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https://archive.org/details/biographischeden151varn *°
Rechen
des
Grafen Ludwig von Zinzendorf.
Von
K. A. Varnhagen von Enſe.
Zweite vermehrte und verbeſſerte Auflage.
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Druck und Verlag von G. Reimer.
1846.
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Von
K. A. Varnhagen von Enſe.
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Zweite vermehrte und verbeſſerte Auflage.
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Druck und Verlag von G. Reimer.
1846.
Dem
theuern Lehrer und Freunde
Henrich Steffens
im frohen Andenken der ſchönen halliſchen Zeiten
mit inniger Verehrung und treuer Zuneigung
gewidmet!
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Weder einen Beitrag zur Kirchengeſchichte, noch ein
Erbauungsbuch für beſtimmte Glaubensfreunde kann
dieſe Lebensbeſchreibung liefern wollen, ſondern nur
die freie Darſtellung einer merkwürdigen und bedeu—
tenden Perſönlichkeit, wie ſolche in der Welt ſich
Bahn gemacht und ein hohes Ziel erſtrebt hat.
Von jenem Zwecke war ich ſchon dadurch fern, daß
die dahingehörigen Studien im Ganzen mir doch
allzu fremd geblieben; dieſen konnte ich ſchon um
deßwillen nicht haben, weil derſelbe wo nicht die
nämliche, doch wenigſtens eine zuſtimmende Konfeſ—
ſion des Autors zu der ſeines Helden erfordert hätte.
Ich glaube jedoch durch den beſonderen Standpunkt,
welcher mir bei Betrachtung des Grafen Zinzendorf
vn
gegeben war, dieſen ſelbſt nicht eben nachtheilig auf—
gefaßt zu haben. Ich war unbefangen bemüht, ihm
ſeine Vorausſetzungen zu laſſen, und bin ihm auf
ſeinen Wegen, wie mich dünkt, mit Billigkeit, ja
mit Liebe gefolgt, die allerdings ſchon durch die
Wahl eines ſolchen Gegenſtandes bezeugt werden
kann. Wenn ich auch ſtärker, als dies einem ſeiner
glaubensverwandten Biographen belieben könnte, die
Fehler und Schwächen des Mannes hervorgehoben
habe, ſo dürfte er doch darum nicht weniger auch
in meiner Schilderung ſelbſt für ſeine Anhänger ein
höchſt werthes Bild geblieben ſein.
Ueber Zinzendorf iſt viel geſchrieben worden,
jeder Umſtand ſeines Lebens genau verzeichnet und
erörtert, von Freunden und Feinden; beſonders läßt
das Werk von Spangenberg hinſichtlich der genauen
Ausführlichkeit wenig zu wünſchen übrig, Der
größte Schatz aber für Zinzendorf's Lebensbeſchrei—
bung ſind die eignen Schriften des Grafen, da er
faſt in allen, und, bei jedem Anlaſſe, von ſich ſelbſt,
von feinen Verhältniſſen und Meinungen, ausführ—
lich ſpricht. Häufig, wo es ſcheinen könnte, als ſei
ich nur der Arbeit Spangenberg's gefolgt, iſt die
Uebereinſtimmung mit dieſem wackeren Vorgänger,
deſſen Leitung man ſich ſonſt wohl überlaſſen dürfte,
doch zumeiſt daher entſtanden, daß ich aus jenen
sn X Bo
Hauptquellen, eben fo wie er, geſchöpft habe. Darf
nun in Betreff der Thatſachen hier nicht leicht etwas
Neues von Erheblichkeit mit Grund erwartet wer—
den, ſo iſt es nur um ſo günſtiger, daß gleichwohl
die ſchätzenswertheſten Mittheilungen auch dieſer Art
hier ſich dargeboten haben, welche früher nicht be—
kannt geweſen. Andres Neue, welches aus der Auf—
faſſung und Zuſammenſtellung ſich ergiebt, bedarf
keiner beſonderen Angabe.
Tadelnswerth möchte an dieſem Buche zunächſt
der Umfang deſſelben dünken. Ich bekenne, daß ich
dieſem Uebelſtande nicht abzuhelfen gewußt, ohne
dem Manne, deſſen Bild ich geben wollte, in dieſem
erhebliches Unrecht zuzufügen. Das Eigenthümliche
liegt hier grade in der großen Fülle der mannig—
fachen, ſich durchkreuzenden, abbrechenden, wieder—
kehrenden Einzelheiten; die Abſichten und Wirkungen
Zinzendorf's entfalten ſich nicht ſchlagweiſe, ſondern
allmählig, in, mit und aus einer unermüdlichen Le—
bensthätigkeit, die auf alle ſeine Tage und Bezie—
hungen in unaufhörlich erneutem Fortrücken vertheilt
iſt, und ſich nicht in wenige große Haupthandlun—
gen zuſammenfaſſen läßt, ſondern wiederholte, ein—
zelne Aufzählungen verlangt. Wer jedoch einen
Mann wie Zinzendorf kennen lernen, und nicht zum
leeren Zeitvertreib einen wieder zerrinnenden An—
Bd x Bio
blick, ſondern zu ernſter Betrachtung eine dauernde
Geſtalt gewinnen will, dem darf auch wohl zuge—
muthet werden, ihn in dem Element aufzuſuchen,
welches ſich als das ihm eigne dargiebt.
Berlin, im November 1829.
K. A. Varnhagen von Enſe.
Graf Ludwig von Zinzendorf.
Biographiſche Denkmale. V. 1
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Im Rücken der Staatsgeſchichte, zwiſchen den Stür—
men des Krieges und andern öffentlichen Ereigniſſen
hindurch, ſtrömen ſtillere Quellen des Lebens, eines oft
tieferen und kräftigeren, als die offenbare Welt dem
Blicke zeigt, und welches weiterhin dennoch wohl in
Staat, Kirche und Litteratur mächtig ergreifend aus—
bricht. Beſonders haben eigenthümliche Geſtaltungen
der Frömmigkeit und der Sitteneinrichtung in den we—
nig beachteten Kreiſen der Geſellſchaft, unter Handwer—
kern und Landleuten, ja unter ganz verachteten Aus—
geſtoßenen, von jeher eigne Stätten und Bahnen ge—
habt. Findet ſich auf dieſem Boden zu ſolch ſtarken
Gemüthstrieben höhere Bildung, durchdringendes Ta—
lent oder vornehmer Stand, ſo kommt leicht Außeror—
dentliches an den Tag, das der Welt zum Erſtaunen
wird. In dem religiöſen Leben des achtzehnten Jahr—
hunderts haben ſich auf ſolche Weiſe in Deutſchland
drei merkwürdige Perſönlichkeiten hervorgethan, welche
der proteſtantiſchen Kirche angehörten, und theils den
Formen derſelben neues Eigenthümliche gaben, theils
doch in ihnen beſondere Geiſteswirkung ausübten. Der
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Graf von Zinzendorf, Lavater und Jung - Stilfing, von
welchen wir reden, bilden in dieſer Hinſicht eine bedeu—
tende Folgereihe vom Anfange des genannten Jahrhun—
derts bis über deſſen Schluß hinaus; reiche Talente
ſtehen allen dreien für die Welt zu Gebot, aber Sinn
und Kraft der Frömmigkeit ſtellen ſich in die Mitte
dieſer Gaben, und wie ſich alles dahin bezieht, ſo em—
pfängt auch von daher die ganze Lebensgeſtalt ihre Be—
dingungen. Wie hier das Weltliche dem Geiſtlichen
ſich heiter geſellt und würdig fügt, aber nicht unter—
drückt wird, wie beide einander ſchön und gedeihlich be—
gleiten, das Heil der Einfalt mit den Vortheilen der
Weltbildung ungeirrt zuſammengeht, das gewährt eine
fo inhaltreiche als anmuthige Betrachtung. Waren in
Lavater und in Jung-Stilling die Gaben der Mitthei—
lung, die Thätigkeiten des Lehrens und Darſtellens vor—
herrſchend, durch welche ſie viele Tauſende zur geiſtigen
Gemeinde um ſich ſammelten, die äußerlich unverbun—
den dem Zufall überlaſſen blieb, ſo giebt Zinzendorf,
wiewohl auch er als Schriftſteller und Lehrer unermüd—
lich und fruchtreich war, dagegen vorzugsweiſe die mäch—
tigere Thätigkeit zu ſchauen, welche auf die dauernde
Verbindung der Menſchen gerichtet iſt, er bildet eine
neue kirchliche Form, die nach ihm glücklich fortbeſteht
und noch immer ſegenreich fortſchreitet; er iſt ein re—
ligiöſer Staatsmann, als welchen ihn die nachfolgende
Schilderung dem Leſer näher vor Augen zu ſtellen ver—
ſuchen wird.
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Nikolaus Ludwig Graf und Herr von Zinzendorf
und Pottendorf wurde geboren zu Dresden den 26. Mai
des Jahres 1700. Das Haus Zinzendorf, im Jahre
1662 durch Kaiſer Leopold den Erſten in den Reichs—
grafenſtand erhoben, war in Oeſterreich von Alters her
im Beſitze großer Güter und Ehrenſtellen; mehrere
Glieder deſſelben aber waren ſchon früh der Reforma—
tion beigetreten, endlich der Großvater unſers Grafen
um des lutheriſchen Glaubens willen aus Oeſterreich
nach Franken gezogen, wo er auf Oberbirg, einem
Schloſſe bei Nürnberg, ſeinen Wohnort nahm; zwei
ſeiner Söhne gingen nach Sachſen, und erwarben da—
ſelbſt hohe Dienſtwürden und anſehnliches Beſitzthum;
der ältere wurde kurſächſiſcher Feldzeugmeiſter und
Oberkommandant aller Feſtungen, der jüngere, Georg
Ludwig, kurſächſiſcher Konferenzminiſter. Dieſer letz—
tere, der aus erſter Ehe ſchon einen Sohn und eine
Tochter hatte, vermählte ſich zur zweiten Ehe mit Char—
lotte Juſtine Freiin von Gersdorf, die ihm ſogleich im
erſten Jahre der Verbindung den Sohn gebar, deſſen
Lebenslauf hier erzählt werden ſoll. Der Vater ſtand
in großem Anſehn, und wurde wegen ſeiner Geſchäfts—
führung wie wegen ſeiner Frömmigkeit ſehr geehrt.
Die Mutter hatte den Ruf einer frommen und edlen
Frau, fie wußte die griechiſche und lateiniſche und die
vorzüglichſten neueren Sprachen, und war in theolo—
giſchen Sachen wohlerfahren, eben fo geübt in deutſcher
Dichtkunſt. Innigſt befreundet war beiden Ehegatten
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der fromme Gottesgelehrte Spener, der in der Lu—
theriſchen Kirche des ſiebenzehnten Jahrhunderts neues
Leben erweckt und auch in Dresden durch ſeine Er—
bauungen fruchtreich gewirkt hatte, bis er zuletzt, we—
gen mannigfacher Anfeindung, die ſeine Freimüthigkeit
erfahren müſſen, einen ehrenvollen Ruf nach Berlin an—
genommen, wo er darauf in ungeſtörtem Frieden und
Anſehn ein thätiges Alter geführt. Dieſer treffliche
Mann, damals ſchon aus Dresden entfernt, aber mit
dem gräflichen Hauſe in ſteter Verbindung, war nebſt
den Kurfürſtinnen von Sachſen und von der Pfalz ein—
geladen worden, Taufzeuge bei dem neugeborenen Kinde
zu fein, und ſchon dieſe erſte Beziehung durfte dieſem
als eine bedeutungsvolle gelten. Bald wurde daſſelbe
einer neuen theilhaft, welche ſich in gleichem Sinne
zeigte. Der Vater erkrankte, und als er im Sterben
lag, brachte man ihm ſein kaum ſechswochenaltes, ſchla—
fendes Kind, damit er es noch ſegnen ſollte; er ſagte
zu ihm: „Mein lieber Sohn, ich ſoll dich ſegnen, und
du biſt jetzt ſchon ſeliger als ich, ob ich gleich bereits
halb vor dem Thron Jeſu ſtehe,“ und gab ihm dann
mit nachdrücklichen Worten ſeinen Segen, zu wandeln
nicht etwa nur wie ein frommer Graf, ſondern wie ein
völliger Jünger Chriſti; ein Segen, auf welchen ſchon
Spener in früherem Glückwunſche zu der zweiten Ver—
heirathung ſeines Freundes gezielt hatte, und der, im
Andenken der Hinterbliebenen ſtets wirkſam erhal—
ten, auch dem heranwachſenden Kinde ſelbſt durch Er—
BT Ben
zählung und Bekräftigung mehr und mehr angeeignet
wurde.
Der Wittwe und ihrem Sohne, dem jüngeren des
Vaters, blieb nur der mindere Theil des hinterlaſſenen
Vermögens, das auch im Ganzen nicht ſehr beträchtlich
war. Die Mutter zog mit ihrem Kinde von Dresden
nach der Oberlauſitz, wo ihr Vater, Nikolaus Freiherr
von Gersdorf, anſehnliche Güter, unter andern die
nachher berühmt gewordenen Ortſchaften Großhenners—
dorf und Bertholdsdorf beſaß, und zugleich das Amt
eines kurſächſiſchen Landvogts verwaltete. Auch er ſtarb
nach anderthalb Jahren, und der junge Zinzendorf, dem
wohl ſeines Vaters Bruder zum Vormund namentlich
beſtellt war, aber in einem ſo zarten Alter noch wenig
leiſten konnte, fiel nun ganz der Obhut der Frauen an—
heim. Zwei Jahre ſpäter ſchritt jedoch ſeine Mutter,
günſtigen Lebensanſprüchen folgend, zur zweiten Ehe,
und heirathete den preußiſchen General, nachherigen
Feldmarſchall von Natzmer, mit dem ſie nach Berlin
zog; ihren noch nicht fünfjährigen Sohn aber durfte ſie
der Fürſorge ihrer Mutter, der verwittweten Freifrau
von Gersdorf, mit voller Ueberzeugung, das Beſte für
ihn gewählt zu haben, getroſt überlaſſen. Dieſe hoch—
ſinnige Frau, welche auch bisher ſchon ihrem Enkel die
zärtlichſte Sorgfalt gewidmet hatte, wurde ſeine zweite
Mutter; fie war ein Muſter der Frömmigkeit und Tu—
gend, dabei gebildeten Geiſtes, nicht ohne dichteriſches
Talent, im Handeln klar und ſicher; durch ſie vorzüg—
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lich empfing die Richtung, welche dem Knaben gewiſſer—
maßen fchon gegeben war, den Gehalt und die Stärke,
wodurch dieſelbe zur entſchiedenen Bahn ſeines Lebens
wurde. In gleichem Sinne wirkte ſeine liebevolle
Tante Henriette, die Schweſter ſeiner Mutter, auf ihn
ein. Und hier finde die Betrachtung ihre Stelle, wie
viele in Thaten und Werken dargelegte Trefflichkeit
nicht ohne den beſeelenden Antheil mütterlicher Frauen
hat werden wollen! Erwähnt ſei nur, daß auch der
edle Saint-Martin, der geiſtigſte und ſanfteſte der
Menſchen, das Glück ſeiner Lebensrichtung einer liebe—
vollen Stiefmutter zu danken hatte. — Nach Großhen—
nersdorf kamen öfters zum Beſuch von Berlin der treue
Spener, von Halle die frommen Männer Francke, An—
ton und Freiherr von Canſtein, welche über den jungen
Zinzendorf ihre eifrigſten Segnungen ausſprachen, und
Spener über den erſt vierjährigen einſt mit aufgelegten
Händen mit ſolcher Inbrunſt, daß davon für alle An—
weſenden ein tiefer, andauernder Eindruck entſtand, der
für das Kind ſelbſt bei zunehmenden Seelenkräften
immer mehr die Ueberzeugung nährte, daß ihm eine
beſondere Weihe für den Dienſt Gottes zu Theil ge—
worden. i |
Der Knabe war von ſchwächlichem Körper, aber
deſto feurigeren Geiſtes. Sein Eigenwillen konnte hef—
tig und trotzig hervorbrechen; lebhaft faßte er auf, Ge—
dächtniß und Einbildungskraft beſaß er in hohem Grade,
auch im Reden bewies er frühe Leichtigkeit; ſein Feuer
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wurde jedoch gemildert durch den Trieb ſtillen Nach—
ſinnens und beſonnener Ueberlegung, der ſich gleichfalls
früh in ihm offenbarte. Das eigentliche Lernen ging
indeß bei aller Anleitung nur langſam, während durch
Beiſpiel und Uebung ſein religiöſer Sinn deſto raſcher
entwickelt wurde. Durch Verwandte und ſeinen Lehrer-
Edeling vor allem auf das Gebet hingewieſen und in
der Religion unterrichtet, wußte er ſchon im vierten
Jahre die Hauptlehren des Chriſtenthums, betete voll
Andacht, und hegte mit der Vorſtellung, daß Chriſtus
unſer Bruder und für uns geſtorben ſei, die herzlichſte
Liebe zu dem Heiland; es dürfe ja mit dem Bruder,
glaubte er ſchon damals, jederman brüderlich umgehn,
und brauche ſich nicht zu ſcheuen, ihm alles, wenn es
auch noch ſo ſchlecht wäre, vorzutragen. So entſpann
ſich in dem kindlichen Gemüthe mit dem Heiland ein
traulicher Verkehr, der für ſein ganzes Leben eine ſüße
und unentbehrliche Gewohnheit wurde. Er freute ſich
viele Wochen voraus auf die Feier der Geburt und
dann des Leidens Chriſti, weil da ſchöne Liederchen ge—
ſungen wurden, und weil er hoffte, ganz etwas Beſon—
deres über den Erlöſer vortragen zu hören. Als er in
einer Betſtunde den Vers des Liedes, der den Heiland
unſern Bruder nennt, verſchlafen hatte, weinte er aus
Betrübniß. Er ſelbſt meldet über ſein Erfülltſein mit
dieſen Gegenſtänden unter andern Folgendes: „In mei—
ner Frau Großmutter Hauſe begegneten mir zwei Um—
ſtände, die meine ganze künftige Lebensart veranlaſſeten.
aD 10 Bo
Als in meinem fechften Jahre Herr Edeling, mein drei—
jähriger Präzeptor, in der gewöhnlichen Abendbetſtunde
von mir Abſchied nahm, gebrauchte er ſich zarter Aus—
drücke von meinem Heilande und ſeinem Verdienſte,
und auf was Weiſe ich ihm angehörte; die waren mir
ſo aufgeſchloſſen, lebhaft und eindringend, daß ich in
ein langwieriges Weinen gerieth, und unter demſelben
feſt beſchloß, lediglich für den Mann zu leben, der ſein
Leben für mich gelaſſen hat. In dieſen Gedanken
wurde ich von meiner ſehr geliebten Tante Henriette
ganz liebreich und evangeliſch unterhalten; der ſagte ich
mein ganzes Herze, und wir trugen es denn ſo gemein—
ſchaftlich dem Heilande hin. Vor ihr hatte ich keinen
Scheu, mein Böſes und mein Gutes erfuhr ſie. Hat
etwas von meiner Erziehung in die nachfolgenden Hand—
lungen mit eingeſchlagen, ſo iſt es bei der Einrichtung
der Banden, oder kleinen Geſellſchaften, geſchehen, denn
ich habe den Plan dieſer Vertraulichkeit immer im Ge—
müth behalten, und bei aller Gelegenheit anzubringen
geſucht. In meinem achten Jahre lag ich eine Nacht
lang ohne Schlaf, und kam durch ein altes Lied, wel—
ches meine Frau Großmutter vor ihrem Schlafengehn
geſungen, in eine Meditation, aus derſelben in ein tie—
fes Spekuliren, und dieſes ging ſo weit, daß mir auf
die letzt Hören und Sehen verging. Die raffinirteſten
Ideen der Atheiſten entſponnen ſich von ſelbſt in mei—
nem Gemüthe, und ich ward dadurch ſo angegriffen
und ſo tief hinein gebracht, daß alles, was ich ſeitdem
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gehöret und geleſen, mir ſehr feichte und unzulänglich
geſchienen, und die geringſte weitere Impreſſion nicht
gemacht. Weil aber mein Herz mit dem Heilande, und
ich ihm mit einer empfindlichen Aufrichtigkeit zugethan
war, und vielmals dachte, wenns möglich wäre, daß
ein anderer Gott, als er, ſein und werden könnte, ſo
wollte ich lieber mit dem Heilande verdammt werden,
als mit einem andern Gott ſelig ſein; ſo hatten die
ſeitdem immer wiederkommenden Svekulationen und
Vernunftſchlüſſe keine andere Gewalt bei mir, als mich
zu ängſtigen und mir den Schlaf zu verderben, aber
auf mein Herz nicht den geringſten Effekt. Was ich
glaubte, das wollte ich, was ich dachte, das war mir
odiös, und ich faßte damals gleich den firmen Schluß,
den Verſtand in menſchlichen Dingen ſo weit zu brau—
chen, als er langte, und mir ihn ſo weit ausklären und
ſchärfen zu laſſen, als es nur immer damit könnte ge—
trieben werden, in geiſtlichen aber bei der im Herzen
gefaßten Wahrheit ſo einfältig zu bleiben, daß ich ſie
zum Grund aller andern Wahrheiten legen, und was
ich nicht aus ihr deduciren könnte, gleich wegwerfen
wollte. Und das iſt mir geblieben bis dieſen Tag.“
Und an einem andern Orte: „Ich hörte von meinem
Schöpfer erzählen, daß er ein Menſch geworden ſei.
Das affieirte mich ſehr. Ich dachte bei mir ſelber:
Wenn der liebe Herr auch von ſonſt niemand geachtet
wird, ſo will ich mich doch an ihn anhängen, und mit
ihm leben und ſterben. So bin ich viele Jahre kinder—
haft umgegangen, habe ſtundenweiſe mit ihm geredt,
wie ein Freund mit dem andern, und bin in der Me—
ditation die Stube vielmal auf- und abgegangen. In
dem Geſpräch nun mit ihm war ich ſehr ſelig und dank—
bar für das, was er für mich mit ſeiner Menſchwer—
dung Gutes gedacht hatte. Aber ich verſtund die Größe
und Genugſamkeit des Verdienſtes ſeiner Wunden und
ach! des Martertodes meines Schöpfers nicht ganz.
Es war auch das Elend und Unvermögen meines menſch—
lichen Weſens mir nicht recht aufgedeckt, ich that das
meinige auch dabei, ſelig zu werden; bis auf einen ge—
wiſſen außerordentlichen Tag, da ich ſo lebhaft gerührt
wurde von dem, was mein Schöpfer für mich gelitten
hatte, daß ich zuerſt tauſend Thränen vergoß, und mich
nach dieſem noch genauer an ihn attachirte und zärtlich
mit ihm verband. Ich kontinuirte mit ihm zu reden,
wenn ich allein war, und glaubte von Herzen, daß er
ganz nahe um mich wäre. Ich konnte viele Sprüche
auswendig, da ſtunden dergleichen Wahrheiten drinnen.
Ich dachte auch: Er iſt Gott und kann mich verſtehn,
wenn ich mich auch nicht recht explicire, er hat ein Ge—
fühl davon, was ich ihm ſagen will. Oft dachte ich,
wenn er mich nur einmal hörte, ſo würde es genug
ſein, daß ich auf meine ganze Lebenszeit ſelig wäre.“
Er ſchloß mit dem Heilande den Bund: „Sei du mein,
lieber Heiland, ich will dein ſein!“ und dieſen Bund
erneuerte er ſehr oft. Er ſchrieb auch dem Heilande
kleine Briefe. Solche Spielerei des Kindes blieb auch
x
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in der Folgezeit für ihn von Einfluß. Kirche und Pre—
digt, Liederſingen und Beten, wie ehrwürdig ihm auch
ihre Bedeutung war, gaben zugleich den kindiſchen Trie—
ben Nahrung. Doch war hinwieder auch der tiefſte
Ernſt dabei wirkſam. Seine innere Richtung bewährte
ſich auch in äußerem Benehmen; er ſchenkte das Geld,
welches er empfing, gleich und alles den Armen; er
war voll Eifer dienſtfertig gegen jeden, und für em—
pfangene Dienſte herzlich dankbar; er liebte heftig die
Perſonen, die ihm wohlwollten oder mit ihm bemüht
waren; er bekannte willig ſeine Fehler, und ſuchte ſie
abzulegen. In dieſen Eigenſchaften und Bemühungen
hatte der Knabe früh ſchon eine gewiſſe Stärke erlangt,
die auch nach außen Eindruck machte. Als im Jahre
1706 der König von Schweden Karl der Zwölfte mit
ſeinem Heere nach Sachſen vorgedrungen war, kam ein
Trupp ſchwediſcher Soldaten, um Kriegsgelder einzu—
fordern, nach Großhennersdorf; ſie rückten in das
Schloß und unaufgehalten bis in den Saal, wo der
ſechsjährige Knabe eben ſeine gewohnte Betſtunde hielt,
der unvermuthete Anblick und Vortrag des redebegab—
ten Kindes wirkte aber ſo mächtig auf dieſe Krieger,
daß ſie, ihrer Abſicht faſt vergeſſend, an der Andachts—
übung ſogleich mit Innigkeit Theil nahmen.
In ſeinem eilften Jahre wurde Zinzendorf, der
bereits gut lateiniſch und franzöſiſch wußte, auch ſonſt
in mancherlei Kenntniſſen und Fertigkeiten einen guten
Grund gelegt hatte, zur ferneren Ausbildung auf das
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—
Königliche Pädagogium nach Halle gebracht. Dieſe
Erziehungsanſtalt ſtand ſchon damals in großem Rufe
ſittlicher und geiſtiger Trefflichkeit; durch fie war für
junge Leute vornehmen Standes, wie durch die wun—
derbar gedeihende Waiſenhausſtiftung für die ärmere
Jugend in gleichem Geiſte geſorgt; Francke, ihr Grün—
der, leitete ſie beide in derſelben frommen Richtung,
die von ihm auch Stadt und Univerſität empfing, welche
letztere, erſt im Jahre 1694 geſtiftet, in aller Kraft
friſchen Emporkommens blühte. Der chriſtliche Eifer,
der hier waltete, lieh der frommen Milde zwar oft
eine düſtre Strenge, und die Bekenner waren unter
dem Namen Pietiſten, welchen Spener's collegia pieta-
tis zuerſt veranlaßt, vielfach angefeindet und verſchrieen;
allein die Getreuen hielten nur um ſo feſter an dem
erwählten Wege. Zinzendorf, von Kindheit an mit
dieſer Richtung vertraut, hatte darin hier zunächſt eini—
ges Herbe zu erfahren. Seine Großmutter war ſelbſt
mitgereiſt, um ihn der Obhut Francke's zu übergeben,
und, mochte nun das Weltliche bei dem Jünglinge grade
in dieſer Zeit ſtark hervortreten, oder andre Rückſicht
dazu rathen, genug, er wurde Francke'n als ein junger
Herr geſchildert, deſſen Hochmuth zu beugen und deſſen
Gaben ſtreng einzuhalten ſeien. Ihm wurde daher
viele Demüthigung zu Theil, er wurde zurückgeſetzt in
den Klaſſen, hart und beſchämend beſtraft, ſein Stand
und ſeine bisherige Erziehung nicht beachtet. Seine
Mitſchüler verſpotteten ihn, haßten ihn ſogar. Dabei
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hatte er nichtsdeſtoweniger mancherlei Verführungen von
ihnen auszuſtehn. „Da ich auf Befehl meiner lieben
Tante, — ſo erzählt er ſelbſt, — auswärts kein Weibs—
volk anzuſehen begehrte, ob ich gleich zu Hauſe unter
lauter Weibsleuten geweſen war, ſo ſuchten hingegen
die Scholaren mir ihre täglich mehr überhandnehmende
Schulſünden mit aller Liſt, Kunſt und Plauſibilität, die
der Satan in ein menſchlich Herz bringen kann, zu
kommunieiren. Ich hatte auch eine Anfaſſung an ſolche
Dinge, und da ich ohnedem zum Fürwitz geneigt war,
hätte ich eben alles wiſſen mögen, was gut oder ſchäd—
lich geweſen; weil ich aber unter einer Gnadenzucht
ſtand, die ſie nicht kannten, ſo wurde ich nicht allein
allemal von ihren böſen Thaten zurückgehalten, ſondern
es gelang mir mehr als einmal, diejenigen, die mich
verführen ſollten, ſtatt deſſen ins Gebet mit mir zu
bringen, und für meinen Heiland zu gewinnen.“ Ja
er fing im Stillen recht eifrig zu bekehren an, und ge—
ſtaltete die Sache gleich geſellig, indem er, auf Böden
und andern abgelegnen Orten mit mehreren jungen Leu—
ten, unter welchen ſich nach Umſtänden auch grobe Sün—
der befanden, die ſehr mild ertragen wurden, Zuſam—
menkünfte hielt, zum Beten, zu wechſelſeitiger Prüfung,
zur Anmahnung. Er war hiebei von beſonderer Thä—
tigkeit, die Geſellſchaft ungeachtet der Verſchiedenheit
der Glaubensbekenntniſſe zu einigen, zu beleben, unter
allem Wechſel der Theilnehmer fortzuſetzen, gegen Neid
und Verfolgung zu ſtärken. Dem Heilande und der
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Beförderung feines Neiches widmete fih ein noch enge-
rer Bund unter dem Namen des Ordens vom Senf-
korn, deſſen Mitglieder gewiſſe Ordensregeln beobach-
teten, und als Zeichen einen goldenen Ring trugen, in
welchem die Worte: „Unſer keiner lebt ihm ſelber“
eingegraben waren. Dieſer Orden, um welchen auch
Zinzendorfs Großmutter wußte, blieb ganz in der Stille,
dauerte aber, nachdem die Mitglieder längſt nach Holland,
Frankreich, Ungarn und ſonſtiger Heimath zurückgekehrt
waren, durch eifrigen Briefwechſel und nicht ohne Se—
gen fort. Ganz beſonders aber verband ſich Zinzendorf
mit dem Freiherrn Friedrich von Watteville, einem
Jüngling aus der Schweiz von angeſehener Familie,
der gleichfalls auf dem Pädagogium ſtudirte. Die
Miſſionsthätigkeit, welche ſich mit dem halliſchen Wai—
ſenhauſe unter Francke's Leitung erhob, wandte die
Jünglinge zu dem Vorſatz, ihrerſeits auch für die Be—
kehrung der Heiden zu wirken, und zwar nur ſolcher,
an die ſich ſonſt niemand machen würde; ein Vorſatz,
der in der Folge weite Ausführung erhielt. So groß
war aber ſchon damals Zinzendorfs Gabe, Verſchieden—
artiges zu verbinden, daß ſein geiſtliches Treiben mit
einem ſtarken weltlichen ganz wohl zuſammenging; er
war hochmüthig, geſteht er, zwar nicht in der Sache
Chriſti, aber doch in Bezug auf Standesſachen und Le⸗
bensverhältniſſe, auf natürliche Gaben und Geſchicklich—
keiten; weshalb ihn Francke auch wohl ein naſeweiſes
Gräfchen nannte; er liebte zu glänzen und voranzuſtehn,
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er putzte ſich gern, zeigte viele Luſtigkeit, und war dem
Witz und Scherz nicht abgeneigt; der damals lebhaft
geführte Streit über die Adiaphora oder Mitteldinge,
die zwar an ſich weder gut noch böſe, doch das eine
oder das andre in der Anwendung werden können, z. B.
Tanz und Kartenſpiel, welche durch Francke ganz ver—
worfen wurden, ließ ihn lange Zeit unangefochten, er
tanzte zwar nicht, aber eine Spielparthie machte er
gern, und ſagte davon, man könne ſchlechteres thun,
wiewohl auch beſſeres, wie er nicht läugnete. Sein
Eifer zu dem Heilande behielt indeß gegen jede welt—
liche Richtung die Oberhand; die Luſt zum Leiden, der
Glaube zum Durchkommen, und die Zufriedenheit mit
den geringſten Umſtänden, prägten ſich ihm tief ins
Herz. Sein erſter Genuß des heiligen Abendmahls ließ
ihn ganz ungewöhnliche Regungen an ſeiner Seele er—
fahren, und er verband ſich ſeinem Heilande zu ewiger
Treue und Nachfolge. Francke und andre ſeiner Leh—
rer, denen er die größte Liebe und Zärtlichkeit bewies,
befreundeten fich ihm in dieſer Geſinnung mehr und
mehr, und erſterer ſagte einmal von ihm, er würde noch
ein großes Licht der Kirche werden. Ein beſonderes
Vorbild war ihm hier öfters der Freiherr von Canſtein,
Francke's Freund, der als ein Mann vornehmen Stan—
des und großen Vermögens ganz dem Dienſte der Re—
ligion und der Förderung ihrer Anſtalten lebte. Er
war mit Zinzendorf weitläuftig verwandt, und machte
durch ſeine ganze Erſcheinung auf den Jüngling ſolchen
Biograph iſche Denkmale. V. 2
rn 18 Ge
Eindruck, daß dieſer ſogar gewiſſe Aeußerlichkeiten, die
jener in ſeinem Benehmen zeigte, von ihm annahm.
In ſeinen Studien ſchritt er ziemlich fort, er las die
griechiſchen Schriftſteller, der lateiniſchen Sprache war
er zum Reden und Schreiben mächtig, in der hebräiſchen
legte er einigen Grund, in öffentlichen Redeübungen
zeichnete er ſich aus, wiewohl er auch einmal bei ſehr
feierlicher Gelegenheit, weil er die Sache aus Ueber—
muth zu leicht genommen, zu tiefer Beſchämung ſeines
Dünkels ſtecken blieb; in der deutſchen Dichtkunſt hatte
er ſo große Fertigkeit, daß ihm die Verſe ſo leicht wie
natürlicher Redelauf zufloſſen. Unter ſolchem inneren
Wachsthum verlebte er ſechs Jahre in Halle; nur ſein
Körper blieb ſchwächlich, und die Bedrückung, die ihm
anfangs widerfuhr, war auch ſeiner Geſundheit nicht
zum Vortheil. Er hatte ſchon früher, um ſich zu ſtär—
ken, von Halle einen längeren Beſuch in Großhenners⸗
dorf gemacht; im April 1716 kehrte er von dem Päda—
gogium, nachdem er noch eine lateiniſche Abſchiedsrede
de philonikia eruditorum, oder von der Rechthaberei
der Gelehrten, abgehalten, ganz dahin zurück.
Hier blieb er eilf Wochen, theils durch den Unter—
richt ſeines Hofmeiſters Criſenius, theils mit eignem
Leſen, beſonders der Werke Luthers, neben dem freund⸗
lichen äußern und gewohnten inneren Lebensverkehr ge—
nug beſchäftigt. Durch den ländlichen Aufenthalt neu—
gekräftigt ging er alsdann zur Univerſität ab, beſuchte
aber vorher ſeinen Oheim und Vormund in Gavernitz.
2 19 88
Dieſer war mit des Jünglings pietiſtiſchem Weſen nicht
zufrieden, wollte denſelben daher nicht nach Halle, wie
er gewünſcht hätte, zurückgehen laſſen, ſondern beſtimmte
ihm Wittenberg zum Studienort, auch aus dem Grunde,
weil dieſes eine ſächſiſche Univerſität war, vorzüglich
aber, weil daſelbſt ein ganz andrer Geiſt, als in Halle,
herrſchte. Die beiden Univerſitäten lagen ſogar in off—
nem Streite, die alte Rechtgläubigkeit der Lutheriſchen
Lehre hatte in Wittenberg ihren Sitz, und bekämpfte
den halliſchen Pietismus als eine gefährliche Neuerung,
während dieſer die kalte, ſtarre Orthodoxie für un—
fruchtbar erklärte. Durch eine ausführliche ſchriftliche
Inſtruktion beſtimmte der Vormund genau die Lebens—
art und den Studiengang, welche auf der Univerſität
befolgt werden ſollten. Zinzendorf, obwohl in ſeinen
Neigungen einigermaßen gehemmt, beſchloß die genaueſte
Befolgung dieſer Vorſchriften. Weil er aber wußte,
daß man ihn von ſeinem Wege der Gottſeligkeit, den
man Pietiſterei nannte, abzubringen wünſchte, ſo war
er nur deſto ſorgſamer, den Schatz, welchen er im In—
nern hegte, zu bewahren. Angewieſen zum Studium
der Rechtswiſſenſchaft lag er dieſer fleißig ob, und trieb
mit Eifer auch andre weltliche Kenntniſſe, Sprachen,
und ſelbſt körperliche Uebungen, welche ſeinem Stande
geziemend dünkten; bei den letzteren nahm er nach ſei—
ner Art den Heiland zu Hülfe, und äußerte ſich darüber
folgendermaßen: „Man ſucht, denke ich, eigentlich ein
Ridicule darin: ich finde es aber nicht. Ein pietiſtiſcher
2 *
-
BD 20 Be
junger Herr, der einen geraden Verſtand hat, weiß,
daß, wenn ihm feine Vormünder und Hpfmeifter einen
Fechtmeiſter, Tanzmeiſter und Bereiter zuordnen, keine
genugſame Entſchuldigung zu finden iſt, dieſe Gymnaſie
zu dekliniren. Er bequemet ſich alſo zum Fechtboden,
zum Tanzboden, zur Reitſchule, ohne viel Wortwechſel:
nimmt aber mit ſeinem Herzensfreunde, dem allgegen—
wärtigen Heilande Jeſu Chriſto, die Abrede, er ſolle
ihm ja fein viel Geſchicklichkeit dazu geben, damit er
von allen ſolchen Allotriis bald mit Ehren losgeſprochen
und in die Freiheit geſetzt werde, die etlichen Stunden
des Tages auf etwas Solideres und ſeinem Gemüthe
und künftigen Umſtänden Konvenablers zu wenden.
Mein einziger und wahrer Konfident hat mich auch
hierin keine Fehlbitte thun laſſen.“ Die Hauptſache
blieb ihm aber, einen Lebensgang einzuhalten, bei dem
er ſeine Seele retten möchte, und ſo zog die Religion
alle ſeine Gedanken an. Daher wurde auch die Theo—
logie ſein Lieblingsſtudium, dem er jede Muße wid—
mete. Er beſuchte den Gottesdienſt mit Andacht, hielt
aber auch eigne Betſtunden, las die Bibel, ſang geiſt—
liche Lieder, und legte ſich beſondre Uebungen auf,
durchwachte ganze Nächte in frommen Betrachtungen,
hielt Faſttage, und wurde in den ſogenannten Mittel-
dingen ſtrenger, als je vorher oder auch ſpäterhin. So
wurde ſein Wandel geſetzlicher, aber ſein Herz weniger
frei und heiter; die theologiſchen Streitigkeiten, in deren
Mitte er fich geſtellt fand, gaben ſeinem Geiſte uner—
on 21 Be
freuliche Spannung, feinem Gefühle manches herbe
Leid. Viele unnöthige, ſchwere, langwierige und oft
wiederholte Kämpfe, wie er ſelbſt ſie bezeichnet, und
mit denen er ſich in die zwölf Jahre aufgehalten, mußte
er in ſeinem Innern erfahren. Dabei war ſeine Art
der Frömmigkeit dem vielfachſten Tadel ausgeſetzt, und
dies um ſo mehr, als er ſeiner halliſchen Sinnesweiſe
durchaus treu blieb, um ſie bei jeder Gelegenheit un—
verhohlen ausſprach. Er vertheidigte Francke'n und
das ganze Wirken, welches mit dem halliſchen Waiſen—
hauſe zuſammenhing, gegen vielfache Angriffe; er hielt
dem ſeligen Spener, als deſſen Sohn nach Wittenberg
kam, öffentlich eine ausführliche Lobrede. Die Theolo—
gen in Wittenberg, unter welchen Doctor Wernsdorf
einer der vornehmſten war, ließen ihm dieſe Ausbrüche
ſeines gutgemeinten Eifers mit Nachſicht hingehen, und
er ſelber ſchämte ſich bald ſeines gehabten Vorurtheils,
daß dieſe Theologen ſtörrige Zänker wären, wurde mit
ihnen näher bekannt und faßte Vertrauen zu ihnen.
Aber indem es ſcheinen konnte, als ob er gewonnen
würde, fand eher das Gegentheil Statt. Er durfte in
vertraulichen Geſprächen ihnen ihre Verſündigung gegen
Halle zu rechter Zeit und zur Unzeit vorhalten, und
ihnen Wahrheiten ſagen, die einem jungen Studenten
kaum geziemten, ohne daß jene in ihrer beſcheidenen
Geduld ermüdeten. Auch an öffentlichen Aeußerungen
ließ er es nicht fehlen. Zwar ſein Oheim, der ſich,
wie Zinzendorf erzählt, es zur Regel gemacht hatte,
md 22
ihm fo viel möglich eine andre Natur zu Schaffen, oder
wenigftens den Kopf auf eine andre Stelle zu ſetzen,
als wo er ihn gefunden, war bedacht geweſen, damit
der pietiſtiſche Sinn weniger Raum, und die entgegen—
geſetzte Richtung deſto größeren behielte, ihm in ſeiner
Inſtruktion zu gebieten, nie ein Thema zu vertheidigen;
allein ihm blieben dabei noch zwei Auswege; „Denn
erſtlich war mir, — ſagt er, — das Opponiren nicht
verboten, zum andern war meinem Onkel, aus allzu—
großer Hoffnung, daß ich in Wittenberg meinen Pietis—
mus gewiß aufgeben würde, nicht eingefallen, daß hin—
gegen ich die gute Intention haben könnte, die theolo—
giſche Fakultät zu Wittenberg zu Pietiſten zu machen.“
Dieſes gelang zwar ſo völlig nicht, aber es geſchahen
durch ſein eifriges Bemühen wechſelſeitige Annäherun—
gen, die ihren guten Nutzen hatten; der achtzehnjährige
Jüngling wurde von beiden Partheien als ein willkom—
mener Vermittler angeſehn, und ſchon wollte er mit
Wernsdorf zu Francke nach Halle reiſen, um das Frie—
denswerk zu vollenden, als er auf ausdrücklichen Befehl
ſeiner Mutter, der man das Unternehmen unrichtig vor—
geſtellt hatte, und die ſelbſt durch eine Zuſchrift Francke's
hierin nicht umzuſtimmen war, von der ſehr gewünſch—
ten Reiſe abſtehen mußte. Ein orthodoxer Profeſſor
wurde inzwiſchen auch ſo für die andre Seite gewon—
nen. Zinzendorf ſelbſt aber entſchied ſich im näheren
Umgange Wernsdorf's innerlich für den geiſtlichen
Stand, wobei er damals und lange nachher ſeine Ge—
u 23 .
danken nicht höher richtete, als etwa einen ſimplen Ka—
techeten oder höchſtens einen glücklichen Dorfpfarrer
abzugeben, ohne doch ſelbſt hiezu die mögliche Ausfüh—
rung irgend nahe zu ſehn. Doch behielt er dieſen Be—
ruf feſt im Sinn, und ſuchte früh jeden Gedanken ab—
zulehnen, daß er für weltliche Geſchäfte taugen könnte.
Er dachte hiebei: „Will mich Gott in ſeinem Reiche
zu etwas brauchen, ſo biete ich der ganzen Welt Trotz,
daß ichs, ohne ihren Dank, werden müſſe. Will ers
aber nicht thun, ſo bin ich bei ihm noch unvergeſſen,
und er ſieht etwa vorher, daß ich, in der boshaften
Zeit, nichts mehr, als mich ſelbſt zu erhalten, und meine
eigne Seligkeit zu beſorgen, nütze ſei.“ Inzwiſchen
war in Wittenberg am 31. Oktober 1717 das zwei—
hundertjährige Reformations jubiläum feſtlich begangen
worden, und Zinzendorf hatte auch dieſen Gegenſtand
mit dem Sinne betrachtet, der vor allem ein inneres
Chriſtenthum verlangt. Später gab der Beſuch einiger
halliſchen Freunde Anlaß, den alten Bund von Halle
in Wittenberg durch ein neues Mitglied zu vermehren,
unter vielem Gebet und Flehen, worin Zinzendorf eine
ganze Nacht ausharrte. Sein Briefwechſel mit den
Genoſſen, theils in franzöſiſcher, theils in lateiniſcher
Sprache, war lebhaft, auch ſonſtige Aufſätze und Ab—
handlungen und viele Gedichte ſchrieb er, wie auch eine
Diſſertation de philautia affectuum omnium fonte pri-
mario; in Beredſamkeit und Dichtkunſt beſaß er die
größte Fertigkeit; an Kenntniſſen, ſowohl in der Rechts-
e 24 So
wiſſenſchaft und Geſchichte, als in der Theologie und
in der Sprachkunde, hatte er ſehr gewonnen, fein Um⸗
gang war munter zugleich und erbaulich, ſein Betragen
durch vornehme Sitte und freundliche Güte ausgezeich—
net, ſein ganzes Weſen hatte etwas ſonderbar Auffal⸗
lendes und Wirkſames, worin ſich eine eigenthümlich
begabte und berufene Perſönlichkeit kund gab. So
ausgebildet verließ er nach vollendeten Studien im
Frühjahr 1719 die Univerſität Wittenberg, und begab
ſich auf Reiſen.
Sein Oheim und Vormund war inzwiſchen geſtor—
ben, und ſeine Mutter und Großmutter gaben wieder
ſeinem weltlichen Wege die Hauptrichtung, von der bis—
herigen nicht weſentlich verſchieden, denn wie ſehr auch
beide mit feiner Frömmigkeit einſtimmig waren, fo konn—
ten ſie doch kaum andre Plane für ihren Liebling den—
ken, als daß er, wie ein Kavalier ſeines Namens und
Ranges, ſich in der Welt umthun, in ihr ſeine ange—
borenen Vortheile wahrnehmen, und dann in der Bahn
der Ehre und des Anſehns allerdings gottſelig leben
möchte. Ihm ſelbſt aber däuchte die Sache ſchon da—
mals anders: „Ich will ja der Welt und ihrem We—
ſen abſterben, — meinte er, — was ſoll ich mir erſt ſo
viel mit ihr zu thun machen?“ Doch fügte er ſich
ohne Widerſtreben vorläufig in den Willen der Andern.
Die Reiſe ging zuerſt nach Holland, wohin ſein älterer
Bruder und ein Hofmeiſter, Namens Riederer, der mit
jenem ſchon auf Reiſen geweſen war, ihn begleiteten. Seine
od 25 8-8.
Stimmung war vorherrſchend religiös, und nahm auch
überall ſolche Nahrung ein. Frankfurt am Main wurde
ihm lieb durch das Andenken Spener's, der dort gelebt
und gewirkt hatte. In Düſſeldorf machte ihm unter
allen Gemählden der dortigen Bildergallerie den größ—
ten Eindruck ein leidender Chriſtus, deſſen treffliche
Darſtellung noch durch die Worte erhöht wurde: „Das
alles habe ich für dich gethan, was thuſt du für mich?“
Er fühlte beſchämt, wie wenig er ſelbſt auf ſolche Frage
würde antworten können, und gelobte ſich dem Heilande
nur deſto feſter. Gegen Ende des Mai 1719 kam er
in Utrecht an, reiſte weiter nach Rotterdam, Haag, Lei—
den und Amſterdam, und ging dann nach Utrecht zu—
rück, wo er mit ſeinem Hofmeiſter ſich zur Univerſität
hielt, ſein Bruder dagegen die Rückreiſe nach Sachſen
antrat. Er beſchäftigte ſich fleißig mit der Rechts-
wiſſenſchaft, mit der Geſchichte, mit der Arzneikunde,
die er ſehr liebte, mit der engliſchen Sprache, aber am
meiſten mit den Gegenſtänden der Religion, in Ver—
gleich deren ihm die andern nur als Kleinigkeiten gal-
ten. Manche Unterſuchung drängte ſich ihm auf, doch
ohne ihn zu irren. Er ſagt hievon: „In meinem neun—
zehnten Jahr gings nach Holland, unter die mancherlei
und fremden Lehren, die den Verſtand rüttelten, aber
das Herz nicht anrührten. Die ganze Reiſe hindurch
wurde das Gemüth auf eine empfindliche Weiſe von
allem Irdiſchen abgezogen. Das beſtändige Sehnen
meines Gemüths war allenthalben zu Jeſu und um ſei—
5
e 26 ER
nen Segen auch an Andern.“ Er las die Bibel mit
neuem Eifer, auch andre Schriften der Erbauung und
des Unterrichts, und gab ſich vielfacher Andacht hin.
Ein tägliches Gebet, welches er ſich vorgeſchrieben hatte,
ging in eine lange Reihe von Fürbitten über, für den
römiſchen Kaiſer, für alle chriſtlichen Könige auf Er—
den, für die Obrigkeit, unter deren Schutz er grade ſich
befand, für ſeine nächſten Angehörigen, für ſeine Leh—
rer, Freunde, Feinde, für alle Kranken und Sterben—
den, für ſeine katholiſchen Verwandten, für alle der
Theologie befliſſenen Edelleute, für die Univerſitäten
Halle, Wittenberg und Leipzig, für die Janſeniſten in
Frankreich, für die Judenbekehrung, und andres der
Art, in mehr als hundert Rubriken, in ausdrücklicher
Nennung der Perſonen, die ſich namhaft machen ließen.
In fo früher Gewohnheit ſchon gründeten ſich die Lita—
neien, deren Gebrauch er ſpäter ſo vielfach ausgebreitet.
Wie ſich aber fein religiöfes Bedürfniß gleich von An—
fang als ein geſelliges angekündigt hatte, ſo wurde auch
hier dieſer Karakter alsbald ſichtbar. Sein weltliches
Verhältniß diente ihm hiebei gut; nicht nur fanden ſich
einige Genoſſen von Halle und Wittenberg in Utrecht
wieder, ſondern ein ſo wohlempfohlener junger Herr
machte auch in der vornehmen und gebildeten Welt gar
leicht die ſchönſten Bekanntſchaften, deren nicht wenige
ſeinem Sinne ganz entſprachen. Die Fürſtin von Ora—
nien ſah ihn gern, und lud ihn zur Geburtstagfeier
ihres Sohnes ein, die er durch ein Gedicht verherr—
sn 27 Bo
lichte; angeſehene Staatsmänner fuchten fein Geſpräch;
mit dem großen Rechtsgelehrten Vitriarius und dem
berühmten Theologen Jakob Basnage, — von welchem
er fagte: „Jusques dans le parti contraire il reconnait
la verite!” — trat er in nähere Verbindung; theils in
Utrecht, theils im Haag und in Amſterdam genoß er
des vertraulichen Umgangs mit einem Prinzen von
Naſſau⸗Siegen, einem Grafen von Fugger, einem Gra—
fen von Lippe, mit den Freiherrn von Schell, von Put—
bus und von Negendank, ferner mit einem Grafen von
Tecklenburg, einem Grafen von Saint-Paul, mit dem
franzöſiſchen Generallieutenant Fürſten von La Tre—
mouille und deſſen Schweſter der Gräfin von Olden—
burg, mit den beiden Grafen von Danneſkiold, einem
Grafen von Reuß, dem Herrn von Grone, und vielen
Andern. Unter dieſen waren Katholiſche, Reformirte
und Lutheraner, und es gab daher leicht Anlaß, über
Religionsſachen verſchiedene Meinungen zu erörtern,
welches für Zinzendorf nicht ohne Wirkung war. Er
ſelbſt berichtet hierüber Folgendes: „Ich kam alſo nach
Utrecht auf die Univerſität mit meiner wittenbergiſchen
Theorie und halliſchen Praxis, welches eine beſondere
Espece eines jungen reiſenden Menſchen formirte, wo—
von manche erbauliche Specialia zu kommuniciren wären.
Hier kriegte ich mit den Reformatis zu thun, und mit
ein und andrer Gattung von Philoſophen, gegen welche
alle ich anfänglich ziemlich wilde that, nach und nach
aber doch ſo apprivoiſirt wurde, daß ich die Leute aus—
en 28
hörete; und ob ich auf der einen Seite wohl ſahe, daß
wir aus ganz verſchiedenen Schulen her wären, dennoch
auf der andern Seite inne wurde, daß ich verſchiedene
meiner Spekulationen entweder für mich behalten, oder
mit beſſern Argumenten verſetzen müßte: weil ich, wenn
es zu dergleichen Disput kam, mit manchem Kern- und
Kardinalbeweis nicht Herz genug hatte hervorzuziehen,
und mir oft erſten Blickes däuchte, mein Gegner hätte
den Irrthum mit wahrſcheinlicheren Urſachen befeſtigt,
als ich für die Wahrheit ſogleich aufzubringen hatte.
Dieſe Perplexität brachte mich wohl nicht zum Fall,
aber doch zum Weichen; und ich ergab mich darein,
wenn meine Gedanken nicht widerhielten, meinem Geg—
ner das letzte Wort zu laſſen: worüber ich bei Einigen
in den Kredit eines modeſten jungen Menſchen gekom—
men bin.“ Seine Duldung gegen Andersglaubende,
und der Umfang deſſen, was er mit ſeinem eignen Lehr—
grunde in der Ausübung wohlvereinbar fand, konnte in
dieſen Verhältniſſen nur gewinnen. Auch ließ er in
ſeinem Eifer gegen die Mitteldinge merklich nach. Die
eigentlichen Geſinnungsgenoſſen aber ſchloſſen ſich ihm
näher an, und zwiſchen vieren derſelben entſtanden zu—
letzt zur Förderung des Seelenheils tägliche Erbauungs—
ſtunden, in welchen Zinzendorf jedesmal über einen
Spruch aus dem neuen Teſtament eine Rede zu halten
hatte, durch Gebet und Geſang eingeleitet und been—
digt. Mit dem Grafen von Reuß ſtiftete er bei deſſen
früherer Abreiſe nach Frankreich den beſondern Bund,
0 — eg — — En —
3m 29
daß ſie dem Heiland allein leben und ihm von Herzen
dienen wollten. In Utrecht empfing er noch die Nach—
richt von dem Ableben des Freiherrn von Canſtein zu
Berlin, des edlen frommen Mannes, von welchem ge—
ſagt worden, er habe den Karakter eines Kindes Gottes
auch bei der Welt behauptet, ihr keine ſaure Miene ge—
macht, ſich aber auch gar nicht nach ihrem Sinne ge—
richtet. Er vermachte ſein Vermögen dem halliſchen
Waiſenhauſe. Zinzendorf widmete dieſem Todesfall ein
Gedicht, welches keine Trauer, ſondern vielmehr die
freudigſte Zuverſicht zum Sterben ausſpricht. Die
Furchtloſigkeit vor dem Tode war ihm ſchon damals
vollkommen eigen; ein wahrer Chriſt könne nur, meinte
er, aus Unverſtand das Abſcheiden fürchten, und er ſelbſt
bekannte ſich jeden Augenblick zu dem großen Schritte
bereit; ſo nahm er auch ſchon damals zum Wahlſpruch:
aeternitati. An ſich ſelbſt arbeitete er unabläſſig; als
er einige Tage in großen Schmerzen krank gelegen, und
ihn die Ungeduld übernommen, dichtete er deßhalb ein
Lied, in welchem er ſich zur Strafe und Tröſtung die
Schmerzen des Heilandes vorhielt. In der Mitte des
Septembers reiſte er mit ſeinem Hofmeiſter über den
Haag und Rotterdam nach Antwerpen, und von hier
über Brüſſel und Cambray nach Paris, wo er am 27.
ankam und in einem Hotel der Rue Saint-Honoré
abſtieg.
Er fand hier den ne von Reuß und deſſen
Hofmeiſter von Bonin, die ſchon abreiſen wollten, mit
* 30 3
welchen er jedoch die gewohnten erbaulichen Zuſammen—
künfte auch für die wenigen Tage noch anknüpfte; glei—
chen Umgang ſetzte er mit den Grafen von Danneſkiold
fort, und machte neue Bekanntſchaften mit vielen jun—
gen Deutſchen, die damals in Paris lebten; auch lernte
er den Freiherrn Nikolaus von Watteville kennen, den
er ſchon wegen des Namens auſſuchte, gleich als feines
Freundes Bruder erkannte, und bald liebgewann. Seine
Lebensweiſe, bei ſolcher Jugend und in ſolchem Stande
ganz durch Religion bedingt, mußte in der vornehmen
Welt einiges Aufſehen machen; der Marſchall von
Villars, der engliſche Botſchafter Lord Stairs, der Kar—
dinal von Buſſy und mehrere Andere bezeigten ihm
nähere Theilnahme, auch Madame, die verwittwete
Mutter des Herzogs von Orleans, damaligen Regenten
von Frankreich, und dieſer ſelbſt, waren ihm geneigt;
jene, eine geborne Prinzeſſin von der Pfalz, welche mit
Lebhaftigkeit an Deutſchland und an ihrer Mutter-
ſprache hing, würdevoll und heiter zugleich, unterhielt
ſich ganze Stunden mit ihm. Er ſelbſt erzählt hievon:
„Als ich verwichenen Dienſtag zu der Madame komme,
fängt ſie auf Deutſch an: Guten Abend, Herr Graf;
iſt er heute in der Opera geweſen? Ich ſagte: Nein,
Ihro Hoheit, ich habe nicht Zeit, in die Opera zu ge—
hen. Sie ſagte darauf: Herr Graf, ich muß ihm ſa—
gen, daß ich höre, er kann die Schrift faſt auswendig.
Ich ſagte: Es ſollte mir lieb ſein, wenn ich ſie könnte
und darnach thäte. Aber wer ſagt Ihro Hoheit ſolche
DH Bo
Sachen? — Ich kann mich nicht beſinnen, antwortete
ſie.“ Und ferner: „Als ich einmal in der Gallerie
ſtund, ging die Madame in die Meſſe; und da ſie mich
ſtehen ſahe, ſagte ſie: Herr Graf, will er mit in die
Meſſe gehen? Darauf antwortete ich: Ich bin ja
Lutheriſch, Ihro Hoheit; was ſollte ich da machen?
worauf ſie lächelte und ſagte: Ich weiß es wohl!“ Die
bekannte Gerechtigkeitsubung des Regenten, der einen
wegen verübten Raubmordes zum Rade verurtheilten
Grafen, trotz aller dringenden Fürbitten der vornehm—
ſten Familien, mit denen, wie ſogar mit dem Hauſe
Orleans, er verwandt war, durchaus nicht begnadigte,
fiel in dieſe Zeit. Madame äußerte darüber gegen
Zinzendorf, es ſei gleichwohl ſehr ſchmerzlich, ein Exem—
pel der Art zu ſtatuiren. Er aber antwortete ohne
Scheu: „Deſto mehr Ruhm wird ſich der Regent mit
einer gleich durchgehenden Gerechtigkeit erwerben. Uns
Grafen geht es vor allen an. Ich kann aber nicht fe-
hen, daß wir durch die Exekution mehr beſchimpfet wer—
den, als dieſer Rang durch die That verletzt worden
iſt. Wenn Grafen und Herren um des Guten willen
leiden, und darüber ihr Leben laſſen, ſo iſt das der Fa—
milie keine Schande, wohl aber ſind ſie es mit ſolchen
böſen Thaten. Vor einem Grafen nimmt ſich kein
Menſch in Acht, man hält einen ſolchen Gedanken intra
characterem, darum müſſen ſolche Grafen, die morden
und ſtehlen, öffentlich und noch härter als Andere ge—
ſtrafet werden.“ Solchen Geſinnungen war nicht zu
BD 32 Bo
=
widerſprechen, und Madame fagte von Zinzendorf, er
ſei ein junger Menſch, der zu leben wiſſe, fürchte aber
Gott von Herzen, und darum halte ſie ihn für glück—
ſelig. Wirklich führte alles Weltliche ihn nur deſto
ſtärker auf das Innere zurück. Die äußeren Auszeich—
nungen ließen ſeinen Ehrgeiz doch nicht ungereizt, und
als einſt am Hofe ſeinem Range nicht die Gebühr wi—
derfahren, beklagte er ſich darüber, und erhielt auch ſo—
gleich Genugthuung zugeſagt, doch ehe fie noch geleiſtet
war, ſchämte er ſich ſeines Hochmuths, fiel Gott zu
Füßen, und bat ihn mit vielen Thränen um Gnade
und Vergebung: „Ich verſprach dem Heiland, — ſagt
er von dieſem Vorgang, — ſein armer Nachfolger zu
werden, und der Welt völlig abzuſagen. Und es iſt
dieſer Sinn, in Abſicht auf Ehre und Anſehen, ſeit der
Zeit nicht wieder verändert worden: ſondern Chriſti
Schmach iſt mir allemal eine Freude geblieben.“ Er
beſuchte übrigens die Reitbahn, nahm Unterricht im
Franzöſiſchen, erweiterte ſeine Rechtskenntniſſe, ſah
Merkwürdigkeiten und Geſellſchaften aller Art. Doch
wie das große Krankenhaus Hotel-Dieu ihm größere
Theilnahme und Bewunderung erweckte, als das präch—
tige Verſailles mit allen Bauwerken und Gärten, ſo
zog auch der Umgang frommer Perſonen ihn ſtets be—
ſonders an, und die Bekanntſchaft mit der Herzogin
von Villars und einigen ihrer Freundinnen wurde ihm
in dieſer Beziehung ungemein ſchätzbar, es gab bei ihr
Geſpräche über Sachen des Glaubens und Stellen der
39 33 92
Schrift, ohne daß man ſich indeß, bei vielfachem Be—
gegnen, völlig verſtändigte; auch trug Zinzendorf Be—
denken, in einen Orden der Treue, welchen dieſe Damen
hatten und ihm anboten, einzutreten.
Ueberhaupt fühlte er Abneigung und Scheu gegen
jede Verwickelung mit katholiſchen Verhältniſſen; die
äußere Pracht des Kirchenweſens, das üppige und ſünd—
liche Leben ſo vieler vornehmen Geiſtlichen, wirkten ab—
ſtoßend auf ihn; den Lehrmeinungen widerſprach er mit
Heftigkeit. Er mußte jedoch bald entdecken, daß inmit—
ten der argen Verwilderung, welche in Frankreich unter
der Regentſchaft alle Stände, und beſonders auch die
Geiſtlichkeit, öffentlich ergriffen hatte, ein edler Kern
reiner und gebildeter Religioſen fortlebte, die ſich dem
Verderben der Kirche, ſelbſt gegen deren Ausſprüche,
ſtandhaft widerſetzten, und ohne die äußeren Formen zu
verwerfen, das Heil zunächſt im Innern begründen
wollten. Dieſe unter den Namen Janſeniſten lange
ſchon verfolgte, aber dadurch auch nur verſtärkte Par—
thei befand fich in heftigem Streit gegen die päpſtliche
Bulle Unigenitus, auch gemeinhin die Konſtitution ge—
nannt, welche die Hauptlehren der Janſeniſten, oder
was dafür in dem berühmten Buche des Pater Quesnel
über das neue Teſtament vorausgeſetzt war, als irrig
verdammt hatte. Einen dieſer Männer, den Pater von
La Tour, General der Väter des Oratoriums, lernte
Zinzendorf zufällig kennen, kam mit ihm in freund⸗
ſchaftlichen Umgang, und ließ ſich durch ihn, wiewohl
Biographiſche Denkmale. V. 3
pn 34 Bo
nicht ohne Scheu, bei dem Kardinal von Noailles ein-
führen. Dieſer ehrwürdige, frommgütige und dabei ge⸗
bildete Mann machte auf ihn einen tiefen Eindruck, es
entſtand eine innige Annäherung, mündlich und ſchrift—
lich wurden die Angelegenheiten der Religion unter—
ſucht, und nichts verabſäumt, um Zinzendorf zum ka—
tholiſchen Glauben zu bewegen, allein er blieb in ſei⸗
nem Glauben feſt, erwiederte den wiederholten Vor—
ſtellungen, die Wahrheit ſeiner Kirche dispenſire ihn,
eine andere zu ſuchen, und brachte vielmehr den Kar—
dinal dahin, daß dieſer auch in dem Proteſtanten die
inwohnende Gnade erkannte, und ihn für ein Kind
Gottes hielt, mit dem er nicht ferner über kirchliche
Formen ſtreiten mochte, ſondern fortan nur liebevollen,
vertraulichen Herzensumgang pflog. Des Kardinals
ganzes Weſen hatte eigentlich dieſe Richtung; er be—
kannte, daß er gern ſeine biſchöfliche Hoheit zu den
Füßen Jeſu niederlegen und ein armer Prieſter werden
wolle, wenn es der Kirche Frucht bringen könne; ſeinen
Sprengel verwaltete er treulich, ſeine großen Einkünfte
gab er zu milden Zwecken hin. Eine ſinnige, zarte
Freundſchaft entſtand zwiſchen dem Greis und dem
Jüngling; der Kardinal hörte mit Wohlgefallen die
Briefe, welche Zinzendorf ihm von ſeiner Großmutter,
Mutter und Tante vorlas, und verzichtete darauf, ihn
zu bekehren; er verſprach ihm ſein Bildniß, und wollte
auch die Freunde des jungen Grafen kennen lernen.
Zinzendorf durfte ihn ermahnen, in der Konſtitutions⸗
sn 35 Sao
ſache feſt zu fein, nichts aus Menſchenfurcht oder Ge—
fälligkeit zu thun, die erkannte Wahrheit unverzagt zu
behaupten, und ſeine Kardinalswürde nicht in die Sache
Chriſti zu mengen. In der That durfte der Janſenis—
mus für diejenige Seite des katholiſchen Chriſtenthums
gelten, von welcher dieſes mit dem proteſtantiſchen, wie
es ſich im Pietismus darſtellt, zu vereinbaren ſein
möchte, und Zinzendorf's Ermahnung ging aus rich⸗
tigem Gefühl ſeiner eignen Stellung hervor. Deſto
tiefer ſchmerzte es ihn, als dennoch, ungeachtet wieder—
holter entgegengeſetzten Verſicherungen, der Kardinal,
durch vielfaches Andringen zum Nachgeben bewogen,
die Konſtitution durch eine öffentliche Erklärung ge-
wiſſermaßen annahm. Jetzt war das gute Vernehmen
zerſtört, und Zinzendorf ſagte ſich mit großer Betrüb—
niß von dem verehrten Manne nunmehr ganz los, und
fündigte ihm dies ſelbſt durch einen Brief freimüthig
an. „So iſt es denn geſchehn, gnadiger Herr, — ſagt
er in dieſem Schreiben, — und der große Muth, der
den Gefahren trotzte, und die Feinde der Wahrheit in
Erſtaunen ſetzte, weichet der ſchwachen Hoffnung eines
unerlaubten Friedens! Sie unterzeichnen, und ſo alſo
bergen Sie die Wahrheit! Ich glaub' es nicht, gnä—
diger Herr, ich, der ich Sie und Ihre guten Abſichten
kenne. Was aber werden diejenigen ſagen, die, ent—
fernt von Ihrer Perſon, Ihre Tugenden jederzeit be⸗
wundert haben, wenn ſie erfahren werden, daß das
weiſeſte Buch von der Welt, welches Sie der Heerde,
3 *
39 36 >
die Gott Ihrer Sorge anvertraut hat, fo nachdrücklich
empfohlen haben, verdammt wird? Aber es iſt nicht
mehr Zeit, alſo mit Ihnen zu reden. Was mich an—
belangt, ſo habe ich zweimal die Pflichten des treueſten
Dieners erfüllet, und ich habe nichts weiter zu ſagen.
Auch halte ich mich für unfähig, Ihnen Rathſchläge zu
ertheilen; weil aber meine Augen Sie, nach dieſer be—
klagenswürdigen Unterzeichnung, nicht mehr ſehen wer—
den, ſo will ich Ihnen hiemit auf immer Lebewohl ſa—
gen. Ich danke Ihnen unterthänig für die Ehren- und
Gnadenbezeigungen, deren Sie mich würdig geachtet,
und da meine Freimüthigkeit Ihnen bisweilen dürfte
mißfallen haben, ſo bitte ich Sie tauſendmal um Ver—
gebung. Der Herr, unſre Liebe, wolle in Ihnen ſein
Werk vollenden, und Ihnen bei dem Lichte der Wahr—
heit die ganze Bosheit des Reiches der Finſterniß zei—
gen! Ich hoffe nicht, daß Sie mich Ihrer theuren
Freundſchaft berauben werden, nachdem ich mir die
Kühnheit genommen, Ihnen meine Geſinnungen auszu—
ſprechen. Da ich mich aber von der Zeit und ihren
vorübergehenden Annehmlichkeiten ganz los zu machen
ſtrebe, um die ſelige Ewigkeit zu erlangen, die von
allen Veränderungen und Unfällen frei iſt, ſo werde ich
mich mit meiner Aufrichtigkeit und mit der Gerechtig—
keit meiner Klagen tröſten. Wenn unſer guter Vater,
nach dieſem elenden Leben, uns dermaleinſt, durch ſeine
große Barmherzigkeit, in dem zukünftigen Leben wieder
zuſammenbringt, ſo werden Sie, ich bin es gewiß, der
od 37 Ge
Erſte ſein, mir den Ausbruch meines Eifers zu verge—
ben, und Sie werden von der Wahrheit meines Glau—
bens und von allem, was ich Ihnen nun zum letzten—
mal zu ſagen die Ehre gehabt habe, eben ſo überzeugt
ſein, als ich es gegenwärtig bin. Soll ich indeß auf
immer der Freude, Sie zu ſehen, beraubt ſein, ſo beten
ſie für mich zu dem Gott, den wir alle beide ſehen
werden, und glauben Sie, daß ich ſie unendlich liebe,
Sie wahrhaft ehre, und mit innigſtem Leid Ihnen Lebe—
wohl ſage.“
In dieſer ausgeſprochenen Denkart wurde er durch
zufällige Bekanntſchaft noch mehr beſtärkt; er hörte einen
Dominikanermönch predigen, der ihm ein zweiter Tauler
ſchien; derſelbe ſprach ganz aus dem Innern, drang
auf die Bekehrung des Herzens, da denn die Aenderung
des Lebens von ſelbſt folgen würde, wollte keinen Frie—
den mit der Welt, zeigte die Nothwendigkeit einer Re—
formation, nicht nur bei dem armen Volke, ſondern vor—
nehmlich bei den Großen. Zinzendorf ſuchte den Mann
ſogleich auf, er hieß Pater d' Albizi, gehörte zu den
eifrigſten Widerſachern der Konſtitution und führte den
Grafen zu den Biſchöfen von Boulogne und von Mont-
pellier, welche ſelbſt nach dem Einlenken des Kardinals
von Noailles fortfuhren, von der päpſtlichen Bulle an
eine allgemeine Kirchenverſammlung zu appelliren. Zin—
zendorf's Brief an den Kardinal wurde hier mitge—
theilt, und für eine Eingebung des heiligen Geiſtes er—
klärt. Dieſe Geſellſchaft, in welcher ſich bald inniges
3
Vertrauen eröffnete, war für Zinzendorf nicht ohne Ge—
fahr; die Appellirenden und ihre Anhänger wurden als
Staatswiderſpenſtige angeſehn und nach Umſtänden auch
ſo behandelt; manches freiere Wort, mancher ununter—
ſuchte Verdacht hatte ſchon in das Gefängniß geführt,
und Zinzendorf konnte leicht auf eine oder andre Weiſe
das Opfer einer Denkart werden, wegen der ihm auch
wirklich, wenn der Sage zu glauben, einmal Gift bei-
gebracht worden; wenigſtens verfiel er in eine ſchwere
Krankheit, als deren Urſache man jenes annahm; er
war aber überhaupt ſchwächlich und öfteren Krankheiten
unterworfen. Seine Abreiſe von Paris, die im Früh—
jahr 1720 geſchah, entledigte ſeinen Hofmeiſter deßhalb
großer Sorgen. Bevor wir ihn aber weiter begleiten,
iſt es nöthig zu vernehmen, was er ſelbſt in Bezug auf
feine religiöſe Stellung uud Entwickelung von dieſem
Aufenthalte ſpäterhin geſchrieben hat. „Jemehr ich in
die Welt kam, — ſagt er, — je feſter hielt mich mein
Herr, je inniger zog er mich in die Betrachtung ſeiner
Leiden, und ich ſuchte mir unter den Hohen der Welt (von
den Niedrigen hatte ich damals noch nicht viel Begriff)
lauter ſolche Leute aus, denen ich meines Heilandes
Gnade anpreiſen konnte. Ich fand dergleichen, wo man
es oft nicht hätte denken ſollen. Im Haag meinete ich
3. B. bei dem portugieſiſchen Ambaſſadeur Grafen Ta—
roucca etwas mehr als ſonſten von meiner Hauptſache
zu ſprechen Gelegenheit zu finden. Gegen diejenigen,
da ich mich nicht antrauete, war ich höflich. Denen,
9 39 33
—
die mich auf Reiſen verführen wollten, begegnete ich
grob, und nahm Gelegenheit, (wie ich ſchon auf Uni—
verſitäten angefangen hatte), fie auf einmal zu desabu-
ſiren, wovon ich die Früchte noch jetzt genieße. Alles
machte ich mit meinem Heilande aus, was mir wichtig
war. — In Paris war ich ganz in meinem Fache. Da
kam ich unter die rechtſchaffenen Biſchöfe und Religio—
ſen, und lernte etliche Damen kennen, die Gnade hat—
ten. Da iſt mir die Zeit nicht lange worden, und es
war mir leid, daß ich ſobald abbrechen mußte. Ich
war im Uebrigen, aus Mangel der Connoiſſance, ſehr
geſetzlich, und ich habe mich über die Geduld meiner
Freunde, und ſonderlich des Herrn Kardinals von
Noailles, ſeitdem verwundert, die von meinem bizarren
Humeur viel ausſtehen mußten. Denn was ich für
recht erkannte, das ſuchte ich eum emphast zu inkulki⸗
ren, und ich konnte mit dem wichtigſten Freunde gleich
brechen, wenn ich glaubte, er ſei in meines Herrn Sache
nicht zuverläſſig. Die Welt wußte nicht recht, wie ſie
mit mir dran war, weil ich in dem Exterieur nichts
Apartes hatte, als daß ich bei Hofe nicht tanzte, und
in Paris auch nicht ſpielte. Verſchiedene, die mich
kannten, glaubten, ich ſtünde noch in meinem Tauf—
bunde; Uebeleinſehende gaben mich für einen Pietiſten
aus, und die, welchen man dieſen Namen giebt, ließen
mich nicht paſſiren. — Ueberhaupt däucht mich, wenn
man mir alle Arten der bevorſtehenden Verführung in
<> 40 .
der Welt aufrichtig geſagt hätte, fo wäre ich nicht vor
einer jeden ſtehen geblieben und hätte ſie ſo beſehen,
ſondern ich hätte es gemacht, wie mit den Frauens-
leuten. Was mir verboten war, das ließ ich. Die
Unwiſſenheit war mir zu mancher Diſtraktion beförder—
lich und ſchädlich; die Erkenntniß alles menſchlichen
Elendes und aller Handgriffe des böſen Feindes, uns
nach feinen Abſichten zu faconniren, iſt mir beftändig
heilſam und ſelig geweſen.“ Und nochmals an einem
andern Orte ſagt er: „In Frankreich fand ichs unter
der katholiſchen Religion, wie ich's in Holland mit eini—
gen Proteſtanten angetroffen. Sie ſagten mir die Ar—
gumente grade nicht, die in den Büchern für die ihrige
angegeben waren; ſie ſagten mir aber andere, die ich
noch nie gehört hatte, worunter einige waren, die ich
gegen gewiffe adversarios boni ordinis et concordiae
christianae in unſerer Kirche für invineibel gehalten,
und ſie mit einem hoc non obstante abgefertigt hatte,
wenn ich ihnen auf ihre desideria die Antwort ſchul—
dig bleiben müſſen. Ich fing mich an zu fürchten;
gleichwohl mußte ich mit Leuten leben: und weil ich
mit meinen Glaubensgenoſſen, die eben nicht wegen
ihrer Herzenserbauung nach Paris reiſen, wenig anfan—
gen konnte, ſo mußte ich mich unter denen Landesein—
wohnern nach Leuten umſehen, wo ich mein Gemüth
erbaulich oecupiren, und, nach meiner damaligen Idee,
etwas Bleibendes auf die Ewigkeit mitnehmen konnte.
ET ³OR
x
DM
Das brachte mich mitten unter die Patres und Biſchöfe
hinein, ja zu einem Kardinal, denen allen ich zu ihrem
Ruhm nachſagen muß, daß ſie, da ſie ſahen, ſie hätten
mit einem Menſchen zu thun, dem ihre Religionsdis—
puten A charge wären, weil er zwar ihre Erfahrung
und Gelehrſamkeit genugſam reſpektirte, um fie mit ſeinen
argumentis classieis zu verſchonen, gleichwohl aber ſei—
ner Religion von Herzen treu und über den geringſten
Gedanken eines Synkretismus mit der gegenſeitigen
Theorie verlegen wäre, ſogleich von dergleichen Mate—
rien abſtrahirten, und ſich mit mir in das unergründ—
liche tiefe Meer des Leidens und Verdienſtes Jeſu und
der dadurch erworbenen Gnade, ſelig und heilig zu
werden, hineinbegaben; da wir denn ein halb Jahr mit
himmliſch vergnügten Herzen beiſammen waren, und
uns nicht mehr beſannen, was für einer Religion einer
oder der andre wäre, ſo daß der Kardinal, da ich end—
lich doch über feinem Aecommodement mit ihm zerfiel,
und ihm mit vieler Jugendhitze begegnete, mich bis an
das Ende ſeines Lebens auf's Gefühl unſerer Herzen
zurückführete, und mir unter andern die Worte ſchrieb:
Que la difference des sentiments n’aille point jusques
aux cours!“
Zinzendorf hielt dieſen Umgang, den er in Frank—
reich gehabt, für eine große Gefahr, die ſeinem pro—
teſtantiſchen Glauben bereitet geweſen ſei. Die katho—
liſche Kirche iſt in weltlicher Bildung und Anreizung
>. 42 Be
wohl nie ſchöner und reicher aufgetreten, als in jenem
Zeitalter franzöſiſcher Entwickelungsfülle, die aus dem
ſiebenzehnten Jahrhundert in das achtzehnte überſtrömte.
Das Chriſtenthum an ſich bedarf ſolches Schmuckes frei—
lich nicht, es kann ihn völlig miſſen, aber es läßt ihn
zu, und befehdet ihn keineswegs; Philoſophie, Gelehr—
ſamkeit, die ſchönen Künſte, durften ſich zu allen Zei—
ten mit höchſter Frömmigkeit verbinden. In Frankreich
aber war die Erſcheinung ganz außerordentlich; die
größten Geiſter und Talente der Nation, die vornehmſte,
reichſte Geſelligkeit, Redekunſt und Dichtungsgabe, alles
Hohe und Liebenswürdige, was in menſchlichen Zuſtän—
den gewährt ſein kann, waren mit dem religiöſen Le—
ben verflochten, trugen die Farbe des beſtimmten Kir—
chenthums, theilten die ihre demſelben mit. Männer,
wie der Kardinal von Noailles, Frauen, wie die Her—
zogin von Villars, dazu im Hintergrunde die fortwir—
kenden Namen Fenelon, Boſſuet, Pascal und andre in
großer Zahl, durften für die Kirche, der ſie angehör—
ten, und die ſolche Früchte darwies, ein mächtiges Vor—
urtheil begründen, und wenn zu dem vorausgeſetzten
Heil, wie ſo häufig Zwang, auch Lockung als ſtatthaft
gelten ſollte, ſo mußte man zugeben, daß dieſe von der
weltlichen edleren Seite her nicht wohl verführeriſcher
hätte erſcheinen können. Dieſes fühlte Zinzendorf, und
feine Neigung für die Perſonen und für die Bildungs-
formen, in welchen er ächte Frömmigkeit hier leben ſah,
konnte ſich, bei minderem Erfülltſein des Gemüths, leicht
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e 43 Br
auf das Kirchenthum übertragen. Doch blieb, wie ſchon
bemerkt, ſein proteſtantiſcher Glauben unerſchüttert, ja
derſelbe beſtärkte und erhärtete ſich vielmehr im Wider—
ſpruch. Nur entnahm er von jenem Umgang eine mil—
dere und verträglichere Stimmung, als damals unter
Proteſtanten gewöhnlich war, für die Katholiken und
ihre Art; ja die Folgezeit entwickelte in ſeiner Erinne—
rung erſt recht die Vorzüge, welche er damals noch
nicht nach Gebühr zu erkennen gewußt. Wie er hier—
über gedacht, äußert er in einer ſpäteren, aber hieher
gehörigen Stelle mit eignen Worten: „Seitdem ich mit
den Katholiſchen wenig Umgang und Korreſpondenz mehr
habe, fange ich mich an über ihre Geduld, Raiſonnabi—
lität und Toleranz hintennach zu verwundern, daß ſie
ſo viel, zum Theil ungegründete, heftige Disputationes
und Krickeleien, deren ich mich in meinen jüngern Jah—
ren ſchuldig gemacht, von mir haben vertragen, meine
damalige Bekehrſucht ins Beſte deuten, und mich doch
ſo viele Jahre nicht haſſen noch drücken mögen. Wollte
Gott, daß meine Glaubensgenoſſen mit mir ſo raiſon—
nabel und chriſtlich gehandelt hätten, als ich die Katho—
liſchen dreißig Jahre lang in allen Oeccaſionen gefun—
den; ſelbſt 1719 und 1729, da ich in ganz diverſen
Ländern bei Religions-Motibus mit ihnen zu thun ge—
habt, und ſie mir entgegen ſtehen müſſen, wobei ſie ſich
nicht einbilden können, daß mein Lehrſyſtem aus dem
Concilio Tridentino genommen ſei, und ich ihnen über
das von meinem Volk übel beſchrieben war; aber es
un M So
iſt eine radicirte, praktiſche IHE in der katholiſchen
Kirche, nicht ſo viel Libertinage und Haß gegen die
Liebhaber und Anbeter Jeſu, als bei manchem trockenen
und regellos disputirenden Proteſtanten, und ſo wenig
ich mir das römiſche Lehrſyſtem mit dem meinigen zu
reimen weiß, oder ſie begehren werden, für Herrnhuter
zu paſſiren, zumal in articulo de Ecclesia: fo ſehr ehre
ich ihre praktiſche Kondeſcendenz für alle ſtille, unſekti—
riſche und in Abſicht auf Allotria und Intriguen un—
verdächtige Chriſtenmenſchen in ihrer eigenen (welches
ihre erſtaunliche Geduld mit dem Pere Courrayer, der
auf einer proteſtantiſchen Univerſität zugleich Doktor
Theologiä geworden war, genugſam beſtätigt), und
noch vielmehr extra casum litis in fremden Religionen.
Sie führen das Anathema gegen die Gegner im Munde
und Panier, und haben oft viel Billigkeit gegen ſie in
Praxi. — Wir Proteſtanten führen libertatem im Munde
und auf dem Schilde: und es giebt unter uns in Praxi
(das ſage ich mit Weinen) wahre Gewiſſenshenker.
Beſſere dich Jeruſalem!“
Von Paris reiſte Zinzendorf über Straßburg nach
Baſel und Zürich; und wandte ſich alsdann nach Fran—
ken, wo er mehrere Wochen auf Oberbirg und darauf
in Caſtell bei ſeinen Verwandten zubrachte. Hier ſchrieb
er fleißig Briefe, franzöſiſche und deutſche, dichtete man—
cherlei Lieder, worin er lebenslang die größte Leichtig—
keit behielt, aber freilich nie den rechten Geſchmack er—
langte, und ſetzte mit Eifer ſein geiſtliches Leben fort.
rd 45
In allen diefen Kreiſen war man frommgeſinnt, aber
man hielt in Worten und Werken ein gewiſſes Maß,
welches dem vornehmen Stande zu gebühren ſchien.
Eine Frömmigkeit, wie die des jungen Grafen, der ſein
Verhalten keiner äußeren Rückſicht unterordnete, mußte
daher auffallend und nicht ſelten läſtig ſein. Ihn aber
konnte nichts irren, er blieb in ſeiner ſtrengen Bahn,
und man ließ ihn endlich dabei, weil doch nichts über
ihn zu gewinnen war. Wie es mit ſeiner Stellung in
der Welt werden würde, indem weder am Hofe noch
im höheren Staatsdienſte, wohin die Vortheile ſeiner
Geburt ihn anwieſen, ohne mancherlei Nachgiebigkeit
durchzukommen möglich ſchien, dafür durfte man ſchon
ernſtlichere Sorge hegen, da eine hier entſtandene Nei—
gung Zinzendorf's zu feiner jungſten Baſe, Gräfin
Theodore von Caſtell, bald in einen förmlichen Hei—
rathsantrag überging. Er reiſte nach Hauſe, um die
Sache mit den Seinen völlig zu ordnen. Alles war
einverſtanden mit dieſer Verbindung, auch die Groß—
mutter gab ihr anfänglich über die nahe Verwandtſchaft
gehabtes Bedenken auf, die Baſe ſelbſt hatte ſich ſo
geäußert, daß er an ihrem Ja nicht zweifeln wollte,
und ſo hielt er ſich als Bräutigam gebunden. Auf der
Rückreiſe nach Caſtell kam er bei Plauen nachts in der
Elſter in große Gefahr, und folgte deßhalb am näch—
ſten Tage einer freundlichen Einladung nach Ebersdorf
zu ſeinem Freunde, dem Grafen von Reuß, der in—
zwiſchen zur Regierung gelangt war. Hier kam nun
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die Rede darauf, daß auch Graf Reuß nächſtens zur
Vermählung ſchreiten müſſe, und ſeine Mutter richtete
an Zinzendorf, als auch dieſer mancherlei ſchickliche
Parthieen namhaft gemacht, unerwartet die Schlußrede,
unter allen Genannten ſei keine der Gräfin Theodore
von Caſtell gleichzuſetzen, an dieſe aber leider nicht zu
denken, wovon er die Urſache am beſten wiſſe. Dieſes
Wort brachte in ihm eine große Bewegung hervor; er
verglich die Antriebe, Stellungen, Geſchickeslooſe; er
fand es in allem Betracht beſſer für alle drei, wenn
Theodore nicht ſeine, ſondern ſeines Freundes Gattin
würde, und beſchloß alſobald, ſie dieſem zu überlaſſen.
Nach einem edlen Wettſtreite, der jedoch nur kurze Zeit
dauern konnte, reiſten die beiden Freunde, begleitet von
dem reußiſchen Rath von Bonin, zuſammen nach Ca—
ſtell, um die dortigen Geſinnungen zu erforſchen. Es
fehlte nicht an Widerſpruch, auch von Seiten der jun-
gen Gräfin, welche ſich aus Zartheit, denn ihre Nei⸗
gung hatte ſchon bisher mehr gegen den Vetter, als für
ihn entſchieden, — jetzo beinah für gebundener halten
wollte, als vorher; allein durch Zinzendorf's Bemühen
kam der Tauſch, in welchem Gottes Lenkung verehrt
wurde, glücklich und zu allſeitiger Zufriedenheit in Aus—
führung. Zinzendorf betheuerte, er gebe hiemit zwar
ſein Liebſtes in der Welt, doch getroſt um Jeſu willen
auf. Er wohnte ſodann der Verlobung bei, die er
durch Gebet und Erbauungsrede, wie auch durch eine
eigends hiezu verfertigte Kantate feierlich begehn half.
Dieſe ſeltſame Geſchichte mußte natürlich großes Auf-
ſebn machen, und zu mancherlei Gereden Anlaß werden.
Nach dieſem Vorgange reiſte der junge Graf mit
ſeinem Freunde vergnügt nach Ebersdorf zurück, und
bedachte ernſtlich, wie er ſeinen äußeren Lebensweg
einrichten möchte, damit derſelbe feinem inneren An⸗
triebe nicht zur Hemmung würde. Ohne viel zu ſuchen,
erwählte er gleich das Nächſte, und ging gradeswegs
nach Halle, um dort bei den Franckiſchen Anſtalten ir-
gendwie beſchäftigt zu werden. Im Haufe des Grafen
Reuß daſelbſt, vor einer zahlreichen Geſellſchaft, eh er
ſelbſt noch ſeine Abſicht hatte merken laſſen, überraſchte
ihn Francke ſeinerſeits mit dem Vorſchlage, die Stelle
ſeines ſeligen Freundes, des Freiherrn von Canſtein,
bei dem Waiſenhauſe zu übernehmen; hier war durch
einen vornehmen Mann eine fromme Thätigkeit gleich⸗
ſam ſchon eingeweiht und für die Welt minder an—
ſtoßig gemacht. Denn die Vorſtellung, daß ein Graf,
wie ſtark auch der Geiſt ihn triebe, dieſem doch nicht
anders, als in den angenommenen, weltgültigen Aus-
zeichnungen ſeiner Standeswürde folgen dürfte, hatte
ſich auch bei den ſonſt Frommen feſtgeſetzt, welche in
dieſer Hinſicht wohl die katholiſche Einrichtung benei—
deten; wo hohe Kirchenwürden und reiche Prälaturen
den jungen Edelleuten, bei geiſtlichem Beruf, in der
Kirche doch auch, wie am Hofe und im Heere, eine
vornehme Laufbahn darboten, wogegen die proteftan-
tiſchen Oberhofvrediger oder Superintendenten ſehr im
9 48 3
Schatten blieben. Aber Zinzendorf, von ächtem Chriften-
ſinne beſeelt, dachte eben deßhalb ganz anders; ihm
war alles vornehm und erhaben, was den Dienſt des
Heilandes betraf, alles gering und ſchlecht, was dieſem
fremd erſchien. Die Vornehmheit, die er gleichwohl
zeitlebens behielt, und die ihn und ſeine Werke mäch—
tig tragen und durchkämpfen half, wurde ihm, wie auch
er ſelbſt ſich ihrer entkleidete, von der umgebenden Welt
noch immer aufgedrungen, und er war wirklich zu vor—
nehm in Geiſt und Sitte, um die Demuth, die er em—
pfand, durch ungeberdiges Abwerfen des Aufgedrun—
genen wieder zum Hochmuth umzukehren. In dem
Entgegenkommen Francke's erblickte er nur die höhere
Beſtätigung ſeines eignen Sinnes, er nahm den Vor—
ſchlag freudig an, einzig mit dem Vorbehalte, daß auch
die Seinigen dazu ſtimmten. Er ſetzte demnach ſeine
Reiſe nach Berlin fort, wo er ſeine Mutter wiederſah,
und ihr ſeine Abſichten mittheilte. Sie gab jedoch ſei—
nem Lebensplan ihre Einwilligung nicht; ſie wußte ſich
in die Sinnesart ihres Sohnes nicht ſo völlig hinein
zu denken, um nicht vieles darin höchſt ſonderbar zu
finden. Der vertraulichſte Gedankenaustauſch vermochte
die Abweichung nicht zu vereinigen; Zinzendorf ſah ſich
gehemmt, ſein wahres Weſen oft verkannt, ja von man—
chen Perſonen ſogar gehäſſig ausgelegt. In einem
Briefe ſprach er ſeine damalige Stimmung folgender—
maßen aus: „Weil ich freilich auf's Ganze dringe, von
Vielen nicht wohl gefaſſet werde, die vielleicht meiner
BD 49 -
Jugend eher unrichtige, als gegründete Concepte zu—
trauen: fo zweifle ich nicht, daß ſich hernach alles an-
dere ergeben werde, wenn nämlich Gott, durch ſeine
Barmherzigkeit, dieſelben Perſonen einmal überzeugen
wird, daß mein Thun nicht Eigenwille, ſondern nach
ſeines göttlichen Wortes Regel eingerichtet geweſen.
Ich kann nicht die allergeringſte Verſtellung leiden: da-
her ich nur gar zu leicht meines Herzens Gedanken
ſage. Es iſt aber vergebens, dieſes alles durchzufech—
ten; ich laſſe es ganz gerne auf mir erſitzen, bis des
lieben Vaters Zeit kommen wird, ſein bedrängtes, hart
angeſchuldigtes und ſo ſehr verworfenes Kind zu ver—
theidigen und ihm Gutes zu thun, für das Harte, das
ich an ihm, dem Herrn, mehr als tauſendmal, an Men-
ſchen aber nicht ſo verſchuldet habe.“ In dieſer Ge—
ſinnung trat er ſeinen ferneren Schickungen nicht ohne
Sorge, doch voll Troſt, entgegen.
Obwohl mit einundzwanzig Jahren bereits mün—
dig, wollte Zinzendorf ſein Handeln doch der bisherigen
Leitung nicht ganz entziehen. Auch wäre dies ohne
gewaltſame Durchbrechung kaum möglich geworden.
Seine Mutter und ſein Stiefvater in Berlin waren
ſeines Gehorſames als ſeiner natürlichen Erwiederung
ihrer liebevollſten Zärtlichkeit gewohnt. In Großhen—
nersdorf bei ſeiner Großmutter, die er hierauf beſuchte,
war er der Liebling des Hauſes; die noch thätige,
muntre, alte Dame ſah in dem aufgewachſenen Jüng—
ling immer nur noch das geliebte Kind; eine Großtante
Biographiſche Denkmale. V. 4
83H 50 Ba
und eine Tante, nicht minder bejahrt und rüſtig, nah⸗
men ihn im beſten Sinn eben ſo; aber dieſe Damen
alle glaubten ihn leiten zu müſſen, und an ſeiner Folg—
ſamkeit zu zweifeln fiel ihnen nicht ein. So viel ver-
eintes, ehrwürdiges und gutmeinendes Alter war ſeiner
Pietät heilig, er fügte ſich liebevoll auch in das Läſtige.
Inzwiſchen wußte er doch ſeine Tage allmählich nach
ſeinem Sinn einzurichten. Einen Knaben, der gute
Anlagen zur Tonkunſt hatte nahm er in ſeinen Dienſt,
und ließ ihn und einen Jungen von Lariſch im Latein
unterrichten, er ſelbſt aber behandelte die Religionsleh⸗
ren mit ihnen, und bald hielt er auch auf dem Schloſſe
eine tägliche Erbauungsſtunde mit ſichtbarem Erfolg.
Auch ſeine Verwandten freuten ſich theilnehmend ſeines
frommen Eifers, der jedoch, ihrer Meinung nach, einem
andern Lebenszwecke noch Raum laſſen konnte. Die
Verſchiedenheit der Anſichten über ſeine Zukunft verur-
ſachte ihm vielen Kummer. Mündlich und ſchriftlich
bemühte er ſich, ſeine Neigung zu einem durchaus geiſt—
lichen Leben zu rechtfertigen; er wünſchte, wenn ihm
nicht erlaubt wäre, ein Theolog und Prediger des
Evangeliums zu werden, wenigſtens in ſtillem Land⸗
leben für ſich und Andre gottſelige Thätigkeit zu üben,
und den Gefahren weltlicher Verhältniſſe zu entfliehen.
„Ich ſehe vor meinen Augen, — ſchrieb er unter an—
dern, — daß ich, wider meinen Willen und Dank, durch
einen ordentlichen Beruf, wenn Gott mein Seufzen
nicht noch für genehm hält, in die Landesregierung
*
eie 51
werde gezogen werden. — Mein Herz gehet aber nicht
auf zeitliche Hoheiten und Reichthum; vielmehr erfreuet
mich die Stille und die Ruhe, in der wir Gott und
unſerm Nächſten zu dienen vermögend ſind.“ Sein
großer praktiſcher Sinn, durch innere Wahrheitskraft
wunderbar früh gereift, wandte gegen eine Hof- und
Staatsbedienung insbeſondre noch die bedeutende Be—
trachtung ein: „Auch macht meinen Ruf bedenklich,
ſagte er, daß ich mit meinem Vermögen nicht genug
Gutes thun kann, wo ich es nicht zu freier Dispoſition
habe. Auf dem Dorfe bin ich ein Haushalter über die
daſelbſt Wohnenden. Giebt mir Gott viel, ſo eſſe und
trinke ich deßwegen nicht mehr, ich kleide mich nicht
ſtattlicher, aber ich helfe mehreren meiner Mitbrüder
und Mitſchweſtern. Schickt Gott Landplagen, ſo leide
ich fo gut als die Andern, ich theile mit ihnen fo lange,
bis ihnen geholfen iſt. Bin ich aber in einem andern
Orte, wo es die chriſtliche Klugheit erfordern mag, daß
ich meinem Stande, auch nur in etwas, gemäß leben
ſollte, ich bekomme aber nichts dazu, als was Gott mir
ſelber, nach Proportion der mir zugedachten Haushal—
terſchaft verliehen hat; ſo muß ich entweder Schulden
machen, oder dem Oertchen, wohin mich Gott eigentlich
geſandt hat, das Seinige entziehen.“ Die Verwandten,
ſeiner Frömmigkeit in allem andern beipflichtend, hiel—
ten ihm aber das Beiſpiel ſeines Vaters und Oheims
vor, welche den Frömmſten beigezählt, gleichwohl die
erſten Staatswürden bekleidet hätten, in welchen grade
4 *
52 Bo
Männer feiner Geſinnung am wünſchenswertheſten wären,
und mehr Gutes wirken könnten, als in beſchränkter
Abgeſchiedenheit. In feiner Bedrängniß gerieth Zin-
zendorf auf einen beſondern Einfall. Ein ehemaliges
Reichslehn ſeiner Familie, Unterbirg in Franken, durch
Verabſäumung entfremdet, ſchien ſeinen Rechtsanſprüchen
vermittelſt des Reichshofraths in Wien wieder zuzu—
wenden; gelang dies, fo hatte er mit einer unabhän-
gigen Lage fürerſt Geſchäfte genug, und konnte ein
Amt noch ablehnen; allein die Sache blieb nach den
erſten Einleitungen ohne Fortgang. Eine andre Aus—
ſicht ließ ihn wenigſtens ſolche Staatsdienſte hoffen,
welche mehr als die fächfifchen ihn anziehen durften.
Die Prinzeſſin Sophia Magdalena von Brandenburg-
Kulmbach heirathete den Kronprinzen, nachherigen König
Chriſtian den Sechſten von Dänemark, deſſen gottes—
fürchtiger Sinn eine durchaus fromme Regierung ver—
hieß. Die Markgräfin von Brandenburg-Kulmbach,
Mutter der Prinzeſſin, war dem Hauſe Caſtell ver—
wandt, mit Zinzendorf daſelbſt bekannt geworden, und
ſeitdem in vertraulichem Briefwechſel mit ihm. Da
auch dieſe Dame ihm zuredete, ein Amt anzunehmen,
ſo wünſchte er ein ſolches wenigſtens in Dänemark, als
dem Lande ſo ſchöner Verheißungen, und wollte deß—
halb auch ſchon nach Kopenhagen reifen. Allein feine
Großmutter vereitelte ſein Vorhaben; alles war durch
die Familie für ihn bereits in Dresden geordnet, und
nach vielem Widerſtreben, welchem das vierte Gebot
on 5
ernſtlich entgegengeſtellt wurde, und unter vielen Thrä-
nen, nachdem er auch wegen der Eidesleiſtung einige
Zweifel zu beruhigen gehabt, nahm er im Oktober 1721
bei der Landesregierung in Dresden die Stelle eines
Hof- und Juſtizraths an; die Stelle eines Appellations⸗
raths hatte er entſchieden abgelehnt.
Der Gegenſatz, in welchem Zinzendorf den welt—
lichen Dienſt und den geiſtlichen Beruf gefaßt, war für
ihn um ſo weniger aufzuheben, als er jene nicht ſowohl
überhaupt für unvereinbar erklärte, ſondern dies vor—
züglich nur als ihm verſönlich geltend aufſtellte. Er
fühlte ſich unfähig, ſo verſchiedenartige Richtungen und
Gebiete zuſammenzuhalten, und ſo war er denn auch
ſogleich von Anfang bemüht, nachdem er aus Gehor—
ſam ſich mit weltlichem Treiben eingelaſſen, dieſes mög—
lichſt einzuſchränken, und nur des geiſtlichen Strebens
wahrzunehmen. Solch fortſchreitendes Ringen, aus
einem Weltlichen ein Geiſtlicher zu werden, verbleibt
ihm nun lebenslang, und es iſt bemerkenswerth zu ſehn,
wie die Verhältniſſe, welche wegen ihrer Größe und
Stärke nicht fo leicht abzuwerfen waren, ihren durch—
dringenden Vortheil noch ſelbſt auf das ihnen entſagende
Wirken erſtreckten, und als beſiegte den Sieger noch
günſtig begleiteten! Er verhehlte es nicht, wie wenig
er geſonnen ſei, durch Geſchäftsarbeiten Auszeichnung
und Beförderung zu ſuchen, und bat den Kanzler von
Bünau gradezu, ihn nur in ſogenannten Vorbeſchieds⸗
ſachen zu gebrauchen, welches dieſer auch gern zuſagte.
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Wirklich beſchränkte ſich feine ganze Thätigkeit während
fünf Jahren ſeiner Dienſtanſtellung nur darauf, daß er
zuweilen ein paar arme Bauern durch Vorbeſchied mit
ihrem Gerichtsherrn zum Vergleich brachte; andren
ſtrengeren Geſchäftsaufgaben durfte er fremd bleiben;
denn da er ſo wenig Erwartung gab, fand er um ſo
mehr Schonung, auf welche ſein Stand und Namen
auch ohnehin rechnen konnten. Sein ganzer Eifer blieb
auf Uebung und Ausbreitung chriſtlicher Frömmigkeit
gerichtet, und von dieſer Seite erfuhren ſeine Kollegen,
wie alle andre Perſonen, welche mit ihm in Berührung
kamen, ſeine unermüdlichſte Thätigkeit. Er ſagt hievon
ſelbſt: „Ich kam darauf an Hof; meine Eltern wollten
es haben, und ich wußte keinen Ausweg. Was wollte
ich machen? Ich wollte meinen edlen Schatz konſer—
viren, Gottes Freund, der Welt Feind, zu ſein, und
debutirte gegen Hohe und Niedrige mit ſo vielen gut—
gemeinten Impertinentien, daß, wenn ich mich noch dar—
auf beſinne, mich einestheils die Komparaiſon mit einem
von Chriſtian Weiſen weiland aufgeführten Neuling in
der Welt anwandelt, anderntheils die beſcheidene Kon—
duite der Glieder des Hofes und Miniſterii, denen ich
mit meiner Andacht beſchwerlich fiel, mir noch immer
reſpektabel iſt.“ Er ſuchte aber, in ächt chriſtlicher Ge—
ſinnung, neben dem Umgange der Vornehmen, der ſich
ihm von ſelbſt darbot, auch den Umgang der Armen
und Niedern auf, in welchen irgend ein Zug der Fröm—
migkeit ſichtbar oder vorauszuſetzen war; ihm galt in
oe 55 Rn
dieſer Hinſicht kein Stand und keine Bildung, fondern
nur die Beziehung zum Heilande. Auch Leute, die
verachtet und angefeindet ihre beſonderen Wege gingen,
und deren Annäherung ihm mancherlei Mißfallen zu—
ziehen konnte, fanden bei ihm leichten Zutritt. Nicht
befriedigt durch gewöhnliche Mittheilungen und Ge—
ſpräche einzelnen Verkehrs, nahm fein heißer Eifer ei—
nen höheren Schwung zu allgemeinen, regelmäßigen
Erbauungen. Eine ſeltne Nachſicht wurde ihm hiebei
zu Theil. „In Dresden habe ich, — ſo berichtet er
ſelbſt, — ohne Widerſpruch meiner welt- und geiſt—
lichen Obern alle Sonntage eine auch öffentliche Ver—
ſammlung für jederman und bei offenen Thüren gehal—
ten. Das Singulare dabei war nur, daß ich ein Pre—
diger war, der aus Gehorſam gegen ſeine Eltern einen
Degen trug und auf die Regierung ging, der aber ſchon
damals mit ſeinem ganzen Gemüthe in der Predigt des
Evangelii lebte. — Der liebe Superintendent zu Dres—
den, Dr. Löſcher — welcher mich von Wittenberg her
kannte, und mich nicht für einen Pietiſten hielt, ſondern
für einen eifrigen Menſchen und Liebhaber des Wortes
Gottes — hatte ein chriſtliches Mitleiden mit meiner
unterdrückten Gabe, und ließ mich machen.“ Dieſe
ſonntäglichen Verſammlungen fanden nachmittags von
3 bis 7 Uhr Statt, man beſprach ſich über geiſtliche
Dinge, man ſang ein Lied, man las ein Stück aus dem
neuen Teſtament; in dieſer Weiſe ging die Sache bis
in das ſechste Jahr mit geringer Unterbrechung fort,
aD 56 Bo
und wirkte in mancherlei Richtung ſegenvoll, indem auch
viele Leute, die ſich von der Kirchengemeinſchaft ge⸗
trennt hatten, und dieſe Vorträge beſuchten, durch ſie
zur Kirche zurückgeführt wurden, und von ihrem Trotz
in Behauptung gewiſſer Irrlehren allmählich abließen.
