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Full text of "Biologische Studien"

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WASHINGTON, D. C. 
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Greifswald. i SR 
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Biologische Studien. 


I. Das biologische Grundgesetz. 


f 
Dr, Rudolf Arndt, 


Professor an der Universität Greifswald. 


’ExX ndvewv Ev nal 2E Evo navee. 
Heraklit. 


Greifswald. 
Verlag und Druck von Julius Abel. 
1822. 


Vorrede. 


Den sich für biologische Vorgänge interessierenden Kreisen 
übergebe ich hiermit eine Reihe von Abhandlungen, welche 
bestimmt sind, Licht über etliche der ersteren zu verbreiten. 
Ein Paar dieser Abhandlungen sind in kürzerer Form, gewisser- 
massen als vorläufige Mitteilungen, schon in medizinischen 
Zeitschriften erschienen, so die unter 3 und 6 aufgeführten in 
der Berliner Klin. Wochenschrift 1889 No. 44 und 1890 No. 8, 
und die unter 4 stehende in der Wiener mediz. Presse 1890 
No. 14 und ı5. Um sie, beziehentlich ihren Inhalt auch Nicht- 
Medizinern bekannt zu machen, habe ich sie danach noch ein- 
mal überarbeitet und dabei durch Heranziehung neuer That- 
sachen das, was sie beweisen sollten, noch mehr zu erhärten 
gesucht. Mit einer Anzahl anderer, doch denselben Gegen- 
stand behandelnder, zu einem Ganzen verbunden erscheinen sie 
nun wieder. Die etwaigen alten Bekannten mögen desshalb 
nicht aufdringlich erscheinen und darum von vornherein ungünstig 
aufgenommen werden. 

Dem erwähnten Ganzen, das aus den in Betracht kommenden 
Abhandlungen besteht, ist gleichsam als Einleitung zu ihm der 
Aufsatz: „Leben und Lebensäusserungen“ voraufgeschickt 
worden. Er soll den Standpunkt darlegen, welchen ich zu dem 
fraglichen Gegenstande einnehme oder auch, wie derselbe gerecht- 
fertigt werden kann. Ich gebe mich nicht der Hoffnung hin, 
dass ich da gleich viel Beifall finden werde; im Gegenteil, 
ich bin darauf gefasst, dass man mir mehr als genug vorwerfen 
werde, ich bewege mich zu sehr im Reiche der Hypothesen; 
allein wenn ich das zunächst auch werde hinnehmen müssen, so 
vergesse doch niemand, dass Thesen, Lehrsätze, welche sich 
noch Einwürfe gefallen lassen müssen, trotz aller gegenteiligen 
Versicherungen, doch auch noch nicht Thesen in wissenschaft- 


II 


lichem Sinne sind, sondern ebenfalls nur als Hypothesen gelten 
können. Sollte mir nichtsdestoweniger doch jemand zu sehr das 
Hypothetische meiner Ansichten zum Vorwurf machen, so kann 
er das nur auf Grund von Hypothesen thun, auf denen er fusst, 
ohne es zu wissen. Er hält sie für Thesen. Aber all’ unser 
biologisches Wissen ist nur ein hypothetisches. Es beruht auf 
Wahrscheinlichkeitsrechnungen, welche von einem gewissen Stand- 
punkte unserer Erkenntnis aus unternommen worden sind. Mit der 
Änderung dieses müssen sich daher auch jene ändern. Vieles, 
was heute noch von dem gerade eingenommenen Standpunkte 
aus gültig ist, muss morgen hinfällig werden. Vieles indessen 


3 


wird auch an Stützen und damit an Wahrscheinlichkeit, beziehent- - 


lich Gewissheit gewinnen. Denn je mehr sich unsere Erkennt- 
nis mit der Vermehrung unserer Kenntnisse, unseres Wissens, 
erweitert, um so mehr werden sich die jeweiligen Hypothesen 
festigen und Thesen nähern. Sie werden zwar damit noch 
keinen strengen Beweis auszuhalten vermögen; allein je mehr sie 
erklären und wahrscheinlich machen, um so mehr nähern sie sich 
bewiesenen oder des Beweises fähigen Sätzen. Je grösser dar- 
um der Umfang einer Hypothese wird, je reichhaltiger ihr Inhalt 
sich gestaltet und gliedert, je mehr in Folge dessen durch sie, 


beziehentlich bereits bekannte Dinge und Vorgänge erklärt wird, - 


um so mehr Anspruch auf Gültigkeit kann sie wenigstens für 
so lange machen, bis sie durch eine andere, namentlich um- 
fassendere ersetzt worden ist. Ich gehöre darum auch keines- 
wegs zu den Leuten, welche der Hypothese so feind sind, dass 
sie immer und überall gegen dieselbe eifern. Ich weiss eben, 


dass unser Wissen ein zumeist nur hypothetisches ist, und kann 


mich darum auch nicht zu der Ansicht bekennen: Was wir 
wissen, wissen wir; wir brauchen bei Hypothesen keine An- 
leihe zu machen. Im Gegenteil, weil unser Wissen, namentlich 
unser biologisches Wissen ein blos hypothetisches ist, müssen 
wir bei weiter gehenden, natürlich auf Thatsachen beruhenden, 
durch Induction gewonnenen Hypothesen viele Anleihen machen, 
damit wir nur weiter kommen, nicht sitzen bleiben und ver- 
sumpfen. 

Viele der bisherigen biologischen Anschauungen sind nun 
aber durchaus unhaltbar geworden; ja sie sind geradezu als 
widerlegt zu betrachten. Nichtsdestoweniger sind sie noch immer 


II 
im Schwange und spielen sogar eine grosse, selbst massgebende 
Rolle. Vor Allem gilt dies von der Spontaneität des Lebens, 
beziehentlich der Automatie seiner einzelnen V orgänge. Allein 
es giebt keine Automatie, jedenfalls keine räumlich begrenzte. 
Jede hierher gehörige Thätigkeit ist als eine reflektorisch er- 
folgende und damit als eine bedingte erkannt worden. Die Lebens- 
thätigkeit an sich kann deshalb auch nur eine solche sein, und 
von einer Spontaneität derselben, wie des Lebens überhaupt zu 
reden, ist ein Unding. Das Leben ist etwas von der ganzen 
übrigen Welt Abhängiges, durch sie Vermitteltes. In welcher 
Weise die fragliche Abhängigkeit sich macht, die bezügliche 
Vermittelung stattfindet, das soll der in Rede stehende ein- 
leitende Aufsatz darzuthun suchen. 

Es wird das dem Aufsatz, wie ich schon ausgesprochen 
habe, fürs erste wohl kaum gelingen. Wenn neue Wege er- 
öffnet und angebahnt, alte verlassene erneuert und wiederher- 
gestellt werden, so sind sie selten gleich bequem zu benutzen. 
Hier und da ist es vielleicht sogar beschwerlich, auf ihnen fort- 
zukommen, weil sie nur notdürftig hergerichtet, wohl gar 
fehlerhaft ausgeführt worden sind. Erst mit der Zeit werden 
sie besser gang- und fahrbar. Sie müssen erst gehörig betreten 
und befahren, mit diesen und jenen Bequemlichkeiten versehen 
werden, hier eine Erhöhung, Aufdämmung, dort eine Vertiefung, 
Abtäufung erfahren, ja an einem dritten Punkte Geländer, 
Mauern, festere Brücken erhalten, an einem vierten wohl gar 
verlegt und zugleich mit Stufen und Treppen versehen werden; 
trotzdem und alledem führen sie doch immer schon in erträglicher 
Weise in ein bisher oder doch wenigstens zur Zeit noch unbekanntes, 
weil unnahbares Land und verstatten vielleicht gerade an den 
misslichsten, dem Anscheine nach gefährlichsten Stellen Aussichten 
und Einblicke in dasselbe, welche bisher kaum geahnte Förde- 
rungen nach den verschiedensten Richtungen hin erhoffen und 
selbst schon erkennen lassen. 

Mit der Zeit, so hoffe ich, werden denn auch trotz der zu- 
nächst erwarteten vorläufigen Ablehnung der Ansichten, welche 
der einleitende Aufsatz bringt, dieselben doch mehr und mehr 
Geltung bekommen, und die Biologie selbst wird in richtigere 
und dazu festere Bahnen geleitet werden, als die sind, in denen 
sie sich jetzt bewegt. Man wird sich mit den besagten Ansichten 


IA 

nur erst näher zu befreunden, mit ihnen bis zu einem gewissen 
Grade einzuleben haben, wird sich ihnen bequemen oder auch sie 
sich bequem machen, d.h. nach seinem jeweiligen Bedürfnis ver- 
bessern müssen. Eine Anzahl von Lebenserscheinungen wird dann 
aber auch verständlicher werden und an die Stelle heute noch 
unbegreiflich erscheinender Geschehnisse werden mechanische 
Vorgänge treten, welche zum Wenigsten einen allgemeinen Einblick 
in ihr Zustandekommen gestatten. Die Mechanik des Lebens, 
der Mechanismus seiner Träger wird klarer und durchsichtiger 
werden, und viele Einrichtungen derselben werden begreiflicher, 
ja in einem ganz anderen, zumal helleren Lichte erscheinen. 

Unter Annahme der fraglichen Ansichten wird sich so z.B. 
ergeben, dass alle höheren Lebewesen, Pflanzen wie Tiere, 
nicht Körper sein Können, welche sich durch das Zusammentreten 
einzelner Zellen aufgebaut haben, von denen jede mehr oder 
weniger autonom ist; sondern dass jedes derselben vielmehr ein 
Ganzes ist, das sich bei seiner Entwickelung zu einer höheren 
Einheit in Zellen gegliedert hat, deren jeder eine besondere 
Aufgabe zum Wohle und damit zur Erhaltung und Weiterent- 
wickelung des Ganzen zugefallen ist. Es wird sich ergeben, 
dass alle diese Zellen, wenn auch in der verschiedensten Weise, 
unter einander in Zusammenhang, wie sie wirklich stehen, so 
auch stehen müssen, und dass, wie bei den höheren Pflanzen und 
niederen Tieren einfache Protoplasmafäden, so bei den höheren 
Tieren und dem Menschen "die Nerven es sind, welche diesen 
Zusammenhang vermitteln. Es wird sich ergeben, dass jedes 
höhere Lebewesen so zwar einen Zellenstaat darstellt, wie das 
bis jetzt gelehrt worden ist, indessen nicht bestehend aus gleich- 
wertigen, selbstständigen, autonomen Zellen, sondern vielmehr 
aus Zellen, welche alle unter sich in Verbindung und damit von 
einander in Abhängigkeit stehen, je nach ihrem Ursprunge und 
ihren näheren, beziehentlich nächsten Verbindungen, engeren Ver- 
bänden, von sehr verschiedenem Wert und sehr verschiedener 
Würde sind, und demgemäss auch Aufgaben von sehr ver- 
schiedener Bedeutung und sehr verschiedenem Gewicht zu er- 
füllen haben, dass sie diese Aufgaben jedoch nur unter dem 
Einfluss ihrer Verbindungen, beziehungsweise des Ganzen aus- 
zuführen vermögen, dem sie angehören, und dass dieser, der 
jeweilige Zellenstaat, den das betreffende Lebewesen bildet, 


- v 


nicht etwa ein sogenannter Freistaat ist, in welchen die Indi- 
viduen gleichsam aus sich heraus willkürlich thun und lassen 
können, was sie gerade für erspriesslich halten, sondern dass 
im Gegenteil ein jedes aus einer Anzahl von Zellen bestehende 
Lebewesen einen auf ausgesprochen aristokratischer Gliederung 
beruhenden, straffen Polizeistaat verwirklicht, in welchem jeder 
Angehörige seiner Stellung, seinem Wert und Range gemäss 
selbst gegen seine augenblickliche eigene Ansicht das thun und 
lassen mus, was das Ganze, der Staat gerade von ihm fordert. 

Die Nerven und ihre Verbindungen, Verknüpfungen zu einem 
Ganzen, das Nervensystem, dienen dazu, haben wohl auch heute 
den Zweck, die entsprechenden Forderungen zum Austrag zu 
bringen. Das Nervensystem jedoch entwickelt sich, wie Phylo- 
genese und Ontogenese beweisen, von den beiden sogenannten 
Grenzblättern des höheren Tierleibes oder seines Embryo her. 
Es nimmt damit denn auch seinen Ursprung aus denselben, und 
eine ganz falsche Lehre, welche noch aus den Zeiten stammt, 
wo man es nicht besser wusste, ist es in Folge dessen, dass die 
Nerven, das Nervensystem, gewissermassen aus seinem centralen 
Teile, dem Centralnervensysteme, entspringen. Dessenungeachtet 
rechnet man doch mit dieser Annahme noch immer ganz allgemein 
wie mit einer feststehenden, wohl bewiesenen Thatsache. Natür- 
licherweise müssen die Ergebnisse der bezüglichen Rechnungen 
durchaus unzutreffend, ja hier und da, besonders in gewissen 
Cardinalfragen, wie hinsichtlich der Spontaneität des Lebens, den 
sonstigen alltäglichen Erfahrungen geradezu widerstreitend sich 
gestalten. Auf derartigen Ergebnissen und daraus entsprungenen 
weiteren Ansichten beruhen indessen doch noch immer die haupt- 
sächlichsten der heutigen Tages noch herrschenden biologischen 
Anschauungen. 

Allein wenn die Nerven, das Nervensystem, in den soge- 
nannten Grenzblättern des sich entwickelnden Tierleibes und den 
sie bildenden Zellen ihren Ursprung nehmen und folgerichtig 
denn auch in den fertigen Gebilden dieser letzteren beim er- 
wachsenen Tiere wurzeln, so können Teile, wie bei den Wirbel- 
tieren Gehirn und Rückenmark, von denen ersteres nachweis- 
lich erst aus dem letzteren hervorgeht, und die beide zusammen 
das Centralnervensystem ausmachen, nicht Centralnervensystem, 
Centralorgane der Nerven in dem Sinne sein, dass sie die ein- 


VI 

zelnen Nerven aus sich heraus automatisch, spontan beeinflussen 
und zu ihrer gerade erforderlichen Thätigkeit veranlassen; 
sondern nur insofern können sie als solche Centralorgane an- 
gesehen werden, als sie gleichsam in Mitten aller Nerven liegen 
und dieselben aus sich scheinbar hervorgehen lassen, wie ihnen 
zum Ursprunge dienend. Thatsächlich sind Rückenmark und 
Gehirn, die Centralorgane des Nervensystemes der Wirbeltiere, 
ihrer ganzen Entstehung nach denn auch blos Durchgangspunkte 
der Nerven, die in den erwähnten Grenzblättern und deren Ab- 
kömmlingen ihren Ursprung nehmen und in den sogenannten 
Mittelblättern und den aus ihnen entstandenen Organen endigen. 
Rückenmark und Gehirn sind so nur eine Art von Central- 
stationen, an und in denen die sie durchziehenden Nerven in die 
tausendfältigen Verbindungen mit einander treten, in Folge deren 
wir die eben so viel tausendfältigen Beziehungen zur Erschei- 
nung kommen sehen, welche durch das Nervensystem vermittelt 
werden. Nicht vom Gehirn und Rückenmark und ihren Zellen 
laufen willkürlich Befehle aus nach den verschiedenen Organen 
und deren Zellen; sondern in Rückenmark und Gehirn werden 
nur die aus den Grenzblättern und deren Gebilden ankommenden 
Erregungen seitens der Aussenwelt, des Alls, Weltalls, in die 
betreffenden Befehle nach den Mittelblättern und deren Gebilden 
so umgesetzt, wie es die Einrichtungen der jeweiligen Lebe- 
wesen mit sich bringen. Nicht das Gehirn und Rückenmark an 
und für sich arbeiten die betreffenden Befehle aus; sondern 
durch Gehirn und Rückenmark als Instrumenten erlässt sie die 
Aussenwelt, das grosse All, das sich jene geschaffen hat, um, sit 
venia verbo, bestimmte seiner Zwecke zu erreichen. Der straff 
geordnete, auf aristokratischer Grundlage beruhende Polizeistaat, 
der in den höheren Tieren, im Menschen seine Spitze, sein Verwal- 
tungscentrum, im Centralsysteme, zumal im Gehirn hat, wird darum 
von diesem aus auch nicht regiert nach Laune und Lust; sondern 
so wie es muss, wie es die Welt in ihrem Gange verlangt, die 
eiserne Nothwendigkeit der Umstände mit sich bringt. Das 
Centralnervensystem, und damit auch das Gehirn, regiert nach 
dem Ratschlusse der ewigen Mächte, welche das unendliche 
All bis in die kleinsten Teile beherrschen. 

