſie verdient 
die größte Anempfehlung. Von den vielen zu verſchie— 
denen Zeiten gemahlten Bildniſſen Zinzendorf's will 
man ein um das Jahr 1740 von Kupetzky verfertigtes 
als das in jedem Sinne glaubhafteſte auszeichnen; nach 
ihm hat kürzlich F. Lehmann ein wohlgelungenes Kupfer— 
bild geliefert. 

Ueberblicken wir dieſen Lebenslauf nochmals, legen 
wir gegeneinander, was Leid und Freude, Bekümmer— 
niß und Glück, Niederes und Höheres, Zagen und Zu— 
verſicht, an dieſem Herzen für Theil gehabt, und zie— 
hen wir die Summe des Guten wie die des Schlech— 


ap 441 Bo 


ten, fo müffen wir uns wohl fagen, daß Zinzendorf ein 
feliges Leben geführt, wie nur wenigen Menfchen es 
beſchieden iſt! Sein Leben iſt als ein glückliches und 
beneidenswerthes auch von ſolchen anzuerkennen, die 
weder ſeines Glaubensbekenntniſſes noch ſeiner Sinnes— 
art ſind, noch ihm nachzuahmen den Wunſch und Be— 
ruf haben. Und ſo dürfen wir auch von ganz allge— 
meinem Standpunkt aus, beim Anſchauen dieſes Man— 
nes, in ganz weltlicher Betrachtungsweiſe, hier mit der 
Bemerkung ſchließen, daß überall ſolcher Segen wal— 
tet, wo der Menſch in den Kämpfen der Welt nicht 
ihr ſelbſt, ſondern einem höheren Leben ſich vertrauen— 
voll zuwendet. — 


Nachweiſung der gebrauchten Hülfsmittel. 


Graf Ludwig von Zinzendorf. 


Handſchriftliches über und von Zinzendorf, ein Volumen Akten, 
im Königlichen Geheimen Staatsarchiv zu Berlin. J 

Zinzendorf's eigne Schriften, deren langes Verzeichniß bei Span— 
genberg nachzuſehen iſt. 

Leben des Herrn Nikolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zin— 
zendorf und Pottendorf, beſchrieben von Auguſt Gottlieb 
Spangenberg. s. J. et a. 8 Bde. 8. 


Woldershauſen, Leben Zinzendorf's. Wittenberg, 1749. 2 
Thle. 8 


Leben des Grafen von Zinzendorf, Stifters der Brüdergemeine. 
Von Gottlieb Benjamin Reichel. Leipzig, 1790. 8. 


Kurzgefaßte Lebensgeſchichte Nikolai Ludwigs Grafen und Herrn 
von Zinzendorf und Pottendorf, von Jakob Chriſtoph Dü— 
vernoy. Barby, 1793. 8. 


Die Geſchichte der alten und neuen Herrnhuter und ihres Stif— 
ters N. L. Grafen von Zinzendorf, entworfen und beurtheilt, 
und aus dem Holländiſchen überſetzt von M. J. E. H. Scholl. 
Tübingen, 1805. 8. 


— 8 443 S 


Erinnerungen an den Grafen Zinzendorf. Berlin, 1828. 8. 
Von Ludwig Balthaſar von Schrautenbach in Darmſtadt, 
Goethe's und Merck's Freunde. 

J. G. von Herder's Schriften. Stuttgart und Tübingen, 

1827 ff. 60 Bde. 12. 

Archenholtz Litteratur- und Völkerkunde, 1786. Auguſt. 
Darin: von Schachmann Apologie des Grafen Zinzendorf. 

Bekenntniſſe merkwürdiger Männer von ſich ſelbſt. Herausge— 


geben von Johann Georg Müller. Dritter Band. Winter— 
thur, 1795. 8. 


S. 1 bis 302 Zinzendorf. 


Des Herrn von Loen geſammelte Schriften. Frankfurt und 
Leipzig, 1753. 4 Thle. 8. 


Zedler's Univerſallexikon. Artikel Zinzendorf. 
Herrnhutiſche Geſangbücher, alte und neue. 


Beſchreibung und zuverläſſige Nachricht von Herrnhut in der 
Oberlauſitz, wie es erbauet worden, und welcher Geſtalt nach 
Lutheri Sinn und Meinung eine recht chriſtliche Gemeine 
ſich daſelbſt geſammlet und eingerichtet hat. Leipzig, 1735. 8. 