Außer vielen andern Abſonderungen innerhalb der pro—
teſtantiſchen Kirche, beſtand auch die Spaltung zwiſchen
Pietiſten und Orthodoxen damals noch fort, nur hatte
ſich das Verhältniß beider Partheien im Fortrücken der
Zeit bedeutend umgeſtellt. Die Denkart, welche von
Halle ausgegangen war, hatte fi) aus Druck und Ver—
folgung allmählich zu Herrſchaft und Anſehn erhoben,
die Lehre hingegen, welche ſich auf Wittenberg ſtlützte,
erfuhr von Kirchen- und Staatsämtern her, wo fie
vordem überwiegenden Anhalt gehabt, jetzt mancherlei
Ungunſt und Bedrängniß. Dieſer veränderte äußere
Zuſtand hatte zugleich das Innere umwandelnd berührt,
und man mußte bemerken, daß die orthodoxe Parthei
an gottſeliger Innigkeit und Wärme in demſelben Maße
reicher geworden war, als die pietiſtiſche an äußerer
Stärke gewonnen hatte. Dieſe Wahrnehmung beſtätigte
Zinzendorfen in feiner ſchon früher dargelegten Sinnes—
art, ſich keiner Parthei vollkommen anzuſchließen, kei—
nem theologiſchen Syſtem unbedingt zu huldigen, fon-
dern ſein geiſtliches Wirken vorzugsweiſe auf das er—
regte Gemüth zu gründen, und aus allen Meinungs-
und Lehrarten die ächten Freunde des Heilandes, die
wahren Kinder Gottes zuſammen zu ſuchen, und in der
ep 57 Be
höheren Gemeinſchaft die äußeren Zwiſte zu vergeſſen.
In dieſer Sinnesart waren ihm für die Zukunft große
und unerwartete Erfolge glücklich vorbereitet, die ſich
einem ausgebildeten ſtrengen Lehrbegriffe ſchwerlich ſo
verknüpft haben würden.
Für ſeinen Zweck, dem Heilande Seelen zu ge—
winnen, machte er ſeine weltlichen Anordnungen zu ei—
nem dahin gewandten Lebensplan mit ſo richtiger Klug—
heit und ſichrem Maße, als ſeiner Jugend, bei ſo feu—
rigen Trieben, kaum zuzutrauen geweſen war. Sein
ererbtes Vermögen war durch ſechszehnjährige Zinſen
vermehrt; zwar hatte der Kurator deſſelben nicht über
jedes genügende Rechenſchaft geben können, und Zin—
zendorf der unverſchämten Zumuthung, er werde als
ein Jünger Jeſu nicht allzu ſtreng über Geld und Gut
halten noch ſtreiten, allerdings entſprochen, und ſogleich
alles, was irgend ſchwierig wurde, willig fahren laſſen;
doch blieb, trotz dieſer Einbuße, das ganze noch be—
trächtlich genug für den Ankauf eines anſehnlichen Grund—
eigenthums. Seine Großmutter verkaufte ihm das an
Großhennersdorf gränzende Rittergut Bertholdsdorf.
Am 19. Mai 1722 ließ er ſich huldigen. Der Bau
eines Wohnhauſes war bereits früher angefangen. Hier
dachte er nun in unmittelbarem Wirken auf ſeine nun—
mehrigen Unterthanen ein chriſtliches Gemeindeleben
nach ſeinem Sinne zu gründen. Als Gehülfen hiezu
berief er zu der eben erledigten Pfarre den Kandidaten
Andreas Rothe, einen Mann, deſſen Frömmigkeit und
sp 58 8
Geiſtesgaben in hohem Anſehn ſtanden, der aber, weil
ein Amt zu ſuchen gegen ſein Gewiſſen war, ungeachtet
ſeiner beliebten Predigten bis dahin nur als Informa-
tor ſein Unterkommen gefunden hatte. Nach dieſer ge—
troffenen geiſtlichen Fürſorge glaubte Zinzendorf zu der
Lebensweiſe, die er ſich vorgeſetzt, auch einer gleichge—
ſinnten Gattin nicht länger entbehren zu dürfen. Zwar
hatte die Vorſtellung, daß keuſche Eheloſigkeit einem
heiligen Berufe wohlgezieme, ihn oft erfüllt, allein ge—
nauere Betrachtung lehrte ihn die Ehe als einen vom
Heiland anbefohlenen Stand ehren, den man, wie auch
ſeine Herzensfreunde ihn verſicherten, mit aller Heilig—
keit führen könne. Seine Wahl traf nach vielem Be—
denken die Gräfin Erdmuth Dorothea von Reuß zu
Ebersdorf, die Schweſter ſeines Freundes. Er ſchrieb
hierüber an ſeine Großmutter: „Bei dem jetzigen Vor—
haben wird es noch mancherlei Diffikultäten ſetzen, in—
dem ich ein ſchlechtes Glück für jemand bin, und die
liebe Gräfin Erdmuth ſich freilich eine ſehr verläug—
nende Lebensart bei mir müßte gefallen laſſen, und den
chimäriſchen Stand, welchen Gott nicht eingeſetzet, ſon—
dern der menſchliche Ehrgeiz erſonnen hat, mit mir zu—
gleich an den Nagel hängen, ſodann auch der Haupt-
zweck meines Lebens, Chriſto unter Schmach und Ver—
achtung die Seelen der Menſchen werben zu helfen,
auch ihre Funktion würde ſein müſſen, wo ſie mir etwas
nutzen wollte, jedoch nach der Regel, welche Paulus
vorgeſchrieben hat.“ Da manche Perſonen dieſe Art
|
HI in
zu lieben nicht feurig genug finden mochten, fo nahm
er Anlaß, hievon in einem anderen Briefe noch be—
ſtimmter zu reden: „Was die Gräfin Erdmuth belan—
get, — ſagte er, — gegen welche man mir eine kalte
Liebe beimiſſet, ſo erlauben Sie mir zu ſagen, daß ich
hierinnen unglücklich ſei; denn das iſt dem lieben Gott
nur allzubekannt, mit was für herzlicher Zuneigung ich
ihr ergeben bin. Daß ich aber eine fleiſchlich-irdiſche
Liebe zu ihr haben ſollte, da behüte mich Gott vor.
Die eheliche Liebe und Freundſchaft gehöret ſich mei—
nes Erachtens nicht ehe, als bis man vor Gott ſchon
verbunden iſt, denn wenn eine ſolche Sache zurückginge,
und man hätte von einem oder andern Theile ſich fleiſch—
lich geliebet und kreatürlich an einander ergötzet, ſo
müßte es nothwendig Male im Gewiſſen zurücklaſſen.
Ich weiß, daß ſie mich ebenfalls herzlich liebet, aber
nicht anders, als ich ſie. Indem ich nun die liebe
Comteſſe Erdmuth dem Aeußern nach gar nicht konſide—
rire, ſondern lediglich auf ihren Geiſt und Gemuths—
beſchaffenheit, Glauben und Liebe, ſehe, ſo geſchichts,
daß ſolche Liebe etwas indifferent ſcheint, weil ſie mehr
in das Inwendige als in das Aeußere gehet. Nach—
dem ich nach Ebersdorf werde gekommen ſein, wird ſichs
noch mehr weiſen, und ich bin verſichert, daß fie ſich
nicht einen Augenblick daran ſtoßen wird, ſondern viel—
mehr eine innige Freude haben, wo ſie ſähe, daß ich in
die Liebe Gottes ſo eingedrungen wäre, daß ich ihrer
Liebe und Gemeinſchaft gar müſſig gehen könnte, da⸗
2 60 8
hingegen ihrerſeits keine abſchlägige Antwort werde zu
fürchten haben, wenn ich ſie zur Gehülfin im Herrn
verlangen werde.“ Nachdem einige Schwierigkeiten durch
die inſtändigen Empfehlungsſchreiben der Herzogin von
Wolfenbüttel und des Reichskammerpräſidenten Grafen
von Solms beſeitigt worden, fand zu Ebersdorf am
16. Auguſt 1722 die Verlobung und bald nachher die
feierliche Vermählung Statt. Zinzendorf hatte ſchon
vorher mit ſeiner Braut über den Gang ihres verein—
ten Lebens aufrichtige Abrede genommen; um alles Ir—
diſche ſogleich abzuthun, ſchenkte er ihr, noch vor der
Trauung, ſeine ganze Habe. Solchen Ereigniſſen ſei—
nes Lebens widmete er nebſt andern Andachten auch
geiſtliche Lieder, an deren leichtfließender Hervorbrin—
gung es ihm bei keiner Gelegenheit gebrach; ſie mit—
zutheilen tragen wir jedoch Bedenken, da ihr Ausdruck
meiſt nur gering iſt, und dem gutgemeinten Inhalt ſel—
ten Schwung giebt. Seine Gemahlin führte er nach
Dresden, wo er in ſchicklicher, doch mäßiger Einrich—
tung ſeine gewohnte Lebensweiſe fortſetzte. Der freund—
ſchaftlichen Warnung, die Hofluſtbarkeiten weniger zu
meiden, damit nicht aus der nichtgeachteten Einladung
ein ernſtlicher Befehl des Königs würde, ſetzte er die
ſtandhafteſte Ablehnung entgegen, er müſſe, meinte er,
die Folgen ſeines Benehmens Gott empfehlen. Auch
wollte er keine Beförderung annehmen, am wenigſten
Kammerherr werden, und ſchrieb hierüber, er ſei weder
ein Weltmann, noch ein weltkluger Mann, wie ſolches
a 61 S
Amt erfordre, ſondern habe den guten Willen, ein Kind
Gottes und ein Chriſt von Herzen zu ſein, und ein
ſolcher habe vor den Hofvergnügungen und den Herr—
lichkeiten dieſer Welt einen Abſcheu. Dieſen Anſichten
gemäß entzog er ſich auch allen vornehmen eitlen Ge—
ſellſchaften, ging dagegen mit den geringſten Leuten,
ſobald er in ihnen eine Spur der Gottſeligkeit fand,
ganz vertraulich um, indem er ſagte, daß er den vom
Hochmuth der Menſchen entſprungenen, und ſo von
Aeltern auf Kinder fortgepflanzten Stand der natür—
lichen Geburt gegen die Schmach Chriſti für nichts
achte, daß er alle Menſchen ſo gut als ſich ſelbſt halte,
und nicht abſeben könne, warum ein Kind Gottes, wenn
es auch ein Bettler wäre, nicht an ſeiner Tafel nach
Gelegenheit miteſſen ſollte. Die ſonntäglichen Haus—
andachten hielt er nach wie vor mit Eifer, und da viele
Perſonen ſich mit ihren Zuſtänden an ihn wandten, ſo
erwuchſen ihm von daher bald ausgebreitete Geſchäfte,
denen er fleißigſt oblag. Man erſchwerte ihm von oben
her dieſe Lebenswendung nicht, und ließ ihn fein Re—
gierungsamt nicht als Laſt fühlen; vielmehr konnte er
dabei einen Theil des Jahres ganz auf dem Lande zu—
bringen. Die Gräfin aber theilte ſeine Neigung und
Lebensart mit freudiger Einſtimmung. Gleich zum
Winter, da in Dresden die Luſtbarkeiten recht anhoben,
reiſten ſie nach der Oberlauſitz, ihre Güter zu be—
ſuchen.
Inzwiſchen 5 ſich daſelbſt ein dem Anſcheine
BD 62 Bo
nach geringfügiges Ereigniß zugetragen, welches gleich—
wohl der Keim der wichtigſten und folgenreichſten
Schöpfungen war, und dem Leben Zinzendorfs eine
neue Kraftrichtung und entſchiedenen Wirkſtoff gab.
Wir müſſen aber hiebei, beſſeren Verſtändniſſes wegen,
auf frühere Zeiten zurückgehen. Das Chriſtenthum
war in Mähren und Böhmen zuerſt durch Boten, welche
der griechiſchen Kirche angehörten, gepflanzt worden,
und als ſpäter die lateiniſche Kirche in jenen Ländern
die Oberhand gewann, blieb ein großer Theil des Volks
der früheren Glaubensform getreu, welche zugleich für
die reinere galt; die Waldenſer ſchloſſen ſich derſelben
an, Johann Huß und ſeine Nachfolger ſtritten für die—
ſelbe mit Wort und Schwert, und die Sache der Re—
ligion wurde unter ihnen zur Nationalſache. Allein die
Anſtrengungen der Mähren und Böhmen erlagen, und
ihre Kirche, verfolgt und unterdrückt von der lateiniſchen,
abgeſchnitten von der griechiſchen, mußte in Dunkel und
Verborgenheit ihr Fortbeſtehn ſuchen, und aus eignen
Mitteln ihre Weiterbildung ſchöpfen. Die Glaubens-
genoſſen derſelben waren durch ihre Lage auf das In—
nere gedrängt, und unter dieſen Umſtänden entwickelten
ſich leicht ähnliche Vorzüge wieder, als den erſten chriſt—
lichen Gemeinden unter den Apoſteln eigen geweſen,
denen man in Lehre und Wandel möglichſt nachzufol—
gen befliſſen war; eine Brüderunität wurde der Sache
und dem Namen nach geſtiftet, und eine große Anzahl
von Getreuen hielten als mähriſche Brüder mehr oder
63 4.2
minder offen an der altüberlieferten Gemeinſchaft. Die
Reformation Luther's gab auch dieſen Brüdern neue
Anregung; die Lehre ſtimmte weſentlich überein, das
gleiche Schickſal, welches in und nach dem dreißigjäh—
rigen Kriege alle evangeliſchen Bekenner in jenen Län-
dern traf, hob andre Unterſchiede auf. Viele hatten
ſich den grauſamen Verfolgungen der Sieger zum Theil
durch Auswanderung entzogen, und in Polen, Preußen,
Sachſen, wie auch andern Ländern Aufnahme gefunden,
wo ſie beſondre Gemeinden bildeten. In Mähren und
Böhmen ſelbſt war ihnen keine freie Stätte mehr, ſie
mußten ihren Glauben wie ihre Bücher verheimlichen,
und erhielten ſich unter Druck und Gefahr nur in tief-
ſter Stille. Zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts
gab die Uebereinkunft, welche des Königs von Schwe—
den Karls des Zwölften furchtbares Herannahen dem
Kaiſer Joſeph dem Erſten zu Gunſten der Proteſtan—
ten in Schleſien abnöthigte, einige Hoffnungen, die aber
mit dem Abzuge und Fall jenes Kriegshelden wieder
ſchwanden. Unter den aufs neue zurückgedrängten Pro-
teſtanten entſtand aber gegen das Jahr 1720 in einigen
Gegenden von Mähren und Böhmen eine beſondere
Geiſtesbewegung; ſie ſtärkten ſich zu neuem Eifer, und
Viele trieb das Verlangen, des freien Gottesdienſtes
ihrer Brüder im Auslande theilhaft zu werden. Ein
Zimmermann, Chriſtian David, wurde hiezu mehreren
beſonders hülfreich. Von Senftleben in Mähren frü⸗
her ſchon auf Wanderſchaft ausgegangen, war er nach
= 64
Berlin gekommen, und hatte dort in der Gemeinſchaft
der evangeliſchen Kirche gelebt. Seit ſeinem achten
Jahre ſuchte er aufrichtig den Heiland, aber erſt in
Görlitz, wo er in ſeinem Handwerk arbeitete, und da⸗
bei fleißig zur Kirche ging und die erweckenden Pre—
digten Schäfer's und Schwedler's hörte, gelangte er
zu wahrer Befriedigung. Er lernte hier den Kandi—
daten Rothe kennen, und durch dieſen den kürzlich von
ſeinen Reiſen zurückgekehrten Zinzendorf, dem er die
unglückliche Lage einiger ſeiner Glaubensbrüder in Mäh—
ren nicht vergebens ſchilderte, denn Zinzendorf verſprach,
die bedrängten Familien aufzunehmen und ſie an ſicherm
Orte unterzubringen, wobei er vorzüglich Ebersdorf im
Sinne hatte, und erſt, als dieſer Plan allerlei Schwie—
rigkeiten gefunden, und ihm unterdeſſen in Bertholds—
dorf ein eigner Grundbeſitz geworden, beſtimmte er die—
ſen Ort zur Aufnahme der Vertriebenen, für welchen
er vorläufig auch den diesjährigen Ertrag des Gutes
anwies. Mittlerweile kamen, von dem muthigen Chri—
ſtian David klug und glücklich geleitet, drei mähriſche
Familien nach dem Pfingſtfeſte des Jahres 1722 in der
Oberlauſitz an, wo ſie zuerſt in Niederwieſe bei dem
Magiſter Schwedler, dann in Görlitz bei dem Magiſter
Schäfer achttägige Bewirthung fanden, und darauf mit
Rothe's Empfehlungsbriefen an den Hauslehrer Marche
nach Großhennersdorf, und von da nach Bertholdsdorf
geſchickt wurden. Der dortige Haushofmeiſter Heitz
berichtete dem anweſenden Grafen ihre Ankunft, und
65
ging inzwiſchen mit Frau von Gersdorf in Großhen—
nersdorf über die ferneren Anſtalten zu Rath, es wurde
beſchloſſen, die armen Fremdlinge ſollten ſich nicht im
Dorfe ſelbſt, wie ſie vorzugsweiſe wünſchten, ſondern
an einem beſondern Orte anbauen, wozu eine Waldge—
gend bei dem Hutberge, an der Landſtraße nach Zittau,
gewählt wurde. Die Gegend bot kein Trinkwaſſer dar,
hatte auch ſonſt nichts Erfreuliches, doch rechnete man
auf Gottes Hülfe. Die Leute wurden einſtweilen auf
dem Lehnhof untergebracht; Frau von Gersdorf ſchickte
ihnen eine Kuh, damit ſie Milch für die kleinen Kin—
der hätten, und ließ ihnen das nöthige Bauholz anwei—
ſen. Chriſtian David aber ſchlug ſeine Zimmeraxt in
einen Baum ein mit den Worten: „Hier hat der Vogel
ſein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Neſt, näm—
lich deine Altäre, Herr Zebaobth!“ Am 17. Juni fäll⸗
ten fie den erſten Baum zu dem erſten Haufe der nach-
herigen Stadt Herrnhut, und ſetzten bei geringer Koſt
mit harter Arbeit ihr Werk ſo freudig fort, daß ſchon
im Anfang Oktobers das erſte Haus bezogen werden
konnte. Der fromme Haushofmeiſter Heitz hielt die
Einweihungsrede, und von ihm kam auch der Anlaß
des ſpäterhin erſt gangbar gewordenen Namens der
neuen Niederlaſſung am Hutberge, indem er gleich an—
fangs in einem Schreiben an den Grafen ihr den Se—
gen wünſchte, daß ſie immer unter des Herrn Hut
ſtehen, die Einwohner aber auch ſtets auf des Herrn
Hut ſtehen möchten. Bis dahin hatten Marche und
Biographiſche Denkmale. V. 5
an 66 En
Heitz mit Hülfe der Frau von Gersdorf die Sache ge—
führt, zwar mit Wiſſen und aus den Mitteln Zinzen-
dorfs, aber doch ohne ſein beſonderes Einwirken, und
ſelbſt ohne ſeine genauere Kundnahme, da ſeine Ver—
mählung grade in dieſer Zeit ihn anderweitig beſchäf—
tigt hielt. So konnte es geſchehn, daß ihm, als er am
22. Dezember mit feiner Gemahlin nach Großhenners—
dorf fahren wollte, Verwunderung erregte, an der Land-
ſtraße im Walde ein neuerbautes Haus zu erblicken.
Er freute ſich jedoch herzlich, als ihm berichtet wurde,
dies ſei die Wohnung der von ihm aufgenommenen
mähriſchen Ankömmlinge, und er genehmigte alles Ge—
ſchehene. Er ging zu den Leuten hinein, bewillkommte
ſie, kniete mit ihnen betend nieder, und dankte dem
Heilande, deſſen Obhut er die Niederlaſſung inbrünſtig
empfahl; er hieß ſie gutes Muthes ſein und ferneres
Vertrauen auf Gott faſſen, und ſetzte darauf ſeinen
Weg fort.
Vor allem war ihm jetzt angelegen, ſeine ſämmt—
lichen Unterthanen zu Bertholdsdorf in die Bahn ächter
Frömmigkeit zu führen, er hielt es für ſeine Pflicht,
nicht eher zu ruhen, als bis auch der letzte ſeiner Bauern
dem Heilande gewonnen ſei. Sein Abſehn hiebei war
einzig von der Vorſtellung beſtimmt, nach Spener's
Hindeutung kleine Kirchen in der großen Kirche zu
pflanzen, fürerſt ein ganz einzelner Zweck, dem tiefere
Verknüpfung von Gedanken und Planen nicht zum
Grunde lag. Das obrigkeitliche Amt, welches ihm als
e 67 S
Gutsherrn zuſtand, verwaltete er in nöthigen Dingen
nach Erforderniß, miſchte daſſelbe aber in ſein geiſtliches
Wirken nicht ein, denn er glaubte, die Obrigkeit dürfe
ſich keine Macht über die Gewiſſen der Menſchen an—
maßen, eben ſo wenig, als ein wahrer Geiſtlicher den
weltlichen Arm anrufen dürfe, um den Glauben aufzu—
richten, aus beiden entſtünde nur abſcheuliche Heuchelei
und tiefes Verderben. Sein Prediger Rothe, deſſen
Predigten gewaltig eindrangen, leiſtete ihm förderlich—
ſten Beiſtand, der Magiſter Schäfer in Görlitz nahm
gleicherweiſe lebhaft Antheil, und als Friedrich von
Watteville aus Bern eintraf, der Jugendfreund Zin—
zendorfs von Halle her, ſahen ſich die vier Gleichge—
ſinnten als engverbundene Brüder an, deren ganzes
Trachten auf das Reich Gottes gerichtet ſei. Watte—
ville, der einem Anfluge weltlicher Freidenkerei wieder
entkommen war, hegte die innigſte Frömmigkeit in dem
edelſten Herzen, er war durchaus ſanft und dabei höchſt
thätig, wußte das unerkannte Gute jedes Menſchen zu
erforſchen, und flößte ſelbſt denen noch Vertrauen ein,
die es ſonſt für niemand mehr hatten. Sein liebreicher
Sinn und ſein grades bündiges Weſen ließ die Miß—
verſtändniſſe nicht aufkommen, welchen die verbundenen
Freunde in ihren häufigen Unterredungen, die ſie Kon—
ferenzen nannten, zuweilen ausgeſetzt waren; denn in
ihrem Streben ſelbſt, durchaus übereinzuſtimmen und
einer wie der andre zu denken und zu reden, lag der
Grund zu bedenklichen Verwirrungen, über welche Zin—
5 *
er 68 G8
zendorf bisweilen, einſam vor dem Heilande knieend,
bittre Thränen vergoß. Dieſe Konferenzen, zu welchen
nach und nach auch andre Theilnehmer kamen, wurden
ſpäterhin in größeren Maßen fortgeſetzt, und nicht ohne
lebendigen Einfluß auf die Gemeindeſachen. Doch Zin—
zendorf's Eifer begnügte ſich mit ſolchen Erörterungen
nicht, ſondern vervielfachte die Wege ſeiner Thätigkeit.
Neigungen und Gaben waren ihm auf großen perſön—
lichen Menſchenverkehr geſtellt. Unter den letztern ha—
ben wir einer ihm ganz eigenthümlichen zu gedenken,
der Gabe aus dem Herzen zu ſingen; unvorbereitet,
aus der Fülle des Herzens, in freiem, ungeſtörten Fluſſe,
ſang er, ein wahrer Improviſator, ſo oft die Gelegen—
heit es gab, geiſtliche Lieder, an Inhalt und Ausdruck
ſeinen übrigen nicht nachſtehend, und an Wärme und
augenblicklicher Wirkung ihnen wohl oft überlegen.
Seine Gabe zu reden war durchaus volksmäßig, zum
vertraulichen Wechſelgeſpräch wie zum allgemeinen durch—
geführten Vortrage gleich geſchickt. Im Triebe ſolcher
Gaben machte er ſich gleichſam zum Diakonus oder
Katecheten des Paſtors Rothe, und wenn dieſer am
Sonntage nach der Predigt ſeine Gemeinde in der
Kirche noch zu beſondern Unterhaltungen, wobei jeder
mitreden durfte, zuſammenbehielt, nahm Zinzendorf
nicht nur lebhaften Theil an den Geſprächen, und fügte
angemeſſene Lieder hinzu, ſondern nachmittags wieder—
holte er der Gemeinde auf einem Saal in ſeiner Woh—
nung die am Vormittage gehörte Predigt Rothe's in
DD 69 Bi
deſſen Gegenwart nochmals, und fo genau, daß er ſelbſt
manche Anreden oder etwan in Folge einiger Mißver—
ſtändniſſe nicht allzufreundliche Beziehungsworte, welche
der Prediger mit eigner Freimüthigkeit unmittelbar ge—
gen den Grafen öfters fallen ließ, in ſeine Wieder—
holung mit den Worten: „Wie heute Herr Rothe von
mir, oder zu mir ſagte,“ - getreulich aufnahm, und da—
durch zugleich ein Beiſpiel friedlicher Selbſtentäußerung
gab. Durch ſo viele vereinte Bemühungen, zu welchen
auch noch die Betſtunden des Haushofmeiſters Heitz
und die kräftigen Ermahnungen des Zimmermanns Chri-
ſtian David zu rechnen ſind, fanden in der Gemeine
von Bertholdsdorf bald zahlreiche Erweckungen Statt,
und die Erweckten ſchloſſen ſich den vier verbundenen
Brüdern innigſt an, mit welchen ſie ſich an jedem Frei—
tage zu beſonderer Andachtsübung noch eigends verſam—
melten. Aus der Nachbarſchaft zogen fromme Leute
herbei, um an dem geſtifteten Gnadenhaushalt, wie die
Sache genannt wurde, Theil zu haben, und neue Aus—
wanderer aus Mähren, welche hier Schutz hofften, tra—
fen ein und erhielten Wohnungen.
Während aber Zinzendorf armen Fremdlingen ſo
wohlmeinend und fürſorgend auf ſeinen Gütern eine
Freiſtätte darbot, ſah er ſich feltfam genug in den Fall
gebracht, ſelber die Heimath zu verlaſſen, und ſeiner—
ſeits eine Zuflucht in Böhmen zu ſuchen. Die Veran—
laſſung war folgende. Im Frühjahr 1723 kam eines
Tages unvermuthet ein Trupp reitender Trabanten nach
23H 70 BR
Großhennersdorf, nahm fofort den Freiherrn von Watte-
ville in Verhaft, und führte denſelben unter ſtrengem
Gewahrſam nach Dresden ab. Niemand wußte dieſen
für ihn ſelbſt wie für feine Freunde ungeheuern Vor—
fall zu erklären, alles war darüber von Schreck und
Furcht betroffen. Auch Zinzendorf, deſſen Einbildungs—
kraft die ſeltſamſten Vorſtellungen nähren mochte, war
jenen Eindrücken hingegeben, und fand ſeinem Zuſtande
wie auch der Klugheit angemeſſen, um ſelbſt für den
Freund noch thätig bleiben zu können, ſeine eigne Per—
ſon in Sicherheit zu bringen. Er ging deßhalb über
die Gränze nach Böhmen, wo er in der Stille abwar—
tete, wie ſich die Sache weiter entwickeln würde. Dies
erfolgte alsbald, und der Vorgang klärte ſich dahin auf,
daß Watteville durch gewiſſe Ausdrücke in einem Briefe
den Verdacht der Theilnahme an einem Morde auf ſich
geladen hatte, indem ſowohl er als Zinzendorf aller—
dings mit dem Thäter, einem vornehmen Manne in
Dresden, der ſich früher zu den ſonntäglichen Erbauun—
gen gehalten, und dem niemand ein Verbrechen ſolcher
Art zutrauen konnte, in Beziehung ſtanden. Bei die—
ſer Nachricht durfte Zinzendorf gutes Muthes ſein, trat
aus ſeiner Verborgenheit hervor, und wirkte mit allem
Eifer für die Befreiung des Freundes, deſſen Unſchuld
auch bald unzweifelhaft an Tag gelegt wurde. Wer
in dem anfänglichen Benehmen Zinzendorf's nur eine
Schwäche ſehen wollte, dürfte doch die Umſtände, deren
Anſchein auf ihn wirkte, nicht gehörig in's Auge faſſen.
71 SS
Die Zeit der ſchrecklichen Ungewißheit, in der er
ſchwebte, brachte er in einer Weiſe zu, die ſeinem gan—
zen Sinne würdig entſprach, er prufte vor Gott fein.
ganzes Leben, ſeinen Antrieb und Beruf, und erlangte
auf's neue die feſte Gewißheit, daß ihn Gott zum
Dienſte in ſeinem Hauſe beſtimmt habe, und ſo brachte
er aus der kurzen Bedrängniß nur freudigere Stärkung
heim. An den Uebelthäter ſchrieb er einen rührenden
Brief, ihm ſein heuchleriſches Weſen vorzuhalten, und
ihn deſto nachdrücklicher zur Bekehrung und Buße an—
zumahnen.
Nach Dresden zurückgekehrt, ſetzte er ſeine ge—
wohnten Arbeiten fort, die ſonntäglichen Verſammlun—
gen wurden immer zahlreicher beſucht. Im Sommer
1723 aber machte er eine Reiſe nach Schleſien, wohin
Watteville und Schafer ihn begleiteten. Bei dem Frei—
herrn von Hochberg, auf deſſen Herrſchaft viele Schwenk—
felder wohnten, wurden ſie durch das Elend, in welchem
dieſe armen, frommen, fleißigen und ſtillen Leute leb—
ten, tief gerührt. Ein ſchleſiſcher Edelmann, Kaspar
von Schwenkfeld, hatte zur Zeit der Lutheriſchen Re—
formation dieſe Sekte geſtiftet, welche ſich durch be—
ſondere Lehren, aber auch durch ruhigen Wandel aus—
zeichnete. Sie wurden jetzt hart verfolgt, damit ſie
den katholiſchen Glauben annähmen, allein ſie duldeten
ſtandhaft ohne zu wanken. Als Zinzendorf ſodann we⸗
gen einiger Familiengeſchäfte zu Kaiſer Karls des Sechſten
böͤhmiſcher Krönung an den Kaiſerlichen Hof nach Prag
BD 72 So
reiſte, und ſchon in Brandeis den Kaiſer zu fprechen
bekam, war er jener Verfolgten lebhaft eingedenk. Ihm
widerfuhr als einem vornehmen und dabei ſonderbaren
Manne vielfache Auszeichnung; der Kaiſer ſelbſt, die
Kaiſerin, und der Herzog von Blankenburg, Vater der
Kaiſerin, erwieſen ihm perſönlich das gnädigſte Wohl—
wollen. Er ſuchte dieſe Gunſt weniger für ſich ſelbſt,
als für die Schwenkfelder zu benutzen, und nahm ihret—
wegen mit dem Kaiſerlichen Miniſter Grafen von Sin—
zendorf ausdrücklich deßhalb Rückſprache. Und als die—
ſer ohne Hehl bekannte, in allen andern Sachen würde
er gern gefällig ſein, aber in der Religionsſache könne
er nichts zugeſtehn, die Schwenkfelder müßten auswan-
dern, ſo richtete Zinzendorf ein Schreiben zu ihren
Gunſten an den Kaiſer ſelbſt, dem er darin freimüthig
ſagte: „Ew. Kaiſerliche und katholiſche Majeſtät ſtatte
für die Gnade der Audienz den allerunterthänigſten
devoteſten Dank: und gleichwie es unbillig wäre, von
einem ſo großen Monarchen hinwegzugehen, ohne eine
Bitte gethan zu haben, ſo beſchämen Ew. Majeſtät
mein Angeſicht nicht, wenn ich um Barmherzigkeit für
die hart gepreßten Schwenkfelder in Schleſien demüthigſt
flehe. Ich will ihr Weſen nicht in Vertheidigung neh—
men: aber, allergnädigſter Herr, die Seelen der Men—
ſchen zu überzeugen, ſind die leiblichen Mittel allzu
unvermögend, ſie machen nur Heuchler: und es wird
Ew. Majeſtät doch um die wahre Bekehrung der Irren—
den zu thun ſein.“ Indeß blieb auch dieſer Schritt
op 73
ohne Wirkung. Für feine fonftigen Geſchäfte fand er
willfährige Unterſtützung; es war ſogar die Rede, ihm
die Würde eines Kaiſerlichen Kämmerers zu verleihen,
und ihm weitere Ausſichten am Hofe zu eröffnen, allein
er mußte beides als ſeinem Sinne nicht gemäß ableh—
nen. Von Dresden aus wirkte er hierauf mit neuem
Eifer für ſeinen höchſten Zweck. Er ſelbſt hatte ange—
fangen, kleine Erbauungsſchriften zu verfaſſen, welche
nach beiräthiger Zuziehung Rothe's im Druck erſchie—
nen. Jetzt wurde mit Hülfe der Frau von Gersdorf
in der Nähe eine eigne Buchdruckerei angelegt, um
dieſe und andre fromme Aufſätze, wie auch die Bibel
ſelbſt, für geringen Preis dem armen Volk in Menge
darzubieten. Dieſe Druckerei wurde jedoch, wegen
mancher Schwierigkeiten, aus der Lauſitz bald nach
Ebersdorf verſetzt, wo ſie mehrere Jahre wirkſam blieb.
Zu Erziehungsanſtalten für arme Kinder war nicht
minder mancherlei Anregung; ein Fräulein von Zetz—
witſch, mit der ſich Watteville nachher vermählte, zog
nach Bertholdsdorf, nahm arme Mädchen unter ihre
Aufſicht, und legte damit den Grund zu der nachheri—
gen Mädchenanſtalt in Herrnhut. Auch eine Schule
für junge Edelleute wurde beabſichtigt. Die Aehnlich—
keit dieſer Anſtalten mit den halliſchen war offenbar;
man machte den Gründern daraus den Vorwurf, ſie
ahmten die letzteren nach, und zum Schaden derſelben,
indem ihr ſegenreiches Gedeihen durch die neue, in
ihrem Erfolge doch noch zweifelhafte Mitbewerbung
e 5) 74
nothwendig Abbruch leide. Man wollte wiſſen, Francke
ſehe mißmüthig auf die Unternehmungen in der Lauſitz,
und Zinzendorf ſelbſt gab einigem Bedenken Raum.
Allein das gute Vernehmen beider in ächter Frömmig—
keit vereinten Freunde wurde nicht geſtört. Grade in
dieſe Zeit fiel ihr Briefwechſel über die in der pro—
teſtantiſchen Kirche zu bewirkende Union der Lutheraner
und Reformirten. Francke war der Sache entgegen,
Zinzendorf aber lebhaft dafür; doch ließ er ſich durch
erſteren dahin beſtimmen, daß er nicht ſowohl eine Ver—
einigung der verſchiedenen Glaubensbekenntniſſe, als
vielmehr eine Gemeinſchaft kirchlicher Verfaſſung und
Rechte wünſchte. Solchergeſtalt glaubte er, indem er
ſelbſt, wie er bei aller Gelegenheit laut und nachdrück—
lich wiederholte, dem Lutheriſchen Glaubensbekenntniſſe
durchaus getreu bleiben wollte, mit allen andern pro—
teſtantiſchen Gläubigen, ja in gewiſſem Sinne, ſofern
fie ſelbſt nur einwilligten, auch mit den katholiſchen, in
gemeinſamer Erbauung ſtehn zu können, da es zunächſt
und hauptſächlich nur auf die wahre Liebe zum Hei—
lande ankomme, die aus jedem der verſchiedenen Zweige
des Chriſtenthums vollkommen erblühen könne, daher
es auch nicht eben nöthig ſei, einen derſelben mit den
andern zu vertauſchen. Wegen dieſer Anſichten be—
ſchuldigte man ihn ſeitdem häufig des Indifferentis—
mus, welchen nachtheiligen Vorwurf er jedoch ſtark ab—
zuweiſen ſtets befliſſen blieb, ohne doch ſeine allgemeine
chriſtliche Liebesumfaſſung darum einzuſchränken. „Daß
39 75 So
in allerlei Volk, — ſagt er in einem ſpäteren Briefe,
— etliche Seelen durch Jeſum Chriſtum modo extra-
ordinario können und werden ſelig werden, iſt eine alte
evangeliſche Lehre. — Von der Verdammten und Teu—
fel Erlöſung und Seligkeit kann ich in der Bibel nichts
Deutliches finden, drum kann ich's auch nicht glauben.
Wenn man mich aber fragt, ob mir's lieb wäre, ſo be—
kenne ich von Herzen, daß ich wollte, daß alles, was
jemals geſchaffen iſt, durch das Blut und Tod Jeſu
Chriſti zu Gott wieder gebracht werden möchte. Und
wenn ich um mein Votum dabei gefragt würde, ſo gäbe
ich's affirmative.“ —
Die Anſiedler zu Herrnhut am aus Mähren
neuen Zuwachs, welchen die Mittel ſelbſt, die man da—
gegen anwandte, beförderten. Die zurückgebliebenen
Angehörigen der erſten Auswanderer wurden dort eine
Zeitlang gefangen geſetzt, und auch nachher noch man—
nigfach bedroht; ſie entzogen ſich weiteren Verfolgun—
gen durch heimliche Flucht mit Zurücklaſſung ihrer
Habe. Der Zimmermann Chriſtian David aber wagte
ſich neuerdings nach Mähren, um fernerhin auf den
Dörfern die Nachkommen der alten Bruder aufzuſuchen;
ſie fanden ſich in großer Anzahl, und durch die Reden
Chriſtian David's und zweier muthigen Männer, Da—
vids und Melchiors Nitſchmann, kräftig angeregt, kamen
fie oft zu Hunderten nachts an abgelegenen Orten zu-
ſammen um zu ſingen und zu beten. Beſonders ſtark
und allgemein war die Erweckung in den Ortſchaften
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—
Zauchtenthal und Kunewalde, wo jedes Geſchlecht und
Alter daran Theil hatte. Dieſe Bewegungen konnten
nicht lange verborgen bleiben, die Verſammelten wur—
den durch die Behörden überfallen, auseinandergetrie—
ben, manche derſelben ins Gefängniß geworfen, und
mit Leib- und Lebensſtrafen bedroht. Sie erfuhren
Druck und Quälereien jeder Art, durften ihren Glau—
ben nicht bekennen, und doch nicht auswandern, ſie ſoll—
ten mit Gewalt katholiſch ſein. In dieſer Noth be—
ſchloſſen fünf junge Männer aus Zauchtenthal, nach—
dem ſie vor Gericht eben mit neuem Gefängniß hart
bedroht worden, ihre Freiheit im Auslande zu ſichern.
Sie zogen bei Nacht in der Stille aus, fielen vor dem
Dorfe auf die Kniee, flehten für ſich und ihre zurück—
bleibenden Brüder den Schutz Gottes an, und wander—
ten muthig ihren Weg durch das wildeſte Gebirg, in—
dem ſie das Lied ſangen: „Selig der Tag, da ich muß
ſcheiden,“ welches hundert Jahre zuvor gleichfalls bei
ſolchem Auszuge war geſungen worden. Sie hatten
im Allgemeinen den Plan, Kinder Gottes aufzuſuchen,
und etwa in Polen oder Holland, wo fie Brüder aus
Böhmen und Mähren fänden, ſich niederzulaſſen; zuerſt
aber nahmen ſie ihren Weg nach der Lauſitz, um die
dortigen Brüder und beſonders Chriſtian David wie—
derzuſehn. Sie kamen nach Niederwieſe zu dem Ma—
giſter Schwedler, der ſie mit einem Empfehlungsſchrei—
ben an Zinzendorf nach Herrnhut entließ. Hier hatten
ſich bisher die Anſiedler kümmerlich beholfen, denn die
DT Be
Unterſtützung, die ihnen zufloß, war höchſt gering, fie
verdienten ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit, und
entbehrten dabei oft des Nothwendigſten. Aber die
Niederlaſſung gedieh dennoch, und man ſah ſich genö—
thigt, die Wohnungen zu vermehren; auch das Bedürf—
niß eines Verſammlungsſaales wurde dringend gefühlt.
Watteville, der ein Stübchen in dem zuerſterbauten
Hauſe bewohnte, und mit den armen Leuten den lieb—
reichſten Umgang pflog, hatte dieſem Bedürfniſſe viel—
fach nachgedacht, und war durch die unvermuthete An—
rede Chriſtian David's, der auf einen Platz hinzeigend,
mit freudiger Gewißheit der Erfüllung begeiſtert aus—
rief: „Da wollen wir ein großes Haus hinbauen, und
das ſoll zu Wohnungen der Auswanderer und zu Ver—
ſammlungen dienen,“ ſo ergriffen worden, daß durch
ſeinen Eifer, mit Zuthun der andern verbundenen Brü—
der und der Frau von Gersdorf, der Anbau ſchon als—
bald in Ausführung kommen konnte. Am 12. Mai 1724
ſollte eben die Grundſteinlegung des neuen Gebäudes
Statt finden, als jene fünf Brüder aus Mähren in
Herrnhut eintrafen. Zinzendorf empfing ihr Empfeh—
lungsſchreiben, und hieß ſie willkommen, doch war die
Aufnahme unter der Erwartung, welche ſie nach irgend
einem ſonderbaren Maße ſich willkürlich gemacht hatten,
ſie wurden ſogar an des Grafen Frömmigkeit beinah
irre, und dachten hier nicht zu bleiben. Indeß gingen
ſie mit auf den Bauplatz, wo die Feierlichkeit begann.
Hier empfingen ſie ſogleich ganz andere Eindrücke. Zin—
i 78 Be
zendorf hielt eine Rede voll Kraft und Feuer über den
Sinn und Zweck der neuen Anſtalt, und drückte zuletzt
den ſtarken Wunſch aus, Gott möchte dieſes Haus nicht
länger ſtehn laſſen, als es zum Preiſe des Heilandes
eine Wohnung der Liebe und des Friedens ſein würde.
Ein heiliges Entſetzen faßte bei dieſen Worten die Um—
ſtehenden, und als Watteville darauf den Grundſtein
weihte, und mit höchſter Geiſteskraft und Inbrunſt laut
betete, wurden alle von ſolcher Gnade überſtrömt, daß
Zinzendorf noch lange nachher dieſes Gebet als einen
Anfang des ſegenreichen Gedeihens pries, welches der
Brüderſache fernerhin zu Theil wurde. „Sie haben
viel verſprochen, — ſagte die Gräfin nachher zu Watte—
ville, — trifft die Hälfte zu, ſo iſt's weit über unſre
Erwartungen.“ Die aus Mähren angekommenen fünf
Brüder gedachten jetzt keines Weiterziehens mehr, ſon—
dern nahmen mit freudigſter Zuverſicht die ihnen ange—
botene Wohnſtätte dankbar an.
Die Ankunft dieſer fünf Männer zeigte ſich bald
für die Entwickelung der neuen Brüdergemeinde von
entſcheidender Wichtigkeit. Schon gleich im Anfange,
da dieſer Zufluchtsort ſich eröffnet hatte, war daſelbſt
eine große Verſchiedenheit der geiſtlichen Richtungen
kund geworden. Ueber den Lutheriſchen und reformir—
ten Gebrauch beim Abendmahl waren Irrungen ent—
ſtanden, welche der Paſtor Rothe und Zinzendorf nicht
beilegen konnten, ſondern nur Watteville's fanftes Zu
reden einigermaßen verſöhnte, ohne doch den Grund
os 79 Bo
davon zu heben. Heitz, der ein ſtrenger Reformirter
war, verließ den Dienſt des Grafen, und zog ſich zu—
rück; damit war ein Hauptwiderſacher entfernt, aber
deßhalb die Gemeinde noch nicht eine Lutheriſche. Aller—
lei fanatiſche und wunderliche Vorſtellungen gingen im
Schwange, das Verworrenſte und Widerſinnigſte hatte
die entſchiedenſten Anhänger. Manche dieſer zuſam—
mengebrachten Leute waren wegen Religionsunruhen
ſchon gefangen geweſen, zum Theil gefoltert worden,
und von daher gewöhnt, ihre Frömmigkeit nur unter
Streit und Unordnung fortzuſetzen. Dieſe armen Hand—
werker und Tagelöhner, durch ſektiriſchen Eifer beſeelt,
traten gegen ihren gelehrten Pfarrer und vornehmen
Gutsherrn ferner mit entſchloſſenem Widerſpruch auf,
und beharrten ſtandhaft auf ihren Meinungen. Die
erſten Anſiedler zu Herrnhut waren, wie Zinzendorf
ſagte, zwar mächtig gerührte, aber noch ungegründete
Leute, die größtentheils dunklen Vorſtellungen folgten,
und keine klaren aufnahmen. Zwiſchen dieſen früheren
und den neueſten Ankömmlingen zeigte ſich bald ein
mächtiger Unterſchied. Die fünf Männer aus Zauch—
tenthal waren ächte Nachkommen der alten Brüder in
Mähren, und hatten die Ueberlieferung von der Kir—
chenverfaſſung derſelben noch unverfälſcht bewahrt; die
Erzählungen der Väter und Großväter waren ihnen
friſch im Gedächtniß, ſo wie manche Stellen alter Brü—
derlieder, welche Gleiches andeuteten. Was ihnen die
Heimath verſagt und um deſſentwillen ſie die Fremde
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geſucht hatten, das wollten ſie nun auch wirklich auf—
richten. Das Gemiſch aber in Herrnhut ſtellte keine
Brüdergemeinde im alten Sinne dar, und ſchien dieſe
doch ſein zu wollen. Sie ſprachen demnach eifrig von
der Nothwendigkeit, die Zucht und Ordnung ihrer Väter
zu erneuen. Da niemand ihren Sinn recht verſtand,
ſo ergab ſich daraus mancherlei Verwirrung; Rothe
und Zinzendorf, damals der Verfaſſung und Rechte der
alten mähriſchen Kirche noch unkundig, ſuchten verge—
bens die Brüder zu beſchwichtigen, dieſe waren in ihrer
Sache durchaus beſtimmt und feſt, wußten genau was
ſie wollten, und ſtanden auf einem ſo guten Grunde,
daß ihnen nichts anzuhaben war, vielmehr wurden ſie
ſelbſt an der Meinung derer, die ihnen widerſprachen,
irre, und dachten mehrmals daran, ihres Weges weiter
zu ziehn. Zinzendorf empfand dieſe Streitigkeiten ſehr
ſchmerzlich, und wurde der mähriſchen Auswanderung
gram, ſuchte ſie auch ſeinerſeits zu hindern, ohne doch
darum den neuen Ankömmlingen Schutz und Aufnahme
zu verſagen. Denn ſein Mitleid überwog ſeinen Un—
muth, und trotz ſeiner doch zuweilen ausbrechenden
Jugendhitze übte er im Ganzen gegen alle die verſchie—
denartigen Leute, welche in Herrnhut zuſammen kamen,
ſolche Geduld, daß ihm ſogar Vorwürfe darüber ge—
macht wurden, beſonders wegen der fanatiſchen und
ſchwärmeriſchen Leute, von denen er ſo viele Noth hatte.
Ja er wurde wohl gar beſchuldigt, dieſen Wunderlich—
keiten beizutreten, und ſelbſt allerlei Neuerungen zu
sn 8
verſuchen, worüber ihm Francke, für den Fall, daß die
Sache ſich wirklich ſo verhielte, wie das Gerücht ſie
angebe, einen fo ernſten als herzlichen Abmahnungs—
brief ſchrieb. Zinzendorf ſelbſt ſagt von dieſem Unge—
mach: „Ich hätte wohl Gelegenheit finden können, mir
einen guten Theil dieſer beſchwerlichen Leute vom Halſe
zu ſchaffen. Allein dagegen ſtanden zwei Grundideen
des Heilandes feſt: die erſte, daß man zuweilen aus
Weisheit etwas toleriren müßte, wenn man gleich ver—
ſichert wäre, daß es einem der böſe Feind zugeſchleppt
habe: die andere, daß es im Garten des Herrn Bäume
gäbe, die man noch das Jahr ſtehen ließe, und übers
Jahr um ein Leichtes wieder auf's folgende hoffe;
wozu einem dann auch manche ſelige Erfahrung Muth
macht. Man arbeitet ja nicht für ſich; ſondern für ſei—
nen Herrn. Und wenn man Urſache hat zu hoffen, daß
man ihm den Geiſt ſelbſt endlich doch liefern werde,
zum Tage des Herrn, ſo ſind zwanzig Jahre nicht zu
lang, eines ſolchen Menſchen Inkartaden auszuweichen,
und auf eine Art einzulenken, daß man den Paß zu
ſeinen Herzen offen behält. Meine beſte Apologie in
dieſer Materie ſind die mancherlei Perſonen von dieſer
Art, die der Heiland bereits, als Triumphe ſeiner Lang—
muth, herumführet.“ Und weiterhin: „Mich reuet keine
Protektion, die ich Irrigen und Verfolgten zu geben
vermocht; wohl aber, daß ich mich, durch ungeſtüme
Oppoſition Anderer, bereden laſſen, etlichen Irrgeiſtern
dergleichen zu verſagen, mit denen ſich hernachmals ein
Biographiſche Denkmale. V. 6
sn 82 Bo
—
großer Theil der evangeliſchen Theologen verlegen ge—
nug gefunden, und mit denen hingegen ich, nach dem
Exempel Gottes, meines himmliſchen Vaters, recht gut
ausgekommen wäre, oder fie doch fo annehmlich oceu—
pirt hätte, daß, wenn auch allenfalls ſie nicht ſelig ge—
worden wären, doch gewiß niemand anders drunter ge—
litten hätte, als ſie ſelbſt.“ Er ſuchte nicht zu beſchä—
men, nicht zu erbittern, lauſchte vielmehr liebevoll jedem
kleinſten Zuge des Beſſern, und gedachte des Ueblen
nicht weiter, ſobald es gewichen war. Auf dieſe Art
allein, durch die Kraft ſeines Herzens und die wahr—
hafte Frömmigkeit deſſelben, hielt er wundervoll zu—
ſammen, was auseinanderzufallen ſonſt in ſich die wirk—
ſamſten Triebe übergenug hegte. Seine Sonntagser—
bauungen in Bertholdsdorf dauerten oft von 6 Uhr
Morgens bis Mitternacht: ſeine Hausdienerſchaft nahm
von freien Stücken daran Theil; die Leute aus Herrn—
hut brachten oft ihr Stück Brod in der Taſche mit,
um nicht wegen des Eſſens weggehn zu müſſen. Mit
äußerſtem Bemühen gelang es ihm auch, die Abweichen—
den wieder zur Kirche und Kommunion in Bertholds—
dorf zu vereinigen, und endlich am 12. Mai 1725,
nach dreitägigen, bis in die Nacht fortgeſetzten Unter—
redungen, eine Art Einverſtändniß über die Lehre, wor
auf das Heil der Seelen beruht, glücklich aufzuſtellen.
Seine Amtsgeſchäfte ließen ihm alle Freiheit; auch
wenn er vom Lande nach Dresden zurückkehrte, war es
oft nur, um weitere Aus flüge zu machen, die ſeinen
;
A
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frommen Zwecken und Neigungen entſprachen. So
reiſte er im Sommer 1724 mit ſeiner Gemahlin nach
Ebersdorf, und nahm den Weg über Halle, wo er ſeine
Freunde Anton und Francke und andre Gleichgeſinnte
ſprach. Seine Anſtalten in der Lauſitz, denen in Halle
bis dahin ganz ähnlich, fanden große Theilnahme, doch
bei Francke, welchem die Unbeſtimmtheit der kirchlichen
Richtung in dem Ganzen auffallen mochte, zugleich eini—
ges Bedenken; eine feſtere Haltung hätte die Sache
wohl empfangen können, wenn ſie der ſchon ausgebil—
deten halliſchen Leitung ſich angeſchloſſen hätte, doch
war jetzt eine Verbindung ſchwerlich anzuknüpfen, und
wurde auch von keiner Seite geſucht; die neue Stif—
tung mußte in den eigenthümlichen Bedingungen, guten
und ſchlimmen, welche Zinzendorfs Perſönlichkeit im
Begegnen ſo mannigfacher Umſtände lieferte, ihren ein—
mal angefangenen Weg nothgedrungen für ſich fort—
ſetzen. In Ebersdorf gebar die Gräfin einen Sohn,
welchen der Vater ſogleich in einem herzlichen und de—
müthigen Gebet dem Heilande zum Opfer bot, denn
er ſah jedes Leben nur als ein Darlehn an, deſſen Er—
ſtattung jederzeit freudig geſchehen müffe. Dieſe Ge—
ſinnung, welche dem eignen wie dem fremden Tode kei—
nen Schrecken und kaum eine Trauer übrig ließ, theil—
ten beide Gatten, und ſie bewährte ſich eben ſo, da
Zinzendorf ſelbſt in Ebersdorf lebensgefährlich krank
wurde, als da nach drei Monaten das Kind den Ael—
tern wirklich entriſſen wurde: beide waren vor dem
6 *
am. 84 Be
Herrn eins geworden, fie wollten dieſen ihren lieben
Sohn der Hand Gottes, die ihn geſchenkt, nicht aus
Noth, ſondern von Herzen, willig wieder zurückgeben,
und das Kind ſtarb, indem ſie knieend ſo beteten. Des
Grafen frommer Trieb fand übrigens in Dresden nicht
mindere Arbeit, als in Herrnhut; war ihm hier nach
innen im Geiſtlichen ſelbſt mancher Kampf geboten, ſo
hatte er dort nach außen gegen das Weltliche nicht
minderen zu beſtehn. Die Feinde und Spötter unge—
rechnet, ſo gab es auch wohlmeinender Freunde genug,
welche ſeinen Weg mißbilligten, und ihm ernſtlich ab—
riethen, denſelben ſo offenbar zu gehn; nicht nur für
ihn ſelbſt, für ſeine Stellung und Verhältniſſe, ſondern
auch für das Gute, welches bezweckt werden ſollte, fand
man ſeinen Eifer ungehörig. Er aber beſtand feſt auf
ſeinem Sinne: „Ich gehöre unter der Zahl derer, —
ſagte er, — die der Herr berufen hat von der Finſter—
niß zum Lichte. Darum muß ich von dem Lichte zeu—
gen. Ich heiße einer der Vornehmen dieſer Welt, ich
ſoll die Vorrechte davon genießen. Darum bin ich ver—
bunden, vor Andern, vom Lichte zu zeugen.“
Bei dieſer Denkart, die er jederzeit offen darlegte,
mußte er häufig gegen die ſtärkſten und allgemeinſten
Herkömmlichkeiten der Geſellſchaftswelt anſtoßen, und
ihr, wie ſie ihm, unerträglich werden; denn die vor—
nehme Welt verzeiht Verbrechen und Schandthaten lie—
ber, als den Abfall von dem Goͤtzendienſte, den fie ſich
ſelbſt in äußerlichen Dingen eingerichtet hat. Die Be—
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BD 85 Sade
friedigung, welche der Umgang mit ſeinen Standesge—
noſſen ihn immer ſeltner finden ließ, gewährte ihm da—
gegen der Verkehr mit armen und geringen Leuten deſto
reichlicher; er fand in dieſen äußerlich Niedrigen die
treuſten Kinder Gottes, und eine ſo geiſtige, fruchtbare
Geſelligkeit, daß auch in Benehmen und Sprachweiſe
ihn, den hochgebildeten Grafen, ein ſchlichter Hand—
werksmann zuweilen verbeſſern konnte; hier ſah Zin—
zendorf ſich wahrhaft unter ſeines Gleichen, und jene,
die ſich über ſolche Leute ſtellten, tief unter ihnen. Die
Verſammlungen, die er in ſeinem Hauſe hielt, wurden
vorzüglich von Perſonen geringen Standes beſucht, da
der Zutritt für jedermann ſo offen war, daß ſelbſt ein
Verhafteter, der für einen Menſchen ohne Religion ge—
halten wurde, ſich von ſeiner Wache dahin begleiten
ließ, bekennend, wenn ihn etwas in der Welt zu bekeh—
ren vermögend ſei, ſo glaube er, da könne es geſchehen.
Auch hatte der Graf nicht einmal gern, wenn vornehme
Perſonen, welche aus irgend einer Urſache den Er—
bauungen beiwohnen wollten, ſich ihm deßhalb beſon—
ders anmelden ließen, denn er wünſchte ſeiner Unbe—
fangenheit keinerlei Rückſicht auferlegt. Durch Schrif—
ten ſprach er ſich eben ſo unverhohlen aus, wie in ſei—
nen Reden; Abhandlungen und Fragbüchlein erſchienen
von ihm; Johann Arnd's vier Bücher vom wahren
Chriſtenthum ließ er ins Franzöſiſche überſetzen, und
widmete dies Werk dem Kardinal von Noailles, wel—
chem Watteville daſſelbe nach Paris überbrachte, wor—
86 A8
über jener zwar alle verbindliche Theilnahme bezeigte,
doch aber auch die Erinnerung nicht unterdrückte, daß
man ihn und ſein Verhältniß durch ſolche öffentliche
Zueignung eines proteſtantiſchen Buches etwas voreilig
bloßgeſtellt. Eine Wochenſchrift, der Dresdniſche So—
krates nachher der deutſche genannt, eine andre, der
Parther, gab er ohne ſeinen Namen heraus, der jedoch
bald errathen wurde. Durch dieſe letzteren Schriften
inſonderheit, welche viel Weltliches tadelten, vermehrte
er ſeine Feinde, und da man in einigen die Obrigkeit
und Geiſtlichkeit betreffenden Zügen beſtimmte Anſpie⸗
lungen ſehen wollte, ſo fehlte es nicht an böſer Nach—
rede und Verfolgung. Doch ſeinen Eifer, wo es auf
die Sache des Herrn ankam, hielt keine Scheu zurück;
jede Gelegenheit fand ihn ganz und rein. So ſtand
er nicht an, als man in Dresden einer verſtorbenen
frommen, ihm übrigens ganz unbekannt geweſenen Gich—
telianerin, aus Haß gegen dieſe Sekte, ein ehrliches
Begräbniß verweigern wollte, hierüber ſowohl an den
vorgeſetzten Miniſter als an den Oberhofprediger Löſcher
nachdrücklich zu ſchreiben; er höre, ſagte er dem letz—
tern, daß man die Perſon auf dem Anger begraben
wolle, weil ſie ſich von Kirche und Abendmahl geſon—
dert habe, und alſo im Bann ſei, und daß verboten
worden, einen Sarg für ſie zu machen; er billige der—
gleichen Abſonderung zwar nicht, halte ſie aber für eine
Schwachheit, die man an gutmeinenden Seelen tragen
müſſe, und verabſcheue das gedachte Vorhaben auf's
DB 87 Gs
äußerſte; er warnte, daß ein ſo liebloſer und ungött—
licher Eifer ein unausbleibliches Strafgericht Gottes
nach ſich ziehen würde, und forderte den Oberhofpre—
diger auf, wenn ein Funke der Liebe Jeſu in ihm ſei,
die Sache zu redreſſiren, er werde ſie ſonſt zu ſeiner
eignen machen, und höhere Vermittelung anrufen. „Ich
für meine Perſon, — fügte er hinzu, — würde mich
nach meinem Tode gern auf den Anger begraben laſſen,
ehe ich etwas wider mein Gewiſſen thun wollte; da—
durch werden ſolche unehrliche Orte zu Triumph- und
Ehrenplätzen.“ Er hatte die Genugthuung, 285 Ge⸗
wünſchte zu erlangen.
Eben ſo kühn und frei ſprach er, als der Magiſtrat
zu Görlitz den dortigen Erweckten ihre beſonderen Zu—
ſammenkünfte verbot, und dieſe Leute, die durch ihren
Prediger Schäfer mit Zinzendorf in genauer Verbin—
dung ſtanden, ihn um guten Rath angingen. Er ſchrieb
ihnen Verhaltungsregeln der Sanftmuth, der Unterwer—
fung, der Stille; in der Hauptſache jedoch beſtärkte er
ſie kräftig, ſie ſollten in ihrer Weiſe nur fortfahren:
„Die Verſammlungen der Heiligen, wo man ſich unter—
einander ermahnet, ſoll man nicht verlaſſen. Das iſt
Gottes Wort. Wenn einem alſo befohlen wird, ſie zu
verlaſſen, ſoll man es nicht thun. Die Obrigkeit bei
einer höheren deßwegen zu verklagen, finde ich nicht
für gut. Aber mit Demuth ihr vorzuſtellen das ſchwere
Gericht, und die Unmöglichkeit, das Werk Jeſu zu hin—
dern, halte ich für wohlgethan. Will es nicht helfen,
on 88 Bio
fo fähret man in feinem einfältigen Gehorſam gegen
Gott fort; läſſet ſich vorfordern; antwortet demüthig,
vernehmlich, gründlich; läſſet ſich ſtrafen und leidet ge—
duldig. Wird man verwieſen, ſo gehet man fort. Wird
man in's Gefängniß geworfen, ſo freuet man ſich.
Gehet es an's Leben, ſo giebt man's hin. Wird man
losgelaſſen, ſo fährt man fort. Die Leiden muß man
nicht abwenden, denn darunter wächſet das Reich Jeſu
gewaltig. Große und Geringe haben hier kein größer
Recht, Einer als die Andern. Es müſſen eben dieſel—
ben Leiden über Brüder in der Welt gehen. Dies ſind
meine Gedanken; und dazu bekenne ich mich gegen je—
derman, und wünſche den lieben Brüdern viele Kraft
und Liebe und Demuth.“ Auch dieſe Angelegenheit
kam ſpäter, da Schäfer auch ſelbſt deßhalb in Dresden
erſchien, durch Zinzendorf's Bemühn zu friedlicher Aus—
gleichung. Wegen der Schwenkfelder, denen man neuer—
dings durch Kontroversprediger hart zuſetzte, machte er
eine Reiſe nach Schleſien, von der man ihn vergebens,
durch die Vorſtellungen von Gefahr, die ihm dort
drohe, abzuhalten ſuchte; dieſe Gefahr jedoch war keine
eingebildete, denn ſchon war über die Aufnahme, welche
den Flüchtlingen aus den öſterreichiſchen Erblanden auf
feinen Gütern zu Theil wurde, ſtarkes Mißvergnü—
gen laut.
Eines Beſuchs, welchen der Prediger Schwedler
aus Niederwieſe um dieſe Zeit in Herrnhut machte,
wollen wir hier beſonders gedenken, theils weil dieſer
or 89 Be
merkwürdige Mann ſchon öfters genannt worden, theils
weil an ſeiner Erſcheinung ſich willkommen ein Bei—
ſpiel der tiefwirkenden Kraft und ſchwungvollen Aus—
übung ergiebt, mit welchen der Geiſt der Frömmigkeit
in den Erweckten damals Gemüth und Sinn durch—
drang. Schwedler war kein Pietiſt, ſondern ein eifriger
wittenbergiſcher Theolog, der aber ſein gewaltiges Feuer
bis zur lieblichſten Wärme ſänftigen konnte, und damit
auch ſolche Herzen ergriff, die jenem wohl widerſtan—
den hätten. Durch Frau von Gersdorf, mit der ihn
ſeit vielen Jahren ein frommes Herzensband verknüpfte,
war er mit Zinzendorf befreundet worden, wie auch,
ungeachtet ſonſtiger Wegesverſchiedenheit, mit den mäh—
riſchen Brüdern. Von ſeiner Macht im Predigen er—
zählt Zinzendorf ſelbſt folgendes Probeſtück: „Es wurde
einmal in der Kirche zu Wieſe vor der Kommunion ge—
ſungen: „Valet will ich dir geben, du arge falſche
Welt!“ Indem der ſelige Mann das erſte Wort an—
ſtimmen hörte von der darauf folgenden Zeile: „Dein
ſündlich böſes Leben durchaus mir nicht gefällt,“ ge—
rieth er in einen ſolchen Eliaseifer, daß ihm das An—
geſicht gleichſam flammete. Er rief, über die Orgel,
über fo viele tauſend Stimmen, mit einem Donner-
ſchall: „Um Gotteswillen! was ſingt ihr? was gefällt
euch nicht? Der Herr Jeſus gefällt euch nicht. Zu
dem müßt ihr ſagen: Du gefällſt mir nicht; ſo ſingt
ihr die Wahrheit. Ihr aber ſprecht: die Welt!“ Nach—
dem er ihnen nun dieſe Wahrheit auf eine ſolche durch—
a 90 So
greifende und eindringende Art demonſtrirt hatte, daß
ſie Alle, von ihrem Gewiſſen überzeugt, in Jammer
und Thränen da ſaßen, und die Wenigſten wußten, wie
ihnen geſchahe: Nun, ſagte er, wenn es ſo wäre, wem
der Welt, — der Welt ihr ſündlich böſes Leben zu—
wider worden, der ſollte es nur in Jeſu Namen be—
kennen. Da wurde dann endlich dieſer Vers mehr ge—
weint, als geſungen.“ Nicht ſelten geſchah es, daß er
den um 5 oder 6 Uhr frühmorgens begonnenen Gottes—
dienſt ohne Unterbrechung bis 2 oder 3 Uhr nachmit—
tags fortſetzte, und mit zuſtrömender Begeiſterung un—
aufhörlich redete, die kurzen Zwiſchenzeiten abgerechnet,
da er Lieder ſingen ließ, während welcher ſeine Zu—
hörer ſich aus den Tauſenden, die draußen des Ein—
gangs haͤrrten, immerfort erneuten. Auch diesmal in
Großhennersdorf hielt er eine herrliche Predigt, die
gegen ſechs Stunden dauerte, mit Kraft und Erfolg.
Inzwiſchen erhielt Herrnhut neuen Zuwachs durch
eine Anzahl verfolgter Schwenkfelder, die aus Schle—
ſien kamen, und unſern Grafen um Aufnahme baten.
Er machte ihnen bei Frau von Gersdorf ein Unter—
kommen aus, allein fürerſt wohnten ſie in Herrnhut.
Sie wußten wenig mehr von ihres Stifters Lehrmei—
nungen, beſuchten auch gern die Erbauungsſtunden in
Bertholdsdorf, und waren größtentheils redliche, fromme
Leute, hatten aber weder Taufe noch Abendmahl, und
hielten ſich im Ganzen abgeſondert. Ihre Erweckung
zum Heiland ſuchte Zinzendorf mehr zu betreiben, als
— —
e N en
ihre Vereinigung mit der Lutheriſchen Kirche. Sein
Eifer erſtreckte ſich nicht minder auf die umherwohnen—
den Wenden, deren Seelenheil er in Verbindung mit
ſeiner Großmutter, auf deren Koſten einige Theile der
Bibel in wendiſcher Sprache gedruckt wurden, möglichſt
förderte. Die treffliche Frau ſtarb 1726. Schon ſeit
zwölf Jahren hatte fie in ihren hohen Jahren und.
ſchwachen Geſundheitszuſtänden ſelten das Haus ver—
laſſen, als ſie aber ihr Ende herannahen fühlte, ließ ſie
ſich in's Freie tragen, um noch Herrnhut mit letztem
Segensblicke anzuſchauen. Daſelbſt aber kamen von
Zeit zu Zeit immer neue Aus wanderer aus Mähren an.
— —5 — — — ——— — —
Ein Religionseid, welchen man ihnen aufdringen wollte,
trieb ſie nur um ſo entſchiedener aus dem Vaterlande.
Sie hatten dabei nicht wenige Gefahren zu überſtehen,
man hielt ſie an, warf ſie in's Gefängniß, zog ihre
Habe ein. Beſonders ſcharf wurde gegen diejenigen
verfahren, welche man als Verführer der andern anſah.
Zinzendorf erkannte das Bedenkliche, welches für ihn
darin lag, bei der Karferlichen Staatsbehörde als der
Anreizer jener Leute zu gelten, und bemühte ſich, dem
allzuhäufigen Auswandern Einhalt zu thun. Er ſtellte
ſtrenge Prüfungen an, und nahm niemanden mehr auf,
als wer wirklich aus Gewiſſen, um des Seelenheils
willen, weggezogen war; man bemerkte, daß auch vor
allen dieſe, welche meiſtens ihre Habe ganz zurückge—
laſſen, der aufgeſtellten Wachſamkeit entgingen und
glücklich durchkamen, ſelbſt mit Kranken und Kindern,
während andre, welche Geld und Gut zu retten ſuch—
ten, oft verrathen oder angehalten wurden. Für die,
welche wahrhaft einem geiſtlichen Rufe folgten, änderte
Zinzendorf freilich nichts in ſeiner Bereitwilligkeit, ihnen
hielt er ſich zu jedem Opfer verpflichtet; aber wo ein
ſolcher Beruf entſchieden fehlte, da wies er die Leute
ab, und entließ ſie, nachdem ſie geraſtet, mit Geld und
Empfehlungen wieder in die Heimath. Auch unter
ſagte er ſtreng, von Herrnhut nach Mähren zurückzu—
gehen, in der Abſicht, dort neue Auswanderungen zu
veranlaſſen. Allein ſein Verbot konnte den aufgeregten
Eifer nicht hemmen; Chriſtian David ſetzte unter viel-
fachen Lebensgefahren ſeine Umherzüge in Mähren und
Böhmen wiederholt fort, und auch David Nitſchmann,
einer der fünf Brüder aus Zauchtenthal, war heimlich
um ſeinen Vater zu beſuchen nach Mähren zurückge—
gangen, aber daſelbſt ergriffen und nach Kremſir in's
Gefängniß gebracht worden. Um dieſen tüchtigen Mann
wo möglich loszubitten, und irgend eine Verſtändigung
wegen künftiger Ausgänge ſolcher Leute zu verſuchen,
wie auch um bei ſolcher Gelegenheit ſein eignes Ver—
hältniß rechtfertigend ins Klare zu ſetzen, unternahm
Zinzendorf im Auguſt 1726 eine Reiſe zu dem Kar⸗
dinal Grafen von Schrattenbach und zu deſſen Bruder,
einem Kaiſerlichen Geheimen Rathe, beide in Kremſir “
wohnhaft. Hier ging es fehr diplomatiſch zu; vor-
nehme Höflichkeiten umgaben breit eine kurze Erörte⸗
rung, in welcher man ſich unter klugen Verwahrungen
3 .
dahin verabredete, daß von beiden Seiten, ohne irgend
ein Nachgeben in der Hauptſache, mit Billigkeit ver—
fahren werden ſollte; die einzelnen Auswanderer ſoll—
ten ruhig abziehen dürfen; aber keine Anſtiftung dazu
unternommen werden. Von David Nitſchmann ver—
neinte man etwas zu wiſſen, doch hatte ein Begleiter
Zinzendorf's den Gefangenen erkundet, aber ſich begnü—
gen müſſen, ihm durch den Frohn von des Grafen An—
weſenheit und Bemühen Kunde zu geben, und ihm etwas
Geld zukommen zu laſſen. Unter allem vornehmen Ge—
pränge dieſer Auftritte hatte der Graf den Unglück—
lichen immer ſchwer im Sinne gehegt, und ohne Ex—
leichterung dieſer Bekümmerniß reiſte er auch wieder
ab. In Schleſien, in Ebersdorf, Leipzig, Halle, in der
Lauſitz, und auch in Dresden, auf allerlei Beſuchreiſen
| und bei gelegentlichen Anläſſen, hielt er häufig Er—
bauungsſtunden und eifrige Religionsgeſpräche, und in
derſelben Richtung breitete ſich ſein Briefwechſel aus.
In Halle beſuchte er auch den berühmten Chriſtian
Thomaſius, der die neuen Anftalten nicht ohne Zwei—
fel, doch als dieſe zu ſeinem Verwundern in manchem
Stücke beſeitigt wurden, mit freundlicher Wohlmeinung
betrachtete, und glückwünſchend äußerte, um ſolche
Bauern zu ſehen, die philoſophiren und glauben könn—
ten, wie von denen in Bertholdsdorf verſichert werde,
möchte er ſelbſt auf ſeine alten Tage noch eine Reiſe
thun. Beſondere Sorgfalt widmete der Graf auch
einem wohlfeilen Bibelabdrucke zu Ebersdorf, und gab
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eine Vorrede dazu, welche aber nebft den Hinzufügun-
gen Rothe's und anderer Gehülfen bald fehr gehäſſig
getadelt, ſo wie das ganze Unternehmen als eine zw
verdrehung bezeichnet wurde.
Während jedoch ſolcherlei Thätigkeit ſi 1 in weitem
Umkreis ausbreitete, drohte dem Mittelpunkte ſelbſt eine
ſchlimme Gefahr. Ein Rechtsgelehrter im Voigtlande,
der ſeine abweichende Meinung vom Abendmahl, wel—
ches er zuletzt ganz verwarf, gegen die dortige Geiſt—
lichkeit nicht durchfechten konnte, gab lieber ſeine Stelle
als Rath auf, und kam nach Bertholdsdorf und Herrn—
hut, wo er von Seiten des Grafen zwar keine Bei—
ſtimmung hoffen konnte, aber doch eine Freiſtätte fand.
Sein von kräftigem Eigenſinn und ſachwalteriſcher Gei—
ſtesgewandheit unterſtütztes Heiligthum gewann bald
ein ungemeines Anſehn, er wollte die alte mähriſche
Kirche in den neuen Einrichtungen verdorben finden;
ſeine Sätze verwirrten alles, was Zinzendorf und Rothe
aufgerichtet; es entſtand immer mehr Abſonderung, und
die Gemeinde löſte ſich in widerſpenſtige Glieder auf.
Vergebens ſtritt Rothe mit Strenge, begegnete Zinzen-
dorf, der aus Mähren eben zurückkam, mit liebevoller
Duldung dieſem Unweſen, der Stifter deſſelben trat
als offner Feind auf, er übte und begehrte keine Scho—
nung, vielmehr ſchien er harte Schritte des Grafen zu |
wünſchen, um über Verfolgung klagen zu können. Sein
Treiben artete in völligen Wahnſinn aus, in welchem
er endlich Herrnhut verließ, und nach einiger Zeit ſtarb.
sn Be
Allein die Wirkung feines unruhigen Geiſtes erloſch
damit keineswegs. Die mähriſchen Brüder, mit we—
nigen Ausnahmen, trennten ſich öffentlich von der Kirche
und dem Abendmahl zu Bertholdsdorf. Sie ſtießen
zum Theil die böſeſten Reden gegen Zinzendorf aus,
nannten ihn das Thier, welches dem falſchen Propheten,
dem Pfarrer Rothe, die Macht gegeben, ſie auf einen
verkehrten Weg zu bringen, und auch die Gemäßigteren
beklagten ihre vermeinte Mißleitung. Die Sache wurde
ruchbar, und machte überall ſchlimmen Eindruck. Herrn—
hut war, wie man ſagte, ein Sektenneſt geworden, und
Zinzendorf, obwohl im Vertrauen nicht wankend, wußte
keinen Rath in dieſer Noth; ihm fehlte die wiſſen—
ſchaftliche Erkenntniß, ſowohl die dogmatiſche als die
hiſtoriſche, welche allein in dieſer Verwirrung ſicher füh—
ren konnte, er mußte fühlen, daß er ſich in Dinge ein—
gelaſſen, zu denen mehr gehörte, als guter Wille; und
doch ſollte dieſer in ſeiner Steigerung auch dieſes Mehr
zuletzt leiſten! In derſelben Zeit, da ihn dieſer Zu—
ſtand bekümmerte, widerfuhr ihm in Dresden manches
Widerwärtige; durch ſeinen Sokrates hatte er manche
Perſonen ohne es zu wollen verletzt, ſeine Hausver—
ſammlungen wurden durch Beſucher geſtört, welche nur
Aergerniß zur Abſicht hatten, am Hof und in der Geiſt—
lichkeit zeigte ſich böswillige Verſtimmung gegen ihn,
und bei den nachtheiligen Urtheilen, die man über die
Vorgänge in Herrnhut fällte und auch über ihn ſelbſt,
den viele Fromme noch unbekehrt und durch keinen
er 96 a
Bußkampf geläutert finden wollten, mußte er befürch—
ten, daß man gegen ſeine dortigen Anſtalten den Grimm
wenden würde, den gegen ihn ſelbſt auszulaſſen man
aus allerlei Rückſichten noch Bedenken trug. Ihm wurde
daher aus zwiefachen Gründen rathſam, Dresden zu
verlaſſen und nach Herrnhut zu ziehen, ſowohl um den
dort ſteigenden Mißverhältniſſen zu entgehen, als um
hier der eingeriſſenen Unordnung zu ſteuern. Sein
Amt bei der Regierung war ihm von jeher nur ein
Joch, das er zwar geduldig trug, aber nicht liebte;
nach empfangener Einwilligung feiner Mutter entſchloß
er ſich ſogleich daſſelbe aufzugeben. Auf Anrathen ſei—
ner Freunde, und weil noch einige Geſchäfte, die jedoch
nur ſelten ſeine Anweſenheit in Dresden erforderten,
ihm zur Erledigung anvertraut waren, begnügte er ſich,
anftatt der völligen Entlaſſung, vor der Hand nur un-
beſtimmten Urlaub nachzuſuchen, der ihm auch gern be—
willigt wurde. Ueber ſeine Beweggründe bei dieſem
Schritt und über ſeine nachfolgende Stellung in Herrn—
hut, giebt er ſelbſt dieſe gehaltvolle Auskunft: „Ich
ging aus keiner andern Urſache vom Hofe und aus dem
Amte, das ich hatte, als darum, weil ich meine inzwi—
ſchen angelangten Gäſte aus Mähren und andern Or—
ten, die mir als Kryptokalviniſten und Separatiſten be—
ſchrieben wurden, von dem Irrthum ihres Weges be—
kehren wollte, und wenn ich an einigem Orte gewiß zu
ſein dachte, daß ich meinen Satz zu behaupten und in
keinem Tüttel nachzugeben hätte, ſo war es da; es
DM a
war aber weit gefehlt. Meine Freunde waren im An-
fang hitziger als ich, denn ſie kamen aus der Verfol—
gung, und ich kam vom Hofe. Das gab mir einen
geringen Vortheil über ſie, nachdem ſie mir aber den—
ſelben abgelernt, und in einer kurzen Zeit mit mehrerem
Effekt denken und reden gelernt, ſo kam die Reihe an
mich, wieder was Neues zu lernen. Ich mußte mich
über manches in Traktaten einlaſſen, darüber ich wie
über Leimen hinzugehen gedacht hatte, und ich lernte in
einem halben Jahre mehr Kirchenhiſtorie, und bekam
mehr Data zu einer ſoliden Kritik über die Häreſiolo—
gie, als ich mir in Arnolds Kirchen- und Ketzerhiſtoria,
ja ſelbſt in Bayle, nicht würde geſammlet haben. Nie
hat mich die über mir waltende Vorſehung vor einer
nähern Gefahr bewahret, als bei derſelben Gelegen—
heit; und wenn ich ſehe, was aus einer kleinen Doſis
von Unpartheilichkeit für ein bewährtes Speeifikum wor-
den, ſo bete ich an. Das menſchliche Gemüth hat die
Art nicht, von einem Extreme auf die Mittelſtraße zu
kommen; es nimmt ſeinen Weg gemeiniglich über das
andre Extrem: und ſo bin ich einige Jahre lang bei
der ſorgfältigen Prüfung derer mancherlei Wege, Mei-
nungen und Verfaſſungen der Chriſtenmenſchen, die ent—
weder mich aufgeſucht, oder zu denen mich mein Beruf
direkt oder indirekt geleitet hat, nicht nur Schritt vor
Schritt gegangen, ſondern ich habe keine einige davon
ganz oder halb verworfen, die ich nicht vorher eine
Zeitlang ganz oder halb bewundert. Wie mirs dies—
Biographiſche Denkmale. V. @
om 98 Bo
falls in Anſehung der Sachen gegangen, fo und noch
viel eingreifender iſt mir die Rückſicht der Perſonen
geweſen. Nicht ſelten habe ich einen Menſchen, den
meine Mitbrüder bei dem erſten Abord für verwirrt
gehalten, ſtundenweiſe mit Reſpekt angehört, und mich
kaum bereden können, nichts anders hieraus zu profi—
tiren, als was ich einige Minuten darauf ſelbſt gefun—
den. Die Natur der Sache, die oftmalige Erfahrung
und das Zunehmen meiner Geſchäfte hat mich endlich
auch in dieſem Theil kondescendenter gegen meine Brü=
der gemacht, daß ich ihrem Zeugniß von ſolchen Per—
ſonen, mit denen ich mir viel Zeit verdorben hatte,
a priori mehr Glauben gegeben.“
In Herrnhut fand er die Sachen nur um fo ſchwie—
riger, als er auch mit dem Paſtor Rothe über die geiſt—
liche Leitung der Irrenden nicht einverſtanden war. Sein
erſtes Geſchäft wurde daher, ſich mit dieſem würdigen
Manne, den er ſonſt achtete und ehrte, ſo zu ſetzen,
daß jeder, das gleiche Gute bezweckend, nach eignem
Sinn ungehindert thätig fein könnte. Sie trafen ein
brüderliches Uebereinkommen, die Rechte des Kirchen—
patrons und des Pfarramts jedem nach ſeiner Stellung
unbeſchränkt über das Ganze vorzubehalten, aber die
eigentliche Seelſorge unter ſich ſo zu theilen, daß Rothe
in Bertholdsdorf, der Graf ſelbſt aber, als unordinir—
ter Katechet Rothe's in Herrnhut nach eigner Art fer-
nen Weg ginge. Den Gemeindegliedern wurde dieſes
Abkommen nebſt den Gründen dazu aufrichtig bekannt
l 9 CN
gemacht, und niemand war dawider. Um durch nichts
Fremdartiges geſtört zu werden, übergab Zinzendorf
ſeine ökonomiſchen Angelegenheiten nun völlig ſeiner
Gattin und ſeinem Freunde Friedrich von Watteville,
die ihn gleichwohl auch in der Seelenpflege noch treu—
lich unterſtützten, und begann mit innigem Eifer getroſt
feine geiſtlichen Arbeiten. Seine Perſönlichkeit wirkte
ungemein; mit feurigem Zuſpruch, mit heißen Thränen
und liebevoller Belehrung, die er bald öffentlich bald
vertraulich ſpendete, brachte er es dahin, daß die Ab—
ſonderung vom Gottesdienſt und Abendmahl der evan—
geliſchen Kirche wieder aufhörte. In dem Raume der
wiedergewonnenen Ausübung konnte die eigentliche Lehre
der Brüder, in welcher allerdings noch die gründliche
Feſtigkeit mangelte, und der Graf ſelbſt nicht ſowohl
ein Wiſſender, als ein begeiſterter Anſtreber war, ſich
allmählich zurechtſtellen; er vermied in dieſem Betreff
allzubeſtimmte Einzelheiten, und ſuchte, auch wenn er
oft kühne und bedenkliche Bilder und Ausdrücke wagte,
immer wieder in die gemeinſame Mitte chriſtlicher Vor—
ſtellungen einzulenken, in welcher alle beſonderen Glau—
beusformen ſich vereinigen könnten. Allein die Mähren,
auf welche Zinzendorf am meiſten Rückſicht nahm, be⸗
wieſen ſich, wenn nicht von dieſer, doch von einer an—
dern Seite ſchwierig, und verlangten ſchlechterdings die
althergebrachte geſellſchaftliche Verfaſſung ihrer Kirche,
wollten auf keinen Theil derſelben verzichten, und er—
klärten rund heraus, daß ſie lieber aufbrechen und eine
7 *
3 100 B-
andre Zuflucht ſuchen würden. Hiedurch gedrängt, und
nachdem er dem Grund und Sinne der Sache genauer
nachgeforſcht und dieſelbe durchaus evangeliſch und heil—
ſam gefunden, auch ſie mit gewichtigen Theologen über—
legt und deren Billigung vernommen hatte, beſchloß er,
dieſe theuererkauften Seelen, nachdem ſie einmal in
ſeine Aufſicht gekommen, dem Heilande unter jeder
Form zu bewahren, und ging an's Werk, den Brüdern,
als einer freien chriſtlichen Sozietät, die nach den
Rechten der evangeliſchen Kirche ihre beſondern Einrich—
tungen haben und behalten durfte, ein Herſteller a
Ordner ihrer alten Satzungen zu werden.
Sein von Liebe und Geduld geführter Eifer, der
jeden Einfluß obrigkeitlicher Gewalt und ſonſt welt-
licher Ueberlegenheit in ſolchen Dingen abwies, bewirkte
durch bloß freundliche Beſprechungen, daß am 12. Mai
1727 auf den alten Grundlagen neue Gemeindeordnun-
gen verfaßt, und als Statuten von ſämmtlichen Brü—
dern und Schweſtern, durch freiwillige Zuſtimmung, ge—
nehmigt und unterſchrieben wurden; dies geſchah unter
freudigem Gebet und wirkſamer Heiligung, welche von
dieſem Tage an ſegenreich über Herrnhut in beſondern
Erregungen fortwaltete. Sogleich wurde zur Wahl
der Gemeindebeamten geſchritten, zwölf Aelteſte, nicht
nach dem wirklichen Alter ſo heißend, ſondern nach dem
Anſehn und Vertrauen, das ſie begleitete, wurden zu
Wachtern der Verfaſſung erwählt, Zinzendorf zum wich—
tigen Amt des allgemeinen Vorſtehers und Friedrich
2» 101.883
von Watteville zu feinem Gehülfen ernannt. Die Lei—
tung der Angelegenheiten noch bündiger zuſammenzu—
halten, ohne ſie doch zu ſehr einzuziehen, kamen die
Aelteſten mit dem Grafen überein, aus ihrer Mitte
durch das Loos vier Brüder zu beſtimmen, welchen mit
dem Vorſteher alles Gemeinbeſte wahrzunehmen zu—
nächſt obläge. Die Berathungen dieſer Behörde er—
hielten den Namen der Aelteſten-Konferenzen, und wur—
den die Stätte der wirkſamſten Thätigkeit. Wo der
ſchlichte Sinn der Frömmigkeit und das Maß der vor—
handenen Einſichten keine ſichre Entſcheidung gab, da
wurde das Loos angewandt, deſſen Ausſpruch dann als
der des Heilandes ſelbſt gelten mußte. Dieſe Zuzie—
hung des Looſes, welche bei der Brüdergemeinde in
ſehr ausgedehnten Gebrauch kam, hat vielen Tadel ge—
funden; allein bei genauer Betrachtung muß man be—
kennen, daß dem dunklen Gebiet, welches einen Theil
des Zuſammenhangs menſchlicher Dinge unerforſchlich
verhullt, und mit welchem zuletzt jeder auf eine andre
Weiſe ſich abzufinden ſucht, durch das gewählte Mittel
und deſſen beſcheidene, wirklich nur zur ergänzenden
Aushülfe, und meiſtens gern auf bloßes Verneinen und
Unterlaſſen geſtellte Anwendung, ſein Recht auf eine
Art geſchah, welche der Frömmigkeit noch am wenigſten
Eintrag that, und auch dem nachgehenden Verſtande
durch den praktiſchen Erfolg ſich als wunderbar er—
ſprießlich bewährte. Für die Glaubenslehre und den
öffentlichen Gottesdienſt war durch die beſtehende Kirche
&
39 102 S2
hinreichend geſorgt, für den Unterricht der Jugend durch
die mit jener verbundenen Schulen; die adeliche Schule
wurde aufgeboben, und an deren Statt eine allgemeine
Knabenanſtalt, fo wie auch, unter weiblicher Aufſicht,
eine allgemeine Madchenanſtalt eingerichtet. Für den
inneren Gang der Gemeine und die beſondere Seelen⸗
pflege wurden aber noch andre eindringliche 2
rungsmittel vielfach angeordnet.
Alles war in Herrnhut und Bertholdsdorf voll
Eifer und brünſtiger Bewegung; der Geiſt des reli-
giöſen Schaffens war über die Leute gekommen, und
raſch entwickelten ſich aus dem gemeinſam erwärmten
Betriebe die Formen und Richtungen, welche dem neuen
Verein die Grundlage ſeiner fortdauernden Eigenthüm⸗
lichkeit werden ſollten. Zinzendorf's feuriger Sinn gab
zu dem meiſten die erſte, die ſtärkſte Anregung. An
einem Tage, da Rothe; Schwedler und Andre in Herrn⸗
hut und Bertholdsdorf an verſchiedenen Orten vor ei⸗
ner großen Volksmenge zugleich vredigten, entſtand
durch die an dieſem Tage vorgeſchriebene Betrachtung
des Beſuchs der Maria bei der Eliſabeth die Vor⸗
ſtellung ſolcher Beſuche der Kinder Gottes, und es
wurden die ſogenannten Banden oder Geſellſchaften
geſtiftet, zu welchen je zwei, drei oder mehrere fromme
Seelen, unter denen Jeſus iſt, nach Neigung und An⸗
gemeſſenheit der Umſtände, ſich frei vereinigen, über
ihren ganzen Herzens zuſtand kindlich mit einander fi
beſprechen und nichts vor einander verbergen. Zinzen⸗
sm 103 Bo
dorf hatte alsbald die ganze Gemeinde, mit ſtrenger
Scheidung der beiden Geſchlechter, in ſolche Banden
| eingetheilt, und ſah dieſe noch ſpät für einen Hauptbe=
trieb des Fortgangs der herrnhutiſchen Dinge an. Die
Banden wechſelten ihre Glieder nach Erforderniß, oft
ungern den Führern hierin folgend, aber mit dem
großen Nutzen, daß die Gemeinde dadurch in die viel—
fachſte innere Bekanntſchaft mit ſich ſelbſt gerieth. Eine
| der wichtigſten Einrichtungen aber waren die Chöre, in
welche die ganze Gemeinde nach Geſchlecht und Alter
abgetheilt wurde. Jeder Chor bekam ſeine Arbeiter
und Gehülfen, feine eignen Erbauungen, Lieder, Feſt—
tage. Inſonderheit erhielten die Schweſterchöre in der
Folge die größte Ausbildung. Einfache Kleidung war
allen gemein, aller Modeputz wurde verbannt, mit ihm
ſogar Sonnenſchirme und Fächer; ein geringer Hut,
gewöhnlicher aber eine ſchlichte Haube von weißer Lein-
wand ohne Spitzen, mit einer Schleife von ſeidnem
Bande zugebunden, diente zur Kopfbedeckung. Die
Farbe der Bandſchleife ſollte die Chorangehörigen auch
für den äußern Anblick unterſcheiden; die Wittwen er—
hielten weißes, die verehlichten Frauen blaues, die
Jungfrauen roſenrothes, die kleinen Mädchen dunkel—
rothes Band. Für die Brüder fanden keine ſolche Ab—
zeichen Statt, doch gingen auch ſie alle ſehr einfach,
gewöhnlich braun oder grau gekleidet. Eine Trauer—
tracht gab es für beide Geſchlechter nicht, da der Tod,
oder das aus der Zeit gehen, wie man in Herrnhut
7
*
e 104 Bo
das Sterben lieber nennen wollte, für die Frommen
nicht als ein Anlaß zum Leid angeſehen wurde. Andre
Vereine bildeten ſich, die in Gebet und frommen Uebun⸗
gen die Nächte durchwachten, oder auch die ſchon frü-
her gewöhnlichen Nachtwachen der Reihe nach beſorg⸗
ten. Hieran ſchloß ſich eine andre Einrichtung, das
Stundengebet, da vierundzwanzig Brüder und Schwe-
ſtern ſich verbanden, von einer Mitternacht zur andern
in unaufhörlichem Gebet zu verharren, indem jeder die—
ſer Stundenbeter eine der vierundzwanzig Stunden auf
ſich nahm und in ſeiner Einſamkeit dem Gebet oblag,
ſo daß Tag und Nacht, dem bibliſchen Ausdrucke nach,
kein Schweigen vor dem Herrn ſein durfte. Die ur—
ſprünglichen Theilnehmer verdoppelten und verdreifach—
ten ſich ſpater, jedoch blieb jeder für ſich, und nur die
gleiche Stunde machte die Gemeinſchaft. Sonſtige
Bet- und Erbauungsſtunden wurden reichlich angeord—
net; auch beſondere Singeſtunden, für welche der Se-
kretair Tobias Friedrich ein trefflicher Lehrer wurde.
Zinzendorf war von allem dieſen die Seele; ſeine län—
gern und kürzern Anreden, die ſein Eifer auch bei kirch—
lichen Handlungen Rothe's, bei Kindtaufen, Trauungen
und Begräbniſſen, ſelten unterließ, ſtrömten aus erreg—
ter Bruſt; der geiſtlichen Lieder war er ſo lebendig er—
füllt, daß er, nach vorhandenem Anlaß, die entfprechen-
den Verſe aus vielen verſchiedenen Liedern zu neuem
Zuſammenhang, weglaſſend und hinzudichtend, zu einer
Art von Liederpredigt anreihte; ebenſo begabt war er
5
— — — l— —
5 105 82
als Vorleſer, er mochte ein Kapitel aus der Bibel oder
Briefe und andre Aufſätze vortragen, immer war es
mit beſonderer Kraft, karaktervoller Deutlichkeit und
lieblichem Eindruck. Um aus ſolchen gemeinſamen Be—
ſchaͤftigungen nicht um leiblicher Nahrung willen in zu
weite Entfernung ſich zerſtreuen zu müſſen, genoß man
an Ort und Stelle das kärglich Mitgebrachte, oder das
aus der gräflichen Küche zur Nothdurft Dargebotene,
woraus nach dem Vorbilde der erſten chriſtlichen Kirche
bald Liebesmahle oder Agapen entſtanden, welche die
Gemeinde bald vereint, bald in mehrere Abtheilungen
geſondert, feierte.
Alle dieſe Anſtalten, die neben dem öffentlichen
Gottesdienſte zur Erbauung und Förderung der Seelen
wirkten, hießen im Allgemeinen ſchlechtweg Gelegen—
heiten, denn auch eine eigne Sprachweiſe begann in der
neuen Gemeinde ſchon ſich auszubilden. Für die Lei—
tung des äußeren Lebenswandels wurde nicht minder
geſorgt. Wiewohl Zinzendorf als Gutsherr obrigkeit-
liche Gewalt hatte, und überdies die Leute großentheils
von ihm ihren Unterhalt bezogen, ſo wollte er doch bei—
des nur im äußerſten Falle roher Vergehn gelten laſſen,
und die nöthige Aufſicht und Ordnung, deren Mangel
auch erweckten Leuten, nach feiner Meinung, nur Scha-
den bringen würde, durch eine zweckmäßige Gemeinde—
zucht bewirken. Einige Brüder wurden zu einem Frie—
densgericht verordnet, dem die Schlichtung aller Irrun-
gen und Zwiſtigkeiten, die ſich einem ernſtlichen Rechts
— 106 ey Se
gang entziehen ließen, aufgetragen war. Andre erhiel-
ten die Aufſicht über die Gewerbſachen, und trugen
Sorge, daß jeder ſowohl die nöthige Arbeit erhielte,
als auch gute um billigen Preis lieferte. Für die
Armen wurden Almoſenpfleger, für die Kranken Kran-
kenpfleger beſtellt. Beſondre Gehülfen in der Lehre
übten, wo es noth that, den Beruf begabten Zuſpruchs.
Vor allen wichtig war das Amt der Aufſeher, welche
auf alles noch ſo Geringfügige, woraus Schaden ent—
ſtehen konnte, Acht hatten, und das bemerkte Rügens—
werthe wieder eigends beſtellten Ermahnern mittheilten,
oder auch ihren Antrag, nach Umſtänden, ſogleich an
die Aelteſten oder gar an die Obrigkeit richteten. Zu
dieſen bedenklichen Aemtern nur verſtändige, wohlge—
prüfte, freundliche Perſonen zu ernennen, war Zinzen—
dorf's angelegentliche Sorge, denn er fühlte wohl, daß
dergleichen Anſtalten ohne den rechten Geiſt und die
wahre Liebe das gehäſſigſte Joch und ganz das Ge—
gentheil ihrer Beſtimmung ſein würden. Aber hierin
zeigte ſich grade ſein ächter frommer Sinn und ſeine
praktiſche Menſchenkunde, daß jeder Abweg vermieden,
und jedes noch ſo gefahrvolle oder ſonderbare Betrei—
ben unaufhörlich zu dem ſchönen Ziele wahrhaft chriſt—
licher Vervollkommnung gelenkt wurde. Um die Rein-
heit der Sitten zu erhalten, ſah er ſorgfältig auf Ab—
ſonderung der Geſchlechter. Die Schweſtern wurden
in den verſchiedenen Arbeiten von Schweſtern beauf—
ſichtet, und dieſe von den Gemeindeälteſten, mittelſt be⸗
|
N
39 107 2
ſonders geprüfter und von der ganzen Gemeinde als
tüchtig anerkannter Brüder, geleitet. Zinzendorf ſelbſt
war hiemit beauftragt worden, ſowohl ſeines reinen
Eifers und ſeiner wirkſamen Gaben wegen, als auch
um feines Standes willen, der eine zu große Annähe—
rung ſchon durch die äußere Ehrerbietung, die doch nicht
ganz außer Acht bleiben konnte, verbot. In geiſtlichen
Dingen ließ er große Freiheit walten, und glaubte ge—
gen Meinungen, die nicht den Grund ſeiner Sache be—
trafen, auch nicht ſtreng ſein zu dürfen. Allen Ernſt
aber wandte er an, ſobald eine Störung dieſes Grun—
des zu befürchten ſchien.
Mit beſonderer Liebe nahm Zinzendorf ſich auch
der Kinder an, unter welchen durch ſein eindringliches
Reden bald eine allgemeine Erweckung entſtand. Die
Kleinen fühlten, gleich den Erwachſenen, tiefe Reue
und Schmerz über ihr ſündiges Weſen, und ſeufzten
und ſchrieen zum Heiland um Erbarmung. Sie gin—
gen öfters in dieſer Stimmung, um allein zu ſein, nach
dem Hutberg, fielen dort auf die Kniee, weinten um
Gnade, und beteten zum Heilande. Der Graf ſtand
dann wohl von fern beobachtend, bis alles vorüber war,
und begleitete zuweilen die Rückkehrenden, mit ihnen
ſingend, nach Haufe. In den ſogenannten Kinderftun-
den und Kindergeſellſchaften wurde der Heiland als ein
Kind vorgeſtellt, ſeine Kindſchaft geprieſen und beſun—
gen, und ſein ſpielender Umgang und ſeine vertrauliche
Liebe innigſt erfleht. So wurden die Kinder frühzeitig
—. 88 108 Do
—
in das myͤthiſche Gebiet der Religion eingeleitet, und
ihre Einbildungskraft mit religiöſen Vorſtellungen er—
füllt. Aus ſeiner eignen Kindheit brachte der Graf
dergleichen reichlich mit, und ſeine Vorliebe für tän—
delnde Spielereien ging auf ſeine Genoſſen und Nach—
folger über. Es wird erzählt, in dieſer Erweckungszeit
habe ein ſo gewaltiger Geiſt unter den Kindern ge—
weht, daß es an Worten, ihn auszudrücken, fehle;
„Eines Tages, — ſo ſteht berichtet, — kam ein kleines
Kind von drei Jahren zum Grafen in die Stube, fiel
auf die Kniee nieder und betete: Ach, mein Jeſu!
nimm doch hin, was mir drücket Geiſt und Sinn, daß
ich dich zu jeder Friſt ſehe, wie du ſelber biſt; nebſt
vielen dahin gehörigen, herzbrechenden Worten, zu großer
Erbauung des Grafen.“ Die große Gefahr, ſolche Vor—
gänge auch nur zuzulaſſen, geſchweige denn ſie zu wecken
und zu hegen, leuchtet jedem ein, der näher beobachtet
hat, wie Nachahmungstrieb in den Kindern jeden Schein
ergreift, und dieſen, oft ohne die geringſte Spur der
Sache ſelbſt, täuſchend verarbeitet. Hier aber iſt wie—
der die ächte Frömmigkeit in Zinzendorf anzupreiſen,
deren Fülle auch die Leiſtungen der Verſtandesklugheit
erſetzte, und jedem eröffneten Treiben wirklichen Ge—
halt gab, oder wenn dieſer auszugehn drohte, auch ſchon
wieder in andre Richtungen übergegangen war. Die
gewagteſten Wege, die bedenklichſten Geſtaltungen, wel—
chen ſein und der Seinigen oft ſchwärmeriſcher Eifer
ſich wohl überließ, haben in dem innerſten Kern ſeines
3 109 222
Weſens ftets einen Gegenhalt gehabt, welcher trüge-
riſchen Mißbräuchen, ärgerlichen Enttäuſchungen und
Beſchämungen meiſt glücklich trotz bot. Wenn auch der
Hang zum Kindlichen oft nur Kindiſches hervorzubrin—
gen ſchien, ſo war doch der Sinn, welchen Zinzendorf
im Ganzen befolgte, ernſt und angemeſſen; folgende
Worte über die Kinderzucht laſſen auch den klugen An—
ordner in dieſer Hinſicht neuerdings erkennen: „Die
Kinderzucht, — ſagt er, — iſt eine heilige, prieſterliche
Methode, die Seelen, von ihrer Wiege an, nichts an—
ders wiſſen zu laſſen, als daß ſie für Jeſu da ſind,
und daß ihre ganze Glückſeligkeit darin beſtehet, wenn
ſie Ihn kennen, ihn haben, ihm dienen, mit ihm umge—
hen, und ihr größtes Unglück iſt, auf einigerlei Art von
ihm getrennt zu ſein, daher der Kinder größte Strafe
ſein muß, nicht mitbeten, nicht mitſingen, nicht in die
Verſammlung gehen, nicht lernen dürfen, nach Gele—
genheit der Umſtände nicht geſtraft werden; eine Füh—
lung im Gemüthe haben, daß man ſchlecht ſtehe, ohne
ein Gefühl im äußern Menſchen, daß mans übel habe.“
Ein richtiges Gefühl hielt ihn auch ab, ſich mit frem—
den Kindern einzulaſſen, ſondern er begnügte ſich die—
jenigen anzuregen, die ſchon durch ihre Aeltern in dem
Sinn der Gemeinde waren. Ein Liederbuch für Kin—
der, das er in dieſer Zeit zuſammenwählte und drucken
ließ, wurde mehrmals aufgelegt.