Bei der näher dargelegten Arbeit des Centralnervensystemes 
kommen die Erregungen seitens der Aussenwelt, des Alls, im 


vo 

grossen Gehirn, und hauptsächlich in der grauen Rinde seiner 
grossen Hemisphären, zum Bewusstsein. Wie? Ignoramus, igno- 
rabimus! Das mechanisch zu begreifen, halte ich mit du Bois- 
Reymond für unmöglich. Das müssen wir als etwas Gegebenes, 
einmal Vorhandenes hinnehmen, ohne uns weiter den Kopf dar- 
über zu zerbrechen. Es gehört das in das Reich des Metaphy- 
sischen, des Transcendentalen, das wesentlich aus ihm besteht, 
und das wissenschattlich irgendwie zu erkennen, ich auch für 
unmöglich halte.e Denn unserer Erkenntnis sind Schranken 
gesetzt. Wo es mit der Mechanik zu Ende ist, treten sie ihr 
unübersteigbar entgegen. Hinter ihnen liegt nur noch, gerade 
so wie vor dem Gebiete der Erkenntnis, ein solches des Ahnens, 
Wähnens, Meinens, Glaubens, nach welchem die Kreatur, je nach 
ihrer Geartung, zwar ebenso mächtig hingezogen wird wie nach 
dem der Erkenntnis, und durch das sie gar nicht selten erst 
hindurch muss, um rückkehrend zu diesem zu gelangen, auf 
dem sie aber niemals zur Klarheit kommen kann, sondern stets 
nur in einem mystischen Dunkel befangen sich zu bewegen 
vermag. 

Unter Annahme der fraglichen Ansichten, namentlich der 
letzt erwähnten, sowie der geeigneten Verwertung der 
Forschungsresultate, welche ich soeben in Kurzem mitgeteilt 
habe, wird sich endlich ergeben, dass jedes Lebewesen, wie das 
auch schon alle naiven Beobachter erkannt haben, nur einen 
Teil des Alls darstellt, in welchem und durch welches dieses 
sich äussert, wie Zeit und Urnstände es gerade verlangen. Das 
Leben selbst, der Lebensvorgang, stellt sich damit aber 
nur als einen räumlich und zeitlich beschränkten Teil des all- 
gemeinen grossen Weltvorganges dar. Die Seele eines Lebe- 
wesens ist deshalb auch nur ein Teil der Weltseele und sein 
Geist ein solcher des Weltgeistes. Daraus jedoch ergiebt sich 
dann aber mit Notwendigkeit die Wahrheit sowohl des alttesta- 
mentlichen Wortes: „In ihm leben, weben und sind wir“, wie 
auch des neutestamentlichen Ausspruches: „Es fällt kein Sper- 
ling vom Dache ohne den Willen ‘eures himmlischen Vaters.“ 
Die Sätze uralter Weisheit sind eben nur die Zusammenfassung 
einer Reihe von Vorgängen, die Dichtung, Verdichtung derselben 
zu einem einheitlichen Ganzen, einem einzigen Gedanken, welche 
dem Menschen im Laufe der Zeit bewusst geworden sind. Hier- 


vm 

mit ist, denn weiter aber auch die sogenannte sittliche 
Weltordnung gerettet, von welcher in der Gegenwart vielfach 
behauptet wird, dass die Naturwissenschaften und vornehmlich 
die Biologie sich gegen sie auflehnen und sie in ihrem Einflusse 
auf den Menschen bedrohen und untergraben. Denn die sittliche 
Weltordnung besteht zuletzt doch nur darin, das alles Einzelne 
sich zu einem harmonischen, fast möchte ich sagen, zu einem 
organischen Ganzen fügt, das mit der Erhaltung dieses Ganzen 
selbst erhalten wird und damit seinen Lohn erhält, während 
alles Einzelne, was dem, aus welchem Grunde es immer auch 
sei, störend entgegenwirkt, wieder in dem Ganzen, das es aus 
sich entstehen liess, früher oder später untergeht und damit 
seine Strafe erleidet. Alles Gute, d. i. Erhaltende, Bejahende 
wird belohnt; alles Böse, d. i. Zerstörende, Verneinende, wird 
bestraft. „Der Tod ist der Sünde Sold!“ 

Wenn also auch den Vorwurf ich nicht von der Hand zu 
weisen vermag, der mir in Betreff des einleitenden Aufsatzes 
„Leben und Lebensäusserungen“ gemacht werden kann 
und gemacht werden wird, ich bewegte mich zu sehr im Reiche 
der Hypothesen, so beruhen dieselben doch auf viel festerem 
Boden, sind ungleich sicherer begründet und erklären viel mehr, 
namentlich auch mit aus der sittlichen Welt, welche man den Natur- 
wissenschaften bis jetzt für unzugänglich hielt, als das von den bis 
zur Zeit vielfach für wohl bewiesene Thesen ausgegebenen, in 
Wahrheit jedoch viel hinfälligeren Hypothesen geschieht, auf 
denen die Biologie noch heutigen Tages beruht. Ja, einige von 
diesen letzt erwähnten Hypothesen müssen geradezu, weil den 
sonstigen Thatsachen widersprechend, als falsch angesehen 
werden. Die Abhandluugen selbst, denen der in Rede stehende 
einleitende Aufsatz voraufgeschickt ist, werden dafür Zeugnis 
mancherlei Art ablegen. 


Rudolf Arndt. 


Au +» 0 


. Riesen, Zwerge und das biologische Grundgesetz . 


IX 


Inhaltsangabe. 


TBeben@undeolebensäusserungen ss A. yo er Seite 


. Die Elementarorganismen und das biologische Grundgesetz . 


Der gehaubte Kanarienvogel, die Möwchen-, Perrücken- und 


Pfauentaube und das biologische Grundgesetz 


. Die Heilkunst und das biologische Grundgesetz . . » 
. Plattfuss, Klumpfuss und das biologische Grundgesetz 


. Schwarz und Weiss bei Tier und Mensch und das biologische 


Grundgesetz . 


. Die Körperwärme, besonders das Fieber, und das biologische 


Grundgesetz 2 wo. 


. Die Psyche und das biologische Grundgesetz . © 2 2 2.» 


174. 
185. 


IRRN 


Leben und Lebensäusseruugen. 


Schwarz und weiss, kalt und warm, still und laut sind, wie 
wir wissen, nur Bewegungsformen im All, beziehungsweise des 
Alls, welche von uns in ihrer Eigenart empfunden werden. Das- 
selbe gilt auch von hart und weich, starr und flüssig, fest und 
locker. Es gilt von jeder Form, jeder Gestalt, jedem Zustand. 
Alles was ist, ist das, was es ist und wie es ist, auf Grund von 
Bewegung, von Bewegung der es zusammensetzenden Teile, 
und zwar kleinsten Teile, zu einander und von einander. Je 
stärker, je kraftvoller sich diese Teile zu einander bewegen 
und dadurch auf einander drücken, pressen, um so fester, härter, 
stärker ist der Körper, der Stoff, den sie bilden; je stärker und 
kraftvoller sie sich von einander fortbewegen, auf andere, dritte, 
vierte hindrängen, um so lockerer, weicher, flüssiger, flüchtiger 
ist er. Die Art und Weise, in der die bezüglichen Bewegungen 
vor sich gehen, giebt die Form, in welcher die durch ihre Ver- 
mittelung gebildeten Stoffe erscheinen, als Gestein, Metall, Holz, 
Fleisch, Wasser, Luft u. s. w. 

Die alle sinnlich wahrnehmbaren Stoffe bildenden Atome 
erzeugen durch ihre vieltausendfältigen Bewegungsformen, welche 
sie zu 2, 3, 4, IO, 20, 50, 100 und noch mehr zu einander haben 
können, die Moleküle der verschiedenen Stoffe, und die Be- 
wegungen. dieser Moleküle, die Resultanten aus den Bewegungen 
ihrer Atome, haben die vieltausendfältigen Erscheinungen, in 
denen uns die verschiedenen Stoffe entgegen treten, zur Folge. 
Je stärker die Atombewegung zu einander ist, um so stärker 
ist es auch die Molekularbewegung, und je stärker diese ist, 
um so fester, dichter, aber auch um so härter, spröder oder 
zäher ist der Stoff. Die Atombewegung aber ist der Chemismus, 
die Molekularbewegung schliesst. in sich das Sichtbare, Greif- 
bare, Wägbare. Die Bewegung des Sichtbaren, Greifbaren, 
Wägbaren ist die Mechanik. 


2 


Wie die Mechanik in zwei besondere Gebiete zerfällt, die 
Mechanik im engeren Sinne und die Statik, und jene die Be- 
wegung, die Fortbewegung der Körper in Bezug auf einander 
und unter einander, diese das Verharren und damit die Ruhe 
derselben in den nämlichen Verhältnissen begreift, so lässt sich 
auch die Molekularbewegung, die Molekularmechanik, in eine 
Molekularmechanik im engeren, die Dynamik im älteren Sinne, 
und eine Molekularstatik zerfällen. Jene stellt die Bewegung 
und zwar wieder Fortbewegung der Moleküle in Bezug auf sich 
und unter sich, diese das Verharren und damit wieder die Ruhe 
derselben in Bezug auf sich und unter sich dar. Und ebenso lässt 
auch die Atombewegung eine entsprechende Bewegung, be- 
ziehungsweise Fortbewegungder Atome und ein Verharren dersel- 
ben, ihre Ruhe, in Bezug auf sich und unter sich unterscheiden. 
Jene offenbart sich uns als Atomomechanik, die wir sonst 
schlechtweg Chemismus nennen, diese als Atomostatik. Der 
Chemismus, die Atomomechanik, besteht in der Fortbewegung 
der Atome, dem chemischen Ausgleich aktiv; der chemische 
Ausgleich passiv, die chemische Ausgeglichenheit, ist die 
Atomostatik. 

Eine völlige Ruhe aber giebt es nicht. Was wir Ruhe 
nennen, ist nur etwas Relatives. Es ist das eben das gleich- 
mässige Verharren einer Anzahl von Körpern in derselben Lage 
zu einander und unter einander, dessen wir schon gedacht haben, 
weil dieselben eine wirklich oder doch annähernd unveränder- 
liche Bewegungsrichtung inne halten. Die bezügliche Bewegung 
selbst kann freilich eine unmerkliche sein, weil Hindernisse einer 
stärkeren entgegenstehen und sie hemmen; allein der Druck, 
den die in ihrer Bewegung gehemmten Körper gegen die frag- 
lichen Hindernisse und diese wieder gegen sie ausüben, sowie 
die Folgen davon, die Druckmarken, die Temperaturverhältnisse, 
legen für sie Zeugnis ab. | 

Alle Körper streben nach einem gewissen Mittelpunkte, die 
irdischen Körper nach dem Mittelpunkte der Erde. In ihrem 
Streben, den Mittelpunkt zu erreichen, werden sie indessen durch 
Körper von gleicher oder grösserer Dichte, beziehentlich gleicher 
oder grösserer Widerstandsfähigkeit, welche sich dem Mittel- 
punkte bereits näher befinden, zwischen diesem und ihnen ein- 
geschaltet sind, gehindert. Diese Bewegung der Körper nach 


3 = 

einem Mittelpunkte, ihr Streben, an denselben zu gelangen, kann 
nach dem Erörterten nur das Resultat der Bewegungen ihrer 
Moleküle und deren Atome sein. Denn schliesslich ist die Erde 
auch nur ein Körper, auf dem, in dem sich alle seine Teile 
verhalten wie die Moleküle und deren Atome zu dem einzelnen 
Körper, welcher einen ihrer Teile ausmacht. Ja, mit der Erde 
in Bezug auf die Sonne, mit jedem Planeten in Bezug auf diese, 
mit der Sonne und den sie umkreisenden Planeten zu einer et- 
waigen Centralsonne unseres Fixstern-, d. i. des Milchstrassen- 
systems, in Bezug auf welche Centralsonne unser ganzes Planeten- 
system nur einen einzigen Stern darstellt, wie etwa die Sterne, 
welche erst durch die Spektralanalyse als Doppelsterne erkannt 
worden sind, endlich mit dem Milchstrassensystem und den 
gleichwertigen Fixstern- oder Sonnensystemen in Bezug aut 
Mittelpunkte, nach denen sie streben, und die sie deshalb umkreisen, 
verhält es sich nicht anders. Die Gravitation ist eine Concen- 
tration und beruht auf einer Contraction. Die Involution des 
Weltalls, in der wir uns befinden, und die, wie seine Entropie 
einem Maximum entgegenstrebt, diese Involution des Weltalls 
hat zur Ursache den chemischen Ausgleich, beziehentlich die 
chemische Ausgeglichenheit zwischen den kleinsten seiner Teile, 
d. i. die Atomostatik, bezüglich ihre Verhältnisse, die Atomo- 
stasen, überhaupt. Das Sichtbar-, Greifbar- Wägbarwerden 
seiner selbst ist der Anfang dazu. Das erste wägbare Stoff- 
molekül, ein Ausdruck der den Weltenstoff, den sogenannten 
Weltenäther beherrschenden Atomostatik, nach W. Thomson ein 
Ätherwirbel, giebt den Anstoss dazu. 