Alte und neue Brüder-Hiſtorie, oder kurzgefaßte Geſchichte der 
evangeliſchen Brüder-Unität in den ältern Zeiten und inſon— 
derheit in dem gegenwärtigen Jahrhundert. Von David 
Cranz. Barby, 1772. Erſte Fortſetzung, 1791. Zweite 
Fortſetzung, 1804. 3 Bde. 8. 


Büſching, Nachricht vom Urſprung, Fortgang und gegenwär— 
tiger Verfaſſung der Brüder-Unität, 1781. 8. 


Cranz Hiſtorie von Grönland. Barby, 1770. 8. 


Oldendorp's Geſchichte der Miſſion der evangeliſchen Brüder 
auf den karibiſchen Inſeln Sankt-Thomas, Krux und Jan. 
Barby, 1777. 8. 

Büſching's Magazin. Bd. 


Darin: Des Grafen von Sa Rail von der Herrn— 
huter Brüdergemeinde. 4 


A G 


Spangenberg's kurzgefaßte hiſtoriſche Nachricht von der gegen: 
wärtigen Verfaſſung der Evangeliſchen Brüder A. C. 1772. 8. 


Joh. Lorey's ratio disciplinae unitatis fratrum A. C. oder 
Grund der Verfaſſung der Evangel. Brüderunität der A. C. 
Barby, 1789. 8. 


M. Johann Gottfried Häntzſchel's nöthige Anmerkungen über 
die in dem Herrnhutiſchen Geſangbuche befindlichen Irrthümer, 
Veränderungen und Redensarten. Wittenberg, 1734. 4. 


Vollſtändige ſowohl hiſtoriſche als theologiſche Nachricht von 
der Herrnhutiſchen Brüderſchaft. Durch eine nach Herrnhut 
angeſtellte Reiſe perſönlich eingeholet. Frankfurt und Leip— 
zig, 1735. 4. 


Siegfried's beſcheidene Beleuchtung des vom Herrn Dr. Baum— 
garten in ſeinen theologiſchen Bedenken gefälleten Urtheils 
über die evangeliſch-mähriſche Kirche u. |. w. Leipzig, 
1744. 4. 

Mit einem guten Kupferbild Zinzendorf's, von Buſch in 
Berlin geſtochen. 


Gewiſſenhaftes Bedenken eines Politici über die durch den 
Herrn Grafen von Zinzendorf und deſſen Mitbrüder verur— 
ſachte Kirchentrennung. Frankfurt und Leipzig, 1745. 4. 


Chriſtoph Gabriel Fabricii entlarvtes Herrnhut. Wittenberg 
und Zerbſt, 1745. 4. 


Joh. Albr. Bengel's Abriß der ſogenannten Brüdergemeinde. 
Stuttgart, 1751. 2 Thle. 8. 


Zuverläſſige Beſchreibung des nunmehr ganz entdeckten Herrn— 
hutiſchen Ehegeheimniſſes nebſt deſſen 17 Grundartikeln mit 
mehreren merkwürdigen, die Lehre, Lebensart, Abſichten der 
ſogenannten Mähriſchen Brüdergemeinde betreffenden Um— 
ſtänden von H. J. Bothen. Frankfurt, 1751. 2 Thle. 8. 

Noch viele Gegenſchriften, zum Theil im Buch erwähnt, zum 
Theil von Zinzeudorf in ſeinen Schriften aufgezaͤhlt. 


Risler's Leben A. G. Spangenberg's, 1794. 8. 


Auguſt Hermann Francke. Eine Denkſchrift zur Säkularfeier 
ſeines Todes. Von Dr. Heinrich Ernſt Ferdinand Guerike. 
Halle, 1827. 8. 


9 445 4 


Lebensgeſchichte Johann Jakob Moſer's, von ihm ſelbſt beſchrie— 
ben. 1768. 8. 


Die Fortbildung des Chriſtenthums zur Weltreligion. Von 
Dr. n Friedrich von Ammon. Leipzig, 1833 — 35. 
3 Thle. 8. 


Erſch und Gruber's Eneyklopädie. Artikel Brüderunität. 


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