Zu den Anordnungen, welche in Herrnhut entſtau—
den waren, kamen nach und nach mehrere. Am Schluſſe
e 110 88
der abendlichen Singeſtunden, welche jeden Tag Statt
fanden, pflegte Zinzendorf noch über einen Bibelſpruch
oder Liedervers eine kurze Rede zu halten, und gab
dann den Zuhörern ſolchen Spruch oder Vers als eine
Looſung für den folgenden Tag mit nach Hauſe. Dies
wurde bald zur ſtehenden Gewohnheit; jeder Tag ſollte
eine beſtimmte, ihn gleichſam beherrſchende Looſung ha—
ben, und es wurde bald zum angelegentlichen Geſchäft,
welchem ſich Zinzendorf mit Vorliebe widmete, dieſe
Looſungen für jedes Jahr vollſtändig auszuwählen und
der Gemeinde zu übergeben. Dank- und Feſttage,
ſpäter Bet- und Gemeindetage genannt, wurden nach
beſonderen Anläſſen gehalten, im Zuſchnitt andren Er—
bauungen ziemlich gleich, nur daß noch Berichte über
den Zuſtand des Reichs Gottes und Anträge zur För—
derung deſſelben mitgetheilt wurden, woraus ſich die
Neigung und Ausſicht zu Botſchaften in ferne Länder
unter den Brüdern entwickelte. Die gewöhnlichen Früh—
verſammlungen der Gemeinde wurden im Sommer
ſchon um vier und im Winter um fünf Uhr gehalten,
wodurch Zinzendorf, der oft bis tief in die Nacht ar-
beitete, an ihrem regelmäßigen Beſuch gehindert war;
um aber auch in dieſer Gattung nichts zu verſäumen,
richtete er ſich in ſeiner Wohnung mit ſeinen Hausge—
noſſen eine um etwas ſpätere Andachtsſtunde ein. Wie
viele Stunden des Tages auch ſchon auf ſolche Art in
Anſpruch genommen waren, ſo wußte der Graf doch
die Werke ſeines frommen Eifers noch immer zu ver—
39 111 88
vielfachen. Er gab einer Anzahl junger Männer, die
ſich zu beſondrer Lebensweiſe vereinigt hatten, eigent—
lichen Schulunterricht, hielt Reden an die ledigen
Mannsperſonen, an die Jungfrauen, an die neuange—
henden Eheleute, und ertheilte jeden beſonders die Leh—
ren, die ihnen gemäß waren. Einigen auserleſenen
Brüdern und Schweſtern las und erklärte er Tauler's
Mark der Seele, worin er doch, bei allen Schönheiten
und Tiefen dieſes Schriftſtellers, zu wenig von Chri—
ſtus geredet fand, und nur deßhalb die Sache wieder
aufgab. Seine raſtloſen Bemühungen wirkten ſo frucht—
bar, und ſtellten der Gemeinde zu Herrnhut ein ſo ein—
dringliches Beiſpiel auf, daß endlich Rothe, der bisher
in vielen Dingen ihr noch abgewendet geblieben war,
gerührt und erweicht ſich völlig mit ihr vereinigte, und
am 12. Mai 1728 die Statuten von Herrnhut auch
auf die Gemeinde von Bertholdsdorf ausgedehnt wur—
den, ein Ereigniß, welches für das Gedeihen der be—
gonnenen Sache als ein unſchätzbarer Gewinn erſchei—
nen mußte. Doch in aller Herzensfreude des Grafen
über dieſes Gedeihen verblieb ihm ſtets die tiefe De—
muth, ſeinem Werke keinen andern Beſtand zu wün—
ſchen, als den es unmittelbar zu verdienen fortführe.
Dieſen Sinn hatte er auch ſchon in dem Schluß eines
Liedes ausgedrückt, welches der Gemeinde beſonders
werth geblieben iſt; daſſelbe hebt an:
„O ihr auserwählten Seelen
In dem Pella Herrenhut!“
— 58 112 a
— 8
Der Schluß aber, von dem Heiland fortredend,
lautet: N ee ee
„Herrnhut ſoll nicht länger ſtehen
Als die Werke ſeiner Hand u
Ungehindert drinnen gehen,
Und die Liebe fei fein Band,
Bis wir fertig
Und gewärtig,
Als ein gutes Salz der Erden
Nützlich ausgeſtreut zu werden.“
Zinzendorf's ausgebreitete Verbindungen, die theils
fein frommer Eifer ihm gab, theils fein Stand ihm
aufdrängte, ließen ihn auch jetzt, da ſein Wirkungskreis
ſich nach ſeiner Neigung um ihn geründet zu haben
ſchien, nicht lange darin abgeſchloſſen. Hätte er bei
ſeiner Gemeinde zu ruhen vermocht, ſo wäre dieſelbe
wahrſcheinlich in der Stille mit ſeinem Leben dahinge—
gangen und erloſchen, und ſchwerlich zu der Kraft ge—
langt, als eine große religiöſe Stiftung ſelbſtſtändig
fortzudauern. Erſt aus vielfältigen Verwickelungen und
Drangſalen ging dieſe Kraft und Geſtaltung hervor;
die merkwürdigen Wege, welche die Sache durchwan—
deln mußte, waren faſt ganz durch Zinzendorf's Ka-
rakter bedingt, der die Frömmigkeit nicht in ſich ruhen
ließ, ſondern ſie ſtets in zahlreichen Beziehungen auf
—
den Schauplatz der thätigen Welt hinausführte, und
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3m 113 Ba
diefe wiederum eben fo eifrig zur Frömmigkeit zurüd-
leitete. Inmitten aller Arbeiten, die zu Herrnhut im
Gange waren, machte er kleine Reiſen, nach Schleſien,
nach Dresden, und als einer ſchriftlichen Einladung des
Erbprinzen zu Sachſen-Saalfeld das befragte Loos zu—
ſtimmte, über Jena und Rudolſtadt nach Saalfeld, von
da nach Baireuth und Koburg, und wieder über Saal—
feld und Ebersdorf nach Herrnhut zurück. Ueberall
hatte er an den verſchiedenen Höfen die günſtigſte An-
ſprache, hielt Erbauungsreden, zum Theil auf den
Wunſch ihm beifälliger Geiſtlichen, vergnügte die Ge—
ſellſchaft mit Liedern, oder las Predigten vor, oder gab
auch ſelber in ſchriftlichen Aufſätzen gute Lehren und
Rath. Oefters aber gerieth er auch mit Andersden—
kenden, mit Gelehrten und Sektenleuten, in ſtreitende
Erörterung, die ihn mancherlei Verlegenheiten ausſetzte.
Dieſe Wanderluſt theilten ſeine frommen Freunde, und
es entſtand die Gewohnheit der Botſchaften, da einer,
zwei oder mehrere Brüder ſich in Folge inneren An—
triebs auf den Weg machten, um etwas, wie ſie es
nannten, für den Heiland auszurichten. Solche Boten
gingen ſchon nach dem Voigtlande, nach Schleſien, Böh—
men und Mähren, Ungarn und nach Dänemark ab;
nach letzterem Lande die Brüder Johann und David
Nitſchmann, die für den Prinzen Karl, Bruder des
Königs Friedrichs des Vierten eine von Zinzendorf
herausgegebene kurze Brüderhiſtorie und andre Nach—
richten von Herrnhut mitnahmen. Nach England gin—
Biographiſche Denkmale. V. 8
*
2 114 BE
gen drei Brüder, um dortige Glaubensgenoſſen zu be—
ſuchen, welche mit denen in der Lauſitz nähere Verbin—
dung angeknüpft hatten. An den Profeſſor Buddeus
zu Jena wurde eine Botſchaft mit der Bitte geſandt,
er möchte doch des Amos Comenius Geſchichte der böh—
miſchen Brüder, wie früher lateiniſch, jetzt der neuen
Gemeinde zu Liebe in deutſcher Sprache herausgeben.
Nach einiger Zeit, durch Briefe dringend eingeladen,
reiſte Zinzendorf ſelbſt nach Jena, und nahm ſogar zu
längerem Aufenthalte Gattin und Kinder mit. Hier
fanden ſich an hundert erweckte Studenten, mehrere
Magiſter und ſelbſt Profeſſoren, welche ganz in Zin—
zendorf's Sinn eingingen, und ſeinen Andachten bei—
wohnten, die er in einem dazu gemietheten Gartenhauſe
hielt; fie wünſchten auch durch fein Zuthun die ſchon
unter ihnen beſtehende fromme Thätigkeit zu einer feſten
Einrichtung zu ordnen. In dieſer Zahl befand ſich da—
mals Spangenberg, der ſpäter ein wichtiger Gehülfe
und Nachfolger des Grafen wie auch deſſen Lebensbe—
ſchreiber wurde. Unter Zinzendorf's Anleitung wurde
wirklich die Gründung eines Vereins zur praktiſchen
Ausübung des Predigtamts beſchloſſen, und Buddeus
ſollte Vorſteher davon werden. Allein die Sache fand
Widerſpruch, Buddeus mußte zurücktreten und Zinzen-
dorf erfuhr mancherlei Anfeindung. Da zu ſeinen Er—
bauungsſtunden immer mehr Leute zudrangen, ſo er—
mahnte ihn der ihm ſonſt überaus freundliche Herzog
von Eiſenach als Landesherr gleichwohl, die Zahl die—
*
= 115 S
ſer Beſucher zu mindern und allzugroßes Aufſehn zu
vermeiden. Daß die übrigen Studenten, welche ſich in
eifrige Anhänger Halle's und Wittenbergs theilten, und
ihre robe Gelehrtenmeinung mit rohen Sitten verban-
den, ihn perſönlich unbeleidigt ließen, dankte er anfangs
vielleicht nur ſeinem Stande. Doch nöthigte er ſelbſt
dieſe durch fein Benehmen und feine Reden zur Ehrer-
bietung, und wirkte manches Gute unter ihnen. In
gleichem Anſehn erſchien er hierauf in Weimar, wohin
der Herzog Ernſt Auguſt ihn eingeladen hatte, der ihn
ſogar über Regierungsſachen zu Rathe zog, ſodann in
Gera, wo er mit dem Kronprinzen von Dänemark und
deſſen Gemahlin zuſammen traf, und ſich mit ihnen
von geiſtlichen Dingen unterhielt, ferner in Hirſchberg,
in Koburg, wo er überall mit Erweckten, ſowohl höhe—
ren als niederen Standes, traulichen Verkehr hatte.
In Halle, wo er in Lange's, des berühmten Pietiſten,
Hauſe wohnte, fanden ſich wieder über hundert Stu-
denten zu ihm, welche von den jenaiſchen Betreibungen
ſchon wußten, und gleichfalls von ihm eine Veranſtal—
tung begehrten, in welcher ſie vereint ihrem frommen
Zwecke nachſtreben könnten. Dies mußte er zwar ab—
lehnen, da die Schwierigkeiten, die ſich in Jena ge—
zeigt, auch hier vorauszuſehen waren; allein im Uebri—
gen wirkte er ganz nach gewohnter Weiſe; hielt Vor—
träge und religiöſe Unterredungen mit Leuten aller Art,
ſprach unverhohlen ſeinen ganzen Sinn aus, und machte
allerdings auch mancherlei Einrichtungen, um die er-
8 *
- 116 88
weckten Seelen fefter mit einander zu verbinden. Von
Halle reiſte er über Merſeburg nach Pölzig, wo er den
Grafen von Henkel beſuchte und auch den Grafen von
Reuß antraf, und dann über Dresden nach Herrnhut
zurück. h a n
Dieſer Reiſe verknüpften ſich nach zweien Seiten
folgenreiche Beziehungen; daheim hatte des Grafen
Abweſenheit neuen Störungen Raum gegeben, draußen
ſein Hervortreten bedenklichen Widerſpruch aufgeregt.
Schon in Jena hatte er von den neuen, in Herrnhut
ausgebrochenen Widrigkeiten Nachricht empfangen. Kaum
war ſein zuſammenhaltender und ſtets anfeuernder Eifer
dort eine Weile vermißt, als einige Mitglieder der Ge- .
meinde ſich in der vereinzelten und noch wenig befeſtig—
ten Stellung derſelben unheimlich fühlen mochten, und
es gerathener fanden, der Lutheriſchen Kirche in That
und Namen anzugehören. Der Paſtor Rothe, in ſei—
ner Art immer nur ſchwierig mit dem Grafen einver—
ſtanden, pflichtete dieſen gern bei, und Chriſtian David
wurde gleichfalls gewonnen. Viele Verfolgungen und
Schwierigkeiten, die man befürchten mußte, ſchienen ab-
gewendet, allgemeine Liebe und Eintracht dagegen her—
geſtellt, wenn man den Namen der böhmiſch-mähriſchen
Brüder aufgäbe, und fortan nur Lutheriſch hieße. Der
Graf hätte dies früher ſelbſt gewünſcht, damals aber
waren die Anhänger der alten Brüderkirche entgegen;
jetzt, nachdem eine Menge heilſamer Einrichtungen auf
dieſe gegründet und alles in gedeihlichem Gange war,
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sn 117 Do
drohte ein folder Vorſchlag das Ganze wieder umzu—
ſtürzen, und in Zwieſpalt aufzulöſen, denn es waren
auch viele Gemeindeglieder entſchieden dieſer Wendung
entgegen, und es ſtand zu beſorgen, ſie würden, wenn
ſie nicht als mähriſche Brüder in der Lutheriſchen Kirche
ſein könnten, ſich lieber ganz von dieſer losſagen. Gleich
von Jena her ſandte der Graf in Verein mit den Brü—
dern, die grade um ihn waren, eine Proteſtation gegen
das neue Beginnen nach Herrnhut, und ließ auch den
Eifer der jenaiſchen Magiſter und Studenten gern ge—
währen, die ein herzliches Mahnungsſchreiben in ſeinem
Sinn an die Gemeinde richteten, und dieſelbe auffor—
derten, um weltlicher Rückſichten willen nichts von dem
zu verläugnen, was ihnen geiſtlich theuer ſei. Die
Hauptſache blieb jedoch bis zu feiner Rückkunft ver—
ſchoben, und er bedurfte mehrerer Tage ſtiller Beob—
achtung, um den Zuſtand in allen Verzweigungen ge—
nau zu durchſchauen. Dann aber ſchritt er, zwar mit
liebreicher Schonung, doch mit allem Ernſt, zu durch—
greifenden Maßregeln. Chriſtian David wurde ſeines
Aelteſtenamts entlaſſen, nachher auch die übrigen Ael⸗
teſten verändert, die Statuten von Herrnhut am 6. No-
vember 1728 in neue Form gefaßt, und das Verhält—
niß der Einwohner feſter beſtimmt. Dieſe neue Sta—
tuten enthielten als erſten Artikel: „In Herrnhut ſoll
nie vergeſſen werden, daß es auf den lebendigen Gott
erbauet, und ein Werk ſeiner allmächtigen Hand; auch
eigentlich kein neuer Ort, ſondern nur eine für Brü⸗
m 118 DI
der, und um der Brüder willen, errichtete Anſtalt iſt;“
ferner hieß es: „In allem, was unter uns einzurichten
iſt, ſoll Liebe und Einfalt geſucht werden;“ ſie ſprachen
zugleich die bürgerliche Wohlthat aus, daß Herrnhut
zu ewigen Zeiten von aller Dienſtbarkeit und Leibeigen-
ſchaft frei und auch keiner nachkommenden Herrſchaft
jemals wieder dazu verpflichtet fein ſolle; die Schlich
tung von Streitigkeiten durch ein Gemeindegericht wurde
angeordnet, Regeln über den Erwerb des Lebensunter—
halts gegeben, die Liturgie von Bertholdsdorf zwar an—
erkannt, doch mit Vorbehalt aller Gewiſſensfreiheit und
innerlichen Verbindung, die den mähriſchen Brüdern
eigen ſei; ferner wurde die Trennung der Schweſtern
von den Brüdern ſtreng feſtgeſetzt, und keine Zuſam—
menkunft ohne Licht mehr geſtattet, nicht ſowohl, weil
man wirklich Unordnung davon befürchtete, als weil
die Gegner daran ein Aergerniß nahmen. Weil dieſe
Statuten mehr bürgerlicher als kirchlicher Art waren,
und abſichtlich den Schein eines neuen Religionsbe—
kenntniſſes vermeiden wollten, ſo nannte man ſie auch
nur herrſchaftliche Gebote und Verbote. Sie wurden
nach vielfältigen rührenden Reden und Erbauungen in
neuerweckter Liebe mit allgemeinem Beifall angenom⸗
men; die Störer bezeigten innige Reue; mit den neuen
Gehülfen aber verband ſich Zinzendorf nach geſchehener
Arbeit in eignen Spätverſammlungen nur um ſo feſter,
und bei frommen Liebesmahlen erneuten ſie ihre Treue
zum Heiland innig durch Handſchlag und Bruderkuß.
*
— 2119 Do
Ohne allen Zwang, durch mildes Anregen des uner-
loſchenen frommen Sinnes, und durch das Beiſpiel
eines unherrſchſüchtigen, aber vertrauenvollen reinen
Eifers, wurde dieſe Zurückführung bewirkt, und unter
dem hinreißenden Einfluſſe der religiöſen Fülle und
des perſönlichen Anſehns des Grafen aller Zwiſt bald
vergeſſen.
Nur um ſo eifriger bearbeitete er darauf das In⸗
nere der Gemeinde. Die Erbauungen, Andachten,
Herzvertraulichkeiten, wurden in allen Geſtalten fortge—
ſetzt. Außer der Bibelerklärung und beſtimmten Lehr-
vorträgen, die er an die Gemeinde hielt, gab ihm noch
jeder beſondre Vorfall Anlaß zu Reden, Geſängen und
Gebeten. Die vorhandenen Gebräuche vermehrte er
durch Einführung des Fußwaſchens, welches nach ſeiner
Meinung als eine von Jeſus geübte und empfohlene
Handlung bisher mit größtem Unrecht verſäumt wor—
den ſei. Die Bettage wurden regelmäßig auf vier—
wöchentliche Friſten feſtgeſetzt, die Looſungen ebenfalls
beſtimmter angeordnet, und nicht mehr nach Gutdünken
jedem Tage beſonders gewählt, ſondern ſchon am Vor—
abend aus den ſämmtlichen für das Jahr gewählten
durch das Loos gezogen, und ſogleich in der Gemeinde
von Haus zu Haus durch beſuchende Brüder herumge—
tragen, die hierauf von jedem Hauſe, wie ſie es ge—
troffen und was ſie bemerkt, einen treuen Bericht an
die Aelteſten zurückbrachten. Damit die Betgeſellſchaf—
ten bei ihren einzelnen Fürbitten die Gegenſtände der-
a» 120 Bi
ſelben ſichrer anreihten, entwarf er ein Gedenkbüchlein,
welches ſie in genauer Folge herzählte, als zuerſt die
verſchiedenen Religionen und Verfaſſungen, dann die
Diener Jeſu, insbeſondre die Märtyrer, Evangeliſten,
Propheten, Prieſter, ferner die verſchiedenen Stände
und Lebensformen, endlich alle bekannten Perſonen, de—
ren Weſen oder Verhältniß eine religiöſe Beziehung
darbot, und deren Namen, in alphabetiſches Verzeichniß
geordnet, mit tiefem Nachdenken und herzlichem Seuf-
zen und Segenswunſch dem erinnerungsvollen Herſagen
empfohlen wurden. Dieſe Art von Litaneien, zuweilen
auch ſtatiſtiſch nach Ländern und Orten eingerichtet, er—
hielten ein großes Anſehn, und gewährten eine zuſam—
menhaltende Beſchäftigung, die jeder nach ſeinem Sinne
feiner und gröber nehmen konnte; doch wurden ſie auch
ein Gegenſtand heftigen Tadels von Seiten der Geg—
ner, welche darin dieſelbe müßige Aeußerlichkeit finden
wollten, die man den katholiſchen Litaneien vorzuwerfen
pflegte. Eine neue Form religiöfer Zuchtordnung ent—
ſtand von ungefähr in der Gemeinde, als dieſe durch
eingeſchlichene Ränke abermaligen Zerrüttungen ausge
ſetzt worden. Ein fremder Edelmann hatte in Herrn—
hut günſtige Aufnahme gefunden, mißbrauchte aber ſei—
nen Vortheil, machte ſich einen Anhang, und ſtiftete
Sonderung und Gehäſſigkeit; ſeine Parthei klagte über
die Gemeinde, verläſterte die Beamten derſelben, und
feindete beſonders den Grafen an; ja man ging ſo
weit, deſſen Umgang mit den Schweſtern, der ſich doch
bei erfolgter Unterſuchung durchaus rein und heilig er-
wies, zu verdächtigen. Da alles Dulden und Bitten,
welches nicht geſpart wurde, bei dieſen Leuten nichts
fruchtete, ſondern die Verführung ſtets um ſich griff, ſo
glaubte Zinzendorf endlich auch mit Ernſt gegen ſie
auftreten zu müſſen. Er ſprach in einer Verſammlung
der Gemeinde klar und offen die Ueberzeugung aus,
daß alle ſolche ungehorſame, boshafte und verführe—
riſche Menſchen unter dem Bann und Fluch Gottes
ſtünden, worauf er mit der Gemeinde auf die Kniee
fiel, und voll Eifer zugleich und Mitleid über dieſe
Bannbeladenen zu Gott betete. Wiewohl nun eine
ſolche Erklärung kein weiteres Verfahren nach ſich zog,
ſo hatte ſie doch die erwünſchte Wirkung, daß die
Reuigen leichter zurückkehrten, die Verſtockten aber, ob—
gleich durch keinen Zwang genöthigt, nn davon⸗
gingen.
Zinzendorf, durchdrungen von der Einſi cht, daß
alles Angeordnete nur tauge, ſo lange der Geiſt darin
walte, und daß dieſer in jeder beharrenden Form leicht
eine Stockung finde, ſorgte unaufhörlich, durch immer
neue Anregung ſein Werk in ſteter Friſche zu erhalten.
Hiezu dünkte ihm ein Perſonenwechſel in den Gemein-
deämtern höchſt erſprießlich. Einige früherhin eifrige
Beamte waren lau geworden, andre Gemeindeglieder
dagegen hatten ſich mit neuem Eifer hervorgethan. Zu
ſolchem Zweck nun legte er ſelbſt im Anfang des Jah—
res 1730 ſein Vorſteheramt nieder, worin er jedoch
on 122 S
fürerſt auch nicht erſetzt wurde. Seinem Beiſpiele
folgten die bisherigen Aelteſten, und eine neue Wahl |
fand Statt. Martin Linner, ein junger Bäckergeſell,
durch Rednergabe und zuverläſſigen Sinn ausgezeich-
net, wurde zum Aelteſten der Gemeinde, Anna Nitſch⸗
mannin, eine erweckte, ſtille Jungfrau, die ſich vom
Wollſpinnen nährte, zur Aelteſtin der Schweſtern er⸗
wählt. Eine Anzahl beſonders wachſamer und thätiger |
Brüder und Schweſtern übernahmen es, mit Zuſtim⸗
mung der Gemeinde, dieſen Aelteſten in allen Bezie—
hungen mit beſonderer Treue und Eifer beizuſtehn, und
wurden deßhalb Helfer und Helferinnen ins Ganze ge—
nannt; nach Gelegenheit ſollten ſie auch als Syndiker
der Gemeinde dieſelbe nach außen vertreten; fie bilde⸗
ten dieſergeſtalt eine freie Behörde, in welcher Auf-
ſicht, Rath und Ausübung vereinigt waren, und in ihr
fand auch Zinzendorf ſeine erneute Wirkſamkeit. Wie
früher mehrere ledige Brüder, ſo traten jetzt auch acht—
zehn ledige Schweſtern, unter denen die Aelteſtin Anna
Nitſchmannin, in einen engern Bund zu ſtreng-jung⸗
fräulichem, von allen Lockungen der Sinne abgezogenen
Wandel; ſie verſprachen einander mit Herz und Hand,
ſich dem Bräutigam ihrer Seelen unbedingt zu erge—
ben, und nicht anders zu heirathen, als im Sinne des
Heilandes, nach feinem durch den Ausſpruch der Ge⸗
meinde und innere Ueberlegung erkennbaren Willen,
und mit völliger Ausſchließung aller perſönlichen An⸗
triebe. Zur beftimmteren Feſthaltung der religiöſen
on 123 S
Grundlagen in Herrnhut, und um auswärtigen Andich-
|
tungen ein beglaubigtes Zeugniß entgegenftellen zu kön-
nen, veranlaßte Zinzendorf, daß über einige weſentliche
Punkte die Erklärung der Brüder durch einen Kaiſer—
lichen Notarius aufgenommen wurde; er ſelbſt, als
Ortsobrigkeit, und Rothe, als Paſtor, unterſchrieben
dieſes urkundliche Zeugniß, worin es unter andern hieß,
daß ſie keine offenbare Gemeinde Gottes erkennten, als
wo das Wort Gottes lauter und rein gepredigt wird,
und die Glieder derſelben auch heilig als Kinder Gottes
darnach leben, daß ſie von niemand getrennt ſein woll—
ten, der, wenn er auch die Schrift hie und da, durch
Verleitung Andrer oder eignen Unverſtand, irrig aus—
legt, wahrhaft und herzlich an den Heiland glaubt,
daß der Mangel an Zucht bei erweckten Seelen ein
Hauptmangel ſei, und fie dieſelbe unter ſich nicht fah—
ren laſſen wollten, daher etwanige Unordnung nur den
Einzelnen, die ſie begingen, nicht aber der ganzen Ge—
meinde zur Laſt zu ſchreiben ſei, ferner, daß fie in un—
unterbrochenem Zuſammenhange mit der evangeliſch—
Lutheriſchen Kirche geblieben, und zwar den Namen der
Brüder und Schweſtern als einfältig und ſchriftmäßig
nicht wegwerfen, aber keineswegs den Zuſatz böhmiſch
und mähriſch als einen ſektiriſchen Trennungsnamen
führen und eben ſo wenig Huſſiten als Lutheraner hei—
ßen wollten, endlich, daß fie ihr Leben nicht lieber ha—
ben wollten, als eine der göttlichen Wahrheiten, denn
auch in der Meinung, etwas Gutes zu ſtiften, eine
sm 124 DU
Wahrheit verläugnen, ſei Unrecht und Sünde. Die—
ſem letzteren Satze fügte Zinzendorf einſichtig hinzu,
doch ſei nicht nöthig, die Gotteswahrheiten alle, zu jeder
Zeit, an allen Orten und jedermann zu bezeugen; denn
das Heilige, meinte er, ſolle weder dem ſtumpfſinnigen |
Thoren hingeworfen, noch dem ſchnöden Spiel abficht-
licher Läſterung preis gegeben werden. Ihn darf hie-
bei die Art, wie Chriſtus ſelber den Phariſäern und
Schriftgelehrten geantwortet hat, vollkommen rechtferti—
gen; allein die richtige Klugheit, die er ausdrückt, und
vielleicht doch klüger verſchwiegen hätte, wurde ihm von
Gegnern nur allzu oft als eine ſchlechte Weltrückſicht
ausgelegt, die ſich auch in den höchſten Dingen handeln
und abfinden laſſe. Da auch die Zahl der Bewohner
von Herrnhut noch immer zunahm, und manche fremde
Familie daſelbſt einzog, deren Geſinnung und Wandel
nicht die gehörige Sicherheit bot, ſo ließ der Graf, der
nie gern als Obrigkeit in der Gemeinde auftreten
mochte, ſich einen Revers von allen Anſäſſigen oder
Zuziehenden geben, daß ſie ſich entweder der Laſter, die
Gott und Menſchen zuwider find, enthalten, oder Herrn
hut räumen und ihren Grundbeſitz an die Gemeinde
käuflich überlaſſen wollten. 8
War auf dieſe Weiſe Herrnhut in ſeinen geiſtigen
wie in ſeinen bürgerlichen Grundzügen neu geordnet
und geſtärkt, ſo zogen ſich dagegen von außen immer
drohender dunkle Wolken um den Grafen her. Ihm
war im Gebiete des chriſtlichen Glaubens keine beſondre
3m 125 =
| Lehrform eine Schranke der Bruderliebe noch der Er-
bauung, im Herzen fand er alle Unterſchiede aufge—
hoben. Die Schriften der Katholiken, welche dieſer
| Liebe huldigten, hatten für feinen Sinn denſelben Werth,
wie die gleichartigen der Proteſtanten. In dieſer Hin-
ſicht mußten beſonders die ſchönen Lieder des Johann
Scheffler, die unter dem Titel heilige Seelenluſt des
Johannes Angelus Sileſius um die Mitte des ſieben—
zehnten Jahrhunderts in Breslau erſchienen waren, ihm
| beſonders wohlgefallen; der Verfaſſer war aus der pro—
teſtantiſchen zur katholiſchen Kirche übergetreten, und
Prieſter und Eiferer in derſelben geworden, aber dies
hinderte nicht, daß auch die proteſtantiſchen Geſang—
bücher viele ſeiner Lieder beibehielten. Zinzendorf's
unermüdete Thätigkeit fand ſich angeregt, durch eine
| Sammlung folder Lieder auch für Katholiken etwas zu
| leiſten, und auch fie, unbeſchadet ihres römischen Zu—
ſammenhangs, in feinen Andachtsgang einzuleiten. Er
ſchritt nach feiner Weiſe ungeſäumt zur That, und gab
gleich im Jahre 1727 ein chriſtkatholiſches Singe- und
Betbüchlein heraus, das er dem Fürſten von Fürften-
berg, Kaiſerlichen Prinzivalkommiſſarius bei der Reichs—
verſammlung, zueignete. Das Buch erhielt bei Katho—
liken guten Beifall, und wirkte hin und wieder nach
Wunſch; indeß wurden manche Proteſtanten darüber
ſtutzig, fürchteten bei dem Grafen Hinneigung zur ka—
tholiſchen Kirche, oder doch unſichres, bodenloſes Irr—
| ſchweifen, und fingen an, ihre Zweifel und Wehrufe
39 126 BI
darüber höchſt nachtheilig auszuſprechen. Hiezu gab
Zinzendorf noch ſtärker Anlaß, als er im folgenden
Jahre mit dem Gedanken umging, ein ſolches katho-
liſches Liederbuch mit Genehmigung des Pabſtes her—
auszugeben und dadurch in der katholiſchen Kirche zu
allgemeinem Gebrauch zu empfehlen. Der damalige
Pabſt, Benedikt der Dreizehnte aus dem Hauſe Orſini,
genoß den Ruf eines verſtändigen, duldſamen Mannes;
mehrere vornehme Katholiken, worunter einige Biſchöfe,
die mit Zinzendorf in Verkehr ſtanden, hatten längſt
gewünſcht, ihn mit dieſem Pabſt in nähere Beziehung
zu bringen. Die Sache ließ günſtigen Erfolg hoffen,
und Zinzendorf entwarf ſeinem Zwecke gemäß ein
Schreiben an den Pabſt, das nur wegen Bedenklichkei—
ten über die Titulaturen unbefördert blieb. Den Ent—
wurf jedoch fand ein Fremder, der in Großhennersdorf
die Freifrau von Gersdorf beſuchte, als ein Leſezeichen
in einem Buche des Grafen, nahm ihn mit, und theilte
denſelben nachher, als einen Beweis heimlich katholiſcher
Denkart des Grafen, in mehreren Kreiſen mit. So
wirkte ſchon jetzt ein tiefes Mißtrauen im Stillen feind—
ſeligſt, das ſpäter offen ausbrach, und viele Jahre hin—
durch fortdauerte. In ſpäterer Zeit, als Zinzendorf
erfuhr, man zeige von ihm ein ſolches Schreiben, läug—
nete er an den Pabſt je geſchrieben zu haben, und for—
derte von dem Profeſſor Walch in Jena, der das Blatt
beſaß, mit Eifer deſſen Auslieferung. Dieſer aber gab
nur eine Abſchrift, die dem Grafen zwar genugſam ſein
a 127
| früheres Vorhaben ins Gedächtniß rief, aber nicht glei—
cherweiſe feinem heftigen Eifer mäßigte, fo daß Walch
nun zu ſeiner Rechtfertigung alles drucken ließ. Zin—
zendorf berief ſich darauf, daß die Abſendung des
| Schreibens unterblieben, und behauptete noch, daß auch
dieſe ihm nicht zum Vorwurf gereichen würde, denn
auch ein ehrlicher Evangeliſcher habe den Pabſt immer
als einen hohen Fürften anzuſehen, und ihn, fo lange
derſelbe den gekreuzigten Chriſtus anbete, nicht für den
Antichriſt zu halten, ſondern für das rechtmäßige Ober—
haupt derjenigen Kirche, die ſich zu der tridentiniſchen
Kirchenverſammlung bekenne. Dieſe, auch ſchon früher
häufig geäußerten Geſinnungen ſchufen dem Grafen
vielfachen Argwohn und üble Feindſchaft unter ſeinen
eignen Glaubensgenoſſen, welche, wiewohl mindre
Strenge, doch größere Eiferſucht, als die Katholiken,
gegen die zu andrer Gemeinſchaft Hingewandten zu
nähren pflegen, und die Verdächtigungen und Gehäſſig—
keiten, welche aus dieſem Anſchein floſſen, gaben ihm
viele bittre Kämpfe.
Von einer andern Seite ſollte ihm eine noch üblere
Stimmung, die er ſich bereitet hatte, kund werden. Er
war bisher, und beſonders auf ſeiner letzten Reiſe,
häufig in Religionsgeſpräche mit frommen Gottesge—
lehrten eingegangen, und hatte deren Beifall bei ſeinen
meiſt ſchwungvollen, aber auch ungenauen und gewag—
ten Aeußerungen oft vermißt; die Rechtgläubigkeit ſei—
ner Meinungen und die Sicherheit ſeiner Bahn wurde
> 128 .
großen Zweifeln und Bedenklichkeiten bloßgeſtellt; die
Quelle vieler Beſchuldigungen und Verdammungsur—
theile war eröffnet, und die Anklagen des Indifferen—
tismus, der Heterodorie, der Schwärmerei und Will⸗
für verfolgten ihn ſeitdem ohne Aufhören. Aber auch
mit feinen früheſten Freunden, in deren Mitte er ges
gen die Angriffe der ſchulgerechten Schriftgelehrten eine
Zuflucht hätte finden ſollen, mußte er unglücklicherweiſe
nun zerfallen. In Halle, wo ſeine Aeußerungen ſo zu—
traulich als freimüthig ſeinen ganzen Seelenzuſtand
ausſprachen, erkannten die Frommen aus Spener's und
Francke's Schule mit Erſchrecken, daß ſie ihn für kei—
nen der Ihrigen halten durften, denn er geſtand offen,
daß er den Bußkampf, ohne welchen kein Heil ſein
ſollte, auf die von ihnen geſchilderte Art nicht erfahren
habe. Dieſer finſtre Zuſtand, daß die Seele unter der
Laſt ihrer Sünden in Angſt und Noth verzagen müſſe,
wie ein Miſſethäter, der zum Gericht geführt wird,
galt den Pietiſten als unerläßliche Bedingung der wah—
ren Bekehrung, ohne dieſen Durchbruch ſollte man kein
Kind Gottes ſein können. Zinzendorf aber meinte, der
heilige Geiſt bringe die Seele, die ſich ihm überlaſſe,
ganz gewiß dazu, daß ſie ihr ſündlich Elend an ſich
ſelbſt erkenne; dies könne auch bei Leuten, die noch gern
etwas beibehalten möchten, zu einem Kampfe werden,
dem beſchriebenen ahnlich; aber bei den einfältigen See—
len, die es kindlich angriffen, würde es zu einer großen
Seligkeit, wenn ſie ſich gleich darein ergäben, in den
339.129 82
| Spiegel hineinzuſehen, der ihnen vorgehalten werde.
Späterhin hat er ſich über dieſen Gegenſtand fo er—
klärt: „Der ſogenannte Bußkampf kann nichts anders
ſein, als eine geiſtliche Kolvulſion, die manchmal aus
dem Kontraſte des agirenden Verderbens und des Ge—
ſundwerdenwollens des Patienten, oder aber aus der
Repräſentation der geſetzlichen Pflichten und der Zähig—
keit der denenſelben widerſtreitenden Neigung entſtehet.
Da läugne ich nun keinesweges die Exiſtenz ſowohl
des einen als des andern Bußkampfs, aber wie es
einestheils unſtreitig beſſer iſt, die Zähne brechen durch,
wenn's auch vermittelſt des Stäupchens geſchähe, als
daß das Kind über dem Zahnen durch die Inaktion der
Natur krepire, anderntheils kein Medikus in der Welt
noch ſo methodisch geweſen iſt, den Kindern zu verbie—
ten, daß ſie außer der Ordnung des Stäupchens zah—
nen, ſo wäre es wohl beklagenswürdig, wenn die Theo—
logi ſo unbarmherzig ſein, und die Seelen, die ohne
dergleichen geiſtliche Konvulſionen aus dem Geiſte ge—
boren und dem Hirten in ſeine Arme geliefert worden
wären, dem Wolfe zuſprechen wollten, weil ſich Mutter
und Kind nicht nach ihrem tropo paedagogias gerichtet.
Ich weiß alſo, daß die geiſtliche Zeugung nicht ohne
Empfindlichkeit geſchehen: daß ich aber den gradum der
Schmerzen determiniren, oder den Bußkampf, wie er
von den geiſtlichen Hebammen getrieben wird, und eher
ein tauſend Abortus, als eine wohlgeſtalte Geburt her—
ausbringt, rekommandiren ſollte, dazu würde mich kaum
Biographiſche Denkmale. V. 9
—29 130 3%
die augsburgiſche Konfeſſion perſuadiren können, wenn.
ſie es ſagte, vielweniger aber werde ich's den Theolo—
gis glauben, da ſie es nicht ſagt. Ich halte alſo alle
Geburtsarbeit, dazu man die Seelen anſtrenget, nicht
nur zur Geburt aus dem Geiſte unnöthig, ſondern auch
ſchädlich. Giebt es ein dergleichen ſchmerzhaftes Ge—
bären, nach der verſchiedenen Eigenart des Subjekts,
von ſelbſt, ſo wird es auch ſelbſt bis zur Ausgeburt
ſouteniren, und Menſchen könnten dabei aufs höchſte
nichts thun, als dergleichen Motus möglichſt moderiren.“
An einem andern Orte ſagt er: „Die Leute wollen,
daß eine Seele, die zum erſtenmal um den Heiland
weinet, noch etliche Wochen, Monate oder Jahre auf—
gehalten werden, den und jenen Prozeß durchpaſſiren,
darnach abſolvirt werden, und dann in einer Ordnung,
die wieder ihre Aphorismen hat, ein Heiliges werden
muß. In meiner Idee iſt das ein Heiliges, das zu
den Füßen des Heilands um Gnade weint; — das iſt
ein ſolcher geheimnißvoller Moment der Freiheit, da
man mit Liebesthränen zu thun hat, die uns keine Freude
wehren. — Alle die ſcholaſtiſchen Geſchwätze haben dieſe
Ideen in meinem Herzen nicht ausgelöſcht.“ Solche
Anſichten gaben hinlänglichen Grund, ihm die Kindſchaft
Gottes abzuſprechen; er mache den Leuten, hieß es, das
Chriſtenthum allzu leicht, und ſie dadurch des wahren
Heils, das nur durch Anſtrengung errungen werde, ver—
luſtig. Auch mißfiel ſeine wenige Abgeſchloſſenheit, ſein
thätiges und freudiges Weltwirken, das ſeiner Fröm—
— 8 131 ao
migkeit unaufhörlich zur Seite blieb. Die Pietiſten
verwarfen ihn bald völlig, und einige Gottesgelehrte
aus ihrer Mitte erhoben ihm heftige Streitigkeiten,
worin dieſe Gegenſtände, zum Theil öffentlich, mit Bit—
terkeit durchgefochten wurden. Zinzendorf ſah nun mit
Schaudern in dieſe Finſterniß hinab, und trat bald als
entſchiedener Widerſacher derſelben auf. Er warf den
Pietiſten, außer der Uebertreibung des Bußkampfs, ihren
unnatürlichen Zwang zum Gebet und Bibelleſen, ihre
thörichtängſtliche Enthaltung von den ſogenannten Mit-
teldingen, und ihr zur Unwiſſenheit und Heuchelei füh—
rendes Formenthum vor, ja er dichtete in der Aufre—
gung, die ſein Gemüth durch den weiteren häßlichen
Verlauf dieſer Sachen erfuhr, 3 denkwürdige
Liederzeilen:
4 „Ein einzig Volk auf Erden
Will mir anſtößig werden,
Und iſt mir ärgerlich;
Die miſerabeln Chriſten,
Die kein Menſch Pietiſten
Betitelt, als fie ſelber ſich.““
Solcher Zornausdruck iſt auch den frömmſten Gemüthern
eigen, und bei Zinzendorf um ſo weniger zu verwun—
dern, als es für ihn ſelbſt hier in der beiligften Sache
die bitterſte Enttäuſchung galt. Daß ihn aber auch
wahrhaft gottesfürchtige Leute verkannten und verur—
theilten, das gereichte ihm zu tiefem Leid, welches er
mit gedrücktem Herzen trug.
9 *
5 132 K
Doch kam einer der heftigſten Angriffe, die er um
dieſe Zeit erfuhr, nicht von dieſer proteſtantiſchen Seite
her. Ein Jeſuit in Schleſien, Pater Regent, der da—
ſelbſt als Miſſionar die Schwenkfelder zu bekehren
ſuchte, voll Verdruß, daß ihm ſeine Bemühungen durch
Zinzendorf's Einfluß, wie er glaubte, bei dieſen Leuten
mißlangen, gab eine Druckſchrift heraus, welche den
Titel führte: „Nachricht von einer in der Oberlauſitz
und Schleſien einreißenden neuen Sekte.“ Der Graf
ſelbſt antwortete gar nicht darauf, allein Schwedler,
Schäfer und Rothe, welche gleichfalls namentlich ange—
griffen waren, führten ihre und Herrnhuts Vertheidi—
gung, doch ohne namentlich des Grafen, der es nicht
wollte, zu erwähnen. Inzwiſchen machte jene Streit-
ſchrift, an die ſich andre knüpften, hin und wieder nach—
theiligen Eindruck, und konnte beſonders wegen einiger
politiſchen Hindeutungen, welche tückiſch darein verfloch—
ten waren, ſchlimme Folgen haben. Zinzendorf wußte
dieſen dadurch zu begegnen, daß er ſogleich an die
oberſte Behörde ging, wohin dem Manne ſeines Stan—
des jeder Weg offen ſtand. Er ließ durch ſeinen Agen—
ten in Wien dem Kaiſerlichen Beichtvater, Pater Tönne—
mann, dem ſein Amt weitgreifenden Einfluß gab, das
Verhältniß vorſtellen, und dieſer umſichtige Mann er—
klärte ſich ſo billig und ordnete alles zu ſolchem Glimpf,
daß von dieſer Seite kein Nachtheil erfolgte. Schon
früher hatte Zinzendorf bei dem Kaiſerlichen Beicht-
vater ſich für einige proteſtantiſche Prediger verwendet,
3m 133 Bo
die in Schleſien wegen ihres hervortretenden frommen
Eifers als Pietiſten verſchrieen und als angebliche
Neuerer verfolgt wurden; unter ihnen befand ſich der
DD JÄBj n ůòr.;..ʃd.ʃꝛʃ:ʃ ͤ;öxß ͤ Ü—mʃg ⅛——ͤ— nne
Paſtor Steinmetz in Teſchen, welchen der Graf per—
ſönlich kannte. Auch an den Kaiſer ſelbſt hatte er ſchon
deßhalb ein Schreiben gerichtet, das aber, weil die
Sache ſchon zu weit war, nicht abgegeben wurde.
Tönnemann ſeinerſeits konnte nicht mehr hindern, daß
Steinmetz ſein Amt verlor, indeß verſprach er dem
Grafen in freundlicher Antwort, daß er alles beitragen
wolle, um das gute Vernehmen zwiſchen Katholiken
und Proteſtanten aufrecht zu erhalten. In der That
bewirkte er, als Zinzendorf's dringende Empfehlung
ſväterhin bei dem Markgrafen von Baireuth eine Su—
perintendentenſtelle in Neuſtadt an der Aiſch für Stem-
metz eröffnete, dieſem die zur Annahme derſelben nö—
thige Kaiſerliche Vergünſtigung. Nach einigen Jahren
wurde Steinmetz von dem Könige von Preußen zum
Abt nach Kloſter Bergen berufen, wo ſein redliches
Wirken Höchft fruchtreich und nach Verdienſt berühmt
geworden. Zinzendorf's vornehme Fürſprache wurde
gleicherweiſe einem andern Geiſtlichen erſprießlich, der
in Preußen im Gefängniß lag. Ein Prediger Tucht—
feld, aus dem Kreiſe der Pietiſten zu Halle ausgehend,
tadelte die geſammte Kircheneinrichtung, wollte die Lehr—
vorträge weder den Geiſtlichen vorbehalten noch auf die
Kanzeln beſchränkt wiſſen, widerſprach den halliſchen
Gottesgelehrten in der Kirche öffentlich, und predigte
ſelber umherziehend auf Marktplätzen, Kirchhöfen, im
Walde und auf offnem Feld; wegen der Unordnungen,
die daraus entſtanden, war er zuletzt in Berlin ver-
haftet worden. Zinzendorf, der doch Gutes in dem
Manne ſah, richtete eine Fürbitte geradezu an den Kö—
nig, und Friedrich Wilhelm der Erſte gewährte ſie in
Gnaden, Tuchtfeld wurde aus ſeinem harten Gefäng—
niſſe zuerſt in ein milderes gebracht, und bald völlig
freigelaſſen. Günſtig für Zinzendorf war in Berlin
der Oberhofprediger Jablonski geſtimmt, welcher großes
Vertrauen beim Könige genoß; er war ein Enkel des
berühmten Brüderbiſchofs Amos Comenius und führte
ſelbſt das Biſchofsamt über die Brüder in Polen. Mit
ihm hatte ſich Zinzendorf in Briefwechſel geſetzt, ihm
Nachricht von ſeinen Unternehmungen gegeben, und
Rath von ihm begehrt. Derſelbe antwortete, es käme
ihm vor, als ſähe er die uralte apoſtoliſche Lebensart
der erſten Chriſten wieder neu aufleben, und das in
der That erſcheinen, was man bisher etwa nur, gleich
der Platoniſchen Republik, als einen frommen Wunſch
habe anſehn wollen. Der Beifall und die Freude,
welche Jablonski dem Grafen bezeigte waren für die—
ſen eine große Stärkung, und gaben ſeiner Sache auch
in weltlicher Beziehung hinwieder ein bedeutendes Ge—
wicht. 5 2
Abermalige Ausflüge nach Ebersdorf, Saalfeld und
Jena waren theils Folge der ſchon geknüpften Verbin⸗
dungen, theils Anlaß zu nennen. Niemand wußte, fo
— 88 135 Bo
wie der Graf, feine Beſchäftigungen und Thätigkeiten
zu vervielfachen, immer neue Gegenſtände zu den vor—
handenen ſo förderlich zu geſellen, und alles, Neues
wie Altes, ſo gemeinſam zu erwärmen und zu nähren.
Seine Reiſen erhielten ein neues Ziel durch wieder—
holte Einladung von Seiten des Grafen von Wittgen—
ſtein- Berleburg, der durch feinen Oberhofmeiſter von
Kalkreuth über Herrnhut, wo derſelbe zum Beſuch ge—
weſen, viel Gutes gehört hatte. Zinzendorf traf im
Laufe des Septembers 1730 zu Berleburg und Schwar—
zenau ein, wo er viele, jedoch durch Meinungen von
einander getrennte Fromme fand, die er zu vereinigen
ſuchte. Ein Kanzleirath Dippel, bekannt als Schrift—
ſteller, der die Religionswahrheiten mit den Waffen,
welche man ſonſt gegen ſie anzuwenden pflegt, mit
Spott und Laune vertheidigte, gewann anfangs den
Beifall des Grafen, der von einer Schrift deſſelben
ſagte; fie ſei fere divina, und jener ſchien auch ſeiner—
ſeits in den Geiſt Herrnhuts einzugehn. Als jedoch
der Helfer Martin Dober nach Berleburg kam, und
näher in Dippel eindrang, entdeckte ſich bald, daß die—
ſer in einer Hauptſache, in der Lehre vom Verdienſte
Chriſti, ſehr abweichende Meinungen hatte, und da er
nach mancherlei Rührungen ſich doch wieder verſtockte,
ſo brach Zinzendorf zuletzt völlig mit ihm. Im übrigen
hatte des Grafen Bemühen guten Fortgang; Bekehrte
und Unbekehrte, unter dieſen auch Juden und Jüdinnen,
ließen ſich von ihm erweichen, verſprachen ihre Herzen
25 136 G8
dem Heilande, und ſchloſſen ſowohl in Berleburg als
in Schwarzenau, mit Zuthun des Grafen von Witt—
genſtein und einiger erweckten Pfarrer, eine Verbindung
der Seelen, die durch eigne Statuten befeſtigt wurde.
Im Aſenburgiſchen gab es Gemeinden ſogenannter In—
ſpirirten, welche Zinzendorf'en einluden, auf ſeiner Rück—
reiſe ſie zu beſuchen. Ein Sattler in Büdingen, na—
mens Friedrich Rock, war durch ſeine Inſpirationen oder
göttliche Ausſprachen, wie man es nannte, in dieſen
Gemeinden beſonders ausgezeichnet; ſein Handwerk ver—
mochte den Trieb zu geiſtlichen Dingen, von denen er
auch, da ſein Vater und Großvater Prediger geweſen,
einige Ueberlieferungen hatte, nicht zu hemmen. Seine
ächte Frömmigkeit, ſein geſetztes und beſcheidenes We—
ſen, ohne Härte, ohne Rechthaberei, und dabei ſeine
große Erfahrung in Gemeindeſachen und Seelenfüh—
rungen, machten den angenehmſten Eindruck auf den
Grafen, der ſich in große Vertraulichkeit mit ihm ein—
ließ, und gleich Andern von ihm du genannt ſein wollte,
wie er überhaupt ſich nicht gern gnädiger Herr nennen
hörte, Rock und ſeine Anhänger wollten gern ein nä—
heres Verhältniß mit Herrnhut knüpfen, und der Geiſt
gebot es ihnen durch eine Inſpiration, welche Rock in
Gegenwart ſeiner Freunde und Zinzendorf's hatte; der
ruhige, verſtändige Mann erfuhr plötzlich eine allge—
meine Erſchütterung, ſeine Augen blickten verzerrt, und
alsbald gerieth ſein Kopf in die heftigſte Bewegung,
indem derſelbe mit außerordentlicher Geſchwindigkeit
f
J
5 137 2
| rechts und links fih nach dem Rücken hindrehte; die
kurzen Redensarten, die er in dieſem Zuſtande weiſſa—
gend hören ließ, galten als das lebendige Wort Gottes
ſelbſt, und wurden ſorgfältig aufgefaßt, bewahrt und
| angewandt. Dieſer Anblick war Zinzendorf'en erſchreck—
lich; derſelbe Mann, der in ſeinem gewöhnlichen Weſen
ihm als ein wahres Kind Gottes ungemein lieb und
vertraut war, erregte ſeinen ganzen Widerwillen, ſo—
— 4 ͤ ö —
bald er auf ſolche Art weiſſagte. Daraus entſtand in
des Grafen Gemüth ein feindlicher Zwieſpalt, der ſich
nicht ausgleichen ließ. Die Verbindung mit Herrnhut
unterblieb, doch beſtand noch längere Zeit ein naher
Verkehr, und Zinzendorf bekannte ſpäter, daß er Rock'en
einige Jahre lang geehrt, geliebt und bewundert habe,
ja daß, nach gänzlicher Entzweiung, die zuletzt durch
Rock's unbedingte, vom Geiſt in ihm ausgeſprochene
grobe Verwerfung der Taufe und des Abendmahls
zum Ausbruch gekommen, er dennoch nicht aufgehört
habe, den Mann zu bewundern. Wir aber müſſen Zin—
zendorf's tiefen und feinen Sinn anerkennen, der in
allen Geſtaltungen der Frömmigkeit das zum Grunde
liegende Wahre und Gute liebevoll umfaßte und um
deßwillen auch manches Abweichende nachſichtig walten
ließ, bei allem Hange jedoch, der auch ihn dem Aben-
theuerlichen und Ausſchweifenden mit Wärme zuwandte,
und oft geraume Zeit in deſſen bedenklichſten Einflüſſen
hielt, niemals in ihnen befangen wurde, ſondern über
jeden Abweg immer nur wieder zu dem wahren Ziel
> 138 3
gelangte. Die Art, wie er ſich der verirrten Seelen,
welche einſeitigen, doch ihrem Urſprunge nach nicht fal—
ſchen Religionstrieben gefolgt waren, liebreich und her—
ablaſſend annahm, fiel aber um ſo mehr auf, als in
jener Zeit die proteſtantiſchen Geiſtlichen gewöhnlich
ſehr ſtreng und hart in ihren Zurechtweiſungen zu ſein
pflegten, und es konnte nicht fehlen, daß ihm ſeine Hin—
neigung zu dergleichen Menſchen, wie Rock, und ſein
herzliches Benehmen mit ihnen, von allen Seiten ſehr
übel gedeutet wurde, und zu vielen mehr oder minder
öffentlichen Beſchuldigungen Anlaß gab. Gegen die
der Werkheiligkeit, als wolle er die Seligkeit, anſtatt
durch das Verdienſt des Heilandes, durch ſein eignes
erwerben, vertheidigte ihn der Helfer Martin Dober
in einem nachher gedruckten Schreiben, worin er ver—
ſicherte, der Graf achte alle Vorzüge eines unſträf—
lichen Wandels, alle Einſicht und Gelehrſamkeit, gegen
die überſchwengliche Erkenntniß Jeſu Chriſti für nichts.
Die Rückreiſe machte er größtentheils zu Fuß, in—
dem er den Wagen leer nachfahren ließ. Unterwegs,
in Ebersdorf und andern Orten, wo er verweilte, und
oft nur mit Mühe ſich losreißen konnte, wirkte er nach
gewohnter Weiſe im Dienſte des Heilandes, beſprach
ſich mit Frommen, erweckte und beſtärkte gute Geſin—
nungen, und kam ſo, ohne ſeine Thätigkeit unterbrochen
zu haben, am 15. Oktober 1730 wieder in Herrnhut
an. Hier war alles in gewohntem Gange. Die An-
dachten und Erbauungsweiſen wurden noch vermehrt
—:>9 139 93
durch tägliche Unterredungen, die er, ſowohl in feinem
Hauſe als in der Gemeinde, für alle Bedenken, Zwei—
fel, und was ſonſt Herz und Sinn drücken möchte, er—
öffnete, und wobei jeder ſagen durfte, oder auch gefragt
wurde, wie es mit ſeinem Herzen ſei, und ob er gegen
einen Bruder etwas habe, oder in einer Sache Erläu—
terung wünſche. Ueber die Schriften der Frau von
Guion, die hin und wieder Eingang gefunden hatten,
hielt er kurze Vorträge, Viertelſtunden genannt, welche
jenen Myſtizismus mehr zu befeitigen, als zu fördern
geeignet waren. Es wurde feſtgeſetzt, jeden Monat
gemeinſchaftlich das Abendmahl zu nehmen. Der Ein-
richtung der Chöre, welche zu beſondern Erbauungen
vereinigt waren, ſchloſſen ſich noch eigne Chorliebes-
mahle an, bei welchen Perſon für Perſon nach ihrem
| Seelenzuftande gefragt, und demſelben gemäß einer be—
ſtimmten Klaſſe des Chors zugetheilt wurde. Ferner
wurde eine ſonntägliche Verſammlung der unmündigen
Kinder veranſtaltet, die ſich ſchon auf dem Arm der
Waärterinnen gewöhnen ſollten, den Geſang und das
Gebet anzuhören; auch dieſe Kinder mußten dem Gra—
fen einzeln vorgezeigt, und ihm über ſie Bericht gege—
ben werden. In den vielfachſten Gliederungen ſo ge—
trennt und vereint, überall bewacht und geleitet, immer
beſchäftigt und angeregt, war die Gemeinde ſich ſelber
das Werkzeug ihrer thätigſten Förderung. Aber Zin—
zendorf und ſeine perſönliche Leitung waren überall in
dieſer Ordnung ndch beſonders gegenwärtig. In der
35m 140 2a
Gemeindezucht übte er große Strenge, hauptſächlich ge-
gen diejenigen Brüder und Schweſtern, die irgend ein
Amt hatten, oder ihm vorzüglich lieb waren; doch war
neben ſeiner Strenge die liebreichſte Milde ſtets bereit,
den Sünder zu tröſten, mit ihm zu weinen, ihm neue
Hoffnung einzuflößen; auch beurtheilte er grobe äußer⸗
liche Vergehen und ſolche, die im Gemüthe wurzeln,
ſehr verſchieden, und ahndete z. B. Geſchlechtsſünden
weniger ſcharf, als Hochmuth, Gehäſſigkeit, oder Neid,
gegen die er, nach Spangenberg's Ausdruck, wie ein
Löwe losfuhr. Eben ſo eifrig nahm er ſich der Kran—
ken an, deren Genefung ihm von der Seele her um ſo
ſicherer anfangen zu müſſen ſchien, als er überzeugt
war, daß alle Krankheiten, einige durch geringere Uebel
abgerechnet, gegen welche durch Pflege und Schonung
ebenſoviel und mehr, als durch Arzneimittel, ausgerich—
tet würde, ihre beſondre Abſicht hätten, und der Hei—
land fie als Botſchaften ſende, deren Sinn man zu er⸗
forſchen und zu beachten habe; ſobald man aber dieſe |
Urſache mit Innigkeit erkenne, und nicht etwa ein Ab-
ruf aus der Zeit damit gemeint ſei, ſo dürfe man auch
zu geneſen hoffen. Manche Wunderkuren, die ſich in
Herrnhut um dieſe Zeit ereigneten, daß Kranke durch
ein Glaubenswort, oder durch das Gebet eines Andern,
von gefährlichen Schäden oder ſchweren Krankheiten
auf der Stelle befreit wurden, konnte und durfte Zin—
zendorf nicht in Zweifel ſtellen, ihm ſelbſt war ein ſol—
ches Gebet für Martin Dober, det beiuah ſchon im
5 1 a
Verſcheiden lag, einft wunderbar erhört worden; er
läugnete dieſe Kraft des Glaubens nicht, ſondern freute
ſich vielmehr ihrer Aeußerung. Inzwiſchen hielt ſeine
ächte Frömmigkeit, die ſtets auf ihren innerſten Kern
zurückging, und aus höherem Stoffe auch die gerin—
geren Werke der Klugheit leiſtete, ihn von den gefähr—
lichen Lockungen des Wahns und der Einbildung, die
in ſolcher Richtung liegen, treulich bewahrt. Er meinte,
von dergleichen Ereigniſſen dürfe man nicht viel reden;
auch ſeien die Wunder nicht um der Gläubigen willen,
ſondern wegen der Ungläubigen; wer die Gabe des
Wunderglaubens habe, ſei darum kein beſſeres Kind
Gottes, ſondern vielleicht gar ſchlechter, als Andre, die
ſolche Gabe nicht beſäßen, noch ſelbſt erſtrebten. In
dieſem ſichern, wohlzeitigen Einlenken und Innehalten,
bei ſo kühnem und leichtbeweglichem Vorſchreiten finden
wir Zinzendorf's hohen Werth ächt bethätigt, und die
Reinheit ſeiner Antriebe ſchön verbürgt.
Merkwürdig aber iſt es, daß grade jetzt, da Herrn—
hut in Einigkeit zu gedeihen ſchien, und im Innern kei—
nen Widerſpruch kund gab, Zinzendorf ſelbſt das Eigen—
beſtehn ſeines ganzen Werks durch Aufwerfung der be—
denklichſten Frage gefährdete, die er kurz vorher mit
allem Ernſt und Eifer glücklich beſeitigt hatte. Die
Sache verhielt ſich folgendergeſtalt. Der Ruf des
neuen Gemeindeweſens und der ſegenreichen Frömmig—
keit in Herrnhut zog eine Menge von Beſuchen dahin;
Vornehme und Geringe wollten an den Gnadenwirkun—
2% 9 142 ee
gen Theil haben, Andre wenigſtens die Anſtalten ken—
nen lernen, Manchen war es auch nur um Befriedi—
gung der Neugier zu thun. Da ergab ſich denn, daß
die Urtheile nicht nur vieler weltlichgeſinnten Leute,
ſondern auch mancher durch ihre Geſinnungen und Ein—
ſichten wie durch ihren Wandel ehrwürdiger Perſonen,
welche der Graf als ächte Kinder Gottes erkennen
mußte, für Herrnhut ſehr ungünſtig ausfielen, und be—
ſonders die Verfaſſung und Zucht der Brüderkirche, im
Gegenſatze der Lutheriſchen, hart getadelt wurden. Man
ſah darin ein unſichres, ſchwankendes Beginnen, das
einen Boden erſt erwerben wolle, der ſchon längſt all—
gemein und feſt vorhanden ſei, und grade durch ſolche
Unternehmung nur geſchmälert werde. Dergleichen
Mißvergnügen von bedeutenden Stimmen ausgeſprochen
und oft mit wohlmeinender Warnung begleitet, wirkte
nun auf den Grafen ein, er gab ſich allerlei Zweifeln
hin, und entſchloß ſich bald, den Aelteſten und Helfern
die Sache vorzutragen. Mit ihrer Zuſtimmung brachte
er am 7. Januar 1731 in einem Gemeinderath die
Frage vor, ob man nicht, um alles Aufſehen, Anſtoß
und Hinderniß der Vereinigung mit andern Kindern
Gottes in der Lutheriſchen Kirche zu heben, ſich da—
durch allgemeiner zu machen, und mehr Nutzen zu
ſchaffen, die Brüderverfaſſung fahren laſſen und ſich
lediglich ohne Unterſcheidung unter die Lutheriſche Ver—
faſſung begeben ſollte? Er bemerkte, daß jetzt nicht,
wie früher, Beſorgniß wegen Verfolgungen und andre
1
> 143 &
| Weltrückſicht, fondern nur das Beſte der Gottesſache
ſelbſt den Vorſchlag begründe. Allein dieſer, ehmals
in der Gemeinde ſelbſt ſo eifrig betrieben, fand nun—
— — m —
— — — —
mehr in ihr den ſtärkſten Widerſpruch. Die allermeiſten
Stimmen waren für die Beibehaltung einer dreihun—
dertjahrigen, trotz grauſamer Verfolgungen ſegenreich
beſtandenen Ordnung, die in der proteſtantiſchen Kirche
als ein wahres Kleinod zu betrachten ſei, welches ſie
den Nachkommen treu überliefern müßten; ihre Ein—
richtungen ſeien dem Worte Gottes gemäß, ſo lange
ſie dies wären, dürften ſie nicht verlaſſen werden, und
böten grade ſie jedem frommen Verlangen die offne
Vereinigungsſtätte dar, die man ihnen jetzt anmuthe
anderswo zu ſuchen. Zinzendorf beharrte indeß noch
bei ſeinem Vorſchlag, und ſuchte denſelben mit manchen
Gründen zu unterſtützen. Da man aber auf dieſem
Wege zu keinem Ergebniß gelangen konnte, ſo ver—
einigte man ſich dahin, mit kindlicher Hingebung in den
Willen des Heilands, das Loos entſcheiden zu laſſen.
Zwei Stellen aus der Bibel wurden demnach als Looſe
aufgeſetzt; die eine, aus der erſten Epiſtel an die Ko—
rinther genommen, hieß: „Denen, die ohne Geſetz ſind,
werdet ohne Geſetz, ſo ihr doch nicht ohne Geſetz ſeid
vor Gott, ſondern ſeid in dem Geſetz Chriſti, daß ihr
die, die ohne Geſetz ſind, gewinnet;“ die andre Stelle
war aus der zweiten Epiſtel an die Theſſalonicher:
„Stehet nun, lieben Brüder! und haltet ob den Satzun—
gen, die ihr gelehret ſeid.“ Man hielt inniges Gebet,
22 144 8
um des Heilands Entſcheidung zu erflehen, und Zin⸗
zendorf's noch nicht vierjähriger Sohn zog hierauf das
Loos; es erſchien das letztere, wodurch, nach der Ab⸗
rede, die Brüderverfaſſung beſtätigt wurde. Dieſe Ent—
ſcheidung ſchlug jeden Zweifel nieder, der Bund wurde
nun um ſo kräftiger aufgerichtet, und Zinzendorf hielt
in dieſem Sinn eine feurige Rede, die mit der für den
folgenden Tag beſtimmten Looſung aus dem ſechsund—
vierzigſten Pſalme ſchloß: „Jeruſalem, Jeruſalem wird
dennoch bleiben.“ Hiemit war der Zerſtörungskeim,
der ſich über Herrnhut aus deſſen eignem Innern ent⸗
falten konnte, auf dem höchſten Punkte, den er zu er—
reichen vermochte, für immer ausgelöſcht. Daß der
Stifter ſelbſt zur Vernichtung ſeines Werkes rieth, war
eine Gefahr und Prüfung, die beſtanden zu haben ihm
ſelber vielleicht ein nothwendiges Bedürfniß war. Wie
ſonderbar und auffallend auch Zinzendorf hiebei er—
ſcheinen mag, der ſein früher mit beharrlichem Muthe |
gegen inneren Feind vertheidigtes Unternehmen jetzt,
da es keinen ſolchen Feind mehr hegt, ſelber angreift
und endlich das Ganze auf die Spitze eines unzube⸗
rechnenden Zufalls ſetzt, ſo können wir doch ſein Ver⸗
fahren nicht grade aus Schwäche und Wankelmuth her—
leiten, einem ſolchen Vorwurfe, ſofern er Weſentliches
berühren ſollte, widerſpricht ſein ganzes Leben; aber
keine Geſtaltung, wie beſeelt und wie lieb und theuer
ſie auch erſcheinen mochte, konnte ihn ganz beruhigen,
das Leben der Frömmigkeit hielt ſich ihm, wie jedes
y
Hm 145 ao
andre Leben, nur in täglich von Grund auf erneuter
Frag- und Kampfſtellung friſch, höchſte Ruhe und
Sicherheit war ihm nur in dem Heiland; durch das
Loos aber dieſem die Entſcheidung anheimgeben, hieß
in ſeinem Sinne nicht den Zufall, ſondern die höchſte
Einſicht fragen. .
Von Zinzendorf's perſönlichem Benehmen ſind hier
| noch einige Züge anzuführen. Seine Geduld und Milde
in allem Widerwärtigen, das nur den Menſchen, nicht
eine höhere Angelegenheit betraf, war muſterhaft. Der
Magiſtrat einer benachbarten Stadt ließ die Brüder,
welche ſein Gebiet zu geiſtlichem Beſuch oder auch ſelbſt
in bürgerlichem Geſchäft betraten, ins Gefängniß wer—
fen und ſonſt hart behandeln; auch die erweckten From⸗
men, welche in jenem Gebiete wohnten, hatten viel Un—
gemach zu dulden, und wurden geſtraft, wenn ſie ihre
gemeinſamen Erbauungen hielten. Zinzendorf hätte
durch ſein weltliches Anſehn dieſe Behandlung leicht
abwehren können, allein er mahnte zur Geduld, und
ſchloß vielmehr in der Gemeinde Gebet nebſt den ge—
fangenen Brüdern auch jenen Magiſtrat liebevoll ein,
gegen welchen klagbar zu werden er den Gekränkten
auch dann noch abrieth, als nach längerer Zeit eine
landesherrliche Unterſuchung, wegen andrer Beſchwer—
den eingeleitet, auch dieſen das günſtigſte Gehör ver—
ſprach. Dieſes edle Beiſpiel chriſtlicher Vergebung
verfehlte ſeine Wirkung nicht, die Gegner ſchämten ſich,
und die Verfolgten blieben lange Zeit unangefochten.
Biographiſche Denkmale. V. 10
sm 146 Bi
Auch in der perſönlichſten Berührung behauptete er
dieſen Sinn. So berichtet er, in ſeinem Tagebuch aus
dieſer Zeit, ein ihm ſonſt werther, aber damals miß—
trauiſch und feindlich geſtimmter Mann habe ihm einen
ganzen Tag hindurch unter dem Namen von Fragen
und Bedenklichkeiten die allerhärteſten und unglaublich—
ſten Injurien geſagt, der Herr Jeſus aber Gnade ge—
geben, daß ſie durch Geduld und Gelaſſenheit alle
prompt gehoben worden. Zweien auswärtigen Män—
nern, die über das Verhältniß des Grafen zu den
Schweſterchören grobe Verläumdungen in die Welt ge—
ſandt hatten, darauf ihr Unrecht einſahen, und in großer
Gewiſſensangſt ihre bittre Reue in Herrnhut kund ga—
ben, bezeigte er, was ſie ſelber nie hoffen zu dürfen
meinten, ſeine herzliche Vergebung und Liebe, und
wandte alles an, ſie in ihrem untröſtlichen Leide zu
beruhigen. Von ſeiner Gewalt über die Menſchen und
ſeiner lebendigen Beziehung mit ihnen können folgende
Beiſpiele Zeugniß geben. Ein Bruder aus Mähren,
der in Herrnhut anfangs in vieler Gnade gelebt, aber
durch Unfrieden in düſtre Verſtockung gerathen war,
beſchloß den Ort zu verlaſſen und nach Mähren zu—
rückzukehren. In der Nacht aber, die er zur heimlichen
Ausführung ſeines Vorhabens auserſehn, wurde er dem
Grafen, dem er ſchon dreiviertel Jahre ſchweigend im
Sinne gelegen, durch wunderbaren Zug der Einbildung
beſonders gegenwärtig, dieſer ſuchte ihn trotz der nächt—
lichen Weile ſogleich auf, und als er bei ihm eintrat,
45
5 147 2
wollte derſelbe eben hinausgehen, um nie wiederzukeh—
ren. Betroffen durch Zinzendorf's unerwarteten An-
blick, konnte er der liebreichen Frage, wie es ihm gehe?
nur antworten: „Nicht gut.“ Der Graf erwiederte:
„Das höre ich nicht gern:“ und erweichte bald durch
ſein herzliches Weiterreden ihn zu vielen Thränen.
Tages darauf kam der Mann von ſelbſt, beichtete ſei—
nen ganzen Zuſtand wie auch ſein gehegtes Vorhaben,
ergab ſich dem Grafen mit neuem Vertrauen, folgte
| demſelben zu der nächſten Abendmahlsfeier nach Bert—
holdsdorf, und blieb ſeitdem zufrieden und fröhlich bis
an feinen Tod im Schooße der Gemeinde. Eben fo
bewog Zinzendorf einen ſeiner Schutzunterthanen, der
gegen die Kindertaufe eifernd ſein Kind nicht wollte
taufen laſſen, und deßhalb von Paſtor Rothe bei der
Obrigkeit verklagt wurde, durch freundlichen Unterricht
und herzlichen Zuſpruch, daß er ſich willig in den Kir—
chengebrauch fügte, welchen der Graf ſich nicht berech—
tigt hielt jemanden gegen ſeine Erkenntniß aufzudrin—
gen. Ein andresmal verſetzte er eine Frau, welche
krank und aufgeregt in religiöſem Triebe nach Herrnhut
gekommen war, aber mehr Aufhebens mit ihren Klagen
als Fortſchritte im Heil machte, und einen andern See—
lenzuſtand vorgab, als ſie wirklich hatte, durch eine
ftarfe Rede von der Heuchelei und ihrer Abſcheulichkeit
in ſolche Erſchütterung, daß ſie ohnmächtig aus
Saale getragen werden mußte, und ihre bisherige Be—
trügerei darauf reuig eingeſtand. Zinzendorf hielt da—
10 *
5m 148 22
für, daß ein Menſch, der ſich dem Heilande noch nicht
ergeben, und dies nur aufrichtig bekenne, demſelben
ſchon mehr gehöre, als ein andrer, der ſich zum Beten
und Weinen anſtelle, und ſeinen wahren eee dar⸗
über verläugne.
Schon längſt fühlte Zinzendorf in ſeiner n
ten Lebensbahn einen Mangel, dem er ernſtlich abzu⸗
helfen beabſichtigte. Es war dies die Nichtübereinſtim⸗
mung ſeines äußeren weltlichen Standes mit ſeinem
inneren geiſtlichen Beruf; um letzteren ganz zu erfüllen,
mußte er wirklich ein Geiſtlicher werden, und förmlich
dieſem Stande angehören, erſt dann konnte er feſten
Schrittes auf nicht mehr ſchwankendem Boden auftre—
ten, und Freunden und Gegnern eine genügende Hal—
tung bieten. Den Studien nach durfte er längſt als
ein Gottesgelehrter gelten, ſeine Thätigkeit umfaßte
nicht minder das ganze Gebiet eines Predigers und
Seelſorgers, es kam alſo nur wirklich auf Aneignung
der äußeren Form und der damit verbundenen Berech—
tigungen an. Seinen ererbten Standesvorzug und an—
geſehenen Rang achtete Zinzendorf perſönlich für nichts,
und er war ſtets bereit, ſie gegen äußerlich geringere,
ihm aber dem Weſen nach erhabnere Verhältniſſe aug-
zutauſchen. Auch konnte ihm hiebei das Beiſpiel des
Fürſten Georg von Anhalt, der zur Zeit Luther's re=
gierxender Fürſt und zugleich ordinirter evangeliſcher
Prediger war, herrlich vorleuchten. Allein er glaubte
in dieſer Beziehung den Vorurtheilen Andrer vielfache
3
b 149 84
Rückſicht ſchuldig zu ſein, und wollte unnöthiges Auf—
ſehn, oder gar Zwieſpalt und Aergerniß möglichſt mei—
den. Hier kam es nun darauf an, einen ſchicklichen
Uebergang, eine Art Mittelſtufe, zu gewinnen. Zuerſt
mußte er ſein Verhältniß im ſächſiſchen Staatsdienſte,
das nur noch locker beſtand, völlig auflöſen, und dazu
ſchien die Annahme anderer Dienſtverhältniſſe, die ihn
auf andrer Seite doch nicht bänden, ein ſchicklicher
Schritt, für welchen der Hof von Kopenhagen der gün—
ſtigſte Ort dünkte. Der Kronprinz von Dänemark
hatte als König Chriſtian der Sechſte den däniſchen
Thron jüngſt beſtiegen, und der gottfelige Sinn des
frommen Fürſten bewährte ſich in jeder Art; dem gan-
zen däniſchen Hauſe war Zinzendorf innig befreundet,
und es fügte ſich ihm der Anlaß leicht, zur bevorſtehen—
den Krönung des Königs nach Dänemark zu reiſen.
Er wünſchte jedoch hiebei nicht ohne Wiſſen und Gut—
finden der Gemeinde zu verfahren, trug ihr daher ſein
Vorhaben im Allgemeinen vor, und erhielt ihre Zu—
ſtimmung durch hunderachtunddreißig bejahende gegen
vier verneinende und fünfzehn unentſchiedene Mitglie—
der; er glaubte überdies von dem Heilande ſelbſt die
Billigung der Reiſe zu vernehmen. So trat er denn
mit Zuverſicht, wiewohl mit wehmüthigen Thränen we—
gen der Trennung von der lieben Gemeinde, am
25. April 1731 in Begleitung einiger Brüder ſeine
Wanderung an. Die Reiſe ging ziemlich raſch, doch
fand ſich noch immer Gelegenheit, hin und wieder
an 150 EI
Fromme zu befuchen und Erbauungen zu halten. In
Kopenhagen war ihm die beſte Aufnahme bereitet, die
Mutter der Königin, Markgräfin Sophia Chriſtiana
von Brandenburg-Kulmbach, und viele andre Perfonen-
am Hof und in hohen Staatsämtern, waren ſchon aus
früherer Zeit ihm befreundet, andere wurden es gern
bei ſo günſtigen Umſtänden; denn auch dieſe wirkten
ein, und ihm entging nicht, daß die fromme Sinnesart
des Königs, welche die Frommen gern hervorhob, zur
Frömmigkeit auch die hartherzigen Leute heranzog, und
ſelbſt die ganz herzloſen, welche eben ſo jeder andern
Weiſe des Fürſten gehuldigt hätten. Indeß befanden
ſich in der dortigen vornehmen Welt, und in der Kö—
niglichen Familie ſelbſt, manche wahrhaft Erweckte, mit
welchen Zinzendorf des liebreichſten Umganges genoß.
Der König zeichnete ihn ſehr aus, und da er an ihm
vorzügliche Gaben bemerkte und allgemein rühmen hörte,
ſeinen Verſtand, ſein Betragen, ſeine Geſchicklichkeit,
und dabei große Gradheit und Offenheit, ſo ließ er
ihn unter der Hand befragen, ob er eine Stelle im
Staatsminiſterium annehmen würde. Zinzendorf aber
verbat eine ſo hohe Würde durchaus, und machte andre
Vorſchläge zu ſeiner Anſtellung, die jedoch ſo beſchei—
den waren, daß man an ihrem Ernſte zweifeln wollte,
denn ihm war nur daran gelegen, ein Amt zu erlan—
gen, das ihn dem Dienſte des Heilands nicht entzöge,
und ihn auch nicht nothwendig in Dänemark feſthieltes
Die Sache kam nicht zu Stande, indem einflußreiche
3 151 Be
Perſonen, und unter ihnen ſolche, die ihn öffentlich am
ſtärkſten lobten, heimlich ihm entgegen wirkten, und ſein
Bleiben in Dänemark nicht wünſchten. Der König lud
ihn nach Friedrichsburg ein, um der Krönungsfeierlich—
keit beizuwohnen, und verlieh ihm bei dieſer Gelegen—
heit den Orden von Danebrog. Der Graf, von dieſer
Abſicht im Voraus benachrichtigt, ſah in dieſer welt—
lichen Ehre nur ein Hinderniß für den Dienſt des—
Heilands, brachte die ganze Nacht vorher in Gebet und
Thränen ſchlaflos zu, und war ſchon entſchloſſen den
Orden nicht anzunehmen, was ihm jedoch die Mark—
gräfin von Kulmbach, die ihn zu ſich rufen ließ, mit
Erfolg ausredete; ebenſo nachher, als er ſich wegen
dieſes Schmuckes ſehr unglücklich fühlte, und den Or—
den zurückgeben wollte, vermochten ernſtliche Zureden
doch, daß er ihn einſtweilen noch behielt. Der König
zog ihn über manche Angelegenheiten zu Rath, und der
Kronprinz, in der Folge als König Friedrich der Fünfte
der Freund Bernſtorff's und der Beſchützer Klopſtock's,
damals aber noch in zartem Alter, hörte wohlgefällig
ſeine Reden von dem Heilande. Ungeachtet des großen
Wirkungskreiſes, den er hier offen fand, mußte er ſich
zuletzt geſtehen, daß auch ein frommer Hof, weil er
doch immer ein Hof bleibe, ihn ſchwerlich befriedigen
könne. Er ſchrieb hierüber an ſeine Gemahlin: „Wenn
das Gute bei Hofe gefördert werden muß, ſo kann
ich's nicht unternehmen. Denn es geht ſo viel edle
Zeit oft auf die geringſte Kleinigkeit, daß man bei
HR 152° 82
Gott nicht verantworten kann, feine Stunden und W
ſo ſehr zu mißbrauchen; |
Mein Beruf heißt: Jeſu nach,
Durch die Schmach;
Durch's Gedräng von auß- und innen;
Das Geraume zu gewinnen,
Deſſen Pforten Jeſus brach.“
Mehr als Gunſt und Ehre beſchäftigte ihn bier die
Bekehrung der armen Heiden in Grönland und im dä—
niſchen Weſtindien, wozu die Anſtalten theils ſchon be—
ſtanden, theils noch zu treffen waren. Die helden—
müthige, mit unendlichen Drangſalen verbundene, und
bei aller anſcheinenden Erfolgloſigkeit beharrlich fortge—
ſetzte Unternehmung des däniſchen Predigers Hans Egede
und deſſen Sohnes Paul, das Chriſtenthum unter den
Grönländern zu verbreiten, regte ſeinen ganzen Eifer
an, und er beſchloß, Paul Egede's jetzt eben bedrohtes
Werk thätig zu unterſtützen. Am 1. Juli reiſte der
Graf von Kopenhagen wieder ab, hatte auf beiden Bel
ten während der Ueberfahrt heftigen Sturm zu beſte—
hen, wobei die Looſung des Tages und ein gotterge—
benes Lied ihm freudigen Muth erhielten, ſah in Schles—
wig nochmals die Königliche Familie, von welcher er
in herzlicher Liebe und in dankbarer Ergebenheit Ab—
ſchied nahm, und feste darauf feinen Weg über Rends—
burg und Hamburg fort. In Statthagen beſuchte er
die verwittwete Gräfin Sophie zur Lippe, Stiefmutter
des nachher berühmt gewordenen Grafen Wilhelm zur
= 153
Lippe, in Wolfenbüttel die verwittwete Herzogin, in
Wernigerode die dortige gräfliche Familie; überall war
er beſtens aufgenommen, und hielt Betſtunden und er—
bauliche Unterredungen. In Halle, wo ihn auch Baum—
| garten beſuchte, führte er ein wichtiges fünfſtündiges
Geſpräch mit dem Profeſſor Francke, dem Sohne, er—
richtete, wie er ſich ausdrückt, mit ihm ein Bündniß,
Chriſti Reich auf den Grund der Einfalt mit aller
Treue auszubreiten, und hielt nun die Scheidewand
zwiſchen Halle und Herrnhut für weggenommen. Die
Folge jedoch zeigte darin keinen Beſtand, indem Francke
ſpäterhin mehrmals dem Grafen erklärte, wie er außer
der allgemeinen Liebe mit ihm zu konnektiren nicht ge—
meint ſei, worauf indeß Zinzendorf, von wärmerer
Liebe beſeelt, edel erwiederte, ihm ſolle deßungeachtet
Francke'ns Andenken noch werther ſein, als es die ge—
nerale Chriſtenpflicht erfordern möchte. Am 21. Juli
früh um 2 Uhr traf er in Herrnhut ein, wo er die
ledigen Brüder zu ſeiner — noch im Gebet bei—
ſammen fand.
Die Reiſe, wiewohl in der Folge durch vielfache
Beziehungen fruchtbar, war für jetzt ganz gegen die
Abſicht ausgefallen; anſtatt minder drückende Verhält-
niſſe vermittelſt des frommen Hofes zu gewinnen, ſah
er durch denſelben die vorige Laſt nur mit neuem Ehren—
glanze vermehrt, welcher nicht wenige Mißreden und
Verläumdungen auch bei ſonſt wohlmeinenden verur—
ſachte, und ihm ſelbſt manche Bekümmerniß gab. Um
2 154 9
fo freudiger fand er ſich wieder in dem geliebten Herrn-
hut, wo ſeine Thätigkeit alsbald vielfach in Anſpruch
genommen wurde. Das Gedeihen des Orts war ſicht—
bar, der Verſammlungsſaal auf das Doppelte erwei-
tert, fünf neue Häuſer im Bau; ſein eignes Hauswe⸗
fen war durch die Sorge der Gräfin, ungeachtet Miß⸗
wachs und die Unterkunft neuer Ankömmlinge manche
Bedrängniß verurſachten, in gutem Stande; vierund⸗
ſiebenzig neue Auswanderer waren nämlich während
feiner Abweſenheit aus Mähren eingetroffen, und hat
ten Obdach und Nahrung empfangen. Der Graf lud
dieſe Leute bald nach ſeiner Ankunft alle zu ſich zum
Eſſen, und behandelte ſie ſehr liebevoll. Sie machten
ihm jedoch große Sorge wegen des Lärms, der ſich
ſtets erneute, als würden dieſe Auswanderungen von
ihm angeſtiftet; ein Ermahnungsſchreiben, welches deß—
falls an ihn aus Dresden erging, beantwortete er bün= |
dig, indem er den Ungrund jenes Vorgebens darlegte;
jeder Einzelne jener Ankömmlinge war genau verhört
und unterſucht; nur dem reinen Verlangen, den evan—
geliſchen Glauben zu bekennen, die Aufnahme gewährt;
das Zurücklaſſen zeitlichen Guts faſt immer als Be—
weis gefordert worden. Da man nichtsdeſtoweniger
fortfuhr, in Schleſien durch allerlei Druckſchriften ſolche
Beſchuldigungen auszubreiten, ſo wandte er ſich aber—
mals nach Wien an den Pater Tönnemann, welcher
freilich genugſam wiſſen konnte, daß ſie falſch ſeien,
und daher gern einwirkte, dergleichen Verläumdung
)
r
n 155 9
fernerhin abzuſtellen. Eine Sendung, welche die Ge—
meinde von Zauchtenthal in Mähren eigends abordnete,
um zwei ihrer ansgewanderten Mitglieder in Anſpruch
zu nehmen, erhielt in Betreff einiger Schuldforderun⸗
gen Befriedigung, wurde aber in Abſicht der Perſonen
ſelbſt, deren Rückkehr ſie verlangte, verneinend abge—
fertigt, da dieſe Leute in Mähren als Evangeliſche
nicht leben dürften, katholiſch zu werden aber gegen ihr
Gewiſſen fänden. Dagegen waren Brüder aus eignem-
Antriebe nach Mähren zurückgegangen, um ihre Ange—
hörigen zu beſuchen, und geriethen daſelbſt in mancher—
lei Gefahr. Einer derſelben, in Geſellſchaft einiger
Aus wanderer unſchuldig verhaftet, entzog ſich dem Ge—
wahrſam, und als er dies bereuend ſich wieder ſtellen
wollte, fand er keine Wache mehr an dem Orte, wo
er ſie verlaſſen. Ein Andrer wurde aus dem Gefäng—
niß fortgeſchickt mit einem unbegehrten offnen Briefe
des unwahren Inhalts, daß er ſeinen Irrthümern ent—
ſagt habe. Beide kamen ſo nach Herrnhut zurück, wo
aber die Umſtände, welche ſie erzählten, eine eigne Un—
terſuchung veranlaßten. Sie mußten ſich reinigen, der
erſtere durch die einſtimmigen Zeugniſſe ſeiner in Herrn⸗
hut nach und nach anlangenden damaligen Gefährten;
der andre wurde ſogar zur Rückkehr bewogen, um die
Behörde aufmerkſam zu machen, jener offne Brief ent-
halte Falſches, dem er ſeine Freiheit nicht verdanken
wolle; zum Glück für ihn mochte die Behörde, über
den neuen Fall verdrießlich, von ſolchen Weitläuftig—
32 156 DU
keiten nichts hören, hieß ihn kurzweg ſich fortpacken, und
gab ihm noch auf ſeine Bitte nur die mau |
daß er dort gewefen.
Dieſe faſt ängſtliche Strenge des — und der
Gemeinde war durch beſondre Umſtände, die ſich in der
Nähe geſtalteten, nur zu ſehr gerechtfertigt. Seine ge-
liebte Tante, Henriette von Gersdorf, hatte ſchon ge-
raume Zeit ſeinen Anſtalten und Einrichtungen keinen
Beifall bezeugen können, und wie gering der Unter-
ſchied ihrer beiderſeitigen Sinnesart auch ſein mochte,
ſo war er doch vermögend, einander ſo werthe Perſo—
nen ganz zu trennen. Im Weſentlichen jedoch mit
dem Grafen von gleichem Triebe geleitet und in ähn—
liche Verhältniſſe geſtellt, hatte die Freiin von Gers—
dorf, als damalige Gutsherrſchaft von Großhenners-⸗
dorf, daſelbſt einigen böhmiſchen Familien, die um des
Glaubens willen ſchon vor Jahren nach der Lauſitz ge—
zogen waren, eine Zuflucht gewährt, und ihnen einen
Lutheriſchen Geiſtlichen Johann Liberda aus Schleſien
berufen, der durch ſeine Predigten eine große Erweckung
ringsumher bewirkte, ſo daß aus der Lauſitz und aus
Böhmen ſelbſt eine große Zahl neuer Anſiedler nach
Großhennersdorf kamen, und für die Böhmen ein eig-
ner Ort gebaut wurde, den man ſchon als ein Gegen—
Herrnhut bezeichnete; wie Zinzendorf mit den Mähren,
ſo wolle ſeine Tante, hieß es, mit den Böhmen ihren
Eifer zeigen. Der lebhafte Religionsverkehr, welcher
ſich hier auf der Gränze zwiſchen Sachſen und Böh—
|
>. 157 &
men entwickelte, die Ausbreitung proteſtantiſcher Ein—
flüſſe in letzterem Lande, und das Hinüberziehen ſo
mancher Aufgeregten in erſteres, veranlaßte Beſchwer—
den des Kaiſerlichen Geſandten am ſächſiſchen Hofe.
Hier war man bereit, jede Befriedigung zu gewähren,
und da man von ſolch dunklen Vorgängen nur unſichre
Kunde hatte, aber durch Zinzendorf's Namen und Rang
| doch längſt auf Herrnhut höchſt aufmerkſam geworden
war, ſo glaubte man den Grund jener Beſchwerde nur
dort vorausſetzen zu müſſen. Das Staatsminiſterium
zu Dresden verordnete daher, da der harte Antrag,
daß alle Auswanderer aus den Kaiſerlichen Landen
ohne alle Rückſicht und Unterſchied dahin zurückgeliefert
werden ſollten, ſchon bei ihm nicht durchging, eine lan—
desherrliche Kommiſſion, welche den ganzen Zuſtand
von Herrnhut in Lehre und Leben, beſonders aber auch
die gegen Zinzendorf perſönlich vorgebrachten Klagen
| zu unterfuchen den Auftrag hatte. Der Amtshaupt—
mann von Gersdorf zu Görlitz war zu Führung dieſer
Kommiſſion ernannt, und verfügte ſich im Januar 1732
nach Herrnhut. Viele Fremde aus nächſter und ſelbſt
entfernterer Umgegend ſtrömten herbei, um die erwar—
tete Aufhebung von Herrnhut mit anzuſehen. Hier
zeigte ſich nun Zinzendorf in der ganzen Stärke ſeiner
Geſinnung. Wegen der Beſchuldigung, Unterthanen
des Kaiſers aus deſſen Erblanden herausgelockt zu
haben, war die Rechtfertigung leicht; es ergab ſich klar,
daß dieſe Leute insgeſammt von ſelbſt, und nur um des
a 158
Glaubens willen, mit Aufgebung ihrer Habe, das Land
verlaſſen hatten, wo man ſie zum katholiſchen Glauben
hatte nöthigen wollen, und daß es ein ſchrecklicher Ge—
wiſſenszwang wäre, ihnen die Rückkehr dorthin aufzu—
erlegen. Bedenklicher mußte die Prüfung der Lehre
und Zucht der Brüder werden, denn hier war zufälligen
Eindrücken und argen Mißdeutungen ein weites Feld
eröffnet. Anſtatt nun das, was übler Auslegung fähig
war, zu mildern und zu verhüllen, verordnete der Graf,
daß alles in gewohnter Weiſe ohne Zurückhaltung vor
ſich ginge; die Kommiſſion ſah das Weſen von Herrn—
hut in allen ſeinen Zweigen ganz unverſtellt, und er—
hielt alle Aufſchlüſſe und Erläuterungen, die ſie be—
gehrte, mit gewiſſenhafter Genauigkeit, ja eher in zu
ſtarken als in zu ſchwachen Ausdrücken, damit keine
Beſchönigung aus kleinmüthiger Menſchenfurcht dabei
Statt fände. Nachdem die Kommiſſion, theils in Bei—
ſein Zinzendorf's, theils ohne daſſelbe, allen Arten von
Verſammlungen beigewohnt, jedes Mitgled der Ge—
meinde und auch den Grafen einzeln befragt, von allen
vorgelegten Schriften genügende Einſicht genommen, und
ſo binnen vier Tagen ihre Arbeit vollendet hatte,
brachte ſie das Ergebniß ihres Geſchäfts nach Dresden.
Zinzendorf ſchrieb bei dieſem Anlaß auch ſelbſt an den
König, wie auch an das Staatsminiſterium, ſtellte das
Weſen ſeiner Sache bündig dar, zeigte die Ueberein—
ſtimmung Herrnhuts mit der Lutheriſchen Kirche und
das Unverfängliche der Brüderverfaſſung, erbot ſich aber.
9 159 882
dennoch, gleich der ganzen Gemeinde, im Fall die
Obrigkeit das Verbleiben oder den Anwachs der mäh—
riſchen Leute bedenklich fände, auf den erſten Wink mit
ihnen das Land zu räumen, und zwar ſo ſtill und ru—
hig, daß für die ſächſiſche Regierung jeder Verfolgungs—
anſchein dabei vermieden bliebe. Der günſtige Bericht
der Kommiſſion brachte in Dresden die Widerſacher
für den Augenblick zum Schweigen, aber ausdrücklich
gutheißen wollte man die Sache auch nicht; und ſo
unterblieb jede Entſcheidung und Antwort ganz. Nur
eine allgemeine Bekanntmachung erfolgte, daß künftig
keine neue Auswanderer aus den öſterreichiſchen Erb—
landen in Sachſen dürften aufgenommen werden, wel—
ches indeß Zinzendorf ſchon früher, in Betracht der
vielfachen daraus erfolgten Ungelegenheiten und des
traurigen Schickſals einiger in harte Gefangenſchaft ge—
rathenen und zweier darin verſtorbenen Brüder, für
ſeine Güter völlig eingeſtellt hatte.
Bereits vor dieſen Verhandlungen hatte Zinzen—
dorf, der nach ſeinem in Kopenhagen nicht gelungenen
Verſuch es aufgab, einen neuen Umweg zu finden, die
nun auch von ſeiner Mutter nicht mehr mißbilligte
Bitte um Entlaſſung aus dem ſächſiſchen Staatsdienſte
gradezu dem Könige eingereicht. Sie wurde ihm jetzt
in Gnaden gewährt, und am 8. März 1732 legte er
zu Dresden ſeine Stelle als Regierungsrath vor dem
verſammelten Kollegium förmlich nieder, wobei er eine
Rede hielt, und feine gottesfürchtigen Geſinnungen und
aD 160 2
das Weſen der Gemeinde zu Herrnhut, der fortan
ſeine Thätigkeit ganz gehören ſollte, offen darlegte.
Die Förderung der Seelen blieb in der That ſein
hauptſächliches Geſchäft, bei dem ihn weder die Arbei—
ten nach außen, zu denen das Verhältniß der Gemeinde
ſelbſt Anlaß gab, noch die ſonſtigen Aemter und Pflich-⸗
ten, die ihm oblagen, zerſtreuen konnten. Die Helfer
der Gemeinde verſammelten ſich täglich bei ihm, um
nach jedesmaliger Kenntniß den Gang jeder einzelnen
Seele näher zu beſprechen, das Zweckmäßige zu bevas |
then, das Merkwürdige kurz aufzuzeichnen. Ein andres
Geſchäft machte er ſich mit den kleinen Knaben, die er
insgeſammt mit ihren Lehrſtunden und Arbeiten auf
fein Vorzimmer verſetzte, wo er fie denn jeden Augen—
blick beſuchen, unterrichten, und nach ihren Umſtänden
einzeln befragen konnte; dies war jedoch nicht von
Dauer, da ihm das Maß einer richtigen Behandlung
dieſer Kinder, deren gewöhnliche Unarten ihn gleich zu |
ſehr betrübten, nicht zu Gebote ſtand. Deſto glücklicher
war ſein Sinn und Takt bei dem bedenklichen Beſuche,
welchen erſt Rock und dann Tuchtfeld in Herrnhut
machten; ſie konnten durch ihre Sonderbarkeiten viel
Verwirrung anſtiften, und doch wollte er ſie nicht grade
mißbilligen. Indem er ihnen nun ohne Mißtrauen
freie Bahn ließ, aber einfach und würdig ihnen gegen—
überſtand, nahmen auch jene mehr Haltung an, und
ſprachen ſich in ihren Vorträgen nur allgemein erbau⸗
baulich aus; ein paar Inſpirationen, welche Rock in
Herrnhut hatte, gingen ohne Aufſehn vorüber, obwohl
eine derſelben hart auf Rothe zu deuten war, der in
ſeine Predigten ſtets gern etwas Anzügliches gegen den
Grafen und die Gemeinde einmiſchte; man ſuchte das
Gute heraus, und ließ das Seltſame unbeachtet. So
verzog ſich der Beſuch ohne merklichen Eindruck, und
ö die befürchtete Störung unterblieb. Die Gemeinde,
mit Rothe nicht ganz zufrieden, und von Bertholdsdorf
im Winter durch ſchlechte Wege oft abgeſchnitten,
wünſchte jetzt auch einen eignen Prediger. Der Graf
hatte ſchon den Magiſter Steinhofer von Tübingen be—
rufen, aber die von Dresden eingeholte Erlaubniß be—
dingte, daß der Prediger für Herrnhut dort nur als
der Subſtitut Rothe's auftreten dürfe, wahrſcheinlich
um deſto ſichrer zu ſein, daß alles im Lutheriſchen Ge—
leiſe bliebe; weil aber Rothe gar keinen Subſtituten
wollte, ſo konnte die Sache nicht zu Stande kommen.
Für Herrnhut eröffnete ſich dagegen auf einer andern
Seite ein unabſehbares Gebiet eigner Wirkſamkeit durch
den inzwiſchen bei vier jungen rüſtigen Brüdern gereif—
ten Entſchluß, als Boten des Heilands zu den Neger—
ſklaven in Weſtindien und zu den Grönländern zu gehn.
Des Grafen Erzählungen, nach ſeiner Rückkehr aus
Dänemark, von dem ungluckſeligen Zuſtande jener Halb-
wilden, und darauf der Beſuch eines in Kopenhagen
getauften Mohren in Herrnhut, der ſeiner Brüder Elend
mit heißem Antheil ſchilderte, waren die erſte Anre-
gung jenes Vorhabens geworden, das ohne wechſelſei⸗
Biographiſche Denkmale. V. 11
ͤũ— —H HH ¶ — — —v—ꝛytᷣ—ᷣ — —— —— 4 B1C——h EERN
> 162 88
tige Beſprechung gleichzeitig in den Gemüthern ent⸗
ſtanden war. Die Sache wurde mit großer Ueberle⸗
gung berathen, ihre Wichtigkeit im ganzen Umfang ein—
geſehn. Zinzendorf wollte keinen im Glauben noch Un—
befeſtigten, keinen ſeines Berufes noch irgend Unſichern,
zu ſolcher Heidenbotſchaft entlaſſen, geſchweige denn je=
manden dazu bereden; die geringſte Reue, das leiſeſte
Wanken, ſollte den ſchon verkündigten Vorſatz aufheben.
Allein jene Brüder beſtanden feſt auf ihrem Sinn, und
nach gehöriger Prüfung traten Leonhard Dober und
David Nitſchmann im Auguſt 1732 die Reiſe nach der
weſtindiſchen Inſel Sankt Thomas an, denen im An-
fange des folgenden Jahres Chriſtian David und zwei
Gebrüder Stach nach Grönland in gleichem Berufe
nachfolgten. Dies war der Beginn des in der Folge
ſo ausgebreiteten und ſegenreichen Miſſionsweſens der
Brüdergemeinde. Den Bruder Leonhard Dober hatte
der Graf, um ihn näher kennen zu lernen und zu prü=
fen, vorher auf eine Reiſe mitgenommen, die er im
Frühjahr in Thüringen und Franken gemacht. In Neu⸗
ſtadt an der Aiſch beſuchte er den Superintendenten
Steinmetz, der ſchon den Ruf als Abt nach Kloſter
Bergen erhalten hatte, und traf daſelbſt auch den Pro—
feſſor Reuß von Tübingen, der auf Zinzendorf's Em—
pfehlung von dem Könige von Dänemark zum Hofpre—
diger nach Kopenhagen berufen war. In Jena, Saal⸗
feld, Baireuth, Nürnberg, und zuletzt in Ebersdorf,
hielt er gewohnten Verkehr mit Freunden und From⸗
e 163 &-
men jedes Standes. Begleitet von Profeſſor Reuß
und den Brüdern, welche die Wanderung mit gemacht,
war er am 20. Mai 1732 in Herrnhut zurück.
| Im Laufe des erwähnten Sommers ereignete ſich
| eine neue Verwickelung, die für Zinzendorf und ferne
Anſtalten gefährlich wurde. Die in Großhennersdorf
aufgenommenen Böhmen geriethen mit der Freiin von
Gersdorf in Streit, fie widerſetzten ſich den Verord—
nungen, nach welchen ſie nicht mehr über die Gränze
| gehen, keine großen Verſammlungen halten, keine Aus⸗
legungen der Bibel machen ſollten, noch weniger woll—
ten ſie der Gutsherrſchaft unter ſolchen Umſtänden den
Eid der Unterthänigkeit ſchwören, was jene verlangte,
weil ſie dieſelben nur als ihre Unterthanen behalten
und vertreten konnte. Einige der Widerſpenſtigen,
| weie im Gegentheil ein beſonderes Gemeindeweſen
mit eigner Kirche, Predigern, Gerichts- und Verwal—
|
|
tungsfreiheiten zu fein begehrten, wurden in Verhaft
genommen, andre aus dem Orte verwieſen. Darüber
zogen die Böhmen haufenweiſe von Großhennersdorf
ab, und nahmen ihre Zuflucht gleich nach Herrnhut, wo
ſie alle Häufer füllten, und zum Theil auf der Straße
lagerten. Alle Rückſichten der Weltklugheit geboten dem
Grafen, dieſe Leute nicht aufzunehmen; aber fie waren
in tiefſter Armuth, führten viele Schwerkranke mit ſich,
und konnten überdies ihre Noth in fremdartiger Sprache
kaum verſtändlich machen; dies genügte dem ächten
Chriſten, ſie wenigſtens unterzubringen, ihnen leiblich
11 *
164 8
und geiftlih nach Kräften beizuſtehn. Als jedoch die
Freiin von Gersdorf ihr Recht an dieſe Leute nicht
aufgeben wollte, mußte Zinzendorf, der ihrethalben an
ſeine Tante geſchrieben hatte, ihnen die Rückkehr an—
rathen, wenigſtens ferneren Aufenthalt in Herrnhut ver
ſagen. Sie wollten aber ein andres Unterkommen ſu⸗
chen, und hofften ſolches in Berlin zu finden, wohin ſie
ihren Prediger Liberda mit acht Männern als Bittende
an den König Friedrich Wilhelm den Erſten ſandten.
Günſtige Ausſicht als ſchon ertheilte Bewilligung deu
tend, riefen die Harrenden indeß aus Böhmen andre
Schaaren herbei, und machten ſich in getheilten Zügen
auf den Weg; aber an der brandenburgiſchen Gränze
wurden ſie vorläufig noch zurückgewieſen, in Sachſen
durften ſie auch nicht bleiben, und ſo irrten ſie arm—
ſelig in jener Gegend umher, manche wurden verhaf—
tet, viele kamen in der Wintersnoth um, andre ſchlichen
einzeln in das innere Land zurück, die meiſten aber ge-
langten dennoch unvermerkt nach Berlin, wo der König
ſich ihrer annahm, ihnen auf der Wilhelmsſtraße Woh-
nungen einrichten und in der Folge eine Kirche bauen
ließ; ſie hielten ſich fernerhin, obgleich ſie früher ſich
zu den Brüdern geneigt hatten, zum Lutheriſchen und
theils auch zum reformirten Glauben; die eigentliche
böhmiſche Brüdergemeinde in Berlin und Rüdersdorf
entſtand erſt ſpäterhin aus andern Anſiedlern. Wie⸗
wohl nun jene Bewegungen mit Herrnhut keinen eigent-
lichen Zuſammenhang hatten, ſo verurſachten ſie doch,
3» 165 ao
wie die gleichzeitige Auswanderung der um des Glau—
— —— —
bens willen verfolgten Salzburger, welche in Preußen
Aufnahme fanden, die nachtheiligſten Rückblicke auf je-
nen Ort, und man wollte in Zinzendorf einen Haupt-
urheber und Beförderer aller ſolcher Störungen ſehn;
viele Perſonen urtheilten falſch aus Unkunde, andre be—
nutzten wiſſentlich den Anſchein, um gegen den Grafen,
deſſen Frömmigkeit und Tugend ihnen zum Aergerniß
war, ſcharfe Maßregeln hervorzurufen. Sie erfolgten
auch in der That. Bald nach der Rückkehr von einer
zweiten Reiſe, die er in dieſem Jahre nach Ebersdorf,
um daſelbſt in der Gemeinde der Erweckten einige aus—
gebrochene Störungen zu ſchlichten, und gelegentlich
auch wieder nach Jena und Halle gemacht, erhielt er
einen Königlichen Befehl, ſeine Güter zu verkaufen.