Also Ruhe ist nirgends! Was wir Ruhe nennen, ist nur der 
Ausdruck des Verharrens und zumeist auch blos des scheinbaren 
Verharrens einer Anzahl von Körpern, welche dieselbe Bewegungs- 
richtung haben, in ihren Beziehungen zu einander und unter 
einander. Die Sterne am Himmelszelt, welche in festen Gruppen, 
‚Sternbildern, geordnet erscheinen, bewegen sich, und zwar nicht 
blos in den immer nahezu gleichen Abständen von einander um 
‚einen gemeinsamen Mittelpunkt, sondern auch um sich selbst 
und dabei vielleicht sogar noch wieder ein oder das andere 
Mal um einen zweiten Stern, vielleicht auch mit diesem zusammen 
vereinigt, um einen ihnen gemeinsamen Mittelpunkt; indessen da 
‚die Sterne seit Jahrtausenden dieselbe Bewegungsrichtung und 


1* 


4 


in dieser dieselbe Lage zu einander haben, oder aber auch zu 
weit von uns entfernt sind, um ihre Bewegung um sich, be- 
ziehentlich um andere Sterne noch so ohne Weiteres erkennen 
zu lassen, und wir uns ausserdem mit unserer Erde, unserer 
Sonne in der gleichen Weise mitbewegen, erscheinen sie uns 
ruhend, fix. Erst die sorgfältigsten Beobachtungen, die scharf- 
sinnigsten Verwertungen des Beobachteten haben diesen Anschein 
als das, was er ist, kennen gelehrt und Bewegung, ja die ge- 
waltigste Bewegung, die es überhaupt giebt, auch dort erkennen 
lassen, wo nur Ruhe zu herrschen schien. - Die Protuberanzen 
der Sonne erreichen in einer halben Stunde eine Höhe von 
3—400000 km (18000, 36000, 63000 Meilen, Young, Trovelot, 
Fenyi) und Young will selbst eine solche beobachtet haben, 
welche in derselben kurzen oder auch noch kürzeren Zeit auf 
500000 Km und darüber angewachsen ist (76000 Meilen). 
Nach Fenyi, wie fmir Prof. W. Holtz mitteilt, wachsen manche 
Protuberanzen, wenn auch nicht zu einer solchen beispiellosen 
Höhe, so doch mit einer Schnelligkeit von 40 Meilen also 300 
km in einer Sekunde an. 

Ich sitze an meinem Tische und arbeite. Es liegen auf 
demselben eine Anzahl von Gegenständen umher; warum fallen 
dieselben nicht herunter? Warum nicht ich selbst durch den 
Stuhl? Warum vermag ich überhaupt einige Meter hoch über dem 
festen Erdboden an meinem Tische zu sitzen und zu arbeiten? 
Weil feste Unterlagen das ermöglichen, der feste Fussboden 
meiner Stube, der feste Stuhl, auf dem ich sitze, der feste Tisch, 
auf den ich mich stütze. Allein, was macht diese Körper fest? 
Nichts Anderes als die "kraftvolle Cohäsion ihrer kleinsten Teile, 
der Moleküle, welche die Stoffe bilden, aus denen sie gefertigt, 
in zweckmässiger Weise herausgehauen oder zusammengesetzt 
sind. Die Cohäsion der Moleküle aber ist nichts weiter, als der 
Ausfluss der Bewegung, beziehungsweise des Bewegungsdranges, 
welchen dieselben zu einander haben, des dadurch bedingten 
Druckes, den sie auf einander ausüben. Je energischer dieser 
Druck, diese verhaltene Fortbewegung der Moleküle auf ein- 
ander ist, um so fester ist, wie schon gelegentlich hervorgehoben 
worden ist, der Körper, welchen sie bilden, und damit denn 
auch der Widerstand, den er selbst einer anderen Bewegung, 
einem sich auf ihn, d. h. mehr oder weniger senkrecht auf die 


Bewegungsrichtung seiner Moleküle, sich bewegenden Körper 
entgegensetzt. So lange diese letztere, beziehentlich die Grösse 
derselben geringer ist, als jene und die aus ihr entspringende 
Bewegungsgrösse, so lange tritt sie, beziehungsweise der durch 
sie zu Stande gebrachte Körper als Hemmnis derselben, und 
dann wieder gelegentlich als Stütze, Unterlage, Ruheplatz für 
den betreffenden Körper auf, so der Tisch und in Sonderheit 
seine Platte, so der Stuhl, der Fussboden für die darauf befind- 
lichen, dem Anscheine nach ruhenden, in Wahrheit jedoch fallen- 
den und in ihrem Falle nur durch sie aufgehaltenen, gehemmten 
Körper. Ist dagegen die Bewegung des z. B. fallenden Körpers 
grösser als die, welche den seinen Fall hemmenden Körper, 
also das jeweilige Hemmnis, die jeweilige Unterlage, bildet, so 
wird diese überwunden. Die Folge ist, dass das Hemmnis, 
die Unterlage, bricht, und der zumal auf dieser letzteren schein- 
bar ruhende Körper seinen lediglich gehemmten, aufgehaltenen, 
aber nicht aufgehobenen Fall fortsetzt. Die Bewegung, welche 
das in Betracht kommende Hemmnis, die Unterlage, bedinget, 
bleibt in den bezüglichen Bruchstücken erhalten. Wie dieselbe 
aber sich macht, ob die betreffenden, auf einander drängenden 
Moleküle vibrieren, oscillieren, rotieren, wollen wir nicht erörtern; 
indessen ruhig können sie sich nicht verhalten, ebensowenig wie 
die Moleküle der Gase und Flüssigkeiten, welche einen Druck 
auf die Wände des sie enthaltenden Gefässes und damit wieder 
auf sich selbst ausüben. 

Ganz gleich verhält’ es sich auch in den Molekülen der ver- 
schiedenen Körper oder Stoffe mit den Atomen, welche selbige 
zusammensetzen. Denn auch die Atome dieser, wenn sie sich 
auch in bestimmter Lage zu einander befinden und, indem sie 
in dieser verharren, die verschiedenen Stoffmoleküle und durch 
diese wieder die verschiedenen Stoffe bedingen, welche wir 
kennen, liegen nicht ruhig da, sondern sind ebenfalls, wie das 
auch schon gesagt worden ist, in einer fortwährenden Bewegung. 
Mag dieselbe auch noch so klein sein, mag sie auch blos einen 
Drang, Druck darstellen, den die einzelnen Atome auf einander 
ausüben, da ist sie, da sein muss sie. Wie aber auch sie sich 
gerade macht, ob eben auch blos als ein einfaches Drängen, ob 
wieder als ein gleichzeitiges Vibrieren, Oscillieren, Rotieren, 
wollen wir gleichfalls nicht untersuchen. Allein wie beschaffen 


ea ee Rain 


sie immer ist, aus ihr geht die betreffende Molekularbewegung, 
die betreffende Molarbewegung hervor, wie wir das seiner Zeit 
auch schon kennen gelernt haben. Einen Beweis dafür liefern 
insbesondere die Temperaturverhältnisse und die Vorgänge, 
welche bei Temperaturschwankungen beobachtet werden. 

Wärme dehnt aus, Kälte zieht zusammen. Durch jene wer- 
den die Körper, von denen dabei nur die Rede sein kann, 
grösser, umfangreicher, durch diese kleiner, indem sie an Um- 
fang abnehmen. Zugleich werden sie im ersten Falle spezifisch 
leichter, im zweiten spezifisch schwerer. Wie hängt das zu- 
sammen? 

Die Atome, die Weltstoffatome, aus welchen die einzelnen 
Moleküle der verschiedenen Körper gebildet werden, liegen in 
diesen nicht so dicht zusammen, dass zwischen ihnen nicht immer 
noch ein Zwischenraum wäre. Ist dieser auch unendlich klein, 
so muss er doch, da die fraglichen Atome, soweit das zu er- 
schliessen möglich gewesen ist, nie mit einander verschmelzen, 
vorhanden sein. Dieser Zwischenraum ist aber nicht leer, son- 
dern wieder mit Weltstoffatomen, die aber beim Aufbau der 
Welt als solcher keine eigentliche Verwendung gefunden haben 
und, gewissermassen als Üperbleibsel, in ihrer Gesammtheit eine 
jetzt interstellare Masse, den sogenannten Äther oder Lichtäther 
bilden, erfüllt. Die stoffbildenden Atome wären danach also, 
wie immer sie auch in Bezug auf einander lägen, drängten und 
drückten, doch noch jedes von Ätheratomen, den sogenannten 
Redtenbacher’schen Dynamiden, umgeben, welche zwischen 
den einzelnen Atomgruppen, den Molekülen, in den Zwischen- 
räumen derselben am zahlreichsten lägen, und in der Masse der 
Ätheratome, des Äthers, Lichtäthers selbst, durchsetzt und durch- 
tränkt von ihm bis in ihre kleinsten Teile, schwämme die Welt, 
das ganze Weltall mit Allem, was sich in ihm, in und auf 
seinen einzelnen Welten befindet. Es würde das allerdings dafür 
sprechen, dass die einzelnen Weltstoffatome nicht gleich sein 
können, dass daher auch die verschiedenen stoffbildenden Atome 
verschieden sein müssen, was indessen den gäng und geben An- 
nahmen bis zu einem gewissen Grade widerstreitet; allein es 
würde das doch Manches erklären, was sonst unerklärlich er- 
scheint, wie namentlich die Kant-La Place’sche Ballungstheorie, 
welche ohne eine Präponderanz gewisser Atome anderen gegen- 


über undenkbar ist, oder die W. Thomson ’sche Ätherwirbeltheorie 
zur Frklärung des Wägbaren, welche ohne eine grössere gegen- 
seitige Anziehung zweier oder mehrerer Atome den übrigen 
gegenüber, unbegreiflich erscheint. Doch dem sei, wie ihm 
wolle! Wir halten uns zunächst an die Redtenbacher’sche 
Dy namidentheorie, nach welcher alle stoffbildenden Atome von 
Ätheratomen, dem Äther schlechtweg, umgeben sind, weil eine 
Reihe der für uns wichtigsten Vorgänge in der Welt für sie 
sprechen und durch sie ihre einfachste und mithin annehmbarste 
Erklärung finden. 

Der Äther, in dem das Weltall schwimint, und der Alles, 
was in ihm ist, durchsetzt, vermittelt die Beziehungen, welche 
zwischen den einzelnen Welten bestehen, und erklärt die Ab- 
hängigkeit, in welcher selbst die einzelnen Teile dieser von jenen 
überhaupt sich befinden. Er vermittelt auch die Wärme, von der 
wir wissen, dass sie wie der Chemismus, das Licht, die Elektri- 
zität auf seinen Schwingungen beruht oder auch blos in ihnen 
besteht. Je stärker die betreffenden Schwingungen, je grösser 
die entsprechenden Schwingungsbogen sind, um so stärker der 
etwaige Chemismus, um so stärker das etwaige Licht, um so 
stärker die entsprechende Elektrizität, um so stärker und damit 
grösser, höher die entsprechende Wärme. Wenn die Redten- 
bacher’'schen Dynamiden um die stoffbildenden Atome und 
namentlich die aus ihnen bestehenden Moleküle stärker schwingen, 
so müssen sie zuerst die Moleküle auseinander treiben und darum 
schon den betreffenden Körper umfangreicher machen, vergrössern. 
Es dehnt sich derselbe aus und auf einen grösseren Raum ver- 
theilt wird seine Masse specifisch leichter. 

Je länger und stärker die Redtenbacher’schen Dynamiden 
schwingen, je höher als Ausdruck davon, wie wir sagen, die Tem- 
peratur wird, um so mehr nehmen an diesen ihren Schwingungen 
in den Zwischenräumen der Moleküle auch die in den Zwischen- 
räumen der die Moleküle bildenden Atome Teil. Die Atome 
werden auf Grund dessen und dadurch, dass die Zahl der be- 
sagten Dynamiden von aussen her zunimmt, indem immer mehr 
Ätherteilchen in die erweiterten Zwischenräume zwischen ihnen 
eindringen, auch auseinander getrieben. Die Folge davon ist, 
dass sich auch die Moleküle vergrössern, aber sich zugleich 
auch lockern, und der aus ihnen bestehende Körper sich noch 


2 


mehr ausdehnt, spezifisch noch leichter wird. Werden die 
Schwingungen der Redtenbacher’schen Dynamiden und ihre 
von aussen eindringende Zahl noch grösser, werden die ersteren 
noch stärker, ausgiebiger, wird die Wärme immer mehr erhöht, 
so wird das Molekular-, das Atomgefüge noch lockerer. Die 
Moleküle fangen an, sich untereinander zu verschieben, bekommen 
ein anderes Aussehen. Der betreffende Körper wird weicher 
und weicher, ändert dabei oft seine Farbe: er fängt an zu 
leuchten, fängt an zu zerfliessen, schmilzt. Steigert sich die 
Anzahl und Bewegung der Redtenbacher’schen Dynamiden 
noch weiter, wird die Wärme zu grosser Hitze, so werden die 
Moleküle aus einander getrieben, erst in Gruppen, dann einzeln: 
der Körper verdampft, verflüchtigt, wird gasförmig. Endlich 
werden auch die jeweiligen Atome aus einander gerissen, aller- 
dings meist nur um sich bald wieder mit anderen zu verbinden, 
mit denen sie unter den gegebenen Verhältnissen verbunden 
bleiben können, und der Chemismus, die Atomomechanik, ist 
damit wieder in vollen Gang gebracht, nachdem er, beziehentlich 
sie, eine Zeitlang durch atomostatische Zustände, d. i. Atomostasen 
ersetzt war. 

Nehmen darauf wieder die Bewegungen der Redten- 
bacher’schen Dynamiden ab, werden ihre Schwingungsaus- 
schläge kleiner und kleiner, so kehren auch die verflüchtigten 
Moleküle, wenn ihre Atome nicht andere Verbindungen einge- 
gangen sind, nach und nach in den alten Zustand zurück. Sie 
sammeln sich wieder zu flüssigen Massen, zuerst in Tropfen; die 
Tropfen, wenn sie nicht vorzeitig erstarren, fliessen zusammen, 
bilden einen Fluss, d. h. eine fliessende Masse. War bei der 
voraufgegangenen Verflüssigung der festen Masse eine Farben- 
veränderung eingetreten, so verliert sich diese wieder allmählich. 
Die alte Farbe des Körpers kehrt zurück und mit ihr auch 
seine alte Festigkeit. Indem die Atome seiner Moleküle immer 
mehr auf einander eindrängen, nähern sie sich soweit, als sie 
können. Mit ihnen thun das die Produkte ihrer Verbindungen, 
die Moleküle, selbst. Der bezügliche Körper zieht sich zusammen, 
sein Umfang wird kleiner und kleiner, sein spezifisches Gewicht 
dagegen grösser und grösser. Dabei werden die Redten- 
bacher’schen Dynamiden, die von aussen als blosse Äther- 
teilchen in ihn eingedrungen waren, wieder ausgestossen, und 


2) 

da sie sich in dem Grade von erhöhten Schwingungen befinden, 
den sie noch so eben im Innern des sie ausstossenden Körpers 
hatten, so werden sie als die diesem eigene oder doch wenigstens 
‚als eine dieser nahe stehende Wärme empfunden. Darauf beruht, 
dass Körper, die sich zusammen ziehen, Wärme ausstrahlen, die, 
welche sich ausdehnen, Wärme aufnehmen, oder, dass beim 
Übergang der Körper aus einem weniger dichten in einen dichteren 
Zustand Wärme frei, umgekehrt Wärme gebunden wird. Es ist 
das um so verständlicher, wenn wir erwägen, dass alle Wärme 
dem Körper von aussen her zugeführt wird und nicht, mit 
wenigen scheinbaren Ausnahmen, etwa in dem Körper selbst 
entsteht, ohne dass ein Anstoss dazu von dorther gegeben wäre. 
Wir haben bei unserer obigen Darstellung der einschlägigen 
Verhältnisse keine Rücksicht darauf genommen, weil sie für den 
beabsichtigten Zweck nicht nöthig erschien. 