Dahin hatten ſeine Freunde die Sache gemildert, denn
es war im Betrieb geweſen, ihn als einen gefährlichen
Mann feſtzunehmen, und auf den Königsſtein zu ſetzen;
jener Befehl, hieß es, ſei eine Andeutung für ihn,
außer Landes zu gehn, er möchte nicht ſäumen, den
Wink zu befolgen, denn einmal in Verhaft dürfte er
lange darin bleiben müſſen. Das Beiſpiel Liberda's,
der in das Zuchthaus nach Waldheim abgeführt wor—
den war, durfte mit Recht ſchrecken, wenn auch ſonſt
wohl ein vornehmer Graf nicht leicht zu fürchten hatte,
mit einem armen wandernden Prediger in gleichem
Falle, der gleichen Behandlung ausgeſetzt zu werden.
Zinzendorf wußte, daß die wiederholten, dringenden
>» 166 322
Warnungen nicht ohne Grund waren, allein er hatte
ſeinerſeits nicht minder Grund, ihrer dennoch nicht zu
achten. Er gab ſeine Sache in den Willen des Hei—
lands, worauf er in ſeinem Innern die Ueberzeugung
empfing, er müſſe ſtandhaft ausharren, und nun aller
Menſchenfurcht ſo fern blieb, daß er ſogar ſeine Briefe
und Schriften ungeſichtet jeder Beſchlagnahme bloßge⸗
ſtellt ließ, obgleich darin vieles für Uebelwollende höchſt
Mißdeutbare vorkommen mußte, und ſeine Freunde die—
ſes Benehmen ganz unverantwortlich fanden.
Den Befehl wegen des Verkaufs der Güter eg:
er wunderbar genug aus freiem Antriebe bereits er-
füllt, und den längſt gehegten Vorſatz, um auch n
dieſer Seite kein weltliches Amt mehr zu haben, ſein
ganzes Beſitzthum auf ſeine Gemahlin übergehn zu
laſſen, kürzlich ausgeführt. Die Sache war in Geſtalt
eines Verkaufs geſchehen, und der Gemeinde bekannt
gemacht worden. Es kam nun alſo nur noch darauf
an, die gerichtliche Uebergabe zu vollziehen, und der
höheren Behörde das Geſchehene anzuzeigen, welche
mit dieſem denn auch, in Erwartung, daß er ſelbſt
außer Landes gehen werde, ſich begnügen ließ. Nach—
dem es unzweifelhaft geworden, daß jener Befehl durch
aus in dieſem Sinne gemeint ſei, machte der Graf nun
auch wirklich Anſtalt, ſeine Verweiſung anzutreten. Die
Heimath war ihm überaus lieb und angenehm, aber
um des Heilands willen fie zu verlaſſen, und ein Welt-
bürger zu werden, der überall ein Fremdling und überall
*
167 S
zu Hauſe iſt, konnte ihm nicht allzu ſchwer dünken;
ſelbſt den Verluſt ſeines Vermögens würde er leicht
verſchmerzt haben. Seine Geſinnung in dieſem Betreff
hatte er ſchon vorahndend ſo ausgedrückt: „Meine Ab—
ſicht geht auf gar nichts anders in der Welt, als auf
das Wohlſein der Seelen, und auf die Beförderung
einer ſolchen Herrlichkeit, die mit den Hoheiten dieſer
Welt nichts zu thun hat. Und da ich von langer Zeit
her ein armer Diener meines anbetungswürdigen Hei—
lands bin, und nichts anders wünſche noch verlange,
als daß auch ſogar mein Name bei der Welt ins Ver—
geſſen kommen möchte, und ich meine Gedanken und
Verſtand auf nichts anders gerichtet habe, als wie ich
es dahin bringen möge, daß das Leben Jeſu Chriſti
in der Seele dieſes und jenes armen Bauersmannes
herrſchen möge, ſo übergebe ich mich ſeinen Händen,
und überlaſſe es ihm, wie er es mit alle demjenigen,
was er mir anvertrauet hat, machen will. Sollten wir
um ehrlicher Urſachen willen um all unſer Hab' und
Gut kommen, weil wir nämlich einige hundert Seelen
von ihrem Elend befreit haben, ſo würde ſolches mir
und meiner Frau ſehr erfreulich ſein.“
Wie weit die Gegner ihre Maßregeln gegen Herrn—
hut ſelbſt treiben würden, war nicht abzuſehen; indeß
war der Graf und die Gemeinde ſchon darauf gefaßt,
in fremden Ländern eine neue Wohnſtatt aufzuſuchen.
Mittlerweile ging alles in gewohnter Weiſe ſeinen
Gang; die nach Grönland beſtimmten Heidenboten mach-
on 168 22
ten ſich auf den Weg; dem Grafen wurde aufs neue,
da er ſchon fortzureiſen dachte, das von ihm früher
niedergelegte Amt eines Vorſtehers der Gemeinde über—
tragen, damit ein deſto feſteres Band auch mit dem
Abweſenden geknüpft bliebe, und am 26. Januar 1733
zog er ſelber, nicht ohne inneren Kampf, in ſein erſtes
Exil, begleitet von den Brüdern Martin Dober, Jo—
hann Nitſchmann und Matthäus Mickſch. Er wandte
ſich zunächſt nach Ebersdorf, wo ungeachtet ſeines Kum—
mers er dennoch nicht ohne Nutzen war. Hier traf ihn
alsbald die Nachricht von dem in Warſchau am 1. Fe—
bruar erfolgten Tode des Königs, und dieſe Verände-
rung konnte auch auf ſeine Sache günſtig einwirken,
allein er mochte dies weder betreiben noch dableibend
abwarten, ſondern verfolgte nun lieber das inzwiſchen
gereifte Vorhaben einer Reiſe nach Tübingen, zu wel-
cher ihn Zwecke von größter Wichtigkeit beſtimmten.
Der zum Prediger nach Herrnhut berufene Magiſter
Steinhofer war in Tübingen Repetent bei der theolo—
giſchen Fakultät, und hatte derſelben, um bei ſeinem
neuen Berufe ganz ſicher zu gehn, die Frage zur Ent—
ſcheidung vorgelegt: Ob die mähriſche Brüdergemeinde
in Herrnhut, nach vorausgeſetzter Uebereinſtimmung mit
der evangeliſchen Lehre, bei ihren ſeit dreihundert Jah
ren her gehabten Einrichtungen und bekannten Kirchen—
zucht verbleiben, und dennoch ihre Konnexion mit der
evangeliſchen Kirche behaupten könne und ſolle? Die
Entſcheidung dieſer Frage durch eine angeſehene theolo—
di
169 Bo
giſche Behörde war um fo wichtiger, als ſchon immer
grade dieſerhalb der größte Zwieſpalt in den Meinun—
gen beſtand, und innerhalb wie außerhalb der Gemeinde
ihr der Vorwurf gemacht wurde, daß ſie nicht das
| reine Lutherthum fer, auf welches fie zurückzuführen
man bald der Obrigkeit, bald dem Grafen ſelbſt zur
Gewiſſensſache machen wollte. Letzterem war daher
| gleichfalls angelegen, über dieſen Punkt völlig klar zu
werden, und einen Ausſpruch zu gewinnen, auf den
| man ſich fernerhin ſtützen könnte. Um der theologiſchen
Fakultät nun, außer den ſchriftlichen Zeugniſſen, die ihr
in reicher Fülle zugefertigt wurden, noch fernere Rechen—
ſchaft mündlich ertheilen zu können, reiſte Zinzendorf in
Begleitung Martin Dober's ſelbſt nach Tübingen. Un⸗
terwegs fehlte es nicht an erbaulichem Verkehr, noch
gan Gelegenheiten zu Andachten und Vorträgen. Am
4. März trafen ſie in Tübingen ein, wo beide in des
| Profeſſors Pregizer Haus eine freundliche Aufnahme
fanden.
Hier ſchien aber ein neues Uebel ihn ernſtlich ſtö—
ren zu wollen; ſeine Geſundheit war niemals ſehr feſt,
er that nichts ſie zu ſchonen, und wenig ſie wiederher—
zuſtellen; faſt das ganze erſte Jahr ſeines Aufenthalts
in Herrnhut hatte er, wohl durch die Feuchtigkeit ſei—
ner noch friſchen Wohnung, an heftigen Zahnſchmerzen
gelitten, ſo daß er einigemal Gott um Linderung und
nicht vergeblich angefleht; ſpäter warf ſich das Uebel
ihm auf die Augen, welche durch die ſchlafloſen Nächte,
en 10 3
in denen er meiſt gearbeitet, noch beſonders angegriffen
wurden; ſein Eifer ließ ihn die rechte Beſſerung nicht
abwarten; trat ſie endlich ein, fo wollte er das Ver—
ſäumte ſchnell nachholen, und wurde auf's neue krank;
ſo kam er in keine rechte Ordnung, und machte dann
auch wieder darüber ſich Vorwürfe. Jetzt, im unglück—
lichſten Zeitpunkt, befiel ihn ein ſchmerzhaftes Fieber,
und er mußte daniederliegen. Doch für ſeinen Zweck
fand ſich unvermuthet dabei dennoch ein guter Fort—
|
gang; die Profeſſoren kamen vor fein Bette, und die
ganze Sache von Herrnhut wurde hier freundlich durch—
geſprochen; dann kamen auch Fromme jedes Standes,
ſeine erbaulichen Reden zu hören; eine Anzahl Sepa—
ratiſten vergoſſen an ſeinem Lager viele Thränen. Kaum
etwas geneſen, redete er in den Verſammlungen der
Erweckten, machte Beſuche in der Umgegend, und fand
überall eifrige Zuhörer, denen er ſich mittheilen konnte;
bei ſolcher Gelegenheit gefragt, wie man die Gemein—
ſchaft der erweckten Seelen zu Stande bringe, gab er
den kurzen Ausſpruch, es ſei ſchwer zu ſagen und leicht
zu thun, und erklärte es dahin, man brauche nur für
dieſen Zweck ebenſoviel Aufmerkſamkeit und Eifer zu
bezeigen, als die Weltkinder für ihre Zwecke. Ueberall
in Würtemberg, wurde er hoch geehrt, die angeſehen—
ſten Geiſtlichen, unter dieſen der Kanzler Pfaff, und
der gelehrte, mit Deutung der Offenbarung Sankt—
Johannis beſchäftigte Probſt Bengel, ferner ein Ma—
giſter Oettinger, der eine Art hellere und ſanftere
35H 171
Pietiſten, als die halliſchen, ſtiftete, bezeigten ihm ihren
Beifall, ihre Zuneigung. Die theologiſche Fakultät
ſetzte inzwiſchen die Prüfung des ihr vorgelegten Ge—
| genftandes lebhaft fort, und gab endlich durch ein in
aller Form ausgefertigtes Bedenken die einmüthige Be—
| jahung der aufgeftellten Frage. Mit dieſem wichtigen
Zeugniſſe verſehen, reiſte Zinzendorf in hoher Befrie—
digung von Tübingen wieder ab, und zunächſt nach
Ebersdorf. Sein Verhältniß in Sachſen hatte ſich in—
| fofern geändert, daß die neue Regierung ſogleich mil—
deren Sinn zeigte, und er daher ohne Bedenken ſchon
im Anfange des Mai nach Herrnhut zurückkehren konnte,
wo fernerhin ſich in Ruhe aufzuhalten ihm bald förm—
lich wieder erlaubt wurde; er dankte dem Kurfürſten
hiefür mit Innigkeit, und ſagte in ſeinem Schreiben,
| da er ſich fo gar nicht im Stande fehe, zu Seiner Kö—
| niglichen Hoheit Dienſt etwas beizutragen, fo wünſche
er ſich von Gott die Weisheit, auch nicht die geringſte
Gelegenheit zu Höchſtdero Mißfallen oder auch nur
mindeſten Behelligung zu geben. Der Verkauf ſeiner
Güter war genehmigt, und das Dableiben der mäh—
riſchen Auswanderer erlaubt worden, nur für die noch
in Bertholdsdorf wohnenden Schwenkfelder fand nicht
gleiche Billigkeit Statt, ſie ſollten das Land verlaſſen,
welches ſie denn auch, da ſich ihnen, nach vieler ver—
geblichen Bemühung Zinzendorf's, eine Zuflucht in Pen—
ſylvanien eröffnete, ohne Schwierigkeit ausführten. Drei
Brüder aus Herrnhut wurden ihnen nachgeſandt, um
sm 172 Di
die geknüpfte Beziehung nicht ganz aufzugeben, fon-
dern wo möglich eindringlicher zu machen, was jedoch
nicht gelang, indem die Schwenkfelder in ue Tren⸗
nung blieben.
Indeß vermehrte ſich unter allem ene die Wirk
ſamkeit von Herrnhut ſowohl in den Verhältniſſen nach
außen, als auch im Innern. Hunderte von erweckten
Wenden ſtrömten aus der Umgegend zum Beſuch her—
bei, und erbauten ſich in den neuen Glaubenstrieben,
nicht ohne Eiferſucht ihrer Geiſtlichen, die gern deß—
halb neue Unzufriedenheit gegen den Grafen in Dres-
den angeregt hätten. Zu den vertriebenen Salzbur—
gern gingen einige Brüder als Boten, um ſie zu höhe—
rer Frömmigkeit zu wecken, und eine ihnen heilſame
Annäherung zu verſuchen. Mit zahlreichen Gemeinden
und Geſellſchaften von Erweckten wurde eine herzliche
und einwirkende Verbindung unterhalten, und der Kreis
dieſes Verkehrs hatte ſich durch die Reiſe nach Schwa—
ben nur erweitert. Wieviel es auch ſchon umfaßte,
immer hatte der Graf ein friſches Herz und volle Thä—
tigkeit für jedes neue Verhältniß, das ſich ihm darbot,
und niemals mochte er einen Gegenſtand wegen andrer,
ihn ſchon erfüllender, ablehnen. Nur mit den eigent—
lichen Pietiſten wollte es durchaus nicht gelingen in
gutem Zuſammenhange zu ſtehn. Von Herrnhut war
Spangenberg nach Halle berufen worden; jetzt bewirk—
ten die dortigen Theologen ſeine Vertreibung, und er
kehrte nach Herrnhut zurück; Zinzendorf wurde beſchul—
*
e 173 S
digt, die Mißhelligkeit veranlaßt zu haben, und es ent-
ſtand eine heftige Anfeindung; er ſelbſt erließ darüber
harte Briefe, beſonders auch an den Abt Steinmetz,
und ſprach unverhohlen ſeinen Unwillen aus; doch kam
es wenig zum öffentlichen Streit, indem Zinzendorf
und ſein Freund durch eine von Seiten der Gemeinde
erlaſſene Erklärung ſich ein edles Schweigen auferleg—
ten. Spangenberg wurde darauf zum Adjunktus des
Grafen und zum Helfer in der Gemeinde gewählt, und
blieb fortan ganz in dieſer Richtung thätig. Mit un—
verdroſſenem Eifer betrieb Zinzendorf die verſchiedenen,
zunächſt auf das Seelenheil gehenden Arbeiten in der
Gemeinde. Die eingeführten Anſtalten und Gelegen—
heiten ließen das religiöſe Leben nicht erkalten, und
neue Wärme trat noch immer hinzu. Sonntags früh
pflegte er die ihm vertrauteſten Brüder und Schweſtern
in zwei nebeneinander liegenden Zimmern zu verſam—
meln, und in der Thüre ſtehend, nach beiden Seiten
zugleich ſeinen Vortrag zu richten, wie grade die Ta—
gesumſtände ihn eingaben; oft auch lag man auf Knieen
und Angeſicht betend und weinend in der Stille, oder
ſang einen Liedervers. Die Anziehung dieſer herrn—
hutiſchen Erbauungsweiſe war ſehr groß. Einſt an
einem Bettage geſchah es, daß ein Abtrünniger, der
von Herrnhut nach Großhennersdorf gezogen war, und
ſehr viel Böſes gegen den Grafen und die Gemeinde
verübt hatte, krank und elend voll Reue ſich in die ver—
ſammelte Gemeinde tragen ließ, ſeine Sünde bekannte,
29 174 2
und um Wiederaufnahme bat, die ihm durch die Für—
bitte des Grafen, der ihn gerührt umarmte und küßte,
unter vielen beiderſeitigen Thränen auch gewährt wurde.
Unter den kleinen Kindern, den Jungfrauen, den
Wittwen, den ledigen Brüdern, und ſo faſt in allen
Chören, war der Graf geſchäftig, die Liebe des Hei
lands recht zu gründen und zu erhalten; doch zeigte er
nicht für jede dieſer Abtheilungen gleiches Geſchick,
ſeine zu große Strenge verſchüchterte und verſtockte die
Kinder, und als er dies verbeſſern wollte, übertrieb es
ſeine Nachſicht wieder; auch die Entwickelung und den
Beruf der Jünglinge beurtheilte er oft voreilig, und
traute ihnen mehr zu, als fie leiſten konnten; im All—
gemeinen und Ganzen aber zeigte er große Menſchen—
kunde, die er auch im Einzelnen ſehr vermehrte, indem
er gern eines jeden innere Zuſtände vernahm, und auch
ganze Abtheilungen der Reihe nach abhörte, was auch
öfters der Gemeinde insgeſammt widerfuhr. Nicht
minder legte er der Gemeinde auch ſeinen eignen Zu—
ſtand dar, rügte ſeine Fehler, und ſtrafte ſich wohl gar,
Andern zum Beiſpiel, durch Ausſchließung vom heiligen
Abendmahl. In beſondre Verlegenheit brachte ihn ein
Geſuch aus Kopenhagen; der Oberkammerherr von
Pleß, ökonomiſche Zwecke mit religiöſen vereinigend,
wünſchte für die Zuckerplantagen, die er auf der weſt—
indischen Inſel Santa-Cruz anlegen wollte, eine An-
zahl Brüder zu Aufſehern, wobei denn zugleich das
Chriſtenthum unter den arbeitenden Negerſklaven beför—
i
i
- rn 175 8
dert werden konnte. Die Beſchäftigung mit Dingen
weltlichen Vortheils, ſofern fie über perſönlichen Ar—
beitserwerb hinausging, war dem Grafen bedenklich,
doch weil die Sache in der Gemeinde Beifall erhielt
und Hoffnungen weckte, ſo wollte er ſie nicht gradezu
hindern. Nach vielen Unterredungen und Prüfungen,
|
i
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|
in welchen er die zur Reiſe erbötigen Brüder, nach
vergeblichem Abrathen, ſorgfältig ermahnt und unter—
wieſen hatte, wurden vierzehn Brüder, worunter vier
verheirathete, die ihre Frauen mitnahmen, nach Kopen—
hagen abgefertigt, um von da ihrer weiteren Beſtim—
mung zu folgen. Dieſe Miſſionsſache, das Ungewiſſe
der landesherrlichen Aufenthaltserlaubniß für die ur—
ſprünglichen Ausländer, und der noch immer unruhige
Zweifel über das Verſchmelzen mähriſcher Kirchenzucht
mit Lutheriſchem Glaubensbekenntniß, vereinigte ſich in
dem praktiſchen Sinn des Grafen zu einem Geſammt—
anlaß, eine wichtige Anordnung zu treffen, welche in
allen erwähnten Beziehungen überaus zweckmäßig er—
ſchien. Er ſchied nämlich die Bewohner von Herrnhut
in zwei Haupttheile; zu dem einen gehörten hauptſäch—
lich die Eingeborenen und Lutheraner, ſämmtlich zum
Bleiben mehr geneigt und berechtigt, und auf ein ſtilles
Leben in Fleiß und Gottſeligkeit angewieſen; der andre
begriff die Eingewanderten aus Mähren und andre
Fremdlinge, ſchon durch ihr bisheriges Geſchick zu einem
Zeugenvolke geweiht, und daher zum Pilgern und Dienſt—
berufe des Heilands vorzugsweiſe auserſehn. Jeder
a 3.) 176 Fe
Theil bekam feine beſondern Verſammlungen, Helfer
und Arbeiter; doch in andern Beziehungen galt wieder
mannigfache Gemeinſchaft, fo daß überall Zufammen-
gehöriges, aber nirgends Getrenntes war.
Jetzt wollte Zinzendorf auch fein langgenährtes
Vorhaben, in den geiſtlichen Stand zu treten, endlich
ausführen. Er trug die Sache zuerſt den Aelteſten
und Helfern der Gemeinde vor, wo ſie aber nur Zwei—
fel und Einwendungen fand; noch ſtärker rieth ihm
ſeine Gemahlin ab, deren Zuſtimmung er bei einem
ſolchen Schritte nicht entbehren mochte. Doch alle Ge—
gengründe wichen zuletzt vor dem göttlichen Ruf, den
er bekannte, das Evangelium zu predigen, und zwar in
der Kirche und von der Kanzel herab, als welche Orte
die Verkündigung geſegneter machten. Zuletzt wurde
dem Heilande die Entſcheidung überlaſſen, und das
Loos entſchied bejahend. Als man noch die Ausfüh—
rung überlegte, kam ein Schreiben aus Stralſund von
einem dortigen Kaufmann Richter, der für ſeine Kin—
0
der einen Hauslehrer von Herrnhut wünſchte. So
gleich war Zinzendorf entſchloſſen, und nahm für ſich
ſelbſt dieſen Ruf an, der ihm den nächſten Weg zum
Predigtamte zu eröffnen ſchien; er ließ nur in Kürze
antworten, es werde der Berufene kommen, und trat
dann, mit Zuſtimmung der Gemeinde, am 17. März
1734 ſeine Wanderung wirklich an. Anfangs reiſte er
mit eignen Pferden, dann mit dem Poſtwagen. Unter-
wegs mußte er über den Grafen von Zinzendorf viel
m
Pe a"
sn 177 2
Arges anhören, und durfte doch kaum etwas entgegnen,
wenn er ſich nicht verrathen wollte. Nach zwölftägiger
Reiſe traf er in Stralſund ein, ging unter dem Namen
Ludwig von Freideck — von einem ſeiner Titel ent⸗
lehnt — zuerſt zu dem Superintendenten Langemack,
dem er als ein fremder Kandidat ſein Vorhaben wegen
des Predigtamtes eröffnete, und dann zu dem Kauf-
mann in's Haus, wo er ſich ſogleich in ſein angenom-
menes Verhältniß ſchickte, und den Kindern, ſchlechtweg
als Herr Ludwig, Unterricht ertheilte. Es währte nicht
lange, ſo übertrug der Superintendent, welcher durch
Krankheit verhindert war, dem vermeinten Kandidaten
eine Predigt, und Zinzendorf hielt auf dieſe Weiſe am
11. April ſeine erſte öffentliche Kanzelrede. Seine
Stimmung dabei war, wie er ſelbſt ſchrieb: „Armuth
und Ohnmacht bis zum Verſinken, und ſodann ein ſo
herzlicher Beweis der Gnade, mit ſolchen zur Sache
dienlichen Ausdrücken als noch niemals;“ auch gefiel
ſeine Predigt ſehr. In weiteren Geſprächen mit Lange—
mack ergab ſich, daß dieſer grade eine Schrift zur
Widerlegung Zinzendorf's und der Herrnhuter ausar—
beitete, die er jedoch nur durch die Schriften ihrer
Gegner kannte; der Graf gab ihm die nöthigen Auf—
ſchluſſe, theilte ihm die eignen Schriften mit, und
konnte alsbald ohne Bedenken ſich ſelbſt und feine Ab—
ſichten völlig zu erkennen geben. Er fand die beſte
Aufnahme, und alles wurde nun raſch in's Werk ge—
ſetzt. Langemack unterwarf mit Zuziehung des Doctor
Biographiſche Denkmale. V. 12
—. 8 178 a
Sibeth, eines nicht minder angeſehenen Gottesgelehr—
ten, den Grafen einem mehrtägigen ſtrengen theolo—
giſchen Examen, prüfte deſſen Schriften und Meinun-
gen, letztere nach zum Theil neuen und für dieſen Zweck
eigends und ausführlich verfaßten Darlegungen, wozu
auch noch vier Predigten kamen, welche der Graf im
Laufe dieſer Verhandlungen hielt, und ertheilte demſel—
ben hierauf ein von Sibeth mitunterſchriebenes aus—
führliches Zeugniß der Rechtgläubigkeit. Hiebei war
auf manche paradoxe Aeußerungen, auf die ehmalige
Billigung verdächtiger Lieder, welche man ihm zum
Vorwurf machen wollte, ſo wie auf ſeine beſondern
Meinungen vom Eheſtande, vom Fußwaſchen, vom Va—
terunſer, welches Gebet er als ein bei beſtimmtem An—
laß beſtimmten Perſonen empfohlenes nicht allgemein
und täglich gebraucht wiſſen wollte, und anderem der—
gleichen, Rückſicht genommen, und alles dies als Dinge
bezeichnet, welche der Hauptſache, daß er reinen evan—
geliſchen Sinnes und Glaubens ſei, keinen Abbruch
thäten.
Mit dieſem Zeugniſſe begab ſich Zinzendorf, nach—
dem er noch zwei durchreiſende Brüder, die nach Lapp—
land als Heidenboten gingen, zu Schiff gebracht, und
zuletzt auch ſeinem Hausherrn, zu deſſen großer Ver—
wunderung, den ganzen Zuſammenhang entdeckt hatte,
freudig auf die Heimreiſe, und traf den 8. Mai glück-
lich in Herrnhut ein. Hier ſchrieb er an den Superin—
tendenten Löſcher nach Dresden, und theilte demſelben
HH 179 Bo
das Geſchehene mit; dieſer antwortete bedenklich, worauf
aber Zinzendorf in ferneren Briefen ſeine Sache ge—
nauer darlegte, und unter andern ſagte: „Was mein
Talent betrifft, ſo iſt mein Sinn von Jugend auf dar—
auf gerichtet, Seelen zu Jeſu zu bereden, und ich kann
mich unter die Prophetenknaben zählen.“ Auch von
Kopenhagen, wohin er ſein Vorhaben gemeldet, erhielt
er keine beifällige Antwort; allein ihn konnte nichts irre
machen. Seine nächſte Sorge war, wo möglich auf
ſolche Weiſe in den geiſtlichen Stand öffentlich einzu—
treten, daß die Vorurtheile der Welt nicht zu hart an—
geſtoßen würden, wobei auch der däniſche Orden, wel—
chen er noch trug, — den Degen hatte er in Stral—
ſund für immer abgelegt, — beſonders zu beachten
war. Hiezu ſchien eine Gelegenheit in Würtemberg
ſich darzubieten, wo es proteſtantiſche Prälaten gab.
Er ſandte daher den Bruder Spangenberg nach Stutt—
gart, mit dem Geſuch an den Herzog von Würtem—
berg, derſelbe möchte ihn zum Prälaten des verfallenen
Kloſters Sankt-Georgen ernennen, welches er alsdann
auf eigne Koſten herſtellen und zu einem theologiſchen
Seminarium einrichten wollte. Der von der proteſtan—
tiſchen Kirche zur katholiſchen übergetretene Herzog Karl
Alexander ging jedoch auf die Sache nicht ein, weil er
ein zu großes Aufſehn und ſelbſt ein Mißtrauen der
katholiſchen Geiſtlichkeit, als wende er ſich wieder den
Evangeliſchen zu, befürchtete. Inzwiſchen hatte Span—
genberg mit dem Kanzler Pfaff in Tübingen nähere
12 *
> 180 B&>-
Verhandlung angeknüpft, und ihn ſchriftlich gefragt, ob
es denn dem Grafen mit einigem Schein der Billig—
keit zu verdenken wäre, wenn er ganz einfach den Stand
eines Geiſtlichen annähme? Der Kanzler gab hier—
über ein umſtändliches Gutachten im Namen der theo—
logiſchen Fakultät, worin es unter andern hieß, wenn
es in der römiſchen Kirche nicht lächerlich ſei, daß auch
große Fürſten geiſtliche Aemter bekleideten und predig—
ten, ſo würden ja die Evangeliſchen nur wunderlich
fein, dies einem gottſeligen Grafen zu verargen, der
noch dazu hier in ganz andern und rechtſchaffenen Grün—
den ſtehe, und, während jene Hoheit und Intereſſe ſuch—
ten, die Hoheit ſeines Standes um Jeſu willen hie—
durch lauterlich verläugne. Spangenberg meldete vor
ſeiner Abreiſe nach Georgien, wohin er eine Brüder—
kolonie begleitete, dieſe günſtigen Umſtände dem Grafen.
Dieſer, der ſchon dem würtembergiſchen Kirchendirek—
torium nach Stuttgart geſchrieben hatte, daß er im
Namen Gottes den Entſchluß gefaßt, mit Ergreifung
des geiſtlichen Standes, nach dem apoſtoliſchen Exem—
pel 1. Kor. 16. ſich ſelbſt zum Dienſt zu verordnen,
reiſte darauf ſelbſt nach Tübingen, übergab der theo—
logiſchen Fakultät eine lateiniſch geſchriebene Erklä—
rung ſeines Berufs und Wandels, und wurde darauf
am 19. Dezember durch ein Programm der Fakultät,
welche ſich auf ihre eignen früheren Unterſuchungen
und auf das Zeugniß von Stralſund hiebei ſtlützte,
förmlich in den geiſtlichen Stand aufgenommen. Gleich
> 181 N22
an demſelben Tage predigte er in Tübingen zweimal
öffentlich. 5
Nach feiner Rückkunft in Herrnhut, die am Neu-
jahrstage 1735 erfolgte, trat er in ſeine gewöhnlichen
Beſchäftigungen wieder ein. Er führte mit nachdrück—
licher Ermahnung den Bruder Leonhard Dober, welcher
dazu aus Weſtindien zurückberufen worden, an die
Stelle des verſtorbenen Martin Linner in das Aelteſten—
amt ein, deſſen ausgedehnte Wirkſamkeit alle Brüder,
wo fie auch immer fein mochten, ja die nachherigen
Biſchöfe ſelbſt, umfaßte, und verſprach, gleich allen
Andern, ihm Ehrerbietung und Gehorſam. Mit Dober
war auch ein junger Neger, der nachher feierlich ge—
tauft wurde, und auch der Zimmermann David Nitſch—
mann der Aeltere, aus Weſtindien gekommen. Uebri—
gens waren die Nachrichten von den ausgeſandten Hei—
denboten nicht erfreulich; von den nach Santa-Cruz
gegangenen Brüdern und Schweſtern waren ſchon
über die Hälfte geſtorben, was einen übeln Eindruck
machte, und gegen den Grafen, der doch ſelbſt das
Unternehmen wenig gebilligt hatte, viele Mißur—
theile veranlaßte. Aber noch andre Schwierigkeiten,
an welche man bisher nicht gedacht, ſtellten ſich dem
Bekehrungswerk entgegen. Die ausgeſandten Boten
waren meiſt unſtudirte Handwerker, ohne geiſtliche Weihe,
gleichwohl geriethen ſie ſofort in den Fall, die Taufe
zu verrichten und das Abendmahl auszutheilen, zu wel—
chen Handlungen, wenn auch nicht die Gemeinde,
29 182 Ge
doch gewiß jede fonftige geiftliche und weltliche Be—
hörde ihnen alle Befugniß abſprechen durfte. Zinzen-
dorf überlegte mit ſeinen Vertrauten, wie hier zu hel—
fen ſei, und da man nicht hoffen konnte, daß irgend ein
Lutheriſches Konſiſtorium ſolche Brüder zu Geiſtlichen
würde ordiniren wollen, ſo beſchloß man, hiezu in eig—
ner Mitte eine Behörde aufzuſtellen. Die alten mäh—
riſchen Brüder hatten Biſchöfe, welche durch Hände—
auflegen die geiſtliche Weihe ertheilen konnten, es kam
nur darauf an, auch in Herrnhut für die auswärtigen
Brüdergemeinden einen Biſchof einzuſetzen. Nachdem
das Vorhaben durch das Loos die Beſtätigung des
Heilands erlangt, ſchrieb Zinzendorf nach Berlin an
den Oberhofprediger Jablonski, als damaligen älteſten
Biſchof der Brüderkirche, trug ihm die Sache vor, und
empfahl ihm zugleich den vorerwähnten David Nitſch⸗
mann, für welchen ſich die Ueberlegungen und Prüfun—
gen entſchieden hatten. Der alte Jablonski war hoch—
erfreut über dieſen Antrag, zog ſeinen Kollegen zu Liſſa
in Großpolen, den Biſchof Sitkovius, hinzu, und nach—
dem er den Kandidaten näher kennen gelernt und ge—
prüft, ertheilte er demſelben feierlich die Weihe zum
Biſchof und alle Vollmachten, welche mit dieſem Amte
verbunden ſind. Ein großes Hinderniß war auf dieſe
Weiſe für das auswärtige Wirken hinweggeräumt, aber
eine andre Verlegenheit ſtellte ſich dafür ſogleich in
der Heimath ein. Es entſtand nämlich die Frage, wie—
fern die Gemeinde von Herrnhut, nachdem ſie einen
e 183 42
Biſchof in ihrer Mitte habe, noch in Verbindung mit
der Gemeinde und Kirche von Bertholdsdorf bleiben
könne? Die Abtrennung von dieſer wurde zugleich
eine Aufhebung der Gemeinſchaft mit der Lutheriſchen
6 Kirche, und dies wäre in allem Betracht unerſetzlicher
Schaden geweſen; daher die Gegner um ſo mehr eine
nothwendige Folgerung daraus machten, und die Sache
ein bedenkliches Anſehn erhielt. Zinzendorf erklärte
zwar ausdrücklich, daß der Prediger in Bertholdsdorf
nach wie vor auch für Herrnhut gelte, und widerlegte
auch ſchriftlich manche Beſchuldigungen, welche öffent—
lich gegen ihn vorgebracht waren. Indeß hatten doch
ungünſtige Eindrücke auch bei ſonſt Befreundeten Raum
gewonnen, und dies beſonders in Kopenhagen, wo die
Verhältniſſe ihm ſo wichtig dünkten, daß er deßhalb
ſelbſt dahin zu reiſen beſchloß.
Von David Nitſchmann begleitet kam er am 8. Mai
1735 dort an. Seine Gegenwart hielt ſeine Feinde
im Dunkeln, die Beſchuldigungen verſchwanden, und
der Hof, zuvorkommend und freundlich wie ſonſt, ließ
deßhalb den Vorſchlag, welchen er ſelbſt dem Grafen
gemacht hatte, das Mißtrauen einiger Theologen durch
ein Kolloquim zu beſeitigen, wieder fallen. Unbefrie—
digt durch dieſe Wendung reiſte Zinzendorf nach acht
Tagen von Kopenhagen wieder ab, nahm den Rückweg
durch Schweden über Malmoe und Aſtadt, wo er ſich
einſchiffte, und kam ohne weiteres Begebniß ſchon am
28. Mai wieder in Herrnhut an. Da er in Malmoe
ch 184 Bo
einige Beſuche gemacht und empfangen, und in Aſtadt
längeren Aufenthalt zu beabſichtigen, worauf der Be—
fehl erging, es ſolle ihm dies, der ſchon von Kopen-
hagen wegen ſeiner Irrthümer weggewieſen worden,
nicht verſtattet werden. Als er hievon in Herrnhut
Nachricht empfing, glaubte er ſo viele falſche Angaben
nicht unberichtigt laſſen zu dürfen, und verfaßte daher
ein ausführliches Schreiben an den König von Schwe—
den, worin er die Uebereinſtimmung der Brüder mit
der augsburgiſchen Konfeſſion gründlich erörterte, und
ſich und die Seinigen gegen die mannigfachſten Ankla=
gen vertheidigte; dieſes Schreiben ließ er ſpäter drucken,
und auch andern Königen und Fürſten zufertigen, ſo
ö
mehrere Tage auf guten Wind gewartet hatte, ſo war
über ihn nach Stockholm berichtet und dort der Irr-
thum veranlaßt worden, er ſcheine in Schweden einen
wie in Regensburg an ſämmtliche Reichstagsgeſandte
austheilen. An den König von Preußen ſandte er
daſſelbe unter dem 14. Februar mit folgendem Beglei—
tungsbriefe, den wir zum erſtenmale dem Druck hier
zu übergeben begünſtigt ſind: „Allerdurchlauchtigſter
großmächtigſter König, allergnädigſter König und Herr!
Das glückſelige Loos meines Lebens, unter lauter Bauern
und Exulanten zu wohnen, hat mich wohl gegen die
Hohen dieſer Erde ziemlich fremde gemacht, und wenn
ich zugleich die Seligkeit genöſſe, in meiner lieben
Stille gelaſſen zu werden, ſo wollte ich mich gern da—
mit begnügen, jedem Geſalbten des Herrn den Segen
des Herrn zu wünſchen, und meinem theuerſten Lan-
desherrn überdies mit zärtlichſter Unterthanstreue zu
den Füßen zu liegen, ohne ein oder andere unter den
Majeſtäten mit meinem geringen Namen und Zeilen
zu behelligen. Allein, allergnädigſter König und Herr,
|
da ich wahrnehme, daß fih viel Menſchen bemühen,
mir Glimpf und Namen zu brechen, und dadurch nicht
ſowohl mich, als meine liebe mähriſche Brudergemeinde
zu ruiniren, ſo finde ich mich im Gewiſſen verbunden,
ein unterthänigſtes Gegenwort zu ſprechen, wo es zu—
weilen erforderlich ſein will. Die Gelegenheit dieſer
beiliegenden Schrift war, daß, nachdem man Ihro
Majeftät den König von Dänemark zu bereden geſucht,
ich ſei irrig und verfübriſch, und werde deßhalb aus
den ſach ſiſchen Landen geſchaffet werden, welches ohne
allen Grund war, und damit einige Motus in Kopen⸗
hagen erreget, ſo hatte man kurz darauf den König in
Schweben, ober den Senat oder auch was ein Kolle—
gium daſelbſt, das nomine regis ſchreibet, abermals da=
mit geblendet, als ob ich Ketzerei halber aus den dä—
niſchen Landen vertrieben worden. Hierauf reſolvirte
man daſelbſt etwas hurtig, mir dergleichen consilium
abeundi aus Schweden zu geben, und die supposita
aus Sachſen und Dänemark waren irrig. Weil ich
nun faſt beſorgen muß, man werde auch Ew. Majeſtät
nach und nach ſolche Inſinuation von mir und meiner
Gemeinde zu machen ſuchen, welche mein etwa vor
Standesperſonen, die in weltlichen otficüs bereits
—
geſeſſen, nicht allzu gewöhnliches Amt eines evange—
liſchen Predigers ſchmälern können, fo habe dieſe ein-
fältige und wahrhaftige Schutzſchrift auch zu Ew. Ma-
jeſtät Füßen niederlegen und allerunterthänigſt bitten
wollen, wenn etwa von mir etwas zu wiſſen wäre
(denn außerdem wollen Ew. Majeſtät ſich mit Leſung
dieſer Blätter nicht beſchweren,) ſolche des Anſehens
zu würdigen. Ich bin nun 24 Jahr und drüber darin-
nen begriffen, zu thun was ich heute thue, nämlich mei—
nen theuren Heiland, den ich liebe als mein Leben, je—
dermann ſüß zu machen, daraus iſt noch nirgends keine
Unordnung entſtanden, obgleich bis in dieſes mein 35ſtes
Jahr gar ſehr viel Verfolgung erfahren, wofür ich den
Herrn preiſe, und gegen keinen Menſchen etwas habe;
o daß fie alle ſelig würden! Ich depreeire mit tief—
ſtem Reſpekt meine genommene Freiheit, und werde
mit der größten Submiſſion verbleiben lebenslang Ew.
Königlichen Majeſtät allerunterthänigſt gehorſamſter Die—
ner Ludwig Graf und Herr von Zinzendorf.“ Seine
Thätigkeit in der Gemeinde, ſein Antheil an den Er—
bauungen, ſeine Beſeelung und Vermannigfaltigung der—
ſelben, blieben ſich ſtets gleich. Auch als Schriftſteller
wirkte er unabläſſig; ſeine Gedichte, ſeine kleineren
Aufſätze, kamen theils einzeln, theils geſammelt her-
aus; es erſchien ein Geſangbuch für die Gemeinde von
Herrnhut, von welchem in der Folge noch die Rede
ſein wird; es wurden Verſuche gemacht, die Bibel zu
erklären, auch wohl in einzelnen Stücken neu zu über-
m 18T ER
ſetzen, was jedoch, wegen des Vorzugs, welchen nach
Aller Geſtändniß die Arbeit Luther's immer behaup—
tete, bald wieder aufgegeben blieb. Aber auch im In—
nern des Herzens und Geiſtes war ſeine Regſamkeit
in dieſer Zeit zu neuen Stufen emporgeſtiegen. Durch
mancherlei Erörterungen und hauptſächlich durch Dip⸗
pel's heftigen Widerſpruch, war ihm ſchon früher die
Lehre von der Verſöhnung beſonders wichtig geworden;
er fand in dem ſogenannten Löſegelde, welches Chriſtus
für uns gezahlt, den ausſchließlichen Quell alles Heils
in Zeit und Ewigkeit, und bildete aus dieſer Ueberzeu—
gung eine neue Grundlage und einen neuen Aufſchwung
der in Herrnhut gepflogenen Gottſeligkeit. „Chriſti
Verdienſt, Löſegeld, und Genugthuung durch ſein eigen
Blut, — ſagte er, — iſt mein einiger Weg zum Him—
mel.“ Die Gnade im Blute des Heilands, ſeine Wun—
den und Male, wurden ſeitdem immer heißer ange—
ſchaut und mächtiger geprieſen, und die vervielfachten
Bilder vom Lamm, welches der Welt Sünde trägt,
und deſſen Blut alle Sünden abwäſcht, gewannen vor
allen andern Vorſtellungen ein ſolches Uebergewicht in
Zinzendorf's Reden und Schriften, und von daher in
dem ganzen Umfange der Brüdergemeinde, daß die
ſpielenden Ausdrücke einer beſonderen Andacht zum
Lamme, bald ein unterſcheidendes Kennzeichen des
Herrnhuterthums für Gegner und Angehörige wurden,
und ſeitdem ſtets geblieben ſind. 1
Die Nähe konnte ſeinen Wirkungseifer nie ganz
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befriedigen, und leicht fand ſich ein Beweggrund zu |
neuer Wanderung. Im Spätherbſte des Jahres 1735
trat er mit Genehmigung der Gemeinde eine Reiſe an,
welche ihn bis Konſtanz und Zürich führte. Gleich im
Anfange derſelben ereignete ſich ihm ein wunderbarer
Vorgang. Er war in der Gegend von Bautzen bei
einem Grafen von Gersdorf eingekehrt, und hatte mit |
dieſem bis gegen Mitternacht erbauliche Geſpräche ge-
führt; man wies ihm ſein Schlafzimmer an, ein ängſt⸗
liches Gefühl aber drängte ihn zur Abreiſe; ungewiß
was er thun ſollte, fragte er den Heiland, und da er
in ſeinem Innern deſſen Zuſtimmung erfahren, ließ er
ungeſäumt anſpannen, nahm Abſchied von ſeinem er—
ſtaunten Wirthe, und fuhr in dunkler Nacht davon.
Gleich nachher ſchlug die Zimmerdecke auf das Bett
nieder, in welchem er hatte ſchlafen ſollen, und jener
Ahndung dankte er das Leben. Von Freiberg ſandte
er einen Bruder, der ihn bis dahin begleitet hatte,
nach Herrnhut zurück, und reiſte fortan zu Fuß und
ganz allein weiter, um ſich den vertraulichen Unterhal-
tungen, die er mit dem Heilande ſo laut und eifrig
führte, als wäre derſelbe leibhaftig ſein Gefährte, deſto
freier hinzugeben. So wanderte er denn einher, edlen,
raſchen Ganges, erhobenen Hauptes, voll Gedanken und
Empfindungen, mit allem andern mehr, als mit dem
Wege, der Zeit und den Umſtänden beſchäftigt, auf
dieſe Weiſe freilich kein guter Fußreiſender; nur in
der größten Nähe ſcharfſehend, erkannte er, wenn er
| —>H 189 s.
fie überhaupt bemerkte, die Gegenſtände zu ſpät, oft
erſt, wenn er ſich ſchon geſtoßen oder in Ungelegenheit
verwickelt hatte; auch verfehlte er häufig die rechte
Straße, oder blieb bis tief in die Nacht unterwegs,
wenn er ſich den Tag über zufällig mit Leuten aufge—
halten, die ſeinen Antheil weckten. Wer ihn um Hülfe
anſprach, dem gab er nach deſſen Bedürfen, ohne ſein
eignes im geringſten zu beachten; auch kannte er die
verſchiedenen Münzſorten nicht, welche damals in Deutſch—
land häufiger als jetzt wechſelten. Oft war er ganz
entblößt, und fand nicht ſogleich die nöthige Aushülfe;
einſt bot er ganz ermattet für etwas Brot und Waſſer
ein paar Pfennige, die ihm geblieben, und wurde mit
Spott abgewieſen. Die neuen Erfahrungen dieſer Reiſe
mehrten allerdings ſeine Welt- und Menſchenkenntniß,
ohne doch feinen Eifer zu ſchwächen. In Konſtanz fer—
tigte er die Gemeindelooſungen für das folgende Jahr,
und ſang auf der Stätte, wo Johann Huß und Hiero—
nymus von Prag einſt, nach dem Spruche der Kirchen—
verſammlung, den Feuertod gelitten, ein Lied zu Ehren
dieſer Glaubenshelden. In Zürich, und auf der Rück—
reiſe in Nürnberg ſcheint er dem Heilande Seelen zu
gewinnen mit Erfolg beſchäftigt geweſen zu ſein. Nach—
dem er noch in Ebersdorf einige Zeit verweilt, wo die
kleine Gemeinde der Erweckten, deren jetzt auch der
als Hofprediger dorthin berufene Magiſter Steinhofer
ſich annahm, immer gern ſeine Einwirkung empfing,
kam er zum Jahresſchluß nach Herrnhut zurück, wo er
5 190 So
am letzten Dezember die Nachtwache hielt, und bis zum
folgenden Morgen um vier Uhr im Gebet zubrachte.
Er lag hierauf mehrere Tage krank danieder, vermuth-
lich in Folge der ungewohnten Beſchwerden einer Reiſe
in ſo ungeſunder Jahrszeit; allein dies konnte ſeine
Thätigkeit immer wenig hemmen. In dem Gefühl der
Demuth und Entſagung, das ihn beſeelte, that er jetzt
einen Schritt, welchen, nach der letzten lauen Aufnahme
in Kopenhagen, eben fo ſein Stolz hätte begründen kön-
nen. Gleich am 1. Januar 1736 ſchrieb er an den
König von Dänemark, um entweder deſſen Einwilligung
in ſeinen geiſtlichen Stand, oder die Erlaubniß zur
Rückſendung des däniſchen Ordens zu erbitten; als letz—
teres genehmigt wurde, ſandte er den Orden zurück,
doch aus einem Schicklichkeitsgefühl, welches ihn auch
die weltlichen Dinge nach angenommenem Werthe be—
handeln ließ, nicht an den Ceremonienmeiſter, wie ihm
angedeutet worden, ſondern an den König ſelbſt, aus
deſſen Hand er ihn vormals empfangen hatte. In die—
ſer Zeit dauerten ſeine Konferenzen mit Brüdern und
Schweſtern über das Wohl der Gemeinde oft von früh
Morgens bis ſpät in die Nacht; der Zuſtand jeder
Seele in Herrnhut wurde beſprochen, die Mittel zur
Förderung für jede beſonders überlegt; man prüfte die
mannigfachen Behandlungsweiſen, Anſtalten und Ver—
bindungen, bei welcher Gelegenheit Zinzendorf die Art
und die Schriften Luthers nachdrücklich empfahl; man
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ſtellte einige Mißbräuche ab, und neue Verpflichtungen
zum Guten wurden wechſelſeitig ausgeſprochen.
| Mittlerweile reifte bei dem Grafen ein neuer
Reiſeplan, zu welchem Spangenberg's Thätigkeit die
erſte Anregung gegeben. Dieſer hatte in Amſterdam,
als er nach Amerika reiſte, für die Handlungsſozietät
von Surinam, um ihr die künftig etwa dorthin reiſen—
den Brüder zu empfehlen, eine kurze Nachricht von
ihnen aufgeſetzt, und dem Zwecke gemäß in's Hollän—
diſche übertragen laſſen. Der Ueberſetzer, Iſaak Le-
long, für die Sache eingenommen, und zugleich auf
Erwerb bedacht, vereinigte mit dieſem Aufſatz noch an—
| dre Nachrichten und Urkunden, und gab alles zufammen
in holländiſcher Sprache unter dem Titel heraus: „Gottes
Wunder mit ſeiner Kirche.“ Das Buch machte großes
Aufſehn, und hatte zu Folge, daß viele gottfelige Per—
| fonen in Holland, angeſehene Prediger, hohe Staats-
beamte und ſelbſt die verwittwete Fürſtin von Oranien,
| an den Grafen ſchrieben, und mit ihm in Verbindung
| zu ſtehn begehrten. Das Buch war ihm nicht lieb,
| weil er in den damaligen Umſtänden für Herrnhut die
ärgſte Läſterung für weniger ſchädlich hielt, als ſolch
öffentlichen Lobpreis. Doch kam gegen ſeinen Wunſch
auch ein zweiter Theil heraus, und den neugeweckten
Lebensverhältniſſen ſelbſt konnte Zinzendorf nur Sorg—
falt und Eifer widmen. Wiederholte, dringende Ein—
ladungen beſtimmten ihn zur Reiſe nach Holland, und
ſchon am 15. Februar, nachdem er zuletzt noch alles
ee 192 & 5
reiflich geordnet, und bis tief in die Nacht über ſechzig
Perſonen einzeln geſprochen hatte, trat er feinen. Weg
an. Diesmal reiſte er nicht allein, ſeine Gemahlin und |
feine älteſte Tochter Benigna begleiteten ihn, und eine |
Anzahl von Brüdern und Schweftern vermehrten die
Geſellſchaft. In Hof, zwiſchen Meißen und Leipzig,
beſuchte er ſeinen älteren Bruder, der zwar auch ein
frommer Mann, aber ihm an Eifer und Betriebſamkeit
nicht ähnlich war. In Jena verweilte er drei Tage,
und erbaute die dortigen Frommen, die er auch der
Reihe nach einzeln ſprach, durch Reden und Lieder.
Nach fortgeſetzter beſchwerlichen Winterreiſe traf er
endlich am 4. März in Amſterdam ein, wo er gleich,
im Hineinfahren auf der Straße eine dran laut ſin⸗
gen hörte: N
„Sing, bet, und geh auf Gottes on
‚+
Verricht das Deine nur getreu,
Und trau des Himmels reichem Segen,
So wird er bei Dir werden neu!“
When Spruch er als glücklichſtes verheißendes Zei⸗ |
chen mit Rührung und Dank aufnahm.
In Amſterdam erhielt er gleich zahlreichen Beſuch
von vornehmen und geringen Leuten, ſchon irgendwie
ihm bekannten oder Bekanntſchaft wünſchenden. Eine
geräumige Wohnung wurde von ihm und den Seinigen
ganz erfüllt. Seine Hausgenoſſenſchaft, ſchon durch ſo
viele Begleiter aus Herrnhut beträchtlich, vermehrte
ſich noch durch beſuchende Brüder aus England und
r
| rn 193 C2 —
Holſtein. Die Gräfin führte mit treuer Sorgfalt ſelbſt
die Wirthſchaft; Dienende unterſchieden ſich als ſolche
kaum, manche waren nur aufgenommen, damit ihnen
geholfen würde, andre beeiferten ſich zu jeder Leiſtung
auch unverpflichtet; an jedem geiſtlichen und leiblichen
Wohl hatten Alle nach ihrem Bedürfniſſe Theil. Der
Graf beobachtete genau dieſelbe Hausordnung, wie in
Herrnhut. Morgens um 8 Uhr hielt er eine Rede
über die Looſung des Tages; in der Abenddämmerung
wurde geſungen; um eilf Uhr zur Nacht eine kurze
| Erbauung zum Tagesſchluſſe gehalten, welche die Abend—
viertelſtunde hieß; außer dieſen regelmäßigen Verſamm—
lungen fanden noch beſondere nach gelegentlichen An—
läſſen Statt; an Bettagen, Gedächtnißtagen, ganz wie
daheim. Fremde, die grade zum Beſuch da waren,
wenn Singe- oder Betſtunden eintraten, mochten den—
ſelben wohl aus Andacht beiwohnen; bald aber kamen,
theils aus Herzenstrieb und theils auch wohl aus Neu
gierde, abſichtliche Beſuche, um den Grafen predigen
zu hören, und in kurzem ſo viele, daß der Raum zu
enge wurde, es mußten die Frauen und die Männer
abgeſondert auf verſchiedene Stunden angewieſen wer—
den. Doch hiebei entſtand Irrung und ein Gedräng
und Auflauf vor dem Hauſe, ſo daß der Graf vor die
Thüre heraustreten und durch eine Anrede die Menge
beſchwichtigen mußte, welche ſich denn auch bald ver—
lief. Um jedoch ferneren Auftritten dieſer Art auszu—
weichen, ſtellte er die Verſammlungen lieber ganz ein,
Biographiſche Denkmale. V. 13
m 194 2.
und hielt nur hin und wieder noch einzelne Vorträge
außerhalb des Hauſes vor ausgewählten Zuhörern.
Die Wirkung ſeiner Predigten und Unterredungen war
außerordentlich. Außer den Reformirten, die ſich näher
mit ihm einließen, und deren ächte Frömmigkeit und
mildes Benehmen ihn hier beſonders anſprach, empfan—
den ſeine Anziehung wie immer auch die verſchiedenen
Sekten und Sonderlinge im Glauben; eine religiöſe
Kraft war hier faſt immer mit Gewißheit vorauszu—
ſetzen, es galt nur die erſtarrten Formen, in welchen
ſie befangen lag, wieder einzuſchmelzen, und hiezu war
die eindringliche Herzenswärme des Grafen überaus
geeignet. In Holland hatte er es beſonders mit Sy
zinianern und Mennoniten zu thun, deren viele durch
ihn aufrichtige Bekenner des Heilands wurden. Ein
gelehrter Sozinianer, Samuel Crellius, wurde von den
liebreichen Unterredungen ſo hingeriſſen, daß er mit den
Seinigen nach Herrnhut ziehen wollte; zwar änderte er
ſeine Richtung wieder, kam aber zehn Jahre ſpäter
nochmals zu dem theuren Gotteslamme, wie er es
nannte, zurück, und ſtarb mit der ausgeſprochenen Zu—
verſicht, in deſſen Wunden ſein Heil zu finden.
Der Umgang jedoch mit fo vielerlei Perſonen ver-
ſchiedenen Glaubens wurde ein Grund neuer Mißur—
theile über Zinzendorf; man legte ihm Meinungen bei, 6
die er beftritt oder nur anhörte, man beſchuldigte ihn
der Hinneigung, wo eine zu ihm Statt fand, ja man
wollte in ſeinem religiöſen Treiben ein politiſches zu
eh 195 S8
Gunſten des Hauſes Oranien ſehn. Eine von ihm in
Druck gegebene Erklärung über ſeinen Umgang und ſein
Wirken in Amſterdam konnte dergleichen Mißreden nur
theilweiſe hemmen. Für die Sache der Brüder zeigte
ſich indeß thätige Förderung. Die Schwierigkeiten,
welche der Zulaſſung der Brüdermiſſionen in den hol—
ländiſchen Kolonien entgegenſtanden, wurden durch den
Eifer des Grafen, der mit den Direktoren der oſtin—
diſchen und der ſurinamiſchen Handelsgeſellſchaft, ſo
wie mit den wichtigſten Mitgliedern der Verwaltungs-
behörden und des Seeweſens klug und eindringlich zu
reden wußte, wo nicht ganz gehoben doch ſehr vermin—
dert. Die verwittwete Fürſtin von Oranien wünſchte
aber auch eine Niederlaſſung der Brüder in Holland
ſelbſt, wo ein ſolcher Zwiſchenort für den Verkehr der
Miſſionen mit Herrnhut ein großer Vortheil ſein mußte.
Ein Prediger van Alphen und ein reicher Kaufmann
Beuning unterſtützten den Vorſchlag bei Zinzendorf,
und boten ihre hülfreiche Vermittelung; demnach wurde
in der Herrſchaft Aſſelſtein, welche der Fürſtin gehörte,
ein Stück Land angekauft, auf welchem ſpäterhin der
Ort Heerendyk emporſtieg. Der Graf aber dachte
hierauf an die Heimreiſe, und traf wegen ſeiner immer
noch zahlreicher gewordenen Hausgenoſſenſchaft ver—
ſchiedene Anordnung; ein Theil blieb in Holland wegen
der beſchloſſenen Anſiedlung in Aſſelſtein, ein andrer
Theil ſchlug den nächſten Weg nach Herrnhut ein, ein
dritter Theil blieb mit ihm und ſeiner Gemahlin, die
13 *
9 196 DI
—
zum Beſuche der Fürſtin nach Leuwarden abreiſte, wo⸗
hin er ſelbſt über Gröningen nachfolgte. Geſpräch über
Seelenzuſtände, Erbauungen, Abrede wegen Heerendyk,
für welches der Graf alle Geldbeiträge verbat, indem
die Brüder ſich ſchon durchbringen würden, erfüllten
hier mehrere Tage in gewohnter Weiſe. Endlich am
16. April brach die Geſellſchaft von Leuwarden auf,
verließ unter Seegenswünſchen Holland, und verfolgte
ihren Weg zur Heimath.
In Kaſſel fand Zinzendorf Briefe aus Herrnhut |
mit der Nachricht, daß ihm durch eine Königliche Ver-
fügung jeder fernere Aufenthalt in Sachſen unterſagt
worden. Er trug dieſen unerwarteten Schlag ſtandhaft,
und in tröſtlicher Unterredung mit dem Heiland ſetzte
er die Reiſe fürerſt nach Ebersdorf fort. Unterwegs
kam David Nitſchmann, der von Herrnhut ihm entge-
gengeſchickt war und das Königliche Reskript über—
brachte; er meldete, daß eine zweite Kommiſſion in
Herrnhut erwartet werde, deren Zweck, wie man fürchte,
die gänzliche Zerſtörung der Gemeinde ſei. Als Grund
wurden die alten Klagen über die Aufnahme fremder
Unterthanen und einige Störungen angegeben, die ſich
in der Lauſitz durch die Verſammlungen der Erweckten
hin und wieder ereignet, und den Gegnern Zinzendorf's
am Hofe gut gedient hatten. In Ebersdorf angelangt,
dachte der Graf daran, wie und wo er die Brüder und
Schweſtern, wenn ſie vertrieben würden, unterbringen
könnte, ſo daß auch fernerhin gründlich für ihre See—
=
sm 197 Be
lenpflege dabei geforgt wäre. Da er ſelbſt nicht mehr
durfte, ſo ließ er ſeine Gemahlin nach Herrnhut reiſen,
um dort alle nöthigen Vorkehrungen zu treffen, die be—
ſonders in wirthſchaftlicher Hinſicht manche Schwierig—
keit hatten. Die ſeitherigen großen Ausgaben für die
beträchtlichen Bauten und für die Aufnahme ſo vieler
Hülfloſen waren nicht aus dem Vermögen des Grafen
allein beſtritten, ſondern zum Theil durch aufgenom—
mene Gelder gedeckt worden. Glücklicherweiſe hatte
der obengenannte Beuning den Grafen vermocht, dieſe
Gelder, deren Kündigung zu befürchten und deren Zin—
ſen hoch waren, durch ein neues in Holland zu mäßigen
Zinſen bewirktes Anlehn abzutragen. Allein, ungeach—
tet dieſer, wie durch höhere Fügung, im voraus ge—
wonnenen Hülfe, ſtanden die Sachen noch ſehr beſorg—
lich, und es bedurfte genauer Einrichtung, um für alle
möglichen Fälle bereit zu ſein; Zinzendorf wollte daher
auch nicht, daß ihm von ſeiner Gemahlin Geld geſchickt
würde, er meinte nebſt ſeinen Mitpilgern ſchon ander—
weitig fortzukommen, die regelmäßigen Einkünfte ſoll—
ten, nach Abzug des an Zinſen Abzutragenden und für
die Hauswirthſchaft Unentbehrlichen, ganz für die Sache
des Heilands verwandt werden. Die Gräfin war kaum
angekommen, als auch die Königliche Kommiſſion in
Herrnhut eintraf, zu welcher diesmal auch der Superin—
tendent Löſcher gehörte; ſie unterſuchte den ganzen Zu—
ſtand genau, erhielt alle verlangte Auskunft, und zeigte
ihrerſeits redlichen und milden Sinn; ſie entfernte ſich
5m 198 Bo
oO
wieder, indem fie bekannte, nur günſtige Eindrücke em—
pfangen zu haben. Inzwiſchen ſetzte Zinzendorf als
Verbannter nun um fo mehr ſein ſchon vorher übliches
Wanderleben fort; ſeine Umgebung war der Art nach
ſtets dieſelbe, wenn auch in den Perſonen häufig wechſelnd,
da bald einige verſchickt wurden, bald andre ſich an—
ſchloſſen; jeder diente nach feiner Fähigkeit der Ge-
meindeſache oder dem Hausweſen, und fiel dieſem nur
zur Laſt inſofern es die Noth erforderte; die Verſamm—
lungen zum Gebet, zum Singen und andrer Erbauung
fanden einen Tag wie den andern Statt; die Sonn—
und Feſttage wurden in herkömmlicher Weiſe begangen.
Von Ebersdorf reiſte der Graf über Ulſtedt nach Frank-
furt am Main, wo er am 26. Mai ankam, und ſo—
gleich vielen Beſuch hatte. Man machte ihm und fei-
ner Pilgergemeinde, wie ſein Gefolge genannt wurde,
allerlei Vorſchläge, der Freiherr von Schrautenbach bot
ihm ſein Schloß in Lindheim an, aber ihn lockte von
allen dieſen Anträgen keiner, außer dem kaum annehm⸗
baren, auf der Ronneburg zu wohnen, einem alten hall⸗
verfallenen Schloſſe der Grafen von Aſenburg-Wäch—
tersbach, wo eine Menge armer und ganz vernachläſſig—
ter Leute lebten, unter welchen er Seelen für den Hei—
land zu gewinnen hoffte.
Unterdeſſen war die Gräfin mit den Kindern, mit
Friedrich von Watteville, Chriſtian David, Leonhard
Dober und anderer Begleitung von Herrnhut, wo ſie
alles nach den Umſtänden geordnet hatte, glücklich ein-
e 199 9
getroffen; man fand die Ronneburg ganz unbewohnbar,
der Graf aber war dieſer Meinung nicht, ſondern mie—
thete von dem Amtmanne die leeren Zimmer, zog am
13. Juni hinauf, und begann ſeine Predigten und Er—
bauungen für die armen Leute; die Kinder ließ er zu
ſeinen Kindern zum Eſſen einladen, ſorgte für den nö—
thigen Unterricht, und ſuchte ſie durch Austheilung von
Brot und Kleidung vom Betteln abzuhalten. Da man
davon ſprach, ſeine Verſammlungen zu verbieten, ſo ge—
rieth er in Eifer, und meinte, er würde ſich die Arbeit
an den Seelen nicht wehren laſſen, ſondern über dieſer
ſeiner Paſſion alles dran wagen. Ueberhaupt konnte
man bemerken, daß ſein Treiben im Ganzen unruhiger
und leidenſchaftlicher wurde, ſein Zorn leichter und un—
gemeſſener ausbrach, und ſein durch Erfolge und Wider—
ſtand aufgereiztes Gefühl ihn bisweilen an die Klippe
geiſtlicher Machteinbildung warf. Doch bevor noch
eine Störung wirklich verſucht wurde, verließ er die
Ronneburg wieder, und trat am 27. Juli eine Reiſe
nach Liefland an, wohin die dortigen Frommen, beſon—
ders eine aus Sachſen gebürtige Generalin von Hallart,
ihn eingeladen hatten. In Magdeburg beſuchte er den
Abt Steinmetz, in Berlin ſeine Mutter und ſeinen
Stiefvater, den Feldmarſchall von Natzmer, mit wel—
chen er das herzlichſte Vernehmen fand. Ueber Königs-
berg kam er den 8. September nach Riga, nachdem er
die letzten ſechzig Meilen größtentheils zu Fuß, in ſteter
Unterhaltung mit dem Heilande, zurückgelegt, im Wa-
32 200 823
gen aber, fo oft er eingeftiegen, auch den Fuhrmann
oder etwa einen Reiſegefährten mit Bekehrungseifer
heimgeſucht. In Riga und Reval, wohin er weiter—
reiſte, fand er vielen Anhang unter Weltlichen und
Geiſtlichen, predigte mit großem Zulauf, beförderte die
damals angefangene Ueberſetzung der Bibel in's Eſth—
niſche und Lettiſche, und gab zu andern frommen Wer—
ken Rath und Hülfe. Man wünſchte ihn dort zu be
halten, allein er konnte ſich auf etwas Feſtes nicht ein-
laſſen. Briefe ſeiner Gemahlin meldeten ihm den Tod
eines Söhnchens, und manche Bedrängniſſe, welche ſie
inzwiſchen auf der Ronneburg erfahren. Er trat dar—
auf die Rückreiſe an. | |
In Memel ſchrieb er am 15. Oktober an den Kö-
nig von Preußen, dem er einiges die Salzburger Be—
treffende herzlich vortrug. Der Brief iſt merkwürdig,
und da beſondere Gunſt hiezu uns in Stand ſetzt, ſo
verfehlen wir nicht, den noch ungedruckten hier zum
erſtenmal mitzutheilen. Er lautet wie folgt: „Aller-
durchlauchtigſter u. ſ. w. Die beſondere Liebe, die ich
zu Exulanten trage, bewegt mich, Ew. Königlichen Ma—
jeſtät dieſes Blatt zu Füßen zu legen, und Selbter
allerdemüthigſt anheim zu ſtellen, ob Sie geruhen möch—
ten, bei Dero Salzburgiſchem Pflanzgarten in Litthauen
mich zu einem unwürdigen aber treuen Handlanger mit
aufzunehmen, und mir zu vergönnen, bei Erhaltung
des großen Zwecks mit dieſen Dero Pflegekindern, ein
weniges zu befördern. Die Weitläuftigkeit meiner
9 201 8
äußerlichen Umſtände geſtattet mir zwar nicht, mich der
Sache ganz aufzuopfern, oder allenthalben in Perſon
zu ſein. Ich hoffe aber doch durch Gottes Gnade
Mittel zu finden, hierunter nicht ohne Nutzen zu arbei—
ten, wenn Ew. Majeſtät ſich meine allerunterthänigſte
ö Dienſte dabei nicht mißfallen laſſen, und der Fortgang
des guten Zwecks ſoll meine Belohnung ſein. Zweier—
lei bitte von Ew. Majeſtät mir allerunterthänigſt zu
| Gnaden aus. Eines iſt, meine allerunvorgreiflichſten
Vorſtellungen, ſowohl im Ganzen, als bei deſſen künf—
tigen Theilen, nur unter Wenigen zu erhalten, damit
ich nicht vor der Zeit hinderlichen Vorurtheilen ausge—
| ſetzt werde, und daß ich insbeſondere die Nachrede ver—
meide, ob wollte ich die Gemeinde zu Herrnhut dahin
überführen, welches um ſo viel weniger nöthig, aber
auch bei allen ſich vorzuſtellenden Möglichkeiten eini—
gergeſtalt vermuthlich iſt, als Ew. Königlichen Majeſtät
ich zuverläſſigſt bezeugen kann, daß dieſe Gemeinde,
und ich, von der Perſon des Königs von Polen Ma—
jeſtät, darunter wir wohnen, bis anhero und noch täg—
lich, Gerechtigkeit, Geneigtheit, und ich darf wohl ſa—
gen, viel Tragſamkeit und Geduld zu erfahren haben,
welches ich gegen das gemeine Gerücht darzuthun im
Stande bin. Das andre iſt, daß Ew. Königliche Ma—
jeſtät die Sache ſelbſt, Dero von Gott verliehenen
hohen Begabniß nach, weislichſt beurtheilen, und wenn
ſich dahero in Dero Gemüth keine Abneigung finden
ſollte, mich vorher allenthalben, durch getreue und tüch-
* 202 8
tige Männer, in genaue und ernſtliche Prüfung neh-
men zu laſſen, wie weit meine Perſon und Vorſchläge
hierunter annehmlich ſein könnten. Und da es dann
von meiner wenigen Perſon ziemlich verſchiedliche Mei—
nungen giebt, ſich diesfalls in eine ſolche Gewißheit
ſetzen wollten, nach welcher Ew. Majeſtät keinen Zwei—
fel übrig behalten, daß mein Gemüth aufrichtig, mein
Zweck gerade, mein Vermögen von der göttlichen Güte
unterſtützet, und die von mir zu erwartenden Fehler,
theils in Gnaden zu überſehen, theils ohne Weitläuf⸗
tigkeit zu verbeſſern ſein werden. Ich verharre in tief—
ſter Demuth und Ehrerbietung Ew. Königlichen Mas
jeſtät allerunterthänigſt allergehorſamſter Nikolaus Lud—
wig Graf von Zinzendorf. Selbſtkonzipirt. Auf der
Rückreiſe aus Liefland am 15. Oktober 1736.“ In
Königsberg hielt er eine geiſtliche Verſammlung und
ſchrieb an den König von Polen einen demüthigen
Brief, worin er um Unterſuchung ſeiner Sache bat,
in Stolpe predigte er; am 25. Oktober traf er in Ber-
lin ein.
Hier empfing er ſogleich ein Handſchreiben des
Königs, und Jablonski hatte ſchon den Auftrag, ihn
nach Wuſterhauſen einzuladen, wo der König ihn ſpre—
chen wollte. Friedrich Wilhelm J. vereinigte ſtreng—
gläubige Frömmigkeit mit gradſinnigem Verſtand, gleich
abhold den Schwärmern wie den Freigeiſtern; ſchon
ſeit zehn Jahren hörte er von dem Grafen Zinzendorf,
dem Stiefſohne ſeines Feldmarſchalls, die wunderlich—
| h 203 S.
ſten Dinge, und nach allem war das Vortheilhafteſte,
was er von ihm urtheilen konnte, derſelbe müßte ein
luſtiger oder melankoliſcher Fanatikus ſein, ein halb
ridikuler, halb gefährlicher Menſch, wie Zinzendorf ſelbſt
es ausdrückt, der ſich auch mit einer Verweiſung aus
den preußiſchen Landen nah genug bedroht glaubte.
Gleich nach den erſten Worten jedoch ſah der König,
daß der Graf der Mann nicht ſei, als den man ihn
geſchildert hatte, ſondern durchaus verftändig, weltkun—
dig, und dabei höchſt unbefangen und aufrichtig. Er
ließ ſich daher in gründliche Beſprechung mit ihm ein,
und ſah ihn drei Tage hinter einander mit ſteigender
Theilnahme, ſo daß er am dritten Tage vor dem gan—
zen Hof in derben Ausdrücken bekannte, er ſei wegen
des Grafen belogen und betrogen, es habe weder der
Ketzerei noch der Staatsverwirrung halber mit ihm
Noth, ſeine ganze Sünde ſei, daß er als ein Graf und
in der Welt angeſehener Mann ſich dem Dienſte des
Evangeliums ganz widmete. Von einer dieſer Unterre—
dungen welche auf dem Schloßhofe zu Wuſterhauſen
vor vielen Perſonen geſchah, berichtet Zinzendorf ſelbſt:
„Ihro Majeſtät fragten mich, nach einem generalen
gnädigen Empfang und realen Spezialfragen, dabei
Sie mit meiner Antwort zufrieden ſchienen, endlich
ganz gerade: Warum ich gleichwohl ſo traduzirt würde,
wenn ich doch ſo dächte, wie Sie es jetzt vernähmen?
Ich antwortete, davon wüßte ich etliche Urſachen, und
Gott möchten noch mehrere bekannt ſein. Die erſte ſei
— ET 7
wm
e- 204 BI
meine ungewöhnliche Lebensart, darinnen viel, dem An-
ſehn nach, Kontradiktoriſches ſei. Die andere mein
esprit critique, der mir in meinen jüngern Jahren ſehr
zugeſetzt, davon die Nachwehen ſich nun zeigten; denn
nachdem ich meine Inſpektion über andere Leute einige
Jahre aufgegeben, ſo machten ſich nun andere Leute
mit mir mehr zu thun, als ſie nöthig hätten. Die
dritte, meine Kondeszendenz und Freundſchaft mit jeder-
man, und ſonderlich gegen ſolche Perſonen, die entweder
nur mit den gewöhnlichen Argumenten und Behand-
lungen nicht zu bedeuten, aber ſonſt wohl doeil wären,
oder auch ſolche, die in der That irrig wären, und deß—
wegen von denen, die die Wahrheit hätten, oder vor—
gäben, meines Erachtens nicht menſchlich genug traktirt
würden. Dieſer Kondeszendenz mißbrauchten ſich meine
Gegner, mich mit dergleichen Perſonen zu konfundiren.“
Der König fand dieſe Angaben einleuchtend, und ſagte
ſpäter öffentlich, der Teufel aus der Hölle könne nicht
ärger lügen, als die Gegner Zinzendorf's gelogen hät—
ten. Zinzendorf benutzte die gute Stimmung des Kö—
nigs, und legte demſelben einen beſtimmteren Plan we—
gen der Salzburger Sache vor. Seine eingereichte
Schrift iſt ein ſprechendes Zeugniß ſeiner meiſterlichen
Staatsklugheit, ſo gut erwogen in der Sache und ſo
genau berechnet für den König, daß der feinſte Diplo—
mat ſie nicht gehaltvoller und ſchicklicher abzufaſſen ver—
mocht hätte. Wir theilen dieſelbe hier mit, um ſo
mehr, als fie bisher noch nicht gedruckt worden. „Nä—
T
\
205 83
here Erläuterungen des allerunterthänigſten Vorſchlages
zu einer ſalzburgiſchen Anſtalt. I. Dieſe wichtige Ab—
ſicht muß Zeit haben, und darum muß ſie, bis zu ihrer
Vollſtändigkeit, nur denen bekannt werden, ohne welche
ſie nicht auszuführen, inzwiſchen aber in großer Stille,
Niedrigkeit und Treue beſorget werden. II. Ein Pri—
vatus, der etwa in Litthauen oder Preußen eine mit
dem ſalzburgiſchen Etabliſſement verwandte Kommiſſion
hätte, welches aber nur zu Bedeckung und Konnektirung
des Kaufs dienete, und weiter keine Verantwortung
nach ſich ziehen müßte, erhandelte in Litthauen einen
bequemen und anmuthigen Platz, legte daſelbſt einen
Meierhof an, zu welchem geſchickte Salzburger als Ar—
beiter angenommen würden. III. Nach und nach bauete
ſich daſelbſt ein Flecken an, wozu man (unter allergnä=
digſter Konnivenz) unter der Hand gottesfürchtige und
behülfliche Salzburger ausſuchete, die entweder noch
nicht, oder nicht genugſam etablirt, oder durch die
Ihrigen, und fonft, füglich zu remplacıren wären, und
das könnte allenfals, wenn es ein wenig eflatter würde,
gelegentlich einmal durch einige nicht eben importante
Begnadigungen in Bewegung gebracht werden. IV. Die
erſten Jahre müßte man ungeſtört bleiben, und von
dem Entrepreneur nicht begehret werden viel aufzuwei—
ſen, ja es wäre am beſten, daß, dem Anſehen nach,
überhaupt wenig Reflexion auf dieſes Tentamen ge—
macht, und wenn man es entweder ridiküle, oder be—
denklich, oder unmöglich beſchreiben hörte, nicht viel
—2>D 206 C
fonderliches darauf geantwortet würde. V. An eine
Pfarrthei wird nicht ehe gedacht, vielweniger an einen
Kirchenbau, bis ſich der Haufe zum Bleiben eingerich-
tet, mithin würde das Werk durch einen, und nach und
nach mehr Katecheten, bei Großen und Kleinen ver—
ſehen, inzwiſchen ließe man jedem die Freiheit, ſich an
den nächſten, oder bisher gewohnten Ort zur Kommu—
nion zu halten, mit Vorbehalt der Parochie, im Fall
einer eignen Gemeinde, Waiſenanſtalt oder dergleichen
Emergentien. VI. Das wäre ſo der Weg, unter gött—
lichem Gedeihen, einen Ort mit ſolchen Salzburgern
zu beſetzen, die in Verfolg der Zeit, nach Geiſt- und
Leiblichem, Andern zum Exempel, denen Proteſtanten
zur Erbauung, und vielleicht gar der Anlaß zu einem
mehreren Commercio in Litthauen werden könnte. VII. Und
gleich wie dieſe heilſame Anſtalt von Gott durch Ihro
Majeſtät Hand gemacht würde, alſo richtete man die
Auslage nicht größer ein, als der Ertrag davon natür—
licherweiſe folgen müßte, und die ſämmtliche Nutzung
würde in Ihro Majeſtät Kaſſe geliefert, weil der Pri—
vatus nur zu der anfangs nöthigen Verbergung der
führenden Abſicht, ſich in dieſen Handel einläſſet, wäre
es aber Ihro Majeſtät gefällig, das Werk dem Entre—
preneur auf ſein Riſiko zu geben, und alſo nur die
landesherrlichen Gefälle daraus zu erheben, ſo müßte
dießfalls eine eigentlichere Abrede genommen werden,
weil Ihro Majeſtät allerunterthänigſter Diener, wenn
h 207 I
er mit einem Handel der Nahrung zu Werke gehen
muß, ſich nicht gern über fein Ziel waget.“
Der König ging zwar auf dieſe Vorſchläge nicht
weiter ein, doch verſicherte er den Grafen wiederholt
ſeiner Liebe, völligen Vertrauens, und daß er nichts
mehr wider ihn glauben, ſondern ihm dienen wolle, wo
er wiſſe und könne. Hiezu war ſogleich Gelegenheit.
Die Verhältniſſe der Brüdergemeinde, in Deutſchland
ſowohl als im Auslande, machten es wünſchenswerth,
daß der Graf die biſchöfliche Würde annähme, wobei
ihm vor allem daran gelegen war, dieſen Schritt nur
in ausgeſprochener und durch gehöriges Anſehn vertre—
tener Uebereinſtimmung mit der Lutheriſchen Kirche zu
thun. Dies war nur in Berlin möglich, und der Kö—
nig bot gern dazu die Hand. Er ſchrieb unter dem
28. Oktober an ſeinen Oberhofprediger Jablonski:
„Würdiger, lieber Getreuer! Da ich nunmehr den
Grafen Zinzendorf ſelbſt geſehen und geſprochen habe,
und gefunden, daß er ein ehrlicher und vernünftiger
Mann iſt, deſſen Abſichten bloß dahin gehen, ein wah—
res, rechtſchaffenes Chriſtenthum und die heilſame Lehre
des Wortes Gottes zu befördern, ſo will ich, daß, wenn
Ihr denſelben in Berlin ſprechen werdet, ihr diejenigen
Punkte, ſo er zu proponiren hat, mit ihm erwägen, und
mir hiernächſt euren unterthänigſten Bericht davon er—
ſtatten ſollet, nach Maßgabe des heute deßhalb an euch
bereits ergangenen Schreibens. Ich bin euer wohl—
affektionirter König Fr. W.“ Der König befahl hier—
> 208 I |
auf den beiden berliniſchen Pröbſten Reinbeck und Ro— |
loff, dem Geſuche des Grafen zufolge, deſſen Recht
gläubigkeit und Religionsmeinungen überhaupt einer
ſorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Dieſe würdigen
Männer, ſtreng in ihrem Amte, jedoch vorurtheilsfrei
in ächt chriſtlicher Geſinnung, und mit Jablonski im
Weſentlichen gleichgeſtimmt, gingen ſogleich an's Werk,
und Zinzendorf lieferte ihnen dazu ſeinen ganzen Vor—
rath von Schriften und Urkunden.
Indeſſen genügte ihm für jetzt, die weitausſehende
Sache gehörig eingeleitet zu wiſſen, und nachdem der
König ihm noch ein kräftiges Empfehlungsſchreiben an
den Grafen von Degenfeld, ſeinen Geſandten beim
oberrheiniſchen Kreiſe mitgegeben, eilte er am 2. No-
vember nach der Wetterau zu den Seinigen. In
Gelnhauſen erfuhr er, daß die Gräfin auf Betrieb
übelgeſinnter Gegner doch genöthigt worden, die Ron-
neburg zu verlaſſen, und ſich nach Frankfurt begeben
habe, wo ſie mit ihrer Begleitung, die damals aus un—
gefähr dreißig Perſonen beſtand, die gewohnte Lebens—
art fortführe. Der Graf wünſchte nach ſeiner dortigen
Ankunft die Verſammlungen, an welchen nach wie vor
eine große Zahl Beſuchender Theil nahmen, auf ſeine
Hausgenoſſen einzuſchränken; allein von Seiten der
Behörden ſelbſt machte man ihm bemerklich, die Leute
würden ſich dennoch hinzudrängen, und daraus könnten
leicht Unruhen und Auflauf entſtehn. Die Stadtobrig—
keit war ihm nicht abgeneigt, und behandelte ihn mit
39 209 .
aller Auszeichnung, wozu die preußiſche Empfehlung
ſehr beitrug, eben ſo bezeigten ſich auch die meiſten
Prediger ſehr freundſchaftlich. In ſeinen Reden ver—
kündigte er nun vor allem die in dem Blute des Lant-
mes Gottes gegründete Gnade, der man auch nicht
einen Funken eignes Gute beimiſchen dürfe, denn der
ehrlichſte und frömmſte Bürger in Frankfurt werde
nicht anders ſelig, als der Straßenräuber, den man
auf das Rad lege. An der Wärme ſeines Herzens
ſchmolz die Härte dreier Separatiſten, die ſeinen Vor—
ägen beſonders fleißig zuhörten. Sie bekamen, wie
pangenberg ſagt, in das Wort der Verſöhnung eine
erzgefühlige Einſicht, und verließen ihren bisherigen
Gang. Dies wollte jedoch Andreas Groß, ein unter
den Separatiſten in höchſtem Anſehn ſtehender Mann,
er ſchon vorher dem Grafen trotzig und ſpöttiſch ent—
egengetreten war, auf alle Weiſe hindern, und Zin—
endorf, der früher, ganz gegen ſeine Art, erklärt hatte,
er wolle ſich mit dieſem Manne, der ihm durchaus zu—
ider war, gar nicht einlaſſen, gerieth in die äußerſte
ntrüftung; fein Schmerz, die dem Heilande gewon—
| nene Seelen zu verlieren, ließ ihn jede Wehr gerecht—
fertigt finden, und er ging ſo weit, den Mann wiſſen
zu laſſen, daß, wenn er das Unglück haben ſollte, eine
jener Seelen von ihrer Gnade wieder abzubringen, er
gewiß noch das Jahr ein Mann des Todes ſei. Dieſe
Drohung hemmte den Mann wirklich, allein er wurde
Biographiſche Denkmale. V. ? 124
’
35H 210 BL
nur um ſo mehr ein Feind des Grafen, und häufte
harte Beſchuldigungen gegen ihn.
Man fand in der That jenes Wort Zinzendorf's,
der ſich darin als mit göttlicher Strafgewalt begabt
vorſtellte, höchſt vermeſſen, und warf ihm fanatiſchen
Eifer und Bosheit vor. Er blieb indeß dabei, und er—
klärte in einer beſondern Schrift an Herrn Andreas
Groß nochmals: er ſei in der Aufnahme neuer Glau—
bensfreunde nicht nur ſehr gleichgültig, ſondern ſogar
ſehr furchtſam und bedenklich; auch ſei es ihm ganz
unmöglich, jemanden zu haſſen, der ihn haſſe oder be-
ſtreite; „Wenn ich hingegen ſehe, — fährt er fort, —
daß Seelen, die in der wahrhaftigen Gnade oder auf
dem Wege dazu ſind, von Andern geärgert oder ver—
führt werden, ſo ergrimme ich im Geiſt, und ich ſtehe
auf den Fall keinem Menſchen für das, was ich ſeinet—
halben mit dem Heiland rede; es kann auch ſein, daß
ich ihn ausgerottet wünſche; aber ich warne, und ehe
ich zum Heiland gehe, ſo bekenne ich meinen Vorſatz
Allen, die es angeht, ganz aufrichtig, damit ſie ſich be⸗
ſinnen und wiſſen können, daß ich nicht ſpiele. Ich
würde mir eine vergebliche Mühe geben, wenn ich mich
in der Sache frömmer beſchreiben wollte, als ich bin;
denn meine Praxis iſt am Tage, und ich habe ſie im
geringſten nicht willens zu ändern.“ Später führt er
an einem andern Orte, damit die göttlichen Strafge-
richte niemanden ungewarnt treffen, folgende Beiſpiele,
wie es den Frevlern ergangen, zur Warnung an: „Eine
— 88211 a
Perſon iſt raſend worden, und wenigſtens neun Jahr
blieben, zwei andere haben, ohne daß man ſie angere—
det oder genannt, zu der Zeit, da man nur in genere
von demjenigen Bann geredet, womit ſie, ohne unſere
Reflexion darauf, behaftet geweſen, ſich darüber ſo al—
teriret, daß ſie vor der Gemeinde für todt hingefallen,
und heraus haben müſſen getragen werden. Ein an—
derer hat geſagt, er wolle es glauben, daß ihn die Ge—
meinde in Zucht nehmen könne, wenn er verkrumme,
| das ift mit einem landkündigen Schreckexempel geſche—
hen, und bis zu Todesnöthen gegangen, bis endlich, da
er ſich, von allen Aerzten verlaſſen, in den letzten Zügen
auf einem Wagen nach Herrnhut führen und in die Ge—
| meinde tragen ließ, die Wunderkur in der Gemeinde—
verſammlung mit ſeiner öffentlichen Abſolution zugleich
erfolgte. Sie iſt von vierhundert Menſchen zugleich
geſehen, und von ihm ſelbſt nicht nur nicht geläugnet,
ſondern überall, und nur zuviel, ausgebreitet worden.
Den fünften hat einige Minuten darauf, daß er mit
| Verächtlichkeit und Inadvertenz aus der Aelteſten-Kon—
ferenz gegangen, nachdem er durch all ihr Bitten und
Flehen nicht zu erweichen geweſen, ſondern ſich auf ein
göttlich decisum berufen, der Donner auf der Stelle
todt geſchlagen.“ Man erſtaunt mit Recht, denſelben
Zinzendorf, den man bisher geſehen, hier eine ſolche
Sprache führen zu hören, welche eher die eines ſchlim—
men Höflings ſcheinen könnte, der ſich rühmt, über ſei—
nes Herrn Gunſt oder Zorn nach Gefallen zu verfügen,
14 *
ed 212 -
als die einem frommen Gottesfreunde geziemende. Auch
|
ift dieſe unter feinen wenigen Abirrungen von feinem |
rechten Weg und Benehmen gewiß die ſtärkſte, und |
wir dürfen ihn nach ſolchen unbewachten Augenblicken |
nicht beurtheilen. Dieſer ihn bisweilen anwandelnde
geiſtliche Hochmuth, als ſtünden ihm oder der Gemeinde
Zeichen und Wunder zu Gebot, iſt ihm von den Geg⸗
nern mit aller Härte genug vorgeworfen worden. Seine
eigentlichen Grundſätze für den Verkehr mit Wider— |
ſachern hat er fonft beſtimmter ſo dargelegt: „Ent—
weder der Gegner will alleine reden, ſo läßt man ihn;
oder er will Antwort haben, ſo giebt man ſie; oder er
erklärt ſich beſſer, als ers meint, fo läßt mans dabei;
oder er erklärt ſich ſchlechter, als er gleichwohl denkt,
ſo führt man ſein Wort; oder er iſt irre, ſo weiſet
man ihn gerne zurechte; oder er iſt böſe, ſo begütigt
man ihn; oder er iſt beleidiget, ſo giebt man ihm gute
Worte; oder er will herauslocken, ſo ſchweigt man;
oder er iſt bitter, ſo erträgt man ihn; iſt er indifferent,
fo ſchont man ſeiner; iſt fein Wort gefährlich, fo ent
deckt man es; iſt es reißend, ſo ſchlägt man drauf, daß
es liegen bleibt; iſt er begierig, ſo iſt man offen; iſt
er beſcheiden, ſo beugt man ſich unter ihn; hat er Recht,
ſo läßt man ihm mit Dankbarkeit Recht; wo er nur
läſtert, das überſchlägt man; wo er Grund fordert, da
giebt man ihm; wo er an dem Grunde ſchüttelt, da
zeigt ſich Felſengrund. Ueberhaupt iſt man ſo kurz und
klar, ſo rund und ſo verſtändlich, als möglich iſt; in
4
11
= 213 .
Nebenſachen zugebend, in Hauptſachen unbeweglich; bei
allen Gelegenheiten muß herzliche und Menſchenliebe,
oder brüderlicher Reſpekt gezeigt werden, ſo viel man
davon gegen den Gegner im Gemüth haben kann; ſon—
derlich in allen den Umſtänden, da das Gegentheil
1
Statt haben könnte, muß ſolches aus allen Zeilen deut—
lich hervorleuchten.“ Und ferner giebt er in Anſehung
der Sache des Herrn noch folgende beſondre Vorſchrift:
„Gegen die Mitknechte ſoll man treuherzig und ernft-
|
lich fein, gegen alle fremde Knechte beſcheiden und nach—
barlich, gegen die Miethlinge unpartheiiſch, gegen die
reißende Wölfe attent und kurz reſolvirt. Dein Auge
ſoll ihrer nicht ſchonen, man ſoll ſie aber weder im
|
|
|
|
|
Walde aufſuchen, noch in der Grube todtſchlagen, dar—
ein ſie gefallen ſind.“ Ueber Wundergaben, Gebeter—
hörungen und dergleichen, erklärt er ſich häufig dahin,
daß er fie zwar nicht läugnet, aber davon kein Auf-
heben gemacht, noch dieſe Richtung mit Abſicht beför—
dert wiſſen will. Uebrigens bekannte er frei, daß er
keinen Beruf habe, in den Religionen zu ſtören, und
Leute aus der einen in die andere überzuholen; er trage
vielmehr die Lehre des Evangeliums gerne ſo vor, daß
er Seelen für den Heiland werben möge, und die armen
Sünder, ſie mögen Lutheriſch, reformirt, katholiſch oder
gar Heiden ſein, dem zu Füßen fallen, der ſie alle er—
löſet habe. In dieſer Hinſicht war ſeine Arbeit in
Frankfurt, jenen herben Vorgang abgerechnet, von gro—
ßem Segen.
214 2
Um alles in beſter Gemeinſchaft und Einheit zu—
ſammen zu halten, dünkte ihm zweckmäßig, eine Synode
für die Brüder auszuſchreiben. Sie fand vom 6. bis
zum 9. Dezember in Marienborn Statt, wo von Herrn—
hut die Aelteſten der Gemeinde und auch aus andern
Gegenden die für das Ganze der Brüderſache thätig-
ſten Mitarbeiter eintrafen, und vieles Förderliche be—
rathen und abgeredet wurde. Mit den Aelteſten von
Herrnhut ging Zinzendorf's Tochter Benigna nebſt meh—
reren Brüdern und Schweſtern dorthin zurück; ſein
Sohn Chriſtian Renatus wurde unter Aufſicht Johann
Nitſchmann's, der ſich zugleich der erweckten Studenten
dort annehmen ſollte, nach Jena geſchickt, wohin auch
der junge von Schrautenbach mitging; der Graf ſelbſt
aber und die Gräfin reiſten nebſt der Gemeindeälteſtin
Anna Nitſchmann, dem Freiherrn von Watteville und
andrem Gefolge, nach Holland, um von da nach Eng—
land überzuſchiffen.
In Amſterdam, obgleich nur auf der Durchreiſe,
hielt er ſogleich Erbauungsſtunden, und wagte außer
ſeinen deutſchen Vorträgen auch deren in holländiſcher
Sprache nicht ohne Gläck. In Begleitung des Pre—
digers van Alphen machte er Abſtecher nach Utrecht und
nach Aſſelſtein, wo die Brüder ſich bereits anbauten;
den Freiherrn von Watteville ſandte er nach Leuwar—
den zur Fürſtin von Oranien, und machte auch die
Bekanntſchaft des franzöſiſchen Geſandten Marquis von
Fenelon; mit einem Prediger Manger jedoch, den er
215
fonft ſehr liebte und hochhielt, gerieth er durch unnö—
thig gegebenen Anlaß über dogmatiſche Sätze von der
Seligkeit in harte Streitreden, und überließ ſich un—
glaublicher Heftigkeit, über die er ſich nachher zwar
Vorwürfe machte, aber doch bald wieder tröſtete. Am
20. Januar 1737 kam er, nach einer dreitägigen ſtür—
miſchen Ueberfahrt von Helvoetſluys nach Harwich, in
London an, wo bald auch die Gräfin, welche mit ihrem
Gefolge den Weg über Calais genommen hatte, glück—
lich eintraf. Sein Abſehn war hier hauptſächlich auf
die Miſſionsanſtalten und auf das Verhältniß gerichtet,
welches die engliſche Kirche ſeinem mähriſchen Biſchofs—
amte würde zugeſtehn wollen. Die zu London befte-
hende Geſellſchaft zur Bekehrung der Negerſklaven in
den brittiſchen Pflanzungen richtete eine Anfrage, mit
Zinzendorf's Beirath, an den Erzbiſchof von Canter—
bury, Johann Potter, wiefern die mähriſche Kirche mit
der engliſchen übereinſtimmte, oder ihr widerſpräche?
Der Erzbiſchof, ein gelehrter und liebreicher Mann,
ſchon mit der Sache bekannt, und durch des Grafen
perſönliche Beſuche noch näher unterrichtet, gab die be—
friedigende Auskunft, die mähriſche Kirche ſei biſchöf—
lich orthodox und apoſtoliſch und behaupte in ihren Leh—
ren nichts, was mit den neun und dreißig Artikeln der
engliſchen ſtreite, daher den Brüdern der Zugang zu
den Heiden nicht zu verwehren ſei. Mit dieſer Aeuße—
rung einſtweilen begnügt, dachte Zinzendorf nun wieder
abzureiſen, und die in Berlin feiner wartenden Angele-
genheiten, die er mit Fleiß fo lange hingehalten, wie-
der aufzunehmen. Inzwiſchen hatte er auch in Eng⸗
land ſeine Erbauungen nicht verabſäumt, und näheren
Verkehr mit Quäkern und Methodiſten angeknüpft.
Mit den letztern war anfangs große Freundlichkeit; die
Führer derſelben, die beiden Wesley, John und Charles,
und Georg Whitefield, hoben aber nachher alle Ge—
meinſchaft wieder auf, und wurden zuletzt öffentliche
Widerſacher. Auch der Orden vom Senfkorn, an wel-
chem Zinzendorf in ſeiner Jugend zu Halle Theil ge—
habt, kam hier in neue Anregung, und es wurden meh—
rere Perſonen aufgenommen; von den bei dieſer Gele—
genheit nur für die Mitglieder gedruckten Statuten
verirrte ſich ein Blatt in fremde Hände, und dadurch
wurde das Ganze bald bekannt, da denn die ärgerliche
Mißdeutung, dieſer Orden fer ein herrnhutiſcher, aus—
drücklich zurückzuweiſen war.
Nachdem der Graf unter ſolchen Geſchäften bis
zum 6. März in England geblieben, reiſte er über
Holland, wo er ſich wieder vierzehn Tage aufhielt,
nach Frankfurt am Main zurück, wo er am 26. März
eintraf. Die dort zurückgebliebene Abtheilung ſeiner
Pilgerfamilie hatte die bis dahin mit Eifer fortgeſetz—
ten Verſammlungen nur eben am Tage vorher auf
obrigkeitlichen Befehl eingeſtellt. Er ließ es dabei be-
wenden, da er ohnehin diesmal nicht dableiben wollte,
richtete aber doch ein Abſchiedsſchreiben an den Rath
der Stadt, und ſagte dieſem und der Geiſtlichkeit darin
MT 88
feine Meinung ziemlich hochfahrend und anmaßlich, wie
denn überhaupt in dieſem Zeitraum eine ſolche Stim⸗
mung in ihm mehr als ſonſt vorherrſchte, und ihn auf
Abwege und in Gefahren brachte. Auch ließ der Rath
das Schreiben nicht unbeantwortet, und der Graf mußte
nochmals die Feder nehmen, und ſich vertheidigen.
Die Hauptſache blieb indeß der in Berlin zu er—
reichende Zweck, und Zinzendorf eilte, dort noch vor
Oſtern einzutreffen. An den König von Preußen hatte
er mehrmals geſchrieben; mit welcher Sorgfalt und
Zartheit er dieſen Fürſten zu behandeln wußte, zeigt
unter andern die Nachſchrift eines Briefes, welche we—
gen der zu befolgenden Einrichtung des Schreibens
überhaupt ſo anfragt: „Auch allergnädigſter König und
Herr, wollte mich allerunterthänigſt um gnädigſten Ver—
haltungsbefehl angemeldet haben, ob Ew. Königlichen
Majeſtät meine Schreiben zu lang, nach dem ange—
wohnten Kanzleiſtilo zu weitläuftig, und überhaupt, da
— — —
Ew. Königlichen Majeſtät der arbeitſamſte, aber auch
mit Arbeit überladenſte Monarch in Europa ſind, ob
Ihro Majeſtät lieber auf einmal viel, oder vielmals
wenig ſchreiben ſolle. Ew. Majeſtät allergnädigſte
Ordre gemeſſenſt zu befolgen wird mir ſo viel leichter
werden, da ich mir eine Freude daraus mache.“ Der
König gab zwar hierauf, jo wie auch auf andre Zu—
ſchriften, keine Antwort, allein Zinzendorf kannte die
Geſinnungen deſſelben zu gut, um nicht auf ſie ferner
zu bauen. Er zeigte dem Könige ſeine bevorſtehende
2 218 8
5
Ankunft durch folgendes Schreiben an: „Allerdurch—
lauchtigſter u. ſ. w. Wenn man ſonſt von Potentaten
keine Antwort bekommt, ſo pfleget es von geringem
Effekt zu fein, und man hat es nicht anders vermuthet.
Wenn man aber von Ew. Königlichen Majeſtät ein
oder mehrmalen keine Befehlſchreiben auf allerunter—
thänigſte Vorträge erhält, ſo macht es Nachdenken,
denn die Data von Ew. Majeſtät Antworten verwöh—
nen, und man weiß, daß Sie ſichs weder an Zeit feh-
len laſſen, noch an Reſolution. Ich habe aus Ew. Ma-
jeſtät bisherigem Stillſchweigen dreierlei ſchließen kön—
nen, entweder daß Ihro mein allzuvieles Suchen und
Projektiren nicht anſtändig ſei, oder daß Ew. Majeſtät
die gnädigſte Opinion von mir geändert, oder daß
Ihnen nicht gefällig geweſen, daß ich mein poſitives
Verſprechen, im Januario wiederzukommen, nicht gehal—
ten. Es kann alles dreies beiſammen ſein, und ich habe
auch Urſache gehabt zu hoffen, daß keines von allen ſei,
das erſte fiel mir weg, als ich mich beſann, daß ich
alles in Ew. Majeſtät gnädigſten Willen geſtellet, das
andre, als ich Dero Königliches Wort bedachte: daß
Sie ungefraget nichts gegen mich aufkommen laſſen
wollten, das dritte, da ich nicht zweifelte, daß Ew. Ma-
jeſtät die wundervolle Begebenheit wiſſen, daß der
Windſturm von England her auf die holländiſche Küſten
zu anderthalb Monate angehalten, und der König erſt
8 Tage nach mir hingegangen. Ich habe alſo den
Schluß gemacht: Ew. Majeſtät laſſen es bei dem Vori⸗
—5 — 219
gen bewenden, und erwarteten meine Zurückkunft; und
in dieſer Hinſicht berichte Ew. Majeſtät allerunterthä—
nigſt, daß, nachdem ich durch eine beſondere Gnade des
Herrn (denn in dem Moment meines Anlandens in
Holland drehete ſich der Wind und ward Oſt) noch bei
rechter Zeit übergekommen, ich Holland und Frankfurt
und die Wetterau, aller meiner Verrichtungen daſelbſt
ungeachtet, nur geſtreifet, und mit Ueberlaſſung meines
hieſigen Negotii an meine Frau in procinctu ſtehe,
direkte nach Berlin zu gehen, wovon auch bereits die
Herrn Pröbſte benachrichtiget. Ich werde, Ew. Ma—
jeſtät Intention nach, daſelbſt ſo inkognito ſein als
möglich, damit das Geſchäft in äußerſter Stille möge
vollzogen werden, wozu Ew. Majeſtät gnädig kondescen—
diret, und woraus ich eine wahre Realität hoffe; ich
werde auch zu dem Ende bei meinen Aeltern nicht lo—
giren, ſondern in der Nähe der Pröbſte ein Quartier
miethen, und Ew. Majeſtät den Moment meiner An—
kunft allerunterthänigſt Anzeige davon thun. Inzwi—
ſchen beharre ich mit aller profundeſter Ehrerbietung
Ew. Königlichen Majeſtät allerunterthänigſter-treuge—
horſamſter Zinzendorf. Lindheim in der Wetterau den
16. April 1737.“
In Berlin angelangt, nahm er ſeine Wohnung an
der Petrikirche, und ſeine Prüfung durch die Pröbſte
Roloff und Reinbeck, welche ſeither unausgeſetzt mit
der Sache beſchäftigt geweſen, fand nun ohne Verzug
Statt. Sie bezeugten, daß ſeine Lehre keine andre ſei,
m 220 Bo Ä
als die in der evangeliſchen Kirche geführt werde; auch |
gegen feine Ordinirung überhaupt ſchien kein Einwand
zu ſein, nur die Ordinirung durch Jablonski zum mäh⸗
riſchen Biſchof, woran ihm doch in ſeinen Verhältniſſen
und bei ſeinen Abſichten alles gelegen ſein mußte, durfte
noch in Frage zu ſtellen bleiben. Der König aber, be-
wogen durch Zinzendorf's Beharren und Jablonski's
Zeugniß von der Unſchuld der Sache, hob alle Bedenk—
lichkeit, und erlaubte, daß die Ordination, jedoch in der
Stille vollzogen würde. Sie erfolgte am 20. Mai in
Jablonski's Wohnung durch ihn und David Nitſch—
mann, mit ſchriftlicher Einſtimmung des Biſchofs Sit—
kovius in Großpolen. Dem Könige zeigte er das Ge—
ſchehene am Tage darauf durch ein ehrerbietiges Schrei—
ben an, worin es heißt: „Ich wünſche mir ſo viel
Treue und Weisheit, als ich Einſicht in meine Glück—
ſeligkeit habe. So wird meine Gemeinde keinen Scha—
den, und das Wort des Herrn, das ich gern umſonſt
predige, Dienſt davon haben. Ich aber werde lebens—
lang daran denken, was ich in dieſer wichtigen Sache,
darinnen mich ſo Wenige gefaſſet, und niemand unter—
ſtützet, von dem Könige in Preußen erlangt habe. Ew.
Majeſtät haben nicht Zeit, viel Wünſche und Dankſa—
gungen zu leſen, und ich habe die Gabe nicht, ſie in
die gehörige Schranken zu faſſen; ich will aber mit
einer tiefen Submiſſion lebenslang verbleiben, in mei—
nem Theil, durch Gottes Gnade, Ew. Königlichen Ma—
jeſtät allerunterthänigſt gehorſamſter Zinzendorf.“ Der
J
iD 221 2
König ſandte ihm hierauf ein Glückwünſchungsſchreiben,
und ſpäter trafen ähnliche auch von Sitkovius und dem
Erzbiſchofe von Canterbury ein. Die Sache machte
1 großes Aufſehn, und die Gunſt, in welcher Zinzendorf
beim Könige ſtand, gab zu allerlei Gerüchten Anlaß.
| Man fürchtete ſchon, er möchte die allgemeine Aufſicht
1
über die Kirchenſachen im preußiſchen Staat erhalten,
und einen fortgeſetzten, für viele Perſonen unerwünſch—
ten Einfluß üben. Er aber dachte nur an feine Rück—
kehr nach Herrnhut, wozu ſich die Ausſicht neuerdings
eröffnete. Sein Stiefvater, der Feldmarſchall von Natz—
mer, hatte ſeinethalb an den König von Polen geſchrie—
ben, und erlangte wirklich, daß Zinzendorf nach Sachſen
zurückkehren durfte. Die Gräfin eilte von Berlin nach
Herrnhut voraus, und kam den 24. Mai dort an. Der
Graf ſelbſt aber folgte am 30. Juni.
Nach einiger Zeit erſchien auch der Königliche Aus—
ſpruch in Folge der zuletzt in Herrnhut geweſenen Kom—
miſſion, welcher dahin lautete, daß die Gemeinde, ſo
lange ſie bei der Lehre der ungeänderten augsburgiſchen
Konfeſſion beharre, bei ihrer bisherigen Einrichtung und
Zucht gelaſſen werden ſolle. Die Arbeiten in der Ge—
meinde wurden nun wieder mit erhöhtem Eifer und
Muth von ihm in Gang geſetzt, alle Einrichtungen un—
terſucht, geläutert, ergänzt, alle verſchiedene Chöre ein—
zeln gemuftert, an beſonderen Bettagen durch Anreden
und Lieder erbaut. Die Wunden des Heilands, die
Opferung des Lammes, waren ſeine Lieblingsgegen—
ad 222 S
ſtände; die ledigen Schweſtern ermahnte er, fo lange
zu Jeſu Füßen zu weinen, bis ſie in ſeinem Blute
Gnade und ein von Liebe zu ihm brennendes Herz er—
hielten, und viele empfanden bald die ſegenreiche Wir—
kung ſeines Rathes. Neue Aelteſten wurden für die
Gemeinde zu Herrnhut eingeſetzt, weil die bisherigen,
welche den Grafen begleitet hatten, auch ferner bei der
Pilgergemeinde verbleiben ſollten. Inmitten dieſer Ar—
beiten ſtörte den Grafen die Zumuthung, welche von
Dresden her an ihn gemacht wurde, einen Revers we—
gen ſeines künftigen Benehmens zu unterſchreiben; der
Eingang beſchuldigte ihn mancher Dinge, zu denen ſich
zu bekennen eine Unwahrheit geweſen wäre, die ihm
ſein Gewiſſen nicht erlaubte; er verweigerte daher ſeine
Unterſchrift, und bat um Aenderung der Ausdrücke oder
um neue Unterſuchung, und wollte, im ſchlimmſten Falle,
lieber auf's neue Herrnhut verlaſſen, und nach einigen
fruchtloſen Verhandlungen blieb in der That kein andrer
Ausweg. Seine Anſtalten waren bald gemacht, er ging
nochmals alle Einrichtungen der Gemeinde durch, und
gab Vorſchriften und Anleitung für die Führung der
verſchiedenen Aemter. Den Paſtor Rothe zu Bert—
holdsdorf, der ſich nicht abhalten laſſen wollte, einem
anderweitigen Rufe zu folgen, erſetzte er durch einen
frommen Prediger aus der Nachbarſchaft. Einem Ober—
ſten, welchen der König von Preußen, der zu allen Ge—
ſchäften gern ſeine Offiziere brauchte und fähig hielt,
nach Herrnhut geſandt hatte, um den Ort in der Stille
sm 223 2
zu beobachten, gab er Gelegenheit, von allen Sachen
unverſtellten und genauen Bericht abzuſtatten. Zuletzt
überlegte er noch vor der ganzen Gemeinde an einem
beſondern Bettage die ſeit zehn Jahren ihr widerfah—
renen Gnadenwunder, ließ vierzig Brüder und Schwe—
ſtern konfirmiren oder zu Akoluthen aufnehmen, fertigte
mehrere Brüder zu Botſchaften ab, und ſtärkte ſie durch
Anreden und Gebet zu ihrem ſeligen Beruf. Am Tage
vor ſeiner Abreiſe gab er noch den Brüdern und Schwe—
ſtern, die ihn zu ſprechen wünſchten, oder denen er
ö
4
z
etwas ſagen wollte, der Reihe nach beſonders Gehör,
welches von früh 5 Uhr bis nachts um 11 dauerte,
und trat dann am 4. Dezember, nach einem nochmali—
gen Vortrag an die Gemeinde, mit anſehnlicher Pil—
gerbegleitung wieder ſein Exil an. Die nunmehr be—
ginnende Abweſenheit dauerte zehn Jahre. „In der
Zeit, — ſagt Zinzendorf, — iſt Herrnhut als eine
Hütte Gottes bei den Menſchen geſtanden, und nie⸗
mand hat einen Nagel verrückt.“
Er reiſte zuerſt nach der Wetterau, beſuchte die
Ronneburg, den Freiherrn von Schrautenbach in Lind—
heim, und ſeine Freunde in Frankfurt am Main. Zwei
Monate vorher war in den dortigen gelehrten Zeitun—
gen ein Aufſatz erſchienen, der einige Fragen an den
Grafen enthielt, über die Abſonderung der Herrnhuter
von der Lutheriſchen Kirche, die Hausverſammlungen,
den Eheſtand, bie Lieder und anderes dergleichen, woran
bisher das meiſte Aufſehn und Aergerniß haftete. Der
> 224 G2
Graf beantworteze jetzt dieſe Fragen, die er fo gründ- |
lich als beſcheiden vorgetragen fand; ihr Verfaſſer
nahm hinwieder die Beantwortung ſehr artig auf,
äußerte jedoch noch einige Bedenken; dieſer war Herr
von Loen, ein wackrer Geſchäftsmann, freidenkend,
weltkundig, und von damals bemerkenswerthem ſchrift—
ſtelleriſchem Talent, wegen welcher Eigenſchaften ihn
Friedrich der Große ſpäterhin als Kammerpräſidenten
nach Lingen berief. Als ein Zeugniß, wie ein ſolcher.
Mann zu der Zeit, da ſchon die gehäſſigſten Verläum—
dungen und roheſten Mißhandlungen gegen den Grafen
allgemein in Umlauf waren, über ihn urtheilte, ſchal—
ten wir billig die Schilderung hier ein, welche er eben
damals von ihm entwarf: „Alles iſt voller Affekten, —
ſo hebt er an, — wenn man von dem Grafen von
Zinzendorf ſpricht; und es ſcheinet faſt, als ob man
keine Freiheit hätte, eine Wahrheit zu prüfen, ſobald
ſich der Eifer der Religion darunter miſchet. Einige
machen dieſen Grafen zu einem Erzbetrüger und zu
einem andern Mahomet; Andere betrachten ihn im Ge—
gentheil als einen von Gott geſandten neuen Apoſtel
und als einen Heiligen. Ich halte beide Meinungen
für übertrieben. Der Graf ſcheinet mir weder ein
Betrüger noch ein Apoſtel zu ſein, Gleichwohl aber
find' ich in feinem Karakter und in feinen Unterneh—
mungen etwas, das zu beiderlei Urtheil Anlaß geben
kann. Der Graf von Zinzendorf hat nicht allein viel
Witz, ſondern auch ein eine ſtarke Einbildungskraft,
|
| |
welche aber, wenn fie außerordentlich aufgebracht wird,
die gemeine Art zu denken verlieret, ſich ſelbſt über—
ſteiget, und nicht ſelten neben ausſchweifet. Man darf
nur ſeine Gedichte und Lieder leſen, ſo wird man von
dieſem Karakter ſeines Verſtandes gar bald überzeugt
werden. Man findet darinnen ſolche Stellen, die, ſo
| zu reden, aus den erften Quellen des Parnaſſus ſchei—
= 225 =
nen gefloſſen zu ſein. Andere hingegen ſind überaus
trüb und ſumpfig. — Hätte der Graf nichts Außeror—
dentliches und nichts ungleich Scharfſinniges, ſo wür—
ö den ſeine Einſichten klar und lauter ſein; man würde
| fie leicht faſſen und verſtehen können, und man würde
in ſeiner Art zu denken diejenige Ordnung finden, die
man darinnen vermiſſet. Was die äußerliche Geſtalt
des Grafens anlangt, ſo hat derſelbe ein gutes An—
ſehen. Er iſt wohlgewachſen, und hat eine feine Bil—
dung. Seine Augen ſind weder zu finſter, noch zu leb—
haft. Er hat eine friſche Farbe, fleiſchichte Theile, und
alle Anzeigen eines ſanguiniſchen Temperaments. Er
ſieht einem ehrlichen Manne und nicht einem Betrüger
ähnlich; ſeine Manieren ſind edel und ſeiner Geburt
gemäß, man ſieht, daß er unter hohen Standesperſonen
iſt erzogen worden, daß er die große Welt geſehen,
und daß er ſowohl mit Majeſtäten, als mit ſeinen
Brüdern, die meiſtens geringe Handwerksleute ſind,
umzugehen weiß. Er beobachtet überhaupt einen üb-
lichen Wohlſtand. Man ſieht aber, daß er denſelben
alsdann hintenanſetzet, wenn er glaubet, daß ſich ſolcher
Biographiſche Denkmale. V. 15
226 4-48.
—
mit derjenigen Perſon nicht reime, die er in der Welt
vorſtellen will. Hier ereignet ſich öfters eine Gegen-
einanderſtoßung der Hoheit und der Niedrigkeit, wobei
der Graf ſtark ins Gedränge kommt. Er iſt von Na—
tur hitzig, gäh und leicht aufgebracht. Er trotzet auf
ſeinen hohen Stand, wenn man ſein Lehramt angreifet,
und fucht gleichwohl jenen aufzuopfern, um dieſes zu
erheben. Er ſchreibt ſehr demüthig, wenn man aber
ſeine Schriften angreifet, und ſucht gleichwohl jenen
aufzuopfern, um dieſes zu erheben. Er ſchreibt ſehr
demüthig, wenn man aber ſeine Schriften angreifet, ſo
antwortet er hochmüthig. Er läſſet ſich nicht gern etwas
ſagen oder einreden. Dieſes iſt ein kleiner Fehler, der
öfters die größten verurſachet. Er trinket meiſtens
Waſſer, er iſſet gewöhnlich ſtark; zuweilen aber ent—
ziehet er ſich auch die Nahrung, und beobachtet weder
in der Zeit, noch in den Speiſen ſelbſt, eine ſolche
Ordnung, wie es die Unterhaltung ſeiner Geſundheit
erfordert. Er will in allen Stücken feinen Leib ge-
wöhnen, daß ihn weder eine weichliche noch rauhe Le
bensart in ſeinen Unternehmungen hindern möchte. Sehet
hier den Grafen von Zinzendorf, wie ich Gelegenheit
geha habe, ihn ſelbſt kennen zu lernen! Was ſeine
neue Verfaſſungen in dem Religionsweſen betrifft, ſo
muß ich bekennen, daß es mir zu ſchwer vorkommt,
darüber ein Urtheil zu fällen; es iſt zu viel Gutes,
um alles zu ſchelten; es iſt zu viel Zweideutiges, um
alles zu loben; es iſt zu viel Seltſames, um nicht
— 88227 23
einigem Verdacht Raum zu laſſen. Ich bin verſichert,
daß dieſer Graf an und für ſich ſelbſt keinen vorgefaß—
ten Anſchlag habe, die Welt unter dem Schein der
Heiligkeit zu betrügen. Allein man hört von ihm gleich—
wohl ſo viel Beſonderes, daß es eben ſo ſchwer fällt,
diejenigen, die ihn deſſen beſchuldigen, für Lügner, als
ihn ſelbſt für einen vorſätzlichen Betrüger zu halten.
Hätte ihn nichts als der bloße Ehrgeiz geplaget, wo
hätte er ihn beſſer vergnügen können, als an einem
großen Hof, wo ihn ſeine Geburt, ſein Verſtand und
ſeine Wiſſenſchaft zu den erſten Staatsämtern würden
erhoben haben, und wo er allenfalls genug von ſich in
der Welt hätte können reden machen! Es muß alſo,
nach aller Wahrſcheinlichkeit, etwas von Religion und
von Frömmigkeit in ſeinen Bewegungen mit unterlau—
fen, wenn man auch gleich zugiebt, daß im Geiſtlichen
der Hochmuth ja ſo viel, wo nicht noch mehr Nahrung,
als im Weltlichen findet. Wie ſollte der Graf, ja nicht
allein er, ſondern ſein ganzer Anhang, darunter ſich ſo
viele ehrliche Leute befinden, mit einander dahin ſich
verſtanden haben, zum Hohn des Allmächtigen und zur
Verläſterung unſers Erlöſers, eine ſolche Maskerade in
der Welt zu ſpielen? Nein, dieſes kann ich nicht glau—
ben. Man kann ſo leicht aus guten Abſichten irren,
als aus böſen die Wahrheit ſagen. Es iſt bei dieſen
Leuten ein ſich ſelbſt ſchmeichelnder Wahn, welcher ſich
der Sinnen und Einbildungskräfte um ſo vielmehr be—
meiſtert, weil ſie wiſſen, daß ſie keinen andern als
13 *
en 228 .
einen guten Endzweck haben. Wie man nun von einer
Sache immer weiter und weiter geführet wird, je mehr
ſie gewiſſe Fortgänge begleiten, ſo geht es auch mit |
dem herrnhutiſchen Weſen. — Der erleuchtetfte unter
den Apoſteln ſagt zwar von ſich felbft, daß er über dem
Rühmen von Chriſto wäre zum Thoren worden. Aber
dieſes war nur allein in Anſehung der Ungläubigen
welche das Evangelium für eine Thorheit hielten; —
wenn hingegen der Graf von Zinzendorf von ſich ſelbſten
ſagt, er habe den Heiland mit zu Hülfe genommen,
wenn er eine künſtliche Lektion bei dem Tanzmeiſter
hätte machen ſollen, ſo kann es derſelbe der vernünf— |
tigen Welt mitnichten verdenken, daß fie über dieſe und
dergleichen Ausdrücke die Richtigkeit ſeiner Denkensart
in Zweifel ziehet, und dieſes beſonders an ihm auszu-
ſetzen findet, daß hin und wieder er das Lächerliche mit
demjenigen, was heilig und anbetungswürdig iſt, ver
menget. Es iſt mir dieſes an dem Herrn Grafen um
fo viel unbegreiflicher, weil ich ſonſt in feinem äußer⸗
lichen Umgang und Weſen nicht das mindeſte Gaufel-
haftes oder Zweideutiges entdeckt habe. Es iſt alſo
vermuthlich nichts anders, als die außerordentliche Leb⸗
haftigkeit eines Geiſtes, der ſich ſtets in ſich ſelbſt be⸗
ſchäftiget, und eine Menge außerordentlicher Bilder
zeuget. — An Scharfſinnigkeit, Einſicht und guten Ein-
fällen fehlet es dem Grafen gar nicht; ja man kann
von ihm mit Grund und Wahrheit ſagen, daß er ehen-
der zu viel, als zu wenig Witz habe. Man muß inſon⸗
8
> 229 Bo
derheit deſſen artige Schreibart in franzöſiſcher Sprache
bewundern. Ich habe Briefe von ihm geleſen, die ein
ſo feiner Witz, eine ſo zärtliche Wendungskunſt und
eine ſolche Stärke in den Ausdrücken belebet, daß man
ſolche den geſchickteſten Skribenten dieſes Volks zu—
ſchreiben ſollte. Von ſeinen Gedichten und Liedern iſt
ſchon oben Meldung geſchehen. Wenn er die heilige
Schrift erkläret, oder von geiſtlichen Dingen ſpricht, fo
braucht er öfters ſolche Redensarten, die ganz außer—
ordentlich ſind, und ſehr von der Eigenſchaft der hei—
ligen Sprache abgehen; wenn er von der Liebe des
Heilandes redet, ſo treibt er nicht ſelten die Einbil—
dungskraft fo weit, daß er dazu die ſchlüpfrigſten Vor—
ſtellungen der fleiſchlichen Liebe entlehnet. — Ich glaube,
daß der Graf dieſe Sachen in dem beſten Sinn von
der Welt mag geſchrieben haben. Ich ſelbſt bin auch
nicht in Abrede, daß ſie in einem reinen geläuterten
Verſtand von der Braut Chriſti wohl alſo mögen an—
gebracht werden; allein man muß gleichwohl die Myſtik
hier nicht zu weit treiben. Die Bilder von der fleiſch—
lichen Liebe ſind voller Unreinigkeit und Befleckung: ſie
erwecken ſolche Begriffe und Vorſtellungen, die ſich zu
einer reinen Andacht gar nicht ſchicken; ja ſie machen
ſelbſt die Unſchuld und die Schamhaftigkeit erröthen.
Kein Apoſtel, kein Heiliger bedienet ſich ſolcher Aus—
drucke, die man in den herrnhutiſchen Liedern findet.
Warum bleiben wir nicht einfältig bei der Sprache des
Evangelii? Ich weiß zwar wohl, daß ſich zuweilen
|
die Propheten, und infonderheit der Verfaſſer des hohen |
Liedes, dergleichen Ausdrücke und Redensarten bedienet
haben; allein die Zeiten haben einen großen Unter⸗
ſchied in der Lebensart und in der Sprachweiſe der
Menſchen gemacht. — Die Gelegenheit zu der neuen
herrnhutiſchen Sekte waren einige mähriſche Familien,
die ſich auf der Herrſchaft des Grafen von Zinzendorf
in der Lauſitz niederließen, und den Ort Herrnhut er—
baueten. — Leute von verſchiedenen Sekten und Mei-
nungen ſchlugen ſich zu ihnen; ſie errichteten unter dem
Schutz und unter dem Anſehen des Grafens eine neue
Art der geiſtlichen Brüderſchaft, und machten allerhand
gute Anſtalten, das Leben, die Aufführung und die
Sitten ihrer Mitglieder zu formiren, ja ſie trieben
ihren Eifer zur Ausbreitung des Chriſtenthums bis in
die entfernteſten Weltgegenden; — ich verwundere mich
nicht, daß dieſe Leute ſo große Dinge unternehmen;
ich verwundre mich aber, daß ſie von Statten gehen,
und daß binnen einer Zeit von fünfzehn Jahren die
halbe Welt von dieſen Dingen iſt angefüllet worden.
Die allenthalben täglich mehr überhandnehmenden Miß—
bräuche, welche ein närriſcher Hochmuth und eine zaum
loſe Ueppigkeit emportreiben, und die beſten Haushal-
tungen in Unordnung bringen, mögen gleichfalls, ſo—
wohl als der Trieb zur Frömmigkeit, die Urſache ſein,
daß ſich ſo viele Leute zu den Herrnhutern geſellen,
darunter inſonderheit einige reiche Engländer, Holländer
und Schweizer ſich befinden, welche durch große Geld—
D 230 &
2
— —
e 8 231 83.
ſummen den Grafen von Zinzendorf in den Stand
ſetzen, ganze Herrſchaften hin und wieder anzukaufen
und ganze Länder zu bevölkern. Wenn ich alle dieſe
Dinge an und für ſich ſelbſt, als ein Menſch, der un⸗
partheiiſch die Wahrheit liebet, und ohne einige mir
wohlbekannte Vorurtheile zu prüfen, vor mich nehme,
ſo kann ich unmöglich in meinem Herzen den Verdacht
rechtfertigen, daß die ſo übel beſchrieenen Herrnhuter
ein ſo böſes und abſcheuliches Volk ſein ſollen, als ſie
insgemein beſchrieben werden. Ich finde nicht, daß die
Wahrheit der Religion dadurch etwas gewinnet, wenn
man in dem Eifer gegen Irrende ſich ſelbſt aus der
Freiheit ſetzet, ein gründliches Urtheil zu fällen. Daß
es aber unter ihnen viele Schwärmer, Fantaſten, Müßig—
gänger und dergleichen gebe, ſolches iſt nicht zu läug—
nen; man müßte denn die allerunverwerflichſten Zeug—
niſſe einiger unſrer größten Theologen einer Unrichtig—
keit beſchuldigen wollen, welches ich mir nicht in den
Sinn kommen laſſe. Wo find aber Gemeinden, da
nicht Böſe und Gute untereinander ſind? Ich muß
hier der Wahrheit Zeugniß geben, diejenigen, die ich
von ihnen gekannt habe, waren meiſtens artige, wohl—
gezogene, und in den göttlichen Wegen wohlerfahrene
Leute: inſonderheit die mähriſchen Leute ſelbſt, die,
wenn ich ſie ſchelten wollte, bewundern müßte.“ So
weit der genannte Schriftſteller.
aD 232 K.
Unſre Erzählung, wie das eben Geleſene bezeugt,
ſchreitet ſchon inmitten der Zeiten, welche für Zinzen—
dorf's Leben und Wirken als die heißeſten gelten kön—
nen. Seine Unternehmungen waren im höchſten Auf—
ſchwung und ſahen weithin neue Grundlagen ihrer ge—
deihlichſten Niederlaſſungen verbreitet. Ein religiöfes
Treiben, welches aus der Stille, in der es aufgewach—
ſen, nun durch Verkündigung in Hauptſtädten, durch
Aufſtellung ungewöhnlicher kirchlichen Würden, durch
Gründung neuer Ortſchaften in verſchiedenen Ländern,
und durch Miſſionen in fremden Welttheilen, auf den
großen Schauplatz der Oeffentlichkeit hervorgetreten
war, mußte jedes Geſchick erfahren, welches der Ta—
gesantheil einer aufgeregten großen und kleinen Welt
immer ſeinen Gegenſtänden mitbringt. Während Bei—
fall und Nachfolge ſich vielfältig und bedeutend zeig—
ten, wurden zugleich Haß und Verwerfung laut, und
von allen Seiten ſtürmten ergrimmte Feinde gegen
Zinzendorf perſönlich, wie gegen die Brüdergemeinde,
gewaltſam an. Beſonders machten es ſich die Geiſt—
lichen zur Pflicht, die Lehre und den Wandel der neuen
Sekte ſcharf zu prüfen, und fie als verkehrt und gott—
los darzuſtellen. Angeſehene Prediger und berühmte
Gottesgelehrte führten dieſen Kampf mit aller Leiden—
ſchaft, und mit allen Vortheilen ihrer perſönlichen Stel—
lung. Aus dem Leben und den Aeußerungen des un—
aufhörlich thätigen, nicht ſelten über unſichern Boden
hineilenden Grafen und ſeiner Anhänger, einiger tau—
4
sm 233 DI
fend in ihrem Eifer nichts weniger als vorfichtigen, und
durch Bildung felten unterſtützten Leute, war leicht fo
viel Gift abzuſondern, als nöthig ſchien, um das ganze
Weſen, weil es dergleichen enthalte, für verdammens—
würdig zu erklären. Frühere Vertraute, welche ſich
dann zurückzogen, abtrünnige, wohl gar ausgeſtoßene
Brüder, welche ſich an der Gemeinde durch Verrath
rächten, vermehrten die Zahl der Feinde, und man
glaubte ihnen um ſo lieber, da ſie das Anſehn hatten,
mit völliger Sachkenntniß zu urtheilen. Dieſer Haß,
dieſe Verläumdungen und Läſterungen, und der fortge—
ſetzte Kampf, zu welchem ſie nöthigten, erſtreckten ſich
über Zinzendorf's nächſtfolgende Jahre mit geſteigerter
Wuth und Gefahr. Mancher Schlag mußte tief tref—
fen, manche Wunde ſchwer heilen, und oft für den
Grafen und feine Mitardeiter ſich die Ausſicht völlig
trüben; allein ihr Muth erlag nicht, ſelber das, was in
ihnen Irriges und Schwächeres war, ging durch den
Kampf allmählich in Trümmer, und ihr Beſſeres fand
nur um ſo feſteren Beſtand. Was in Betreff der Re—
ligionswiſſenſchaft ihnen als Irrlehre, als falſche Aus—
legung der heiligen Schrift, oder als Widerſpruch ge—
gen dieſelbe, vorgeworfen wurde, überlaſſen wir billig
Andern zu erörtern, welche dieſes Gebiet zu betreten
näheren Beruf haben. Uns darf in ſolcher Hinſicht ge—
nügen, daß Zinzendorf von dem augsburgiſchen Glau—
bensbekenntniſſe in der Lehre nicht abweichen wollte,
und ihm das Zeugniß der Uebereinſtimmung mit dem—
iD 234 3
—
ſelben von theologiſchen Behörden und einzelnen Gottes—
gelehrten ſeiner Zeit wirklich gegeben wurde.
Dagegen dürfen wir Anlaß nehmen, hier einige
Beſonderheiten, die ſich in ſeinen praktiſchen Einrich—
tungen darſtellen, und von jeher am meiſten die An—
griffe und das Geſpött der Gegner erduldet haben,
näher einzuſehn. Der Gebrauch des Looſes, beſonders
auch bei Eheſtiftungen, wo daſſelbe jedoch nicht ſowohl
Verbindungen angab, als vielmehr ſchon anderweitig
vorgeſchlagene nur beſtätigte oder verwarf, wurde viel-
fältig gemißbilligt; man ſah darin einen Frevel gegen
die Vernunft, und vielmehr eine Abgötterei für den
Zufall, als eine Verehrung des Heilands; ja man ſcheute
ſich nicht zu behaupten, der Graf lenke das Loos be—
trügeriſch nach ſchon vorgefaßter Abſicht. Eben fo
wurde das Zuſammenwohnen lediger Perſonen in Brü—
der- und Schweſternhäuſern, in deren eigenthümlicher
Lebensordnung doch niemand zu verbleiben gezwungen
war, als eine Anſtalt, welche zum katholiſchen Kloſter—
weſen hinneige, hart getadelt. Allein dies und andres
der Art erregte nur eine untergeordnete Aufmerkſamkeit
in Vergleich mit dem allgemeinen und ſchreienden Aer—
gerniß, welches die herrnhutiſchen Eheſachen anrichten
mußten. Eine noch in keiner Geſetzgebung oder Sit—
tenordnung völlig gelöſte Schwierigkeit iſt die Behand—
lung des Geſchlechtlichen im Menſchen. Hier verflech—
ten ſich in der That ſo mannigfache Verhältniſſe, Be—
dingungen und Folgen, daß es unmöglich ſcheint, für
*
DB 235 S8.
alle den einen, nach jeder Seite zugleich wirkenden und
ausreichenden, feſten Beſtimmungsgrund zu finden. Den
mächtigſten und unabweislichſten Trieb, worin ſich Höch—
ſtes und Niedrigſtes verbindet, zu unterdrücken, iſt eben
ſo unthunlich, als ihn freizulaſſen, und hinwieder thun
Maß und Schranken jeder Art unzulänglich und wider—
ſprüchig faſt nur das eine mit dem andern. Frühere
Zeiten hatten, in unbedingter ſittlicher Forderung, alles
verſucht, den Störungen, welche von daher dem geſell—
ſchaftlichen Zuſtande kamen, mit äußerſter Strenge zu
begegnen; gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhun—
derts wurde in dieſer Beziehung, weil man mehr die
Natur betrachtete, Milde und Nachſicht herrſchend, und
in der That pflegt noch bis ſpät herab nichts milder
beurtheilt, leichter verziehen, mehr dem perſönlichen
Gutdünken anheimgeſtellt zu werden, als die Behand—
lung dieſer Verhältniſſe. Auf ſolche Weiſe die Sache
zu nehmen, war nun Zinzendorf gar nicht geneigt, ſeine
ganze Richtung ſtand in dieſem Betreff mit der ihn
umgebenden Welt im ſtärkſten Widerſpruch. Die Sit—
ten, welche er in Paris, am Hofe zu Dresden und
andern Orten, nah genug geſehen und beſeufzt, muß—
ten ihn abſtoßen. Aber auch die finſtern Ergebniſſe
der äußerlichen Geſetzesſtrenge, die bei den Pietiſten
oder bei klöſterlichen Entſagungsgelübden Statt fan—
den, konnten ſein heitres, liebevolles Gemüth nicht an—
ziehen. Seine Vorſtellungen gingen vielmehr einen
eignen Gang, der nicht ſowohl die Unterdrückung der
en 236 S.
Sinnlichkeit, als ihre Erhebung und Heiligung bezweckte,
und dadurch ihren ſtörenden Beſtandtheil beſeitigen wollte.
Wir vereinigen hier einige Stellen, in welchen er ſelbſt
ſeine Meinung über dieſe zarten Gegenſtände unum—
wunden genug ausſpricht. Von der Sinnlichkeit im All—
gemeinen ſprechend läßt er ſich alſo vernehmen: „Das
iſt eine wichtige Materie von dem nöthigen Gefühl,
das einem jeden körperlichen Weſen eigen. Ich habe
oft obſervirt, wenn man ſich ſtößt am Fuß, und man
fühlt nicht drauf, ſo kriegt man keinen blauen Flecken;
bloß darum, weil das Gemüth nicht entrirt. Wenn
man's aber berührt, ſo wird's oft ſchlecht. Es iſt ein
großer Unterſchied unter dem Gefühl, das per se iſt,
und dem Gefühl, das in die Gedanken geführt wird.
Das Gefühl, das Grundgefühl bei einer Sache, kann
kein Menſch evitiren: aber er kann ſchon den zweiten
Gedanken und alle darauf folgenden vermeiden. Es
ſind gewiſſe einander ganz ähnliche Gefühle in der Na—
tur, z. B. das Jucken, wenn eine Wunde heilt, iſt
accurat ſo als das, was man ſonſt Wohlthun nennt;
und wenn das Gefühl wieder in Exceß geht, ſo wird
ein Wehthun daraus. Denn Wohl- und Wehthun
kann ſich in einem Moment zuſammenfinden. Was iſt
der Wolluſt näher als der Kitzel? und derſelbe kann
ſich doch in eine hölliſche Pein verwandeln, die den Tod
nach ſich ziehet. Alſo iſt das, was man Luſt nennt,
eine bloße Wirkung des menſchlichen Gemüths; und es
giebt keine Luſt, die in einer bloßen unreflektirten Sen—
e 237 93
fation beſtünde. So iſt's auch mit der Augenluſt.
Ich kann eine Schönheit ſehen, davon hab' ich keinen
Schaden. Ich kann dazu denken: das iſt eine Schön—
heit; aber es fehlt noch ein Gedanke, ehe es Schaden
thun kann, und ehe ich aus der angeliſchen Idee her—
auskomme. Ich kann noch eine angeliſche Reflexion
dazu haben, ehe es zur andern Reflexion kommt. Und
was muß da deeidiren? Nichts als das Herz. Wenn
das Herz einmal dahinein geſchickt iſt, wo es ewig
wünſcht zu ſein, und wenn alles, was das Herz denkt,
aus der Quelle kommt: if iſt man mit der Luſt auf
ewig getrennt, und ſie hat Abſchied genommen. Was
hernach die Empfindung iſt, die allen Weſen eigen iſt,
nach der verſchiedenen Modifikation, die zu diverſen
Sachen gehört: da iſt die Empfindlichkeit oder Unem—
vfindlichkeit mehr im natürlichen Temperament und Kom—
voſition der äußeren Theile zu ſuchen, als im Gemüth.
Ein ganz unbekehrter Menſch kann unempfindlich ſein,
und ein edles Gemüth kann eine geplagte Hütte haben;
und je edler es iſt, je mehr es drüber ſorgt, je mehr
ſich's drüber grämt, je geplagter wird's; und nichts iſt
unnützer und alberner, als die Remeduren, die man
durch vertrauliche Geſpräche, Gemüthsunterhandlungen,
oder gar Diät u. ſ. w. ſchaffen will. Denn je we—
niger die Sachen in Gedanken, geſchweige in Worte
kommen, je ſorgfältiger man ſich ſelber alle Gedanken
drüber erſpart, je beſſer iſt's. Aber ich glaube freilich,
daß Eheleute darin einen Vorzug haben vor ledigen
- 2
238 S2
Leuten. Denn die ledigen Leute, die keinen ſakrament—
lichen Gebrauch und befohlne Anwendung einer gewiſ—
ſen Fakultät haben können, die doch in ihnen liegt, kön—
nen auch das exereitium apathias nicht fo haben und
erlangen, als durch Zeit und Jahre: da hingegen ein
junger Ehemann in den Zwanzigen zu einer Apathie
kommen kann ungeſucht, durch den bloßen realen, mo—
deſten, andächtigen Gebrauch aller ihm gegebenen Werk—
zeuge. Das iſt die einige Differenz, worin die treuen
ledigen Geſchwiſter uns allezeit reſpektabel bleiben, wo |
wir Eheleute in merito zurückbleiben, und die Segel
vor ihnen ſtreichen müſſen.“ Die wahre Bedeutung
der chriſtlichen Ehe ſelbſt, deren höchſte Art, daß die
Frau den geiſtlichen Beruf des Mannes ganz mitüber—
nimmt, und Heimath, Wohlſtand, ja ſelbſt die eignen
Kinder zu verlaſſen, und ihn um des Heilands willen
in jede Noth und Ferne zu begleiten ſtets fertig iſt, er
zum Unterſchiede einer gewöhnlichen, ordentlichen, eine
Streiterehe nannte, erklärt er folgendergeſtalt: „Ich
bin dazu berufen, daß ich meiner Schweſter ſoll anſtatt
des Heilands, ihr Prieſter ſein, eine kleine Hauskirche
mit ihr konſtituiren, die entweder ſo bleiben, oder nach
des Heilands Willen zu einer größern Synagoge wer—
den ſoll, und die, wenn ich einmal tractu temporis zwan—
zigtauſend Kinder habe, von Rechts wegen eine aparte
Synagoge und Geſellſchaft unter dem großen Haufen
muß abgeben können, die bloß um's Heilands willen
da, um's Heilands willen erzeugt ſein, und die, in alle
15
b 239 N
—
die Branchen ausgetheilt, noch immer wiſſen kann, was
ihr Urvater gewollt, da er das erſte Kind gezeugt hat.
Das heißt eine Familie Gottes in die Welt pflanzen,
die, wenn fie ſich auf viele tauſend Menſchen erſtreckt,
| doch noch immer dieſelbe erſte Familie iſt. — Wenn
ein Menſch denkt, und keinen andern Zweck hat, ſo iſt's
keine Kunſt, daß er den Eheſtand heilig führt. Was
man in der Welt von Stillung der Lüfte ſpricht, kommt
da nicht in Komputation. Man hat darum nicht ge—
heirathet; die Kohabitation ſelbſt iſt nur ein Special—
kaſus, nur eine der zwanzig andern Schuldigkeiten, die
in der Ehe vorkommen. Sie iſt im Namen Jeſu vor—
| zunehmen, und zu erwarten, ob fie der Heiland ſegnen
will zu einer Gottesfamilie auf Erden, oder ob er zwei
ſelige und unter ſich ſelbſt vergnügte Herzen singulatim
erhalten will. Denn ein Eheſtand ohne Kinder iſt in
ſich ſelbſt eben ſo groß und wichtig, als mit Kindern.
— — Das Kinderzeugen iſt unter die Dinge rangirt,
die man nun eben um's Heilands willen auf ſich nimmt.
Wer hat denn geſagt, daß die Sache die geringſte Kon—
nexion mit dem fleiſchlichen Plaiſir hat? Das iſt eine
Phantaſie, die hat entweder der Satan in die menſch—
liche Idee gezaubert, oder auch der kondeſcendente
Schöpfer darum zugelaſſen, weil ſonſt niemand hei—
rathen würde, als ſeine wenigen Leute auf Erden.
Wenn man des Heilands iſt, ſo fallen auch die Schup—
pen von den Augen weg: man ſieht was anders, es iſt
das nicht, was man ſich vorſtellt. — Der Ehrenge—
*
*
danke Ebr. 13, 4. hat ſollen in unſre Geſchwiſter hin⸗
einkommen, daran iſt zwölf Jahre gearbeitet worden,
und das iſt geſchehen: das iſt ein univerſeller Gedanke
worden: und wer von unſern Geſchwiſtern, die in der
Gemeinde heirathen, anders dächte, der käme ſich ſelbſt
wie ein Spektakel vor, wie ein Barbar unter den An—
dern.“ An ſolchen Vorſtellungen, denen man das Geiſt—
reiche nicht abſprechen wird, brauchte man noch eben
nicht Anſtoß zu nehmen; allein die ſtrenge Folgerichtig—
keit, mit welcher Zinzendorf ſie unmittelbar auf die
Wirklichkeit des Lebens auch im Einzelnen anwenden
wollte, mußte die gewaltigſten Aergerniſſe hervorrufen.
Er konnte hiebei die Klippe nicht vermeiden, an welche,
bei ſorgfältiger Auseinanderſetzung ähnlicher Bezüge,
der ſpaniſche Jeſuit Sanchez, in ſeinem faſt nur dieſer—
halb noch berühmten Werke von der Ehe, ſtoßen mußte,
die Klippe nämlich, mit dieſen Gegenſtänden ſich zu ge—
nau zu beſchäftigen, ihre Arten zu unterſuchen, ſie nach
ihren Zweckmäßigkeiten abzuwägen, auszuſondern, und
nicht nur im Allgemeinen ein Kundiger zu ſein, ſon—
dern auch im Beſondern der einzelnen Verhältniſſe ſich
als Dritter in die vertraulichſten Geheimniſſe einzu—
drängen. Hiebei mußte natürlich jede Zurückhaltung
weichen; die Benennung der menſchlichen Glieder und
der verſchiedenen Handlungen, welche hier in Betracht kom—
men, geſchah, gleich dieſen Handlungen ſelbſt, ohne Scham
und Scheu; Zinzendorf bekannte frei, daß er die Glieder
zur Unterſcheidung des Geſchlechts für die ehrwürdig—
ſten am ganzen Leibe achte, weil ſie ſein Herr und
e
11 ö
Gott theils bewohnet, theils ſelbſt getragen habe; ja
die Scham wurde ausdrücklich verdammt, als vom
Satan in eine heilige Handlung hinein gehext und ge—
zaubert, welche, da fie in ihrem höchften Augenblicke
nur die Vereinigung Chriſti mit ſeiner Kirche bedeute,
— erſterer durch den Mann, gleichſam den Vice-Chriſt,
letztere durch die Frau, deren eigentlicher Mann immer
nur Chriſtus bleibe, vorgeſtellt, — für diejenigen, welche
dieſen Sinn und dieſes Bewußtſein dabei hegen, ſo
| wenig mit der ſinnlichen Wolluſt gemein habe, als der
Genuß des heiligen Abendmahls mit der Begierde eines
Weintrinkers! Auch bis dahin läßt ſich das Erhabene
und Reine in der Betrachtungsweiſe Zinzendorf's nicht
verkennen, wiewohl auch das Bedenkliche nicht, ſie auf
jeden vorkommenden Fall ausdrücklich anzuwenden. Je—
mehr er dieſe Dinge überdachte, um ſo mehr fiel ihm
ihre Wichtigkeit auf, und glaubte er ſie dem Zufall
und der Willkür auch im Kleinſten entreißen zu müſſen.
Daher wurden Anſtalten aller Art getroffen, vorberei—
tender Unterricht ertheilt, jedwedes Benehmen und Un—
terlaſſen genau vorgeſchrieben. Bald kam von dieſen
Sachen einige Kenntniß ins Publikum; man erzählte
von dem blauen Kabinet, in welchem die Neuvermähl—
ten ihre Viertelſtunden halten mußten, und welches,
außer einem Tiſche mit brennendem Lichte und einem
Bänkchen oder Hutſche, kein andres Geräth mehr hatte,
von der feſtgeſetzten, ohne vorgängiges Geſpräch und
Liebkoſen zu haltenden Vereinigung, von der Liederbe—
Biograpbiſche Denkmale. V. . 16
<> 241 E22
2 242 B
gleitung, welche dazu im Nebenzimmer von Brüdern
und Schweftern gemacht wurde, von den ausforſchen—
den Fragen und Verhören, welche ſodann folgten, und
von andern ſolchen Gebräuchen und Umſtänden, deren
auffallende Eigenart bald dem zürnenden Unwillen, bald
dem ſchnödeſten Hohne zum Gegenſtande dienen mußte.
Dergleichen Heimlichkeiten, welche im perſönlichen in—
nigſten Vertrauen zwiſchen Zweien vorgehen, in irgend
allgemeine Beziehung bringen, Erfahrungen daraus auf—
ſtellen und Grundſätze herleiten wollen, iſt ſchon der
ärztlichen Naturforſchung ein bedenkliches Vorhaben,
dem Sittengeſetzgeber das allerbedenklichſte. Um wie
viel ſchlimmer ſtellt ſich nun die Sache, wenn gar die
öffentliche Verhandlung hinzukommt, welche bei dieſen
Gegenſtänden ſchon das Gewöhnliche zum Aergerniß
macht, hier aber das Ungewöhnlichſte mit ſchonungs—
loſer Rohheit zu mißhandeln bekam! Ganz abzuläug—
nen waren die Sachen nicht; mochte vieles übertrieben,
andres mißverſtanden, allem das urſprünglich Zarte
und Geiſtige genommen ſein, ſo blieb doch die Haupt—
ſache wahr. Wir ſehen dies aus Zinzendorf's eignen
Worten, ſelbſt indem er durchaus glaubhaft ſeine Be—
ſcheidenheit in dieſer ſtets mißlichen Beſchäftigung ver—
ſichert, läßt er uns erkennen, daß, auch indem er ſich
zurückzuhalten wähnt, ſchon einiger Fürwitz ihn allzu
weit geführt habe. Er ſagt in einer Stelle ganz auf—
richtig: „Es iſt eigentlich nichts gefährlich, als der
erſte Eingang in die Ehe. Ich frage nichts darnach,
=
55 243 I
wenn einem die Geſchwiſter in ihrem ganzen Leben
nichts mehr von ihren Umſtänden ſagen; wenn ich nur
um den Eingang weiß. Was fie darnach machen,
überlaſſe ich ihnen. Wenn ſie mich nicht brauchen, fo
brauche ich fie auch nicht. Die Kuriofität, zu wiſſen was
ſie machen, reizt mich nicht. Die erſten Anfänge haben
was Schweres und oft Intrikates. Im erſten Anfang
ſind ſie Schüler, und je weiter ſie in den ledigen
Chören in der Gnade wachſen, und je mehr ſie von
allen fleiſchlichen Ideen abkommen, je unbeſonnener und
kindiſcher werden die Geſchwiſter in der Materie, ſo,
daß die Welt nicht konzipiren kann, was junge Ehe—
leute in der Gemeinde vor Kinder find: fie dachte, man
hätte ſie zum Narren, wenn man's ihr ſagte. Unter—
deſſen können wir's nicht ändern: wenn's gleich in der
ganzen Welt anders iſt, ja wider alle Welterfahrung
zu ſtreiten ſcheint.“ — In dieſem Sinne ſchrieb er in
feinem Bericht an die engliſche Kirche: „There are
some oddities in our way, in our constitution.“ Wenn
es wahr iſt, was dem Grafen nachgeſagt wird, daß er
in Herruhut nachts Umgänge gehalten, die ſchlafenden
Eheleute — da keine Thüre verſchloſſen ſein durfte —
unvermuthet beſucht, ſie befragt, geprüft, und nach Be—
fund geſcholten habe, ſo muß man freilich dieſe Oddi—
taten, wie er auch im Deutſchen zu ſagen pflegte, reich—
lich zugeſtanden ſein laſſen. ü
Im nächſten Zuſammenhange mit dieſen Eheſachen
ſtand das Liederweſen der Herrnhuter; war bei jenen
16 *
im Praktiſchen allerdings Geheimniß und Zurückhal—
tung beabſichtigt und eine Zeitlang wenigſtens gegen
die Welt bewahrt, ſo kamen ſie dennoch durch die Ge—
ſangbücher der Gemeinde, in der hier unbewachten An—
wendung der außerordentlichſten Ausdrücke und wun—
derbarſten Bilder, unvermeidlich zur größten Oeffent—
lichkeit. Der dichteriſche Sinn des Grafen hatte ſich
von jeher mit großer Vorliebe den Liedern zugewendet,
welche in dem proteſtantiſchen Gottesdienſte ſchon ſeit
Luther eine fo bedeutende Stelle haben. Durch Aus-
wahl und Zuſammenſtellung aus dem ungeheuern Vor—
rath ein neues Geſangbuch für die Gemeinde anzufer—
tigen, ſtellte ſich von ſelbſt ihrem Stifter zur Aufgabe.
Zinzendorf's eigner Verſuch war jedoch, wie wir geſe—
hen, zuerſt auf ein Unternehmen gerichtet, welches den
katholiſchen Frommen dienen ſollte. Später gab im
Jahre 1731 der Gerichtshalter Marche, der in Görlitz
einen Buchhandel anlegte, eine Sammlung alter und
neuer Lieder heraus, welche der Graf ausgeſucht und
durch Weglaſſungen und Zuſätze möglichſt nach ſeinem
Sinn eingerichtet hatte. Seine Abſicht aber war, da—
durch einige Liederbücher zu verdrängen, welche vieles
Gefährliche und Verwerfliche enthielten, aber bei Se—
paratiſten und Sektirern beliebt waren; um dieſen den
Tauſch annehmlich zu machen, durfte nicht alles An—
ſtößige oder Bedenkliche ſogleich weggeräumt werden,
es ſchien genug, fürerſt das Schlimmſte fortgeſchafft
und das weniger Schlimme unter vieles Beſſere ge—
— 88 245 .
ſtellt zu haben. Die vielen Einwendungen, welche ge—
gen dieſes freilich nicht ohne Mißgriffe gebliebene Ver—
fahren laut wurden, und die ſtarken Vorwürfe und
argen Verdächtigungen, die ſich deßhalb erhoben, be—
wirkten doch, daß man dieſes Geſangbuch bald wieder
fallen ließ. Inzwiſchen mehrte ſich in der Gemeinde
die Luſt und Uebung des Geſanges; die Gabe des
Grafen, Lieder aus dem Herzen zu ſingen, wirkte als
Beiſpiel fruchtbar, und es fehlte nicht an Männern,
Frauen, ja ſelbſt Kindern, welche ihre frommen Em—
pfindungen oder Einfälle in bekannten Liederweiſen gut
oder übel auszudrücken ſuchten. Unter den Händen oft
gänzlich unterrichts- und bildungs loſer Leute mußte des
Rohen und Abgeſchmackten auf dieſe Art mehr entſtehn,
als des Edlen und Würdigen, und Gunſt und Luſt der
Menge haftete, nach mannigfachen beſondern Einwir—
kungen und Nebenumſtänden der Entſtehung, oft vor—
zugsweiſe an dem Werthloſen oder Abentheuerlichen.
Zinzendorf ſelbſt hatte bei ſeiner leichten Dichtungs—
gabe den unlauterſten Geſchmack, ihm ſtand die Wohl—
meinung des Inhalts, oder auch nur der Abſicht, für
alles Ungefüge der Bilder und der Sprache reichlich
ein, und er ſelbſt beſtärkte nur die ſchlechte Richtung
durch ſeinen Beifall wie durch ſein Vorbild. Ein zwei—
tes, im Jahre 1735 für die Gemeinde zu Herrnhut er—
ſchienenes Geſangbuch enthielt, mit vielem älteren und
neueren Guten auch vieles Geringe und Anſtößige, be—
ſonders in den Anhängen, welche größtentheils das
<> 246 .
eigne Erzeugniß des Grafen und feiner herrnhutiſchen
Dichtungsverwandten lieferten. Außer den in dem Ge—
ſangbuch enthaltenen war aber noch eine große Menge
andrer Lieder im Schwange, deren Bekanntwerden nicht
verhindert blieb. Da fanden ſich denn hohle, zum völ—
ligen Ueberdruß wiederkehrende Formenſpiele, angehäuf—
ter Wortſchall, und verrenkte Sprachwendungen aller
Art, um die Verliebtheit in den Heiland, den Lobpreis
des Lammes und andre ſolche Vorſtellungen auszu—
drücken. Beſonders gaben die Wunden des Heilands
einen unerſchöpflichen Stoff der überſchwänglichſten Be—
ſingung. Wir dürfen manches der Zeit nach Spätere
gleich in denſelben Zuſammenhang mitfaſſen, und da—
her eben hier auch der ſogenannten Wundenlitanei er—
wähnen, welche mit angereihten Fürbitten abwechſelnd
dieſe Wunden als würdige, liebſte, kräftige, geheime,
klare, funkelnde, hohle, ſaftige, nahe, niedliche, warme,
weiche, heiße, ewige anrief, und mit noch andern ſol—
chen Bezeichnungen, welche kaum etwas wahrhaft Un—
terſcheidbares lieferten. Zu dieſem Wechſel der Bei—
wörter giebt die Vervielfachung des Hauptworts in
nachſtehender Strophe das Gegenſtück:
„Des wunden Kreuzgotts Bundesblut,
Die Wunden-Wunden-Wundenfluth,
Ihr Wunden, ja ihr Wunden!
Eur Wunden-Wunden-Wundengut,
Macht Wunden-Wunden-Wundenmuth,
Und Wunden, Herzenswunden.
BD 247 I
Wunden! Wunden! Geißelwunden!
Dornenwunden! Nägelſchrunden!
Speerſchlitz! Grüß euch Gott, ihr Wunden!“
Vor den andern erhielt hauptſächlich die Seitenwunde,
welche der Speer geriſſen hatte, den Preis der Andacht
und Zuneigung in vervielfachten Ausdrücken der ver—
liebteſten Entzückung; das Seitenhöhlchen, wie ſie es
nannten, wurde die Zuflucht der Sünder, die warme
Lagerſtätte, worin die Kinder Gottes, nach ihrem Be—
hagen, in die Länge oder Quere ſich ausſtrecken, worin
ſie ſpielen, ein Mund, welchen ſie küſſen, und tauſend
andres ſolcher Art. Man würde nicht glauben wie
weit dieſes kindiſche Getändel ſich verirren konnte, wenn
wir nicht eine Probe davon in folgender Liedweiſe zu
geben hätten, welche jedweden Gegenſtand, der ſich von
ungefähr dem Blicke darbot, ſogleich zu ihrer unend—
lichen Fortſetzung verbrauchen mochte; ſo hieß es denn
wohl beliebig: |
„Seitenhöhlchen küßt das Döschen,
Döschen küßt das Seitenhöhlchen,
Seitenhöhlchen küßt das Uhrchen,
Uhrchen küßt das Seitenhöhlchen,
Seitenhöhlchen küßt das Händchen,
Händchen küßt das Seitenhöhlchen,
Seitenhöhlchen küßt die Schweſter,
Schweſter küßt das Seitenhöhlchen.
Küſſe, küſſe, küſſe, küſſe, küſſe, küſſe!“
Einzelne mißgeartete Ausdrücke wurden in dieſen Wahn—
ſpielereien zur allgemeinen Gunſt erhoben und überall
angewandt. Da ſich in Wunden leicht Würmer erzeu—
gen, ſo war auch ein Wundenwürmelein in dem Sei—
tenhöhlchen bald gefunden, und die Blutwürmeleins—
mäßigkeit davon als ein ungeheures Abſtraktum. Die
Verſchränkung und Ausdehnung der Bilder gränzte nicht
ſelten an das Auffallendſte, was in dieſer Art die mor⸗
genländiſche Dichtkunſt hat. Den meiſten Lärm und
Spott hat aber das Wort Kreuzluftvögelein aufgeregt,
welches Zinzendorf in einem Liede auf den Geburtstag
ſeines Sohnes Chriſtian Renatus zuerſt in den Verſen
gebraucht hatte:
„Ein Kreuzluftvögelein,
*
Kränkelnd vor Liebespein
Nach Jeſu Seitenſchrein,“
und das nebſt den ähnlich gebildeten Kreuzluftbienelein,
Kreuzluftkerzelein, Kreuzluftwägelein, Kreuzluftmägde—
lein, in unzähligen Wendungen immerfort wieder vor—
kam. Zinzendorf bemühte ſich zwar, in dem bald all—
gemein verrufenen Wort einen leidlichen Sinn nachzu—
werfen; die Ausdünſtung des Leichnams am Kreuze,
ſagt er, iſt die Kreuzesluft, ſie zieht die Seelen her—
bei, welchen ſolcher Geruch angenehm iſt und ihre
Speiſe verkündigt, wie ja auch die Vögel ihre Nah—
rung wittern; allein der Ausdruck blieb verſchrieen, und
man hat lange Zeit alles Abentheuerliche der Herrn—
huter nur kurzweg ihre Kreuzluftvögelein genannt.“
Wenn nun gar die eigenthümlichen Liebes vorſtellungen
— 88 249 >
—
und Eheheimlichkeiten in ſolchen Liedern durchſchim—
merten, ſo war freilich das Aergerniß höher nicht zu
treiben. Die Trunkenheit in folgenden Strophen konnte
nur allzu thöricht dünken: N
„Ach wir zwei Seelchen
Du Seitenhöhlchen,
Und ich, ſind nur Ein Herz,
Das ſing ich ohne Scherz,
In Ewigkeit;
Mein Herzempfinden
Läßt ſich entzünden,
So oft er immer will,
Und ich halt' ihm nur ſtill,
In Ewigkeit.
Ach welche Blicke
Ich dir itzt ſchicke!
Ich bin Ein Geiſt mit dir,
Und du Ein Leib mit mir,
Und Eine Seel.
Du Seitenkringel,
Du tolles Dingel,
Ich freß und ſauf mich voll,
Und bin vor Liebe toll,
Und außer mir!“
Aber das grobe Eſſen und die verdächtige Imagination
in einem andern Lied überſteigen alle Schicklichkeit:
„Wenn ich ihn eſſen kann,
So iſt's mir am gefündften,
Und wenn mein lieber Mann,
Sein Oel läßt in mich dünſten;
Weil aber dieſe Gnad
In einem Sakrament,
Das man nicht immer hat,
Dem Leib wird zugewendt,
So muß ich mir nun ſchon,
Beim Wachen und beim Schlafen,
Imagination
Für meine Seele Schaffen.‘ 8
Und die Anſpielungen in dem folgenden verrathen in
jedem Falle ſchon zu viel.
„Höhlchen, du charmirſt mich ſo,
Das macht mich von Herzen froh,
Springerhaftig, luſtig, fröhlich,
Und ſo über alles ſelig;
Klopfet, klopfet in die Händ!
Klopfet, klopfet in die Händ!
Und was er im Kabinet,
Oder in dem Ehebett,
Will mit ſeinem Bräutel machen,
Das ſind gar geheime Sachen,
Die unter vier Aeugelein,
Müſſen bleiben ganz allein.“
Welch ein Aufſehn dergleichen Lieder machen mußten,
welches nachtheilige Licht ſie auf den Grafen und die
— 8 251 >
Gemeinde zurückwarfen, läßt ſich genugſam faſſen, wenn
man bedenkt, wie verſtändig und keuſch im Ganzen die
vroteſtantiſche Kirche ihre Ausdrucksweiſe gehalten hat.
Auch in der Litteratur waren damals noch keine Ver—
ſuche gemacht, das Gemeine erhaben vorzutragen. Das
große Aergerniß und die ſchreienden Vorwürfe, welche
ſich dieſem Liederweſen verknüpften, und ſelbſt von ſon—
ſtigen Freunden durch entſchiedene Mißbilligung ver—
ſtärkt wurden, hatten zwar zur Folge, daß die anſtö—
ßigſten Lieder ſpäterhin wegblieben, und die Gemeinde
überhaupt in dieſen Empfindungsweiſen ſich einer ern—
ſteren Richtung befliß. Doch war in der Zeit, wo wir
jetzt auf unſerem Gange weilen, die Sache noch erſt
recht im Steigen; ja grade ſolche Lieder und Ausdrücke,
in welchen die höchſte Uebertreibung herrſchte, wurden
als die köſtlichſten geachtet. Wir aber wollen nicht un—
gerecht ſein, und neben dem Widerwärtigen und Ver—
werflichen, von dem wir Proben gegeben haben, auch
das Liebliche und Zarte, das auf ſolchem Wege ſich
entwickeln kann, bereitwillig anerkennen; der Fehler
liegt hier zumeiſt nur darin, daß der Reiz des Kind—
lichen und Spielhaften, welcher faſt nur dem perſönlich
Eigenſten und Flüchtigſten des lebendigen Augenblickes
gehört, nun in einer ſtehenden Form allgemeiner Em—
pfindung feſtgehalten werden ſollte, ohne daß wahrer
Dichtergeiſt und ächte Künſtlergaben, welche allein das
Augenblickliche zum Dauernden erheben können, dabei
mitwirkten.
m 252 Bi
o
Nachdem Zinzendorf während feines diesmal nur
ganz kurzen Aufenthalts in der Wetterau den Ankauf
eines Stückes Land bei Büdingen, zum Behuf einer
herrnhutiſchen Niederlaſſung, mit den Grafen von Aſen—
burg-Büdingen richtig gemacht, und einige Brüder nach
England, wo ſie zu weiterer Verſchickung gefordert
worden, abgefertigt hatte, verließ er jene Gegend, und
reiſte über Jena nach Berlin, welches für ſein Wirken
jetzt als der günſtigſte Ort ſich darbot. Unterwegs
ging ihm das Reiſegeld aus; in Halle, wo er um ein
Darlehn anſprach, wollte man ihm nichts geben, und er
mußte daher zu Fuß und ohne Geld fortwandern. In
Radegaſt erbarmte ſich ſeiner ein guter Bauersmann,
fuhr ihn bis Koswig, und lieh ihm das nöthige Geld
zur Weiterreiſe mit der Poſt. Von Berlin, wo der
Graf am 25. Dezember 1737 anlangte, ſandte er ſo—
gleich das empfangene Geld mit einem herzlichen Dank—
ſagungsſchreiben an den guten Bauer, ſeinen lieben und
werthen Freund, wie er ihn nannte, und grüßte ihn
freundlich von der Gräfin. Dieſe war mit ihrer Be—
gleitung ſchon früher angekommen, auch der junge Graf
Chriſtian Renatus traf von Jena mit ſeinem Pilger—
anhang ein, und ſo füllte die zahlreiche Genoſſenſchaft
ein geräumiges Haus, welches Zinzendorf in der Leip—
ziger Straße (das Haus Numero 15) gemiethet hatte,
und nun mit allen Seinigen bezog. Seine Mutter
aber ſchien über ſein weiteres Beginnen nicht ohne Ver—
legenheit, das unvermeidliche Aufſehn war ihr in ſol—
2 253 3
cher Nähe nicht angenehm; mit ſeinem perſönlichen Be—
nehmen gegen ſie war ſie übrigens ſehr zufrieden, und
hatte auch an ſeinen Kindern große Freude. Der Kö—
nig indeß bezeigte dem Grafen ſchriftlich ſeine Wohl—
geneigtheit, verſicherte ihn ſeines Schutzes und gab ihm
die Erlaubniß, bei vorkommenden Anläſſen ſich unmit—
telbar an Seine Majeſtät zu wenden, welches der Oberſt
von Thümen ihm nachher auch noch mündlich zu be—
ſtellen hatte. Seine Hausandachten nahmen alsbald
ihren gewohnten Gang, täglich waren Stunden zum
Beten, Singen und Leſen feſtgeſetzt; doch geſtattete er
den Zutritt aus Vorſicht noch keinem Fremden. Auf—
gefordert, das Evangelium öffentlich zu verkündigen,
fragte er deßhalb bei dem Könige an, und als dieſer
ihm allen Segen dazu wünſchte, ſo eröffnete er die Er—
bauungsreden in ſeinem Hauſe, da die Prediger ihm
ihre Kanzeln einzuräumen wenig geneigt ſchienen, nun
auch für fremden Beſuch. Da zeigte ſich denn in der
großen Hauptſtadt, die ſchon damals für alles Geiſtige
ſehr empfänglich war, eine außerordentliche Regung.
Sein Zimmer wurde bald zu klein, das hinzugenom—
mene Vorzimmer half nicht lange aus, man mußte auf
dem großen Boden unter dem Dache den nöthigen
Raum ſuchen, wo viele hundert Menſchen den Vortrag
ſtehend anhörten, denn zum Sitzen war auch hier noch
nicht Platz genug. Außer den geringen Leuten drängten
ſich auch die Vornehmen herbei, ſo daß die Straße
weithin von Kutſchen erfüllt war; alle Zuhörer aber
ee m rn DA
TI 5) 254 5
ftanden gemischt, wie der Zufall es wollte, Dienft-
mägde und Damen vom Hofe, Staatsbeamte und Hand—
werker, Kriegsleute jedes Grades. Endlich mußte Zin—
zendorf noch die Männer und Frauen trennen, und bei—
den beſonders predigen, für jene am Sonntag und
Mittwoch, für dieſe am Montag und Donnerstag, und
auch jetzt, bei verdoppeltem Raum, war gleiche Fülle.
Der Eindruck dieſer Predigten, welche vom 1. Januar
1738 bis zum 27. April regelmäßig fortgeſetzt wurden,
war ungemein groß, das feurige Ergriffenſein des Red—
ners theilte ſich den Zuhörern mit, häufige Thränen
wurden vergoſſen, und das Begeiſterte des Vortrags
führte über manches Auffallende des Inhalts leicht hin—
weg; im Ganzen wurde darin die ächtevangeliſche Lehre
und eine innigfromme Geſinnung von den Hörern ſtets
anerkannt. Allein in weiterer Mittheilung, durch Er—
zählen, Nachſchreiben und ſogar Drucken, erfuhren dieſe
Reden, wie es zu geſchehen pflegt, vielfache Entſtel—
lung; Weſentliches blieb weg, Abentheuerliches kam
hinzu, und die ärgſten Mißdeutungen wurden gemacht
und ausgebreitet. Da war es ſehr erwünſcht, daß ein
geliebter Jünger des Grafen, ein mit deſſen Sohne
von Jena gekommener Student, Johannes Langguth,
die Reden unter dem Vortrage ſelbſt aus Liebeseifer
nachgeſchrieben hatte, zwar nicht eben wörtlich, denn oft
hinderten ihn die Thränen an Führung des Griffels,
aber doch dem Sinne nach getreu genug, um ein wah—
res Bild des Inhalts wiederzugeben. Dieſe Hand—
e 255 8
ſchrift konnte dazu dienen, die falſchen Mittheilungen
zu berichtigen; ſie wurde daher, nachdem auch Jablonski
ſie gutgeheißen, in Druck gegeben; die Königin von
Preußen bewilligte ſogar, daß die an die Frauen ge—
haltenen Reden ihr zugeeignet wurden. Sie entgingen
zwar auch in dieſer Geſtalt dem Mißverſtande nicht,
noch den bösartigen Angriffen und Verläumdungen,
welche ſich je länger je mehr gegen Zinzendorf häuf—
ten, allein es durfte ihm doch nicht mehr ſo leicht
gradezu Fremdes angedichtet werden, und ſeine Erläu—
terungen hatten einen feſten Buchſtaben, an welchem ſie
ſich anhalten konnten. Der König ſelbſt war veran—
laßt, über manche Vorſtellungsweiſen und Ausdrücke,
die man ihm hinterbracht hatte, den Grafen zu befra—
gen, zeigte ſich aber durch deſſen Antworten bald befrie—
digt. Ueber das Liederweſen gab Zinzendorf dem Kö—
nige in einer eignen Schrift umſtändlich Auskunft, und
ſagte darin unter andern: „Es iſt zu wiſſen, daß in
unſerer Gemeinde keine Lieder ganz geſungen werden:
der Kantor nimmt die Materie der Reden, die eben
gehalten worden, und ſetzet unterm Singen aus zwan—
zig, dreißig Liedern ganze und halbe Verſe zuſammen,
welche die Materie ordentlich und deutlich vortragen,
und darinnen iſt Kantor, Organiſt, Lehrer und Zuhörer
ſo geübt, daß keines innehalten, keines ein Buch auf—
ſchlagen darf; welches ſich ungeſehen nicht demonſtriren
läßt. Mein Sohn von zehn Jahren kann, wenn er in
den Hausſingſtunden ſpielet, aus einer Melodie unver—
*
2 256 G
merkt in die andere fallen, daß niemand weiß, ob die
ganze Singſtunde expreß ſo komponirt iſt, denn es wird
nicht innegehalten, und ein jedwedes Kind ſingt mit,
ohne in ein Buch zu ſehen, denn ſie können die Lieder
auswendig; wie das zugehet, weiß ich ſelbſt nicht, weil
kein Kind zum Auswendiglernen angehalten wird. In
den öffentlichen Betſtunden aber laſſe ich zuerſt ein ge—
wöhnlich Lied vorſagen, nach der Rede aber, wenn kei—
nes im Geſangbuch finde, das ich gerne geſungen hätte,
und die Materie meiner Rede theils dem Auditorio
nochmals einſchärfen, theils dem Heilande gebetsweis
vortragen kann, ſo mache ich im Vorſagen ein neu Lied,
von dem ich vorher nicht gewußt habe, und das ſo bald
wieder vergeſſen iſt, als es ſeinen Zweck erreichet; das
Auditorium wird deſſen nicht inne, und ich führe es
nur erläuterungsweiſe an, wie wir unſere Sache zu,
traktiren pflegen.“ Nicht günſtig war im Ganzen das
Urtheil der Geiſtlichen über das neue religiöſe Treiben,
auch die näheren Freunde, welche der Graf unter ihnen
hatte, konnten ſich nicht immer in ſeinen Sinn finden.
Unter dieſen Umſtänden und bei den Rückſichten welche
überhaupt das berliniſche Verhältniß ihm aüferlegte,
lehnte er das Begehren vieler Frommen, in Berlin eine
Gemeinde von Brüdern mit herrnhutiſcher Verfaſſung
zu ſtiften, anfangs beharrlich ab, und gewährte nur zu—
letzt, als auch ein Prediger ihn deßhalb angegangen
war, die Errichtung einer Brüderſchaft erweckter Män—
ner, ohne für die Frauen eine gleiche Anordnung treffen
isn 257 So
zu wollen. Er ſelbſt bekannte übrigens, in feinem Le=
ben ſei es ihm ſo wohl nicht gegangen, wie diesmal in
Berlin.
Inzwiſchen war ſeine Weigerung, den ihm vorge—
legten Revers zu unterſchreiben, in Dresden übel em—
pfunden worden, und er empfing von der ſächſiſchen
Behörde die Anzeige, daß er auf immer das Land zu
meiden habe. Da nun ſeine Hoffnung, durch Verwen—
dung von Berlin her die freie Rückkehr nach Herrnhut
zu erlangen, völlig fehlgeſchlagen war, ſo reifte um ſo
ſchneller in ihm der Gedanke, welcher ſchon einige Zeit
in ihm keimte, nun auch ſelbſt eine Reiſe nach Weſt—
indien zu machen, um das dortige Bekehrungswerk zu
unterſuchen und zu befördern. Man hatte ihm vorge—
worfen, er ſchicke die Brüder und Schweſtern unbarm—
herzig in den gewiſſen Tod, den ihnen das mörderiſche
Klima bringe; jetzt wollte er zeigen, daß er ſich ſelbſt
nicht zu ſchonen meine. So bewegte ſich ſeine Einbil—
dungskraft in ſtets größeren Kreiſen, und ergriff immer
auf's neue Weitentlegenes, ohne daß die Fülle des
Nahbegonnenen ihn daran hindern konnte. Nachdem er
dem Könige noch zuletzt in Potsdam aufgewartet und
ſich bei ihm beurlaubt hatte, reiſte er am 29. April
1738 zuerſt nach Kotbus, wohin von Herrnhut die wich—
tigſten ſeiner Mitarbeiter gekommen waren, um ſich mit
ihm über manche die Führung der Gemeinde betreffende
Dinge näher zu berathen. Hierauf ging er über Jena,
wo ſein Sohn inzwiſchen ſeine frühere Lebensart wie—
Biograph iſche Denkmale. V. 17
sm 258 Do
der angefangen hatte, und über Erfurt und Gotha, wo
er die Frommen befuchte, mit Langguth nach der Wet—
terau, zuerſt auf die Ronneburg, wo noch einige Brü-
der von der früheren Zeit her wohnten, und dann auf
das Schloß Marienborn, welches er von dem Grafen
von Aſenburg-Meerholz miethete, und ſogleich für ſeine
Pilgergemeinde einrichtete. Es kamen aus der Umge—
gend viele Brüder und Freunde herbei, um an ſeinen
Geſchäften wie an ſeinen Erbauungen Theil zu neh—
men. Das Zuſammenſtrömen ſo vielen Eifers wirkte
fruchtbar; der Anbau eines neuen Orts bei Büdingen,
der den Namen Herrnhaag erhielt, wurde beſchloſſen,
und das erforderliche Geld größtentheils auf Zinzen—
dorf's Bürgſchaft angeliehen; man ſprach zwar damals
ſchon von einer ſogenannten Heilandskaſſe, in welche
die Brüder ihr Geld niederlegen müßten, um die Aus⸗
gaben des Gemeinweſens zu decken, allein dies Vor—
haben war ohne Grund, die Mitglieder der Brüderge—
meinde lebten, je nach ihrem Verhältniſſe, von ihrer
Arbeit, oder von ihrem Vermögen; wo beides fehlte,
hatte die Gemeinde Fürſorge, und in den meiſten Fällen
Zinzendorf allein; Hülfsgelder wurden von bemittelten
Freunden wohl öfters gegeben, aber nie gefordert; der
Graf war auch in dieſer Beziehung, wie in jeder an—
dern, das Haupt und die Kraft des Ganzen. Die
Kolonie Herrnhaag beſtimmte er, nach einem glück—
lichen, fruchtbaren Gedanken, der ihm aufgegangen war,
hauptſächlich für diejenigen Brüder, welche dem Lehr—
—
— »
— 259 DS
begriffe der reformirten Kirche zugethan ſein wollten,
ſo daß dieſer Ort nach der reformirten Seite die Brü—
derſache eben ſo darſtellte, wie Herrnhut dies bisher
nach der Lutheriſchen Seite ſo glücklich geleiſtet hatte,
und demnach die Brüderfirche, außer ihrem eignen Be—
ſtande und dem in allen Sekten ihr Anziehbaren, in
den beiden proteſtantiſchen Hauptkirchen zugleich feſten
Fuß behauptete. Dieſer Gedanke ging aus dem We—
fen feiner tiefſten religibſen Ueberzeugung hervor, welche
in der Liebeswärme für den Heiland über alle Verſchie—
denheit der Lehrmeinungen hinausſtrebte, ohne dieſe
darum aufheben zu wollen; aber auch zum Behuf welt—
kluger Förderung konnte der kundigſte Geſchäfts- und
Staatsmann nicht leicht eine wirkſamere Anordnung
treffen. — Nach mehreren Ausflügen in der Umgegend
machte Zinzendorf auch einen nochmaligen Beſuch in
Jena, und als er zurückkam, fand er ſeine Gemahlin
von einem Sohn, ihrem eilften Kinde, entbunden, bei
welchem er dann ſelbſt die Taufe verrichtete. Auch
taufte er in dieſer Zeit ein Mädchen von dreizehn
Jahren, die unter den Inſpirirten dieſer Gnade nicht
theilhaftig geworden war; er glaubte aber in Blick und
Weſen ſowohl des Mädchens ſelbſt, als ihrer anweſen—
den Eltern, noch etwas Arges zu ſpüren, und war in
ſeinem Gewiſſen zweifelhaft, ob er die Handlung ver—
richten dürfe; da fuhr er plötzlich, ihm ſelbſt und Allen
unerwartet, gegen den böſen Geiſt drohend heraus,
dem er im Namen Jeſu zu weichen gebot, daß alle
17 *
— 2 260 Be
Anwesenden ſchauderten, und die Kraft feiner Worte
ſich durch die That bewährte, indem die befreiten Her—
zen nun ungeſtört ſich der heiligen Handlung hingaben.
Nicht fo glücklich und erfolgreich, wie in ſeinem unmit⸗
telbaren Lebenswirken, trat Zinzendorf auf, wenn ſein
Geiſt in das Gebiet der wiſſenſchaftlichen Theologie
ſich verſtieg, und neue Wahrheiten daſelbſt finden oder
feſtſtellen wollte. So war er in dieſer Zeit dahin ge—
kommen, dem heiligen Geiſte, der ihm in der Dreiei—
nigkeit neben dem Vater und dem Sohne bisher eine
minder klare Bedeutung gehabt, eine ſolche in der Be—
zeichnung beizulegen, daß derſelbe die Mutter der Gläu—
bigen ſei, eine Behauptung, welche er auf ſeine Her—
zenserfahrung ſolcher Muttertreue ſtützte, in aller Weiſe
zu erläutern und zu rechtfertigen ſuchte, und darüber
mit gelehrten Männern in dogmatiſche Streitigkeiten
gerieth, denen er auf keine Weiſe gewachſen war, und
die ihm und der Gemeinde, welche den Einfall des
Grafen nicht aufgeben wollte, den größten Schaden zu—
gefügt haben. 5
Doch zunächſt erfüllte ihn jetzt ſein Reiſevorhaben,
und er traf zu demſelben ernſtliche Anſtalten. Von der
Gräfin nahm er in Marienborn zärtlichen Abſchied; ſie
dichtete ein Lied an ihn, er antwortete eben ſo; beide
waren in ihren Herzen nicht verſichert, daß ſie einander
wiederſehen würden, aber in den Willen des Heilands
wollten ſie ſich getroſt ergeben. Nach vielen anderwei—
tigen Verabredungen reiſte er gegen Ende des Oktobers
DB 261 K
nach Holland ab. In Amſterdam fand ſich unerwartete
Verzögerung für das Schiff, welches ihn nach Sankt-Tho—
mas bringen ſollte, und die Zwiſchenzeit wurde durch
einen höchſt verdrießlichen Streit erfüllt. Der Pre—
diger Manger im Haag und noch andre holländiſche
Prediger hatten einige heftige Aeußerungen Zinzen—
dorf's gegen die Anſicht der Reformirten von der Gna—
denwahl auf ihren Synoden zur Sprache gebracht; bier—
auf und auf mancherlei Lieder und Aufſätze der Brü—
der geſtützt, erließen die Prediger von Amſterdam einen
Hirtenbrief, durch welchen die Herrnhuter als abwei—
chend von der wahren Chriſtuslehre dargeſtellt wurden;
die Stadtbehörde von Amſterdam, dem Grafen günſtig,
wollte dieſen Hirtenbrief unterdrücken, vermochte es aber
doch nicht, und mußte ihm ſeinen Lauf laſſen. Eine
Erklärung der herrnhutiſchen Brüder in Holland, unter
dem Namen Friedrichs von Watteville herausgegeben,
und von dem Grafen voreilig gebilligt, machte das
Uebel durch eine Ungeſchicklichkeit nur ärger, denn an—
ſtatt ganz einfach die augsburgiſche Konfeſſion als ihr
laubensbekenntniß zu nennen, weigerten ſie überhaupt
ein ſolches aufzuſtellen, und ſchienen dadurch einzuge—
ſtehen, jene Konfeſſion ſei nicht die ihrige. Dieſe Hän—
del verfolgten den Grafen mit ihren Schriften und Ge—
genſchriften bis an Bord, und er hatte nur den Troſt,
daß vier Prediger den Hirtenbrief zu unterſchreiben
verweigert hatten, unter ihnen Franco Debruin, ein
gottſeliger Mann, aus deſſen Anſichten über die Gna—
> 262 3
denwahl Zinzendorf die ſeinigen zum Theil erſt ge—
ſchöpft hatte, und der auch die Lehre von der Vorher—
beſtimmung zu des Grafen Freude kürzlich ſo erklärte:
„Jeſus muß ein gewiſſes Erbtheil haben, das ihm der
Vater beſtimmt hat, und das ſind ſeine Gläubige und
Kinder, die ihm nicht aus der Hand geriſſen werden
können; im Uebrigen wird niemand weggewieſen, wer
außerdem durch ſeine Gnade kommt.“ Die Streitig—
keiten hinderten ihn auch nicht, ſich eines ſtillen Glückes
im kindlichen Umgange mit dem Heilande zu erfreuen;
er ſchildert dies mit eignen Worten, wie folgt: „Wir
haben darüber müſſen weinen, wie nahe einem der
Heiland ſein kann; wie ſimpel und einfältig es ſich
mit ihm umgehen läßt; wie man ſo einen ganzen Tag
mit ihm zubringen kann; wie man keinen Gedanken,
keine Nothdurft, kein Anliegen hat, das man nicht viel
ſimpler und natureller bei ihm niederlegen kann, als
bei ſeinem allervertrauteſten Herzen, da man doch manch—
mal ein Menagement brauchen muß; aber beim Heiland
iſt das gar nicht nöthig: ſondern wer es dahin ge—
bracht hat, daß er mit Wahrheit ſagen kann: „Wenn
nur mein Herz Fenſter hätte, daß meine Geſchwiſter
hineinſehen könnten!“ der hat den Troſt, daß der Hei—
land auch hineinſieht, und die allerverborgenſten Win—
kel klar und lichte vor ſich hat, und daß nichts drinnen
vorgeht, das er nicht weiß.“ Er ſchrieb auch einen
Aufſatz über das Verhältniß von Herrnhut zu Bert—
holdsdorf, und indem er der Gemeinde empfahl, ihre
D 263 K
Verbindung mit der Lutheriſchen Kirche treu zu be—
wahren, die ſich äußernden Gaben aber, wie den Trieb
unter die Heiden zu gehn, die Gabe geſund zu machen,
nur in der Stille zu üben, ſprach er gegen den einſtigen
Prediger, der ſein Amt je zum Untergang oder zur
Plage der Gemeinde mißbrauchen würde, den Fluch
und Bann aus, wobei er jedoch den Ausdruck nicht im
Sinne einer kirchlichen Macht, ſondern nur in dem eines
letzten Willens gemeint haben wollte. Auch dichtete er
in Amſterdam einige Lieder, die er zum Theil nach ſei—
ner Weiſe aus dem Herzen ſang. Endlich ging er am
11. Dezember zu Schiff, allein widrige Winde hielten
ihn noch eine Reihe von Tagen im Texel auf, wo er
die Looſungen auf das nächſte Jahr, und, ſchon in See,
ein großes Schreiben an die Aelteſten und Helfer der
Gemeinde verfertigte, welches er ſein eventuelles Teſta—
ment nannte, und worin er die wichtigſten Vorſchriften
und Rathſchläge wiederholt einſchärfte. Merkwürdig
ſind darin unter andern folgende Worte, welche den
praktiſchen Sinn des Grafen abermals bezeugen kön—
nen: „Die Aemter in der Gemeinde können auch, nach—
dem ſie ſind, von Leuten bekleidet werden, die noch
keine Kinder Gottes ſind, und alſo beweiſen dieſelben
und ihre gute Ausrichtung nichts für die Kindſchaft
Gottes. Es iſt ein großer Verſtoß, wenn man redliche
Leute, die ihr Amt treulich thun, und die zuweilen wie
Bezaleel dazu begabet ſind, darum nicht achten, ſich
nicht mit ihnen einlaſſen, noch mit ihnen an Einem
DB 264 2
Joche ziehen will, weil ſie noch nicht Kinder Gottes
ſind.“ Erſt am 26: Dezember konnte das N ſeine
eigentliche Fahrt beginnen.
Die Seereiſe geſchah, unter begünſtigendem Sturm—
winde, gefahrvoll, aber raſch und glücklich. Zinzendorf
litt gewöhnlich ſehr an der Seekrankheit; diesmal, im
Drange der vielen Arbeiten, die er ſich vorgeſetzt, ſah
er ein längeres Unwohlſein mit Bekümmerniß; er re—
dete daher mit dem Heilande, wie es nicht wohl an—
ginge, daß er krank wäre, und wirklich dauerte die
Krankheit nur Einen Tag. In 33 Tagen gelangte das
Schiff nach Weſtindien, und lief am 28. Januar 1739
in Sankt-Euſtachius ein. Des Grafen Ziel aber war
die däniſche Inſel Sankt- Thomas, wohin er, wiewohl
man ihn dringend von dem Beſuch dieſes in ſolcher
ſchlimmſten Jahrszeit ungeſundeſten Aufenthalts ab—
mahnte, in einem beſonders gemietheten Fahrzeuge ſo—
gleich überſchiffte. Hier traf er alles in traurigem Zu—
ſtande; die Brüder, welche den Negerſklaven das Evan—
gelium verkündigt, lagen ſeit drei Monaten im Ge—
fängniſſe, weil ſie einen Eid verſagten, der bei einer
gerichtlichen Unterſuchung von ihnen verlangt wurde,
— denn die Lutheraner und Reformirten unter den
Herrnhutern ließen ſich wohl zum Schwören herbei, die
eigentlichen mähriſchen Brüder aber glaubten ihr Wort
durch keinen Eid, ſondern nur durch einen Handſchlag
bekräftigen zu dürfen; — die Neger zeigten zwar guten
Willen, aber ſeufzten unter hartem Druck, den die
6
Pflanzer nur um fo ftärfer ausübten, jemehr fie Nei-
gung zum Glaubensheil bei ihnen wahrnahmen. Der
däniſche Gouverneur gab zwar auf das Fürwort eines
Mannes wie Zinzendorf, der auch beſonders am Hofe
zu Kopenhagen ſo gute Verbindung hatte, die Gefan—
genen ſogleich los, und ließ auch ſonſt dem Grafen bei
ſeinem Beginnen gern Schutz angedeihen, allein dieſer
war gegen die allgemeine Stimmung der Weißen nicht
wirkſam genug. Die Verſammlungen, welche Zinzen—
dorf zu halten anfing, und vom Abend — denn wäh—
rend des ganzen Tages durfte die Arbeit der Neger
nicht ruhen — bis tief in die Nacht hinein fortzuſetzen
pflegte, wobei er in kreoliſcher Mundart zu ſprechen be—
müht war, fanden den größten Zulauf; die Unglück—
lichen empfingen voll Begier und Eifer und mit ſicht—
barem Erfolge den Troſt und das Heil, die ihnen dar—
geboten wurden. Allein grade dieſes mißfiel den Pflan—
zern. Sie hatten die Unverſchämtheit, bei dem Gou—
verneur den Grafen zu verklagen, daß er die Neger
lehre, beſſere Chriſten zu werden, als ihre Herren ſeien,
ja man verhehlte nicht die unwillige Beſorgniß, die
Negerinnen würden nach ihrer Bekehrung den fünd-
lichen Lüſten der Weißen weniger dienen wollen. Ein
reformirter Prediger klagte ſeinerſeits über die Brüder,
ſie maßten ſich unbefugt des Taufens und andrer geiſt—
lichen Handlungen an. Doch bevor dieſe Beſchwerden
unterſucht und beurtheilt ſein konnten, eilte die Leiden—
ſchaft ungeduldig zur Selbſthülfe; die aufgebrachten
DB 266 28
Pflanzer ſtürmten unvermuthet auf die verſammelten
Neger ein, trieben ſie mit Hauen, Stechen und Schießen
auseinander, und wiederholten dieſe grauſame Luſt nach
Belieben, denn wenige Wütheriche waren genug, viele
hundert Neger zu mißhandeln, da dieſe bei geſetzlicher
Strafe gegen keinen Weißen jemals ſich wehren durften.
Da der Gouverneur dieſen Abſcheulichkeiten nicht
ſteuern konnte oder wollte, ſo ſah Zinzendorf kein andres
Mittel, als in Kopenhagen Beſchwerde zu führen, und
zu dieſem Zwecke ſelber nach Europa zurückzureiſen.
Er nahm die Klageſchriften, welche ſchon die getauften
Neger ſelbſt in kreoliſcher Sprache an den König von
Dänemark gerichtet, in Empfang, ordnete die zurück—
bleibende Miſſion, für welche er auch ein Haus und
Grundſtück ankaufte, nach den Umſtänden möglichſt an,
erließ ein Abſchiedsſchreiben an die Neger, worin er
ſie zum Beharren bei dem Heiland ermahnte, und be—
gab ſich am 17. Februar unter vielen Thränen auf die
Rückreiſe. Auf den däniſchen Inſeln Sankt-Jan und
Santa-Cruz beſuchte er die Gräber der dort im Miſ—
ſionsgeſchäft verſtorbenen Brüder und Schweſtern, und
eilte dann nach Sankt-Euſtachius, wo er ſich auf einem
holländiſchen Schiffe am 28. Februar nach Amſterdam
einſchiffte. Ein junger Neger, den er losgekauft, und
ein Däne, der ihm wegen frommen Berufes lieb war,
begleiteten ihn. Ein dritter Gefährte fand ſich im letz—
ten Augenblicke noch dazu. Ein portugieſiſcher Jude
Nunnez Dacoſta, der bei vielen guten Eigenſchaften
267 S
des Geiſtes und Gemüths in ſeinen äußeren Umſtän—
den ſo bedrängt war, daß er die Heimkehr aus Weſt—
indien nach Holland nicht beſtreiten konnte, bat den
Grafen mit Thränen, ihn und ſeine Frau nach Europa
mitzunehmen. Zinzendorf hegte von jeher beſondre
Vorliebe für die Juden, ging gern mit ihnen um, em—
pfahl ſie dem Gebet und freundlichen Wohlwollen der
Brüder, und erinnerte ſtets, daß auch Jeſus ein Jude
geweſen, ja in einem Liede, welches er dieſes näm—
liche Jahr am Tage des Verſöhnungsfeſtes der Juden
aus dem Herzen ſang, redet er zu dem Heiland aus—
drücklich:
„Wann, großer Jude, wann kommt deine Stunde?
Wann ſieht das Volk hinein in deine Wunde! — —
Wenn dieſe auserwählte Stunde käme,
Und ihre Schuppen von den Augen nähme, — —
So hätten wir die erſtgebornen Brüder
In unſers lieben Vaters Hauſe wieder.“
Dem Grafen gefiel Dacoſta durch ſeine geiſtige
Bildung, und zog ihn noch beſonders durch den Eifer
an, mit dem er auf ſeinem jüdiſchen Glauben hielt.
Zinzendorf bewilligte ihm nicht nur jene Bitte, ſondern
überließ ſogar ſein eignes, neben der allgemeinen Ka—
jute befindliches Kabinet, mit allen Bequemlichkeiten,
dem Ehepaar, indem er ſich ſelbſt in einem Verſchlage
behalf, welchen der Kapitain ihm dann als Nothbehelf
machen ließ. Sie hatten viele Geſpräche mit einander,
und erörterten oft bis tief in die Nacht ihre abweichen—
ed 268 ..
den Religionsmeinungen, ohne Widrigkeit, ohne falſchen
Eifer, und Dacoſta weinte oft gerührt über des Gra—
fen liebevolle Frömmigkeit. Mit der übrigen Schiffs—
geſellſchaft benahm ſich Zinzendorf mäßig, hielt jeden
Sonntag eine Predigt, miſchte ſich aber ſonſt in die
tägliche Weiſe der Leute nicht, und nur als zwei der—
ſelben einſt die Degen gegen einander zogen, that er
ihnen Einhalt, indem er den Erzürnten mit eigner Ge—
fahr die Waffen wegriß. Inzwiſchen arbeitete er auf
dem Schiffe mit ungeheurem Fleiß, er ſchrieb unab—
läßig, Briefe, Lieder, Reden, auch verſuchte er ſich
abermals in Ueberſetzung des neuen Teſtaments. Die
Bewegung des Schiffes war ihm hiebei ſehr hinder—
lich, verwirrte die Schriftzüge, deren mancher, durch
unwillkührlichen Stoß, gegen die Abſicht ganze Worte
und Zeilen wieder ausſtrich, und wurde auch ſeinem
Kopfe bei dieſer Arbeit ſehr anſtrengend. Er aß we—
nig, hatte ein ſchlechtes Lager, entbehrte meiſtens der
Ruhe, wurde hinfällig, und bekam Schwären und Wun—
den am Leibe. Dacoſta pflegte ſeiner treulich in die—
ſem Zuſtande, der doch ſeinen Geiſt und ſeine innere
Zufriedenheit nicht ſchwächen konnte. Nach ſieben—
wöchentlicher Fahrt, an der engliſchen Küſte vorbei—
ſchiffend, verließ Zinzendorf ſeine Gefährten, und ſe—
gelte auf einem Boote in den Hafen von Dover ein,
um zuvörderſt ſeine Freunde in Oxford und London zu
beſuchen, wo er ſich indeß nicht lange aufhielt, ſondern
alsbald ſeine Ueberfahrt nach Amſterdam beeilte.
8 269 S2.
| Seine ſchnelle Rückkunft nach Europa machte eini—
ges Aufſehen, man hatte ihn auf lange Zeit entfernt
geglaubt, ſogar ſchon todt geſagt, nun ſtand er unver—
muthet ſeinen Freunden wie ſeinen Feinden vor Augen;
jetzt wollte man gar unglaublich finden, daß er über—
haupt ſo weit geweſen. In Holland war durch die
proteſtantiſche Geiſtlichkeit die Aufregung gegen die
Brüder ſehr geſtiegen, dieſe aber trugen allen Unglimpf
mit großer Geduld. Zinzendorf befeſtigte in Amſter—
dam und in Heerendyk gegen dieſe Widrigkeiten den
frommen Sinn der Seinen, trat aber auch öffentlich
für fie auf, indem er unter dem 24. Mai eine Erklä—
rung erließ, durch welche er die holländiſchen Streit—
ſchriften, ohne ſich beſonders auf ſie einzulaſſen, abfer—
tigte. Inzwiſchen fand er, daß ſeine Anweſenheit in
Deutſchland dringend nöthig werde, und kam den 1. Juni
zu Marienborn an, wo die Gräfin und alle ſeine Kin—
der ihn erwarteten; auch ſein Sohn Chriſtian Renatus
war mit ſeinen Haus- und Studiengefährten von Jena
dort eingetroffen. Der Graf war mit dem viertägigen
Fieber behaftet, abgezehrt und wund, allein er achtete
alles nicht, hielt ſogleich einen außerordentlichen Ge—
meindetag, und gab erbaulichen Bericht von ſeiner
Reiſe; auch wurden zwei Brüder, durch Auflegung der
Hände, zu Predigern des Evangeliums ordinirt, wobei
er gegen Ueberſchätzung dieſer Weihe warnte, als welche
nur eine gute Ordnung ſei, aber an ſich weder einen
Vorzug verleihe noch bedeute; nach dieſen und andern
sn 270 .
Geſchäften, welche die wenigen Tage feines Aufent-
halts in Marienborn ſchnell ausfüllten, begab er ſich
mit mehreren Brüdern auf die Reiſe nach Ebersdorf,
wohin eine Synode auf den 9. Juni ausgeſchrieben
war. Die Veranlaſſung dazu war folgende. Durch
ſeine Reiſen und ſein Predigen hatte Zinzendorf überall
in nahen und fernen Kreiſen ſolche Sinnesart und Nei—
gungen erweckt, wie ſie in Herrnhut in freieſter Ent—
wickelung vollſtändig hervorgetreten waren. Die Er—
weckten, durch den inneren Gehalt noch nicht begnügt,
wünſchten auch der entſprechenden Form theilhaft zu
ſein, und an vielen Orten wurden Einrichtungen ver—
ſucht, welche ganz die herrnhutiſche Verfaſſung nach—
ahmten. Aber ohne den Grund und Boden von Herrn—
hut, unter ganz andern ſtaatsbürgerlichen Umſtänden,
inmitten Lutheriſcher oder reformirter Kirchengemein—
ſchaft, welche dadurch Abbruch litt, mußten jene Ein—
richtungen äußerſt mißlich dünken, und konnten Wirr—
niſſe herbeiführen, deren Folgen nicht zu berechnen
waren. Zinzendorf befürchtete, an Lutheriſchen und re—
formirten Orten entſtehende Aftergemeinden, wie er ſie
nannte, möchten um des unweſentlichen Aeußern willen
die ganze Richtung ſeiner Sache in Gefahr bringen;
auch entging ſeinem Blicke nicht, wie ohne Vergleich
vortheilhafter es ſeinen Brüderanſtalten ſei, mit der
geſammten proteſtantiſchen Kirche in Frieden und ihrer
allgemeinen Verbindung offen zu ſtehen, als, in förm—
lichem Gegenſatz, äußere Eroberungen über ſie zu machen,
9 271 88
die nach Verhältniß doch immer nur geringe fein konn—
ten. Er wünſchte daher durch die Synode zu bewir—
ken, daß dergleichen Gemeinden gemißbilligt, und die
Verbindung erweckter Seelen mit der Brüdergemeinde
auf eine unverfängliche Weiſe geordnet würde, ſo daß
ſie der Sinnesart nach überall ohne Aufhebung bishe—
riger Kirchenbande beſtehen könnte, der äußeren Ver—
faſſung nach aber nur an den Orten, die eigends dazu
gegründet worden. Seine Anſicht fand indeß nicht ge—
nugſamen Eingang, und der Eifer der Brüder wollte
ſich einem ſo ſichtbaren Aufſchwung ihrer Sache nicht
entgegenwenden. Inzwiſchen mußte eine Fußreiſe nach
Schwaben, wo er überall predigte und ſonſt in frommer
Weiſe thätig war, dem Grafen neue Befriedigung, aber
auch neue Anſtrengung geben. Nach Marienborn hier—
auf zurückgekehrt, verfiel er, der ſich von der weſtin—
diſchen Reiſe noch nicht erholt hatte, in gänzliche Ent—
kräftung. Er ſelbſt glaubte ſeinen Tod nah, und freute
ſich darauf, ja er gab den Seinigen eilf Urſachen an,
aus denen er ſeine Abrufung jetzt als beſonders ange—
meſſen erachten wollte. Das Verwechſeln der ihm ver—
ordneten Arznei mit einer andern, welches tödtlich wer—
den zu müſſen ſchien, wurde jedoch heilſam, und ein
ungeheurer Schweiß brachte ihm Geneſung. Hatte er
ſchon inmitten der Krankheit nicht ganz geraſtet, fo
zeigten jetzt Briefe, Lieder, Anordnungen aller Art, ihn
bald wieder in voller Thätigkeit. Ein Chorhaus der
ledigen Brüder wurde in Herrnhaag erbaut, ebenda—
m 272 Ba
ſelbſt ein theologiſches Seminarium gegründet; nach
der Wallachei, nach Nordamerika, nach Ceylon und nach
Algier wurden Glaubensboten ausgeſandt, nach letzte—
rem Orte der Bruder Richter, in deſſen Hauſe, als
derſelbe noch Kaufmann in Stralſund war, einſt der
Graf als Kandidat gelebt hatte. Auch Druckſchriften
kamen an den Tag, jedoch theilweiſe zu großem Ver—
druß. So hatte man während Zinzendorf's Krankheit
ſeine auf der See gemachten Ueberſetzungsproben des
neuen Teſtaments unbedacht zum Druck befördert, ohne
nur die mangelhafte Handſchrift dieſer übereilten, ge—
ſtörten, und in jeder Hinſicht unreifen Arbeit gehörig
durchzuſehn; äußerliche Entſtellungen aller Art kamen
nun zu den Mißgriffen und Eigenheiten des für ſolche
Unternehmung nicht befähigten Verfaſſers, und das
Buch wurde zum ſchreienden Aergerniß, und erfuhr
allgemein Spott und Tadel. Er ſah das Uebel ein,
und ließ die Abdrücke möglichſt wieder einfordern und
vernichten; er beharrte aber doch in dem Unternehmen
ſelbſt, und gab einige Jahre ſpäter nochmals ſeinen
Ueberſetzungsverſuch heraus, welcher zwar beſſer als
vorher, aber noch immer nicht nach Wunſch ausfiel.
Um ſeine Geſundheit zu ſtärken machte Zinzendorf
noch im Dezember dieſes Jahres 1739 mit Friedrich
von Watteville eine Reiſe nach der Schweiz, wo ihnen
bei Bern begegnete ſich zu verirren, und Zinzendorf in
der Noth den Heiland um Hülfe anrief; ein Knabe,
der aus dem Buſch hervorkam, zeigte ihnen darauf den
ad 273 S2
Weg. Sie beſuchten in Sankt-Johann Watteville's
alten Vater, und ſahen in Bern, Baſel, Schaffhauſen
Rund andern Orten viele Freunde, ſolche, die es ſchon
waren, oder es nun wurden. Ein Brief, welchen er
auf dieſer Reiſe in Baſel geſchrieben, enthält Betrach—
tungen über ſeinen inneren Lebensgang, die wir, wegen
einiger merkwürdigen Bekenntniſſe, hier im Auszuge
mittheilen. „Ich habe, — ſagt er, — lediglich um
Jeſu willen gehandelt, und keinesweges aus einigen
Nebenabſichten. Denn daß ich durch die Sache Jeſu
hätte berühmt werden wollen, war meinem Tempera-
ment ungemäß. Ich liebte Pferde, Grandeurs, und
meine Natur portirte mich, einen Kenophon, Brutus,
Seneca abzugeben. Die Modelle von meinen Aeltern
Rund Groß- und Urältern waren dem gemäß; meine
Erziehung auch; und ſoviel wußte ich, daß bei der
Lehre Jeſu kein Staat auf dergleichen Etabliſſements
konnte gemacht werden. Aber das habe ich Jeſu wiſ—
ſentlich aufgeopfert. Meine Führung ging darum ziem—
lich langſam und konfus. Weil ich keine Führer hatte,
und wir die Schrift heut zu Tage nicht mehr verſte—
hen, wie ſie iſt, ſondern wie man ſie mühſam verſtellet
und paraphraſirt hat, ſo führten mich die Exempel der
Heiligen, und keine Principia. — Unerachtet ich nun
zu verſchiedenen Zeiten ſolche innige Begnadigungen
gefühlt, und der Seligkeit ſo gewiß war als meines
Lebens, ſo geſtund ichs doch dem, der mirs negirte,
leichtlich zu, daß ich vielleicht noch nicht bekehrt ſei.
Biographiſche Denkmale. V. 18
— 8274
Und da kam ich in ein (nach meiner itzigen Idee) un—
nöthiges, mir aber doch ſehr wohl bekommenes Ringen
und Flehen, und habe die Verſiegelung des ewigen
Friedens und der Kindſchaft ſeit der Zeit mehrmalen
ſo empfindlich erfahren, daß ich endlich inne gehalten,
ſie weiter zu begehren, damit ſich keine geiſtliche Eitel—
keit drein mengen möge. — Was meinen Generalplan
betrifft, ſo habe ich gar keinen, ſondern gehe dem Hei—
land von Jahr zu Jahr nach, und thue was ich ſoll,
doch gerne. Auf ein oder zwei Jahr habe ich zuwei—
len einen Spezialplan, weil ich durch die Sache felbft
darauf gebracht werde; und was dergleichen Spezial—
plans betrifft, ſo habe ich zu einem Plan, die mähriſche
(ohne mich entſtandene) Kirche dem Heiland zu kon—
ſerviren, daß ſie bei meinen Lebzeiten, und wo möglich
noch lange darnach, kein Wolf zu faſſen kriege; einen
Plan, ſo viel heidniſche Völker aufzuſuchen, als ich
kann, und zu ſehen, ob ſie des für alle Welt vergoſſe—
nen Blutes können theilhaftig werden; einen Plan, des
Heilands Teſtament (Joh. 17.), ſoviel mir möglich iſt,
durch Gnade ausführen zu helfen, damit die zerſtreueten
Kinder Gottes allenthalben in Ordnung zuſammenkom—
men, wo ſie leiblich beiſammen ſind, nicht ins mähriſche
(da arbeite ich vielmehr dagegen), ſondern ins allge⸗
meine Band der Gemeinſchaft, dahin endlich secta mo-
ravica auch ſoll, doch erſt nach ihrer völligen Abnutzung
in dem Theil ihres itzigen Looſes; einen Plan, ſo viel
Seelen als ich kann zur Sünderſchaft und Gnade zu
sm 275 Bo
bringen, darum habe ich die Kanzel lieb, und reifete
einer Kanzel zu Gefallen funfzig Meilen; und einen
Plan, alle auch nicht beiſammen wohnende Kinder Gottes
zu vereinigen, dem ich ſeit 1717 bis 1739 unverrückt
gefolgt, laſſe ihn aber itzt fahren, weil ich nicht allein
kein Durchkommen damit ſehe, ſondern in dem Gegen—
theil anfange ein Geheimniß der göttlichen Vorſehung
zu merken.“ Im Anfange des Februars 1740 kam er
nach Marienborn zurück.
Zu dieſer Zeit erſchollen öftere Nachrichten von
bedenklichen Krankheitszuſtänden, in welchen der König
von Preußen ſich befände. Friedrich Wilhelm der Erſte
war bei ſtrenger und gewaltſamer Gemüthsart ein recht—
ſchaffner und frommer Herr, und Zinzendorf vor An—
dern hatte vielfachen Anlaß gehabt, ihn mit Ueberzeu—
gung dafür anzuerkennen. Gleichwohl konnte er einen
letzten Zweifel über den Seelenzuſtand des Königs nicht
verbannen, und hiedurch im Innerſten bewegt, und ſeine
tiefe Theilnahme für den von ihm wahrhaft geliebten
Fürſten in einer ſo wichtigen Angelegenheit nicht be—
meiſternd, ergriff er das Mittel, an ihn zu ſchreiben.
Sein Brief, der gleich dem nachfolgenden bisher noch
nicht gedruckt war, lautete, wie folgt: „Allerdurchlauch—
tigſter u. ſ. w. Ew. Königliche Majeſtät geruhen mir
dieſes unterthänigſte Schreiben gnädigſt aufzunehmen,
und meine Bitte zu erhören. Ich bin Ihnen ſo viel
ſchuldig, denn Sie haben mir viel Treue und Gnade
erwieſen, und wenn nichts wäre, als daß ſie mich in
18 *
BD 276 I
Berlin hätten fo viele Reden halten laſſen, die mein |
lieber Heiland, ſeitdem fie im Druck find, in fo vielen
Ländern und Religionen gebraucht hat, daß ſich Seelen
auf das Wort verlaſſen und zu ſeinen Wunden geflo—
hen ſind (denn ſie ſein ſchon das ſechstemal aufgelegt,
welches mich ſehr erfreuet), ſo könnte ich Ihnen dieſe
Liebe nicht genug vergelten. Da nun Ew. Majeftät
oft kränklich iſt, kann ich nicht darüber hin kommen, zu
Bezeugung meiner innigen Dankbarkeit Ew. Majeſtät
einmal herzlich und aufrichtig zu ſagen, wie ich glaubte,
daß Ihnen mein gekreuzigter Heiland auch noch alles
werden könnte. Ich habe aus Ew. Majeſtät ſchönen
und erbaulichen Diskurſen deutlich geſehen, daß es
Ihnen damals nicht bekannt war, und Sie den Weg
viel zu ſchwer machten, wie es denn ſo ſchwer gemacht
wird, ordinair. Weil aber Ew. Königliche Majeftät
meinem theuren Erlöſer ja fo ſauer zu ſtehen gekom⸗
men find, als ich, fo denke ich, hat er mich armen Sün—
der gern angenommen, er nimmt Sie auch gerne an,
wenn Ihnen alles daran gelegen iſt. Ich agire weder
aus Fürwitz, noch wegen Anderer, denn niemand als
der Zeiten Ew. Majeſtät und ich wiſſen etwas von
dieſem Briefe; ich wollte auch unterthänigſt gebeten
haben, ihn ſogleich zu kaſſiren oder zu remittiren, und
nur auf den nächſten Fall folgende allergnädigſte Re—
ſolution drauf zu ſchreiben, mit der Hand, wenn ich
mich in Ihre Seelenſache mengen darf, Ja, und wenn
Sie es nicht für gut befinden, Nein. Ich werde mich
Hm 277 S
nach einer oder der andern allergnädigſten Erklärung
poſitio richten, und gleichwie ich hoffe, Ew. Majeſtät
werden mein redlich Herz fühlen, und dieſe Propoſition,
die in der Welt ridikül iſt, bei Ihnen ſelbſt behalten,
alſo werde auch ich niemand als den Herrn und Ew.