Werfen wir nun noch einmal einen Blick auf das Gesagte, 
so ergiebt sich, dass die verschiedenen Zustände, namentlich 
Aggregatzustände, in denen uns die verschiedenen Körper er- 
scheinen, von den Bewegungsverhältnissen abhängen, welchen 
ihre kleinsten Teile, ihre Moleküle, ihre Atome, unterstehen. 
Am lebhaftesten, ausgiebigsten sind diese Bewegungen, wenn 
die betreffenden Körper gasförmig erscheinen. Sind dieselben 
flüssig, tropfbar flüssig, so sind die fraglichen Bewegungen, ich 
will einmal sagen, mittelstark. Am geringfügigsten sind sie, 
stellen sich die in Betracht kommenden Körper als feste dar. 
Aber mag ein Körper noch so fest sein, sie fehlen nimmer. Sie 
können unendlich klein sein, gemeinhin nicht zu bemerken; 
indessen da sein müssen sie, und auf mannigfache Weise, durch 
ihre Farbe, ihre Durchsichtigkeit, ihre Anziehungs- und Ab- 
stossungsfähigkeit, legen die Körper davon auch Zeugnis ab. 
Das Wasser in seinen verschiedenen Formen als Eis, Schnee, 
Wasser schlechtweg, als Dampf, Nebel, Dunst und in grosser 
Hitze als Wasserstoff und Sauerstoff, die bei der Abkühlung, 
wenn sie inzwischen nicht anderweitige chemische Körper, nament- 
lich Kohlensäure und Ammoniak oder zusammen kohlensaures 
Ammoniak gebildet haben, sich wieder zu Wasser verbinden, 
liefert unter Anderem einen Beleg dafür. Solche geringfügigen 
Bewegungen, die zu keinen in gewöhnlicher Weise wahrnehm- 
baren Ortsveränderungen führen, nennt man stehende Be- 


10 

wegungen. Sie beschränken sich auf ein Drängen, Drücken, 
Vibrieren, Oscillieren, Rotieren u. dgl. m. Die stärkeren, aus- 
giebigeren Bewegungen, welche deutlich zu erkennende Orts- 
veränderungen nach sich ziehen, heissen im Gegensatze dazu 
tortschreitende Bewegungen. Alle Mechanik, die Atomo- 
mechanik, d. i. der Chemismus, die Molekularmechanik oder 
Dynamik im älteren Sinne, die Mechanik im engeren Sinne, 
haben es mit fortschreitenden, alle Statik, die Atomostatik, die 
Molekularstatik, die Statik im hergebrachten Sinne mit stehen- 
den Bewegungen zu thun. 

Bewegung ist Kraft! Jede Kraft besteht nur in Bewegung. 
Die fortschreitende Bewegung ist sogenannte lebendige Kraft, 
motorische, kinetische Energie; die stehende Bewegung ist 
Spannkraft, Druckkraft, virtuelle, potentielle Energie. Lebendige 
Kraft und Spannkraft sind darum nicht so sehr verschieden, 
wie vielfach angenommen wird, als ob sie eine Art Gegensätze 
zu einander bilden; sondern sie sind nur gradweise von einander 
verschieden. Die Spannkraft, Druckkraft, beziehentlich die 
Spannkräfte, Druckkräfte, stellen den niedrigsten Grad von 
Bewegung dar; in den lebendigen Kräften erreicht die letztere: 
den höchsten, den es giebt. Wie stehende Bewegung in fort- 
schreitende, diese wieder in jene übergeführt werden kann, 
so kann auch Spannkraft in lebendige Kraft, und lebendige 
Kraft wieder in Spannkraft übergeführt werden. Vermittelt wird 
das durch die sogenannten auslösenden Kräfte, und zwar je 
nachdem sie zur Wirkung oder in Wegfall kommen. Diese: 
auslösenden Kräfte aber sind die Bewegungen, welche von aussen: 
her auf die jeweiligen Körper, d. h. also aus der Umgebung 
dieser, auf sie selbst einwirken und die stehende Bewegung in: 
ihrem Innern so steigern, dass selbige zu einer fortschreitenden: 
wird, oder aber auch, ist sie eine fortschreitende, so diese derart 
mässigen, hemmen, dass'sie endlich zu einer stehenden wird. Ein 
mässiger Luftzug steigert den Verbrennungsprozess, ein starker‘ 
stört, hemmt ıhn und hebt ihn zuletzt auf. Die fortschreitende 
Bewegung des Verbrennens wird in die stehende, welche die: 
Kerze, der Holzspahn, das Öl, das Gas darstellt, verwandelt. 

In letzter Reihe wirken so nach unseren Auseinandersetzungen: 
als auslösende Kräfte immer nur die Bewegungen, Schwingungen 
des Äthers, die anscheinend mit gleicher Geschwindigkeit wellen- 


a 


förmig sich durch den Raum sowie Alles, was er enthält, fort- 
pflanzen. Die kürzesten und darum sich am schnellsten folgenden 
der betreffenden Wellen bedingen den Chemismus, die in Anbe- 
tracht ihrer Länge nächst folgenden das Licht, die in Bezug 
darauf folgenden die Wärme; die längsten und demgemäss sich 
auch am langsamsten folgenden Ätherwellen sind das Substrat 
der Elektrizität. Darum finden sich einerseits Chemismus, Wärme 
Licht und Elektrizität so regelmässig zusammen und gehen selbst _ 
in einander über; darum aber haben sie auch andererseits die 
ungeheuren, umwälzenden Wirkungen, welche wir unter ihrem 
Einfluss, wenn auch zuerst kaum merklich, sich in der Körper- 
welt vollziehen sehen. 

Es ist halb und halb modern, die Elektrizität bis zu einem 
gewissen Grade als die das All beherrschende Grundkraft an- 
zusehen, die, so zu sagen, elektrische Bewegung als diejenige 
zu betrachten, aus welcher die anderen genannten Bewegungs- 
formen erst hervorgehen. Doch hat man auch die Schwere, 
ohne indessen über ihr Wesen sich weiter Rechenschaft zu geben, 
als diese Grundkraft betrachtet wissen wollen, zumal weil Wärme 
und Licht mit Leichtigkeit sich .aus ihr ableiten lassen. Allein 
sollte man nicht vielmehr von all’ den zu berücksichtigenden 
Bewegungsformen, die von den kleinsten Bewegungen bis jetzt 
allein bekannt sind, den Chemismus, die chemische Bewegung, 
als diejenige bezeichnen dürfen, welche der Urquell aller übrigen 
ist? Die Schwere entspringt erst aus ihm, beruht auf ihm, wie 
wir gesehen haben. Auf dem Chemismus, der Atomomechanik, 
beziehungsweise der chemischen Ausgleichung beruht aber auch 
das Sichtbar-, Greifbar- und Wägbarwerden des Stoffes; auf 
der chemischen Ausgeglichenheit, der Atomostatik oder auch 
Atomostase, beruht die Körperwelt schlechthin. An diese aber 
ist, was wir Licht und Wärme an sich nennen, nachweislich ge- 
bunden. Ohne Körper kein Licht, ohne Körper keine Wärme! 
Und mit der Elektrizität verhält es sich kaum anders. Strahlendes 
Licht leuchtet nicht;strahlende Wärme wärmt nicht, und strahlende 
Elektrizität? Nicht die bezüglichen Ätherbewegungen an sich 
werden als Licht, Wärme, Elektrizität empfunden; erst die 
Molekularbewegungen, zu denen sie in den Körpern geführt 
haben, rufen diese Empfindungen in uns hervor. Die chemische 
Bewegung, der Chemismus, scheint danach die Urkraft, Grund- 


IRRE EN 


kraft des Alls zu sein, und jede andere sich erst aus ihm zu 
entwickeln. Wie von dem Punkte aus, an dem ein Stein in das 
Wasser geworfen worden ist, sich erst nur kurze, hohe, dann 
immer länger, aber gleichzeitig flacher werdende Wellen auszu- 
breiten scheinen, welche langsamer und langsamer dahin zu 
fliessen den Anschein erwecken, so breiten sich scheinbar auch 
von dem Orte eines chemischen Vorganges zuerst blos kurze 
hohe, sich rasch tolgende, dann immer länger, aber niedriger 
werdende und sich langsamer folgende aus. Die ersten derselben 
werden als Licht, die letzten als Elektrizität und die zwischen 
beiden auf und nieder wogenden als Wärme empfunden. 

Ist der Chemismus, die Atomomechanik, die Grundkraft, 
welche das All beherrscht, seine Folge, die Atomostatik oder 
Atomostase die Ursache seiner Sichtbarkeit, Greifbarkeit, Wäg- 
barkeit, oder auf uns und unseres Gleichen bezogen, der‘ sinn- 
lichen Wahrnehmbarkeit überhaupt, so ist es nach unseren Aus- 
einandersetzungen auch die Umwandlung der das All durchwo- 
genden lebendigen Kraft in Spannkraft, Druckkraft, welche 
dieses bewerkstellist. Alle Werke der Natur sind nur An- 
häufungen von Spannkräften in besonderer Form, und die Form 
wird bedingt durch die Art und Weise, wie die besagte Um- 
wandlung, welche unter gleichen Verhältnissen immer und immer 
die gleiche ist, vor sich geht. Man hat schon vor langer Zeit 
die Steinkohle als umgewandelte Sonnenwärme, als umge- 
wandeltes Sonnenlicht bezeichnet und hält das auch noch gegen- 
wärtig für durchaus zutreffend. Mit demselben Recht, jedenfalls 
in demselben Sinne, kann man jedoch auch alle andern ent- 
sprechenden Körper der Erde, ja die ganze Erde selbst als 
umgewandelte Sonnenwärme, umgewandeltes Sonnenlicht ansehen. 
Durch die Contraction, die Concentration ihrer kleinsten Theile, 
ihrer Atome, ihrer Moleküle, durch welche die Cohäsion, die 
gelegentliche Adhäsion derselben bedingt wird, und durch welche 
sie selbst noch immer zur Sonne gravitiert, von der sie sich 
einst abgelöst hat, ist sie das geworden, was sie ist. Und stürzt 
sie einstmals auf Grund ihrer Gravitation wieder in die Sonne 
hinein, wie das, wenn auch erst nach unendlichen Zeiten und 
mannigfaltigen Veränderungen, welche sie selbst erst noch durch- 
zumachen hätte, der Fall sein dürfte, so wird sie wieder in 
demselben Sinne Sonnenwärme und Sonnenlicht. Endlich wird 


u... 

aber auch in Folge der Contraction ihrer Teile die Sonne 
erkalten, dicht und fest werden. In Folge auch ihrer Gravitation 
nach dem Mittelpunkte ihrer Bahn, einer etwaigen Centralsonne, 
wird auch sie wohl einstmals an denselben mit all’ der Grösse 
ihrer endlichen Bewegung gelangen. Sonne auf Sonne gelangt 
dann dahin. Dort stürzen sie zusammen und unter der Wucht 
des gewaltigen Sturzes, unter Umwandlung der sie zusammen- 
haltenden Kräfte in Wärme und Licht lösen sie sich dabei wieder 
aufin den Weltenstoff, aus dem sie sich gebildet haben. Das ist dann 
eine Evolution des Weltalls, beziehentlich des Teiles desselben, 
dem unsere Sonne, unsere Erde angehört, die Evolution des 
Milchstrassensystems oder einzelner seiner Teile, die Evolution, 
welche notwendiger Weise eintreten muss, wenn die gegen- 
wärtige Involution desselben ihr Maximum erreicht hat. Ein 
Weltendasein geht damit zu Ende, aber da Ruhe niemals und 
nirgends vorkommt und vorkommen kann, so beginnt auch gleich 
wieder eine neue Involution, und eine neue Welt nimmt aus den 
Trümmern der alten ihren Anfang. Wie viele solcher Welten 
mögen der unseren, also dem Milchstrassensystem, wie es heute 
ist, schon voraufgegangen sein? Wie viele werden ihr noch 
folgen? Die Welt an sich ist nur eine und ist ewig, der Welten 
sowohl dem Raume wie der Zeit nach aber sind unendlich viele. 
Jede dieser letzteren hat ihren Anfang gehabt, jede wird ihr 
Ende haben. Allein der Anfang der einen und das Ende der 
anderen sind nicht scharf geschieden; während die eine vergeht, 
entsteht schon wieder die andere. Involution und Evolution 
sind in unaufhörlicher Wechselwirkung, und daher ist es sehr 
wohl verständlich, dass während in dem uns erkennbaren Teile 
der Welt Involution herrscht, in einem anderen Teile’ derselben 
eine Evolution vor sich geht. Involution ist Einwärtswendung, 
Verdichtung, Gestaltung, Evolution ist Auswärtswendung, 
Lockerung, Auflösung. Von dem Vorherrschen des einen vor 
dem anderen wird die Benennung gebraucht. Herrscht die 
Involution vor, so heissen wir den Zustand kurzweg Involution, 
herrscht Evolution vor, so Evolution. So viel Weltkörper, 
Sternschnuppen, Cometen, Planeten, vielleicht Sonnen sogar in 
ihm mit anderen bereits zusammengestürzt sein mögen und sich 
dabei aufgelöst haben, das Milchstrassensystem als Ganzes be- 
findet sich gegenwärtig im Zustande der Involution, unsere Sonne 


14 


mit ihren Planeten, wenigstens vom Neptun angefangen bis zu 
unserer Erde, also mitsammt den sogenannten oberen Planeten, 
desgleichen. Die Erde mit Allem, was sie erfüllt, ist Produkt 
.dieser Involution. 

Auch das Leben, beziehentlich die lebenden Wesen sind als 
ein solches Produkt zu betrachten. Das Leben ist eine Be- 
wegung, wie Virchow sagt, eine eigenartige Bewegung, und 
nur, wo wir diese oder gewisse ihrer Äusserungen gewahren, 
aber auch überall, wo wir dieselbe gewahren, nehmen wir Leben 
an und nennen das Wesen, das sie uns zeigt, ein belebtes, 
lebendes oder lebendiges. Und was für Bewegungen sind das, 
die wir als Ausdruck des Lebens ansehen? Alle solche, für 
deren Entstehung wir keinen Grund, keine Ursache erkennen 
können, welche uns hinreichend erscheinen, um namentlich ihre 
Grösse zu erklären. Wir betrachten die fraglichen Bewegungen 
deshalb als den Ausfluss eines besonderen Etwas, das den 
Wesen, an denen wir sie beobachten, zukommt, das sie von den 
übrigen Wesen, an denen wir gleiche oder ähnliche Bewegungen 
nur in Folge der Einwirkung entsprechender äusserer Gewalten 
auftreten sehen, unterscheidet, und nennen daher dieses Etwas 
eben Leben. Alle Wesen, welche ein solches Leben zeigen, 
heissen, wie bereits gesagt, ganz allgemein belebt, lebend; alle 
welche dessen entbehren, leblos oder, mit Rücksicht auf die 
scheinbare Ruhe, in der sie ohne äusseren Anlass unabänderlich 
verharren, tot. Die lebendige Welt unterscheidet sich von der 
toten dadurch, dass jene scheinbar aus sich selbst, automatisch, 
sich bewegt, diese nur in Folge äusserer Veranlassung. 