Majeſtät wiſſen laſſen, was ich hierunter tentirt, und
künftig entweder thun oder unterlaſſen werde. Ver—
harre mit tiefſtem, aber einem Reſpekt, der die red—
lichſte und wahrhafteſte Treuherzigkeit nicht hindert,
Ew. Königlichen Majeſtät allerunterthänigſt treuerge—
benſter Zinzendorf. Marienborn bei Frankfurt am
Main, am 24. Februar 1740.“ Der König ſchrieb mit
Bleiſtift eigenhändig auf dies Blatt: „Obligirt vor
| den guten Rath, fo er Mir gebe, Ich ſtünde mit Gott
und Meinem Heiland ſehr gut, und unterwürfe ſolchem
Mich und Meine zeitliche und ewige Wohlfahrt, er
würde Mich zu Gnaden nehmen. Meine Sünden be—
reute, und würde ſuchen ſolche noch mehr, ſoviel ſchwa—
chen Menſchen nur möglich iſt, abzulegen, und ſuchen
Gott dankbar zu werden. Ein Kopfhänger wäre ich
nicht, und würde es auch nicht werden, und glaubte
nicht, daß es darin beſtehe; Meinen Feinden vergäbe
ich von Herzen alles ſo ſie mir gethan.“ Hiernach
wurde die Antwort ausgefertigt, unter welche der Kö—
nig noch eigenhändig ſchrieb: „Ich erwarte Antwort.
Friedrich Wilhelm.“ Welcherlei Denkungsart man auch
über den Gegenſtand ſelbſt haben möge, immer wird
man bekennen müſſen, daß dieſer Briefwechſel ſowohl
sm 278 Bo
dem Könige wie dem Grafen zur hohen Ehre gereicht.
Auch wurde er fortgeſetzt, und zwar ſchrieb Zinzendorf
wieder an den König ſo beſcheiden als kühn: „Aller—
durchlauchtigſter u. ſ. w. Ew. Königliche Majeſtät ha—
ben in Dero Allergnädigſtem vom 5. d. zwar geruhet
mir zu erlauben und anzuordnen, daß Ihnen darauf
antworten ſolle, es wäre auch gar vieles zu antworten,
weil mir aber ſo poſitiv nicht bewußt iſt, wie Ew. Ma—
jeſtät Dero gnädiges Schreiben beantwortet haben wol—
len, ob Dero vergnügten Zuſtand durch einige erbau—
liche Zeilen nur konfirmiren, oder die mir bei Leſung
deſſelben aufgeſtiegenen dubia einfältig entdecken ſolle,
ſo gedenke ich mit dem letzten mich nicht zu übereilen,
ſondern Dero höchſten Verhaltungsbefehl in specie dar—
über abzuwarten, inzwiſchen will ich nicht verſäumen,
täglich mit meinem einziggeliebten Heiland Ew. Ma—
jeſtät halben zu reden, und ihn kindlich zu bitten, daß
wenn Ew. Majeſtät in dem Zuſtande ſind, darinnen er
Sie gerne hat, er Ihnen eine in Zeit und Ewigkeit
fortwährende Gnade dazu ſchenken wolle, ſo zu blei—
ben, und wenn er eben das dabei zu erinnern hätte,
was mir über Leſung Dero Gnadenzeilen in den Weg
gekommen, er Ew. Majeſtät Herz hinnehmen, und alles
das noch drinnen machen wolle, was er nöthig achtet.
Dann es wird wenig dazu erfordert, aber das wenige
iſt deſto nöthiger, und weil es viel Millionen Chriſten
nicht finden, ſo iſt das Werk der Seligkeit, ungeachtet
es aller Menſchen iſt, ein Geheimniß und bleibt eins.
j
. 279 48
Ich bin mit einem treuergebenen, demüthigen und tief
venerirenden Herzen Ew. Königlichen Majeſtät aller—
unterthänigſter Diener Zinzendorf. Marienborn, am
15. März 1740.“ Der König ſchrieb abermals in der
Kürze die Weiſung: „Soll ſeine dubia ſchreiben, ſoll
ſich mir explieiren.“ Und hienach erging am 22. März
wieder die Antwort an Zinzendorf.
Jetzt glaubte ſich dieſer endlich genugſam berufen
und ermächtigt, ſeine Meinung gradezu herauszuſagen,
doch immer mit Rückſicht, daß er nur ſeine Anſicht
überhaupt vorzutragen habe, und eine perſönliche Mah—
nung nicht begehrt worden wäre. Er entwarf daher
einen Aufſatz von der Bekehrung auf dem Krankenbette,
an eine Königliche Perſon auf ihr ernſtes und anhal—
tendes Begehren geſchrieben. Spangenberg theilt die—
ſen Aufſatz ganz mit, und enthält derſelbe allerdings ſo
erbauliche als angemeſſene Betrachtungen; von ihrer
Freimüthigkeit gebe folgende Stelle Zeugniß: „Wenn
ein Partikulier ſo was Böſes thut, ſo geht ihn das
alles an, was vorherſtehet. Iſt's ein Regente, ſo iſt's
nicht anders; nur daß dergleichen Perſonen ihre Sün—
den nie einfach ſind, ſondern von ſoviel hundert und
tauſend Menſchen nachgemacht werden, daß ein großer
Herr niemals fündiget, ohne fündigen zu machen, und
alſo ein Lehrer der Sünde wird; mithin, wenn er
Gnade gekriegt hat, ſich nicht nur länger ſchämet, ſon—
dern auch mehr Zeit braucht, alles zu redreſſiren, was
ihm nur offenbar wird. Dieſe Konſideration macht
— 8 280 Fe
Leute, die die Macht der Gnade nicht kennen, ſo ſchüch—
tern und verzagt, daß ich einen Potentaten kenne, der
mehr als einmal ſagte, es könne kein großer Herr ſelig
werden; und man muß antworten: Bei den Menſchen
iſt es unmöglich, aber bei Gott ſind alle Dinge mög—
lich!“ Und weiterhin: „Sobald der arme Sünder, er
ſei ein Bettler oder Fürſt, (denn das iſt in der Ma⸗
terie eins) Gnade kriegt und annimmt, ſo freuet er
ſich wie ein Kind, und iſt im Himmel, und hat das
Lamm lieb, als wenn er es da vor ſich ſähe. In
etlichen Tagen ſchämet er ſich, wird ſeriös, und denkt:
Was? ich hätte Gnade, und habe doch (da kommt ein
Sündenregiſter, daß man erſchrecken möchte) das, das,
das gethan! Antwort: dir ſind deine Sünden verge—
ben: aber iſt was, das noch zu ändern iſt? vieles nicht,
aber doch abzubitten. Ach ja, das geſchehe dann; und
was iſt noch zu ändern? das und das. Da fragt ſich's
nicht mehr, ob das das Liebſte iſt, ein Ding, daran den
Fürſten vordem niemand erinnern durfte; die Gnade
hat das Herz; der Sinn iſt weg, der vorher war; die
Berge des Eigenwillens ſind weggeheißen, die Steine
der Hinderniß abgewälzet, es iſt alles hin: weg mit
dem, weg mit jenem: ich habe den Heiland, ich habe
das ewige Leben; da arbeitet ſich's fröhlich auf's Gut—
machen los. Der Heiland hilft, alle Engel ſind parat,
eine ganze Monarchie reinigen zu helfen von den Sün—
den, die der erſt begnadigte Sünder verurſacht hat, und
die keine menſchliche Macht heben kann. Der Regent
ch 281 BI
wird ein Prediger des Evangelii durch fein allgegen—
wärtiges Exempel, in ſeinem Bezirk und umher weit
und breit; da iſt Freude im Himmel, da wird's ſchön
auf Erden: da erſtaunt der Sünder über die Macht
der Gnade.“ Wir finden nicht angegeben, ob König
Friedrich Wilhelm, der am 31. Mai 1740 ſeiner Krank—
heit erlag, dieſen Aufſatz noch empfangen, oder gar
eine Antwort darauf erlaſſen hat; es iſt aber bekannt,
daß der König in derſelben frommen und ſtarken Ge—
ſinnung, die er Zeitlebens gehegt, ſo heldenmüthig als
getroſt dahingeſchieden.
Außer den perſönlichen Obſorgen und Arbeiten,
welche Zinzendorf in ſeinem nächſten Kreiſe Tag für
Tag ausübte, und unter keinerlei Umſtänden ganz aus—
ſetzte, nahmen ihn ſtets wieder außerordentliche und
allgemeine Beſchäftigungen in Anſpruch. Eine im Juni
1740 in Gotha, nach vorgängig eingeholter Erlaubniß
des Herzogs, gehaltene Synode, auf welcher die Miſ—
ſionsreiſe des Biſchofs David Nitſchmann und der bis—
herigen Aelteſtin Anna Nitſchmannin nach Nordamerika
genehmigt wurde, gab dem Grafen Anlaß, eine zweck—
mäßige Beſchränkung ſeiner vielfachen Wirkſamkeit nach—
zuſuchen. Beſonders wünſchte er, der ihm ausdrücklich
auferlegten Leitung der Seelenpflege des weiblichen Ge—
ſchlechts überhoben zu ſein, da die Abreiſe ſeiner ge—
liebten und treuen Gehülfin Anna ihn für dieſes Amt
ganz unzureichend laſſe; doch wollte niemand in ſeine
Stelle treten, und er mußte fernerhin, nachdem ihm die
DB 282 .
Schweſter Lawatſchin als ſtellvertretende Aelteſtin bei—
gegeben worden, dieſe Leitung beibehalten. Glücklicher
war ſein Bemühen in Betreff des Biſchofsamtes, deſſen
Verwaltung er ſich, wenigſtens auf einige Zeit, entzie—
hen wollte, um durch ſeinen ſo vielfach angeſchuldigten
und verläſterten Namen nicht am Ende der ganzen
Brüderkirche, wenn dieſe keinen andern Vorſteher hätte,
zu ſchaden; ungeachtet auch hier ſein Wunſch den ſtärk—
ſten Widerſpruch fand, ſo bewirkte er doch, daß wirk—
lich ein andrer Biſchof, der Bruder Polykarpus Müller,
vormals Profeſſor in Leipzig, gewählt wurde. Die
vielen Streit- und Schmähſchriften, welche gegen die
Brüderſache und inſonderheit gegen den Grafen her—
auskamen, und nach jedem neuen, noch ſo beſcheidenen
Auftreten deſſelben ſich nur ſtets mehrten, wie denn
ſein Lehrbüchlein für die Brüdergemeinden eben große
Anfechtung erfuhr, kamen hier ebenfalls zur Sprache.
Die Falſchheit und Bosheit der meiſten Beſchuldigun—
gen war offenbar, allein man konnte ſich nicht verheh—
len, daß auch mancher Anlaß zu Mißverſtändniſſen ge—
geben war, und es wurde erklärt, daß die Brüderkirche,
abgeſehen von den zufälligen und perſönlichen, wenn
auch ſonſt wohlgemeinten und unſchuldigen Aeußerun—
gen ihrer Mitglieder, nur diejenigen Schriften als ihre
Lehrſätze enthaltend zu vertreten habe, welche von ihr
gemeinſchaftlich und mittelſt Synoden anerkannt wor—
den. Da man ſich eingeſtand, daß unter den Gegnern
auch ſolche Männer ſeien, denen man ächte Frömmig—
sm 283 2
keit, wahren Eifer und Einſicht nicht abſprechen könne,
ſo drang Zinzendorf darauf, daß man zuerſt dem eig—
nen Unrechte nachſpüre und daſſelbe gut mache; dies
führte dahin, daß nach Halle an Francke den Sohn und
deſſen Freunde zwei Brüder, unter welchen der neue
Biſchof, mit einem Schreiben abgefertigt wurden, um
einiges, worin man gegen ſie zu weit gegangen zu ſein
glaubte, ihnen abzubitten; doch fand die Sendung, wie
löblich ſie gemeint war, dort nicht den gewünſchten Ein—
gang. Zinzendorf pflegte überhaupt alle Schriften, die
ihn perſönlich angriffen, der Gemeinde ſelbſt vorzule—
ſen, und zwar in Gegenwart der Fremden, die etwa
zum Beſuch da waren; „Mir geſchieht dadurch, —
ſagte er, — ein zwiefacher Dienſt, erſtlich verliert ein
Theil der Gemeinde von Zeit zu Zeit etwas von der
inwendigen Hochachtung gegen mich, die ich für über—
flüſſig, ſchädlich, und in ihren letzten Folgen für anti—
chriſtlich halte, ſie brauchen mich darum doch in der
Gabe, die mir der Heiland gegönnet hat; zweitens
mache ich die erſte Anwendung meiner von der Ge—
meinde erkannten Gabe damit, ihr, wenn ich dieſen oder
jenen Fehler wirklich begangen habe, ſolches zu bedeu—
ten, die Urſachen davon anzuzeigen, und ſie aus mei—
nem Exempel zu warnen.“ Die Brüder litten es aber
zuletzt nicht mehr, und wollten ſein Bild in ſo ſchmäh—
licher Entſtellung nicht ferner anblicken. Sein Vorſatz,
auf keine Streitſchrift mehr zu antworten, mußte doch
zuweilen höheren Rückſichten weichen, und mehrere
— 8 284 Ei
ſeiner Vertheidigungsaufſätze kamen um dieſe Zeit in
Druck. ‚ g
In Marienborn und Herrnhaag entwickelten fi
mittlerweile mancherlei mißliche Umſtände. Außer den
Schwierigkeiten, mit welchen Herrnhut in ſeinen An—
fängen gerungen hatte, zeigten ſich hier andre, welchen
ſchwerer abzuhelfen war. Man befand ſich nicht auf
eignem Grund und Boden, die obrigkeitlichen und geiſt—
lichen Verhältniſſe lagen getrennt, und ſtatt einander
gegenſeitig zu tragen, widerſtritten ſie einander oft;
mit den anders geſinnten Nachbarn gab es bösartige
Reibungen; die Bürger von Büdingen waren bei dem
Reichskammergericht zu Wetzlar gegen ihre Landesherr—
ſchaft klagbar geworden, wobei die Verhältniſſe der
Brüdergemeinde ſtark in Betracht kamen. Zinzendorf
wollte hievon Anlaß nehmen, das Reichskammergericht
zu einer gründlichen Unterſuchung der ganzen Brüder—
ſache aufzufordern, da er denn nicht zweifelte, zu ihren
Gunſten künftig das Anſehen dieſes höchſten Gerichts—
hofes mitwirken zu ſehen; allein der Kammerrichter
Graf von Virmond bemerkte ihm freundſchaftlich, daß
der Reichsfiskal ſich in dieſe Religionsſache nicht ein—
laſſen könne. Ein Hauptübelſtand war aber die Be—
ſchaffenheit der Gemeinde ſelbſt. Schon dieſe Gegend,
hier am Rhein, in dem belebten, verkehrvollen Lande,
wo ſo viele Geſtaltungen des Lebens ſich drängen, ein—
heimiſche und fremde Richtungen ſich durchkreuzen, brachte
ganz andre Bedingungen mit ſich, als die ſtille Lauſitz
— — 285 23
mit ihren einfacheren, abgeſchloßneren Verhältniſſen.
Die Menge von Theilnehmern und Beſuchern, die hier
zuſammenſtrömten, hatten mannigfachere Beziehungen
der Welt, des Standes, der Bildung, die in der Ge—
meinde fortwirkten. Vergebens wünſchte Zinzendorf
den Zulauf abzuwehren, der aus allen Ländern nach
Herrnhaag Statt fand, theils zum vorübergehenden,
theils zum bleibenden Aufenthalt; vergebens ſuchte er
dieſe vielartigen Elemente gründlich zu ſichten und zu
ordnen. Die Einführung von feſten Gemeindeſtatuten,
welche in Herrnhut ſo ſegenreich geworden, war bisher
nicht gelungen, zu viele widerſtreitende Triebfedern und
unvereinbare Vorſtellungen hinderten ein ſolches Unter—
nehmen. Auch war es ungünſtig, daß Zinzendorf in
Marienborn wohnte, und kein Haus in Herrnhaag hatte,
denn einiger Unterſchied zwiſchen ſeiner nächſten Umge—
bung und der großen Gemeinde mußte merklich wer—
den, und die letztere ſeiner unmittelbaren perſönlichen
Einwirkung mehr entzogen bleiben. Doch inmitten die—
ſer Zuſtände, in welchen ſein eignes Werk ihm zu ent—
wachſen ſchien, blieb er getroſten Muthes und Eifers.
Um den Beſuch der Fremden, der bisher meiſt läſtig
und verwirrend geweſen, nutzbar aufzufaſſen, traf er
die Anordnung, daß täglich eine Stunde ihnen beſon—
ders gewidmet wurde. Für die Gemeinde kamen wich—
tige Einrichtungen zu Stande; für die verſchiedenen
Chöre der Brüder und Schweſtern wurden aus ihrer
Mitte Vorſteher gewählt, und zu ihren Aemtern einge—
fegnet; der Graf felbft nahm ſich in dieſer Zeit vor—
züglich der ledigen Brüder mit Eifer an. Nicht weni—
ger als die einheimiſchen Angelegenheiten beſchäftigten
ihn die Miſſionen zu den Heiden; nach Surinam und
nach Grönland, welches ihm beſonders wichtig war,
fertigte er neue Boten ab. In einem eignen Aufſatz
ertheilte er bündige Vorſchriften, wie das Bekehrungs—
werk überhaupt anzufaſſen und zu führen ſei; er ver—
bot gegen andere chriſtliche Miſſionen ſtreitend oder
auch nur wetteifernd aufzutreten, die Heiden von der
Zertheilung der Chriſtenheit in verſchiedene Partheien
unnöthig zu unterrichten, irgendwie der Obrigkeit ent—
gegenzuhandeln, ſich mit Geſchäften irdiſchen Gewinnes
abzugeben; und bei dieſen Regeln leitete ihn wiederum
eben ſo ſehr die Klugheit als die Frömmigkeit. Bei
allen dieſen Arbeiten und Geſchäften war Zinzendorf
eines innigbewegten Gemüths; er ſang bei jedem An—
laſſe Lieder aus dem Herzen, und deren einmal bis zu
ſechs in demſelben Zuge; ſeine Stimmung wurde durch
eine abermalige Krankheit, von der er nicht zu geneſen
meinte, nur erhöht. Die Gräfin, die eine Reiſe nach
Herrnhut gemacht hatte, fand ihn aber bei ihrer Rück—
kunft zu Anfange Novembers wieder in der Beſſerung.
Beinahe den ganzen Dezember bis zum Schluſſe des
Jahres erfüllten die Berathungen einer Synode, die zu
Marienborn gehalten wurde, und größtentheils Glau—
benslehren betraf, über die man ſich näher zu verſtän—
digen und richtiger auszudrücken ſuchte.
sm 287 DI
Bei aller fortwährenden Zunahme der Brüder—
ſache, mußten doch die gehäuften Angriffe von außen,
welche zum Theil von unläugbar frommen und gelehr—
ten Theologen herrührten, und die Hemmungen im
Innern, die ſich vielfältig kund gaben, den Grafen zu
mancherlei Nachdenken führen. Er war klug genug
einzuſehen, daß manches hier an einer mangelhaften,
unzureichenden Leitung liegen müſſe, und blieb auch
über beſtimmte Mißgriffe und Verſehen, die er ſich
ſchuld zu geben hatte, nicht in Zweifel; dazu kamen
ſeine öfteren Krankheiten, welche ihn in ſeiner Ueber—
zeugung nur beſtärkten, daß er beſſer thäte, ſich von
der Gemeinde zurückzuziehen. Er machte demnach am
3. Februar 1741 den Brüdern feinen Entſchluß bekannt,
das Amt eines Gemeindevorſtehers, welches er bisher
geführt, niederzulegen, indem er vorſtellte, wie feine
Perſon zwar früher der Gemeinde genützt, nunmehr
jedoch ihr nur Schaden bringe; er ſei ein vom Herrn
gelähmtes Mitglied derſelben, und wolle fröhlich im
Staube ſitzen, bis ihm Gott ſelbſt heraushelfe; die
Brüder möchten indeß der Arbeiter, die ihnen Gott ge—
geben habe, inſonderheit der Gnade und der Gabe, der
Treue und des Glücks feiner Gemahlin ſich bedienen;
wolle der Heiland ihm neue Gnade ſchenken, ſo werde
er auch wieder zum Dienſte ganz da ſein. Jedoch
willfahrte man ſeinem Wunſche keineswegs, und er
mußte ſein Amt einſtweilen noch beibehalten. Wäh—
rend er nun nach gewohnter Weiſe Reden, Muſterun—
A 288 42
gen der Herzen, Predigten und andre erbauliche Uebun—
gen hielt, fühlte ſich ſein bewegter Sinn aus dieſem
gewohnten Geleiſe abermals in die Ferne hingezogen,
zu neuen, perſönlichen Ausrichtungen, die mehr als feſt—
ſtehendes Geſchäftswalten ſein Beruf ſchienen. Dem
Gedanken zu einer Reiſe nach Genf vereinigte ſich
mancherlei unverwerfliche Zweckmäßigkeit. Sein Sohn
Chriſtian Renatus ſollte dort weiterſtudiren; für die
Brüderſache, zu deren Gunſten frühere Ausſprüche Cal—
vin's gelten konnten, war vielleicht die Billigung der
dortigen Theologen zu gewinnen, und ein neuer kirch—
licher und gelehrter Anhalt dieſer Art in feinen Vor—
theilen unberechenbar; auch mußte in der Schweiz über—
haupt von der Erſcheinung einer Pilgergemeinde, wie
er ſie mit ſich zu führen dachte, manches Ergiebige zu
hoffen ſein. Nach einigen für die Abweſenheit getrof—
fenen Einrichtungen zu Marienborn und Herrnhaag,
und nachdem ſich die zum Mitreiſen ausgewählten Brü—
der und Schweſtern bei einem Liebesmahl auf Zefu
Blut und Tod innig verbunden hatten, begaben ſich die
Pilger, gegen funfzig Perſonen von allen Chören, all—
mählig auf den Weg; zuerſt reiſte die Gräfin mit ihrer
Tochter und zweien Begleiterinnen, einige Tage ſpäter
der Graf Chriſtian Renatus mit einer Anzahl Gefähr—
ten, nach gleichem Zwiſchenraum andre Abtheilungen,
endlich Zinzendorf ſelbſt von mehreren Brüdern und
den zwei Aelteſtinnen Lawatſchin und Linnerin beglei—
tet, und eine ſechste Abtheilung machte den völligen
9 289 G2
*
Beſchluß. Erſt nach fünf Wochen, zu Anfang des
März 1741, war die Geſellſchaft wieder vollſtändig in
Genf beiſammen, wo mehrere Häuſer zu ihrem Unter—
kommen erforderlich waren. Hier wurde nun ſowohl
in abgetheilten kleineren Geſellſchaften, als auch im
Geſammtverein, jede gewohnte Andacht geübt, alle
Stunden des Tages, und ſelbſt die der Nacht, hatten
in wechſelndem Gebet ihre beſtimmte Anweiſung; die
Beſuche, welche zu den eigentlichen Hausverſammlun—
gen, um Anſtoß zu meiden, nur ſparſam zugelaſſen,
aber übrigens zahlreich empfangen und erwiedert wur—
den, gaben dieſer Frömmigkeit eine günſtige Wirkung
auch in größerem Kreiſe. Zinzendorf ließ ſich perſön—
lich angelegen ſein, insbeſondre die Genfer Profeſſoren
und Paſtoren mit ſeiner Sache bekannt zu machen; er
fand kluge und wackre Männer, die ſeine Eröffnungen
ſehr beſcheiden aufnahmen. Ein ausführliches fran—
zöſiſches Sendſchreiben über den Urſprung, die Ge—
ſchichte, Zucht und Lehre der Brüder, von ihm an die
venerable compagnie des pasteurs et professeurs de
leglise de Geneve gerichtet, wurde von dieſer durch
eigne Abgeordnete beantwortet, welche dem Grafen als
dem Biſchofe der Brüderkirche für jene Mittheilung
eifrigen Dank und viele gute Wünſche zu bezeugen
hatten; allein zu weiteren Anknüpfungen wollte es nicht
kommen, und zuletzt, als er ein franzöſiſches Textbüch—
lein den beiden Profeſſoren Vernet und Lullin unver—
muthet zueignete, konnte deren Höflichkeit nicht alle
Biographiſche Denkmale. V. 19
239 290 82. —
.
Befremdung und Widerſpruch verbergen. Dem Gra—
fen widerfuhr ſonſt von Behörden und Bürgern dieſer
gebildeten Stadt alle Ehre; er blieb in ſeinem Trei—
ben ungeſtört, und hielt zuletzt auch einige Vorträge
für die dortigen Erweckten in franzöſiſcher Sprache;
den Genfer Theologen übergab er dagegen lateiniſche
Theſes, die ſeinen Sinn von dem Heilande genau dar—
legen ſollten. Seine Thätigkeit war unermüdet, und
in ſeinem Eifer nahm er nichts anderes wahr, als was
ihn grade innerlich erfüllte; durch Erweckung ſolchen
Eifers mittelſt geiſtlicher Geſpräche führten ſeine Be—
gleiter einſt auf Gebirgswegen ihn ſicher an Abgrün—
den vorüber, die ihm, der unſicher zu Fuß und zum
Schwindel geneigt war, wenn er ſie bemerkt hätte,
höchſt gefährlich geweſen wären. Da indeß ſeine eigent—
lichen Zwecke nicht erreicht wurden, ſo reiſte er nach
zehnwöchentlichem Aufenthalte mit ſeiner Pilgergemeinde
von Genf wieder ab. Ganz unvermuthet ſammelte ſich
hiebei ein Haufen Uebelgeſinnter, deren man bisher
ganz unkundig geweſen, und verfolgten die Abreiſenden
mit Lärm und Hohn, und außerhalb der Stadt ſogar
mit Steinwürfen, die jedoch glücklicherweiſe unſchädlich
blieben. 5
Im Anfange des Juni war die ganze Pilgerge—
ſellſchaft nach und nach wieder in Marienborn einge—
troffen, und Zinzendorf hielt mit ihr zum Dank für die
glückliche Heimkehr ein Liebesmahl. In ſeiner Seele
war aber wieder ein neues Reiſevorhaben inzwiſchen
N
en 291 2
gereift, und er gedachte diesmal nach den engliſchen
Niederlaſſungen in Nordamerika überzuſchiffen. Er
machte dazu alsbald nähere Vorkehrungen. Auf einer
Synode zu Marienborn legte er fein Biſchofsamt nun
wirklich nieder, und veranlaßte, daß außer dem ſchon
im vorigen Jahr erwählten Biſchof Müller noch ein
andrer beſtellt wurde; die Wahl fiel auf Johann Nitſch—
mann. Da jedoch für die ausgebreiteten und ſich täg—
lich mehrenden Geſchäfte noch immer nicht hinlängliche
Fürſorge getroffen ſchien, ſo wurden noch einige Brü—
der für den allgemeinen Dienſt ernannt, welche mit den
Biſchöfen vereint unter dem Namen Generalkonferenz
alle wichtigen Angelegenheiten zu beſorgen hatten. An
demſelben Tage nahm Zinzendorf einen Herrn von
Hermsdorf, der ſchon achtzehn Jahre ſich zu ihm ge—
halten, in die Gemeinde auf; ſelbſt bei den beſten
Freunden, wenn er ſie nicht reif erkannte, wollte er
hierin dem Heilande nicht vorgreifen, und kein Abwar—
ten der rechten Stunde däuchte ihn zu lange. So ge
duldig er in dieſer Beziehung ſein konnte, ſo heiß
brannte ſein Eifer dagegen in andrer. Seine Arbeiten
in der Gemeinde gingen bis zu ſeiner Abreiſe in ge—
ſteigertem Schwunge, ſeine Unterredungen der Reihe
nach mit jedem Einzelnen durch ganze Chöre, ſeine Lie—
der aus dem Herzen, die Looſungen, die Lehrvorträge,
alles zeigte von der Unermüdlichkeit feines glühenden
Dranges; die letzteren jedoch, welche gedruckt wurden,
gaben neuerdings großes Aergerniß, indem ſie über die
19 *
sm 292 I
Gottheit Chriſti ſich ohne Maß verſtiegen, und fo hal—
tungslos und abſchweifend ausfielen, daß nichts beſſeres
zu thun blieb, als dieſe Reden, wie auch von Seiten
der Brüder und des Grafen nachher geſchah, ganz
preiszugeben. Nach ſolchen gehäuften Abſchiedsarbeiten
trat er endlich mit den Seinigen am 7. Auguſt die
Reiſe an.
In Utrecht, Amſterdam und Heerendyk verweilte er
einige Wochen, richtete an ein paar proteſtantiſche Geiſt—
liche in Deutſchland, welche gegen die Brüder heftig
ſchrieben, noch zuletzt Abmahnungsbriefe, die aber wie—
der als Bannbriefe verſchrieen wurden, und ſchiffte
dann nach London über. Hier wurde in einer Synode
mit den Brüdern und Schweſtern inſonderheit die fer—
nere Bedienung der Gemeinde überlegt, und man ge—
rieth durch den Austauſch ſo vieler Innigkeit und hei—
ßen Beeiferung, welche dieſer Gegenſtand hervorrief,
in die erhöhteſte Stimmung, die gleich bei dem näch—
ſten Anlaſſe ihre merkwürdige Wirkung zeigte. Das
Aelteſtenamt über alle Brüdergemeinden war vor ſechs
Jahren dem Bruder Dober anvertraut worden, der
daſſelbe auf vieles Bitten ſo lange fortgeführt hatte,
jetzt aber alles Ernſtes niederlegte. Ihn zu erſetzen
war ſchwierig, man ſann vergebens umher, den rechten
Mann zu finden, und blieb lange Zeit in rathloſer Be—
kümmerniß. Da hieß es, wie Spangenberg erzählt,
der ſelbſt mit dabei war: „Wird nicht der Herr unſer
Heiland ſo gnädig fein, und dieſes Amt ſelbſt überneh-
59 293 SL.
men? Er iſt's doch allein, bei dem niemand einen
Anſtand hat!“ Alle Anweſenden ſtimmten lebhaft ein,
ſie flehten mit herzinnigem Gebet den Heiland um Ent—
ſcheidung an, und empfanden alsbald die Verſicherung,
daß er ihr Aelteſter ſein wolle; dies war in dem Sinne
eines ganz beſonderen Bundes gemeint; nicht nur der
Hirt und Biſchof ihrer Seelen, auch der Anwalt, Rath—
geber und Fürſorger all ihrer kleinſten Umſtände und
Vorgänge ſollte er ſein, und jenes Amt wirklich dem
ganzen Umfange nach durch die That verwalten! Die—
ſer Beſchluß wurde am 16. September unter größter
Herzensbewegung gefaßt, und der 13. November als
der Tag beſtimmt, an welchem allen Gemeinden gleich—
zeitig durch einen Bericht des Grafen das Segenser—
eigniß eröffnet werden ſollte. Um die Sache noch frucht—
barer zu machen, beſchloß die Synode, bei dieſer Ge—
legenheit allen Abtrünnigen von der Gemeinde, die
wohl gar als Feinde und Läſterer derſelben aufgetre—
ten waren, Vergebung und Wiederaufnahme anzubie—
ten, ein Beginnen, welches gewiß löblich gemeint war,
aber durch unbedachten Eifer, ohne des Grafen Schuld,
die Geſtalt eines Ablaßbriefes bekam, woraus denn
neue Verunglimpfungen erwuchſen, und der Tadel, wel—
chen die ganze Sache erfahren mußte, ſich nur verviel—
fältigte. Wirklich konnte dieſer dem Heiland abſonder—
lich aufgetragene Gemeindedienſt einerſeits überaus an—
maßlich, andrerſeits unziemlich ſpielend erſcheinen, und
ſo auch den Frommen wie den Weltlichgeſinnten ein
— 8 294 BI
(ab Eur: ]
widerlicher Anſtoß werden. Zinzendorf aber und die
Seinigen waren durch die empfangene Gnade ſehr be—
glückt, doch ohne ſich darum erheben zu wollen; im
Gegentheil fand er darin nur eine neue Aufforderung
zur Demuth, und ſagte: „Daß der Heiland unſer Ael—
teſtenamt bekommen, iſt keine Schönheit von uns, ſon—
dern ein Mangel; wir haben niemand unter uns ge—
funden, der das Amt führen könnte; die geſchickt und
niedlich genug dazu waren, waren nicht unanſtößig ge—
nug, und die unanſtößig genug waren, die waren zu
rauh. Darum waren wir abſolut genöthigt, uns des
Vortheils zu bedienen, daß der Heiland bei uns iſt
alle Tage.“ Bemerkenswerth iſt auch, daß Zinzendorf
in dieſer Zeit zwiſchen den Stimmungen reinſten Froh—
ſeins auch denen tiefſter Trauer und einſamſten Schmer-
zes nachhängen konnte. Auf der Synode in London
wurde ferner eine wichtige Anordnung verabredet in
Betreff der wirthſchaftlichen Dinge. Bisher hatte Zin—
zendorf ſein Vermögen und ſeinen Kredit angewendet,
um für die Gemeinden oder Pilgerſchaften die nöthigen
Mittel aufzubringen, und die Gräfin war eine ſo treue
als geſchickte Hausmutter, die mit dem Beiſtande zweier
Brüder beſonders für die Pilgergemeinde gute Sorge
trug. Jedoch in allen dieſen Sachen wurde der Maß-
ſtab ſtets größer und die Geſchäfte vielartiger, auch
erforderten die Kinderanſtalten, Kolonieen und Miſſionen
oft unvorhergeſehene Ausgaben. Zinzendorf liebte Geld—
einſammlungen nicht, ſondern rieth eher anzuleihen, wo
5 295 88
die unaufgeforderten Hülfsgaben nicht ausreichten. Dies
alles zu ordnen und zu verwalten wurde ein Diako—
nus, nachher mehrere, ernannt, und ſo durfte man
auch dieſe Seite der Gemeinde nunmehr wohlbeſtellt
glauben.
Der Graf nahm von ſeiner Gemahlin, die in Eng—
land zurückblieb, herzlich Abſchied; hingegen machte er
ſeiner ſechszehnjährigen Tochter Benigna den Antrag,
ihn auf ſeiner Reiſe zu begleiten; ein Uebel am Fuß,
den ihr die Aerzte deßhalb ſchon hatten ablöſen wollen,
hinderte ſte nicht, ſie willigte mit Zuſtimmung der
Mutter freudig ein, und ihr Muth fand bald einen
Lohn ſchon darin, daß ihr Fuß durch die Seereiſe un—
| erwartet geheilt wurde. Einige Brüder und Schwe—
ſtern, die ſich der Bedienung der jungen Gräfin wid—
meten, gingen gleichfalls mit zu Schiff. Zinzendorf
aber wollte ſich weder auf ein Kriegsſchiff begeben,
noch unter Bedeckung eines ſolchen fahren, wiewohl
damals bei dem Kriege, welchen Spanien und England
gegeneinander führten, die feindlichen Kaper ſehr um—
herſchwärmten. Einem Gefechte beizuwohnen wäre ihm
ſchrecklicher geweſen, als in Gefangenſchaft zu gera—
then, und der Vorzug, den er deßhalb einem ganz un—
bewaffneten Schiffe gab, war auch ganz im Sinne der
Quäker und Mennoniten, auf welche er in Amerika
hauptſächlich zu wirken, und daher gleich zuerſt einen
günſtigen Eindruck zu machen wünſchte. Die Abfahrt
geſchah am 28. September 1741 von Graveſand bei
<> 296 I
widrigem Winde, der einige Zeit anhielt. Während
der zweimonatlichen Seereiſe ſchrieb Zinzendorf wieder
fleißigſt; unter andern eine Zuſchrift an alle Obrig—
keiten, unter welchen Brüder wohnten, mit der drin—
genden Bitte, die Lehre und den Wandel derſelben
gründlich zu unterſuchen, bevor ein Ausſpruch gegen
ſie gethan würde; ferner Briefe, und beſonders Lieder,
deren Born ihm jederzeit ergiebig floß. Mit Ende
des Novembers kam er in Neuyork wohlbehalten an,
und hielt gleich, da mehrere Fromme ſich zu ihm ein—
fanden, einige Verſammlungen; begab ſich aber dann
nach Philadelphia, wo er ein Haus miethete, und ſich
nach ſeiner Art einrichtete. Dem engliſchen Gouver—
neur der Provinz Pennſylvanien meldete er ſeine An—
kunft und ſein lediglich auf die Verkündigung des Hei—
landes gerichtetes Abſehen, mit dem Wunſche, daß von
Seiten der Obrigkeit ein Beauftragter, der deutſch
wüßte, ſeinen Vorträgen beiwohnte. Zunächſt aber be—
reiſte er das Land, um ſich von dem Zuſtande der dort
angeſiedelten Deutſchen, deren Zahl in Pennſolvanien
ſchon damals über hunderttauſend war, mit eignen
Augen zu unterrichten. Er fand hier am Fluſſe Dela-
ware eine Brüderkolonie im Anbau, den alten Vater
David Nitſchmann, deſſen Tochter die Gemeindeälteſtin
Anna, und den Biſchof Johann Nitſchmann, nebft-eini-
gen Brüdern, welche als Boten zu den Indianern zu
gehen im Begriff waren; aus dieſem Anbau erwuchſen
ſpäterhin die blühenden Niederlaſſungen Nazareth und
*
Bethlehem. Sein Beſuch führte ihn über noch andre
Orte nach Germantown, und von da nach Philadelphia
zurück. Er war hier gleich anfangs unter dem Namen
von Thürnſtein aufgetreten, um durch ſeinen Grafen—
titel keinen Anſtoß zu geben, denn die Bewohner jenes
Landes waren durch religiöſe Denkart wie durch bür—
gerliche Lage den europäiſchen Standesunterſchieden ab—
hold und fremd; allein da viele Leute, ſchon aus Wider—
ſpruch, ſein Inkognito nicht gelten ließen, ſo glaubte er
ſich ernſtlicher entſcheiden und ſeinen Grafenſtand öf—
fentlich niederlegen zu müſſen. Er that dies ſpäterhin
am 26. Mai als ſeinem Geburtstage, im Hauſe des
Gouverneurs, vor vielen angeſehenen Zeugen, worunter
auch Benjamin Franklin, durch eine lateiniſche Rede,
in welcher die Beweggründe ſeiner Handlung entwickelt
wurden, wobei freilich auch der von allen Seiten un—
haltbare, damit durch die üble Behandlung, welche er
als ein Diener Jeſu zu erdulden habe, der Gräflich
Zinzendorfiſchen Familie ferner kein Tort geſchähe! Die
Rede war gedruckt, er forderte aber alle Abdrücke der—
ſelben wieder ein, und hinterlegte fie verfiegelt, bis auf
die Zeit, da dieſe Sache auch in Europa würde geord—
net fein. Der Name von Thürnftein wurde aber den—
noch wenig gebraucht, der Graf hieß den Meiſten nur
ganz kurz Bruder Ludwig oder Freund Ludwig, wie
denn die Anrede Freund in jener Gegend durch die
Quäker ohnehin ſchon ganz gewöhnlich war. Mit die—
ſen Leuten indeß, die er doch vorzüglich im Sinne ge—
en 298 Dit
habt, gerieth er fürerſt nicht in nähere Berührung, ihr
Weſen hatte in ſich ſelbſt alle Haltung und Pflege,
und bedurfte keiner neuen Aufhülfe. Anders war es
mit den Lutheranern; nicht nur auf dem Lande, ſon—
dern auch in den Städten waren dieſe großentheils
ohne Lehrer und ohne kirchliche Ordnung; ſie kamen
daher häufig in des Grafen Hausverſammlungen, und
da ihnen ſein Vortrag gefiel, und ächt Lutheriſch dünkte,
ſo trugen ſie ihm die ſonntägliche Predigt in dem Bet-
hauſe auf, das ſie mit den Reformirten gemeinſchaft—
lich beſaßen; nach einigem Zögern gab er denen, welche
ein herzliches Verlangen darnach und Würdigkeit zeig—
ten, auch das heilige Abendmahl. Er brachte ferner
den Entwurf einer Lutheriſchen Kirchenordnung zu
Stande, und bewirkte die Berufung eines Predigers,
der das von ihm begonnene Werk fortſetzen ſollte, da
er ſelbſt an dieſer Stelle zu verbleiben nicht beabſich—
tigen konnte. Auch für die auf dem Lande zerſtreuten
Lutheraner beſorgte er Schullehrer und beſuchende Pre—
diger. Dieſer gute Fortgang wurde jedoch bald ge—
ſtört; zuerſt äußerlich durch einen gewaltſamen Ueber—
fall der Reformirten, welche den neuberufenen Luthe—
riſchen Prediger unter vielen Mißhandlungen aus der
Kirche riſſen, und ſich den alleinigen Beſitz derſelben
anmaßten, weßhalb Zinzendorf lieber auf eigne Koſten
eine neue Lutheriſche Kirche bauen ließ; ſodann von
innen her durch einen aus Deutſchland geſandten Lu—
theriſchen Prediger, der mit dem Grafen nicht einver-
ed 299 S
ſtanden war, ihm entgegenarbeitete, und bald mit allen
denen, welche bisher nicht zum Abendmahl zugelaſſen
worden, den größeren Theil der Gemeinde auf ſeiner
Seite hatte, ſo daß Zinzendorf, welcher in dem Manne
ſonſt große Gaben und die ächte Lehre erkennen mußte,
zu Verhütung weiteren Zwieſpaltes ſich zurückzog, ohne
doch die eingeriſſene Trennung dadurch ganz aufzu—
heben.
In Betreff der übrigen Religionspartheien herrſchte
in Nordamerika die verwirrendſte Mannigfaltigkeit; die
verſchiedenartigſten Sekten lebten in völliger Freiheit
nebeneinander, und fielen in immer größere Trennung
und Auflöſung. Männer von Einſicht und Frömmig—
keit hatten ſchon mehrmals verſucht, eine heilſame An—
näherung ſo vieler vereinſamten Glieder zu bewirken,
und auch neuerdings war von Heinrich Antes, einem
angeſehenen deutſchen Reformirten, ein Aufruf an alle
Erweckten unter den Landleuten ergangen, über ver—
einigende Grundſätze und Anſtalten in eine Berathung
zuſammenzutreten. Zinzendorf wurde zu dieſen Kon—
ferenzen eingeladen, welche in ſieben jedesmal drei—
tägigen Synoden vom Januar bis in den Juni 1742
meiſt in Germantown gehalten wurden, und nahm an
den Verhandlungen eifrig Antheil. Nachdem er auf
der erſten Synode faſt wie ein Beklagter ſich gegen
jede der beſonderen Glaubensanſichten hatte vertheidi—
gen müſſen, kam er ſchon auf der zweiten in ſolches
Anſehn, daß er einſtimmig zum Syndikus für alle fol—
e 300 3
genden erwählt wurde. Als ſolcher hatte er doppelte
Mühe und Arbeit mit ſo vielen ſchwer zu behandeln—
den Sektengeiſtern, die hier zuſammenkamen; doch
brachte er alles auf gute Bahn, und einige Grundſätze
zur Anerkennung, auf welchen ſich glücklich weiterbauen
ließ. So lautete gleich die erſte Uebereinkunft: „Alle
Arbeiter in allen Partheien, denen es um ihre und der
Ihrigen Seligkeit zu thun iſt, wollen ſich kurz dazu
reſolviren, dem allgemeinen Heilande zugleich zu hul—
digen, ihn um Vergebung aller unter ihnen vorgegan—
genen Dinge anzuflehen, ihre unter ſich habende Per—
ſonalſachen gleich fallen zu laſſen, ohne weiter daran
zu gedenken; und hierauf, der unterſchiedlichen Haus—
haltungen ungeachtet, ſich über einen Hauptgrund zu
vereinigen, und auf demſelben fo zu arbeiten, daß nie-
mand dem andern in ſeiner Sprache mehr barbariſch
vorkäme, der Jeſum hätte oder redlich ſuchte.“ Ueber
paradoxe Reden, die man den Sekten ſchon einiger—
maßen geſtatten mußte, wurde feſtgeſetzt: „Weil ſich
der Satan in einen Engel des Lichts verſtellet, und
die theuerſten Wahrheiten mitprediget, um ſie zu ent—
kräften und tumm zu machen, wenn er ihren Lauf nicht
hemmen kann: ſo iſt des Heilands Methode, die Wahr—
heit herbe, derbe, ja paradox und ſo vorzutragen, daß
ſie ſo niemand annehmen kann, als der ſie wirklich in
der Kraft annimmt, unſtreitig für Zeugen nöthig und
unentbehrlich;“ jedoch ſollte dabei kein Leichtſinn, noch
gelehrte und fürwitzige Kunſt, ſondern einzig frommer
— . 301 =
—
Zbweck walten. Dies war ganz im Sinne des Grafen,
der ſchon immer, nicht bloß aus angeborner Geiſtesart,
ſondern auch aus Ueberzeugung und Vorſatz, paradoxe
Reden geführt, und ſich dadurch vielen Vorwürfen bloß—
| geſtellt hatte. In dem Gedränge der Meinungen, de—
ren jede immer gern wieder allein gegolten und auf
ihren Weg alle andern fortgeriſſen hätte, bedurfte er
nicht geringer Gewandtheit, Ausdauer und Sicherheit,
um das Rechte, Vereinigende, nicht bei jedem Schritte
zu verlieren, und ſich ſelbſt als Lutheriſcher Prediger
zugleich und als Diener der mähriſchen Kirche zu be—
haupten. Nach Maßgabe jedoch, daß er einige Seelen
wirklich zu ſeiner Sinnesart gewann, fielen andre wie—
der in die vorigen Wege ab, die Synoden wurden
immer kleiner, mit Schmerz ſah er die daran geknüpf⸗
ten Hoffnungen nach und nach wieder ſchwinden, und
zuletzt blieb nur ein kleines Häuflein übrig, das zwar
auch keine gemeinſame Verfaſſung nahm, aber in Liebe
verbunden bleiben wollte, und ſich daher die Gemeinde
Gottes im Geiſt nannte; die Quäker, ſogenannten Täu—
fer, Siebentäger, Schwenkfelder und andre Sekten, an
die er noch insbeſondre geſchrieben hatte, waren gar
nicht erſchienen, und hatten zum Theil ſchnöde geant—
wortet.
Von dieſen wenig fruchtbaren Bemühungen wandte
ſich der Graf mit deſto beſſerem Erfolge wieder zu ſei—
ner ſchon beſtehenden Brüderſache. Eine Anzahl Brü—
der und Schweſtern, welche bisher in Holſtein gelebt,
—:25 302 33
aber nach anfänglicher Begünſtigung dort manche Stö—
rung erfahren hatten, wegen deren ſie ausgewandert,
kamen über England im Juni 1742 nach Philadelphia,
und wurden in verſchiedenen Abtheilungen nach Beth—
lehem befördert, wo ſie mit den ſchon vorgefundenen
Anſiedlern ſich zu einer Gemeinde ordneten. Zinzen—
dorf half ihre Einrichtung gründen, und hielt ihnen ſo—
wohl, als den aus der Nachbarſchaft herbeiſtrömenden
fremden Hörbegierigen erbauliche Vorträge. Hier ſtimmte
er auch, nach gründlicher Ueberlegung der Sache im
Gemeinderathe, gern dem einmüthigen Beſchluſſe bei,
den ſiebenten Tag der Woche als einen Ruhetag zu
feiern. Schon längſt hatte er dieſen Tag, welcher allein
der göttlichen Einſetzung des Sabbaths zu entſprechen
ſchien, beſonders geehrt, anſtrengende Leibes- oder Ge—
müthsarbeit an demſelben gern unterlaſſend, und lieber
andächtige Feſtlichkeiten in die Stelle geſetzt, Verſamm—
lungen zum Gebet oder Liebesmahle der Kinder und
Erwachſenen, wobei die Hausdiener ebenfalls mitfeier—
ten, indem nur Thee und Weißbrot gereicht wurde,
was leicht bereitet war. Doch legte er auf dieſe Feier
keineswegs den Werth, welchen die ſogenannten Sab—
bather in England ſo damit verknüpften, daß ſie nun
den Sonntag dafür als Werktag behandelten, und dar—
über in Strafe kamen; im Gegentheil war ihm der
Sonntag ſtets ein heiliger Tag, für den Gottesdienſt
wie für die bürgerliche Ordnung höchſt wichtig, und
jetzt in keinem Falle zu beeinträchtigen; nur für den
h 303 S3-
Sabbath, von welchem die Schrift redet, und welches
nur der ſiebente, nicht der erſte Tag der Woche ſein
kann, wollte er ihn nicht halten. Seine Arbeit in
Bethlehem war ſehr geſegnet, und wurde dankbar von
| den Brüdern und Schweſtern anerkannt. Anna Nitſch—
mann ſchrieb von dieſer Zeit an die Gemeinde in Eu—
ropa: „Wie ſchön und lieblich es in Bethlehem aus
ſieht, kann ich euch nicht beſchreiben. Es iſt mir in
meinem ganzen Leben noch nie ſo wohl, als da, gewe—
ſen. Wir waren einen Monat alle beiſammen, als die
Gemeinde hinzog und eingerichtet wurde. Wir liebten
uns wie die Kinder. Das thut das herzliche Gottes—
lamm, das macht aus ſeinen Sündern ſolche ſelige
Gnadenkinder. — Unſer gewiß theurer und lieber Bru—
der Ludwig wird nun jetzt ſeine Reiſe zu denen Wil—
den endigen, und dann noch ein und anderes in Penn—
ſylvanien und den Gemeinden in Ordnung ſetzen. Penn—
ſolvanien hat zwar ſehr lieblos an ihm gehandelt, ſon—
derlich die daſigen Feinde des Kreuzes Jeſu und ſei—
nes ſeligen Sünderkirchleins; doch haben ſie nichts aus—
gerichtet. Der Herr iſt mit uns.“ Die Gemeinde er—
hielt die beſondre Beſtimmung, gleich der Pilgerge—
meinde in Europa, nicht nur für ſich des Heils zu pfle—
gen, ſondern daſſelbe auch für andre wirkſam zu machen;
daher ſie auch eine gemeinſchaftliche Haushaltung zu
führen, und den Ertrag ihrer Tagesarbeiten, nach Ab—
zug des ihr ſelbſt Unentbehrlichen, zu den Zwecken und
Anſtalten der Brüder überhaupt, und inſonderheit zu
559 304 28
den Miffionen unter den Indianern, anzuwenden be-
ſchloß. Damit ſolches glückliche Gedeihen nicht ohne
Beimiſchung bliebe, drohte jedoch von ganz unerwar—
teter Seite plötzlich eine ſchlimme Störung. Die In—
dianer ſprachen den Grund und Boden, wo die Brü—
der die Niederlaſſung Nazareth angelegt, als ihr Eigen—
thum an, und wollten darauf nicht verzichten. Eine
große Verlegenheit entſtand hieraus für Zinzendorf; er
hätte dieſen armen Wilden das Land gern überlaſſen,
oder es ihnen auf's neue abgekauft, allein die Frage
knüpfte ſich höher an das Recht der engliſchen Landes-
herrſchaft, und dieſem durfte er nichts vergeben; der
Gouverneur von Pennſylvanien befahl auch wirklich,
die Indianer ſollten weggewieſen werden; aber dieſ 4
blieben darum nicht weniger, und behaupteten ihre An⸗
ſprüche. Erſt nach gemeinſamer Erörterung der Sache
in Philadelphia, und nach Einſicht der urſprünglichen
Kaufbriefe der erſten Ankömmlinge, welche den In—
dianern das Land abgekauft hatten, erkannten dieſe
ſelbſt, daß jener Boden ihnen nicht gehöre, und ließen
die Brüder in deſſen ungeſtörtem Beſitz; doch ſorgte
Zinzendorf dafür, daß ihnen gleichwohl nochmals der
höchſte Preis, den ſie ſelbſt gefordert hatten, aber als
Geſchenk, ausgezahlt wurde.
Er dachte nunmehr auch ernſtlich an Ausführung
ſeiner eignen Miſſionsverſuche unter den Indianern.
Gegen Ende des Juli begab er ſich auf die Wande—
rung, begleitet von ſeiner Tochter Benigna und von
2305 &
mehreren Brüdern und Schweſtern, welche fein Unter—
nehmen theilen wollten. Der erſte Ausflug geſchah
über die blauen Berge zu den Delawares, einem der
Stämme, die von den Irokeſen oder dem Bunde der
funf Nationen, wie dieſer kriegeriſche Volksverband
hieß, kürzlich unterjocht worden. Man machte mit die⸗
ſen Leuten, welche des Umgangs mit Europäern ſchon
kundig waren, gute Bekanntſchaft, wohnte unter einem
Gezelt neben ihren Hütten, und predigte ihnen das
‚Evangelium unter mancherlei Ungemach nach beſtem
Vermögen; ein Erfolg wollte ſich indeß von dieſer Be—
| ung, wobei ein ſchon bekehrter Indianer nothdürf—
tig als Dolmetſcher diente, fürerſt nicht zeigen. Auf
einer andern Reiſe, in der Mitte des Auguſt, traf er
zu Tulpehokin mit dreien Sachems oder Häuptlingen
zuſammen, welche grade von Philadelphia, wo ſie den
Friedensbund der fünf Nationen mit der Regierung
von Pennſylvanien erneuert hatten, in ihre Heimath
zurückkehrten; dieſe Gelegenheit ergriff er ſogleich, um
gute Verbindung anzuknüpfen, und ließ den Männern
bedeuten, er habe weder Land zu kaufen im Sinne,
noch Handel zu treiben, aber eine Botſchaft Gottes fer
ihm an ſie und ihre Völker aufgetragen, um ihnen den
Weg zur Seligkeit zu zeigen, ſie möchten erklären, ob
ſie dieſe Botſchaft geſtatten wollten? Der Friedens-
richter und Regierungsdolmetſcher Weißer, aus Nei—
gung dem Grafen folgend, verſtändigte die Indianer
in ihrer Sprache über den Zweck und die Meinung
Biographiſche Denkmale. V. 20
sm 306 2
o
deſſelben, und gab ihren dem Herkommen gemäß zu—
gleich ein Geſchenk. Sie beſprachen ſich unter einan—
der, fanden die Botſchaft ehrenwerth, und hießen den
Grafen und ſeine Brüder willkommen, indem ſie zu—
gleich das urkundliche Zeichen ihrer zuverläſſigen Ge—
ſinnung, eine Schnur aufgereihter, nach ihrer Zahl ge—
nau bemerkter Korallen, Wampom genannt, darboten.
Auf dieſer Reiſe begegnete ihm der ſeltſame Zufall,
daß er an einem Sonntage, den er um der Puritaner
willen mit Bedacht durch Raſten feierte, nebſt ſeiner
Tochter und einem Gehülfen abends beim Aufſchreiben
eines Liedes, das er eben auf die Indianer verfertigt
hatte, von einem Friedensrichter überraſcht wurde, der
ſie am folgenden Tage durch den Konſtable verhaften
ließ, und alle drei als Sabbathſchänder in Geldſtrafe
nahm, wogegen alle Einwendung nichts fruchtete. In
Chekomeko, jenſeits der blauen Berge, wohin er bald
mit zunehmendem Gefolge zog, fand er einige ſchon
bekehrte Indianer, für welche er zweckmäßige Einrich-
tungen anordnete; der neuen Bekehrungen blieben aber
wenige, weil er weder die Abſicht noch ſelbſt die Ge—
ſchicklichkeit hatte, eine große Zahl dieſer Halbwilden
fürerſt äußerlich anzuwerben, wobei die innere Neigung
nur allzuoft ausblieb, und nach kurzem Verſuch die
vorige Gewohnheit leicht wieder ſiegte. Eine andere
Reiſe zu den Indianern an dem Fluſſe Susquehanna
nach Schomokin, Otſtonwakin und Wajomik, damalige
Wohnorte herumziehender Stämme, hatte gleichfalls.
e 307 Ge
wenig Erfolg, dagegen größtes Ungemach, indem die
Wildniß der Wälder nicht Bahn noch Zufluchtsorte bot,
bald Fluß und Sumpf, bald Baumfälle und Steilhöhen
den Schritt hemmten, und bei der ſchon gras- und
laubloſen Jahrszeit auch inmitten der Waldung das
Futter für die Pferde mangelte. Die Indianer im
Allgemeinen bezeigten dem Grafen wohl Achtung und
Aufmerkſamkeit, aber doch machten die Schawanos, ein
beſonders grauſamer Stamm, den Anſchlag, ihn mit
ſeiner ganzen Begleitung zu ermorden, welches nur
eben noch, indem ein unerklärbares Angſtgefühl den
Dolmetſcher, welcher nach andrer Gegend verſchickt war,
zu beſchleunigter Rückkehr trieb, wie durch ein Wunder
entdeckt und gehindert wurde. Nach vielen andern über—
ſtandenen Gefahren und Beſchwerniſſen kamen doch Alle
am 9. November wieder in Bethlehem glücklich an.
Mit unermüdeter Thätigkeit ging Zinzendorf ſo—
gleich wieder an andre Arbeiten, zu welchen Anlaß oder
auch nur Raum war. Die Gemeinde in Bethlehem,
nach ihrem Bedürfniß im Ganzen, ſo wie nach dem
eines jeden einzelnen Mitglieds, die Miſſionen der
Brüder in Nordamerika und in Weſtindien, die nicht
aufgegebene Einwirkung auf die vielartigen Religions-
partheien in Pennſylvanien, die Anlegung von Schulen
und Erziehungsanſtalten, deren eine für junge Mäd—
chen in Germantown an der Gräfin Benigna ſelbſt eine
thätige Gehülfin hatte, ferner die Predigten und Er—
bauungen, die er ſeinen lieben Deutſchen aller Orten
20 *
> 308 8
zum Abſchied halten wollte, und zum Theil, bei dem
Mangel an Kirchen, auch in Scheunen und Häuſern zu
halten ſich bequemte, ſodann Aufſätze und Büchlein
mancher Art und Sendſchreiben, die er drucken ließ, —
dieſe Gegenſtände insgeſammt zeugten von dem Um—
fang und der Kraft ſeines Eifers, der zwar in ſtetem
Wechſel begriffen war, aber überall, wo er, wenn auch
nur auf kurze Zeit, einwirkte, die Sachen gefördert
ihrem Weitergang überließ. Leider mußte er in aller
dieſer Thätigkeit auch erfahren, daß die Miſchung der
ſittlichen Stoffe, worin die geſellſchaftliche Welt ſich
gährend fortbewegt, in der neuen Welt nicht anders,
als in der alten, beſchaffen ſei. Das Auffallende der
Erſcheinung des Grafen war den meiſten Leuten ſchon
genug, ihn zu verdammen; den Einen war es anſtößig,
daß er in leinenen Sommerkleidern, wie ein geringer
Mann, zum Theil zu Fuß umherwanderte, den Andern
hingegen, daß ſie ihn von den Seinigen gleichwohl als
einen vornehmen Mann geehrt und faſt immer von
zahlreichem Gefolge begleitet ſahen. Man ſpottete ſei-
ner in den öffentlichen Blättern, man verfolgte ihn mit
Schimpf und Verläumdung, und ſparte auch die ſchänd—
lichſten Beſchuldigungen nicht. Anfangs ſuchte er ſol—
chen Angriffen Einhalt zu thun, und erließ zu dieſem
Zweck ein paar Briefe, welche Benjamin Franklin in
ſeine Zeitung aufnahm, allein die Bosheit mied den
offenen. Kampf, und hielt ſich in ſchleichender Tücke
ſchadlos. Manche Prediger, in ihm einen Feind ihrer
1:9 309 a3
Zunft ſehend, erklärten ihn für den falſchen Propheten,
für das gräuliche Thier aus der Offenbarung Johannis.
Man wollte erfahren haben, er ſei wegen Trunkenheit
und ſonſtigen ſchlechten Lebenswandels in Deutſchland
ganz verrufen und zum Fortgehen genöthigt geweſen,
habe darauf die Tochter eines Schifflieutenants ent—
führt, die er jetzt für ſeine Tochter Benigna ausgebe,
mit dieſer Perſon lebe er in Unehren, und wäre ſie
wirklich ſeine Tochter, ſo ſtelle ſich die Sache nur um
ſo gräuelhafter; andre Verläumdungen kamen ihm aus
Europa nach, er habe es nicht aushalten können, von
feiner Geliebten, der ehemaligen Aelteſtin Anna Nitſch—
mann, getrennt zu leben, nur ihretwegen ſei er nach
Amerika gereiſt, um fernen ſündlichen Umgang mit ihr
fortzuſetzen. Die Tändeleien, welche dem Grafen, wie
mit andern theuern Perſonen, ſo auch mit dieſem Frauen—
zimmer gewöhnlich waren, daß er ſie ſeine Nitſch-Annel
nannte, und anders dergleichen, wurden zum Beweiſe
des unrechten Wandels angeführt. Wir gedenken die—
ſer abſcheulichen Nachrede mit Bedacht, weil jedes Zeit—
alter ſeine höchſten und würdigſten Ehrenmenſchen gern
verunglimpft, und in dem Spiegel deſſen, was ſchon
dageweſen, ihm nicht oft genug vorgehalten werden
kann, wie groß und rein doch ſtets das Edle aus der
abfließenden Verläumdung ſich wieder emporhebt! Zin—
zendorf konnte jedoch unter ſolchen Widrigkeiten in Ame—
rika die Schwingen weniger entfalten, als in Europa,
in deſſen Bildung, bürgerlicher Einrichtung, und ein-
BD 310 3
geübten Verhältniſſen bei allem Wechſel doch immer
grade ihm die größten Vortheile geſichert blieben. Auch
riefen die zahlreichſten Anforderungen ihn lebhaft dort—
hin zurück. Nachdem er alſo noch mancherlei für das
Gedeihen der Brüder geordnet, in Pennſylvanien guten
Samen ausgeſtreut, und zuletzt in Philadelphia mit
Predigten und Reden Abſchied genommen, ſchiffte er
ſich am 9. Januar 1743 zu Neuyork mit feiner Toch—
ter, mit Anna Nitſchmann, und ſonſtiger Begleitung
ein, und ging nach England unter Segel. Die See—
fahrt war glücklich, bis am 14. Februar ein heftiger
Sturm das Schiff an die Klippen von Seilly zu wer—
fen drohte; der Kapitain, ſelbſt ein Frommer, und das
Schiffsvolk erſahen ſchon den gewiſſen Tod, Zinzendorf
allein war heitern Sinnes, verkündete Allen ſichres Lan—
den, und fügte die beſtimmte Vorherſagung hinzu, daß
der Sturm nach zwei Stunden vorüber ſein würde;
man achtete dieſer Tröſtung wenig, als aber die ge—
nannte Zeit um war, erſuchte er den Kapitain, auf dem
Verdeck nach dem Wetter zu ſehen, und wirklich legte
ſich der Sturm in den nächſten Minuten. Der Kapi-
tain befragte nachher den Grafen, was es mit ſeiner
Vorherſagung für eine Bewandtniß gehabt, und dieſer
ſtand nicht an, im Vertrauen, daß kein Mißbrauch da—
von gemacht würde, Folgendes ihm darüber zu ſagen:
„Es ſind ſchon über zwanzig Jahre, daß ich mit mei—
nem lieben Heiland einen herzvertraulichen Umgang
habe. Wenn ich nun in gefährliche und ſeltſame Um—
58 31 So
ftände komme, fo iſt mein Erſtes dabei, daß ich genau
unterſuche, ob ich daran ſchuld ſei oder nicht. Finde
ich nun etwas, damit er nicht zufrieden iſt, ſo falle ich
ihm gleich zu Füßen, und bitte um Vergebung. Da
vergiebt mir's dann mein guter Heiland, und läßt mich
gemeiniglich zugleich wiſſen, wie es ablaufen werde.
Wenn es ihm aber nicht gefällt, mich den Erfolg vor—
her wiſſen zu laſſen, ſo bin ich ſtille, und denke, es iſt
das Beſte für mich, daß es mir unbekannt bleibe. Das—
mal aber hat er mich es wiſſen laſſen, daß der Sturm
noch zwei Stunden dauern würde.“ Wir haben in
unſrer Erzählung dergleichen Züge nicht ausgelaſſen;
daß ſie einer ſehr verſchiedentlichen Beurtheilung an—
heimfallen, können wir nicht hindern.
In Dover am 17. Februar gelandet reiſte Zinzen—
dorf ſogleich nach London und von da weiter nach
Aorkſhire, wo Spangenberg unter den zahlreichen Brü—
dern mit vielem Segen thätig war. An dieſem gedeih—
lichen Fortgang erquickte ſich ſein Herz, und ſtärkte ſich
zu vielem Ungemach und Arbeiten, die ihm bevorſtan—
den. Ueber Cambridge und Broadoaks, an welchem
letztern Orte, den er Lambs inn nannte, die Brüder auf
dem gemietheten Schloſſe ihre Kinderanſtalt hatten, und
ſeine Tochter Benigna kurze Zeit verweilte, kam er am
11. März nach London zurück. Hier hatten die Brü—
der, weil die obrigkeitliche Erlaubniß für ihre gottes—
dienſtlichen Verſammlungen ſie unterſcheidend benennen
mußte, ſich als mähriſche Brüder angegeben; dies wider—
1
= 312 8
ſprach den Hauptgrundſätzen und Abſichten, welche Zin—
zendorf bisher befolgt hatte, gradezu; er meinte in dem
von ihm geſtifteten Religionsweſen nicht ausdrücklich
die mähriſche Kirche zu verſtärken, wobei ſein Unter—
nehmen einerſeits beſchränkt und andrerſeits mannigfach
gefährdet bleiben mußte, ſondern wollte die fromme
Gemeinſchaft, welche ſich durch ſein Wirken geſtaltet
hatte, in alle beſtehenden chriſtlichen Kirchen hineinbil—
den oder aus ihnen entwickeln, wodurch ſein Werk an
jedem Orte ſeine beſondre Sicherheit und mit einem
univerſellen Karakter den weiteſtausgedehnten Wir—
kungskreis erhielt; fchon von Philadelphia her hatte er
gegen jene Benennung Einſpruch gethan, jetzt aber, da
ſonſt alles in kräftigem Gedeihen und deßhalb ſchon
weniger auch für ihn biegſam war, ſah er die Sache
in England kaum zu ändern, und fügte ſich ſchweigend
darein. War auf ſolche Weiſe die Anbrüderung mit
der engliſchen Kirche verſäumt, ſo wollte er doch we—
nigſtens von den ihr ſcharf entgegengeſetzten Metho—
diſten geſchieden bleiben, und wandte die Gefahr einer
Vermiſchung mit ihnen eifrig ab, indem er gegen die
beiden Wesley, die Stifter der Methodiſten, eine Er—
klärung ausgab, und an ihren Prediger Whitefield, der
ſich den Brüdern wiederholt genähert hatte, ein ernſt—
liches Schreiben erließ. In der Gemeinde ſelbſt wirkte
er mit belebender Thätigkeit, ließ ſich der Reihe nach
Perſon für Perſon vorſtellen, und ſprach mit jeder
einige Worte, hielt beſondre Homilien für die Chöre,
— e 313 S
—
engere und allgemeinere Verſammlungen, und jeden
Tag in der Brüderkirche öffentlich eine deutſche Pre—
digt, von der am folgenden Tage dann auch eine eng—
liſche Ueberſetzung vorgeleſen wurde; ja er wagte ſo—
gar, um einiger anweſenden Franzoſen willen, zum er—
ſtenmal franzöſiſch zu predigen. Auch in einer Geſell—
ſchaft, welche ſich zu dem Zweck, unter den Heiden das
Evangelium zu befördern, in London gebildet hatte,
und den Miſſionen der Brüder hülfreich wurde, nahm
er öfters berichtend und vorſchlagend das Wort. Mit
Vornehmen, Gelehrten und Frommen, die ſich günſtig
bezeigten, fand ein freundlicher Umgang Statt, der un—
ter andern auch die erſte Einladung für die Brüder,
ihre Sache nach Schottland zu verpflanzen, veranlaßte.
Doch konnte er dieſes Wirken in England nicht lange
fortſetzen, denn dringend rief die Lage der Sachen ihn
nach dem Feſtlande. Auch dort offenbarte ſich in dem
Brüderweſen ein ſtarker Hang, die Geſtalt eines ſei—
ner Theile zu der des Ganzen zu machen, und überall
ſich als zur mähriſchen Kirche gehörig aufzuſtellen. In
Holland, auf dem Herrnhaag, in Gotha, Berlin, und
andern Orten, war dieſer Zug nicht weniger als in
England hervorgedrungen. Die Biſchöfe und Aelte—
ſten, welche mit Beihülfe einiger andern Brüder, unter
dem Namen der Generalkonferenz, in Zinzendorf's Ab—
weſenheit mit Leitung der Geſchäfte beauftragt waren,
hatten darin unläugbar ſehr viel geleiſtet, aber ſie
waren viel weiter gegangen, als ſie nach ſeiner Mei—
ca 5 314 2
nung gehen ſollten, ſie hatten ſeinen Sinn wie ſeine
Zuſtimmung außer Acht gelaſſen, neue Dinge kräftig
unternommen, und indem ſie ſich mannigfachen Gelin—
gens freuten, nur um ſo mehr alles verwirrt und ge—
fährdet. Zinzendorf ſah die Nothwendigkeit, die Sachen
wieder ganz in ſeine Hand zu nehmen, das Gethane
möglichſt aufzuheben, und ſein leitendes Anſehn gründ—
lich herzuſtellen. In einer Sache, welche ſich vor an—
dern anfaßlich darzubieten ſchien, that er dies unver—
züglich noch von London aus. Der Graf von Prom—
nitz, ein reicher Standesherr aus Schleſien, hatte das
Gut Neudietendorf bei Gotha gekauft, um eine mäh—
riſche Gemeinde dort aufzunehmen, und die Anſiede—
lung war bereits angefangen, obgleich die Kirchenver—
faſſung des Landes entgegen war. Hier keine weitere
Verwickelung entſtehen zu laſſen, ſchrieb Zinzendorf ſo—
gleich an den Herzog, tadelte das Unternehmen als un—
befugt und voreilig, und erklärte, nicht eine mähriſche,
ſondern nur eine Lutheriſche Brüdergemeinde, nach dem
Beiſpiele von Herrnhut, in Gotha beabſichtigen zu kön—
nen, im Fall man hiezu die Hand böte; und an die
ſchon hingezogenen Gemeindeglieder erließ er eine Ab—
berufung, die auch alſobald befolgt wurde. Nicht überall
jedoch war es leicht oder überhaupt ſtatthaft, ſo zurück—
zuwirken, und Zinzendorf verkannte nicht, welch ſchwie—
rigen Aufgaben er entgegenging.
Er landete in Rotterdam im Anfang Aprils, und
eilte nach dem Haag, wo er ſeinen Sohn Chriſtian
— 9 — 315 BR
Renatus fand, der ihm ganz verändert und aus frü—
herer Dumpfheit jetzt erſt als geiſtlich erweckt erſchien.
Auch traf er hier Abraham von Gersdorf als Abgeord—
neten der Brüderkirche, der ihm wohl ſonſt lieb, aber
deſſen Geſchäftstrieb bei den Generalſtaaten von Hol—
land ihm ſchon nicht genehm war. In Amſterdam, wo
er den 4. April ankam, traf er die Biſchöfe und Ael—
teſten, welche auf die Nachricht ſeiner Rückkehr ſich da—
ſelbſt eingefunden hatten, und ſeiner harrten, um ihn
zu bewillkommen und ihm von ihrer Verwaltung Be—
richt zu geben. Er hielt ſogleich ausführliche Erörte—
rung mit ihnen, tadelte ſie wegen ihrer Unberückſich—
tigung ſeines Vorſteheramtes, welches er, zwar wider
ſeine Neigung, aber doch in der That behalten habe,
und daher auch zu handhaben verpflichtet ſei, fand un—
begreiflich, daß ſie ſo viel Wichtiges und Neues ange⸗
fangen, ohne ſeinen Rath und ſeine Billigung zu ver—
nehmen, die ſie auch aus Amerika ſehr wohl hätten
ſchriftlich einholen können, und machte ſie auf ſo man—
ches Nachtheilige und Bedenkliche aufmerkſam, das in
dem Gewirkten ſelbſt lag. Zwar gab er billigen Ge-
gengründen ſeinerſeits auch wieder Raum, und ließ ſich
über einiges beruhigen, aber im Ganzen beſtand er auf
ſeinem ausgeſprochenen Sinn. Einen befremdlichen Ein—
druck mußte auch der Graf von Promnitz auf ihn
machen, den er in Amſterdam zuerſt kennen lernte; die—
ſer war in die Brüdergemeinde erſt vor kurzem aufge—
nommen und ſogleich in bedeutenden Geſchäften ge—
5m 316 BI
braucht worden, denen das perſönliche Gewicht einer
vornehmen Vertretung wohl zu Statten kommen durfte;
Zinzendorf war von jeher, dem Spruche des Apoſtels
gemäß, daß nicht viel Edle, nicht viel Weiſe berufen
ſind, mißtrauiſch gegen den Eintritt der Vornehmen und
Gelehrten in die Gemeinde, und fand in Betreff ſol—
cher beſondere Vorſicht und Prüfung nöthig; ſein eignes
Beiſpiel hielt er für eine Ausnahme, nach welcher viel—
leicht kein andres zu beurtheilen ſei; hier ſah er nun
zum erſtenmal in der Gemeinde einen Mann, der ihm
durch Geburt, Vermögen und Weltbildung äußerlich
etwa gleichzuſtehen ſcheinen konnte, der ebenfalls dich—
tete oder reimte, und deſſen frommer Eifer im Glanze
ſolcher Vortheile auch in der Gemeinde leicht Anſehn
und Einfluß davon trug, und ſchon auf Stufen der
Wirkſamkeit gehoben war, welche, wie die ihm aufge—
tragenen Geſchäfte in Berlin und Gotha, dem Syn—
dikus der Gemeinde oblagen; ohne ihm grade Eifer—
ſucht aufzuregen, von welcher Zinzendorf gewiß weit
entfernt war, mußte ihm doch ſolch äußerliches Nach—
bild ſeiner ſelbſt höchlich mißfallen, und ſein perſön—
liches Gefühl ſich mit dem des Rechtes, der Ordnung
und des Gemeinwohls verbinden, um alles auf ſein
natürliches Maß zurückzuführen. Er ſprach ſich unver—
hohlen darüber aus, ſowohl gegen Promnitz ſelbſt, deſſen
redliches und frommes Gemüth er liebend anerkannte,
als auch gegen die Aelteſten, welchen er die Gefahr
jedes unwachſamen Schrittes vorhielt. Das Syndikat
e 317 2
der Brüderkirche, welches Amt während ſeiner Abwe—
ſenheit ſich in mehrere Hände ſchwankend vertheilt hatte,
nahm er feſt und beſtimmt als das ſeine wieder auf.
Durch eine franzöſiſche Denkſchrift an die General—
ſtaaten ſetzte er, was Gersdorf nicht gehörig gethan,
das Verhältniß der mähriſchen Kirche in das rechte
Licht, und die Brüder blieben fortan in Holland unan—
gefochten. Aber ſein Wiedereingreifen mußte nun ſo—
fort auch in Deutſchland wirkſam werden, und nach
einem Beſuch in Heerendyk reiſte er am 20. April über
Utrecht nach der Wetterau. .
Im Herrnhaag war die nee bei feiner An—
kunft grade zum Bettage verſammelt, und er hielt ſo—
gleich eine Rede an ſie, worauf er noch vielerlei von
ſeinen Reiſen und Verrichtungen erzählend mittheilte.
Am folgenden Sonntage predigte er, hielt jedem Chor
eine Homilie, und ſprach die ledigen Brüder Mann für
Mann, mit den Helfern und Hauptarbeitern aber hatte
er ausführliche Unterredungen. Die Chöre beſprach er
eifrig, und dichtete für ſie beſondre Lieder, unter wel—
chen die für das Ehechor freilich im Ausdruck nicht die
beſonnenſten waren. Bald war er mit den innerſten
Zuſtänden der Gemeinde, wie mit ihren äußeren Ver—
hältniſſen, wieder ganz vertraut, und konnte nur um ſo
klarer einſehn, welche bedeutende Ablenkung alles von
dem früheren Wege genommen hatte, und wie durch
andres Wirken und Anſehn das ſeinige zum Theil er—
ſetzt und abgeſchloſſen war. Seinem Sinne gradezu
BD 318 So
entgegen war die Gemeinde im Geiſtlichen und Welt—
lichen auf einen ganz neuen Fuß geſetzt. Anſtatt im
Herrnhaag eben ſo an die reformirte, wie in Herrnhut
an die Lutheriſche Kirche, ſich anzuſchließen, hatten die
Brüder durch einen neuen Vertrag mit dem Landes—
herrn, dem Grafen von Aſenburg-Büdingen, ſich aus—
drücklich zur mähriſchen Kirche und unter deren Biſchöfen
ſtehend bekannt; andrerſeits waren ſie auf ein Darlehn
eingegangen, welches, unter Vermittelung des ſchon er—
wähnten Beuning von Amſterdam, theils für den Gra—
fen von Büdingen, theils für den Grafen von Meer—
holz bewirkt worden war, wogegen erſterer den Ort
Leuſtadt mit Schloß und Kirche, letzterer das Schloß
Marienborn auf dreißig Jahre an Beuning verpfändet
hatte. Zinzendorf mußte im letzten Augenblick, da Beu—
ning doch die Geldſummen nicht ſogleich aufbringen
konnte, hiezu noch mitwirken, obgleich er die Sache,
wie ſie geſtellt war, ganz mißbilligte. Das theologiſche
Seminarium zu Marienborn, welches ſpäter nach Lind—
heim verlegt wurde, fand er ebenfalls in einer Rich—
tung, die ihm äußerſt bedenklich ſchien. Unter der
wohlmeinenden Leitung des ſehr gelehrten Biſchofs Po—
lykarpus Müller war daſſelbe tiefer in die Schulweis—
heit gerathen, als mit der Einfalt und Kindlichkeit,
welche die Brüderſache doch bewahren ſollte, verträglich
dünkte. Doch ſah er für den Augenblick ohne große
und zweifelhafte Störung allen dieſen Dingen keine
Abhülfe, ſondern wollte erſt wieder ſein Anſehn und
=D 319 8
feinen Einfluß im Stillen nach und nach gehörig er—
ſtarken laſſen. Er hielt ſich von allen Geſchäftsbera—
thungen einſtweilen entfernt, und nahm nur an den
Erbauungen und Seelenarbeiten der Gemeinde, an die—
ſen aber ſehr innig und lebhaft Theil. Er predigte in
der Schloßkirche zu Marienborn und auf der Ronne—
burg, die von den Brüdern gemiethet und der Wohn—
ort einer kleinen Gemeinde war, und zeigte ſich uner—
müdet im Dienſte des Heilands. Nach Verlauf eini—
ger Wochen traf in Marienborn auch der Theil ſeiner
aus Pennſylvanien mitgekommenen Begleiter ein, der
von Holland her auf dem Rhein langſamer nachgereiſt
war, und am Tage nachher kam auch die Gräfin da—
ſelbſt nach langer Abweſenheit wieder an. Dieſe Dame
hatte es dem Gemahl an Unternehmungseifer und Reiſe—
fertigkeit inzwiſchen muthig nachgethan, war nach Herrn—
hut und Ebersdorf, wo ſchon ſeit einiger Zeit die Ge—
meinſchaft mit Herrnhut ſtockte, darauf nach Berlin,
und endlich ſogar nach Kopenhagen und Sankt-Peters—
burg gereiſt, um für das Reich des Heilands zu wir—
ken; ſie hatte auch die Königin von Dänemark ge—
ſprochen, in Rußland aber bei der Kaiſerin keinen Zu—
tritt erlangt, ſondern durch ihren Aufenthalt in Lief—
land ſich ſogar Ungelegenheiten ausgeſetzt, indem fie
beſchuldigt worden war, eine neue Sekte ſtiften zu
wollen, wogegen der Graf, als er die Sache vernahm,
nachdrückliche Verantwortungsſchreiben, ſowohl an ruſ—
ſiſche Staatsbeamte, als an die heilige Synode der
2 2320 33
ruſſiſchen Kirche ergehen ließ. Die Gräfin war auf
dieſen Reiſen von ihrer Begleitung Mama genannt
worden, und wurde von Einigen fortwährend ſo ge—
nannt; dies brachte den Grafen, für den man ſchon
längſt keine ganz angemeſſene Anrede zu finden wußte,
der in Pennſolvanien zwar Freund Ludwig oder Bru—
der Ludwig, in Deutſchland aber meiſt wieder gnä—
diger Herr genannt wurde, auf den Gedanken, ſich
Papa nennen zu laſſen. Bald geſchah dies allgemein,
ſelbſt in Schriften und von Fremden, und wurde da—
durch ärgerlich. Der Anklang von Pabſt lag faſt be—
denklich nah, und als ein Bruder ihm vorhielt, Chriſtus
habe ſeinen Jüngern ausdrücklich verboten, jemanden
Vater zu heißen auf Erden, wies er zwar jede Miß—
deutung, als habe er das Wort in höherem geiſtlichen
Sinne genommen, unwillig von ſich ab, ſuchte aber doch
den Gebrauch ſofort einzuſtellen, und mußte in die frü—
here Verlegenheit ferner ſich ergeben.
Durch die Anweſenheit ſeiner Gemahlin und die
wieder zahlreichere Umgebung der Getreuen, die ihn
auf der Reiſe begleitet hatten, fühlte er ſich auf's neue
geſtärkt und ermuthigt, und konnte, auf dieſes Häuf—
lein geſtützt, ſchon kräftiger auftreten. Um das Ver—
trauen und die Freudigkeit, deren das Beſtehn und
Handeln inmitten von Widrigkeiten ſo beſonders be—
darf, noch mehr zu ſichern und zu erhöhen, ſchloß er
mit jenen Brüdern und Schweſtern einen engeren Bund,
der aber nur auf Einfalt und Innigkeit des Herzens
|
59 321 Go
ging; auf dieſem reinen Grunde gedieh dann von ſelbſt
manch edle Frucht, die für das Ganze zu nutzen war.
Die Verbindung dauerte einige Zeit mit großem Nutzen
fort, ſie wirkte, wie jede kleinere Geſellſchaft, nur um
ſo feuriger; nachdem ſie jedoch ihren Zweck erfüllt und
ſich dabei zu größerer Anzahl ausgedehnt hatte, hob
Zinzendorf, von ſichrem Takt hierin geleitet, ſie zu rech—
ter Zeit wieder auf, und vermied ſo jeden Abweg, der
weiterhin daraus entſtehen konnte. Dieſe Getreuen,
mit ihm Gewanderten, verblieben indeß vorzugsweiſe
als Glieder der Pilgergemeinde um ihn, die für den
Dienſt des Heilands jederzeit fertig ihn bald mehr bald
minder zahlreich umwallte. Mit neuer Kräftigung
wandte er ſich nun wieder auf das Allgemeine der
Brüderſache, und beſchloß ihre wichtigeren Verhältniſſe
gründlich vorzunehmen. Eine Synode, welche auf ſei—
nen Betrieb zum 1. Juli nach Hirſchberg im Voigt—
lande ausgeſchrieben wurde, ſollte dieſem Zweck ent—
ſprechen. Der Graf verabſchiedete ſich mit der Ge—
meinde zu Herrnhaag in gewohnter Weiſe, Erbauun—
gen und Geſchäfte drängten ſich, die Chöre wurden
bearbeitet, Brüder und Schweſtern zu Aemtern einge—
ſegnet, Lieder geſungen und Reden vorgetragen, end—
lich das Abendmahl genommen, alles in fortdauerndem
Zuge von zwei Uhr nachmittags den Abend und die
Nacht hindurch bis um 5 Uhr morgens. Dann reiſte
er mit großem Gefolge von Brüdern und Schweſtern
nach Hirſchberg ab, wo er am 30. Juni eintraf, und
Biographiſche Denkmale. V. 21
159 322 93
gleich am folgenden Tage die vorbereitenden Konfe—
renzen anfingen.
Um die hier gepflogenen Verhandlungen richtiger
einzuſehen, bedarf es eines Rückblicks auf einige Um—
ſtände damaliger volitiſcher Welt. In Preußen war
durch den Tod Königs Friedrich Wilhelms des Erſten
ein völliger Umſchwung eingetreten, der Sinn und Geiſt
ſeines Nachfolgers bewegte Staat und Volk in ganz
neuen Richtungen, und beſonders zeigten ſich für reli—
giöſe und kirchliche Angelegenheiten ganz veränderte
Ausfihten. Man kannte den jungen König als einen
Gegner alles deſſen, was auf überliefertem Wunder—
glauben ruhte, aller Schwärmereien und Satzungen,
die ſich dem Gemeinbegreiflichen nicht anſchloſſen, oder
ihm gar widerſprachen; für kirchliches und geiſtliches
Treiben ſchien da überhaupt nicht viel zu hoffen, ein
Mann wie Zinzendorf aber dem lebhaften Jünger und
Freunde Voltaire's gar zum Geſpött ſein zu müſſen;
die Feinde, welche den Schutz und die Gunſt des Gra—
fen bei dem vorigen Könige ſchon mit tiefem Neid an—
geſehen, triumphirten in ihrer Schadenfreude, daß es
mit jener Stütze nun vorbei ſei, und manche heftigere
Gemüther überſahen um ſolcher Befriedigung willen
gern den Nachtheil, der auch ihnen ſelbſt etwan aus
dieſer allgemeinen Denkart des Königs erwachſen konnte.
Allein dieſe Sachen ſtellten ſich anders; Friedrich der
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— 323 BU
Große ließ in dieſem Gebiete alles frei, beſchützte, was
beſtand, hemmte weder Vor- noch Rückſchritt, und ſorgte
nur dafür, daß nach keiner Seite die ihm heilige Glau—
bensduldung verletzt würde. Sogar mußten die Sek—
ten und kleineren Religionsgeſellſchaften, als bisher ge—
drückte oder doch angefeindete Partheien, gegen die
mächtigeren Kirchen eher im Vorzuge ſtehn, und wirk—
lich zeigte ſich bald, daß die Brüderſache bei dem ge—
fürchteten Wechſel faſt eben ſo gut ſtand, als vorher.
In größter Bedeutung aber entwickelte ſich dies Ver—
hältniß, als Friedrich der Große gleich in den erſten
Jahren durch die Gewalt ſeiner ſiegreichen Waffen das
Herzogthum Schleſien eroberte, und dieſes Land an
jener allgemeinen Duldung und Gewiſſensfreiheit Theil
nehmen konnte. Wo bisher die reichsgeſetzlich aner—
kannten Lutheriſchen und Reformirten in ſtetem Nach—
theil gegen die herrſchende katholiſche Kirche und Re—
gierung gerungen hatten, da fand ſich plötzlich jede bis—
her verfolgte und auch von jenen angefochtene Glau—
bensart erleichtert oder befreit, und aller Orten ath—
meten die langgehemmten Geſinnungen auf. Unver—
hohlen bekannten jetzt Einzelne und Gemeinden die
Eigengeſtalt ihrer Frömmigkeit, mähriſche Brüder offen—
barten ſich zahlreich, eben ſo unter den Erweckten viele,
die ſich ihnen zuneigten, auch kamen ſtarke Auswande—
rungen neuerdings aus Mähren. In Burau bei dem
Grafen von Promnitz, in Ober-Peile bei Julius von
Seidlitz, in Großkrauſcha, in Rösnitz, und andern Orten
21 *
ed 324 ..
Schleſiens, waren Sammelſtellen der Brüder, und mit
großem Eifer nutzten ſie den neuen Zuſtand, und ſuch—
ten ſich deſſelben zu verſichern. Ihre Abgeordneten
fanden in Berlin gutes Gehör, und erlangten nicht nur
völlige Religionsfreiheit in allen Königlichen Landen,
ſondern auch die Gunſt, in geiſtlichen und Kirchenſachen
keinem Konſiſtorium, ſondern unter dem Schutze des
Königs bloß ihren Biſchöfen untergeben zu ſein. In
Berlin, Stettin, und ſelbſt im Fürſtenthum Neufchatel
zu Montmirail, that ſich hierauf die Brüderſache ſtär—
ker hervor; den ſtärkſten Schwung aber nahm ſie in
Schleſien. Nicht zufrieden mit der allgemeinen Er—
laubniß, forderte man hier meiſt auch für jeden be—
ſtimmten Fall noch gern eine beſondere, bei der man
ſich nur um ſo feſter glaubte, und die mehrentheils
ohne Schwierigkeit erfolgte. Demnach erhoben ſich,
außer den ſchon genannten, die Brüderorte Gnaden—
berg, Gnadenfrei und Neuſalz, an welchen letztern Ort,
weil auf Befehl des Königs auch einer der Biſchöfe
der Brüder in Schleſien reſidiren ſollte, nachgehends
der dazu erſehene Polykarpus Müller hinzog, und einen
Theil des theologiſchen Seminariums und der Erzie—
hungsanſtalten aus der Wetterau mitbrachte.
Alles dieſes, mit Eifer und Erfolg und in Berlin
großentheils unter Mitwirkung des Grafen von Prom—
nitz betrieben, hatte nun wohl einen glänzenden An—
ſchein, aber Zinzendorf ſah dieſen Gang mit äußerſter
Mißbilligung, die er auf der Synode jetzt ausführlich
f 1
2 325 G88
—
entwickelte. Zuerſt tadelte er ſehr ſtark, daß alle dieſe
Schritte im Namen der mähriſchen Kirche und aus—
drücklich für dieſe gethan worden, wodurch die Brüder
ihr unſtreitiges, und bis dahin behauptetes Gleichrecht
an beide evangeliſche Religionen, die Lutheriſche und
reformirte, und ſomit eine ihrer vorzüglichſten Eigen—
heiten unverwahrt außer Acht gelaſſen. Ferner hielt
er ihnen vor, daß ſie ihre ſchon längſt ausgeübten und
anerkannten Rechte aus Unkunde und Uebereilung durch
Geſuch und Annahme neuer Gewährungen in Frage
geſtellt und geſchmälert hätten, denn die neuen Aus—
fertigungen, mit denen ſie ſich ſo viel wußten, lauteten
ja nicht anders, als ob die Brüderkirche in den bran—
denburgiſchen Landen erſt von jetzt an geduldet werden
ſollte, da fie dies ja ſchon über hundert Jahre ſei, und
zwar ſo ſehr, daß der Königliche Hofprediger und re—
formirte Theolog Jablonski zugleich Biſchof der Brü—
der habe ſein können, und beide ganz abweichende Li—
turgieen über dreißig Jahre ohne Widerſpruch neben—
einander geführt habe. Dann klagte er ſie arger Ver—
ſäumniß an, nicht auf's neue ausdrücklich ihre Ueber—
einſtimmung mit dem augsburgiſchen Glaubensbekennt—
niß erklärt, und nicht, ſeinem öftern Beiſpiele nach,
auf vorgängige Unterſuchung ihrer Kirchenſache gedrun—
gen zu haben, ehe ſie die Königlichen Gewährungen
hingenommen; ſollte es nicht ferner ihre Meinung ſein,
feſt an der Lehre des augsburgiſchen Bekenntniſſes,
welche keine andre als die der heiligen Schrift ſei, zu
8 326 >
halten, fo müßte er ſich dem Dienſte der Brüderge—
meinden ganz entziehen, läge aber eine Nachläſſigkeit
zum Grunde, ſo möchten ſie bedenken, welch leichtes
und ihnen ſelbſt höchſt verderbliches Spiel ſie ihren
Gegnern bereitet hätten, welche dieſen Stand der Sachen
ſchrecklich mißbrauchen könnten, um alles anzugreifen,
was die Brüder bisher behauptet, wie denn ſchon ein
Beiſpiel vorgekommen, daß einem ihrer Prediger, der
als Lutheriſch vorher keine Schwierigkeiten gefunden,
jetzt die Kanzel in Lutheriſchen Kirchen aus dem Vor—
wande verſagt worden, daß die Brüder nun eine pri—
vilegirte beſondre Religionsübung hätten; unverant—
wortlich ſei der Leichtſinn, mit dem ſie ihr wahres Ver—
hältniß verkannt und preisgegeben, den feſten Boden,
worauf ſie gegründet, ohne Noth verlaſſen, um ſich auf
unſichren und zweifelhaften zu bewegen, der unter ihnen
einzubrechen drohe, und ſo das Ganze ihrer Sache,
unter ſcheinbarer Förderung, nur in Verwirrung und
Gefahr gebracht hätten.
Die rückhaltloſe Sirenge, mit welcher Zinzendorf
ſeine volle Meinung unumwunden vortrug, hatte bei
aller Eindringlichkeit nichts Verletzendes; ſo ſtark er
auf die Sache hielt, ſo gelaſſen, mild und nachgiebig
ſtellte er alles Perſönliche, weder gab er den Andern
unreine Triebfedern ſchuld, noch konnte man ihm ſolche
beimeſſen; in Liebe und Vertrauen wurde das Geſche—
hene bſp chen, als ein Uebel, das gemeinſam zu tra—
gen und dem gemeinſam auch abzuhelfen ſei. Gewiß
14
2 327 2
iſt es ſehr zu verwundern und ein hohes Zeugniß der
Aechtheit im Karakter des Grafen, daß in ſo großer
und langdauernder Kriſis, da er ſo herbe Unzufrieden—
heit nicht verhehlte, ſo durchgreifende Rückwirkung ver—
langte und faſt gebot, und durch ſein Betragen ſo leicht
den Vorwurf des Ehrgeizes und der Herrſchſucht auf
ſich ziehen konnte, doch nie der liebevolle Bruderſinn
und die herzliche Innigkeit geſtört wurde, auf welche
das ganze Verhältniß urſprünglich gegründet war. Auch
drang er mit ſeinen Vorſtellungen vollſtändig durch;
man erkannte die Wahrheit derſelben nach fruchtloſem
Widerſtreben endlich an, und mußte wohl einfehen, daß
nichts Klügeres zu thun ſei, als die ganze Angelegen—
heit ſeinen Händen zu übergeben. Er empfing mit vier
andern Brüdern von der Synode eine Vollmacht, alles
noch Thunliche in Berlin und in Schleſien nach beſter
Einſicht anzuordnen und abzumachen.
Von der Synode aus beſuchte Zinzendorf ſeine
Schwägerin, die Gräfin Benigna von Reuß in Pottiga,
und ging dann nach Ebersdorf, wo er einige öffentliche
Reden hielt. Inzwiſchen war David Nitſchmann nach
Berlin vorausgegangen, und nachdem er dem vorlie—
genden Geſchäfte den Weg gebahnt, folgte Zinzendorf
mit Gattin und Sohn und den drei übrigen Mitbe—
vollmächtigten nach, und kam den 21. Juli daſelbſt an.
Er hatte ſchon vorläufig an den preußiſchen Staats—
miniſter von Cocceji, welcher mit der Brüderſache beauf—
tragt war, ſeinen Wunſch geſchrieben, daß bis zum Aus—
ed 328 S
gange der Synode alles ruhen möchte; jetzt richtete er
eine ausführliche Denkſchrift an den König ſelbſt, worin
er das Verhandelte darlegte, mehrere neuerlich erho—
bene Beſchuldigungen abwies, und in Betreff der Ueber—
einftimmung der Brüder mit dem augsburgiſchen Be—
kenntniſſe dringend um gründliche Unterſuchung bat.
Allein man fand dieſe nicht nöthig, beſonders da Zin—
zendorf perſönlich eine Prüfung in Berlin ſchon be—
ſtanden hatte, und nach dem Sinne des Königs wären
die Brüder, hätten ſie auch von jenem Bekenntniſſe
ganz abweichend ſich erwieſen, nicht weniger alles
Schutzes werth und theilhaft geblieben. Die Bemü—
hungen des Grafen, daß die Brüder, anſtatt ihren
Biſchöfen, mit vorbehaltener Verfaſſung und freier
Wahl ihrer Lehrer dem Lutheriſchen Konſiſtorium un—
tergeben würden, fanden nicht nur bei der preußiſchen
Staatsbehörde keinen Eingang, ſondern auch bei den
ſchleſiſchen Gottesgelehrten nicht, welche den Brüdern
abgeneigt und von deren Uebereinſtimmung mit der
augsburgiſchen Lehre nicht überzeugt waren, und daher,
ſchon künftige Feindſeligkeiten ſinnend, keine nähere
Verbindung mit ihnen wollten. Weil auf die Mei—
nung dieſer Gottesgelehrten das kurz vorher erſchienene
Bedenken des halliſchen Profeſſors Baumgarten, wel—
cher die Angehörigkeit der Brüder zur evangeliſchen
Kirche gegen den bejahenden Ausſpruch der tübingiſchen
Fakultät gradezu verneinte, beſonders eingewirkt zu
haben ſchien, ſo machte Zinzendorf, unermüdlich wie er
e 329 3
war, ſich gleich daran, jene Schrift zu widerlegen, und
gab unter dem Namen Siegfried eine Beleuchtung des
Baumgartenſchen Urtheils heraus, welche zwar die
Freunde beſtärkte, aber die Widerſacher nicht herum—
wandte. Hatte nun in dem Kampfe der beiden wirk—
ſam gewordenen Behandlungsarten, — der einen, nach
der die Brüderſache als etwas Beſondres und Selbſt—
ſtändiges durch neue Rechtsverleihungen Boden und
Sicherheit gewinnen wollte; der andern, wonach ſie
dem Altbeſtehenden eingeſchoben nur in und mit die-
ſem berechtigt ſein ſollte, — Zinzendorf auf der Synode
auch für die letztere geſiegt, ſo blieb doch, nachdem die
preußiſche Regierung mit zuſtimmendem Eifer der Brü—
der in die erſtere ſo weit eingegangen, das Bemühen
einer völligen Umlenkung nun fruchtlos, die Sachen
waren ſchon zu weit gediehen, und man mußte ſich der
denn doch unläugbaren Vortheile getröſten, welche ſich
auf dem andern Wege wirklich ergeben hatten. Zin—
zendorf aber beſtand darum nicht minder auf ſeinem
erklärten Grundſatz, und that allem dawider Gehenden
eifrigſt Einhalt; ſo gelang es ihm noch zuletzt in Ber—
lin, als die preußiſche Regierung, welche ihrem Geiſte
nach mehr die allgemeine Glaubensfreiheit, als irgend
eine Rechtgläubigkeit, im Sinne hatte, zu Gunſten der
Brüder eine Anzeige bei dem evangeliſchen Körper am
Reichstage machen wollte, dieſen höchſt verfänglichen
Schritt durch die Bemerkung, daß die Brüder im rö—
miſchen Reiche als Mitbekenner des augsburgiſchen Be—
D 330 33
kenntniſſes ſchon völlig angenommen, zu hintertreiben,
und an deſſen Stelle den Vorſchlag einzulegen, daß
Preußen mit den andern evangeliſchen Reichsſtänden
lieber darauf hinwirken möchte, den Schwarm von
Läſterſchriften zu hemmen, durch welche die Brünn
öffentlich verläumdet würden.
Zinzendorf reiſte von Berlin am 8. Auguſt nach
Schleſien ab, um die dortigen neuen Gemeinden einzu—
richten, für welches Geſchäft er von den Brüdern be—
vollmächtigt und durch ein Königliches Schreiben an
die Regierungen zu Breslau und Glogau des Beiſtan—
des dieſer Behörden verſichert war. An der Gränze
der Lauſitz, auf dem Schloſſe des Grafen von Prom—
nitz in Burau, welchen Ort er Gnadeck nannte, nahm
er ſeinen Aufenthalt, hielt Erbauungen und Predigten,
arbeitete Schriften und Liturgieen aus, betrieb die ihm
obliegenden kirchlichen und weltlichen Geſchäfte, und
bereiſte deßhalb auch die Orte Schleſiens, wo ſich Brü—
der niedergelaſſen hatten. Die Nähe von Herrnhut
gab Gelegenheit, mit dieſer geliebten Gemeinde, welche
zu beſuchen ihm nicht erlaubt war, den lebhafteſten
Verkehr anzuknüpfen. Die Brüder und Schweſtern
kamen, je nachdem er ſie bezeichnete, abtheilungsweiſe
nach Burau, wo zu ihrer Aufnahme weder Raum noch
Bewirthung fehlte, und nahmen Theil an den frommen
Uebungen wie an den geſellſchaftlichen Berathungen.
Auswanderer aus Mähren kamen an, wurden beſprochen,
N
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DB 331 3-2
angeleitet und untergebracht; hingegen eine Anzahl Ehe—
paare, welche nach Nordamerika zu reiſen entſchloſſen
waren, nach dieſer Beſtimmung abgefertigt. Weil ſich
der Dienſt der Brüderkirche durch deren ſtarken An—
wachs täglich vermehrte, wurden Friedrich von Watte—
ville und ſpäter Johannes Langguth, von welchem noch
ferner die Rede ſein wird, zu Biſchöfen erwählt. Kaum
waren hier die Sachen nur auf leidlichen Fuß gebracht,
als Zinzendorf's Gedanken auch ſchon wieder neue Thä—
tigkeit in der Ferne ſuchten. Ihn ſchmerzte, daß ſeine
Gemahlin ſo ungünſtig in Rußland gewirkt hatte, und
nach ihrer Abreiſe nur nachtheilige Eindrücke dort ge—
blieben waren; dies alles wieder auszugleichen fühlte
er ſich unwiderſtehlich angereizt. Eine ſeinen bisherigen
ganz entgegengeſetzte Aufgabe war ihm dort geſtellt;
liefländiſche Geiſtliche hatten in die Lutheriſche Kirche
die mähriſche Kirchenzucht einführen wollen, und ihr
gewaltſamer, von den Brüdern unbedacht unterſtützter
Eifer, der ſelbſt eine Kaiſerliche Kommiſſion nöthig ge—
macht hatte, mußte mißbilligt, das Angefangene rück—
gängig gemacht werden. Inzwiſchen konnte dem Gra—
fen bei ſeinem Vorhaben nicht entgehen, welchen Ge—
fahren er die Brüderſache durch ſeine neue Entfernung
preisgab. Gewarnt durch das, was ſich während ſei—
ner Abweſenheit im vorigen Jahre zugetragen, nahm
er diesmal ſeine Vorkehrungen nur deſto ſorgſamer.
Schon hatte er ein Schreiben an alle Brüder gerichtet,
worin er nachdrücklich darauf drang, daß aller Orten
29 332 3
auf die Grundideen gehalten würde, befonders in den—
jenigen Bezügen des inneren Verkehrs, welche die Lei—
tung des geſellſchaftlichen Ganzen betrafen; er verhehlte
nicht, daß hievon abhängen würde, ob er der Gemeinde
ferner dienen ſolle. Jetzt erließ er einen neuen Brief,
worin er verlangte, ſeines Vorſteheramtes und aller
Verantwortung entbunden, oder durch eine neue Voll—
macht in Stand geſetzt zu werden, allem Unzeitigen
oder Schädlichen, was in der Gemeinde unternommen
werden möchte, mit Nachdruck zu begegnen, und alles
dagegen, was er für nützlich und nöthig halten würde,
gehörig auszuführen. Sein Anſehn war ſo vollkommen
hergeſtellt, daß ohne irgend einen Widerſpruch, mit
größten Lobreden und gänzlichem Vertrauen, ihm ſein
Vorſteheramt beſtätigt, ſein Vorwiſſen und Gutfinden
zu allen wichtigen Dingen für unentbehrlich erklärt,
und ihm ſogar überlaſſen wurde, ſeinen Nachfolger in
dieſem Amte ſelber zu ernennen. So ausgerüſtet und
ſichergeſtellt, doch ohne ſich noch zu äußern, wiefern er
ſich gebunden achten wolle, trat er in Begleitung ſei—
nes Sohnes und einiger Brüder ſeine Reiſe nach Ruß—
land an, und kam den 23. Dezember wohlbehalten
nach Riga.
Hier aber, als er bei dem Feldmarſchall Grafen
Lascy, dem er ſchon von unterwegs ſein Vorhaben
ſchriftlich gemeldet hatte, um Päſſe zur Weiterreiſe
nach Sankt- Petersburg anhalten ließ, wurden nicht
nur dieſe verweigert, ſondern auch er ſelbſt und ſeine
8 333 92
Begleiter auf die Feſtung in Verhaft gebracht, wo man
ſie zwar ſchonend und freundlich behandelte, doch aber
ihre Papiere wegnahm und mit dem Bericht über den
ganzen Vorgang zur Unterſuchung nach Sankt-Peters—
burg mitfandte. Zinzendorf ſchrieb aus dieſem Ver—
haft ausführlich an die ruſſiſche Kaiſerin Eliſabeth, in—
dem er ſeine Abſichten darlegte, ſein Benehmen recht—
fertigte, und um gründliche Unterſuchung aller mit ihm
zuſammengehörigen Verhältniſſe bat. Auch an feine
Gemahlin durfte er ſchreiben, und er meldete ihr, daß
es ihm wohlginge, daß er auf den Heiland vertraue,
und alle beſte Hoffnung habe; er ſagte am Schluſſe:
„Ich habe mein Lebtage zu nichts weniger Inklination
gehabt, als zu Arreſten, da es nun aber dazu kommt,
iſt mirs recht. Ich kann weiter nichts ſagen, als was
ich dir ſchon ehmals geſagt habe: Wenn ich nicht da
bin, ſo ſei du ganz da, und thue meine Treue doppelt.“
Die Antwort aus Sankt-Petersburg kam ohne Zögern,
man hatte dort weder Sinn noch Zeit, in dergleichen
Angelegenheiten unterſuchend einzugehen, und nahm den
kürzeſten und förderlichſten Ausweg, den Grafen des
Weges, den er gekommen, ohne weiteres zurückzuſchicken.
Als ihm dies angezeigt und er bedeutet wurde, daß er
nun ohne Säumen abzureiſen habe, betrübte ihn ſehr,
daß keine Unterſuchung Statt finden ſollte, und er bat
um einigen Aufſchub, weil er noch eine Aenderung des
Befehls von Sankt- Petersburg nachträglich ankommen
zu ſehen hoffte, allein die Friſt wurde nicht bewilligt,
iD 334 8
und er mußte am 12. Januar 1744 unter militairiſcher
Begleitung, die ihn erſt an der preußiſchen Gränze
verließ, die Rückreiſe antreten. Seine in Rußland ge—
ſcheiterten Erwartungen ſuchten ſich in Königsberg eini-
germaßen ſchadlos zu halten, indem er bei der theolo—
giſchen Fakultät daſelbſt auf Unterſuchung ſeines Grun—
des und ſeiner Handlungen antrug; ſein eiliges Drin—
gen erlangte auch ſchnell genug Antwort, allein ableh—
nende, und ſelbſt ſein Begehren, mit einem oder dem
andern Fakultätsmitgliede ein theologiſches Geſprach
über die Gemeinſchaft der ſeit dem Jahre 1724 neu
hervorgetretenen mähriſchen Brüder mit der Lutheriſchen
Kirche zu halten, fand keinen Eingang, und unverrich—
teter Dinge ſetzte er ſeine Reiſe nach Berlin fort. Da
er jedoch ganz darauf verſeſſen war, dieſe Gemeinſchaft
zu erweiſen und anerkannt zu ſehen, wozu er die Leute,
ſobald ſie ſich nur auf die Sache einließen, zwingen zu
können meinte, ſo entwarf er noch ſpäterhin eine Reihe
von Fragen, deren Beantwortung den Gottesgelehrten
in Königsberg durch die höchſte Behörde in Berlin be—
ſtimmt abgefordert werden ſollte, worauf aber eben ſo
wenig geachtet worden iſt. In Berlin blieb er nicht
lange, ſondern begab ſich nach Burau, wohin von Herrn-
hut feine Gemahlin und feine älteſte Tochter, nebft
mehreren Brüdern und Schweſtern, zu feinem Em—
pfange gekommen waren. Gleich an demſelben Tage
traf die Nachricht ein, daß der Graf von Promnitz in
Erbach, wo er ſich grade aufhielt, nach einem gottſeli—
|
b 335 a
gen Abſchied aus der Zeit gegangen ſei, wodurch in—
zwiſchen den Verhältniſſen in Burau keine Verände-
rung gekommen ſcheint. Zinzendorf drückte ſeine Em—
pfindungen bei dieſem Todesfall in einer Ode aus,
worin er das Thema des mit vornehmem Stande ver
knüpfbaren frommen Berufs in ſehr fließenden Reim—
zeilen, aber höchſt proſaiſcher Redeſtellung, ſeltſam er—
örternd abhandelt. So heißt es unter andern, nach—
dem er ſein Mißtrauen gegen die Frömmigkeit der
Vornehmen angedeutet:
„Nicht, daß mir die Adelſchaft
Dieſer Erd' und ihrer Ehre
Gräulich wäre,
Oder ich mich gegen Herrn
Wollte ſperrn,
Nein! in Wahrheit, wenn ſie wiſſen,
Wie ſich Herren halten müſſen,
Hab' ich ſie von Herzen gern.“
Weiterhin wird von dem Abgeſchiedenen wohl geſagt;
„O wie drückte ihn ſein Stand!
Und er war ihm doch nicht ſchädlich,
Sondern räthlich.
Seine anvertraute Leut
Zeugen's heut:
Herr zu heißen hoc respectu,
Da man Herr iſt cum effectu,
Das iſt keine Eitelkeit.“
Allein die früheren Bedenklichkeiten, welche anfangs
2 336 33
auch gegen Promnitz gehegt waren, werden im Allge—
meinen doch feſtgehalten:
„Aber mit dem Zeugenſtab
Nach Regentenſtäben greifen, 9
Arbeit häufen,
Die man nicht beſtreiten kann
Ohne Bann,
Das iſt weder kompatibel
Mit der Lehre in ver Bibel,
Noch mit einem klugen Mann.“
Nach einer Beſichtigungsreiſe in Schleſien, und
einem zweimaligen kurzen Beſuch in Herrnhut und
Bertholdsdorf, wohin, bei noch beſtehendem, aber von
der ſächſiſchen Behörde ſchon minder ſtreng angeſehenem
Verbot, ihn das Herz unwiderſtehlich gezogen, und nach—
dem er fruchtlos noch ſtets dahin gearbeitet, die Brü—
der mit dem Lutheriſchen Konſiſtorium in das gewünſchte
Verhältniß zu bringen, in dieſen Bemühungen aber nur
ſteigende Widerſpenſtigkeit erfahren, ſchickte er ſich an,
dieſe Gegenden zu verlaſſen und wieder nach der Wet—
terau zu ziehen. Er traf den 1. Mai zu Marienborn
ein, wohin ſeine Pilgergemeinde ihm theils vorausge—
gangen war, theils nachfolgte, und bald auch ſeine
ganze Familie ſich verſammelt hatte. Die Pfandſchaft
des Schloſſes ließ er, in Folge einer mit Beuning ge—
pflogenen Unterhandlung, auf ſich übertragen, und rich—
tete ſich daſelbſt völlig zum Bleiben ein. Hier dräng—
ten ſich nun wieder die Arbeiten und Gefchäfte von
ed 337 8.
allen Seiten. Er übernahm jetzt ausdrücklich den Be—
ruf eines vollmächtigen Dieners der Brüderkirche, wor—
über er ſich bis dahin nur bedingt erklärt hatte, und
die geiſtlichen und weltlichen Angelegenheiten aller Ge—
meinden, Anſtalten und Miſſionen floſſen in ſeiner Hand
zuſammen; da hiebei ſeine innere Beſchäftigung mit
religiböſen Gegenſtänden, fein Umgang mit dem Hei—
land, ſeine Erbauungen und Predigten, ſeine Sorgſam—
keit fur den Gang jeder Abtheilung, ja für den See—
lenzuſtand jedes Einzelnen, im geringſten nicht abnahm,
und dazwiſchen Synoden, Streitigkeiten und andre Vor—
gänge ſeine Zeit oft ausſchließlich anſprachen, ſo wurde
das Bedürfniß eines vermehrten Beiſtandes täglich grö—
ßer, und er ſuchte dieſen ganz natürlich in ſeinen Näch—
ſten und Vertrauteſten. Der Gräfin verblieb die Sorge
für das Hausweſen, welches, bei dem fortwährenden
Ab- und Zufluſſe von Pilgern und Gäſten aller Art,
einer großen Freiherberge glich. Für die Gemeinde
ſachen wurde der Aelteſtin Anna Nitſchmann ihre Nichte
beigegeben, und beide blieben, als die zuverläſſigſten
Gehülfinnen für alles die Schweſtern Betreffende, fortan
ſtets um den Grafen; ſein Sohn Chriſtian Renatus
erhielt das Amt eines Mitälteſten der ledigen Brüder;
ſeine Tochter Benigna wurde Vorſteherin bei der Ge—
meinde in Herrnhaag; Langguth, welchen Friedrich von
Watteville dem Verhältniſſe zu Liebe, das zwiſchen die—
ſem jungen Mann und der Gräfin Benigna wünfchens-
werth erſchien, förmlich zum Sohn annahm, wurde als
Biographiſche Denkmale. V. . 22
> 338 88
nächſter Mitarbeiter des Grafen beſtellt. Zum Theil
mußte auch dieſer ſein Biſchofsamt, ungeachtet er daſ—
ſelbe längſt niedergelegt, wieder für einzelne Thätig—
keiten aufnehmen. Da für alle dieſe Verhältniſſe keine
Benennung ausſchließlich angemeſſen ſein wollte, und
doch eine allgemein brauchbare nöthig ſchien, ſo fing
Zinzendorf in dieſer Zeit an, ſich den Ordinarius der
Brüder zu nennen, eine Bezeichnung, welche mancherlei
ſchicklichen Sinn vereinigte, ohne mit den ſchon gang—
baren beſtimmten Bedeutungen völlig zuſammen zu fal—
len. Dieſer Name verblieb ihm bis an ſein Ende.
Um jeden Anſtoß, welchen ſein Grafenſtand noch geben
konnte, zu entfernen, ging er mit Ernſt darauf aus,
ihn, wie früher in Amerika, nun auch in Deutſchland
abzulegen, und reiſte deßhalb nach Wetzlar, um eine
Urkunde darüber auszuſtellen; allein der Reichskammer—
richter Graf von Virmond brachte ihn von dem Vor—
ſatz ab, indem er ihm die wichtigſten Gegengründe und
beſonders die Verwirrung und die Widerſprüche vor⸗
hielt, welche ſein Beiſpiel anſtiften würde, wenn daſſelbe
für Andre als Anforderung zur Nachfolge erſcheinen
ſollte, wodurch zahlloſe Verhältniſſe beunruhigt werden
müßten.
ſogenannten Tropen oder Richtungen in dem Brüder—
Eine Hauptſorge blieb nun die Befeſtigung der |
verein, deren Erhaltung und Ausbildung ihm ungemein
am Herzen lag, denn er ſah darin eine Bewahrung ge—
gen vieles Uebel und einen ſichern Gewinn großer Vor—
*
be 339 3.
theile. Er fand zwar eine merkliche Verſchiedenheit
unter den Brüdern, indem die eigentlichen Mähren ſteif
an den Bibelworten feſthielten, die Reformirten genau
forſchten und faſt ängſtlich im Ausdruck waren, die
Lutheriſchen hingegen eher zu getroſt und muthig her—
vortraten, allein dieſe Verſchiedenheit konnte in der
Gemeinde ganz gut erhalten werden, ohne deren Ein—
heit zu gefährden. Dieſen Gegenſtand vorzüglich bear—
beitete er auf einer Synode, die zu Marienborn vom
12. Mai bis 15. Juni gehalten wurde; hier faßte man
den Beſchluß, daß jedes in die Brüdergemeinde einge—
tretene Mitglied bei ſeinem urſprünglichen Glauben
treulich bleiben, dieſer aber in der Gemeinde ſeinen
eignen Vorſteher oder Biſchof haben ſollte; die Mäh- -
ren hatten ſchon ihre Biſchöfe, für die Reformirten
wurde jetzt Watteville als ſolcher eingeſetzt, für die
Lutheriſchen wünſchte man einen angeſehenen Geiſtlichen
in Holſtein zu gewinnen, der aber ſich mit Alter und
Schwachheit entſchuldigte. Mit den Lutheriſchen Geiſt—
lichen näher zuſammen zu kommen, und ſie zu einer
gewiſſen Anerkennung zu zwingen, machte Zinzendorf
in ſeiner unermüdeten Beharrlichkeit auch noch in Er—
furt einen Verſuch, als er auf einer Reiſe nach Gotha,
wo er mit dem Herzoge wegen der wieder eingeleite—
ten Niederlaſſung in Neudietendorf zu ſprechen hatte,
einige Tage dort ſich aufhielt; allein auch hier wich
man ſeinem Andringen aus. Später fand noch eine
zweite Synode in dieſem Jahre zu Marienborn Statt,
22 *
— 82340 Be
auf welcher neben andern Gegenſtänden beſonders auch
die Reinhaltung der Gemeinde beſprochen wurde, daß
keine Heuchler in ihr entſtehn, ſondern Seelenführung
und Lebens wandel ſtets nach der inneren Wahrheit er⸗
ſcheinen möchte.
Jemehr die Brüderſache ſich ausbreitete, jemehr
ſtiegen damit auch ihre Anfechtungen, und ſie bedurfte
eines um ſo ſtärkeren Gewichts in ihrem Innern. An
manchen Orten wurden obrigkeitliche Verordnungen ge—
gen den Grafen und die Brüder gegeben, andrerſeits
ſchrieben angeſehene Gottesgelehrte, wie der gelehrte
und fromme Probſt Bengel, deſſen Erklärung der Offen—
barung Sankt-Johannis vielen Ruhm hatte, mit großer
Wirkung in ſolchem Sinn. Zu neuen Anfechtungen
gab Zinzendorf ſelbſt unaufhörlich den reichſten Anlaß.
Während ſeine einſichtsvolle, verſtändige und kluge Thä—
tigkeit den geſellſchaftlichen Zuſtand der Brüder, unter
Schwierigkeiten aller Art, mit oft ſcheiterndem und doch
im Ganzen fortſchreitenden Erfolg, leitend, zurücfüh-
rend, vordringend, zuſammenhaltend, zu behaupten und
zu fördern ſtrebte, und man ſeine geſammte Kraft da—
hin geſpannt glauben konnte, blieb ein Theil immer
noch einer inneren Beſchäftigung zu Dienſt, einem un—
reifen Erkenntnißgrübeln, einem grillenhaften Phantaſie—
ſchwunge; dieſen im warmen Gefühle ſeines ächten
Eifers allzu leichtſinnig vertrauend, konnte er in der
Einſamkeit, die er neben ſeinem vielen Weltverkehr jetzt
häufig ſuchte, die abentheuerlichſten Vorſtellungen aus-
e 341 3
—
hecken, wagte die ſeltſamſten Bilder und bedenklichſten
Lehrſätze. Manches von dem, was wir des Zuſam—
menhanges wegen ſchon früher angedeutet haben, die
Wundenlitanei, viele der nicht zu rechtfertigenden Lie—
der, die willkührlichen Annahmen über die Dreieinigkeit,
beſonders die Aeußerungen über den heiligen Geiſt, der
durchaus unter den drei Perſonen als die Mutter ſich
darſtellen ſollte, entſtand in dieſer Zeit, oder wurde
doch mehr geſtaltet und ruchtbar. Die Brüder, ſchon
ganz wieder in ſeiner Leitung, folgten ihm nach dieſer
Seite nur um ſo leichter, als nicht in ihm allein ſolch
phantaſtiſcher Trieb ſich regte, und was er vortrug,
wurde gern gebilligt und geſteigert. Die Lehre von
dem Mutterthum des heiligen Geiſtes nahm die Synode
freundlich an, indem die Herzen in ſich unmittelbar von
dieſer Muttertreue überzeugt wurden. Spangenberg
ſagt, er könne den Grafen nur bedauern, daß er in
ſeinen Aeußerungen von der ewigen Gottheit ſo weit
gegangen, mit ſeinen eignen Grundſätzen, nach welchen
die Frömmigkeit mehr mit dem Herzen, als mit dem
Erkennen zu thun habe, im Widerſpruch, und feinen
Kräften und Gaben, welche auf ſolche tiefeindringende
Forſchungen nicht geſtellt geweſen, noch weniger gemäß.
Unglaublich war das Aergerniß, welches die Welt an
dieſen Bildern und Redensarten nahm, die bald überall
bekannt wurden; der Lärm, die Feindſchaft und der
Spott, welche darüber ausbrachen, verurſachten dem
Grafen unſägliche Beſtürzung und Schmerz; er nahm
— - 342 2
o
zwar fpäter den Ausweg, im Allgemeinen alles zurück—
zunehmen und zu verdammen, was er in ſolcher Art
Anſtößiges geäußert, allein im Einzelnen behauptete er
gleichwohl die Zuläſſigkeit mancher ſolchen Vorſtellung,
und konnte beſonders von der Mutterſchaft des heiligen
Geiſtes nie ganz abkommen. Die Seltſamkeit ſeiner
Ausdrücke, die einſeitige Uebertreibung, in welcher ſein
Eifer um irgend eines Spruches willen jede andre
Wahrheit vergeſſen konnte, machten ſeine Vorträge und
Lieder, welche in der zu Marienborn angelegten Pri—
vatdruckerei zur ſchnellen Verbreitung unter den Brü—
dern gedruckt, aber oft noch ſchneller in den Händen
der Fremden und Gegner geſehen wurden, zum fort—
dauernden Anlaß des Geſpöttes und Haders; beſonders
fiel das zärtliche Tändeln auf, in welchem jeder tüch—
tige Ernſt unterzugehen drohte. Zinzendorf hielt das
kindliche, innig vergnügte und gleichſam ſpielerliche
Weſen eines am Heilande hängenden Herzens für eine
große Seligkeit, und meinte, jeder Menſch habe ſich
aus ſeiner Kindheit etwas zurückzuholen, etwas Spie—
lendes, Herzliches, Grades, und man dürfe ſich durch
den Mißbrauch, der dabei Statt finden könne, eben ſo
wenig ſtören laſſen kindlich zu ſein, als man wegen des
Mißbrauchs der Vernunft aufhören dürfe vernünftig
zu ſein. Allein eben er ſelbſt übte ſolchen Mißbrauch,
und gab auch Andern den freieſten Anlaß dazu. Per—
ſonen ſeiner nächſten Umgebung griffen dieſe Richtung
lebhaft auf, und unterhielten ſich in engerem Verein
wur
ere 343 G8
mit Gedichten auf das Leiden und die Wunden des
Heilandes; da überbot man ſich in ſonderbaren und
willkührlichen Bildern, und wußte der Thorheit keine
Gränze. Es entſtand eine neue theologiſche Sprache,
eine kauderwelſche Wortſpielerei, nur den Eingeübten
verſtändlich, aber dem Grafen, welcher der leeren Form
leicht aus ſeinem Innern einen überſchwellenden Inhalt
lieh, gar genehm und vertraulich, und er ließ ſich ganz
und gar zu ihr verführen.
Was er und ſeine Nächſten thaten, das thaten aber
auch Andre; die Brüdergemeinde hatte ſeit einiger Zeit
durch fremden Zudrang ſich außerordentlich vermehrt,
und wenn auch Zinzendorf dieſen äußeren Anwachs be—
denklich fand und lieber gehemmt hätte, ſo war doch die
Sache bereits geſchehen und auch noch immer ſchwer
zu hindern. Unter den neuen Mitgliedern aber fanden
ſich ungeprüfte, verworrene und doch nicht unbegabte
Leute, welche für ihre beſondern Unarten, Schwärme—
reien und Wunderlichkeiten hier freien Raum hatten,
und bald auch ältere Mitglieder hineinzogen. Dies ge—
ſchah um ſo leichter, als die Gemeinde zu Herrnhaag
in einer Art von Ungebundenheit lebte, wozu der Man—
gel an Gemeindeſtatuten und die Vernachläſſigung der
Kirchenzucht nicht wenig beitrug, welche Zinzendorf mit
Bedacht, weil die Gegner ſie als ein päbſtliches und
unerträgliches Joch verſchrieen, und weil er die vor—
waltende Neigung zu ihr dem Lutheriſchen Tropus hin—
derlich erachtete, allmählig ſehr hatte erſchlaffen laſſen.
*
Daraus entſtand nun ein Gewirr der mannigfachften-
Ketzereien und Ausſchweifungen in Worten und Beneh—
men. Vieles Unanſtändige, was in dieſer Art vorging,
blieb dem Grafen längere Zeit verborgen, theils weil
er ungern perſönliche Anklägereien vernahm, theils weil
man ſeinen allzu heftigen, bei wirklichen Fehlern nicht
immer Maß haltenden Eifer ſcheute, oder auch wohl
ihn ſelbſt dem Irrwege folgen ſah. Endlich aber mußte
die Sache doch zum Ausbruch kommen; die Ernſterge—
ſinnten hielten ihren Tadel über die unwürdigen Spie—
lereien ihrer Brüder nicht länger zurück, die nächſten
Mitarbeiter des Grafen, und nach und nach faſt die
ganze Gemeinde, theilten ſich in zwei Partheien, welche
einander mit Leidenſchaft befehdeten, und ſich wechſel—
ſeitig verachteten und verdammten. Zinzendorf war ſehr
erſchrocken, als plötzlich dieſer Zuſtand ſich vor ihm ent—
hüllte; er ſah mit Unwillen, daß der Weg, welchen er
gegangen und begünſtigt, über alle Gränzen hinaus ge—
führt war, und daß er ſelbſt ſolchen Ausſchweifungen
unwiſſend gedient hatte, aber auch mit Mißvergnügen,
daß dieſe Verirrungen auf der Gegenſeite mit allzu
ſtrenger Härte verurtheilt wurden. Seine Neigung konnte
er der mißbrauchten Richtung doch nicht ganz entziehen,
am wenigſten vermochte er dasjenige, was er ſelbſt da—
rin gethan, zu verdammen, und ſo ſchränkte er das Un—
weſen zwar möglichſt ein, tadelte aber doch am meiſten
diejenigen, welche darauf ein nach ſeiner Meinung über—
großes Gewicht legten, und ein ſo ſtrenges Richtamt
4
e 345 93
ausübten. Diefe Partheiung war für den Augenblick
nicht völlig zu beruhigen, ſondern wogte noch längere
Zeit fort, bis nach und nach eine maßhaltende Mitte
ſich verſtärkte, vieles Störende beſeitigte, und der Auf—
regung allmählig Einhalt that.
Während dieſer Zerrüttungen ſetzte Zinzendorf alle
ſonſtigen Arbeiten, die ihm oblagen, gleichmäßig fort,
und ließ weder in den gewohnten Erbauungen noch in
irgend einer andern Thätigkeit für die Gemeinde nach.
An dieſem unermüdeten, täglich in ächter Frömmigkeit
rein und kräftig erneuten Eifer, an dieſem unauslöſch—
lichen Feuer und Triebe des Herzens, hing die Erhal—
tung des Ganzen, welches bei ſeinen inneren Schwan—
kungen, Kämpfen und Verwirrungen, und bei den äu—
ßeren Verfolgungen und Gefahren, ohne dieſes frucht—
bringende Walten des Grafen hundertmal auf dem
Punkte ſtehen konnte, auseinander zu fallen oder ge—
ſprengt zu werden. Im Jahre 1745 ſahen die Haupt-
orte der Brüder auch durch die großen Welthändel ſich
bedroht; doch blieb jedes größere Unglück günſtig ab-
gewendet. Herrnhut lag mitten im Schauplatze des
Krieges, welchen Friedrich der Große abermals gegen
Oeſterreich und gegen Sachſen zu führen hatte; die
Fürſorge des wohlwollenden und ſiegreichen Königs
ſchützte dieſen Ort. Bei Marienborn ſtanden eine Zeit—
lang die öſterreichiſchen und engliſchen Truppen den
franzöſiſchen ſchlagfertig gegenüber, allein die Feind—
ſeligkeiten verzogen ſich, und in allem Wechſel der krie—
DB 346 83
geriſchen Bewegungen erhielt die Gemeinde nur fried-
lichen Beſuch, indem Generale und Offiziere ſich mit
ihr bekannt zu machen wünſchten, und dann meiſtens
mit vortheilhaften Eindrücken ſchieden.
Auf zweien Synoden, welche während dieſer Zeit
zu Marienborn gehalten wurden, betrieb Zinzendorf
wieder vor allem die nähere Geſtaltung der Tropen,
und ſuchte die Brüder mehr und mehr dafür zu ge—
winnen. Er warnte gegen Dünkel und ſtolze Zuver—
ſicht auf die Vorzüge ihrer Gemeindeordnung und Kir—
chenzucht, hielt ihnen vor, daß nicht Liebhaberei für
ſolche Formen, ſondern nur Gnade, welche ſchon bis
dahin ſie gebracht habe, ſie auch weiter bringen könne,
und forderte ſie zu Dank und Demuth auf. Zugleich
traf er Einrichtungen zur Förderniß der Geſchäfte; nach
dem Vorbilde der alten Brüderkirche wurden zum Be—
triebe der äußeren Angelegenheiten, welche für die Bi—
ſchöfe weniger geeignet ſchienen, zwei bürgerliche Aelteſte
nebſt zweien Gehülfen ernannt, für geiſtliche Hülfs—
beſorgungen mehrere Diakonen und Diakoniſſen einge—
ſegnet, verſchieden von den bisherigen Helfern und Hel—
ferinnen, und auch von den ſchon beſtehenden, mit Lei-
tung des Gemeindehaushalts beauftragten Diakonen.
Die Weihung, welche einzelne Brüder und Schweſtern,
nach ihrem Wunſche, zu unbedingtem Dienſte des Hei—
lands und der Gemeinde bisher durch eine ſogenannte
Konfirmation zu empfangen pflegten, erhielt die Benen—
nung der Annahme zur Akoluthie, wie die alſo Ge—
ren 347 c 2. —
weihten die der Akoluthen. Die mancherlei Zuſtände,
in welchen die Brüderſache bald hie bald da Nachhülfe
nöthig hatte, ließen den Grafen nie lange bei demſel—
ben Geſchäft gleichmäßig ausdauern, ſondern riefen ihn,
wozu auch ſchon Gewohnheit und Neigung einſtimmten,
immer auf's neue nach den verſchiedenſten Ländern und
Orten ab. So reiſte er im Anfange des Jahres 1745
mit ſeiner Gemahlin nach Holland, wo er ſich mit dem
reformirten Tropus, für welchen er an Watteville's
Stelle irgend einen angeſehenen reformirten Prediger
zum Vorſteher wünſchte, wieder vergebliche Mühe machte,
die Brüder in Heerendyk beſuchte, deren Verpflanzung
nach der bei Utrecht von einem holländiſchen Brüder—
freund angekauften Baronie Zeyſt berathen half, und
auch für die Miſſionen thätig war. Zu Ende des
Aprils nach Marienborn zurückgekehrt, fand er wegen
der Brüdergemeinde in Preußen ernſtliche Schwierig—
keiten zu verhandeln, wegen deren er im Oktober ſelbſt
nach Berlin reiſte. Sein Sohn Chriſtian Renatus und
ſeine Tochter Benigna begleiteten ihn, ſeine Gemahlin
und Watteville aber kamen von Herrnhut, wohin ſie
ſchon früher der dortigen Geſchäfte wegen gereiſt wa—
ren, gleichzeitig daſelbſt an, wo die Mutter Zinzendorfs
ſie alle freundlich aufnahm, und ſich herzlich der her—
angewachſenen Enkel freute, deren frühe geiſtliche Rich—
tung und Thätigkeit ihr ſeltſam und wunderbar genug
ſein mußte. Er ſpeiſte bei der Königin Mutter; dem
Könige ſelbſt aber perſönlich zu nahen, war auch dies—
m 348 Bo
mal, wie früher, keine Gelegenheit. Einigen Beſchwer—
den der Brüder wurde durch des Grafen Verwendung
abgeholfen, wegen des reformirten Tropus wollte ſich
aber auch hier noch nichts fügen. Ueber Neuſalz, Bu—
rau und Neudietendorf, wo überall die gewohnten Be—
ſchäftigungen, Anſprachen und Erbauungen vorgingen,
kehrte die Pilgerſchaft nach Marienborn zurück, wo ſo—
gleich wieder eine Synode, hauptſächlich den inneren
Gemeindegang betreffend, dann das theologiſche Semi—
narium und andre Anſtalten und Verhältniſſe, neuen
Drang der Geſchäfte gaben.
Im April 1746 reiſte Zinzendorf mit ſeinem Pil—
geranhang wieder nach Holland, um die in ihrer Ver—
pflanzung von Heerendyk nach Zeyſt nun wirklich be—
griffenen, aber auf beiden Orten eben deshalb getheilt
wohnenden Brüder zu beſuchen. Er predigte wieder—
holt in Heerendyk, feierte ein Feſt der Aufnahme in
die Gemeinde, und reiſte darauf über Utrecht nach Am—
ſterdam, wo er ſogleich eine große Gefahr zu beſtehen
und der Vorſehung die glücklichſte Rettung zu danken
hatte. Spät abends angelangt legte er ſich um Mitter—
nacht nieder, und las, wie er pflegte, um fein Gemüth
von den gehäuften Eindrücken des Tages zu befreien,
wozu weniges ihm ſchon genügte, vor dem Einſchlafen
in einem Buche. David Nitſchmann, der mit ihm in
demſelben Zimmer ſchlief, wachte nach einigen Stunden
plötzlich auf, ſah den Tiſch und das Bett des Grafen
in Flammen, ja deſſen Schlafkleider ſchon angebrannt,
239 349 823.
G o
und konnte das Feuer nur eben noch theils mit den
Händen erſticken, theils mit Waſſer löſchen; er voll—
brachte dies ſo ſchnell und ſtill, daß Zinzendorf gar
nicht aufwachte, ſondern ruhig fortſchlief, und erſt am
Morgen hörte und ſah, was geſchehen war. In Zeyſt
wurde eine Sonode gehalten, auf welcher der Graf
nochmals das augsburgiſche Bekenntniß eifrig zur
Sprache brachte, und die holländiſchen Brüder dahin
zu vermögen ſuchte, daß ſie insgeſammt demſelben offen
beipflichteten, allein vergebens, denn der Lehre jenes
Bekenntniſſes hielt man ſich ohnehin zugethan, mit den
Lutheriſchen Geiſtlichen aber, aus deren Mitte die hef—
tigſte Feindſchaft gegen die Brüder überall hervorging,
wollte man keine nähere Verbindung knüpfen. Das
Vorſteheramt des Lutheriſchen Tropus übernahm nun,
damit daſſelbe fürerſt nur in ſichern Händen wäre, Zin—
zendorf ſelbſt, indem er ſeine Eigenſchaft als Biſchof
wieder hervorwandte. Wegen des allgemeinen Haus—
halts wurde vieles berathen, und der Graf, welcher
auch dieſer Verwaltung, jedoch nicht mit ſonderlichem
Geſchicke, vorſtand, wünſchte manches geändert; viele
der Ausgaben, welche für das Ganze der Brüderge—
meinden geſchahen, floſſen in den Aufwand ein, welchen
er für ſich und die Seinigen ganz aus eignen Mitteln
machte; er litt auf ſolche Weiſe beträchtliche Einbuße,
allein man wußte für jetzt noch keine Abhülfe zu tref—
fen. In Zeyſt erfolgte auch die eheliche Verbindung
der Gräfin Benigna mit Johannes von Watteville, eh—
3m 350 Ss
mals Langguth genannt; dieſe Heirath war längſt vor—
bereitet, ſie entſprach den Neigungen und Abſichten aller
Betheiligten, man hoffte ſegenreiche Wirkungen davon;
die Standeserhöhung Langguths erleichterte die Sache
für die weltlichen Meinungen, Zinzendorf aber hatte
erklärt, daß es für ihn dergleichen nicht erſt bedurft
hätte. Nach einigem Aufenthalte in Amſterdam, wo
ihn die Miſſionsſachen viel beſchäftigten, ſeine Haus—
verſammlungen aber durch übergroßen Zulauf der Menge
geſtört wurden, reiſte er mit geringer Begleitung, in—
dem ein zahlreiches durch Gegenwind verſpätetes Ge—
folge auf einem eigends gemietheten Schiffe nachkam,
von Helvoetſluys nach England ab, und war den 18.
Juli in London.
England war noch im Kriege mit Frankreich be—
griffen, und wegen der noch nicht gedämpften, zu Gun—
ſten des vertriebenen Hauſes Stuart gegen das regie—
rende Haus Hannover gemachten Aufſtandsverſuche in
großer innerer Bewegung. Die Brüder hatten hin und
wieder Verdächtigungen erlitten, welche der Umſtand
beſtärkte, daß ihnen der Eid, welcher gefordert wurde,
außer dem König Georg habe niemand ein Recht zur
Krone von England, bedenklich war, beſonders den Miſ—
ſionaren in Nordamerika, weil ihnen das Leiſten dieſes
Eides bei den dortigen Anſiedlern alles Vertrauen neh—
men mußte, indem die Mehrzahl derſelben ſchlechter—
dings jedes Schwören für Sünde hielt. Zinzendorf
ſuchte durch ſeine vielfachen Verbindungen dahin zu
wirfen, daß den Brüdern jener Eid erlaffen würde,
welches auch in der Folge durch eine Parlamentsakte
wirklich geſchah. Die beiden Wesley ſuchten abermals
nähere Vereinigung mit den Brüdern, zu denen auch
mehrere Methodiſten, da Zinzendorf eine Gemeinſchaft
beider Verfaſſungen unzuläſſig fand, völlig übertraten.
Eine Synode, auf welcher das Verhältniß der Brüder
zur engliſchen Kirche beſprochen wurde, hatte nicht den
gewünſchten Erfolg; der Erzbiſchof von Canterbury,
Johann Potter, mit welchem Zinzendorf in freundſchaft—
lichem Verkehr geblieben war, zeigte günſtige Geſinnun—
gen, allein die Brüder, welche aus der engliſchen Kirche
zur Gemeinde gekommen waren, hatten keine Neigung,
ſich auch an jene noch anzuſchließen. Dagegen lief die
erfreuliche Nachricht ein, daß der Oberhofprediger Co—
chius in Berlin, mit Zuſtimmung ſeiner geiſtlichen und
weltlichen Behörde, nun endlich eingewilligt habe, dem
reformirten Tropus vorzuſtehen. Zinzendorf verließ
jetzt England wieder, und kam, nach überſtandenem See—
ſturm, den 4. November wieder in Helvoetſluys an,
beſuchte Heerendyf und Zeyſt, wo neuerdings Reden
und Berathungen Statt fanden, und ging von da nach
der Wetterau zurück. Aber auch hier war diesmal kurze
Raſt. Seinem Schwager dem Grafen von Reuß, mit
dem er in Holland zuſammengetroffen, hatte er das
Verſprechen gegeben, nach Ebersdorf zu kommen, und
das vorige Verhältniß mit den dortigen Frommen wie—
der anzuknüpfen; dies gelang mit Hülfe des Hofpredi—
— 352 822
gers Steinhofer vollkommen, und nach einem kurzen,
mit Arbeiten und Andachten erfüllten Aufenthalt, kehrte
er ſehr befriedigt, im Dezember, abermals nach der
Wetterau zurück.
Hier hatte ſich indeß für die Verhältniſſe, welche
mühſam genug ihre Laſt im Innern trugen, nun auch .
von außen ſchwieriges Ungemach entwickelt; und zwar
aus dem Gedeihen und Vortheil ſelbſt, in welchem .
Sachen erſchienen, ſollte dieſe Gegenwirkung hervorge-
hen. Die Geldmacht, welche bei Stiftung des Herrn—
haags thätig geweſen, hatte der Niederlaſſung falſche
Grundlagen zugemiſcht; anftatt ſich im Kreiſe der rei—
nen Geſinnung abzuſchließen, welche hier alleinige Trieb—
feder bleiben mußte, war man auf einen Boden hin—
ausgeſchritten, welcher wenigſtens für den andern Theil
die Beziehungen der Herrſchaft und des Eigennutzes
aufregte. Die großen Geldvorſchüſſe, welche der Reich—
thum der holländiſchen Freunde für die Brüderſache
dargeboten, zwiſchen den Häuſern Yfenburg- Büdingen
und Iſenburg-Meerholz getheilt, waren zwiſchen beiden
ein Gegenſtand des Neides und der Eiferſucht, jedes
dankte es den Brüdern übel, daß ſie ſich auch mit dem
andern eingelaſſen hatten; für jene Summen waren
mit dem Boden zugleich bedeutende Stücke der obrig—
keitlichen Gewalt verpfändet, und es machte Verdruß,
ſo weſentliche herrſchaftliche Rechte nun von Fremden
ausgeübt zu ſehen. Die Niederlaſſungen zu Herrnhaag
und Leuſtadt gediehen zuſehends, und dehnten ſich mehr
j
I
8 353 En
und mehr in der Umgegend aus; viele reiche Leute aus
Holland, England und der Schweiz wurden angezogen;
in den Kinderanſtalten allein befanden ſich ſechshundert
Kinder, großentheils von auswärtigen Aeltern; Ver—
kehr und Gewerbe blühten. Beſonders glaubte das
Haus Büdingen ſich unter dieſen Umſtänden verkürzt,
die Brüder in zu großem Vortheil, die geſchloſſenen
Uebereinkünfte irrig. Nun fehlte es nicht an Gegnern
aller Art, welche das herrnhutiſche Weſen als abſcheu—
lich und gottlos verdammten, und es unverantwortlich
finden wollten, daß ein ſolcher Staat im Staate, wie
die Brüder durch Aneignung jener obrigkeitlichen Rechte
nun wirklich bilden ſollten, geduldet würde. Dies er—
griffen die büdingiſchen Behörden begierig, ſie verſuch—
ten Beſchränkungen jener Rechte, oder beſtritten deren
Ausübung ganz, machten dagegen neue Forderungen,
und es entſtand das widerwärtigſte Verhältniß, in wel—
chem die Brüder nicht ausharren konnten. Der Kampf
war lebhaft auf beiden Seiten, und man glaubte auf
beiden Seiten Recht zu haben. Zinzendorf hatte an
jenen Uebereinkünften wenig Theil genommen, vieles
darin ſogar ganz mißbilligt, allein zur Vermittlung der
Streitigkeiten, welche ſich daraus erhoben, wollte er
ſeine Hand gern bieten. Auf das Verlangen von Bü—
dingen übernahm er die Vermittlung förmlich, allein
verdarb es bald mit beiden Theilen. Sein Anerbieten,
Leuſtadt oder ein andres peichsfreies Gut, für eine au—
ßerordentlich hohe Summe zu kaufen, erregte in Bü—
Biographiſche Denkmale. V. 23
ran 354
dingen neuen Argwohn, bei den Brüdern den ſtärkſten
Tadel einer unbefugten Freigebigkeit, wobei ſie zu
Grunde gehen würden. Die Verhandlungen wurden
durch ſich ſelbſt und durch begleitendes Thatwirken nur
ſtets herber, und zogen ſich in die Länge mit düſtrer
Ausſicht; einſtweilen wurde die Pfandſchaft von der
einen Seite nicht mehr gehalten, von der andern kün—
digte Beuning ſeine dargeliehene Summe von 150,000
Gulden dem Hauſe Büdingen. Mit Anfang des Jah—
res 1747 gab Zinzendorf ſeine Wohnung in Marien—
born auf, wegen deſſen Verpfändung der Graf von
Meerholz ihm auch Verdrießlichkeiten machte, und zog
nach dem Herrnhaag, wo er ſich ein Haus mit einem
Gemeindeſaal hatte erbauen laſſen, dagegen verlegte er
die Mädchenanſtalt nach Marienborn und das Semi—
narium nach Lindheim. Seine Arbeit in der Gemeinde
war jetzt nur noch unermüdeter, und keine äußerlichen
Geſchäfte konnten ihn darin ſtören. Durch Predigten,
Anreden, einzelne Beſprechungen, wirkte er bald öffent—
lich, bald vertraulich, mit größtem Zudrang von Brü—
dern und Fremden. Unter den Fremden, welche nach
Herrnhaag kamen, war auch ſein alter Freund Nikolaus
von Watteville, den er in Paris gekannt, und den er
ſich herzlich freute wiederzuſehn. Sein Schwager Graf
von Reuß, jetzt völlig der Brüdergemeinde angehörig,
ſtarb während ſeines erneuten Beſuchs in Herrnhaag,
und hinterließ einen Sohn, der ſpäter mit des Grafen
von Promnitz hinterlaſſener Tochter vermählt wurde,
am 355 Ba
indem der Zweck, dieſe bedeutenden Namen und Ver—
hältniſſe durch ihre Vereinigung den Brüdern nur um
ſo feſter zu erhalten, den Abſichten der Vorſehung ſelbſt
nur gemäß dünken konnte. i
Auf einer Synode, die vom 12. Mai bis zum 14.
Juni dauerte, wurden an die Stelle des Biſchofs Po—
lykarpus Müller, der eben verſtorben war, zwei neue
gewählt, Johannes von Watteville und Leonhard Dober,
überdies dreißig Diakonen und Diakoniſſen und zwei—
hundert Akoluthen ernannt. Für den Lutheriſchen Tro—
pus bewies Zinzendorf unausgeſetzt den größten Eifer,
und bemühte ſich wegen öffentlicher Anerkennung des
Glaubensbekenntniſſes der Brüder als eines mit dem
augsburgiſchen übereinſtimmenden abermals fruchtlos
bei dem würtembergiſchen Oberkonſiſtorium, welches die
Entſcheidung der Sache höflich ablehnte. Die Parthei—
ung unter den Brüdern dauerte übrigens fort, und es
erforderte große Sorgfalt, die ſtreitigen Anſichten, welche
zum Vorſchein kamen, in kampfloſem Gleichgewicht zu
halten. Zinzendorf bemühte ſich zwar, einige ausſchwei—
fende Vorſtellungsarten und Ausdrucksweiſen zu be—
ſchränken, allein hiezu ſtrengere Maßregeln anzuwenden
hielt er für unſtatthaft, wie er denn in dieſer Zeit
überhaupt aller Kirchenzucht abhold war, und ſich dahin
äußerte, der Gemeindegehorſam ſei eine Seligkeit, und
brauche nicht erſt vorgeſchrieben zu werden, ſo lange
das Herz des Menſchen mit den Grundideen ſeiner
Gemüthsſchule harmoniſch bleibe, denke es aber anders,
23 *
356 828
fo werde alle Art eines geiftlichen Zwanges gegen das—
ſelbe nicht eine Gelegenheit zum Beſinnen, wie die leib—
liche Zucht gebe, ſondern ein Krankheitsſtoff zu Ver—
härtung und Heuchelei, ja er wünſchte ſich Glück, daß
er durch die Freiheit, die er geſtattet, manches an den
Tag gebracht, was ſich ſonſt heuchleriſch verborgen ha—
ben würde. Und er ſelbſt, jenem einlenkenden Streben
zum Trotz, gab fortwährend das Beiſpiel eines unge—
bundenen, phantaſtiſchen Schwunges, wie denn auch
ſeine Predigten und Reden erfüllt von Bildern und
Spielereien blieben, welche ſeine eifrigſten Anhänger
ſpäterhin nur beſeufzen konnten.
Inzwiſchen ergab ſich aus eben den Umſtänden,
welche für Zinzendorf in der Wetterau den Geſichts—
kreis verdüſterten, eine wundervolle Aufhellung derſel—
ben in der Lauſitz. Er hatte ſchon immer geſagt, ſeine
Verbannung aus Sachſen würde zehn Jahre dauern,
dieſe waren nun verfloſſen, allein es zeigte ſich keine
Aenderung. Sein großmütterliches Gut Großhenners—
dorf war ihm zum Kauf angeboten worden, allein er
hatte es abgelehnt, weil er noch verbannt war, und nur
endlich doch ſich bewegen laſſen, es für ſeine Tochter
Benigna zu erſtehen. Dies wurde in Dresden beſpro—
chen, man rühmte den Wohlſtand von Herrnhut, den
Fleiß und die Ordnung der Brüder, ihre großen Ver—
bindungen in Holland und England wurden nicht ver—
geſſen, und die Geldſummen, über welche ſie in der
Wetterau verfügt hatten, und noch ſonſt wohl verfügen
.
sm 357 BL
—
könnten, entgingen der Aufmerkſamkeit nicht. Die Feinde
Zinzendorf's waren zum Theil verſtorben, die Freunde
benutzten die Gelegenheit, und ſo geſchah es, daß un⸗
erwartet von hoher Hand die Eröffnung an ihn gelangte,
der König erlaube ihm nach Sachſen zurückzukommen.
Man war ſo aufrichtig, ihm hiebei zugleich die Erwar—
tung zu zeigen, daß er bei ſeinen auswärtigen Freun—
den ein anſehnliches Darlehn für die ſächſiſche Kammer
vermitteln werde, und wirklich ſäumte Zinzendorf nicht,
dieſen Beweis ſeiner treuen Ergebenheit für das Kur—
haus zu geben, und bewog den Bruder Beuning, jene
dem Hauſe Büdingen gekündigten 150,000 Gulden der
ſächſiſchen Kammer zu verſprechen. Die Nachricht hie—
von machte am Königlichen Hofe den beſten Eindruck,
und man ließ den Grafen nun ſogar wiſſen, man wün—
ſche mehrere ſolche Niederlaſſungen, wie Herrnhut, im
Lande zu haben, und biete ihm hiezu, und zugleich zum
Unterpfande für jenes Darlehn, die Erbpacht des Kur—
fürſtlichen Schloſſes Barby und des Amtes Döben an.
Zinzendorf reiſte hierauf am 10. September über Neu—
dietendorf nach der Lauſitz, und kam in Bertholdsdorf
am 16. in derſelben Stunde an, in welcher vor ſechs
Jahren der Heiland als Aelteſter der Gemeinde war
erkannt worden. Nach kurzem Verweilen in Herrnhut
und Großhennersdorf, wo er ſich nicht einrichten wollte,
bis alles in Dresden völlig in's Reine gebracht wäre,
ging er nach Gnadenberg und Gnadenfrei in Schleſien,
wo auch ſeine Gemahlin eintraf, und von hier im An—
\
fang Oktobers nach Leipzig, wo er mit dem Staats
miniſter Grafen von Hennike nähere Abrede wegen ſei—
Zurückrufung zu nehmen hatte. Anfangs wollte er die
Gnade, die ihm den Aufenthalt in Sachſen wieder ge—
ſtattete, nicht eher förmlich ausgeſprochen wiſſen, bis
man ſeine und der Brüder Sache durch die von ihm
ſchon längſt begehrte Kommiſſion neuerdings gründlich
unterſucht hätte; doch das Dekret war ſchon ausgefer—
tigt, und auf den Rath des Miniſters nahm er daſſelbe,
mit dem Vorbehalt einer künftigen Unterſuchung, einſt—
weilen dankbar an. Am 14. Oktober war er wieder in
Herrnhut, und ſetzte hier alsbald ſeine gewohnte Thä—
tigkeit fort; unter andern Gegenſtänden wurde beſon—
ders die Diakonie berathen, und der Haushalt der Pil—
ger unter der Benennung des Gemeindehauſes feſtge—
ſtellt, wo für die Aufnahme und Beförderung der
Diener Jeſu beſtens geſorgt wurde. Er ſelbſt war ab—
wechſelnd in Bertholdsdorf und Großhennersdorf, am
meiſten doch in Herrnhut. Bei ſeinen Sabbathsliebes—
mahlen wurden über zweihundert Perſonen bewirthet.
Am 26. November reiſte er wieder nach dem Herrnhaag
ab, wo dringende Geſchäfte ſeiner harrten, beſuchte auf
der Durchreiſe in Bauzen ſeine Tante Henriette, von
der ihn ſeither, bei aller urſprünglichen Liebe, einige
Mißverſtändniſſe getrennt hatten, in Dresden den Gra—
fen von Hennike, raſtete in Neudietendorf, und traf am
7. Dezember auf dem Herrnhaag ein.
Der Frieden war mit dem Hauſe Büdingen noch
*
39 359 3
nicht hergeſtellt. Der regierende Graf begünftigte zwar
die Brüderſache genug, aber dem Erbgrafen war ſie
zuwider, und deſſen Sinn überwog in mancherlei Ein—
flüffen, die feine Stellung ihm leicht machte. Zinzen—
dorf, der bisher mit einem ſtreitfertigen Beamten zu
thun gehabt, bewies die Klugheit, von dieſem ab un—
mittelbar an den Erbgrafen zu gehen, der hiedurch in
ein neues Verhältniß geſetzt wenigſtens darauf einging,
vorläufig die Sachen auf fünf Jahre unverändert, und
ſich mit einer feſtgeſetzten jährlichen Summe für die
herrſchaftlichen Einkünfte von Herrnhaag abfinden zu
laſſen. Dieſer Erfolg befriedigte für den Augenblick,
und der Graf wandte ſich getroſt mit neuer Kraft auf
die Arbeiten im Innern der Gemeinde, die er mit Pre—
digten, Chorreden und ſonſtigen Anſprachen, auch das
theologische Seminarium mit Vorträgen über das augs—
burgiſche Bekenntniß, treu bediente. Seiner Tochter
Benigna und deren Gemahle Johannes von Watteville,
welche ſich berufen fühlten, nach Amerika zu reiſen, gab
er, nach ausführlicher Unterredung über die Wirkſam—
keit, welche jenſeits des Weltmeers ihrer wartete, ſei—
nen Segen, und das junge Ehepaar reiſte nach Holland
ab. Er ſelbſt aber hatte ſein Hauptanliegen ſtets im
Sinne, die kirchliche und obrigkeitliche Unterſuchung und
Anerkennung der Brüder als einer dem augsburgiſchen
Bekenntniß angehörigen Religionsgeſellſchaft. Er war
ſeiner Sache hierin ſo gewiß, daß er es ordentlich dar—
auf anlegte, wie in neuerer Zeit ein deutſcher Philo—
259 360 923
ſoph die Leute zum Verſtehen feiner Lehre zu zwingen
meinte, dieſes Eingeſtehen auch den Widerſetzlichſten
abzunöthigen; die Schwierigkeit war ihm nur, ſie da—
hin zu bringen, daß ſie die Sache wirklich anfaßten.
Dies in Dresden durchzuſetzen ſchien die Gelegenheit
jetzt vorhanden, und er reiſte daher im März wieder
nach Sachſen. Unterwegs in Neudietendorf und beſon⸗
ders in Ebersdorf, und darauf in Herrnhut und Groß—
hennersdorf, wohin auch ſeine Gemahlin und ſein Sohn
aus der Wetterau nachkamen, widmete er den Gemeinde—
ſachen den größten Eifer, hielt Berathungen, in welchen
er die Tropen wieder fleißig erörterte, arbeitete die
Tageslooſungen aus, und zeigte ſich überall wirkſam,
wo irgend ein frommes Anliegen oder ein Häuflein
Erweckter ſeiner bedürfen konnte. In Dresden hatte
er ſein Begehren, nachdem er andre Wege vergebens
geſucht, unmittelbar bei dem Könige angebracht, und
mußte nun den Erfolg abwarten.
Inzwiſchen veranſtaltete er gegen Ende des Juni
zu Gnadenberg in Schleſien eine Synode, zu welcher
auch der Vorſteher des reformirten Tropus, Oberhof—
prediger Cochius, aus Berlin ſich einfand, ein erſtes
Beiſpiel dieſer Art, und um ſo wichtiger, als Cochius
ausdrücklich die Erlaubniß des Königs von Preußen
empfangen hatte, der Synode, ſofern ſie in preußiſchen
Landen gehalten würde, in jener Eigenſchaft beizuwoh—
nen. Hier war denn hauptſächlich wieder von dem
augsburgiſchen Bekenntniſſe die Rede, damit unter den
BD 361 .
Brüdern ſelbſt keine Zweideutigkeit in dieſem Betreff
übrig bliebe. Mittlerweile war in Dresden das Dar—
lehn auf Barby in Richtigkeit gebracht, den mähriſchen
Brüdern daſelbſt und in ganz Sachſen die nämlichen
Vorrechte, die ſie bisher in Herrnhut genoſſen, vorläufig
zugeſichert, und nach vielen Zweifeln auch die vielge—
wünſchte Unterſuchungskommiſſion bewilligt worden.
Man hatte dem Grafen bemerkt, daß über Herrnhut
ſchon vor eilf Jahren günſtig geſprochen worden, und
es unthunlich ſein würde, das ſchon Abgemachte wieder
in Frage zu ſtellen, es könne die neue Unterſuchung
daher, mit Ausſchluß jenes Ortes, nur auf die Brüder—
ſache überhaupt gehen; der Graf ſah die Richtigkeit
und den Vortheil dieſer Bemerkung ein, und es wurde
angenommen, daß die Unterſuchung nur die eigentlich
mähriſche Brüderkirche, nicht aber ihren Lutheriſchen
und reformirten Tropus angehe. Die Kommiſſion traf
endlich zu Ende des Juli in Großhennersdorf ein; ſie
beſtand aus ſieben Mitgliedern, worunter der Oberkon—
ſiſtorialpräſident Graf von Holzendorf, der Oberamts—
hauptmann Graf von Gersdorf, der Landeshauptmann
von Löben, und die Profeſſoren der Theologie, Doktor
Teller aus Leipzig, und Doktor Weikmann aus Witten—
berg, lauter einſichtsvolle und den Brüdern eher gün—
ſtige als abgeneigte Männer. Eilf Abgeordnete der
Brüder, von den Biſchöfen hiezu beauftragt, traten mit
der Kommiſſion ſofort in Verhandlung. Hier gab es
nun Schriften zu prüfen, Erörterungen anzuſtellen, Fra—
N 362 4-22
gen hin und wieder zu wenden, Sätze durchzuführen
oder zu erläutern, theils in ſchriftlicher Form, theils
in mündlichem Geſpräch. ö
Zinzendorf hatte anfangs den Verhandlungen per—
ſönlich aus Beſcheidenheit ausweichen wollen, aber die
Kommiſſarien und die Brüder begehrten ſeine Mitwir—
kung einſtimmig, und er mußte nun redend und ſchrei—
bend die Seele des Ganzen ſein. Dabei ſetzte er ſeine
täglichen Hausverſammlungen fort, denen wie ſeinen
Predigten die Kommiſſion öfters beiwohnte; ferner dich—
tete er für den Geburtstag des Königs eine Kantate,
welche feierlich aufgeführt wurde, und ſo verabſäumte
er überhaupt nichts Weltliches noch Geiſtliches, was
die Tage mit ſich brachten. Eiferſüchtig aber betrieb
er vor allem die erſehnte Anerkennung; ſie ſollte nicht
durch Annahme bloßer Erklärungen der Brüder, noch
durch ſtillſchweigende Vorausſetzung abſeiten der Kom-
miſſarien, ſie ſollte durch deren eindringliche Prüfung
und perſönliche Ueberzeugung ausdrücklich und beſtimmt
erfolgen; darauf ging ſein ganzes Trachten, dahin
glaubte er die Sache zwingen zu müſſen. Allein dies
wollte ſich keineswegs ſo ſchnell ergeben, und da einige
Gegenſtände unvermuthet in hitzige theologiſche Strei—
tigkeiten führten, in welchen der Graf mit ſeiner viel—
geſtaltigen Gemüthlichkeit nicht im Vortheil gegen die
feſtgeſtellte Wiſſenſchaft der Univerſitätsgelehrten ſtand,
von welchen der eine, Doktor Weikmann, die Brüder
nun ſchlechterdings nicht als augsburgiſche Bekenntniß—
ein) 363 S2 —
verwandte anerkennen, und lieber aus der Kommiſſion
ausſcheiden wollte, ſo hätte die Sache gar leicht, unge—
achtet der befriedigenden Erklärungen der Brüder, eine
ſehr widerwärtige Wendung nehmen können, wäre nicht
die Kommiſſion im Ganzen ſo einſichtsvoll- gerecht und
billig-wohlgeſinnt geweſen, um das Weſentliche unter
ſolchen Zwiſchenfällen feſt im Auge zu behalten. In—
deß wurde der heftige Wunſch Zinzendorf's nicht ſo—
gleich erfüllt; die Kommiſſarien hielten ſich gegen die
Brüder zu keinem Ausſpruche verpflichtet, wiewohl ſie
nicht verhehlten, daß derſelbe günſtig lauten würde,
und die Anerkennung der Brüder als augsburgiſcher
Bekenntniß verwandten nicht zu bezweifeln ſtehe. Man
konnte demnach die Kommiſſion dennoch als glücklich
ausgegangen anſehen, und den vollgültigen Erfolg in
der nächſten Zeit erwarten. Nach dieſem großen Siege,
denn das war es in der That, verweilte Zinzendorf
nur noch kurze Zeit in der Lauſitz, reiſte gegen die
Mitte des Auguſt nach Ebersdorf, und von da nach
dem Herrnhaag, wo er am letzten Tage des Monats
ankam, und darauf, in eigends gehaltenen Berathungen,
theils von dem Geſchehenen Bericht gab, * neue
Geſchäfte fleißigſt betrieb.
Die Nachrichten aus England lauteten in dieſer
Zeit wenig tröſtlich, die in Deutſchland gedruckten
Schmähſchriften waren ſeit einiger Zeit in's Engliſche
überſetzt worden, fanden große Verbreitung, und wirk—
ten ſehr nachtheilig; auch wurden die Brüder oft mit.
ed 364 Bi
den Methodiſten als ein- und dieſelbe Sekte angefehn,
daher von der engliſchen biſchöflichen Kirche übel ver—
kannt und angefeindet, und geriethen darüber in Be—
drängniſſe, welche beſonders für ihre zahlreichen Miſ—
ſionen die ſchlimmſten Folgen haben konnten. Es er—
ſchien dringend nothwendig, daß ihre Sache dort neuer—
dings kräftig vertreten und geſchickt durchgefochten
würde; zu einer obrigkeitlichen Anerkennung, wie man
ihrer nun in Sachſen ſchon gewiß fein konnte, mußte
es auch in England gebracht werden. Zinzendorf be—
ſchloß, die Sache zu verſuchen, und ließ ſich eine Voll—
macht ausfertigen, kraft deren er befugt wurde, alle in
Holland, England und andern Ländern eingeleiteten
Unterhandlungen der Brüder nach ſeiner Einſicht zu
führen und abzuſchließen, wobei er jedoch nicht umhin
konnte, über die Laſt weltlicher Geſchäfte, die auf ihm
läge, zu klagen, und beſonders den Wunſch zu äußern,
der Diakonie, oder der Verwaltung des Haushalts der
Brüderkirche, überhoben zu ſein; er gab zu erkennen,
wie er am liebſten fortan dem Innern der Gemeinde,
den Herzen der Brüder und der Seelenſache dienen
möchte, welches ſein eigentlichſter Beruf von jeher ge—
weſen ſei. Doch war er weit entfernt, ſich deßhalb
der äußeren Vertretung der Brüder ſchon wirklich ent—
ziehen zu wollen. Er reiſte vielmehr im Herbſt mit
ſeiner Gemahlin und ſeinem Sohne, mit Friedrich von
Watteville, dem jungen Grafen von Reuß und anſehn—
lichem Pilgergefolge nach Holland ab, wo er in Zeyſt
— 2 — 365 & Seen
den inneren Gemeindegang fleißig bearbeitete, mancher—
lei Geſchäfte berathen half, und zum Schluſſe des Jah—
res ſich nach England auf dem Paketboot einſchiffte,
wo er äußerst ſeekrank dennoch eine Singeſtunde hielt,
und dem Heiland die Brüder und das Werk Gottes in
ihnen anempfahl. Ein Schiff, Irene genannt, welches
in Neuyork für die Seereiſen der Brüder gebaut wor—
den war, und jetzt hundertundfünfzig derſelben unter
Johann Nitſchmann's Anführung über England nach
Nordamerika bringen ſollte, hatte ihn wegen des Sturms,
der das Annahen der Schaluppen unmöglich machte,
nicht mehr aufnehmen können; ſie kamen aber beider—
ſeits glücklich in England an. Ein Edikt, welches in
Hannover gegen die Brüder, obgleich deren keine dort
wohnten, ergangen war, und in England ungünſtige
Aufmerkſamkeit erregte, gab dem Grafen Anlaß, dar—
über in einem Schreiben an den König einige Vorſtel—
lungen zu machen.
Die Hauptſache blieb jedoch, in England ſelbſt
eine obrigkeitliche Unterſuchung der Brüder zu bewir—
ken, wozu irgend eine Petition an das Parlament den
ſchicklichen Anlaß geben mußte. Dieſe Sache war nicht
ſo leicht abzuthun; ſie mußte zuerſt unter den Brüdern
zur Reife kommen, dann jeder Anſtoß der engliſchen
Kirche möglichſt vermieden, und endlich im Parlament
die nöthige Fürſprache und Stimmung gewonnen wer—
den. Das erſte wurde durch eine Provinzialſynode ge—
fördert, wo man die Sache gründlich beſprach, für das
m 366 Bo
—
zweite dienten dem Grafen ſeine ſchon beſtehenden Be—
kanntſchaften, zu dem dritten war beſonders der Gene—
rallieutenant Oglethorpe behülflich, ein vieljähriges
Parlamentsglied, und den Brüdern gewogen, die er in
Nordamerika genau kennen gelernt hatte. Nach dem
Rathe dieſes und andrer geſetzkundigen Freunde wurde
dem Hauſe der Gemeinen eine Petition der Brüder
um Freiheit von Eid und Waffendienſt durch den Ge—
neral eingereicht, der ſie durch eine ausführliche Rede
unterſtützte; zwar drang ein angeſehenes Mitglied in
einer heftigen Gegenrede auf Abweiſung der Petition,
allein fünf andre Mitglieder vertheidigten ſie, und das
Haus übergab ſie einem Ausſchuſſe von mehr als vier—
zig Mitgliedern, unter welchen auch jener Gegenredner
war, zur gründlichen Unterſuchung. Zinzendorf hatte
als Advokat der Brüder die Obliegenheit, dieſe Ver—
handlung zu leiten, allein er wollte und konnte nicht
perſönlich darin auftreten, ſondern bevollmächtigte fünf
des Engliſchen vollkommen mächtige Brüder, unter wel—
chen auch der Freiherr von Schrautenbach war, denen
er Tag für Tag das Nöthige angab, auf die Fragen
des Ausſchuſſes zu antworten. Das Ergebniß fiel ganz
nach Wunſch aus, der Ausſchuß berichtete günſtig, die
Petition wurde in eine Bill verwandelt, als ſolche noch—
mals einem Ausſchuſſe von ſiebenzig Mitgliedern über—
geben, und ging darauf im Unterhauſe einmüthig durch.
Größere Schwierigkeiten waren im Oberhauſe zu ge—
wärtigen, der alte Biſchof von London, Doktor Sher—
lock, wollte fih der Bill entſchieden widerſetzen, und
Zinzendorf ſchrieb deßhalb an den Biſchof von Lincoln,
welcher deutſch konnte, er möchte eine Unterredung zwi—
ſchen ihm und jenem Biſchofe vermitteln; allein die
übrigen Biſchöfe hatten in einer gehaltenen Verſamm—
lung fihon beſchloſſen, für die Brüder zu ſtimmen, und
nach Einſicht des dem Unterhauſe erſtatteten Berichts
gab auch Doktor Sherlock ſeinen Widerſpruch auf.
Zwar ſprachen mehrere Lords entgegen, und nament—
lich der Großkanzler, welchem Zinzendorf ſogar ſchrieb,
er wolle, bei ſo wichtigen Anſtänden, lieber die Sache
zurücknehmen, da der eigentliche Zweck, die Unterſuchung
der Brüderkirche und ihrer Lehre und Verfaſſung, ſchon
erreicht ſei, allein der Großkanzler wünſchte nur einige
Ausdrücke abgeändert, und nachdem dies geſchehen, wurde
die Bill einſtimmig angenommen, darauf, der Verände—
rungen wegen, von dem Unterhauſe nochmals gutge—
heißen, und endlich durch die Königliche Beſtätigung
am 6. Juli 1749 zur Parlamentsakte erhoben. Die
Brüder wurden als Mitglieder einer alten evangeliſchen
biſchöflichen Kirche anerkannt, von Eidleiſtung, ſofern
ſie ihnen bedenklich erſchiene, befreit, eben ſo vom Waf—
fendienſte ganz und vom Antheil an den Geſchwornen—
gerichten in peinlichen Fällen. Die Erlangung eines
ſolchen Anerkenntniſſes, und auf ſolchem Wege einer
öffentlichen und großartigen Staatsverhandlung, war
der wichtigſte weltliche Vorſchritt, welchen die Brüder—
ſache bis dahin gemacht; ſie ſtand nun in den Reichs—
9 368 &
geſetzen eines Landes, wo die Geſetze alles, und kei—
nem leichten Wechſel unterworfen ſind, gründlich feſt;
während anderswo die noch ſo große Beſchützung und
Gunſt widerrufbar von jedem neuen Zufall abhängig.
erſchien. Die Wirkung dieſes Erfolges zeigte ſi ſich als⸗
bald bedeutend; an vielen Orten in England, Schott—
land und Irland und in den nordamerikaniſchen Pflan—
zungen lud man die Brüder zu Niederlaſſungen ein,
deren auch einige zu Stande kamen, in England beſon—
ders nahm die Gemeinde einen neuen Schwung, der
auch günſtig auf das Feſtland zurückwirkte. Zinzendorf
ſuchte den guten Eindruck zu verftärfen; er hatte mit
den Biſchöfen von London und Lincoln freundliche Un—
terredungen, ſchrieb in engliſcher Sprache eine Darle—
gung der Lehre und Verfaſſung der Brüder, und be—
reiſte die Gemeinden, die ſich im Lande ſchon ſehr ver—
mehrt hatten, beſonders in Norkſhire, wo Fulneck als
ein bedeutender Bruderort heranwuchs. Nicht unwich—
tig war auch in Bezug auf dies Gedeihen der Brü—
derſache in England, daß der engliſche Biſchof, von
Sodor und Man ſich entſchloß, die Leitung des durch
das Ableben des Oberhofpredigers Cochius erledigten
reformirten Tropus zu übernehmen.
Seiner Hausgemeinde, welche durch ab- und zu—
gehende Pilger, beſonders auch durch das Verweilen
vieler nach Weſtindien, Nordamerika und Grönland
abzufertigenden Heidenboten, zeitenweiſe ſehr anſehnlich
war, widmete der Graf ungewöhnliche Fürſorge. Nicht
29 369 .
nur arbeitete er, wie immer, mit eifrigſtem Antheil für
den Seelenzuſtand der Einzelnen und den ſegenreichen
Gang der Geſammtheit, zu deſſen beſſerer Führung und
Berathung er, außer feinen Reden, Bet- und Singe—
ſtunden, auch noch eine beſondre Hauskonferenz einrich-
tete, ſondern auch auf das Aeußere erſtreckte ſich die
Sorgfalt, es ſollte den ihn umgebenden Pilgern auch
in dieſer Beziehung an nichts fehlen, und eine gewiſſe
Strenge und Aermlichkeit, welche bisher bemerkbar ge—
weſen, wich einer minder einfachen und reichlicheren
Lebensweiſe. In der Kleidung entſtand auch eine merk—
liche Aenderung, ſie wurde reicher grade dadurch, daß
man ſie vereinfachen wollte; denn bisher hatte ſich je—
der, wiewohl ohne Prunk, doch nach Gewohnheit ſeines
Standes getragen, jetzt wünſchte Zinzendorf dieſen Un—
terſchied aufgehoben; man wählte daher eine mittlere
Tracht, zu welcher zwar einige Brüder und Schweſtern
aus ihrer bisherigen um vieles hinabſtiegen, die große
Mehrzahl aber bedeutend herauf, und das Ganze mußte
ſich daher ungemein erhöht darſtellen. Offenbar wirkte
hier der Anblick und die Berührung der geordneten
engliſchen Lebensart der Mittelklaſſen ein, deren Ehr—
barkeit und Bildung dort mehr als anderswo mit einem
gewiſſen Wohlſtand und Aufwand in Verbindung ſteht.
Seine Hausverſammlungen mußte er gegen den allzu
großen Zulauf bewahren; nicht geringer war der Drang
zu den deutſchen Predigten, welche er in der Brüder
kapelle hielt, und die unmittelbar darauf ein Bruder in
Biographiſche Denkmale. V. 24
m 370 =
engliſcher Sprache genau wiederholte. Außer dieſen
beſtimmten Beſchäftigungen ſuchte Zinzendorf in dieſer
Zeit gern einſam zu bleiben, wozu mancherlei Urſachen
beitrugen. Er bedurfte, und grade im Glück am mei—
ſten, des ſtärkenden Umgangs mit dem Heilande, ohne
welchen er ſich gebeugt und verlaſſen fühlte; nur mit
dieſer ſtets erneuten Kräftigung konnte er zu den vielen
und wechſelnden Arbeiten, die er betrieb, getroſt her—
vortreten. Aber auch Trübſale machten ihn dieſer
Stärkung jetzt ſehr bedürftig. Briefe aus Deutſchland
gaben ihm zum erſtenmale deutliche und umfaſſende
Einſicht des Uebels, welches im Stillen das Innere der
Gemeinde durchwuchert hatte, und ihr eine gränzenloſe
Verwilderung drohte. Die ausſchweifenden Spiele der
Einbildungskraft, die ſchwächliche Tändelei und das
kindiſche Weſen mit dem Heiland, welche ſich im Herrn—
haag erzeugt hatten, waren auf den Gipfel der Albern—
heit geſtiegen; in erſchreckender Weiſe enthüllte ſich
plötzlich das Verderben durch eine Menge von That—
ſachen, in welchen die Frömmigkeit zum Unweſen ge—
worden ſchien. Zinzendorf hatte vieles dieſer Art
ſchon gewußt, einiges ſelbſt verſchuldet, aber das Uebel
nie ſo arg und die Heilung deſſelben ſchon im Zuge
geglaubt. Jetzt wurde ihm zum erſtenmal kund, was
alles ihm bisher entgangen, und noch in vollem Fort—
ſchritte begriffen war. Erſchrocken ſchauderte er vor
dem Bilde zurück, das ihm nun in unläugbarer Wahr—
heit die Augen traf. Schnelle und entſchiedene Ab—
— > 371 a
—
hülfe, das war klar, mußte verfügt werden. An der
Spitze dieſer Verirrung, welche in ſolcher Uebertrei—
bung der Graf nicht mehr als ſeine eigne anſehn konnte,
ſtand ſein Sohn Chriſtian Renatus, den er ſogleich zu
ſich nach London berief. David Nitſchmann dagegen
mußte nach Deutſchland eilen, um alle Gemeinden zu
beſichtigen, das Unweſen überall zu erforſchen und mög—
lichſt auszurotten. Der Sohn kam an, erfuhr die
Strenge des Vaters, aber auch deſſen Liebe, und gab
willig dem andern Wege ſich hin, auf den man ihn
jetzt umlenkte. Zinzendorf ſelbſt aber gerieth in große
Beklommenheit; er konnte die Quelle jener Schwär—
mereien nicht ſo ganz, und ſelbſt ihre Wirkungen nicht
alle gleichmäßig verdammen, auch ſchien derſelbe Fall
bei dem Einen zu entſchuldigen, bei dem Andern nicht;
einzelne Thatſachen ſprachen ſeine Milde an, andre reg—
ten unmittelbar ſeinen ärgſten Zorn auf. In dieſem
Gedränge, da er nicht hoffen konnte, ſein inneres Ge—
fühl mit äußerer Gerechtigkeit in Einklang zu bringen,
wählte er ſich eine ſonderbare Zuflucht. Er verſchloß
ſich allen weiteren Mittheilungen, mied alle darauf
hinlenkenden Geſpräche, und wies mit Unwillen die
näheren Anzeigen von ſich, die man ihm geben
wollte, er behauptete nachdrücklich ein völliges Igno—
riren. Sein Betragen in dieſer Hinſicht war auffallend
und unbegreiflich, er verweigerte ſchlechterdings jede
Aufklärung, und gerieth darüber in dauernden Zwiſt
mit einigen Brüdern, welche die Sache gründlich durch—
24 *
on 372
zuarbeiten wünſchten, aber er wollte lieber den Seini⸗
gen ein Räthſel und von ihnen mißbeurtheilt ſein, als
einen Gegenſtand anrühren, der ſein Inneres zerriß,
und bei dem er eben fo ſehr feine Milde wie feine
Strenge fürchtete. Für das Allgemeine hatte er die
nöthigen Maßregeln angeordnet, die Sichtung war ein—
geleitet, das Einzelne in dieſem betrübten Wirrweſen
wollte er dem Heiland und deſſen Fügung anheimſtel—
len, wobei das Gute ſchon ohne menſchliches Zuthun
in jedem am ſicherſten würde gerettet und das Schlechte
zerſtört werden. Und in der That, es ſcheint, daß
Zinzendorf in dieſem bedenklichſten Falle nicht klüger
hätte handeln können.
Inzwiſchen waren gute Nachrichten aus Weſtindien
eingegangen, wo Johannes von Watteville und Be—
nigna mit gutem Erfolge wirkten. Aus Sachſen kam
die Verſicherung, daß der König das Dekret zu Gun—
ſten der Brüder nun wirklich erlaſſen habe. Leonhard
Dober traf aus Liefland ein, und als David Nitſch—
mann von ſeiner Beſichtigung der Gemeinden aus
Deutſchland wiederkehrte, wurde Dober dahin abge—
ſandt. Die dortigen Liederſachen enthüllten ſich immer
mehr in ihren ungeahndeten Fortſchritten, allein ſie
waren bereits in der Umkehr und ließen völlige Hei—
lung hoffen. Als darauf Johannes von Watteville
aus Amerika zurückkam, wurde auch dieſer nach Deutſch—
land geſchickt, um die Gemeinden zu bereiſen, und die
Reinigung derſelben zu vollenden. Bei allen dieſen
|
373 G
Maßregeln verharrte Zinzendorf aber dennoch in der
angenommenen Stellung, und wollte hinſichtlich dieſer
Angelegenheit nichts Näheres mehr vernehmen, noch
geſprächsweiſe äußern, ſondern ſtritt gegen alles, was
man ihm dieſerhalb aufdringen wollte. Seiner Thä—
tigkeit fehlte es während ſeines fortgeſetzten Aufent—
halts in England nicht an andern Gegenſtänden. Eine
Synode im September 1749 zu London, hauptſächlich
dem Gemeindegang gewidmet, eine andre im Juni 1750
ebendaſelbſt, auf welcher unter andern die Stellung der
Gemeinde gegen ihre und des Grafen perſönliche Wi—
derſacher beſprochen wurde, mannigfache Berathungen
wegen einzelner Gemeinden, dabei die Geſchäfte des
Syndikats und der Diakonie, und zwiſchen allem die—
ſen immerfort die eifrigſte Beſorgung der Seelen, die
täglichen und öfteren außerordentlichen Andachten und
Reden, ungerechnet den ſtets zunehmenden Briefwechſel
und den unvermeidlichen Umgang mit Perſonen, deren
Bekanntſchaft wichtig war, dies ungefähr bezeichnet den
Kreis von Beſchäftigungen, von welchen Zinzendorf ſich
nicht ablöſen konnte. Zwar äußerte er wiederholt den
Wunſch, alle ſeine Aemter niederzulegen, und von der
Leitung der Gemeinde zurückzutreten, womit die mei—
ſten Feindſeligkeiten, wie er glaubte, da ſie hauptſäch—
lich auf ſeine Perſon gerichtet wären, gegen die Brü—
der von ſelbſt wegfallen würden; auch fer nur die Pre—
digt des Evangeliums ſein wahrer Beruf, meinte er,
nicht aber das Syndikat noch die Diakonie, zu deren
DB 374 9
Geſchäft er wenig tauge; und in der That zeigte er
ſich beſonders der letzteren Aufgabe nicht gewachſen, in—
dem er weder die nöthige Kenntniß des bürgerlichen
und gewerblichen Lebens, der Bedürfniſſe und Hülfs—
quellen, der vortheilhaften und nachtheiligen Wege deſ—
ſelben hatte, noch in dieſen Verhältniſſen ein richtiges
Maß vorausbeſtimmen, oder das beſtimmte, bei aller
Sparſamkeit, die er ſich zum Geſetz gemacht, mit er—
forderlicher Strenge feſthalten konnte; gleichwohl hätte
ihn auch in dieſem Amte nicht gleich jemand zu erſetzen
vermocht, ſein Eifer, ſeine Selbſtaufopferung, ſein eig—
nes bedeutendes Vermögen, und das große Zutrauen,
welches er nach allen Seiten einflößte, gab ſeiner Ver—
waltung in zahlreichen Fällen Nachdruck und Hülfe,
wie ein noch ſo gründlicher Kenner und Rechner ſie
ſchwerlich finden konnte; auch war die Gemeinde von
der Ueberzeugung durchdrungen, daß ſie ſeiner nicht
entrathen könne, und er fühlte ſelbſt, daß er, wenn
auch ſonſt für jene Geſchäfte gar nicht der rechte Mann,
doch unter dieſen Umſtänden noch unentbehrlich ſei, und
ließ ſich daher gefallen, die bis dahin getragene Laſt
auch ferner noch zu tragen. In der Einſamkeit von
Ingatſtonehall, einem Landſitze, den er eine halbe Tage—
reiſe von London gemiethet hatte, und wohin er ſich
bisweilen zurückzog, bearbeitete er unter andern auch
vielfache Verzeichniſſe, ſowohl der Orte, Gemeinden,
Chorhäuſer, und Anſtalten der Brüder, als auch der
Perſonen, welche bisher dem Dienſte der Gemeinde
sn 375
auf irgend eine Art vorgeſtanden, ja auch folcher, die,
ohne zur Gemeinde zu gehören, ihr wichtig und werth
geworden waren; an dergleichen ſtatiſtiſchen Ueberſich—
ten und Aufzählungen hatte er von jeher beſondere
Freude, und die Namenreihen dienten ihm auch zu den
Fürbitten, mit welchen er ſein Gebet ausführlich auf
alles Einzelne zu heften liebte.
In Sachſen und in England hatte die Brnderſoche
jetzt unter obrigkeitlicher Gewähr feſten bürgerlichen
Boden erlangt, der auf einem anderen Punkt hingegen
ihr wieder entſchlüpfen ſollte. Der alte Graf von
Aſenburg-Büdingen war im Oktober 1749 geſtorben,
und der Erbgraf hatte die Landesregierung angetreten.
Die Verhältniſſe von Herrnhaag waren dieſem ſchon
längſt ein widriges Augenmerk, und bereitwillig folgte
er den Rathſchlägen, welche die Feinde der Brüder
ihm eingaben. Man hatte ihm vorgeſtellt, die Ge—
meinde ſchmälere ihm ſeine Rechte, und wenn die Sachen
ſo fortgingen, würde Zinzendorf ihn mehr und mehr
verdrängen, und ſich als Herr des Landes einſchleichen.
Die Aufkündigung des Darlehns hatte die Erbitterung
gegen Zinzendorf vermehrt, und die Brüder ihrerſeits tru—
gen durch eitle Reden und unſchicklichen Trotz, wie ihre
eignen Berichte geſtehen, nicht wenig dazu bei, die
Sachen zum Aeußerſten zu treiben. Die in Druck—
ſchriften mehr als je gehäuften Anſchuldigungen gegen
die Brüder, die Verirrungen, welche in Herrnhaag
Statt gefunden, konnten ein ſtrenges Verfahren gegen
sn 376
die Gemeinde leicht beſchönigen. Der junge Graf nahm
ſich vor, die Sache jetzt, da er die Gewalt hatte, ſcharf
anzufaſſen. Gleich bei der Huldigung, die ihm zu lei—
ſten war, verlangte er von der Gemeinde, ſie ſollte
eidlich verſprechen, daß ſie durch ihre Einrichtung und
Verfaſſung keine Unterthänigkeit unter dem Grafen von
Zinzendorf oder den Vorſtehern und Aelteſten, die mit
ihm zuſammenhingen, ſuchen wollten. Nach mannig-
fachem hin und her ſchreiben, beharrte der regierende
Graf unter geſteigerten Vorwürfen in ſeinem Begeh—
ren, ſie ſollten ſchlechterdings dem Grafen von Zinzen—
dorf und ihren Aelteſten und Leitern abſagen, die Brü—
der dagegen weigerten ſich ſtandhaft, und baten um
Unterſuchung und Gelegenheit ſich zu verantworten, je—
doch vergebens, denn es hieß, die Sachen wären durch
öffentliche Streitſchriften hinlänglich aufgeklärt. End—
lich erſchien am 18. Februar 1750 ein landesherrliches
Patent, welches den Einwohnern von Herrnhaag, die
ſich von dem herrnhutiſchen Weſen losſagen wollten,
Freiheit zu bleiben und Schutz verſprach, allen denen
aber, welche dies verweigerten, binnen drei Jahren
auszuwandern befahl. Zinzendorf, von den frühern
Vorgängen benachrichtigt, hatte durch ein Schreiben
aus London ſich dem regierenden Grafen zu einem frei—
willigen Verlaſſen des Herrnhaags unter billigem Ab—
kommen erboten, allein dieſes gewaltſame und vertrags—
widrige Verfahren ſchnitt alle Unterhandlung ab, und
eine Gemeinde, welche noch vor kurzem ſorglos den
IT
luftigſten Tändeleien nachgehangen, mußte plötzlich in
härteſter Prüfung zu wirklichſter Sorge für Boden und
Fach übergehen! Aber hier trat der gute Grund der
Brüder ſogleich klar und feſt aus jeder Umdämmerung
hervor. Wohlmeinende Fremde riethen zwar, die Brü—
der ſollten ihr gutes Recht behaupten, und es fehlte
nicht die Wahrſcheinlichkeit, daſſelbe glücklich durchfech—
ien zu können; andre Wege der Vermittelung ſchienen
auch nicht ganz verſchloſſen; allein die ſämmtlichen Ein—
wohner des Herrnhaags, durch den Biſchof Johannes
von Watteville, der grade zu dieſen entſcheidenden Ta—
gen aus London angelangt war, glücklich geleitet und
geſtärkt, faßten den Entſchluß, zu ſchweigen und zu lei—
den, verwarfen das Anerbieten der Regierung, und
ſchickten ſich ſofort an, ihre Wohnungen, Werkſtätten
und Nahrungen zu verlaſſen. In den erſten drei Ta—
gen machten neunzig ledige Brüder ſich auf den Weg
nach Pennſylvanien. In kurzen Friſten folgten andre,
die theils nach Sachſen und Schleſien, theils nach
Holland und England abzogen, die Kinderanſtalten wur—
den nach der Lauſitz, nach Ebersdorf und andern Orten
beſtimmt, und es zeigte ſich, daß der vor kurzem noch
blühende Ort ſchon vor der feſtgeſetzten Zeit ganz ge—
räumt ſein würde; der Verluſt an liegender und fah—
render Habe, welcher bei dem ſchnellen Aufbruch un—
vermeidlich war, indem die Häuſer gar nicht, manches
nur zu geringſten Preiſen verkauft werden konnte, ſchien
den Brüdern gar nicht in Betracht zu kommen. Um
sm 378 DR
fo mehr war der Graf von Büdingen durch dieſen Er—
folg ſeiner Maßregeln betroffen, und ſeine anwohnen—
den Unterthanen, ihrer noch vor kurzem gegen die Brü—
der beim Reichskammergericht geführten Klagen unein—
gedenk, jammerten laut über einen Abzug, der auch
ihren Wohlſtand empfindlich verletzen mußte. Nun er—
hob ſich die Beſchuldigung, die Vorſteher der Gemeinde
wirkten durch Drohungen und falſche Verſprechungen
auf die Leute, und verführten oder zwängen ſie wider
Willen zum Auswandern; jeder Einzelne wurde nun
von der Gräflichen Behörde befragt und geprüft, und
auf alle Weiſe zum Bleiben ermahnt, allein vergebens,
die Auswanderung blieb im Zuge, fremde, zum Theil
vornehme Perſonen, kamen nun erſt um Aufnahme bit—
tend nach Herrnhaag, und begehrten mit auszuwandern;
über vierhundert und ſiebzig Köpfe zogen gleich im
erſten Jahre wirklich ab. Nur Ein Mann, durch An—
erbietungen verführt, ſagte ſich von der Gemeinde los
und wollte in Herrnhaag bleiben, aber zur Beſchämung
der Behörde fühlte er bald Reue, bat die Brüder um
Verzeihung, und ergriff ebenfalls den Wanderſtab.
Als Zinzendorf in London die ausgebrochene Ver—
folgung erfuhr, war er anfangs tief betrübt, bald aber,
als die Gemeinde ſich ſo herrlich bewährte, empfand er
die freudigſte Beruhigung, und hielt ſich überzeugt, daß
der Heiland den Brüdern durch ſolche Schmach nur
himmliſche Gnade ſende, und nach ſo vielen zweifelhaf—
ten und mißlichen Vorgängen die denn doch wohl zu
— 82379 Bo
—
hart beſchuldigte Gemeinde durch die ſprechendſte That—
ſache im wahren Lichte zeigen wolle. Seine Gemahlin,
welche dieſe ſchweren Tage im Herrnhaag miterlebt
und keine ſchonende Behandlung erfahren hatte, und
ſein Schwiegerſohn, der als ein würdiger Jünger des
Heilands erſchienen war, brachten ihm nach London den
genaueſten Bericht. Die Sorge für das Unterkommen
der Ausgewanderten und ihrer ferneren Nachfolger
mußte nun in vielfachſte Thätigkeit übergehn; ſie ver—
theilte ſich zwar auf die ganze Brüdergemeinde, lag
aber im Ganzen doch hauptſächlich dem Grafen ob.
Er blieb in England, ſowohl der vielen Hülfsmittel
wegen, die ihm dort zu Gebote ſtanden, als auch um
das Aufſehn und vielleicht den Haß zu vermeiden,
welche ſein übrigens unfruchtbares Erſcheinen in Deutſch—
land jetzt hätte wecken können. Zwar ſchrieb er noch
an den büdingiſchen Regierungsrath Brauer mild und
verſöhnlich, und erbot ſich ſogar, den Herrnhaag mit
andern als den weggezogenen Leuten zu beſetzen, allein
ohne Wirkung. Die Auswanderung wurde ſtill und
demüthig fortgeſetzt, ohne Aufſehen und Unruhe. Nach—
dem in England auf der letzten Synode der Gang der
Gemeindeſachen nochmals gründlich berathen worden,
glaubte der Graf, nach anderthalbjähriger Abweſenheit,
doch wieder nach dem Feſtlande zurückkehren zu müſſen.
Er nahm von den Brüdern und Schweſtern in London,
die er noch Perſon für Perſon ſprach, liebevollen Ab—
ſchied, und ſchiffte ſich am 11. Juli in Harwich ein.
9 380 So
Sein Sohn und Schwiegerſohn begleiteten ihn, die
Gräfin war vorausgereiſt. Bis zum 1. Auguſt blieb
er in Zeyſt, wo er unter ſtärkſtem Zudrange öffentliche
Verſammlungen hielt, und reiſte dann über Neuwied,
wo der regierende Graf ſchon längſt eine Niederlaſſung
der Brüder wünſchte, nach Lindheim und Marienborn,
beſuchte die im Herrnhaag noch verbliebenen Brüder
und Schweſtern, die er durch eine Rede tröſtend er—
freute, ſetzte dann ſeinen Weg nach Sachſen fort, und
erreichte am 14. Auguſt das Schloß Barby, welches
den Brüdern bereits übergeben war, und wo ſeine Ge—
mahlin ſeiner ſchon wartete, ſeine Pilgerbegleitung aber
bald nach ihm eintraf. Hier wurde ſogleich eine ſchon
vorbereitete Synode gehalten, auf welcher die im In—
nern der Gemeinde feſtzuhaltenden Grundideen, die
Sichtung der Mitglieder, der Umſturz von Herrnhaag
und die fortdauernden Streitſchriften gegen die Brü—
der, zur Sprache kamen. Ueber die Ausſchweifungen,
welche in Bildern und Wortſpielen waren getrieben
worden, äußerte er ſich unumwunden, verwarf die Mei—
nung, als hingen jene im geringſten mit der Lehre von
der Verſöhnung zuſammen, und verſprach, ſo lange er
Athem habe, ſolchen Verirrungen, die er als Teufels—
ſchule bezeichnete, kräftig entgegenzutreten. Uebrigens
bekannte er, die Brüder und Schweſtern verdienten ſei—
nen Dank, welche ihm den größten Theil dieſes Un—
fugs in der Zeit, da ihn die großhennersdorfiſche Kom—
miſſion und die engliſche Parlamentsverhandlung vollig
sm IE a
hingenommen, ſchonend vorenthalten hätten, indem dieſe
wichtigen äußeren Angelegenheiten mit der eben ſo wich—
tigen inneren ſich in feinem Denken und Thun nur übel
durchkreuzt haben würden. Nach der Synode ſprach er
jedes Mitglied derſelben noch beſonders, prüfte auch
die dem Seminarium angehörigen Brüder der Reihe
nach in einzelner Unterredung, wie er von jeher zu
thun liebte. Im Oktober reiſte er dann über Leipzig
und Dresden, wo er wegen Barby noch manches ver—
abredete, und kam den 13. nach Herrnhut, wo er in
Berathungen, Werken der Andacht und Erbauungen,
und vielfachen ſchriftlichen Arbeiten, den ganzen Win—
ter verblieb. Was an Herrnhaag verloren ſchien, wuchs
in dem feſtgegründeten Gedeihen Herrnhuts und der
vielen neuen Gemeinden in Sachſen, Schleſien, Holland
und England, der Miſſionen zu geſchweigen, den Brü—
dern reichlich wieder zu, und die Gemeinde bewegte ſich
auf wogendem Gewinn und Verluſt doch im Ganzen
höchſt gedeihlich vorwärts.
Ehe wir nun der Lebensbahn Zinzendorf's weiter
folgen, haben wir ſeine während der letzteren fünf Jahre
ſehr bedeutende ſchriftſtelleriſche Thätigkeit und Wirkung
näher anzuſehen. Die Streitſchriften gegen die Brü—
der, oder — wie man ſie durchaus nennen wollte —
Herrnhuter, hatten ſich, nach Maßgabe der Ausbreitung
der Gemeinde, mitausgebreitet und geſteigert. Sie wa—
ren großentheils wahre Schmähſchriften, Zeugniſſe lei—
denſchaftlichen Haſſes und beſchränkteſter Schulgelehr—
un 382 S
—
ſamkeit, voll grober Verläumdungen und elenden Miß—
verſtandes. Dieſe Schriften unbeachtet zu laſſen, we—
nigſtens einer unmittelbaren Widerlegung ſie nicht zu
würdigen, war im Allgemeinen Zinzendorf's Grundſatz;
doch wurde der Anreiz, dem Falſchen das Wahre nicht
nur durch That und Wandel, ſondern auch ſchriftlich
entgegenzuſtellen, oft unwiderſtehlich, und führte auf
den Kampfplatz, um, wenn auch nicht die Gegner ſelbſt,
doch ihre Waffen zu treffen. Grade die Geiſtlichen
und Prediger waren es, welche am heftigſten eiferten,
und ſich nicht ſcheuten, ihre vor der Welt meiſt ehren—
haften Namen mit denen der niedrigſten Ausgewieſenen
oder Ausreißer zuſammenzuſtellen, welche in der Ge—
meinde ihre Rechnung nicht gefunden hatten, und ſich,
durch verrätheriſche Mittheilung angeblicher Geheimniſſe
und Schandſachen, für ihre getäuſchten ſelbſtſüchtigen
Erwartungen oder vermeintlich erlittenes Unrecht ſchad—
los halten wollten. Von namhaften Männern, unter
welchen Bengel, Walch und Baumgarten durch ihr An—
fehn, Häntzſchel, Winkler, Fröreiſen, Freſenius und
Andre durch ihre Heftigkeit ſich auszeichneten, zählte
man ſchon gegen zwanzig Hauptſchriften gegen den Gra—
fen, ſeine und feiner Anhänger Lehre, Verfaſſung und:
Wandel. Einige Verirrungen und Unſicherheiten, welche
nicht zu läugnen waren, mußten den Gegnern trefflich
dienen, das Tollſte und Abſcheulichſte, was geiſtloſe
Bosheit erſinnen konnte, damit zu verknüpfen und wahr-
ſcheinlich zu machen. Um nicht dieſe zum Theil ge—
— . 383 S
wichtvollen Beſchuldigungen, wenn ſie ganz unwider—
ſprochen blieben, zum Nachtheil ſelbſt der bürgerlichen
Verhältniſſe der Gemeinde werden zu laſſen, fühlte ſich
der Graf im Jahre 1745 gedrungen, eine allgemeine
Vertheidigungsſchrift herauszugeben; ſie führt den Titel:
„Die gegenwärtige Geſtalt des Kreuzreichs Jeſu in
ſeiner Unſchuld, das iſt, verſchiedene deutliche Wahr—
heiten denen unzähligen Unwahrheiten gegen eine be—
kannte evangeliſche Gemeinde entgegen,“ und ſtellt, ohne
Nennung einzelner Gegner und Schriften, doch mit ſte—
ter Rückſicht auf ſie, eine Reihe von Sätzen auf, welche
den Sinn und das Weſen der Brüderſache nach ihren
mannigfachen Beziehungen beſtimmt ausſprechen; eine
Anzahl von Briefen, Eingaben und andern Verhand—
lungsſchriften ſind als Belege beigefügt. Dieſes Buch,
mit vieler Wärme und nicht ohne Beſonnenheit abge—
faßt, machte bei Unbefangenen guten Eindruck. Bald
nachher begann der Graf eine Folge von Aufſätzen,
worin er, nach Art perſönlicher Denkſchriften, ſich ſelbſt
und ſein ganzes Treiben mit vertraulicher Offenheit
darlegt; das erſte und zweite Stück dieſer Mittheilungen
erſchienen zuEEbersdorf, wo fie im Dezember 1746 geſchrie—
ben worden; die nach und nach entſtehende Folge vonzwölf
Stücken nebſt Beilagen wurden zuletzt in einen Band ver—
einigt, und unter dem Titel gedruckt: „Ludwigs von Zin—
zendorf ar ,,), das iſt, naturelle Reflexiones über
allerhand Materien, nach der Art, wie er bei ſich ſelbſt
zu denken gewohnt iſt.“ Dies iſt ohne Zweifel die eigen—
2 384
thümlichſte und merkwürdigſte Schrift des Grafen, aus
der wir deßhalb öfters ganze Stellen hier angeführt
haben, beſonders über ſeine früheſten Begegniſſe und
Geſinnungen. Das Buch iſt in der perſönlich erzäh—
lenden und betrachtenden Weiſe, wie es anhebt, leider
nicht fortgeführt, ſondern lenkt bald in Verhandlung
und mitunter in bloße Aufrechnung von Beſonderem
ein, welches den Antheil des Leſers nicht ſehr feſthält;
und ſo bleibt uns eines der anziehendſten Bücher, das
hier hätte entſtehen können, und in der deutſchen Litte—
ratur ein wichtiges Denkmal geworden wäre, doch nur
zu miſſen! Von Zinzendorf's Reden an die Gemeinde
wurde im Jahre 1746 eine Sammlung herausgegeben,
unter dem Titel: „Zweiunddreißig einzelne Homilien;“
ferner neun ſeiner in London gehaltenen Predigten, ſo—
dann die in Zeyſt an die Synode gehaltenen Reden.
Zwei Theile ſeiner öffentlichen Gemeindereden des Jah—
res 1747 folgten, dann „Einunddreißig Diskurſe über
die augsburgiſche Konfeſſion,“ welche er dem theologi—
ſchen Seminarium vorgetragen hatte, endlich noch die
gewöhnlichen Looſungsbüchlein, einzelne Aufſätze, Lieder.
Mit den Reden und Vorträgen war es nicht immer
richtig beſtellt, vieles war von ihm ſelbſt nachläſſig hin—
geſchrieben, andres von fremder Hand unvollkommen
aufgefaßt, alles aber hätte einer genauen Durchſicht
und ſtrengen Zurechtſtellung bedurft, denn außer dem
Willkürlichen, Gewagten und Tändelhaften, was nur
allzurichtig der damaligen Meinung und Art des ur—
ed 385 5
ſprünglichen Verfaſſers entſprach, war auch andres Stö—
rende vorhanden, was durch Unkunde und Nachläſſigkeit
der Gehülfen verſchuldet war. Und die guten Eindrücke,
welche dem Kreuzreich und den naturellen Reflexionen
etwa folgten, wurden mehr als aufgewogen durch die
zahlloſen Blößen und Anſtößigkeiten, welche der Druck
aller dieſer Reden einem großen Theile der theologi—
ſchen Leſewelt unvermeidlich darbot. Die Angriffe hör—
ten nicht auf, und wiewohl Zinzendorf ſich in Streitig—
keiten nicht einlaſſen wollte, ſo wurde er doch wiederholt
auf den Kampfplatz gezogen. Eine Hauptarbeit wurde
von Spangenberg theils unternommen, theils veranlaßt;
er las alle Gegenſchriften aufmerkſam durch, ſchrieb
alle Beſchuldigungen und Anklagen, ohne Verfaſſer und
Buch zu nennen, auf einzelne Zettel aus, welchen dann
der Graf ſeine bald kürzere bald ausführlichere Beant—
wortung hinzufügte. Die Schriften Spangenberg's:
„Darlegung richtiger Antworten auf mehr als dreihun—
dert Beſchuldigungen,“ im Jahre 1751 erſchienen, und
„Apologetiſche Schlußſchrift, worin über tauſend Be—
ſchuldigungen nach der Wahrheit beantwortet werden,“
ein Jahr ſpäter herausgekommen, liefern nebſt eignen
Aufſätzen, Briefen und andern Beilagen, den ganzen
Verlauf dieſer Erörterungen, in welchen, man kann es
nicht läugnen, Zinzendorf oft ſehr gründlich, geſchickt
und geiſtreich erſcheint. Allein er erſchrack doch beim
Ueberblick einer ſolchen Maſſe von Anklagen und Vor—
würfen, und wurde über das arge Mißverſtehen ſeiner
Biographiſche Denkmale. V. 25
—
> 386 3
Schriften nun ſelbſt bedenklich; er ſah viele Schwächen
derſelben ein, glaubte in vielen Behauptungen zu weit
gegangen zu ſein, manchen Ausdruck mißbraucht zu ha—
ben, und um ſich aus aller dieſer Verwirrung und Pein
mit einemmale zu befreien, erwählte er das große Mit—
tel, öffentlich zu erklären, er wolle ſämmtliche Ausga—
ben ſeiner bis dahin gedruckten Schriften, als mangel—
haft und mancher Erläuterung bedürftig, für das Pu—
blikum kaſſirt haben, und bei künftigen Ausgaben mit
Vorſicht und Genauigkeit jede gewünſchte Läuterung
vornehmen, wobei er freilich bedaure, daß auch die
ſchlichte Natürlichkeit und unbefangene Zuverſicht ſeiner
Aeußerungsweiſe hin und wieder leiden würden.
Mittlerweile ging in Herrnhut alles den beſten
Gang. Der im Februar 1751 eintretende Tod Chri—
ſtian David's, des erſten mähriſchen Anſiedlers in Herrn—
hut und Führers der erſten Heidenboten nach Grönland,
beraubte den Grafen eines erprobten, ungemein thätigen
und einflußreichen Mitarbeiters; man pflegte von ihm
zu ſagen: wir haben nur Einen ſolchen Mann! jedoch
beſaß die Gemeinde in ihrer Mitte genugſame Gaben,
um einen ſolchen Verluſt nicht grade als einen Mangel
fühlen zu müſſen. Zinzendorf's Verluſt allein wäre in
dieſer Zeit noch unerſetzlich geweſen. Seine Thätigkeit
ſchien mit den Jahren zu wachſen, und theilte ſich auf
das zweckmäßigſte zwiſchen den großen weltlichen Ge—
ſchäften und der inneren Gottſeligkeit; zu der letzteren
wandte ihn ſtets der tiefſte Herzenstrieb, zu den erſte—
ren riefen ihn Pflicht und Talent. Im April 1751
\
55H 387 E22
mußte er nach Dresden reifen, um mit der dortigen
Behörde, und mit dem Premierminiſter Grafen von
Brühl ſelbſt, der mit Zinzendorf perſönlich wohl den
größten Abſtich machte, aber den Zuſammenhang deſſel—
ben mit bedeutenden Geldquellen höchlich ſchätzte, we—
gen einiger Verhältniſſe in Barby beſtimmtes Abkom—
men zu treffen. Hierauf beſuchte er Niesky, einen von
böhmiſchen Auswanderern, die man in Herrnhut auf—
zunehmen nicht gewagt hatte, ſeit dem Jahre 1742 auf
dem Boden eines Herrn von Gersdorf unweit Herrn—
hut gegründeten Brüderort. Im Mai hielt er wieder
in Herrnhut mancherlei Berathung, begab ſich im Juni
nach Gnadenberg, dann nach Barby, wo das Semina—
rium und das Archiv von Marienborn und die Knaben—
anſtalt von Lindheim eingetroffen waren, und ſeiner
und ſeines Sohnes Chriſtian Renatus beſonderen Sorg⸗
falt, die ſich der Reihe nach auf jeden Einzelnen er—
ſtreckte, theilhaft wurden. Nachdem er auch den öffent—
lichen Gottesdienſt in der Schloßkapelle eingerichtet
hatte, reiſte er von hier im Juli nach Ebersdorf, wo
er von zahlreichen Mitarbeitern umgeben war, denn
immer fand ſich eine Pilgerſchaar zu ihm, theilweiſe
ſeine Schritte begleitend, theilweiſe ihnen vorauseilend
oder nachfolgend. Er bekannte hier in mehrtägigen Be—
rathungen, daß ſein eigentlicher Beruf der Umgang mit
dem Worte Gottes und die Sorge für das Heil der
Seelen ſei; als ein Jünger Jeſu werde er dieſem Be—
rufe fortan ausſchließlich folgen, und alles meiden, was
25 *
sm 388 322
ihn nach andrer Richtung zerſtreuen könnte. Er hatte
England mit der Abſicht verlaſſen, nach ſeinem in
Deutſchland gemachten Beſuche dorthin zurückzukehren;
denn er fand den Aufenthalt daſelbſt ungemein günſtig,
um zwiſchen den europäiſchen Gemeinden und den ame—
rikaniſchen Miſſionen mitteninne zu ſtehen, und zugleich
die zahlreichen und wichtigen Angelegenheiten der Brü—
der in England perſönlich zu beſorgen. Nun ſchien ibm
zweckmäßig, die Oberleitung der Brüderſache auf län—
gere Zeit ganz nach England zu verpflanzen, wo der
geſetzliche Schutz, welchen die Brüder erlangt hatten,
ihnen zugleich den ſicherſten Boden gab. In dieſem
Sinne waren bereits die letzten Verabredungen in Herrn—
hut genommen, und hatte jetzt der Abſchied in Ebers—
dorf Statt. Zinzendorf trat am 21. Juli ſeine Reiſe
an, wollte aber, bevor er das Feſtland verließ, auch
noch die kleine Gemeinde der Brüder zu Montmirail
im Fürſtenthum Neufchatel beſuchen; er kam den 1. Au-
guſt dort an, blieb acht Tage, ſprach von der Liebe und
Vertraulichkeit zum Heiland, gab ſonſt Rath und An—
leitung, und reiſte dann durch Frankreich, wo er ſich
wenig aufhielt, nach London.