Nun wissen wir aber, dass der Chemismus und insbesondere 
wenn er zu Verdichtungen führt, Licht, Wärme, Elektrizität er- 
zeugt, beziehentlich in sie übergeht, indem die jenen darstellende 
Atombewegung sich in eine Molekularbewegung fortsetzt. Wir 
wissen, dass diese in eine molare übergeführt werden kann und 
dass aus chemischen Vorgängen so mechanische Arbeit zu er- 
wachsen vermag. Jede der zeitigen Dampfmaschinen, jeder 
Gasmotor, jede Elektrizitätsmaschine, jede Wind-, jede Wasser- 
mühle beweist das alle Tage. Je weniger ein Mensch mit 
diesen Vorgängen bekannt ist, je weniger. er weiss, dass es 
zuletzt die chemischen Vorgänge und Verdichtungen auf der 
Sonne sind, in Folge deren unsere Schiffe den Ozean durchziehen, 


15 


unsere Maschinen die Gebirge durchtunneln, unsere Bauwerke 
zum Himmel sich erheben können, um so mehr wird er allent- 
halben Leben sehen. Je besser und in je grösserer Ausdehnung, 
d. h. je genauer, intensiv wie extensiv, ein Mensch sich dagegen 
mit den genannten Vorgängen vertraut gemacht hat, um so mehr 
wird er überall nur Mechanismus erblicken, das Leben selbst 
sich ihm endlich als eine einfach mechanische Thätigkeit offen- 
baren. Der Wilde hält, den Mittheilungen fast aller Reisenden 
zufolge, eine Taschenuhr für ein lebendes Wesen. Als die 
ersten Eisenbahnen in Deutschland aufkamen, hat manches alte 
Mütterchen es sich nicht ausreden lassen, dass die Lokomotive 
auch ein solches lebendes Wesen sei oder doch wenigstens 
lebende Wesen in sich berge, durch welche sie getrieben würde. 
Und auf der anderen Seite verkündet du Bois-Reymond die 
mechanische Weltauffassung und mit ihr natürlich, dass das 
Leben nichts Anderes als ein blosser mechanischer Vorgang sei. 
Jeder urtheilt nach dem, was und wie er etwas versteht. Wem 
der genügende Einblick in das Wesen und Walten der Natur 
fehlt, der wird leicht überall Leben im hergebrachten Sinne in 
ihr sehen, ja sie leicht ganz und gar für diesem Leben ent- 
sprechend belebt halten; wer sich Rechenschaft über jenes Wesen 
und Walten zu geben im Stande ist, der wird dagegen an Stelle 
des Lebens in diesem Sinne einfach mechanische Vorgänge er- 
blicken, die ganze Natur für einen Mechanismus erkennen, der 
allein durch die atomistischen Vorgänge in ihr in die ent- 
sprechende Bewegung gesetzt wird. Die Welt, die Natur scheint 
ihm zwar unbelebt, in des Wortes gewöhnlicher Bedeutung, aber 
durchaus nicht tot. Überall in ihr herrscht Bewegung; überall 
schieben in ihr sich die verschiedensten Bewegungsformen durch- 
einander, wie die sichtbaren Wellen im Wasser, die hörbaren 
in der Luft, und, da wir rege Bewegung in einer gewissen 
Mannigfaltigkeit auch Leben nennen, wohl weil das die charak- 
teristischste Eigenschaft des Begriffes Leben überhaupt ist, so 
herrscht damit auch Leben, aber freilich in einem andern als dem 
landläufigen Sinne, für ihn durch die ganze Welt. Die Welt, 
die Natur ist ihm belebt. 

Das Leben ist also eine eigenartige Bewegung, bei welcher 
die Ursachen derselben in keinem Verhältnis zu ihrer nament- 
lich zeitweise bedeutenden Grösse zu stehen scheinen, die aus- 


16 


lösenden Kräfte dieser mithin so klein sind, dass selbige als kaum 
vorhanden, jedenfalls in Bezug auf den Erfolg als gleichgültig 
erscheinen, und die fragliche Bewegung, Lebensbewegung, 
somit gleichsam unvermittelt, automatisch, spontan erscheint. Die 
Grundlage dieser Bewegungbilden wie überall chemische Vorgänge. 
Atome, Weltstoffatome, drängensich in mannigfaltiger, aber in ıhrer 
Mamnigfaltigkeit doch immer recht bestimmter Art zu entsprechen- 
den Molekülen und damit zu’mannigfaltigen, aber in ihrer Mannig- 
faltigkeit auch wieder recht bestimmten Stoffen zusammen; der 
das bedingende Chemismus, die entsprechende Atomomechanik, 
geht in die entsprechende Atomostatik über; eine Involution als. 
teilweiser Ausdruck der Involution unseres Sonnen-, des Milch- 
strassensystems, macht sich geltend. Dann erfolgt durch Hin- 
zutritt anderer Atome, wieder Weltstoffatome, eine Lösung der 
beregten Moleküle; ihre Atome fahren aus einander; es erfolgt 
eine Evolution, ebenfalls als örtlich beschränkter Ausdruck der 
auch im grossen All vorkommenden evolutionistischen Vorgänge, 
und, kaum dass dieselbe eingetreten ist, bilden sich unter den 
auseinanderfahrenden Atomen der verschiedenen Stoffmoleküle 
und den zu ihnen eben erst hinzugetretenen Weltstoffatomen neue 
Beziehungen aus. Der Chemismus, die Atomomechanik, tritt wieder 
ein; ihr folgt wieder eine Atomostatik; eine Involution anderer 
Art, deren Produkte von grösserer Dauer sind, hat Platz gegriffen. 
Dieser rege Wechsel zwischen Involution und Evolution 
dürfte aber das sein, was wesentlich das Leben aus- 
macht. Eingeleitet und unterhalten wird der Wechsel durch 
den Äther, der sich auch hier als Redtenbacher'sche Dyna- 
miden in die Zwischenräume zwischen den Molekülen, den Ato- 
men des lebenden Körpers einschiebt, und als Licht, Wärme, 
Elektrizität zur Wirkung bringt, und die dabei von aussen her 
in den Körper eindringenden Weltstoffatome, welche die zur 
Sprache gebrachte Evolution, wohl nachdem sie sie erst be- 
schleunigt haben, wieder in eine Involution umwandeln, sind 
der Hauptsache nach die Combination derselben, welche wir 
Sauerstoff nennen, der Sauerstoff schlechthin. Die durch den- 
selben herbeigeführte Oxydation ist demnach vorzugsweise eine 
Involution, wenn sie vielleicht auch, so zu sagen, um sich zur 
Geltung zu bringen, die Evolution, welche notwendiger Weise 
ihr voraufgehen muss, beschleunigt oder gar auch erst hervorruft. 


17 


Überblicken wir das nun noch einmal im Ganzen, so ergiebt 
sich: Es drängen unter bestimmten Verhältnissen, Kraftentfal- 
tungen der Natur, eine Anzahl von Atomen zu bestimmten Be- 
ziehungen zu einander. Dadurch entsteht zuletzt eine Atomostase, 
schlechthin chemische Verbindung genannt, welche bestimmte, 
zusammengesetzte Stoffe darstellt. Durch die Veränderung der 
Verhältnisse, unter denen das $eschah, namentlich durch An- 
wachsen des Lichts, der Wärme, der Elektrizität und natürlich 
auch gewisser Folgen davon, tritt wieder, je nachdem, eine 
Lockerung der bezüglichen Verbindung, eine Überführung der 
Atomostase, Atomostatik, in Atomomechanik, der durch jene 
erzeugten Spannkräfte, Druckkräfte, in lebendige Kräfte ein, 
und während dessen bilden sich vornehmlich unter dem Hinzu- 
tritt von Sauerstoff, neue Atombeziehungen, d. h. neue Atomo- 
stasen, chemische Verbindungen, Stoffe, und mit ihnen Umwand- 
lungen von lebendiger Kraft in Spannkraft aus. 

Die neuen Stoffe und die alten Stoffe stossen sich ab. Die 
alten Stoffe durch die ihnen innewohnende Bewegung reissen 
aus ihrer Umgebung, welche an ihren Atomen gleichen Atomen 
mehr oder.minder reich ist, solche an sich, indem sie selbige 
in die gleiche Bewegung versetzen. Sie ersetzen dadurch, was 
sie durch Einwirkung zumal des Sauerstoffes auf sie,.also durch 
Oxydation, vorher verloren hatten und, wenn auch gleich wieder, 
ja schon während dieses Vorganges neue Oxydationen vor sich 
gehen, so werden sie doch, wenn diese letzteren nicht in zu aus- 
giebigem Masse und zu jäh erfolgen, dadurch erhalten, ja selbst 
in ihrer Masse vermehrt. Die durch die Oxydationen neu ge- 
bildeten Stoffe sammeln sich zuerst in den grösseren Zwischen- 
räumen, welche sich zwischen den Bestandteilen der alten finden, 
bleiben in diesen liegen oder werden endlich aus ihnen, da die 
besagten Bestandteile einen. Druck auf einander ausüben, aus- 
gestossen. | 

Das Vermögen gewisser Atomostasen auf Grund der ihnen 
innewohnenden stehenden Bewegungen, beziehentlich der ihnen 
innewohnenden Gesammtbewegung, ihnen gleiche oder wenigstens 
nahe verwandte Atome ihrer Umgebung heranzuziehen und in ihre 
eigene, beziehentlich eine dieser sehr ähnliche Bewegung zu ver- 
setzen, damit ihnen gleiche oder doch ähnliche Atomostasen zu 
schaffen und sich durch diese gelegentlich zu vermehren, zu den 

2 


ad 


18 

durch sie bedingten Molekülen neue, gleichartige in das Dasein 
zu rufen, dieses Vermögen wird als das Assimilationsvermögen 
und seine Bethätigung als Assimilation bezeichnet. Das Unter- 
worfensein dieser Atomostasen, unter dem Einfluss stärkerer 
Ätherbewegungen, stärkeren Lichts, grösserer Wärme, ver- 
mehrter Elektrizität und ihrer Folgen, wieder in Atomomechanik, 
Chemismus, und unter dem Hinzutritt von Sauerstoff in anders- 
artige Atomostasen, andersartige Moleküle übergehen zu müssen, 
die von den alten Molekülen und ihren Komplexen abgestossen 
und endlich ausgestossen werden, das hat man in seinen ver- 
schiedenen Erscheinungsweisen Sekretion, beziehentlich Ex- 
kretion genannt. 

Die Assimilation wie die Sekretion sind Involutionen, welche 
durch eine Evolution vermittelt werden; die Exkretion hat damit 
nichts zu thun, sie ist ein mechanischer Vorgang, zu welchem 
die Sekretion erst Veranlassung giebt. Die Drüsen z. B. secer- 
nieren; die Ausstossung des Sekrets ist die bezügliche Exkretion. 
Bei der Excretio alvi handelt es sich um Ausstossung von 
Massen, die der Hauptsache nach, streng genommen, dem Körper 
nie angehört haben und nur zum kleinsten Theile Sekrete bei- 
gemengt enthalten. Aus Assimilation und Sekretion, welche 
sich so ununterbrochen folgen und deshalb so in einander greifen, 
dass man nicht sagen kann, wo jene aufhört und diese anfängt, 
setzt sich der sogenannte Stoffwechsel zusammen. Von dem 
Gange desselben hängen die Lebenserscheinungen ab. Sie sind 
gleichmässig, ist er gleichmässig; sie zeigen Schwankungen, 
Abwegigkeiten, wenn er in entsprechender Weise vor sich geht. 
Allein wenn auch dieser Stoffwechsel die Grundlage der Lebens- 
erscheinungen abgiebt, so sind es doch nicht gerade die Assi- 
milation und Sekretion, durch welche sich jene zu erkennen 
geben, — denn das sind Involutionen, also Umwandlungen in Spann- 
kraft, beziehentlich Anhäufungen von Spannkraft —, sondern die 
zwischen beiden liegenden Evolutionen, die Umwandlungen der 
vorhandenen Spannkräfte in lebendige Kräfte. Gehen dieselben 
mehr oder weniger langsam und ganz allmählich vor sich, das 
eine Mal rascher, das andere Mal langsamer, so wird von den 
fraglichen Lebenserscheinungen zunächst nur wenig, ja vielleicht 
gar nichts wahrgenommen werden können; erst nach und nach 
werden sie sich bemerkbar machen. Sie beschränken sich dann, 


da nach dem bereits Angeführten die Assimilauon in solchen 
Verhältnissen das Übergewicht über die Sekretion hat, auf Ver- 
mehrung, Anhäufung der Assimilationsprodukte. Es findet Bildung 
neuer Moleküle, Vergrösserung der jeweiligen Molekularkom- 
plexe, also Grössenzunahme des bezüglichen Stoffes, Körpers 
statt. Das Wachstum dieses ist vermehrt, der demselben zu 
Grunde liegende Anbildungsprozess erhöht. Von ihnen beiden 
aber wissen wir, dass das in sehr verschiedenem Grade sein 
kann und dass beide sich das eine Mal beschleunigter, das 
andere Mal weniger beschleunigt vollziehen können. Erfolgen 
dagegen jene Evolutionen rascher, jäher, dazu vielleicht auch 
in grösserem Umfange, so gehen die betreffenden Atom- und 
Molekularbewegungen gemäss der Eingangs gemachten Ausein- 
andersetzungen in molare über. Es kommt zu fortschreitenden 
Massenbewegungen, mechanischen Vorgängen im engeren Sinne 
des Wortes, und das sind eben die, welche wir vorzugsweise 
als Lebenserscheinungen, Lebensäusserungen ansehen, wenn wir 
nicht ihre Ursachen in der Umgebung des gerade in Betracht 
kommenden Körpers gleich zu erkennen vermögen. 

Das Leben ist eine Erscheinung der allgemeinen Involution 
des Weltalls, die zwar durch eine sich stetig folgende Reihe 
von Evolutionen in ihrer Eigenart unterbrochen wird, aber ledig- 
lich nur, um dann in eine um so stärkere und dauerndere über- 
zugehen. Seine charakteristischen mechanischen Vorgänge, welche, 
wie man sagt, von Wärme, Elektrizität, vielfach auch Licht sich 
begleitet zeigen, in der That aber aus diesen molekularen Vor- 
gängen erwachsen, sind den entsprechenden Evolutionen in der 
grossen Welt zu vergleichen: den Lichterscheinungen des St. 
Elmsfeuers, den Licht- und Wärmeerscheinungen, zündenden 
Blitzen mit gleichzeitigen oder unmittelbar nachfolgenden ander- 
weitigen Elektrizitätsäusserungen in unserer Atmosphäre bei 
Verdichtungen von Wasserdunst zu Nebel, Regen, Schnee, Hagel, 
Schlossen, dem Aufleuchten und Verpuffen der sogenannten 
Sternschnuppen in derselben, dem Heller-, Lichterwerden, Sich- 
aufblähen, Teilen der Kometen in der Sonnennähe, dem Auf- 
flammen von bis dahin matten oder noch nicht gesehenen Sterner 
bei einem mutmasslichen Zusammenstoss derselben u. s. w. 
Es klingt das vielleicht sonderbar, ja vielleicht hier gar richt 
hergehörig, ist aber doch zum Verständnis dessen, was wir 

28 


Leben nennen, und der Beziehungen desselben zu anderen Vor- 
gängen in der Welt nicht‘ ohne Belang. Man vergegenwärtige 
sich immer: Das Leben stammt aus dem grossen All; die Lebens- 
bewegung ist nur eine Sonderbewegung in der grossen Allbe- 
wegung; auch das edelste Leben hat sich nur aus der Atom- 
bewegung des Alls gebildet, aus der die Sonne, die Planeten 
und mit ihnen die Erde hervorgegangen ist. . Man erinnere sich, 
dass vom Menschen es heisst: Von Erde bist du genommen, zu 
Erde sollst du wieder werden, und wir finden es bestätigt. 
Was die Erde beherrscht, beherrscht auch die lebenden Wesen, 
und auf der Erde vollzieht sich nichts, was nicht im grossen 
All, wenn auch in anderer Form, seinen Vollzug hätte. | 

Man hat gesagt — ich will etwas vorgreifen —: Das Leben 
ist an das Organische gebunden, so als ob dieses das erste und 
jenes «das zweite wäre. Würde es indessen nicht vielleicht 
richtiger sein zu sagen: Das Leben, wenn wir es nun einmal 
doch nur als eine eigenartige, räumlich beschränkte Bewegung 
des Alls anerkennen können, bringt das Organische hervor, be- 
ziehungsweise macht den Stoff zu etwas Organischem? Die 
eigenartige Bewegung ist nicht Leistung des Organischen, sondern 
das Organische ist sinnlicher Ausdruck dieser Bewegung. Eine 
fortschreitende Bewegung des Weltenstoffs,. der Atome, .die be- 
zügliche Atomomechanik, der bezügliche Chemismus, ist das 
Erste; die daraus hervorgegangenen sogenannten chemischen 
Verbindungen, die bezüglichen Atomostasen, die bezügliche. 
Atomostatik selbst, die Masse stehender Bewegung, welche die 
Atome greifbar, sichtbar, wägbar macht, das Zweite. In diesem 
Sichtbaren, Greifbaren, Wägbaren vollziehen sich allerdings 
dann, für uns allein bemerkbar, die fraglichen Bewegungen in 
der oben geschilderten charakteristischen Weise; aber immer 
ist der durch seine Sichtbarkeit, Greifbarkeit, Wägbarkeit sinn- 
lich wahrnehmbare Körper nur der Träger dieser Bewegung, 
beziehentlich der Vermittler dafür, dass sie in gröberer und 
darum für uns deutlicher Weise in dynamischen und mecha- 
nischen Vorgängen sich zur Erscheinung bringt, nie jedoch 
ihre Ursache. | 

Übrigens giebt es eine Menge von organischen Wesen, 
Organismen, welche zu Zeiten kein Leben zeigen, deshalb für 
schon leblos, tot, also nicht mehr für organisch im Gegensatz 


zum Unorganıschen gehalten werden, bis mit einem Male sich 
dieses Leben wieder zu regen, zu bewegen anfängt. Zu diesen 
Wesen gehören so ziemlich alle Pflanzen der kalten und kälteren 
Zonen während des Winters, und nur die Erfahrung, dass sie 
mit erwachendem Frühling sich wieder belebt zeigen werden, 
lässt ihren winterlichen Zustand anders beurteilen. Umgekehrt 
verhält es sich mit vielen Pflanzen der wärmeren und warmen 
Zonen, namentlich der Wüsten und Steppen der östlichen, der 
Pampas, Llanos, Prairien der westlichen Halbkugel. In der 
regenlosen Jahreszeit erscheinen sie verdorrt, tot, aus dem 
leicht zerstäubenden Boden herausgerissen, ein Spiel der Winde; 
wenn aber dann die kühlere, regenreiche Zeit folgt, so frischen 
sie sich wieder auf und ergrünen zu neuem Leben. Die soge- 
nannte Mannaflechte, die Sphaerothallia esculenta, die bekannte 
Rose von Jericho, die Anastatica hierochuntica, mögen als be- 
sonders bemerkbare Zeugnisse dafür angeführt werden. Nur 
die Erfahrung, dass das sein werde, wenn die fraglichen Pflanzen 
in der heissen Zeit noch so trocken, noch so dürr, wie todt, 
also dem Unorganischen gleich aussehen, lässt auch ihren Zustand 
demgemäss beurtheilen. : Und doch welche Täuschungen kommen 
dabei vor!? Ferner gehören zu diesen Wesen die keimungs- 
fähigen Samen der Pflanzen, welcher Art sie auch sein mögen, 
die jahrelang, wie wir von den aus ägyptischen Mumiensärgen 
‚stammenden wissen, Jahrtausende lang ihre Keimkraft bewahren 
können, inzwischen wie tot aussehen und, was namentlich die 
letzteren anlangt, auch dafür lange galten. Alle Eier von Tieren, 
namentlich von Gliedertieren und Würmern, welche sich Wochen 
und Monate hindurch in eisiger Winterskälte und sengender 
Sommershitze, in sonst Alles austrocknender Dürre oder zer- 
weichender Nässe entwickelungsfähig erhalten, sind andere 
Gruppen dieser Wesen. Selbst ausgebildete und zum Teil 
hoch entwickelte Tiere kommen sodann unter ihnen vor. Es 
giebt ihrer solche, welche vollständig gefrieren, welche voll- 
ständig, ich möchte sagen, gebacken werden können, in diesem 
Zustande spröde und zerbrechlich sind und nichtsdestoweniger 
wieder zu einem Leben zu gelangen vermögen, welches dem 
vollständig gleich ist, das sie vordem besassen. Verschiedene 
Krebse, namentlich Copepoden, verschiedene Spinnen, wie 
Hydrachniden, Tardigraden, verschiedene Würmer, vorzugsweise 


22 f 

Gordiaceen, Anguillulideen, liefern dafür die meisten Belege. 
Im Jahre 1856 sammelte ich mit Prof. Münter im Anfang des 
Monats Juli ein Phleum Böhmeri mit monströsen Fruchtknoten. 
Das sehr nasse Wetter des ganzen Sommers liess die für das 
Herbarium bestimmten Pflanzen nicht zur Trockenheit kommen. 
Um diese letztere dennoch zu erzielen, wurden die betreffenden 
Pflanzen in einen Trockenofen gebracht, der immer doch mit 
einer Wärme von einigen 50° C. und darüber auf sie wirken 
mochte. Die Pflanzen wurden denn auch vollkommen trocken 
in ihm, ja selbst spröde. Im November oder December des- 
selben Jahres wurden gelegentlich die monströsen Fruchtknoten 
untersucht. In jedem derselben befand sich ein kleines Würmchen, 
das leicht zerbrach und zu Staub zerrieben werden konnte. In 
einem Tropfen Wasser unter das Mikroskop gebracht, zeigte 
es aber sehr bald lebhafte Bewegungen, und ich erinnere mich 
noch sehr wohl der grossen Verwunderung, welche ich darüber 
empfand, dass ein unter meinen Augen gedörrtes Tier, nachdem 
es wenigstens fünf Monate tot dagelegen zu haben schien, sich 
wieder zu neuem Leben erhob. 

Wir wissen, dass in allen diesen Fällen nicht neues Leben 
in die betreffenden Wesen hineinfährt, dass sie nicht zu neuem 
Leben erwachen, sondern dass ihr noch immer vorhandenes nur 
so ausserordentlich schwach und geringfügig war, dass wir es 
nicht an irgend welchen Äusserungen wahrzunehmen vermochten. 
Sein Bestand war für uns verborgen; es war latent. In der 
That bezeichnet man denn auch ein Leben, das sich durch 
längere Zeit für uns nicht äussert, durch einen Scheintod, 
so zu sagen, vertreten wird, als ein latentes. Die Wesen, welche 
nach mehreren Jahren noch ein Leben besitzen, nur dass es bis 
dahin latent war, erscheinen uns starr. Sie erscheinen uns da- 
mit wie leblos, tot, der Welt des Unorganischen anheimgefällen. 
Denn die Form an sich macht ja nicht das Organische aus, 
sondern lediglich die Art und Weise, in welcher sie auf uns 
wirkt, d. h. sich äussert, bethätigt. 

Wir unterscheiden dem oben Erörterten gemäss vorzugsweise 
eine Starrheit aus Kälte, die Kältestarre, und eine Starrheit aus 
Wärme, die Wärmestarre. Wir unterscheiden zwar neben dieser und 
jener Starre auch noch insbesondere eine Totenstarre, die Starr- 
heit, welche in Folge des Todes eintreten soll; allein das Jetztere 


ist nicht ganz richtig. Die Totenstarre tritt nicht ın Folge des 
Todes, sondern des Ablebens, des Absterbens, ein. Sie ist die 
letzte Lebensäusserung, an die sich der Tod der Regel nach 
anschliesst, indessen nicht gerade anschliessen muss. Auch aus 
der Totenstarre kann eine Rückkehr zu voller Lebensäusserung 
noch erfolgen, wenn auch wohl kaum in so zahlreichen Fällen, 
wie die Erzählungen vom Wiedererwaechen aus dem Scheintode 
"glaubhaft machen wollen. Was bedingt nun die fragliche Starre? 
Doch nichts Anderes als die Starrheit des bezüglichen Mole- 
kulargefüges auf Grund einer sehr weit gediehenen Atomostase, 
einer sehr starken Concentration beziehentlich Contraction der 
betreffenden Atome um einen bestimmten Punkt. Dass die Kälte 
zu einer solchen führt, haben wir schon erfahren; dass es auch 
die Wärme vermögen soll, die sonst das Gegenteil bewirkt, 
ist für uns neu. Allein wir brauchen uns blos zu denken, dass 
die Wärme die allen lebenden Wesen innewohnende Feuchtigkeit 
austreibt, un das dennoch ganz 'begreiflich zu finden. Denn ’ı. 
vertreibt sie die sogenannte interstitielle, intermolekulare Flüssig- 
keit, wodurch wenigstens die Moleküle zusammenrücken und 
deshalb urbeweglicher werden müssen, und 2. zerstört sie auch 
die in den Molekülen selbst vorhandene, welche eine Art von 
Constitutionswasser darstellt und da sein muss, damit der bereits 
erwähnte Stoffwechsel vor sich gehen kann, indem durch diese 
Flüssigkeit die zu demselben erforderlichen Bestandteile den 
einzelnen Atomen nahe gebracht und die durch denselben erst 
hervorgegangenen Körper aus ihrer Nähe wieder entfernt werden 
können; es müssen aber dadurch auch die Atome noch zusammen 
rücken und ebenfalls in ihrer Beweglichkeit beeinträchtigt werden, 
und das Ganze muss sich mithin noch mehr verdichten, muss 
noch unbeweglicher werden, mehr oder weniger erstarren. Was 
Kälte, was Wärme in verhältnismässig hohem Grade vermögen, 
die Lebensthätigkeit latent zu machen, indem sie’dieselbe hemmen, 
die durch sie zum Ausdruck gebrachte lebendige Kraft in Spann- 
kraft umwandeln, das vermögen auch alle sonstigen gleich- 
wertigen Momente: das Licht, die Elektrizität, die entsprechenden 
mechanischen Vorgänge, Druck, Stoss. Jede stärkere, jede starke 
Krafteinwirkung, oder, wie wir in Bezug auf organische Körper 
sagen, jede stärkere, jede starke Reizung, beziehentlich jeder 
stärkere oder starke Reiz, hat eine Hemmung der Lebensthätig- 
keit zur Folge. Wir werden hierauf später zurückkommen. 


24 

In Anbetracht nun all’ dessen lässt sich doch wohl nicht so 
ohne Weiteres behaupten, das Leben sei an das Organische ge- 
bunden, gleichsam einen Ausfluss desselben darstellend. Das latente 
Leben ist eigentlich kein Leben mehr, ebenso wenig wie die 
latente Wärme noch Wärme, wenigstens im gewöhnlichen Sinne 
des Wortes, ist. Das latente Leben wird darum auch .oft, und 
um so häufiger, je länger seine Latenz dauert, für ein schon 
erloschenes gehalten. Es ist nur noch, ich möchte sagen, die 
Möglichkeit zum Leben. Es ist nur noch ein potentielles, ein 


virtuelles Leben, und der Körper, in welchem es steckt, ist ab- 


gesehen von der Form, eigentlich kein Organischer mehr; uns 
fehlt das Kriterium dafür; er nimmt vielmehr eine Mittelstellung 
zwischen Organischem und Unorganischem ein und wird un- 
zweifelhaft zu letzterem, wenn sein latentes Leben sich nicht zu | 
einem aktiven, effektiven erhebt. Damit es sich aber zu einem 
solchen erhebe, bedarf es der Zufuhr von Reizen, durch welche 
die es bindenden Reize in ihrer Wirkung gemässigt, gehoben, 
oder auch durch welche gewisse, es noch unterhaltende Reize 


so verstärkt werden, dass andere, es niederhaltende dadurch 


überwunden werden. Es ergiebt sich hieraus, dass, wenn auch 
nach unseren Erfahrungen das Leben an das Organische ge- 
bunden erscheint, es doch noch durchaus nicht an dasselbe ge- 
bunden zu sein braucht. Das aktive, effektive Leben scheint 
allerdings immer nur mittelst desselben uns zur Wahrnehmung 
zu kommen; das latente jedoch, warum sollte es sich nicht auch 
in Atomverbindungen, Molekularkomplexen finden, die als organisch 
in der herkömmlichen Bedeutung noch nicht bezeichnet werden 
können? — Wenn das Leben nur eine von der grossen Allbe- 
wegung räumlich und zeitlich ausgesonderte ist und in dieselbe 
wieder zurückkehrt und zwar allmählich, — die Totenstarre ist 
der Ausdruck dieses allmählichen Überganges —, so ist es doch 
auch mehr als wahrscheinlich, dass sie sich nur allmählich aus 
der grossen Allbewegung ausgesondert hat und in Stoffen und 
Körpern anwesend sein muss, welche noch nicht organisch 
genannt werden können, aber die Möglichkeit besitzen, es zu 
werden, welche gewissermassen eine Mittelstellung zwischen dem 
Organischen und Unorganischen, dem Belebten und Unbelebten 
oder Leblosen, Toten, einnehmen. 

Die Angelegenheit ist hinsichtlich der Frage: Was ist Leben, 


25 

wie äussert sich Leben und welchen Gesetzen zeigt es sich 
unterthan? von grösserem Belang als es im ersten Augenblick 
scheinen dürfte. Sie hängt in Anbetracht dieser Frage auch auf 
das Innigste mit der nach der Generatio aequivoca oder Abio- 
genesis zusammen, über welche zwar wiederholt ein Anathema 
sit ausgesprochen, deren Nicht-Vorhandensein auch in der Gegen- 
wart indessen nicht im Geringsten erwiesen worden ist. Männer 
wie Charlton Bastian, Huizinga sind erst in den letzten Jahr- 
zehnten noch für sie eingetreten, und ich kann nicht einsehen, 
warum sie nicht noch vorhanden sein soll. Ich will sie nicht behaup- 
ten, denn ich habe keine Unterlagen dafür; allein alle, die sie ab- 
leugnen und behaupten: Omne vivum nisi ex ovo, haben ebenso 
wenig Unterlagen hierfür. Behauptung steht da gegen Behauptung. 
Aller Stützen entbehrt keine. Die Neigung und der Geschmack 
der Behauptenden entscheidet allein, zu welcher sie sich selbst 
bekennen und welche sie stützen wollen. Endgültig beweisen 
jedoch kann weder der eine noch der andere, was er behauptet. 