Hier wünſchte er ſich in großer Stille zu halten,
ohne deßhalb ſeine Erbauungen und Geſchäftsarbeiten
aufzugeben. Er hielt ſeine deutſchen Predigten wie
früher, und ſeine Hausverſammlungen täglich in ge—
wohnter Weiſe. Seine bisherige Wohnung in Bloome-
bury mußte er eines Baues wegen verlaſſen, und bezog,
39 389 93
weil das von ihm gekaufte Haus des Grafen von Lind—
ſey in Chelſea die nöthigen Einrichtungen noch nicht
hatte, abermals eine gemiethete Wohnung in Weſtmin—
ſter. Er gab hier auf's neue die mündliche und ſchrift—
liche Erklärung, daß er ſeine Aemter insgeſammt ab—
geben, und fortan nur als Jünger Jeſu leben wolle.
Dies hatte die Wirkung, daß er unter den Brüdern
ſeitdem gewöhnlich nur der Jünger, ſeine Wohnung das
Jüngerhaus genannt wurde; im Uebrigen aber, da kein
Nachfolger für ihn eintrat, auch er ſelbſt ſich keinen zu
geben wußte, blieben die Geſchäfte nach wie vor in ſei—
ner Hand. Im September kam Spangenberg mit zahl—
reicher Begleitung aus Deutſchland, um abermals nach
Nordamerika mit ihr abzugehen; dieß gab dem Grafen
Anlaß, ſowohl mit dieſen Brüdern als mit den Miſſions—
ſachen im Allgemeinen ſich angelegentlich zu beſchäftigen.
Im Oktober ſah er ſich zu einer Reiſe nach Bedford
bewogen, um die dortige Gemeinde zu beſuchen. Da
es ihm ungeachtet ſeines Wunſches und Bedürfniſſes
nicht gelingen wollte, im gewöhnlichen Zuge des Lebens
zu einiger Ruhe zu kommen, ſo mußte er ſich wohl
entſchließen, dieſelbe durch ernſtliche Vorkehrung wenig—
ſtens auf einige Zeit zu erzwingen. Seinen Hausge—
noſſen ſagte er, der Gemeinde ſchrieb er, daß er die
nächſten zwei Monate ſich die Muße nehmen wolle,
alles ihm ſeit dreißig Jahren Begegnete zu überdenken,
er habe vieles nachzuleſen und mit dem Heilande dar—
über zu ſprechen, hierin dürfe er nicht unterbrochen wer—
2 390
den, und er wünſche deßhalb, daß man ihn während
jener Zeit ganz als einen Abweſenden anſehen möchte.
Man konnte nicht anders als ſeinem Begehren willfah—
ren; dennoch nicht ſo völlig, daß er nicht häufig über
manche Dinge befragt worden wäre, über welche er
allein Auskunft geben konnte. Man pflegte ihn aber
ſchon längſt nicht ohne Noth in dieſer Art zu ſtören,
ſowohl, weil er in ſeinen Sinn vertieft oft kaum die
Fragen vernahm, und verkehrten oder unſichren Beſcheid
ertheilte, als auch um der Aengſtlichkeit willen, die er
im Gebrauche ſeiner Zeit hatte, denn er pflegte die
ganze Fülle obliegender und bevorſtehender Arbeiten
ſorgfältig zu überſchauen, und dieſe nach zugemeſſenen
Zeiträumen im voraus einzutheilen, ſo daß er nicht nur
Monate und Wochen, ſondern auch Tage und Stunden
auf weithinaus für dieſes oder jenes Geſchäft als Ziel
vormerkte, wobei es denn ſowohl durch die Sache ſelbſt
als durch äußere Zufälle ſehr oft unmöglich wurde,
ſolcher Zeitrechnung zu genügen, und er nicht ſelten die
Nächte zu Hülfe nahm, um das Rückſtändige, welches
er ſich meiſt als ein Verſäumtes zur Schuld rechnete,
nachzuholen. Mit Thränen beſeufzte er dann vor dem
Heilande ſein vermeintliches Vergehen, und unterließ
nicht, ſobald er wieder aufathmete, durch neue Voraus-
beſtimmung ſich neuen Anlaß zu bereuenden Vorwürfen
zu bereiten. So quälte ſich der treffliche Mann, ſeiner
bewegten, allen Wellenſchlägen der unberechenbarſten
Zuſtrömungen ausgeſetzten Lebensart eine Ordnung auf—
5 391 42
zubürden, die kaum für die ſtillſte, den Ereigniſſen mög—
lichſt entrückte Tagesfolge ohne ſtete Gefahr größerer
oder minderer Brüche ſich behaupten läßt!
Die Beſchäftigung ſeiner Einſamkeit war nicht be—
ſonders fruchtbar; ſeine Natur wies ihn auf geſelliges
Wirken an. Vorarbeiten zu einem Geſangbuche für
die Brüder rangen in ſeiner Hand noch zu ſehr nach
verſchiedenen Richtungen; ein Auszug aus der Bibel,
welcher alles Weſentliche aufnehmen und nur Unweſent—
liches und Wiederholungen weglaſſen ſollte, wobei nach
früherem, noch immer regem Triebe, auch neue Ueber—
ſetzung mancher Stellen nicht glücklich verſucht wurde,
blieb aus Mangel an Zeit und auch wohl um des Be—
denklichen und Schwierigen willen, das in der Sache
lag, mit dem Anfange, der gedruckt erſchien, auch ſchon
abgeſchloſſen. Seine Hausgemeinde jedoch durfte auch
während dieſer Zeit ſeine Sorgfalt nicht entbehren;
eben ſo bedachte er ſtets die Gemeinde der Stadt. Er
hielt in dieſer Zeit Predigten, welche ſich beſonders auch
durch Kürze auszeichneten, jede dauerte kaum eine Vier—
telſtunde, wie er denn ſchon immer die Andachten, um
Ermüdung und Unaufmerkſamkeit zu vermeiden, gern
in kürzeſten Abſchnitten von halben und Viertelſtunden
wechſeln ließ, dagegen die zuſammenhängende Folge
derſelben auch um ſo weiter ausdehnte. Im Januar
1752 kamen achtzehn Brüder und Schweſtern aus Nord—
amerika zurück, andre wurden dahin abgeſandt, alle nahm
der Graf einige Zeit in ſein Haus. Die Eingezogen—
IN -.
heit öffnete fich fo wieder mehr und mehr dem zudrin—
genden Leben, und Zinzendorf mußte wohl einſehen,
daß er doch nur den Wogen des Tages ſich hinzugeben
habe! Bald ſtand er nach allen Seiten wieder in vol—
lem Verkehr; der Umgang mit einigen Biſchöfen der
engliſchen Kirche, mit mehreren Lords, Gelehrten und
angeſehenen Fremden, hatte ſeinen Reiz wie ſeinen
Nutzen, der mannigfachſte Briefwechſel war nicht ab—
zulehnen, die Geſchäfte drangen mit Macht heran. Zwar
hatten, nach des Grafen Wunſch, einige Brüder als
Beauftragte die Advokatie mit Erfolg übernommen,
allein für die Verwaltung der Diakonie bot ſich keine
ſolche Aushülfe dar. Die Brüderſache war überall im
Wachſen, man durfte fie nicht ſtocken laſſen; ihre Be—
dienung, die Reiſen, Unterrichtsanſtalten, Miſſionen und
Kolonien, erforderten große Auslagen; ſo kaufte die
Gemeinde von Lord Granville 100,000 Aeres Land in
Nordkarolina zum Anbau einer Kolonie; Zinzendorf
ſelbſt hatte Ankäufe und Bauten in England unternom—
men; die Auswandrer von Herrnhaag bedurften man-
nigfacher Hülfe; die Zuſchüſſe waren gering, und die
Verlegenheiten fielen alle auf den Grafen zurück; er
ſchaffte Rath, ſo gut er konnte, lieh an, verbürgte ſich,
aber der Zuſtand war beſorglich, um ſo mehr, als in
den Verhältniſſen ſelbſt ein feſtes Maß des Bedarfs
gar nicht zu ermitteln war; der Sache des Heilands
ließ ſich kein Budget vorausbeſtimmen. Auch gehörte
wirklich zum Gedeihen der Sache die frohe Zuverſicht,
— 393 2
das friſche Wagen, mit welchem Zinzendorf getroſt vor—
anging, und dieſe Stärke des Vertrauens und Mutbes,
welche zu jedem möglichen Gewinn ein erfolgreichſter
Miteinſatz ſind, müſſen von den Rechnern ſelbſt, obwohl
ihren Ziffern entzogen, wenigſtens neben dieſe geſtellt
werden. Allein Zinzendorfs Vertrauen war nicht ſo
blind noch trotzig, um jedes Verhältniß und jeden Au—
genblick aus dem Kreiſe gewöhnlichen Weltlaufs in ei—
nen höheren Kreis einer unmittelbar göttlichen Einwir—
kung zu verſetzen, und er fühlte, daß menſchliche Klug—
heit, Einſicht und Sorgfalt auch im Dienſte der Vor—
ſehung ſtehen, und in ihnen dieſer verſäumt werden
könne. Er bemühte ſich daher nach beſten Kräften, die
Sachen zu halten, und einem Ausbruche vorzubeugen;
das Erbieten eines fremden Mannes, ihm für die Brü—
der eine namhafte Summe darzuleihen, wurde dankbar
angenommen. Uebrigens aber ſuchte er auch die Ver—
waltung beſſer zu ordnen, wünſchte die allgemeinen Aus—
gaben der ganzen Brüderſache von denen einer jeden
beſonderen Gemeinde genau getrennt, und faßte die
Leitung, da er ſich ihr einmal nicht entziehen konnte,
nun auch um ſo ſtrenger in ſeine Hand zuſammen, in—
dem er die Brüder neuerdings ermahnte und verpflich—
tete, fortan nichts Neues ohne ſein Wiſſen und Rathen
zu unternehmen, und ihm von dem Stande der Sachen
in jeder Gemeinde, außerordentliche Vorgänge unge—
rechnet, jeden Monat regelmäßigen Bericht zu geben.
5m 394 Bit
Bei fernen Arbeiten ging ihm fein Sohn Chriſtian
Renatus bisher treulich zur Hand, und mit ſolchem
Eifer, daß er, ohne daß man es wußte, oft ganze
Nächte hindurch am Schreibtiſch durchwachte. Dieſen
Anſtrengungen erlag ſein durch Ueberreizungen weicher
Gefühle ſchon geſchwächter Körper, und er ſtarb zu
Ende des Mai's 1752 an der Auszehrung. Der Graf
war tief bekümmert über dieſen Verluſt, er mochte wohl
auch jetzt in manchen Augenblicken die frühere Strenge
zu hart finden, welche er gegen die ſchwärmeriſchen
Verirrungen des Sohnes bewieſen hatte. Die Gräfin
eilte von Herrnhut nach London, um den ſterbenden
Sohn noch zu ſehen, allein in Zeyſt angelangt erfuhr
fie feinen Heimgang, und blieb nun wo fie grade war;
erſt nach vier Wochen ſetzte ſie die Reiſe nach London
fort, theilte Schmerz und Liebe mit ihrem Gemahl,
und reiſte dann, nach ausführlichen Geſchäftsverabre—
dungen, gegen Ende des Auguſt wieder nach Herrnhut
zurück, wo ihre Anweſenheit dringend erfordert wurde.
Zinzendorf erhielt durch die hinterlaſſenen Papiere ſei—
nes Sohnes die vielfachſten Zeugniſſe von deſſen in—
niger Frömmigkeit und glühendem Eifer für den Hei—
land; in ſeinen Tagebüchern und zahlreichen Liedern
fand ſich neben dieſer Geſinnung die tiefſte Bekümmerniß
über den Schaden ausgedrückt, den er angerichtet zu
haben glaubte, und ſelber kaum verwinden zu können
ſchien, obgleich er ſeither alles angewandt hatte, die
Verirrten von dem Abwege zurückzubringen. Er wirkte
|
=D 395 88
auch in der That mit großem Einfluß auf die Herzen
die ſein liebevolles Zartgefühl ihm aller Orten gewon—
nen hatte, und um den lieben Grafen Chriſtel, wie
man ihn nannte, floſſen viele Thränen. Allein Zinzen—
dorf mußte bald gewahr werden, daß in den Aufſätzen
und Liedern ſelbſt, worin der Verſtorbene jener Rich—
tung abſagte, noch vieles von derſelben zu finden war,
und daß im Grunde, bei veränderter Stellung des Ge—
genſtandes, die gleiche Gefühls- und Einbildungsweiſe
unverändert fortgedauert hatte. Noch deutlicher trat
dies hervor, als er, im theuren Andenken feines Sohnes,
auf einige Zeit die Leitung der von dieſem bisher ge—
führten Chöre der ledigen Brüder in allen Gemeinden
nun ſelbſt zu übernehmen anfing. Das Spielende und
Tändelnde der Ausdrücke zeigte ſich hier noch keines—
wegs verbannt, und Zinzendorf, der endlich alle Arbei—
ter dieſer Chöre zu einer Synode nach London berief,
mußte ſeinerſeits, indem er dieſe Art eifrig verwerfen
wollte, ihr doch ſelbſt einigermaßen nachgeben, und auch
er fiel in ſeinen Liedern und Reden in manche Wen—
dung zurück, die er ſchon mißbilligt hatte, und die auch
jetzt eher Gebrauch als Billigung finden konnte, indem
kindliche Neigung argloſen Gefühls und einſichtiges Ur—
theil prüfenden Verſtandes friedlich nebeneinander gin—
gen. Vielleicht hat grade dieſe halbe Nachgiebigkeit,
wenn ſie auch gar nicht ſo beabſichtigt war, dem Un—
weſen ein ſchnelleres Ende gebracht, als irgend eine
folgerechte Strenge es vermocht hätte, denn in der
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That mußte ſich allmählig der Hang zu einer Sache
verlieren, welche keinen Reiz des Widerſtandes wecken
konnte, weil ſie genug geduldet war, und doch keinen
Reiz der Aufmunterung fand, weil ein ausgeſprochener
Tadel ſie fortwährend traf.
Im folgenden Jahre 1753 brach ein Unheil, wel—
ches unter allem Bemühen der Abwehr doch nur ge—
wachſen war, unaufhaltſam aus. Einige Brüder, ver—
mögende Kaufleute, hatten den Diakonen anſehnliche
Summen dargeliehen, welche ſie ſchleunigſt wiederfor-
dern mußten, da fie durch einen betrüglichen Bankrott
unerwartet ſelbſt in's Gedränge kamen. Als dies ver—
lautete, ſäumten auch die andern Gläubiger nicht, deren
Zahl ſich nun bedeutend genug zeigte, die Diakonen
ſahen ſich von allen Seiten beſtürmt, und hatten keine
Zahlungsmittel. In Gefahr, ſich zahlungsunfähig er—
klären zu müſſen, was nicht ohne den unerſetzlichſten
Schaden der Brüdergemeinde geſchehen konnte, wandten
ſie ſich an den Grafen, welchen zugleich jene Kaufleute
und von den fremden Gläubigern die Freundgefinnten
lebhaft angingen, durch ſeine Vermittlung ein Abkom⸗
men zu bewirken. Zinzendorf war über die Größe des
Unheils betreten, er hatte die Diakonen eingeſetzt, ver—
meintlich geleitet, aber freilich die Geldgeſchäfte ihrem
Gutdünken überlaſſen, und ſie waren weiter gegangen,
als er es genehmigt haben würde; was begegnet war,
ſah er demnach als ſeinen Fehler an, und machte ſich
über feinen Mangel an Aufſicht bittre Vorwürfe. Wie—
sm 397 22
wohl er feine Mittel jetzt ſelbſt nicht überſehen konnte,
da mancherlei Schulden, Bürgſchaften und Verpflich-
tungen ſchon auf ihm laſteten, vielerlei Ausgaben vor—
ausbeſtimmt und auf manche Einnahme nicht ſicher zu
rechnen war, ſo entſchloß er ſich doch ſchnell, ungeachtet
der ernſtlichen Abmahnung eines angeſehenen Rechtsge—
lehrten, der die Sache allzu bedenklich fand, und ſchrieb
an die ſämmtlichen Gläubiger, er übernehme die ganze
Schuld, und wolle ſie friſtweiſe abzahlen, inzwiſchen
aber verzinſen. Jener Rechtsgelehrte wurde durch die
großmüthige und gottvertrauende Handlung des Grafen
ſo gerührt, daß er mit Thränen die Gläubiger zum
Vergleich ermahnte; die meiſten willigten ein, nur
einige derſelben, welche den Brüdern größeres Unheil
wünſchten, wollten keine Bedingungen annehmen, ſon—
dern gleich uͤnd voll bezahlt ſein; alle Vorſchläge und
Bitten waren fruchtlos, aber die Kraft der guten Sache
bewies ſich nur um ſo glänzender, da grade hiedurch
andre freundlichgeſinnte Gläubiger bewogen wurden,
aus eignen Mitteln jene hartherzigen zu befriedigen,
und den Vergleich nur um ſo günſtiger zu ſtellen.
Aber auch bei dieſem Abkommen dauerte die Verlegen—
heit noch lange fort, die Verwirrung und Hülfloſigkeit
kam immer auf neuen Seiten hervor, erwartete Sum—
men blieben aus, verſuchte Schritte mißlangen, feſt und
unwandelbar ſtand nur das zu Leiſtende; ſchon war
eines Tages Zinzendorf bedroht, ins Gefängniß abge—
führt zu werden, als noch zu rechter Zeit die Poſt,
er 398 3
früher als gewöhnlich eintreffend, ihm die nöthige
Summe brachte. Die Schuldennoth war eine ſchwere
Prüfung der Brüder, in welcher nicht alle ſo beſtanden
wie Zinzendorf, den ſie doch am härteſten traf. Als
die Ausſichten am meiſten verdunkelt waren, und faſt
kein Durchkommen mehr zeigten, da wurde er wieder
ganz freudig und zuverſichtlich; wo die menſchliche
Klugheit völlig ausging, da vertraute er um ſo hinge—
gebener der Hülfe des Heilandes. Gegen ſich ſelbſt
war er in dieſer Sache ungemein hart; er berief die
Aelteſten der Gemeinde zu ſich, und bekannte ihnen mit
vielen Thränen ſein Verſchulden, daß er nicht beſſer
Aufſicht geführt, und ſein Amt ſo übel verwaltet habe,
er verlangte, ſie ſollten ihn, wie er verdient, aller ſei—
ner Aemter entſetzen, und dies allen Gemeinden anzei—
gen. Ihm wurde nun zwar keineswegs hierin will⸗
fahrt, allein er benahm ſich ſeitdem als ein ſeines Amts
einſtweilen Erledigter, und ertheilte zwar den Aelteſten
auf Befragen ſeinen Rath, ordnete aber ſelber nichts
an, und redete während einiger Zeit ſogar in ſeiner
Hausgemeinde ſeltner. Der gewohnte Gang erlitt da—
durch keine Störung, der lebendige Einfluß war vor-
handen, auf die Form kam es weniger an. Schon die
Pilgerreiſen und Miſſionsſachen, von denen er ſich nicht
ablöſen konnte, hielten den Grafen regſam; es fand
darin ein beſtändiger Wechſel Statt, und namhafte
Dinge wurden unternommen. Johannes von Watte—
ville, der bereits Vater geworden, hatte eine Beſichti—
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| 8
— D 2399 A
gungsreiſe nach Grönland gemacht; ein Bruder Hokker
verſuchte als Arzt in Aegypten und Abyſſinien der Sache
des Heilands neue Wege zu bahnen; Spangenberg
reiſte mit dem Brüderſchiff Irene zwiſchen England
und Amerika her und hin.
Lindſeyhouſe, wo der Graf jetzt wohnte, war 5
Mittelpunkt all dieſes Verkehrs, die Pilger nahmen
ihre Wohnung hier, und blieben oft längere Zeit, auch
kamen alle Berichte an den Grafen. Uebrigens war
ſeine neue Wohnung ganz für den Zweck eingerichtet,
daß die Oberleitung der geſammten Brüdergemeinde
hier nach Zeit und Umſtänden ihren Sitz haben könnte;
große Säle zu Andachten und Berathungen fehlten
nicht, viele Gaſtzimmer waren eingerichtet, eine Ka—
pelle, ein Gottesacker, und außer den nöthigen Schreib—
anſtalten auch eine Buchdruckerei. Eine Synode wurde
hier gehalten, bei welcher, weil Zinzendorf ihn durch—
aus ablehnte, den Vorſitz Leonhard Dober übernehmen
mußte. Die große Demuth des Grafen ſchloß aber
keineswegs ſeinen freieſten Antheil an den Verhand—
lungen aus, er ſtrafte ſich ſelbſt ohne Schonung, aber
auch Andre ohne Scheu, ja bisweilen gerieth er in ſo
heftigen Eifer, daß er nachher tagelang Reue darüber
hatte. In ſeinen Predigten drang er auf die Liebe
zum Heilande, auf kindliches Vertrauen zu ihm, und
auf Abwendung von Dünkel und Eitelkeit. Seine Aus-
drücke fielen hiebei oft ſo zärtlich und kindlich aus, daß
man wohl ſehen konnte, die verrufenen Lieder wirkten
29 400 33
in ihm noch fort. In der That hatte er ſich feit eini—
ger Zeit vorzugsweiſe mit der Auswahl eines Geſang—
buchs beſchäftigt, und den erſten Theil deſſelben in Lon—
don unter dem Titel: „Alt- und neuer Brüdergeſang“
im Jahre 1753 drucken laſſen; er enthielt über zwei—
tauſend Lieder, ältere, neuere, überſetzte, bearbeitete.
Zehn Brüder wurden beauftragt, das Buch zu prüfen,
an welchem ſie nichts Erhebliches auszuſetzen fanden.
Im folgenden Jahre kam der zweite Theil heraus,
über tauſend neuere, beſonders eigne Lieder des Grafen
enthaltend, und obgleich er den Willen gehabt, alles im
Ausdruck Bedenkliche, Spielende und Ungewöhnliche
ſorgfältig wegzulaſſen, ſo war ihm dies doch ſo wenig
gelungen, daß vielmehr neues Aergerniß daraus ent—
ſtand, und er das ganze Buch in der Folge preisgab.
Auch an einem engliſchen Brüdergeſangbuch half er
thätig arbeiten, ſammelnd und überſetzend. Um der
großen Fluth von Schmähſchriften zu begegnen, welche
jetzt in England, größtentheils aus dem Deutſchen über-
ſetzt, gegen die Brüder hervortraten, ließ er einige,
früher deutſch verfaßte, wahrhafte Nachrichten über die
Brüder jetzt in engliſcher Sprache drucken. 8
Nach ſo viel Spannungen und Stürmen befiel den
Grafen im Anfange des Jahres 1754 eine Krankheit;
ſie hinderte ihn nicht, auch in Geſchäften noch Rath zu
ertheilen, und ſie begünſtigte ſeine Hinwendung zu dem
Heiland, in deſſen Umgang er die angenehmſten und
ſeligſten Stunden genoß. Er überdachte mit innigſter
59 401 BL
Rührung die Gnade, welche der Gemeinde doch unter
ſo drohenden Erſchütterungen zu Theil geworden, und
hielt zum Danke dafür, als er geneſen war, mit ſeiner
Hausgemeinde ein feierliches Gebet und Liebesmahl.
Förderſamſt betrieb er darauf, gewarnt durch die Uebel,
deren Wiederkehr abzuwenden war, eine beſſere Anord—
nung der Diakonie, ſetzte eine neue Behörde ein, und
trennte ſo viel als möglich die Verwaltungen der Ge—
ſammtheit und der beſonderen Gemeinden, ſo wie der
einzelnen Anſtalten; auch die Miſſionen erhielten ihre
eigne Diakonie. Seine Berathungen dieſer Art fan—
den eine große Stütze an ſeiner Gemahlin, die wieder
von Herrnhut auf einige Monate nach London kam; in
andern Angelegenheiten ſtand ihm vorzüglich Johannes
von Watteville bei, welcher die deutſchen Gemeinden
beſichtigt hatte, und ihm von allen Sachen Bericht er—
theilte. Er ſelbſt machte im Juni eine Reiſe zum Be⸗
ſuche der Brüdergemeinden durch England. In Briſtol
entſtand eine neue Gemeinde, deren Theilnehmer ſchon
längſt den Brüdern angehört hatten. In Fulneck wurde
Grundbeſitz erworben, an anderen Orten anderes ein—
gerichtet. Ueberall hielt er Muſterung und Anreden,
jetzt auch in engliſcher Sprache, an die Chorabtheilun—
gen, die Gemeindearbeiter, an jeden Einzelnen, in Ful—
neck nach einander an mehr als zwölfhundert Perſonen.
An dieſem Orte geſchah es, daß er in der Singſtunde
nach dem abweſenden Organiſten John Worthington
fragend erfuhr, derſelbe liege in den letzten Zügen,
Biographiſche Denkmale. V. 26
29 402 3: 5
darauf ihn beſuchte, von ihm die Hoffnung bald bei
Chriſtus zu ſein vernahm, aber dagegen ihm erklärte,
er hätte ihn noch gern auf den Gemeindeſaal bei der
Orgel, dann hinzutrat, dem von heftigem Huſten Be—
fallenen die Hand ſegnend auflegte, und hierauf weg—
ging; der Kranke fiel in tiefen Schlaf, erwachte ge—
ſtärkt, ſpielte am dritten Tage die Orgel wieder, genas
völlig, und lebte noch über zwanzig Jahre. Bei ſol—
chen Wirkungen, deren die Brüder doch mit heimlicher
Freude zu ſehr gedenken mochten, lange zu verweilen
oder ſie beſonders hervorzuſtellen, verbot das richtige
Gefühl Zinzendorf's, welches, die Gefahren des furcht—
baren Abweges ahndend, in dieſem Betreff ernſtlich jede
Spielerei mied. Auf einer Synode im November 1754
wurde John Gambold, bisheriger Prediger der Ge—
meinde in London, zum Biſchof erwählt und eingeſeg—
net, da es bei der Vermehrung der Brüder in Eng—
land angemeſſen erſchien, daß dieſe Würde daſelbſt blei—
bend beſetzt wäre. In ſeinen Predigten und Reden
fuhr Zinzendorf mit Eifer fort, auf den Kern aller
Frömmigkeit, auf die Reinheit des Herzens und die
Liebe zum Heilande zu dringen. Von den Streitig—
keiten, von welchen die Brüderſache noch ſtets umgeben
war, ſuchte er ſich möglichſt abzuwenden; er bekannte
übrigens, daß er darin häufig gefehlt habe, bald zu
nachgiebig, bald wieder — wie namentlich gegen die
beiden Wesley — zu ſtreng, und durch ſeine Aeußerun—
gen über die Dreieinigkeit Urſache zu vielen Mißver—
—sn 403 Bi
ſtändniſſen geweſen ſei; man ſolle überhaupt, meinte er,
in die Geheimniſſe der Gottheit nicht eindringen wol—
len, ſondern vor allem ſich an des Heilands Perſon
und Verdienſt halten. Ein kleines Geſangbuch, ein
Kinderbüchlein, und Liturgien und Litaneien zum Ge—
brauch der Gemeinde, gingen in dieſer Zeit aus ſeiner
frommen Stimmung hervor; dieſer, auf herzählendes
Vergegenwärtigen gerichteten Stimmung war auch ver—
wandt, daß er die Namen der im Dienſte des Heilands
heimgegangenen Brüder, ferner die Namen aller Lieb—
haber Jeſu nach der Folge der Jahrhunderte, an die
Saaleswände ſchreiben ließ, und dem Ueberblicke dieſer
Reihen gern erbauliche Betrachtung verknüpfte. Von
dieſer, unter ſolchen friedlichen Arbeiten ruhiger hinge—
gangenen Zeit ſchrieb er: „Es iſt dieſes Jahr 1754 ein
ſtilles liturgiſches Jahr geweſen, ein Jahr eines beſon—
dern Umgangs mit dem Heiland. Viel Erfahrungen;
viel Verheißungen; viel Lektionen.“
Seit beinahe viertehalb Jahren ohne Unterbrechung
befand ſich nun Zinzendorf in England, eine für ſein
bisher ſo wechſelvolles Leben ungewöhnliche Stätigkeit.
Aber endlich riefen Holland und Deutſchland um ſo
ſtärker den ſo lange Abweſenden in ihre Mitte zurück,
als die Nothwendigkeit ſeiner nachhelfenden Hand überall
gefühlt wurde. Zwar gedieh aller Orten die Brüder—
ſache, der Gang der inneren Seelenarbeit wie der Zu—
ſtand der äußeren Anſtalten war im Ganzen befriedi—
gend, doch fehlte es im Einzelnen hie und da, und die
26 *
2 404 32
Brüder hatten ſich ſchon gewöhnt, den Grafen, wie fehr
dagegen er auch eiferte, für den unentbehrlichſten Mann
zu halten. Er wollte jedoch England nicht verlaſſen,
ohne dort alles wohlbeſtellt zu haben. Zur Beſichti—
gung der Gemeinden in England und Irland wurde
Johannes von Watteville, und zu mannigfachen Ge—
ſchäften in verſchiedener Richtung noch gegen dreißig
Mitarbeiter entſandt. Seine nach dieſem Abgange noch
übrige Hausgemeinde ließ er im Februar 1755 größ—
tentheils nach Holland vorausgehen, er ſelbſt aber hielt
ſich noch einige Zeit einſam und ſtill in Lindſeyhouſe,
wo er mit großem Eifer noch die nöthigſten Geſchäfte
ordnete, und auch noch zwei engliſche Schriften für den
Druck ausarbeitete, deren eine in Geſtalt eines Hir—
tenbriefes, zuſammengeſetzt aus Bibelſprüchen, ſoge—
nannte Statuten oder allgemeine Grundſätze des thä—
tigen Chriſtenthums lieferte, eine andre gegen die Feinde
der Brüder eine neue Vertheidigung verſuchte, wozu
er, ungeachtet er dergleichen nicht mehr ſchreiben wollte,
durch vieles Zureden angeſehener Freunde, worunter
auch einige Biſchöfe der engliſchen Kirche, noch zuletzt
vermocht worden war. Auch gab er in einem Anhange
zu den Brüderliedern eine große Anzahl der unver—
fänglicheren Lieder ſeines Sohnes in Druck. Nach
herzlichem Abſchied von ſeinen zurückbleibenden Mit—
arbeitern, ſchiffte er bei widriger See nach Holland
hinüber, und kam den 31. März in Zeyſt an, wo er
die Gemeinde ſogleich durch eine Singſtunde erbaute.
sm 405 2
—
Seine Verſammlungen, Anreden, Berathungen und ver—
traulichen Geſpräche waren wie immer. Ein Hauptan—
liegen aber wurde ihm hier die beſſere Geſtaltung der
Diakonie; man hatte im Beginn nach einem zu großen
Maßſtabe gehandelt, ein bedeutendes Schuldenweſen
war zu ordnen, und ein billiger Vergleich mit den
Gläubigern, wie er in England gelungen, ſehr zu wün—
ſchen. Allein die Sache war für diesmal nicht zu be—
werkſtelligen, auch keine baldige Beſeitigung der Hin—
derniſſe zu hoffen, und der Graf ſetzte nach vierwöchent—
lichem Aufenthalt ſeine Reiſe nach Neuwied fort. Die
kleine Gemeinde daſelbſt beſtand größtentheils aus fran—
zöſiſchen Mitgliedern, die von Herrnhaag dorthin ge—
zogen waren; er hielt ihnen einige Reden in franzö—
ſiſcher Sprache, und gab ſeinen Rath zum erſt begin—
nenden Anbau und noch dürftigen Erwerbweſen. Ueber
Neudietendorf und Ebersdorf, dann über Kleinwelke
und Niesky, wo überall ſein Eifer etwas zu thun fand,
gelangte er am 2. Juni nach Herrnhut.
Dieſer Ort, ſeitdem er des obrigkeitlichen Schutzes
und Wohlmeinens genoß, hatte ſich zum Erſtaunen ge—
hoben und ausgedehnt, neue Gebäude ſtiegen empor,
die Gewerbe blühten, zahlreicher Fremdenbeſuch von
Geringen und Vornehmen fehlte nicht, beſonders zogen
die Kinderanſtalten, welchen auch Auswärtige gern ihre
Söhne und Töchter anvertrauten, viele Perſonen her—
bei. Zinzendorf ſah gerührt dieſes ſichtbare Gedeihen
ſeines Werkes, er dankte dafür dem Heiland innigſt,
— 8 406 22
aber ruhte ſelbſt nur um fo weniger. Eine vorüber—
gehende Krankheit durfte ihn kaum ſtören, unermüdlich
arbeitete er in Berathungen, Erbauungen und Ge—
ſprächen, ſowohl für das Ganze, als für beſondere
Theile und für Einzelne; zu feinen Hausverſammlun—
gen ſtrömte alles herbei, der Saal faßte die Zuhörer
nicht. Dem Chor der Eheleute hielt er beſondre Re—
den, die unerwartet im Druck erſchienen, und nicht
weniges Aergerniß verurſachten; allein ſie waren nach
einem ſchlechtgeſchriebenen Hefte gegeben, das ein Geiſt—
licher in der Lauſitz durch Zufall erhalten, und ohne
allen Fug der Oeffentlichkeit überliefert hatte, ſie konn—
ten daher mit Grund verläugnet werden. Bei dem
Chor der ledigen Schweſtern war nach wie vor Anna
Nitſchmann ſein treuer Beiſtand. Ganz vorzüglich aber
nahm er ſich der Kinderanſtalten an, hielt Bet- und
Singeſtunden und Liebesmahle mit den Kindern, fragte
nach ihrem Herzenszuſtand, und ſuchte ihnen die heißeſte
Liebe zu dem Heiland einzuflößen. Nicht wenigeren
Fleiß widmete er den äußeren Geſchäften; in mehr—
tägigen Berathungen wurde der Haushalt ſtrenger ge—
ordnet, der des Grafen und ſeiner Familie von dem
der Gemeinde beſtimmt abgetrennt, das Schuldenweſen
erwogen, und die ſchon angeordnete eigne Diakonie
jeder beſondern Gemeinde und Anſtalt neuerdings be—
ſtätigt. Im Oktober beſuchte der Graf die Anſtalten
in Barby, wo das Seminarium und Pädagogium der
Brüder blühten, und ſeit kurzem auch ein akademiſches
9 407 G2
Kollegium errichtet war, in welchem außer der Gottes—
gelehrtheit auch die Rechtswiſſenſchaft und Heilkunde
gelehrt wurden, damit die Zöglinge der früheren An—
ſtalten innerhalb des Brüderkreiſes ihren ganzen Stu—
dienlauf vollenden könnten, weil der Beſuch andrer Uni—
verſitäten, wiewohl niemand daran gehindert wurde,
doch in mancher Beziehung ſich nachtheilig gezeigt hatte.
Für die Weltweisheit waren keine Lehrſtühle angeord—
net; fie ſtand in ihrer damaligen Geſtalt bei den From—
men ſehr ungünſtig; von Zinzendorf ſelbſt hatte man
den Reimſpruch:
„Beſſer noch in Phantaſie
Stehn, als in Philoſophie;
Fühlen wird durch Prüfen juſt,
Raiſonniren iſt Verluſt.“
Mit den neuen Lehrern, beſonders aber mit den Aerzten,
unterhielt ſich der Graf ausführlich über die Stellung
und den Gebrauch ihrer Wiſſenſchaften zu der Sache
des Heilands, und empfahl dringend, dieſe in allem als
Richtſchnur feſtzuhalten. Er empfing hier auch vielen
Beſuch von Erweckten aus der Nachbarſchaft, unter de—
nen auch einige Prediger waren, welche, wie auch an—
derwärts häufig vorkam, in ihren ſonſtigen Verhältniſ—
ſen ganz verharrend mit den Brüdern innigſte Gemein—
ſchaft hielten. Im Anfange des Novembers traf er in
Herrnhut wieder ein, zog aber bald nach Bertholdsdorf
in ſein altes Haus, welches er Bethel nannte, richtete
ſeine, der Oertlichkeit gemäß, nur kleine Hausgemeinde
D 408 Es
bei fih ein, und hielt Verſammlungen, Predigten und
Chorreden. Die Chöre der Eheleute, der Wittwer und
Wittwen und der ledigen Schweſtern erfreuten ſich
wiederholt ſeines beſondern Eifers. Er ſuchte jede
Perſon einzeln genau kennen zu lernen, und jeder das
ihr Heilſamſte darzubieten. Mit den Helferinnen hatte
er noch eigne Berathungen, in welchen hinſichtlich der
Jungfrauen unter andern ausgeſprochen wurde, fie hät—
ten ſich dem Heilande treu und keuſch zu bewahren,
auf daß alle ihre Glieder, alle ihre Handlungen, alle
Umſtände ihres Lebens, dem Herrn zur Ehre und Freude
werden möchten.
So ferner in dem Kreiſe von Bertholdsdorf und
Herrnhut, Großhennersdorf, Barby und andern nahen
Orten ſeine perſönliche Anweſenheit wechſelnd, ſetzte er
ſeine mannigfachen Thätigkeiten unermüdet fort. Im
April 1756 wurde eine Synodalkonferenz gehalten,
welche zunächſt die mähriſchen Brüder betraf, und die—
ſen Tropus in ſich ſelbſt und in dem Ganzen der Brü—
dergemeinde abermals befeſtigen half. Eine allgemeine
Synode, zur Berathung und Stärkung in den einge—
ſchlagenen Hauptwegen, und zur Beſorgung vieler ein—
zelnen Geſchäfte, fand im Juni und Juli deſſelben Jah—
res Statt. Während derſelben erlebte Zinzendorf den
härteſten Verluſt, der ihn betreffen konnte. Die Gräfin
war durch das bewegte und angeſtrengte Leben, welches
ſie mit ihrem Gemahl geführt, in ihrer Geſundheit
ſchon lange geſchwächt; ſeit dem Tode ihres geliebten
e 409 BI
Sohnes Chriſtian Renatus hatte ſich ihr Sinn merklich
verändert; ohne beſonders zu leiden, nahm ſie allmäh—
lig ab, und entſchlief endlich am 19. Juli ſanft und
ſchmerzlos im dreiundfünfzigſten Lebensjahre. Sie wurde
allgemein ſo ſchmerzlich beweint, daß Zinzendorf ſelbſt
als Tröſter auftreten mußte, und die Rathſchlüſſe des
Heilands auch in dieſem Heimgange zu ehren mahnte;
ſie ſei müde geweſen, ſagte er, und habe ſich nach dem
Sabbath geſehnt. Ihren hohen Werth und das reine
Glück ſeiner Ehe hatte er von jeher liebend und prei-
ſend anerkannt. Neun Jahre vor ihrem Tode bezeugte
er öffentlich von ihr in den naturellen Reflexionen:
„Ich habe fünfundzwanzig Jahr aus Erfahrung gelernt,
daß die Gehülfin, die ich habe, die einzige geweſen, die
von allen Enden und Ecken her in meinen Beruf paßt.
Wer hätte ſich in meiner Familie ſo durchgebracht?
Wer hätte vor der Welt ſo unanſtößig gelebt? Wer
hätte mir in Ablehnung der trocknen Moral ſo klug
aſſiſtirt? Wer hätte den Phariſäismus, der ſich alle
dieſe Jahre hindurch immer herbei gemacht, ſo gründ—
lich gekannt? Wer hätte die Irrgeiſter, die ſich von
Zeit zu Zeit ſo gerne mit uns vermengt hätten, ſo tief
eingeſehen? Wer hätte meine ganze Oekonomie ſo viele
Jahre ſo wirthſchaftlich und ſo reichlich geführt, wie
es die Umſtände erfordert? Wer hätte mir den Detail
des Hausweſens ſo ungerne und doch ſo ganz abgenom—
men? Wer hätte ſo ökonomiſch und doch ſo nobel ge—
lebt? Wer hätte ſo apropos niedrig und hoch ſein kön—
32 410 88
nen? Wer hätte bald eine Dienerin, bald eine Herrin
repräſentirt, ohne weder eine beſondere Geiſtlichkeit zu
affektiren, noch zu mundaniſiren? Wer hätte in einer
Gemeinde, wo ſich alle Stände beeifern einander gleich
zu werden, aus weiſen und realen Urſachen eine gewiſſe
Diſtinktion von außen und innen zu mainteniren ge—
wußt? Wer hätte einem Ehegatten ſolche Reiſen und
Proben paſſiren laſſen? Wer hätte zu Land und See
ſolche erſtaunliche Mitpilgerſchaften übernommen und
ſoutenirt? Wer hätte die Welt ſo apropos zu ehren
und zu verachten gewußt? Wer hätte unter ſo man—
cherlei faſt erdrückenden Gemeindeumſtänden ſein Haupt
immer empor gehalten und mich unterſtützt? Wer end—
lich unter allen Menſchen hätte, ereignenden Falles, ein
wahreres, ein plauſibleres, ein überzeugenderes Zeugniß
von meinem innern und äußern Privatweſen ablegen
können, als eine Perſon von ihrer Kapaeität, von ihrer
Nobleſſe zu denken, und von ihrer Unvermengtheit mit
allen den theologiſchen Vorgängen, in die ich verwickelt
worden!“ Früher ſchon, im Jahre 1738, ſagte er in
einem Gedicht von ihr:
„Ihre wicht'ge Rede,
Die ſie an mich thut,
Und ſo manche Töde
Lieblich nennt und gut,
Ihres Geiſtes Weide,
Was die Sinnen ſchmerzt,
Macht mein Herz voll Freude,
Munter und beherzt.
45 411 92
Meine Herzensſchweſter!
Du biſt wirklich ſo,
Wie die Fürſtin Eſther,
Deines Stands recht froh.
Unter Centnerlaſten
Stehſt du aufgericht,
Als wenn ſie dir paßten;
Ja, ſie drücken nicht! —
Einen Blick der Freude
Und der Innigkeit,
Sah man, wenn wir beide
Eine kurze Zeit
Von einander waren,
Und uns wiederſahn,
In den ſechszehn Jahren
Dir beſtändig an.“ u
Sie wurde von Allen, welchen fie näher bekannt gewor—
den, auf gleiche Weiſe geſchildert; da aber keine Ei—
genſchaft tüchtig ſein kann, ohne Widerſpruch zu wecken,
ſo hatte auch die ſeltene, hochſinnige Frau die bedenk—
liche Ehre allgemeinen Lobes nicht, ſondern manche An—
feindung, und ſogar die gröbſten Verläumdungen wohl—
gemuth erfahren! Zinzendorf machte ſich es zum eig—
nen Geſchäft, die mit ihr verlebten vier und dreißig
Jahre vor dem Heilande ganz zu überdenken, die em—
pfangenen Gnaden mit beſchämtem Dank, ſeine dabei
nunmehr ihm bemerklichen Fehler und Mängel aber
mit reuigen Thränen anzuerkennen.
9 412 Bo
Die Güter, welche bisher auf feiner Gemahlin
Namen geſtanden, ließ Zinzendorf, der ſich mit welt—
lichem Eigenthum nicht mehr befaſſen wollte, nunmehr
auf ſeine Tochter Benigna übergehen, welcher demnach
von den ſämmtlichen Erbunterthanen und Schutzgenoſſen
in herkömmlicher Art gehuldigt wurde. Er ſelbſt wandte
ſeine Thätigkeit unverdroſſen wie ſonſt auf die Sache
des Heilands; er ſorgte nah und fern für die Angele—
genheiten der Gemeinde, erbaute ſie durch Reden und
Schriften, und traf die wichtige Einrichtung, daß alle
Aemter, damit es nie an geübten und bewährten Die—
nern fehlen möchte, doppelt beſetzt wurden. Nach Ae—
gypten und Abyſſinien gingen neue Boten ab. Große
Mühen gaben auch die Niederlaſſungen der Brüder in
Nordamerika; der Krieg zwiſchen Frankreich und Eng—
land brachte dort vielfache Bedrängniſſe. Der Einbruch
der Preußen in Sachſen, mit welchem in dieſem Jahre
der ſiebenjährige Krieg anhob, wurde zur bedenklicheren
Störung, deren Ausgang Zinzendorf, welcher nicht ohne
tiefe Bekümmerniß, doch mit gottergebener Faſſung in
dieſen Sturm hineinſah, nicht mehr erleben ſollte. Herrn—
hut ſah die kriegführenden Heere ganz in ſeiner Nähe,
von beiden Theilen ſtanden ſogar öfters große Streit—
kräfte, im Auguſt 1757 bis zu 200,000 Mann, in die⸗
ſer Gegend angehäuft, und Durchmärſche, Lieferungen
und andres Ungemach verſchonte die Brüderorte nicht.
Allein im Ganzen blieben ſie vor ärgſten Schreckniſſen
bewahrt, und Beſuche frommer oder auch bloß neugie—
39 413 83
riger Kriegsbefehlshaber brachten Schutz und Anſehn.
Die Gemeinde blieb in ihrem gewohnten Gange, alle
Arbeiten wurden fortgeſetzt; auch Zinzendorf ſelbſt än—
derte nichts in ſeinem Thun, nur hielt er ſich einſamer
als ſonſt in ſeinem Hauſe, und litt nicht, daß von den
Zeitläuften viel die Rede wäre. Sogar neue Bauten,
ein neuer Gemeindeſaal, ein Haus für die Mädchen—
anſtalt, ein neues Chorhaus für die Wittwen, kamen
in dieſer Kriegeszeit, von welcher man ſonſt nur Hem—
mung und Zerſtörung zu ſehen hatte, glücklich zu Stande,
und zeugten von dem beſonderen Segen, der über Herrn—
hut waltete.
Seine ſtilleren Arbeiten unterbrach Zinzendorf auch
jetzt bald wieder durch kleine Reiſen; er beſuchte im
März 1757 Ebersdorf, im Mai die Gemeinden in Schle—
ſien. Im Juni und Juli hielt er Synodalberathungen
wieder in Herrnhut, wobei zur Leitung der Geſammt—
ökonomie, ſo wie der verſchiedenen Diakonien der ein—
zelnen Zweige, ein oberſtes Kollegium wirklich gebildet
wurde; man fand auch im Geiſtigen ohne Unterlaß zu
wachen und zu beſſern, und ließ ſich durch die merkliche
Abnahme der früheren Anfeindungen nicht einſchläfern.
Nicht nur wurden die Laſter, welche ſich in einzelnen
Unwürdigen etwa zeigten, mit ſtrengem Eifer ausgetilgt,
auch den Irrthümern und Unarten, welche hin und wie—
der noch vorkamen, wandte man ſorgſame Abhülfe zu,
und ſuchte die Gemeinde in jeder Hinſicht rein zu hal—
ten, indem auch die Aufnahme in dieſelbe ſtets erſchwert
em 414 Di
wurde. Das Wichtigfte jedoch, was ſich für den Gra—
fen und für die Gemeinde in dieſer Zeit ereignete, war
ſeine neue Verheirathung. Durch den Tod der Gräfin
hatte ſeine ganze Lebenseinrichtung einen großen Riß
erfahren, ſein gewohnter Gang war unterbrochen, und
ſeine Tage geriethen in merkliche Unordnung. Der
Haushalt kam in Zerrüttung, die Pilgergemeinde, welche
demſelben angehörte, ging auseinander. Zinzendorf
ſelbſt gab ſich ungeregelt ſeinen Arbeiten hin, nahm
gewöhnlich die Nacht zu Hülfe, und ſchwächte damit
feine ohnehin ſchon wankende Geſundheit. Seine ein—
ſichtsvollen Freunde und Mitarbeiter überlegten die
Sache, und kamen dahin überein, daß er ſich baldigſt
wieder vermählen ſollte. Dieſer ihm eröffnete Rath
und Wunſch fand Eingang, und mit dem Entſchluſſe
war auch ſogleich die Wahl entſchieden. Sollte ihm
eine zweite Gattin werden, ſo konnte dieſe nur Anna
Nitſchmann ſein, die bewährte Freundin und Gehülfin
des Grafen und vieljährige Aelteſtin der Gemeinde, in
welcher ihre Arbeit unter den Schweſtern reich geſegnet
war. Ihr reiferes Alter, noch jüngere Tage gleichſam
bewahrend, ſchien den Verhältniſſen eben gemäß, ihre
geringe Herkunft durfte nach der Denkart der Brüder
kein Hinderniß ſein. Die Verläumdungen, welche ſchon
längſt den reinen und edlen Umgang dieſer befreunde—
ten Seelen zu ſchmähen geſucht, waren zu niedrig, um
irgend berückſichtigt zu werden. Da ſich alles günſtig
für den neuen Bund vereinigte, ſo konnte die Trauung
oe 415 S
ſchon am 27. Juni 1757 in Bertholdsdorf vor ſich ge—
hen, wovon Zinzendorf nachher alle Gemeinden durch
ein beſonderes Schreiben, mit Angabe ſeiner Gründe
und Betrachtungen, benachrichtigte. Seine Lebensweiſe
geſtaltete ſich hierauf wieder freundlicher; die Hausge—
meinde wurde hergeſtellt; ſeine Reden und Erbauungen,
ſeine vielfachen Geſchäftsarbeiten gingen wie ſonſt, nah—
men aber auch mit ſichtbarem Nachtheil ſeine Nächte
noch oft in Anſpruch, welches man vergeblich abzuſtel—
len ſuchte. 8
Zwei Monate darauf trat er mit ſeiner Gemahlin
eine Reiſe nach der Schweiz an; ſein Schwiegerſohn
und ſeine beiden Töchter, Benigna und Eliſabeth, be—
gleiteten ihn nebſt mehrerem Pilgergefolge. Ueber Barby
und Marienborn begab er ſich zunächſt nach Montmi—
rail, um die dortigen Brüder zu beſuchen. Hierauf
ging er nach Genf, Bern, Aarau und Baſel, an wel—
chen Orten aus allen Gegenden der Schweiz und aus
dem Elſaß die zahlreichſten Freunde ſich um ihn ver—
ſammelten, und ſeinen Vorträgen, die er theils deutſch
theils franzöſiſch hielt, mit Eifer beiwohnten. Die
Rückreiſe fiel ſchon in den Winter; durch die mannig—
fachen Anſtrengungen ſeiner geiſtigen Arbeiten geſchwächt,
wie er denn inmitten alles übrigen Treibens auch noch
die Looſungen und andre erbauliche Schriften zum Druck
förderte, und von den Beſchwerden der Jahrszeit hart
befallen, kam er durch Schwaben und Franken erkrankt
nach Ebersdorf, wo ſein Zuſtand den Seinigen und
sm 416 Et
ihm ſelbſt einen nahen Heimgang anzudeuten ſchien.
Doch in des Heilands Willen gern ergeben, nahm er
nun ſeine unvermuthete Geneſung dankbar an, wie er
ſeine Abberufung empfangen hätte, und traf am Ende
des Januars 1758 wieder in Herrnhut ein. Seine
Thätigkeit konnte aber nicht ruhen; er gab ſich mit ge—
wohntem Eifer ſeinen Vorträgen und allen Anſprachen
hin, die ſich ihm zudrängten; er hielt neue Berathun—
gen, aus welchen eine nochmalige Vermehrung der Ar—
beiter, die Abtheilung der Chöre in mehrere Klaſſen,
die Verfertigung von Hymnen und Liturgien für jedes
Chor, und ſonſtige Nachhülfe aller Art hervorging; da—
zwiſchen machte er kleine Reiſen, oft in ungünſtigſtem
Wetter, und ſtrengte ſich durch alles dieſes dergeſtalt
an, daß ihn im April ein Entzündungsfieber, welches
damals herrſchte, gewaltig ergriff und dem Sterben
nahe brachte. Doch genas er auch diesmal, aber wie—
derum nur, um ſich neuen Arbeiten zu unterziehen.
Bei kaum hergeſtellter Geſundheit reiſte er im Juni
gleich wieder nach Neuſalz, um dortigen Berathungen
beizuwohnen, wo vieles von der Lehre und den Ein—
richtungen der Brüder verhandelt wurde. In Klein-
welke bei Bauzen beſuchte er eine Gemeinde von Wen—
den, die er in ihrer frommen Richtung und ihrem ei—
genthümlichen Beſtehen ernſtlich bekräftigte. Nachdem
er hierauf in Barby einige Wochen zugebracht, entſchloß
er ſich ſogar zu einer größeren Reiſe nach Holland, wo
mancherlei Verhältniſſe der Brüder ſein Wiederkommen
e 417 a
wünſchenswerth zu machen ſchienen, und auch vieles
Nöthige in Betreff der Niederlaſſungen in Nordamerika,
welche der Krieg durch Indianer und Europäer hart
heimſuchte, ſo wie überhaupt der Miſſionen, deren Ge—
deihen ſtets Einwirken erforderte, gelegner anzuordnen
war.
In Heerendyk, wo er mit ſeiner Hausgemeinde ſich
zum Wohnen einrichtete, nahm er, auf Rath und An-
dringen ſeiner Nächſten, zwar einige Rückſicht auf ſeine
Geſundheit, lebte ſehr mäßig, hielt feſtgeſetzte Stunden
zum Mittag- und Abendeſſen, arbeitete nicht in die
Nacht hinein, und widmete täglich eine beſtimmte Zeit
dem Spazierengehen und freundſchaftlichem Geſpräch;
allein er ſchonte ſich in der übrigen Zeit um ſo weni—
ger, hielt täglich drei Verſammlungen mit feiner Haus—
gemeinde, mannigfache Berathungen, und griff, wie im—
mer, redend, ſchreibend und ordnend überall ein. Vor
allem drang er unabläſſig dahin, daß die Gemeinde
von innenher blühte und gediehe; es ſei möglich, meinte
er, daß noch eine höhere Gnadenökonomie komme, wenn
aber das Evangelium irgend in einer größeren Klarheit
ausbrechen ſollte, als die Brüder bis dahin es gehabt,
ſo wären ſie verbunden, ſich gleich mit anzuſchließen,
und ihre bisherige Geſtalt nicht länger zu bewahren,
als dieſelbe dem Heiland ein nützliches Werkzeug ſeiz
in dieſer Geſinnung freilich dürften, ſo hoffte er, ſie
dem Geiſte nach ein ſolches Werkzeug bis zum Ende
aller Zeiten bleiben. Er fertigte von Holland aus
Biographiſche Denkmale. V. 27
Sm 418 DU
—
mehrere Boten ab, nach Grönland, nach Nord- und
Südamerika, und zum erſtenmale nach Oſtindien, wo—
hin die Brüder auf die däniſchen Beſitzungen durch den
König ſelbſt eingeladen worden. Die beſondre Sorg—
ſamkeit des Grafen erfuhr auch der nächſtliegende Brü—
derort Zeyſt, den er häufig beſuchte, und wo der Ge—
meinde, durch ſeine Vermittelung, wichtige Grundſtücke
geſichert wurden. Eine allgemeine Synode, die er zu
verſammeln wünſchte, mußte wegen des fortwährenden
Kriegs noch aufgeſchoben bleiben. Die Noth und Ge—
fahr dieſer Unruhen traf die Brüder an manchen Orten
ſehr hart; Sachſen und beſonders Schleſien waren der
Schauplatz der blutigſten Schlachten und verderblichſten
Truppenzüge; Herrnhut ſah wechſelnde Sieger; viele
Ortſchaften, wo Brüder wohnten, wurden gänzlich zer—
ſtört; die meiſten Gemeinden litten von Einquartierung
und Geldforderungen großes Ungemach, ſo Neuwied,
wo die franzöſiſchen Truppen lange gehauſt hatten, und
ein troſtreicher Beſuch des Grafen ſehr willkommen
war. Er kehrte von hier nach Holland zurück, wo er
bis gegen die Mitte des Novembers noch in Zeyſt un—
ter gewohnten Arbeiten verweilte, dann aber mit ſeinem
Gefolge, jedoch ohne ſeine Tochter Benigna und ihren
Gatten, welche nach England zur Viſitation der dorti—
gen Gemeinden übergeſchifft waren, ſeine Rückreiſe nach
Sachſen antrat. Nach einigem Aufenthalt in Barby
und Kleinwelke kam er zur Chriſtnacht in Herrnhut an,
und beging dieſe und den Antritt des Jahres 1760 mit
39 419 2
der Gemeinde ſehr andächtig und feierlich. Hier fan—
den ſich auch alsbald Benigna und Johannes von Wat—
teville aus England wieder ein, und Zinzendorf hatte
die Freude, mit letzterem, der in Anſichten und Hand—
lungsweiſe ſeit einigen Jahren merkbar von ihm abwich,
welches ihrer Liebe zwar nicht Eintrag gethan, doch
aber manche Aeußerung über den beſtehenden Unterſchied
verurſacht hatte, durch herzliche Verſtändigung in die
frühere Einigkeit zurückzukehren. Ueberhaupt widmete
er dem inneren Zuſtande der Seelen, auf welchen ihm
alles ankam, auf's neue den ſorgſamſten Fleiß. Die
ganze Gemeinde beſprach er einzeln der Reihe nach, um
jedes Mitglied ganz kennen zu lernen, ihm zu helfen,
zu rathen, und alle in gleicher Richtung zu erhalten.
Das Fortbeſtehen der Brüderfache glaubte er neben der
Führung der Aemter beſonders von der Wahl der Per—
ſonen abhängig, welchen die Aufnahme in die Gemeinde
geſtattet würde. Man ſolle hiebei, empfahl er dringend,
nur mit größter Vorſicht verfahren, und die Schwierig—
keiten lieber mehren als mindern; die Brüdergemeinde
ſei als eine Anſtalt zu betrachten, welche beſonderen
Zwecken der Vorſehung diene, nicht aber für jeden Men—
ſchen zum Seelenheil erfordert werde; nicht wer über—
haupt ſelig werden wolle, ſondern wer zu dieſem eigen—
thümlichen Wege, das Heil zu erlangen und zu fördern,
ſeinen beſondern Beruf unzweifelhaft darthue, ſei in
die Gemeinde aufzunehmen; ebenzſo habe man bei den
Verheirathungen, durch welche der eigentliche Stamm
27 *
3m 420 BL
der anfäffigen Einwohner und Bürger der Gemeinde—
orte fortgepflanzt würde, genau darauf zu achten, was
dem Ganzen erſprießlich ſei; das Häuflein ihrer Mit—
glieder möchte immerhin klein bleiben, wenn es nur die
Gnade des Heilands bewahre. Eifrig empfahl er hin—
gegen zu herzlichem Verkehr und traulichem Anſchließen
die ächten Kinder Gottes und Liebhaber des Heilands,
welche ſich in allen Religionen vertheilt fänden, und,
ohne Glieder der Gemeinde fein zu können, doch an
deren ſegenreichem Wirken Theil zu haben wünſchten.
Solcher zugewandten Freunde, in der Welt ausgeſtreut,
und daher Diaſpora genannt, haben in der That von
jeher eine große Zahl ſich den Brüdern angehörig er—
halten, und als eine auch dieſen fruchtbare Genoſſen—
ſchaft erwieſen. So ſtellte Zinzendorf gegen das Ende
ſeiner Laufbahn das ausgebildete Werk ſeines Lebens
auf denſelben Grundſätzen neuerdings feſt, auf welchen
daſſelbe auch im unentwickelten Anfang ſchon glücklich
gediehen war. Mit Dank und Rührung blickte er häu—
fig auf jene frühere Zeit zurück, heiter und muthig ſah
er eben ſo der nächſtkommenden entgegen. Für die Sy—
node, welche mit dem erſehnten Frieden erwartet wurde,
ſuchte er die Arbeiten mit großem Fleiße möglichſt vor—
zubereiten. Seine täglichen Geſchäfte betrieb er mit
großem Eifer. Die Looſungen für das Jahr 1761 fer—
tigte er zum Druck. Im Anfange des Mai unterbrach
er dieſe Arbeiten, und ſchickte ſich an, nochmals eine
Reiſe nach Holland zu machen. Eine andre Unter—
brechung jedoch war dieſem und jedem ferneren Vor—
haben zugedacht.
Seine Gemahlin erkrankte, und zwar ſo heftig,
daß man alsbald an ihrem Aufkommen zweifeln mußte.
Doch ehe noch dieſe Krankheit zur Entſcheidung kam,
ſah er ſich ' ſelbſt von einer ſchneller entſchiedenen be—
fallen. Sein Körper befand ſich ſchon ſeit längerer
Zeit, wie die häufigeren Krankheiten der letzten Jahre
bewieſen, in einem Zuſtande der Schwächung, der ihn
für jeden Eindruck empfindlicher machte. Den 5. Mai
1760 fühlte er ſich unwohl, verrichtete aber noch ſeine
vormittägige Arbeit, ſetzte ſich mittags zu Tiſch, machte
dann ein Gedicht auf den Feſttag der ledigen Schwe—
ſtern, und beſuchte deren Liebesmahl, bald jedoch mußte
er ſich zu Bette legen, und von dem herbeigerufenen
Arzte wurde die Krankheit für ein hitziges Katharral—
fieber erklärt. Schon gewohnt an ſolches ihm mehr—
mals im Jahre wiederkehrendes Uebel, ſah er doch gleich
den jetzigen Anfall als etwas beſonderes an. Abends
redete er mit ſeinen drei Töchtern und einigen Haus—
genoſſen ſehr vertraulich und lieblich über ſeinen Zu—
ſtand. In jeder Krankheit, ſagte er, habe er ſonſt einen
Wink des Heilands vorausgeſetzt, und auch immer, bei
genauerem Forſchen, leicht erkannt, und darauf gethan,
was zu ſeiner inneren Beſſerung nöthig geweſen, wor—
auf die äußere bald erfolgt; diesmal aber ſei es an—
ders, der Heiland verweiſe ihm nichts, ſondern gebe
ihm ein heitres Gemüth und einverſtandene Zuverſicht.
559 422 83
In großer Schwäche brachte er die nächften Tage, in
faſt gänzlicher Schlafloſigkeit die Nächte zu, doch wollte
er nicht gleich allem Antheil an den Geſchäften ent—
ſagen, und ließ ſich noch die neueſten Nachrichten von
den Heidenbotſchaften der Brüder vorleſen. Der zu—
nehmende Huſten hinderte ihn am Reden, doch bekam
er am 8. einige Erleichterung, und ſprach viel mit den
Umſtehenden, unter welchen ſeines älteſten Freundes
Friedrich von Watteville Gegenwart ihn beſonders
freute; die vertrauteſten Gemeindearbeiter wechſelten
Stunde um Stunde bei ihm ab, und empfingen ſeine
liebevollſten, zärtlichſten Worte, die er mit den freu—
digſten Blicken begleitete. Einem Anfall von Steckfluß,
der ihm die Zunge ſchwer machte, entrang er ſich wie—
der, ließ am 9. Mai in aller Frühe Johannes von
Watteville rufen, und ſagte ihm, der ganz nahe zu ihm
ſich hinbeugen mußte, mit ſchwacher Stimme: „Mein
lieber Sohn, ich werde nun hingehen. Ich bin mit
meinem Herrn ganz verſtanden. Er iſt mit mir zu—
frieden. Ich bin fertig zu ihm zu gehen. Mir iſt
nichts mehr im Wege.“ Darauf ſprach er mit ihm
noch über einige Gegenſtände der letzten Berathungen,
und empfahl ſie ſeiner Obhut. Friedrich von Watte—
ville und David Nitſchmann empfingen auch noch liebe—
volle Worte von ihm. Seine Töchter, die er ſodann
rufen ließ, grüßte und ſegnete er mit freundlichen
Blicken und Neigung des Hauptes, konnte aber, durch
einen neuen Steckfluß gelähmt, nicht mehr mit ihnen
— 8 423 33
reden. Um fein Bette her und in den nächſten Zim⸗
mern hatten ſich unterdeß wohl hundert Brüder und
Schweſtern verſammelt; er ſah ſich einigemal freund—
lich nach ihnen um, nahm ihre thränenvollen Abſchieds—
blicke heiter auf, legte ſein Haupt zurück, ſchloß die
Augen, und während Johannes von Watteville die
Worte ſagte: „Herr! nun läſſeſt du deinen Diener in
Frieden fahren!“ hauchte er mit dem Worte „Frieden“
den letzten Athem aus. Alſo verſchied Zinzendorf,
deſſen Sterben nicht, wie das mancher Andern, nur
als das Ende ihres Lebens obenhin, ſondern, als eine
weſentliche Mitgift und Verherrlichung m. Lebens,
umſtändlich zu berichten war.
Sein Heimgang wurde der Gemeinde, wie dies
bei jedem Sterbefalle an Brüderorten zu geſchehen
pflegt, durch Poſaunentöne verkündiget. Die ganze
Gemeinde verſammelte ſich nachmittags auf dem Bet—
ſaale, vernahm von Johannes von Watteville eine
kurze, dem Vorgang gewidmete Rede, fiel auf die
Kniee, und pries den Heiland, der durch den Abgeſchie—
denen ſo viele Gnade gewirkt. Am folgenden Tage
wurde der Leichnam mit einem weißen Talar bekleidet,
wie ſolchen bei Kirchenhandlungen die Biſchöfe der
Brüder zu tragen pflegen, in einem violet beſchlagenen
Sarge ausgeſtellt, und von der ganzen Gemeinde chor—
weiſe beſichtigt. Erſt am 16. Mai, nachdem bis dahin
der geſchloſſene Sarg noch immer von wechſelnden Ge—
ſellſchaften der Brüder und Schweſtern unter erbau—
iD 424 I
lichen Geſprächen und Geſängen umſtellt geblieben, er:
folgte das Begräbniß. Daſſelbe mitanzuſehen waren
aus der umliegenden Gegend über zweitauſend Fremde
nach Herrnhut gekommen, unter ihnen angeſehene öſter—
reichiſche Offiziere, und ſelbſt von den in Zittau ſtehen—
den Truppen eine Ehrenwache Kaiſerlicher Grenadiere.
Außer den fremden Zuſchauern begleiteten zweitauſend—
einhundert Gemeindeglieder den Sarg, welchen zwei—
unddreißig Prediger und Diakonen, wie ſie eben aus
verſchiedenen Gemeinden, zum Theil aus Holland, Eng—
land, Nordamerika und Grönland, zugegen waren, ab-
wechſelnd trugen. Unter Muſik und Abſingung von
Liedern, auch des Chorals: „Ei wie ſo ſelig ſchläfeſt
du, und träumeſt ſüßen Traum!“ geſchah die Beſtat—
tung auf dem Hutberge, dem Gottesacker der Ge—
meinde, mit den üblichen Gebräuchen, während eine
ſtille Ehrerbietung alle Anweſenden und ein ſeliger
Frieden ganz Herrnhut erfüllte. Dem Grafen wurde
ſpäter ein Leichenſtein geſetzt, als beſondre Ausnahme
von der ſonſtigen Gleichheit für ihn ein größerer, als
die der Andern, mit der Inſchrift: „Allhier ruhen die
Gebeine des unvergeßlichen Mannes Gottes, Nikolai
Ludwigs, Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pot-
tendorf, der durch Gottes Gnade und ſeinen treuen
und unermüdeten Dienſt in dieſem achtzehnten Sekulo
wieder erneuerten Brüderunität würdigſten Ordinarit.
Er war geboren zu Dresden am 26. Mai 1700 und
ging ein zu Herrnhut in ſeines Herrn Freude am
m 425 Bi
9. Mai 1760. Er war dazu geſetzt, daß er Frucht
bringe, und eine Frucht, die da bleibe.“ Ihm zur Lin-
ken lag ſeine erſte Gemahlin begraben, bald auch wurde
zu ſeiner Rechten ihm die zweite zugeſellt; ſie folgte
ihm noch in demſelben Monate nach, mit gleicher hei—
teren Ergebung in des Heilands Willen. Mit ſeiner
erſten Gemahlin hatte Zinzendorf ſechs Söhne und
ſechs Töchter gehabt, von welchen aber die meiſten früh
wieder verſtorben waren, nur drei Töchter überlebten
ihn, Benigna, vermählt mit Johannes von Watteville,
Marie Agnes, welche den Grafen Moritz von Dohna,
ebenfalls ein Mitglied der Brüdergemeinde, heirathete,
und Eliſabeth, deren Gemahl ein Freiherr Friedrich
von Watteville wurde. Sie folgten nebſt ihren Gatten
den Wegen des Vaters treu und eifrig nach, und blie—
ben der Brüdergemeinde hülfreich angeſchloſſen und in
geſegnetem Andenken.
Zinzendorf war von Geſtalt groß, in der Jugend
ſchlank, in ſpäteren Jahren wohlbeleibt; ſein Anſehn
deutete auf Kraft und Geſundheit, die nur durch An—
ſtrengungen erſchüttert worden. Seine Haltung und
Geberden waren ungezwungen, oft nachläſſig, doch vor—
nehm und bedeutend; man ſah ihm den höheren Stand
an, in welchem er geboren worden. Sein Geſicht hatte
wohlgebildete Züge, einen ſchönen Mund, eine hohe
Stirn, ſeine blauen Augen waren voll dunklen Feuers
und milder Freundlichkeit. Sein Erſcheinen war ſo—
gleich gewinnend, ſein Benehmen offen, zutraulich und
BD 426 S
liebreich, mit Leuten geringen Standes voll gleichſtel—
lender Güte, mit Gebildeten und Vornehmen fein und
gemeſſen. Weich und klangvoll trug ſeine Stimme
ſeine fließende Rede, ſeinen wohltönenden Geſang; ſein
Geſpräch reizte durch eigenthümlichen Gehalt und an—
muthige Wendungen. Unter allen Umſtänden behielt
ſeine Rede die ſorgloſe Natürlichkeit der gewöhnlichen,
bequemen Umgangsſprache, ohne Schmuck und Aufſpan—
nung, und nur erhaben, feierlich, rührend und fort—
reißend, wenn die Gewalt des Innern ſie dazu machte.
Mit jeder Sinnesweiſe und Denkart, auch mit ganz
feindlicher, wußte er geſchickt und nicht ſelten fruchtbar
zu verkehren; dabei verläugnete er ſeine eigne Mei—
nung keineswegs, ſondern ſagte ſie in unverſtellter Auf—
richtigkeit grade heraus, und damit bisweilen dem Hörer
die härteſte Wahrheit, ohne daß dieſer beleidigt wor—
den wäre. Ein überwiegendes Anſehn, das von ihm
ausging, kannte er wohl, und mochte deſſen Wirkung
nicht grade zurückhalten. Die natürliche Stimmung
ſeines Weſens aber, wenn ſie nicht geſtört wurde, war
zutrauliche Einfalt und harmloſe Fröhlichkeit, ſie ging
in muntre Laune und ſogar in ſtreitbaren Scherz und
Witz über, wenn hiezu der Anlaß war. Regten irgend
Eindrücke ihn tiefer an, ſo entfaltete ſich die Kraft ſei—
nes drangvollen Herzens, ſeines feurigen Gemüths und
beflügelten Geiſtes in leidenſchaftlicher Fülle. Die reiz—
barſte Seele, von lebhaften Vorſtellungen bewegt, führte
jeden ergriffenen Gegenſtand ſtets allzu leicht zur Ueber—
BD 427
treibung, und welchſelte darin von einem Aeußerſten
zum andern. Sein aufwallender Eifer übte häufig zu
große Strenge, ſeine zärtliche Vorliebe nicht ſelten zu
große Nachſicht; oft ertrug er mit größter Geduld har—
ten Widerſpruch und Tadel, meiſt aber ſetzte ihn auch
ſchon der kleinſte Einwurf, den er nicht erwartet hatte,
in unverhältnißmäßige Hitze, bis er Zeit gewann ſich
zu beſinnen. Ein bei kleinen Umſtänden hartnäckig ver—
weilendes Schelten und Zanken, z. B. über eine nach
ſeinem Dünken unrecht geſtellte Bank, war ihm, wie
überhaupt jenem Zeitalter, eigen; hatte ſein Unmuth
ſich ergoſſen, ſo war jedoch alles vorbei, und ſeine
Heiterkeit jedes hohen Schwunges fähig. Leicht ein—
genommen von einer Vorſtellung, ließ er ſie dann un—
bedingt herrſchen, ſo lange es ging; ſo war in einer
Zeit das Wort arme Sünder alles bei ihm, in andrer
war es das Blut der Verſöhnung, und eben ſo ver—
tauſchte er dies wieder mit andrem Lieblingsausdruck,
worein man ſich denn fügen mußte. In ſpäterer Zeit,
da fein großes, umfaſſendes Gedächtniß öfters in der!
Treue nachließ, wurde dies eine Quelle mancher Son—
derbarkeit, da er Dinge läugnete, deren Beweiſe vor—
lagen, und andre behauptete, die nie ſo geſchehen waren;
denn er hatte ſich gewöhnt, ganze Ereigniſſe nur in
Einem ihrer Bezüge zu beurtheilen und feſtzuhalten,
und wollte dann in der Folge ſie auch nur in dieſem
einen, oft von andren Mitwiſſern unbeachteten Bezuge
gelten laſſen.
on 428 8-8
Mit einer großen Phantaſie begabt, aus deren
mächtiger Gluth ſeine raſtloſe Thätigkeit ſich ſtets er—
neute, war er jeden Augenblick ſich ſelber zum Ge—
brauche fertig, der Begeiſterung ſicher, wo und wie ſie
gefordert war. Doch ihm diente das Feuer ſeiner Ein—
bildungskraft nicht ſowohl, als es ihn vielmehr be—
herrſchte und leitete; die von daher belebten Vorſtellun—
gen wirkten mächtiger ſogar, als das unmittelbare Ge—
fühl, welches ſeinem Herzen zu jeder menſchlichen Theil—
nahme ſonſt reichlich inwohnte. Hierüber ſagt er ſelbſt
im Anfange der naturellen Reflexionen: „Ich habe die
Bequemlichkeit nicht, unter die Leute zu gehören, die
entweder vom Gefühl regieret, oder durchs Gefühl ſa—
tisfacirt, oder auch nur durch Gefühl amufirt würden:
ich gehöre unter die denkende Leute, und unter die
Leute, die ſehr abftraft denken, die geſchwind denken,
und denen die Gedanken zu nahe an einander hängen,
um einen oder mehreren übrigen Bildern dazwiſchen
Raum zu laſſen. Ich verwerfe die Empfindung nicht;
ich halte ſie für einen beſondern Tropum der Providenz
mit dem menſchlichen Gemüth zu handeln; ich habe
durch meinen Beruf was davon kennen gelernt; ich bin
ſelbſt nicht ohne Empfindung geblieben; und in ſo ferne
ſie unter die inneren Fakultates gehört, ſo habe ich
doch das unentbehrlichſte davon bei Gelegenheit auch
zur Hand gehabt: aber ich kann mich auf keine Weiſe
unter diejenige zählen, die die Empfindung als ein Ta—
lent anzuſehen haben.“ Seltſam aber nennt er hier
aD 429 K
Denken, was eben nicht dieſes, wobei es vor allen
Dingen auf geſetzlichen Zuſammenhang der Begriffe
ankommt, ſondern nur gleichſam ein raſches Bewegen
eines geiſtigen Inhalts iſt, und ungeachtet der logiſchen
Gebilde dieſes aufgeregten Inhalts doch weſentlich der
Phantaſie angehört. Denn wiewohl Zinzendorf ſich
mit den höchſten Gegenſtänden der Erkenntniß unauf—
hörlich beſchäftigte, und oft die tiefſinnigſten Erſchaue
glücklich faßte, ſo kann man doch den Namen eines
Denkers dem nicht vorzugsweiſe beilegen, der ſeine
Gedanken nur als eine Mannigfaltigkeit beſitzt, ohne je
eine Einheit und Mitte zu geſtalten, aus der ſein ge—
ſammtes Wollen und Schauen ſich folgerecht ableitete.
Wir haben geſehen, wie ſehr der Mangel an Wiſſen—
ſchaftlichkeit in ſeiner Glaubenslehre ihn ſelbſt und ſeine
übereilt nach Zufall ergriffenen Behauptungen bloßge—
ſtellt ließ. Seine Begabung lag nicht nach dieſer
Seite, deſto reichlicher nach einer andern. Er war
auserſehen zu lebendigem Wirken auf Welt und Men—
ſchen, und darin iſt er gewiß den erſten Männern aller
Zeiten zu vergleichen. Hiezu waren alle Talente in
ihm vereinigt; Fähigkeit, einen großen würdigen Ge—
genſtand zu erfaſſen, und in allen ſeinen Zerſplitterun—
gen und Verfremdungen niemals zu verlieren; richtige
Einſicht im Allgemeinen von Welt und Menſchen, takt—
volles Urtheil über ſie im Einzelnen, vielartigſte Klug—
heit und Gewandtheit ſie zu behandeln; Leichtigkeit
zum Anordnen und Ausführen; erfinderiſche Mannig—
BD 430 8-3
faltigkeit in Hülfsmitteln und Auswegen, mit ſtets
feſtem Abſehn auf das Ziel; kühnes Vorſchreiten und
behutſames Maßhalten; Stärke des einſamen wie des
öffentlichen Handelns; Muth, Geiſtesgegenwart, Aus—
dauer, ohne welche nichts vollbracht wird; zu allem
dieſen das unauslöſchliche Feuer der arbeitſamſten Thä—
tigkeit, und die ſtets gerüſtete Macht der Beredſamkeit,
der ſchriftlichen und mündlichen, das wahre Meiſter—
zeichen des Staatsmannes, — wir fragen, welcher we—
ſentlichen Eigenſchaft Zinzendorf zu einem ſolchen wohl
noch entbehrte? Ein Staatsmann unſtreitig war er,
ein Staatsmann erhabner Art, wie der Fürſt und das
Reich ihn bedingten, denen ſein Dienſt gewidmet war.
Er floh die hieſigen Geſchäfte nur aus Liebe zu den
höchſten, die allein ihm genügen konnten. Auf dieſem
Standpunkt, auf dieſer Bahn möchte gegenwärtige Le—
bensbeſchreibung ihn vorzugsweiſe gezeigt haben.
Doch ſo große und reiche Eigenſchaften, wie glän—
zende Perſönlichkeit ſie auch für die Welt gebildet hät—
ten, würden hier noch wenig bewirkt haben, ohne den
tiefen und mächtigen Gehalt, der ſie als heilige Flamme
durchleuchtete und bewegte, die Glaubensbegeiſterung
und Frömmigkeit, welche von Anbeginn und bis zum
letzten Hauche das Leben Zinzendorf's erfüllten. Ins—
beſondre auf den Heiland bezogen, war dieſe religiöſe
Durchdrungenheit der unerſchütterliche Grund alles ſei-
nes Treibens. Welcherlei Drangſal ihn auch betreffen,
in welche Verwirrung er auch gerathen mochte, ſtets
j
| I
4
— 8431 >
fand er in ſeinem Innern die heilige Stätte wieder,
in welcher ihm Zuflucht und Stärkung ſicher war. Da—
her konnten keine Abſchweifungen der Phantaſie, keine
Schwachheiten des Gemüths und Mängel des Geiſtes
ihm dauernd ſchaden, weil unter allem dieſen der ächte
Quell der Frömmigkeit dort fortrauſchte, und er zur
Rückkehr dahin den Weg nie verlor. Daß man an der
Aechtheit dieſer Frömmigkeit oft gezweifelt, daß auch
wohl ſeine Nächſten an ihm irr geworden, und ſogar
ſeine Tante witzig von ihm geſagt, er habe im Reiche
der Demuth nach der oberſten Stelle geſtrebt, dies
darf uns nicht befremden. Auch wir läugnen die Ein—
miſchung vieler Irrthümer, weltlicher Abſichten und ir—
diſcher Hülfsmittel in Zinzendorf's Handlungen keines—
wegs; er war allerdings neben dem frommen auch der
vornehme Mann, zugleich ein Diener und das Haupt
der Gemeinde, ließ oft den ſchmeichelhaften Verehrun—
gen ſeiner Perſon und ſeines Namens allzu vielen Raum,
ſuchte ſein Werk und Anſehn auch vor der Welt gün—
ſtig herauszuſtellen; oft beherrſchte ihn Willkür, leitete
ihn Vorurtheil, beſtimmte ihn perſönliche Rückſicht; dem
allgemeinen Menſchengeſchick im bewegten Weltleben
entging er nicht. Doch die Perſönlichkeit, welcher Gro—
ßes aufgetragen iſt, muß auch ſelber bedeutend auftre—
ten, ihr eignes und die höheren Intereſſen verſtricken
ſich unauflöslich, und laſſen ſich nicht mehr getrennt
behandeln. Ein erfahrner und dabei kindlicher Menſch,
wie Zinzendorf war, wird immer ſich ſelbſt als näch—
55 432 .
ſten Gegenſtand empfinden, wird oft und ausführlich
von ſich zu reden haben, ſein Thun und Leiden, ſein
Wollen und Hoffen, ja ſein Verdienſt und ſeine Tugend
erörtern müſſen, ohne daß man ihn deßhalb eitler Selbſt—
liebe beſchuldigen darf. Allein hier kann Zahl und Art
ſolcher Mängel, wie ſie der gemeine Tag erſcheinen
läßt, nichts entſcheiden; wenn die Frage iſt nach Fal—
ſchem oder Aechtem, ſo kommt es auf die Urbezeichnung
an, welche das innerſte Weſen trägt, und in dieſem
Betreff, wir wiederholen es, ſteht uns Zinzendorf in
unzweifelhafter Reinheit und Würdigkeit.
Was er hervorgebracht, iſt ſeine beſte Lobrede.
Sein Werk, verbreitet in allen Welttheilen, beſtehet in
ſegenreichem Fortgang. In Deutſchland, Holland, Groß—
britannien, Dänemark, Schweden, Rußland, in Nord—
und Südamerika, Grönland, Afrika, Weſt- und Oſt—
indien, ſind herrnhutiſche Gemeindeorte, Kolonien oder
Miſſionen, in welchen überall, nach jetzt einſtimmigen
Zeugniſſen, ſtiller Fleiß und glücklicher Frieden herrſcht,
und ein eigner Geiſt der Frömmigkeit ſich in den Ein⸗
richtungen Zinzendorfs mit ſeltner Treue fortpflanzt.
Nicht jeder nach einem ſeligen Leben verlangende Fromme
darf die Brüderanſtalten für ſein Bedürfniß angeordnet
glauben, Zinzendorf ſelbſt warnt oft gegen dieſen Irr—
thum, aber jedem unbefangenen Beobachter werden ſie
in ihren Ergebniſſen ſtets achtungswerth erſcheinen müf-
ſen. Ein vorzügliches Bild herrnhutiſcher Sinnesart
und Verhältniſſe hat Goethe in den Bekenntniſſen einer
e 433 S
ſchönen Seele niedergelegt; daſſelbe iſt dem inneren
Gehalte nach ſo wahr und ächt, als durch die Dar—
ſtellung reizend und eindringlich, und wir müſſen mit
Schiller übereinſtimmend hier die Macht des Genie's
bewundern, durch welche dieſen Stoff die Dichtung ſo
gründlich, wie es ſonſt nur die von der Sache ſelbſt
erzeugte Geſinnung könnte, ſich angeeignet hat. Frie—
drich Leopold Graf zu Stolberg bezeugt dies gültig.
Ein würdiges Bild von Zinzendorf's perſönlichem Auf—
treten hat Steffens in den Kreis ſeiner Dichtungen von
den Familien Walſeth und Leith erfreuend eingeflochten.
Blicken wir von dem gelungenen Werke Zinzen—
dorf's auf ſein ſtrebendes Wirken zurück, ſo finden wir,
daß allerdings dieſes letztere durch eine wunderbare
Vereinigung vieler mitwirkenden Vortheile begünſtigt
werden mußte, um ein ſolches Ergebniß liefern zu kön—
nen. Schon der Grafenſtand Zinzendorf's iſt in dieſem
Betracht von nicht zu überſehender Wichtigkeit; nach
ganzen Richtungen hin und durch manchen ſchwierigen
Moment erhielt ſich die Sache vorzugsweiſe auf jener
Stütze. Es bedurfte der politiſchen Verhältniſſe von
Deutſchland, ihrer Zerriſſenheit und Gegenſätze, ferner
der erſchöpften Zuſtände der proteſtantiſchen Kirche über—
haupt, damit ſolch neue Religionsweiſe Boden gewänne,
und ſich zu eigenthümlichem Beſtande ausbildete. Nicht
weniger gehörte dazu, daß der Stifter nur mit Be—
geiſterung, aber ohne eigentlichen Plan handelte, denn
einen ſolchen, dem er nach ausgedachten Grundlinien
Biographiſche Denkmale. V. 28
Hm A434 Bi
zu einem beſtimmten Ziel gefolgt wäre, hat er nie ge—
habt; in der freien Lebensbewegung allein konnte dieſe
Sache den wenigſten Hinderniſſen begegnen, nur nach
und nach aus ſich ſelbſt und den Umſtänden ſich geſtal—
ten. Merkwürdig bleibt es immer, auch unter allen je—
nen Begünſtigungen, wie grade zwiſchen den verheerend—
ſten Weltſtürmen — die Kriege Karls des Zwölften
wütheten im Anfange des Jahrhunderts, die Kriege
Friedrichs des Großen über die Mitte hinaus, — und
neben der entgegenſtehenden, erfolgreichen, zu Glanz
und Herrſchaft gelangenden Denkart des Zeitalters, in
welchem das Genie und die Thätigkeit Voltaire's wirk—
ten, dieſe milde Friedensgeſtalt chriſtlicher Frömmigkeit
glücklich emporwachſen konnte. Nicht vergeſſen ſei hier
auch die große Zahl tüchtiger und zuverläſſiger Män—
ner, die als treue Gehülfen ſich zu dem Grafen fanden,
die Chriſtian David, Nitſchmann, Dober und ſo viele
andre Männer zum Theil von größtem Karakter und
Gaben, und wie ſie ſtets um einen Höheren, zu deſſen
Beglaubigung und Dienſt, unbegreiflich woher auf ein—
mal, ſich verſammeln. Dieſe waren zugleich eine Pflanz⸗
ſchule würdiger Nachfolger Zinzendorf's. Unter ihrem
ordnenden Wirken, durch Johannes von Watteville,
Gregor, Layritz und Andre, beſonders aber durch Span—
genberg's langjährige Thätigkeit, hat die Brüderge—
meinde ſich in der Folge von vielen Uebertreibungen
gereinigt, die Spielereien und Ueppigkeiten in Liedern
und Gebräuchen noch mehr abgeſchafft, und ihre Ver—
on 435
faffung auf gründlichen Einrichtungen neu befeftigt.
Auch der Haushalt der Geſammtheit, welche bei Zin—
zendorf's Ableben noch gegen 150,000 Thaler Schulden
gehabt haben ſoll, kam auf ſichern Fuß. Dabei wurde
in den weſentlichen Anordnungen des Stifters, deſſen
Namen ſtets in größten Ehren gehalten wird, nur we—
niges geändert; noch immer waltet ſein Geiſt und Sinn;
auch ſeine beſondre Sprachweiſe, in zarter Naivetät
vieler herkömmlichen Ausdrücke die gleiche für den ge—
wöhnlichen Umgang wie für den kirchlichen Gebrauch,
verblieb den Herrnhutern bis auf den heutigen Tag ein
treulich überliefertes Vermächtniß.
Als Schriftſteller war Zinzendorf ungemein frucht—
bar und wirkſam; über hundert ſeiner Werke, größere
und kleinere, ſind gedruckt, ſie finden ſich an den ge—
wöhnlichen Orten verzeichnet, die wichtigſten theils im
Früheren auch hier ſchon angegeben; eine Menge von
Briefen, Tagebüchern und andern Aufſätzen, find hand⸗
ſchriftlich aufbewahrt. Der Werth dieſer Arbeiten iſt
ſehr ungleich, es findet ſich kein einziges durchbildetes,
gediegenes Werk darunter, aber in den meiſten ſchöne
Gedanken, hinreißendes Gefühl, anmuthige und geiſt—
reiche Wendung. Die natürliche, nach Eingebung und
Behagen des Augenblicks leicht hinfließende Umgangs—
ſprache, die er auch im Schreiben behielt, verſchaffte
ihnen bei den verſchiedenſten Klaſſen deſto leichter Ein—
gang. In ſeinen Gedichten trägt er meiſt die Schuld
ſeiner Zeit, welche in dichteriſcher Bildung ſehr zurück—
28 *
9 436 8.
ſtand; wir haben daher nur genügende, nicht reichliche
Proben ſeiner Verſe mitgetheilt, laſſen jedoch gern hier
zum Schluſſe noch einige ſchöne, an einem Thomastage
von ihm verfaßte Strophen folgen, welche durch Inhalt
und Ausdruck gleicherweiſe befriedigen:
„Ach einem Thomasglücke
Auf ein paar Augenblicke,
Dem wollt' ich zu gefallen
Gern tauſend Meilen wallen.
Mich zum Gerippe ſehnen,
Und einen Bach von Thränen
Aus meinen Augen ſchütten,
Wenn Er ſich ließ erbitten!
Doch, lieber Gott, was wähl' ich?
Mach mich beim Glauben ſelig:
Willſt du die Augen binden,
Das Herz kann blindlings finden.“
Seine Proſa hingegen iſt ſehr oft vortrefflich, und läßt
bedauern, daß ſo ſchöne Anlagen nicht in eine günſti—
gere Zeitbildung gefallen ſind. Die deutſche Sprache
rang damals in roher Unſicherheit zwiſchen den trau—
rigſten Abwegen hin; ſie ſchleppte ein barbariſches Ge—
miſch, das ſie weder abwerfen noch bemeiſtern konnte.
Die Verhältniſſe, unter welchen Zinzendorf ſchrieb, lie—
ßen ihn grade am tiefſten in dieſen Uebelſtand eingehen.
Er weiß es ſelbſt, daß er darin alles Maß überſchrei—
tet, allein er kann und mag dies nicht ändern, und lei—
sm 437
tet den Fehler nicht nur genügend her, ſondern verfucht
ihn ſogar mit Gründen zu rechtfertigen. Er beginnt
die Vertheidigung ſeines Stils mit einem Geſchichtchen:
„Der Graf N. in Ungarn, — erzählt er, — (iſt er
geſtorben, ſo iſt's nicht lange), hatte vielleicht die be—
ſten Pferde in ganz Europa. So wenig aber vor die—
ſem die Offiziers von einer Uniforme wußten, ſo wenig
bekümmerte ſich der Graf N. feiner Pferde couleur zu
egaliſiren. Dahero konnt's leicht ſein, daß Braune und
Rappen vor Eine Kutſche kamen. Kurz, ohne zu ſagen,
wie weit es ging, ſo waren eben feine Karoſſiers di-
versi coloris. Das werden ihm nun wohl die Herrn
Ambaſſadeurs in den nächſten Jahren kaum nachthun:
aber Herren, die zugleich gute Wirthe ſind, haben ihm
das ſchon abgelernet, nämlich mehr auf die Gleichheit
der Güte, als der Farbe der Pferde zu reflektiren.“
Dies wendet er nun auf die Miſchung verſchiedener
Sprachen an, und fährt fort: „Ich weiß, daß die
bigarrure des stili, welchen ich auf den Kredit eines 5
meiner Herren Gegner nunmehro ins ſiebzehnte Seku—
lum ſetze, mit Vorbehalt, mein jus quaesitum auf die
Schreibart des ſechszehnten, debito loco et tempore,
auch wieder hervorzuſuchen, in Deutſchland ganz ab—
kommt, und daß der Karakter des achtzehnten Sekuli,
welches ſich ſehr mit der Bagatelle vecupirt, und über
welches unſre ſpäte Nachkommen gewiß mehr kritiſiren
werden, als wir über alle vorhergehenden, hat es bei
unſern Landsleuten ſo mit ſich gebracht, daß ſie es
Biographiſche Denkmale. V. 29
5 438 So
kurzum mit der freien deutſchen Sprache in dreißig
Jahren dahin haben wollen, wohin es mit der franzö—
ſiſchen, die doch von dem nutu eines einzigen und ziem—
lich abſoluten Kollegii dependirt hat, binnen hundert
Jahren kommen iſt; ohne im geringſten zu konſideriren,
daß ſich ein franzöſiſcher Profeſſor in der Provinz zu
Tod ſchämen würde, wenn er ander Franzöſiſch redte
und ſchriebe, als zu Paris; da hingegen in Deutſch—
land faſt auf einer jeden Univerſität der Jargon des
Landes in vollem Flor bleibt, darinnen die Univerſität
liegt. — Dieſer Inkorrigibilität des Dialekts ungeach—
tet find fie faſt alle eins worden, ihre Sprache wort—
reicher zu machen meme aux depens du sens commun,
und ſich lieber nur halb und noch zehnmal unverſtänd—
licher, als zuvor, auszudrucken, ehe ſie ein fremd Wort
brauchten. Wie die ehrbare deutſche Tracht abkam, die
in einem Theil des Reichs und zu Zürich noch am
eigentlichſten obtinirt, ſo behielten ſie die Prediger; da—
her ich immer den Separatiſten gezeigt, daß ſie dieſe
Tracht der Prediger billiger zur Modeſtie als zum
Hochmuth auszulegen hätten. So geht mir's mit dem
stilo des ſiebzehnten Sekuli. Ich halte darüber, ja ich
pouſſire ihn weiter als zuvor, und vermehre ſeine la—
teiniſche und griechiſche und franzöſiſche emphases mit
engliſcher, auch wohl holländiſcher Energie: aber gewiß
nicht ſowohl, um mich in dieſen Sprachen zu exereiren,
als aus der allerſeriöſeſten Abſicht, meinen wahren
Sinn ſo gut als möglich auszudrucken, und von aller
— = 439 Bo
Aequivokation zu befreien, und dabei freilich Einigen
lieber ganz unverſtändlich zu bleiben, denen ich doch
mit einer noch ſo deutſchen Expreſſion mich nicht deut—
licher machen könnte, hingegen andern und geſetzten
Leuten, die ſich das Forſchen nicht verdrießen laſſen,
eine möglichſt unzweideutige Auskunft zu geben. Ich
bin von Herzen bereit, alle die fremden in einheimiſche
phrases zu verwandeln, ſobald mir jemand aquipollente
Ausdrücke in meiner Mutterſprache dazu zeigt. Bis
dahin will ich den engliſchen und holländiſchen bon sens
imitiren, der alle benachbarte Sprachen naturaliſirt hat,
die ihm ſeinen Sinn ganzer machen helfen. Denn das
iſt ja der Zweck aller Sprachen: das dient ad esse der
Sprachen; die Eleganz gehört nur ad bene esse.” In-
zwiſchen will er dieſes Einmengen nicht über das Be—
dürfniß treiben, ſondern die Reinigung, ſobald ſie ge—
ſchehen kann, ſtets vorziehen. So ſagt er ausdrücklich:
„Die Poeſieen in den Sammlungen waren ſo beſchaf—
fen, daß ſie noch alle erſt ihre letzte limam künftig
kriegen ſollten, und wurden nur einſtweilen aufbehal—
ten. Daher ſetzte man eben den Sinn hin, in was für
einer Sprache man ihn am nächſten und glücklichſten
exprimiren könnte, en attendant, daß ſich das deutſche
Wort einmal dazu fände.“ Man ſieht, daß er mit der
Praxis eine leidliche Theorie verband, in einigem ſo—
gar dem Einſpruche zuſtimmte, welchen der große Phi—
lolog Friedrich Auguſt Wolf gegen übertriebenen Pu—
rismus zu erheben pflegte. .
29 *
2m 440 Bo
Zinzendorf's Leben iſt ſchon oftmals befchrieben
worden, am ausführlichſten von Spangenberg, in ehren—
werthem Sinn und mit genauem Fleiß, indeß bei allem
Raume von acht Bänden in einigen Richtungen doch
nur allzu kurz gefaßt. Gedrängtere Darſtellungen ha—
ben Reichel und Duvernoy verſucht. Die Nachrichten
des Grafen von Lynar ſind nur bedingt anzunehmen;
er hat Zinzendorf'en nie geſehen. Die Schilderung,
welche Johann Georg Müller in Schaffhauſen aus ge—
druckten Hülfsmitteln zuſammengeſtellt hat, iſt ein ſehr
gelungenes Werk. Ein kurzer Aufſatz von Herder faßt
bezeichnende Züge in raſchen Ueberblick. Aus vertrau—
ter perſönlicher Bekanntſchaft hat der jüngere Freiherr
von Schrautenbach, der Sohn deſſen, bei welchem Zin—
zendorf in Lindheim zu Beſuch geweſen, eine merkwür—
dige Karakterzeichnung des Grafen entworfen, die erſt
neuerlich im Druck herausgegeben worden, ſie verdient
die größte Anempfehlung. Von den vielen zu verſchie—
denen Zeiten gemahlten Bildniſſen Zinzendorf's will
man ein um das Jahr 1740 von Kupetzky verfertigtes
als das in jedem Sinne glaubhafteſte auszeichnen; nach
ihm hat kürzlich F. Lehmann ein wohlgelungenes Kupfer—
bild geliefert.
Ueberblicken wir dieſen Lebenslauf nochmals, legen
wir gegeneinander, was Leid und Freude, Bekümmer—
niß und Glück, Niederes und Höheres, Zagen und Zu—
verſicht, an dieſem Herzen für Theil gehabt, und zie—
hen wir die Summe des Guten wie die des Schlech—
ap 441 Bo
ten, fo müffen wir uns wohl fagen, daß Zinzendorf ein
feliges Leben geführt, wie nur wenigen Menfchen es
beſchieden iſt! Sein Leben iſt als ein glückliches und
beneidenswerthes auch von ſolchen anzuerkennen, die
weder ſeines Glaubensbekenntniſſes noch ſeiner Sinnes—
art ſind, noch ihm nachzuahmen den Wunſch und Be—
ruf haben. Und ſo dürfen wir auch von ganz allge—
meinem Standpunkt aus, beim Anſchauen dieſes Man—
nes, in ganz weltlicher Betrachtungsweiſe, hier mit der
Bemerkung ſchließen, daß überall ſolcher Segen wal—
tet, wo der Menſch in den Kämpfen der Welt nicht
ihr ſelbſt, ſondern einem höheren Leben ſich vertrauen—
voll zuwendet. —
Nachweiſung der gebrauchten Hülfsmittel.
Graf Ludwig von Zinzendorf.
Handſchriftliches über und von Zinzendorf, ein Volumen Akten,
im Königlichen Geheimen Staatsarchiv zu Berlin. J
Zinzendorf's eigne Schriften, deren langes Verzeichniß bei Span—
genberg nachzuſehen iſt.
Leben des Herrn Nikolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zin—
zendorf und Pottendorf, beſchrieben von Auguſt Gottlieb
Spangenberg. s. J. et a. 8 Bde. 8.
Woldershauſen, Leben Zinzendorf's. Wittenberg, 1749. 2
Thle. 8
Leben des Grafen von Zinzendorf, Stifters der Brüdergemeine.
Von Gottlieb Benjamin Reichel. Leipzig, 1790. 8.
Kurzgefaßte Lebensgeſchichte Nikolai Ludwigs Grafen und Herrn
von Zinzendorf und Pottendorf, von Jakob Chriſtoph Dü—
vernoy. Barby, 1793. 8.
Die Geſchichte der alten und neuen Herrnhuter und ihres Stif—
ters N. L. Grafen von Zinzendorf, entworfen und beurtheilt,
und aus dem Holländiſchen überſetzt von M. J. E. H. Scholl.
Tübingen, 1805. 8.
— 8 443 S
Erinnerungen an den Grafen Zinzendorf. Berlin, 1828. 8.
Von Ludwig Balthaſar von Schrautenbach in Darmſtadt,
Goethe's und Merck's Freunde.
J. G. von Herder's Schriften. Stuttgart und Tübingen,
1827 ff. 60 Bde. 12.
Archenholtz Litteratur- und Völkerkunde, 1786. Auguſt.
Darin: von Schachmann Apologie des Grafen Zinzendorf.
Bekenntniſſe merkwürdiger Männer von ſich ſelbſt. Herausge—
geben von Johann Georg Müller. Dritter Band. Winter—
thur, 1795. 8.
S. 1 bis 302 Zinzendorf.
Des Herrn von Loen geſammelte Schriften. Frankfurt und
Leipzig, 1753. 4 Thle. 8.
Zedler's Univerſallexikon. Artikel Zinzendorf.
Herrnhutiſche Geſangbücher, alte und neue.
Beſchreibung und zuverläſſige Nachricht von Herrnhut in der
Oberlauſitz, wie es erbauet worden, und welcher Geſtalt nach
Lutheri Sinn und Meinung eine recht chriſtliche Gemeine
ſich daſelbſt geſammlet und eingerichtet hat. Leipzig, 1735. 8.
Alte und neue Brüder-Hiſtorie, oder kurzgefaßte Geſchichte der
evangeliſchen Brüder-Unität in den ältern Zeiten und inſon—
derheit in dem gegenwärtigen Jahrhundert. Von David
Cranz. Barby, 1772. Erſte Fortſetzung, 1791. Zweite
Fortſetzung, 1804. 3 Bde. 8.
Büſching, Nachricht vom Urſprung, Fortgang und gegenwär—
tiger Verfaſſung der Brüder-Unität, 1781. 8.
Cranz Hiſtorie von Grönland. Barby, 1770. 8.
Oldendorp's Geſchichte der Miſſion der evangeliſchen Brüder
auf den karibiſchen Inſeln Sankt-Thomas, Krux und Jan.
Barby, 1777. 8.
Büſching's Magazin. Bd.
Darin: Des Grafen von Sa Rail von der Herrn—
huter Brüdergemeinde. 4
A G
Spangenberg's kurzgefaßte hiſtoriſche Nachricht von der gegen:
wärtigen Verfaſſung der Evangeliſchen Brüder A. C. 1772. 8.
Joh. Lorey's ratio disciplinae unitatis fratrum A. C. oder
Grund der Verfaſſung der Evangel. Brüderunität der A. C.
Barby, 1789. 8.
M. Johann Gottfried Häntzſchel's nöthige Anmerkungen über
die in dem Herrnhutiſchen Geſangbuche befindlichen Irrthümer,
Veränderungen und Redensarten. Wittenberg, 1734. 4.
Vollſtändige ſowohl hiſtoriſche als theologiſche Nachricht von
der Herrnhutiſchen Brüderſchaft. Durch eine nach Herrnhut
angeſtellte Reiſe perſönlich eingeholet. Frankfurt und Leip—
zig, 1735. 4.
Siegfried's beſcheidene Beleuchtung des vom Herrn Dr. Baum—
garten in ſeinen theologiſchen Bedenken gefälleten Urtheils
über die evangeliſch-mähriſche Kirche u. |. w. Leipzig,
1744. 4.
Mit einem guten Kupferbild Zinzendorf's, von Buſch in
Berlin geſtochen.
Gewiſſenhaftes Bedenken eines Politici über die durch den
Herrn Grafen von Zinzendorf und deſſen Mitbrüder verur—
ſachte Kirchentrennung. Frankfurt und Leipzig, 1745. 4.
Chriſtoph Gabriel Fabricii entlarvtes Herrnhut. Wittenberg
und Zerbſt, 1745. 4.
Joh. Albr. Bengel's Abriß der ſogenannten Brüdergemeinde.
Stuttgart, 1751. 2 Thle. 8.
Zuverläſſige Beſchreibung des nunmehr ganz entdeckten Herrn—
hutiſchen Ehegeheimniſſes nebſt deſſen 17 Grundartikeln mit
mehreren merkwürdigen, die Lehre, Lebensart, Abſichten der
ſogenannten Mähriſchen Brüdergemeinde betreffenden Um—
ſtänden von H. J. Bothen. Frankfurt, 1751. 2 Thle. 8.
Noch viele Gegenſchriften, zum Theil im Buch erwähnt, zum
Theil von Zinzeudorf in ſeinen Schriften aufgezaͤhlt.
Risler's Leben A. G. Spangenberg's, 1794. 8.
Auguſt Hermann Francke. Eine Denkſchrift zur Säkularfeier
ſeines Todes. Von Dr. Heinrich Ernſt Ferdinand Guerike.
Halle, 1827. 8.
9 445 4
Lebensgeſchichte Johann Jakob Moſer's, von ihm ſelbſt beſchrie—
ben. 1768. 8.
Die Fortbildung des Chriſtenthums zur Weltreligion. Von
Dr. n Friedrich von Ammon. Leipzig, 1833 — 35.
3 Thle. 8.
Erſch und Gruber's Eneyklopädie. Artikel Brüderunität.
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