Als das Organische, beziehungsweise als die Grundlage 
alles Organischen gilt heut zu Tage das von Hugo v. Mohl ım 
Jahre 1846 in seiner wahren Bedeutung zuerst erkannte Proto- 
plasma, das heute auch vielfach Bioplasma genannt wird. Es ist das 
eine sehr zusammengesetzte chemische Verbindung, welche der 
Hauptsache nach aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauer- 
stoff besteht, etwas Schwefel und Phosphor, gelegentlich aber 
auch noch manche andere Stoffe enthält. Vornehmlich durch den 
letztgenannten Umstand wird sie in ihrer Zusammensetzung 
mehr oder weniger abgeändert, zeigt sich in Folge dessen auch 
in ihrem sonstigen Verhalten mehr oder weniger andersartig; 
büsst aber niemals wesentlich an ihrem eigentlichen, ihrem Haupt- 
charakter ein. Das Protoplasma erscheint bei genügender, 
etwa 1000 maliger Vergrösserung als eine glasig helle, stark 
lichtbrechende, in ihrem Zusammenhange leichter oder schwerer 
verschiebbare und darum mehr dünn- oder mehr dickflüssige 
Masse. Man kann dieselbe schlechtweg als zähflüssig bezeichnen. 
Da sie bei nachlassendem Druck, durch welchen sie auseinander 
_ getrieben worden, leicht wieder in die alte oder doch eine dieser 
ähnliche Form zurückkehrt, so erweist sie sich auch als elastisch, 
und man kann sie deshalb auch zäh-elastisch oder elastisch-zäh 
nennen. Dabei ist sie contractil, d. h. sie zieht sich auf Reize, 


welche sie treffen, zusammen und dehnt sich, kommen dieselben 
in Wegfall, wieder aus. Es gilt das für ihre charakteristischste 
Eigenschaft; es ist dieselbe aber wohl kaum etwas Anderes, als 
die sehr gesteigerte, namentlich in Betreff der Schnelligkeit 
ihres Vollzuges gesteigerte entsprechende Eigenschaft aller übrigen 
Körper, auf gewisse Kraftwirkungen hin sich zusammen zu ziehen 
und nach Aufhören derselben wieder auszudehnen. Die gedachte 
Contractilität kann wie alle Eigenschaften des Protoplasmas sehr 
verschieden sein. Sie kann sehr auffällig, sie kann nur schwer 
zu erkennen sein; aber vermisst wird sie im aktiven Leben wohl 
niemals! Sie vermittelt den das Leben ausmachenden Chemismus 
mit den mechanischen Vorgängen, welche wir als bezeichnend 
für jenes ansehen. 

Bei genauerer Besichtigung erscheint die Masse des Proto- 
plasmas wie aus bald mehr geraden, bald mehr gewundenen, 
einen mannigfachen Verlauf einhaltenden Fäden zusammengesetzt. 
Die Fäden, an welche die Contractilität gebunden erscheint, 
werden einesteils durch Spalten, Risse, Klüfte auseinander ge- 
halten und stehen andernteils vielfach mit kleinen, eben erst 
sichtbar werdenden, aber auch eine Grösse von I , d. i. 0,001 
Mmtr. im Durchmesser besitzenden, recht verschieden gestalteten 
Körnchen in Verbindung. 

Die die Fäden trennenden Spalten, Risse und Klüfte sind 
mit einer Flüssigkeit erfüllt, welche wohl das Material enthält, 
das der Ernährung der Fäden und Körnchen erst noch dienen 
soll oder auch bereits gedient hat. Die Fäden selbst würden so, 
wenigstens grossen Teils und insoweit sie nicht durch andere 
Verhältnisse vorgebildet worden, nur dadurch entstehen und 
entstanden sein, dass die einst mehr homogene Masse durch 
Aufnahme von Ernährungsmaterial, Ausscheidung von Ver- 
brauchsmaterial von Lücken durchsetzt wurde, welche sich nach- 
her zu Spalten, Rissen und Klüften verbanden. Es wäre damit 
dann aber auch ein Kanalsystem zu Stande gekommen, in welchem 
sich die erwähnten Materialien bewegten, das schliesslich die 
ganze Protoplasmamasse durchzöge und sie in das Fadennetz um- 
wandelte, als welches es vornehmlich von einem gewissen Alter 
ab erscheint. 

Die erwähnten Körnchen sitzen in den Knotenpunkten sich 
anscheinend kreuzender Fäden. Sie sind deshalb auch vielfach 


27 

lediglich als der Ausdruck der blossen Kreuzung dieser letzeren 
angesehen worden und werden auch noch vielfach dafür weiter an- 
gesehen. Die Körnchen sitzen aber auch im Zuge der Fäden selbst 
und zwar wie in sie eingebettet, manchmal auch so, als ob sie ihnen 
blos anhafteten, einfach anklebten oder auch mit einem Stiele auf- 
sässen, und in einigen Gebilden scheinen sie sogar blos lose neben 
ihnen und damit zwischen ihnen zu liegen. Dass es wirklich frei 
zwischen den Fäden, also in den besprochenen, dem Ernährungs- 
material dienenden Kanälen liegende Körnchen giebt, erliegt kaum 
noch einem Zweifel. Indessen dieselben dürften vielfach dem Er- 
nährungsmaterial allein zugehören, und sind durchaus von den 
in Rede stehenden getrennt zu halten. Diese letzteren, in ihrem 
Vorhandensein am entschiedensten von M. Schultze, danach von 
Boll, mir und neuestens von Altmann behauptet, im Allge- 
meinen indess durchaus bestritten, sind meiner Meinung nach 
Bläschen oder Kapseln, da sich an ihnen ein Inhalt und eine 
diesen umschliessende Hülle unterscheiden lassen. Von den 
Pathologen sind mir diese Körnchen vielfach als Kokken, Bakte- 
rien gezeigt worden, und ich erinnere mich noch sehr wohl, wie 
ein eifriger Kokken- und Bakterienforscher vor Jahren in einem 
entzündeten Knorpel die in denselben hinein wachsenden Gefäss- 
sprossen sowie an dem z. T. in lebhafter Cellulation begriffenen 
Inhalte der bezüglichen Knorpelkapseln, welche beide, wie alles 
jugendliche Protoplasma, sehr reich an den besagten Körnchen 
waren, als massenhafte Einwanderungen und Ansiedelungen von 
Kokken in dem Knorpel nachzuweisen suchte. Die Pathologen 
haben diese Körnchen im Allgemeinen immer als Körnchen auf- 
gefasst, wenn sie dieselben auch zumeist als etwas dem Proto- 
plasma an sich nicht Zukommendes, ihm Fremdartiges, erachteten, 
sie eben für eingewanderte Kokken oder Bakterien erklärten. 
Die Physiologen dagegen, und unter diesen in Sonderheit die 
für gewöhnlich nur normale Gewebe untersuchenden Histiologen 
haben, wie schon gesagt, dieselben blos für Kreuzungs- oder ' 
Knotenpunkte der sich mannigfach verflechtenden Fäden ange- 
sehen, bis sie in der neuesten Zeit durch ihr Chromatin, das 
körnchenartig in den Fäden liegt, oder diesen anhängt, ihnen 
als Körnchen bis zu einem gewissen Grade doch auch gerecht 
geworden sind. 

Die fraglichen Körnchen besitzen in der Regel eine grosse 


28 
Anziehungskraft für Farbstoffe, während den Fäden eine solche 
nur in beschränktem Masse zukommt. Manche Körnchen scheinen 
manche Farbstoffe ganz besonders gern aufzunehmen, und au- 
deren gegenüber sich mehr indifferent zu verhalten, und, da 
etwas Gleiches bei den Kokken und Bakterien vorkommt, 
scheinen die Pathalogen sie gerade darauf hin für Kokken und 
Bakterien erklärt zu haben. Die Form der Körnchen ist, wie 
schon erwähnt, eine sehr verschiedene. Sie ist rundlich, eckig, 
eiförmig, -birnförmig, keulenförmig. Ihr Inhalt, beziehentlich 
Inhaltskörperchen, zeigt sich ebenfalls recht mannigfaltig. Meist 
sieht es schwärzlich aus, bald mehr mit einem Stich in das ein- 
fach Graue, bald mehr mit einem solchen in das Braune. Es 
kann aber auch anders gefärbt sein und rötlich, grünlich, gelb- 


lich erscheinen. Manchmal ist es das Licht doppelt brechend. 


Die Körnchen liegen in der übrigen Masse des Protoplasmas, 
welche herkömmlich ziemlich allgemein Grundsubstanz desselben 
geheissen wird, einzeln oder zu mehreren, in dichteren oder 
loseren Gruppen. Dieselben erscheinen als Reihen, kleinen 
Perlenschnüren vergleichbar, oder als kleinere oder grössere 
Häufchen, drusenartigen Gebilden nicht unähnlich. Wo die 


Körnchen dichter zusammenliegen, ist die Grundsubstanz an und. 


für sich auch dichter: sie ist glänzender und nimmt die Farb- 
stoffe leichter und in grösserer Menge auf, als wo jene weniger 
dicht an einander liegen. Die Körnchen sind häufig und nament- 
lich da, wo sie mehr vereinzelt liegen, in lebhafter, vibrierender, 
oscillierender oder auch selbst fortschreitender Bewegung, wie 
insbesondere bei Pflanzen. Die Bewegung pflegt um so aus- 
giebiger und darum deutlicher zu sein, je weniger Widerstand 
ihr von Seiten der Grundsubstanz entgegengesetzt wird, also je 
weniger dicht, je flüssiger, je zerfliesslicher sie ist. Zerfliesst 
sie einmal wirklich, werden die Körnchen dabei frei, so schwir- 
ren dieselben auseinander. Unter vibrierenden, oscillierenden, 


rotierenden Bewegungen tanzen sie unter einander herum, fahren ° 


plötzlich in weiten Bogen durch einander, nähern sich, stossen 
sich ab, nähern sich wieder, stossen sich wieder ab, bis sie mit 
einem Male zusammenschiessen und sich zu eigentlichen Gruppen 
verbinden, was Brücke an.den Körnchen der Speichelkörperchen 
schon vor Jahren gesehen und von Impulsen abhängig gemacht hat, 
welche möglicher Weise von den Körnchen selbst oder ihrer 


29 


Umgebung ausgingen. Reste der ehemaligen Grundsubstanz, in 
die sie eingebettet waren, scheinen sie in diesen Gruppen zu- 
sammen zu halten, mit einander zu verkleben. 

Die bezüglichen Gruppen bestehen aus 3—4, auch 5—6 oder 
noch mehr der beschriebenen Körnchen, sind drusenartig, oder 
fadenförmig, schnurartig, Öfter verzweigt, kurz im grossen 
Ganzen in ihrem Wesen durchaus ähnlich den in noch wohler- 
haltener Grundsubstanz gelegenen. Die fraglichen Körnchen 
erweisen sich danach als eine Art selbstständiger Lebewesen, 
lassen sich jedenfalls nicht ohne Weiteres von gewissen solcher 
unterscheiden. Sie gleichen Kokken und Bakterien und unter 
ihnen günstigen Verhältnissen, passendem Nährboden, gehöriger 
Wärme, scheinen sie in solche geradezu überzugehen. Sie ver- 
grössern sich, teilen sich, vermehren sich damit und gemäss 
der Verhältnisse, unter denen das geschieht, in sehr verschie- 
dener Weise. Sıe werden zu Monokokken, Diplokokken, Torula- 
und Zoologlöa-Formen derselben, zu Bakterien, Bacillen, Bakte- 
ridien und den verschiedenen Formen, unter welchen dieselben 
überhaupt vorkommen. Es ist das, wie es A. Bechamp seiner 
Zeit beschrieben und v. Nencky bis zu einem gewissen Grade 
als richtig anerkannt hat. Ich habe darüber schon im Jahre 1880 
in Virchow’s Archiv für pathol. Anatomie und Physiologie und 
für klin. Med. eine Reihe von Aufsätzen veröffentlicht. Allein 
‘dieselben haben nur wenig Beachtung gefunden: und sind jetzt 
wohl ganz vergessen. Die darin entwickelten Ansichten entfern- 
ten sich zu sehr von den gemeingültigen und schienen in keiner 
Weise mit denselben in Einklang gebracht werden zu können. 
Zudem war die breite Entwickelung, welche die Bakteriologie 
unter R. Koch genommen hatte, diesen Ansichten nichts weniger 
als günstig. Diese Ansichten waren ein Ausfluss Darwin- 
Haeckel’scher Lehren. Sie stützten sich auf Anschauungen, 
welche in das Gebiet der Transmutationstheorie schlagen, und 
Herr Koch wie seine ganze Schule huldigt wenigstens in der 
Bakteriologie der Stabilitätstheorie. Die Species ist für ıhn und 
die Seinigen ständig und wenigstens als solche auch unverän- 
derlich. Ein Kokkus zeugt immer nur denselben Kokkus, ein 
Bakterium giebt immer nur demselben Bakterium das Dasein. 
Es ist das bisher wenig oder gar nicht beachtet worden; aus 
ihm aber erklärt sich gar Manches. Ist die Transmutations- 


30 


theorie ıudessen überhaupt richtig, so muss sie es auch für die 
Bakteriologie sein; die Stabilitätstheorie aber ist unter allen 
Umständen unhaltbar. Und hieran leidend werden die Kochschen 
Theorien sich wohl noch manche Einschränkurgen gefallen lassen 
müssen. Ganz zu Grunde gehen werden sie wohl kaum, wie 
von manchen Seiten erwartet wird. Die Kokken, die Bakterien, 
welche hier in Frage kommen, sind nun einmal da und entfalten 
erwiesener Massen ihre unheilvolle Wirkung bei Menschen, 
Tieren, Pflanzen, in welche sie geraten sind; allein kaum 
werden sie, namentlich in ärztlicher Beziehung, in Anbetracht 
der Heilkunde und Heilkunst, die Bedeutung, den Wert behalten, 
den man ihnen gegenwärtig zuschreibt, und den man in noch 
höherem Masse von ihnen für die Zukunft erhofft. 

Die Ptomaine, durch welche die eingewanderten Kokken 
und Bakterien den betreffenden Organismen schaden sollen und, 
wie nachgewiesen ist, auch wirklich schaden, stammen in vielen 
Fällen ursprünglich wohl ganz wo anders her. Einfach chemische 
Vorgänge bei der Fäulnis, der Zersetzung organischer Körper 
unter besonderen Verhältnissen dürften ihnen gar oft allein den 
Ursprung geben. Wo sie aber vorhanden sind, werden geeignete 
biegsame Körper sich an sie gewöhnen, sich den durch sie ver- 
änderten Lebensbedingungen, wie es heisst, anpassen, sich damit 
selbst verändern und Träger, Fortpflanzer, ja Bereiter jener 
Ptomaine werden. Sie werden danach als solche verharren so 
lange, als die Bedingungen fortwirken, unter denen sie wurden. 
Fallen diese jedoch weg, so werden auch die durch sie er- 
haltenen Eigenschaften hinfällig werden und verschwinden. Die 
betreffenden Körper arten dann aus, passen sich wieder den 
veränderten Verhältnissen an, oder, sind sie dazu nicht im Stande, 
gehen zu Grunde. 

Buchner fand, dass bei lang fortgesetzter geeigneter Züch- 
tung des Milzbrandbacillus die Infectionsfähigkeit desselben all- 
mählich abnahm, bei der 36. Züchtung schon stark veringert 
und nach einem halben Jahre vollständig erloschen war, ferner 
dass die Bacillen dabei sich auch sonst stark verändert hatten 
und dem natürlich vorkommenden unschuldigen Heubacillus ähn- 
lich geworden waren. Auf der anderen Seite fand er aber 
auch, dass Heubacillen durch Züchtung in arteriell gehaltenem 
Blute Formen bildeten, welche zwar noch nicht wie gewöhnliche 


al 
Milzbrandbacillen sich verhielten, indessen doch, in grösserer 
Menge Tieren beigebracht, bei diesen eine Art langsam ent- 
stehenden Milzbrandes hervorriefen. Impfungen mit den dann 
in dem betreffenden Tierkörper gewucherten Bacillen brachten 
jedoch schon in kleinen Mengen geimpft den gewöhnlichen Milz- 
brand zur Erscheinung. 

Es sind diese Angaben freilich vielfach bestritten worden; sie 
sollten auf Täuschung beruhen; allein merkwürdig ist doch, dass 
Pasteur und nach ihm auch R. Koch selbst gefunden haben, dass, 
wenn Milzbrandbacillen bei einer Temperatur von 42— 43°C. in neu- 
tralisirter Bouillon gezüchtet werden, sie zwar Milzbrandbacillen 
bleiben, d. h. ihre morphologischen und gewisse andere Eigen- 
schaften beibehalten, dass sie indessen allmählich ihre Giftigkeit 
verlieren und schon nach einigen Wochen sich als ganz unschäd- 
lich erweisen. 

Von W. Löwenthal ist sodann mitgeteilt worden, dass 
Cholerabakterien in Bouillon oder Pepton-Gelatine gezüchtet, 
ebenfalls rasch ihre Giftigkeit verlieren, dass sie dieselbe jedoch 
gleichfalls bald wiederbekommen, wenn sie unter den Einfluss 
von Pankreassubstanz oder auch blos Pankreatin gebracht werden 
Löwenthal hat daraus gefolgert, dass das Pankreatin bei 
der Cholera eine grosse Rolle spiele. Besonders von Hüppe 
ist ihm dieses letztere als ein Irrtum nachgewiesen worden; 
allein darin, dass die Cholerabakterien ihre Giftigkeit verlieren 
und wiederbekommen können, je nachdem ihr Nährboden wechselt, 
scheint er doch Recht behalten zu haben. 

Unter dem Einfluss der verschiedenen Ptomaine nun, welche 
von Brieger bekanntlich mit vielem Glück künstlich dargestellt 
worden sind, so dass obiger ‘Ausspruch über ihre Entstehung 
und ihr Herkommen wohl gethan werden konnte, gehen aus den 
überlebenden Protoplasmakörnchen der bezüglichen Cadaver 
die entsprechenden Ptomaine tragenden und bereitenden Kokken 
und Bakterien. hervor. Unter ihrem Einfluss, und dabei ist zu 
erwägen, dass es auch flüchtige Ptomaine giebt, dass feste ver- 
flüchtigen können und dass, da die meisten Ptomaine wohl die 
letztgenannte Eigenschaft besitzen, sie auch durch den Atmungs- 
prozess in andere lebende Organismen gelangen können, gehen 
dann in diesen, zumal wenn ihre Widerstandsfähigkeit gering 
ist, aus den Protoplasmakörnchen ihres eigenen Körpers die 


Kokken und Bakterien hervor, welche unter bestimmten Ver- 
hältnissen in ihnen gefunden werden. Die Kokken und Bakterien, 
welche wir gelegentlich in lebenden Wesen antreffen, brauchen 
deshalb gar nicht von aussen in sie hineingekommen zu sein; 
sie können es; allein nötig ist es durchaus nicht. Sie können 
sich auch in ihnen gebildet haben, indem sie sich gewissermassen 
in ihnen und aus ihnen selbst züchteten und vermehrten. Und was 
die von aussen stammenden Ptomaine zu leisten im Stande sind, 
das leisten ein ander Mal auch die ihnen entsprechenden Stoffe, 
welche im eigenen Körper entstanden, die sogenannten Leuko- 
maine, und mit ihnen alle schädlichen Stoffwechselsergebnisse, 


deren es eine ganze Menge giebt, überhaupt. Denn indem diese 
"sämmtlich als Reize. wirken, Steigerung der Körperwärme bis, 


zur Fieberhitze und unter deren Einfluss Veränderung des Nähr- 
bodens, der Protoplasmakörnchen herbeiführen, leisten sie auch 
der Umbildung derselben in eigentliche Kokken und Bakterien 
Vorschub. Es können darüber allerdings, ehe es zu solchen 
kommt, nach den beregten Beobachtungen von Buchner, Pasteur, 
Koch viele Wochen, selbst Monate und in diesen wieder viele 
Generationen der sich umbildenden Körper vergehen, inzwischen 
aber krankt der in Betracht kommende Körper ganz in derselben 
Weise, als wenn in ihm bereits Kokken und Bakterien hausten, 
von denen man glaubt, dass sie allein ihn in der entsprechenden 
Weise krank zu machen im Stande seien. 

Die Erfahrungen, welche man bei den Einspritzungen von 
Tuberculinum Kochii gesammelt hat, dass sich nach denselben 
Miliartuberkulose entwickelt, auch ohne dass Tuberkulose über- 
haupt bis dahin bestanden zu haben schien, die man indessen 
bis jetzt ganz anders gedeutet hat, sind in dieser Beziehung 
gewiss nicht ohne Belang. Ebenso wenig sind es aber auch die 
Erfahrungen, welcheBeumer und Peiper hinsichtlich des Typhus, 
Loeffler hinsichtlich der Diphtherie, Nicatiund Rietsch sammt 
ihren Nachfolgern hinsichtlich der Cholera, Brieger u. A. hin- 
sichtlich desStarrkrampfesgemacht haben, nämlich dassdie von den 
bezüglichen Bakterien gelieferten Ptomaine schon an und für sich 
die entsprechenden Krankheitszustände hervorzurufen vermögen, 
d.h. ohne dass dabei nachweislich auch nur eins der zugehöri- 
gen Bakterien zur unmittelbaren Mitwirkung zu gelangen brauche. 
Ja nach Behring und Kitasato sind es in Bezug auf die 


33 


Diphtherie und den Tetanus nur die von den betreffenden Bak- 
terien erzeugten Ptomaine, welche die einschlägigen Krankheits- 
erscheinungen hervorrufen, da sich die Bakterien selbst von 
der jeweiligen Impfstelle aus der Hauptsache nach nicht weiter 
verbreiten. Sie senden blos ihr Gift aus, welches dann den 
ganzen Körper durchsetzt und die diphtherischen und tetani- 
schen Erscheinungen hervorruft. Es verhält sch also mit den 
Ptomainen ganz ähnlich wie mit den flüchtigen. Arsenik-, Phos- 
phor- oder auch Kohlenstoffverbindungen, die jäh töten, wenn 
sie in grösseren Mengen eingeatmet werden, indessen zu mehr 
akuten oder chronischen Krankheiten, chronischem Siechtum 
mit allerhand Veränderungen in den verschiedenen Organen 
führen, wenn sie nur in geringerem Masse, aber durch mehr oder 
weniger lange Zeitin entsprechender Weise aufgenommen wurden. 
Die in letzterem Falle sich etwa vorfindenden Bakterien werden 
jedoch Jabei in keinen, wenigstens keinen näheren Zusammen- 
hang mit den ursächlichen Momenten der einschlägigen Organ- 
veränderungen gebracht, weil die bezüglichen Arsenik-, Phosphor-, 
Kohlenstoffverbindungen bis jetzt als keine Produkte bakterieller 
Thätigkeit erkannt worden sind. 

Sind jedoch die in Rede stehenden Kokken und Bakterien 
einmal rla, so führen sie, ihrem erworbenen Naturell gemäss, 
auch zu all’ den Uebelständen und Schäden, welche ihnen, als 
: von vornherein gegebenen spezifischen Körpern, von Koch und 
seinen Anhängern, beziehentlich allen exklusiven Bakteriopatho- 
logen allein zugeschrieben werden. 

Die Koch’schen Lehren, in ihrer Grundanschauung vielfach 
im Widerspruch stehend mit den sonstigen auf umfassenden 
Beobachtungen und Experimenten beruhenden Anschauungen der 
modernen Biologie, sind in ihren Consequenzen unhaltbar. Mögen 
immerhin einige oder selbst eine ganze Anzahl von aussen her 
in die verschiedenen Organismen eingedrungener Kokken und 
Bakterien, wie vor Allem die Milzbrandbacillen, die Strahlen- 
pilzkörner, also der Bacillus anthracis und der Actinomyces 
Bollingeri, den vernichtenden Einfluss ausüben, der ihnen zuge- 
schrieben wird, mögen andere, wie vornehmlich die Wurzel- 
bakterien der hülsenfrüchtigen Pflanzen, der Leguminosen, mit 
denen diese eine Symbiose eingegangen zu sein scheinen, zu 
ihrem Lebensunterhalte beitragen; die Hauptmasse der Kokken 


3 


. 34 

und Bakterien, beziehungsweise kokken- und bakterienähnlichen 
Wesen, welche in einem Organismus überhaupt gefunden wird, 
stammt wohl aus ihm selbst, gehört ihm von Hause aus an. 
Die betreffenden Kokken und Bakterien sind Umbildungen der 
vielbesprochenen Körnchen des ihn bildenden Protoplasmas 
oder diese Körnchen in der ihnen jeweilig zukommenden Form 
selbst. Die Wurzelbakterien der Leguminosen sind vielleicht 
auch nur solche durch Anpassung umgewandelte Körnchen des 
Protoplasmas gewisser ihrer Zellen. 

Die fraglichen Körnchen wurden von M. Schultze als 
Produkte der formativen Thätigkeit des Protoplasmas, nämlich 
der Grundsubstanz, welche er als den wesentlichsten Bestand- 
teil desselben betrachtete, angesehen. Boll u. A. sind ihm 
gefolgt. Ich auch, und in Anbetracht des Umstandes, dass die 
Körperchen die ersten Leistungen dieses Protoplasmas darstellten, 


aus denen die meisten anderen desselben erst wieder hervor- 


gingen, habe ich sie als Elementarkörperchen, Corpuscula primi- 
genia protoplasmatis, bezeichnet. Bereits im Jahre 1879 habe 
ich ın dem Artikel: Etwas über die Axencylinder ders 
Nervenfasern — Virchow’s Archiv für pathol. Anat. und 
Physiol. und klinisch. Med., Band 78. 1879. S. 355 — sie dann 
für die vornehmsten Werkzeuge erklärt, deren sich die Natur 
bedient hat und noch fort und fort bedient, um aus dem ein- 
fachsten Protoplasma, dem Plasson Edouard van Beneden’s, 
Organismen zu schaffen, die auf Grund der unendlich mannig- 
fachen Art, wie sie sich in ihren kleinsten Teilen bewegen, 
so auch empfinden, wahrnehmen, fühlen, denken, streben, thun. 
Schon in demselben Artikel, noch mehr in einem späteren, im 
Jahre 1880 ebenfalls in Virchow’s Archiv Band 82 veröffent- 
lichten: „Untersuchungen über die Entstehung von Kok- 
ken und Bakterien in organischen Substanzen“ habe ich 
dann, auf die Ergebnisse derselben gestützt, erklärt, dass aus 
diesen Körperchen, die indifferent angelegt erschienen, im Laufe 
der Zeit, natürlich je nach den: sonstigen Verhältnissen, denen 
sie unterstellt wären, sowohl Stärke wie Chlorophyll nebst 
seinen Verwandten, als auch die Bowman'’schen Sarcous Ele- 
ments oder Brücke’schen Disdiaklastengruppen, die Schmidt- 
schen Nervous Elements, die Dotterkörperchen, eine Anzahl von 
Pigment- und Fettkörperchen hervorgingen, dass sie sich selbst 


35 


teilten, durch Teilung vermehrten und dabei Gebilde produ- 
zieren könnten, welche den verschiedensten Formen von Kokken 
und Bakterien ganz gleich aussähen (S. 132). Die Annahme 
verschiedener Forscher, zu denen vornehmlich auch Bechamp 
und v. Nencki gehörten, dass in den gesunden lebenden Zellen 
gesunder lebender Tiere Bakterien und Bakterienkeime vor 
kämen, worauf hin man dann weiter annehme und das auch 
meiner Meinung nach anzunehmen gezwungen wäre, dass 
alle lebenden Wesen und wir mit ihnen zum grossen Teil aus 
solchen beständen, die nur darauf lauerten, uns aufzuzehren, um 
im Kampfe um das Dasein ihre Rasse zu erhalten, würde damit 
ihre Erklärung finden (S. 130). Denn die Bakterien und Bak- 
terienkeime, welche alle gesunden Gewebe durchsetzen sollten, 
und die nur den Bakterien zu Liebe überhaupt vorhanden 
wären, welche sich gelegentlich aus anscheinend ganz gesunden 
Geweben, ohne dass sie von aussen her in diese hinein gelangt 
sein könnten, entwickelten, diese Bakterien und Bakterienkeime 
würden danach im grossen Ganzen nichts Anderes als die Ele- 
mentarkörperchen des Protoplasmas der verschiedenen Zellen 
sein, denen sie ja auch sonst physikalisch wie chemisch voll- 
kommen gleichen. 

Heutigen Tages sehe ich die Sache jedoch noch etwas 
anders an. Wiederholt habe ich mich verschiedenen Orts schon 
geäussert, dass die Thätigkeit und Leistung des Protoplasmas 
auf einer Wechselwirkung zwischen den in Rede stehenden 
Körnchen, den Elementarkörperchen, und der Grundsubstanz, in 
Sonderheit deren fädigem Anteil, beruhen dürfte. In dem 
Aufsatz: Über trophische Nerven in du Bois-Reymond’s 
Archiv für Anat. und Physiol. physiol. Abth. 1891 habe ich 
Seite 69 u. ff. dies, wie es sich mir durch die Beobachtung in: 
Bezug auf den quergestreiften Muskel allmählich aufgedrängt 
hatte, des Breiteren aus einander gesetzt. Danach ist es der 
Chemismus in den Elementarkörperchen, welcher mit seinen 
Folgen auf die fädige Substanz einwirkt, die dann wieder auf 
jene zurück wirkt, der das Leben des Protoplasmas überhaupt 
bedingt und unterhält. Die Elementarkörperchen sind somit das 
Hauptsächlichste, das Wesentlichste am Protoplasma, wenigstens 
in der Art, als wir bis jetzt seinen Begriff gefasst haben. Schon 
vor Jahren hat auch A. Bechamp eine ähnliche Ansicht ge- 


EV UWERETG, 


36 
äussert. Er stellte die Körperchen als notwendige Bestand- 
teile der organischen Zelle hin und gab sie als Faiseurs des 
cellules aus, welche die chemischen Vorgänge in diesen entfachten 
und unterhielten. Unter den neueren Autoren ist es Altmann, 
der ihnen eine ähnliche Stellung anweist. Die Elementar- 
körperchen können deshalb nicht wohl erst Produkte des Proto- 
plasmas, Produkte seiner formativen Thätigkeit, sondern müssen 
im Gegenteil mehr ursprünglich sein. Es dürfte vielleicht die 
fädige Substanz sogar erst als Produkt ihrer Thätigkeit zu be- 
trachten sein, indem sich dieselbe unter Anderem, teleologisch 
ausgedrückt, von ihnen aus gebildet hätte, um ihr etwaiges 
Zusammenwirken zu ermöglichen. 

Es fehlen die Elementarkörperchen in keinem entwickelteren 
Protoplasma. Wo sie zu fehlen scheinen und später sich doch 
zeigen, dürtten sie wenigstens der Anlage nach schon vorhanden 
sein, als eine Art Same, als eine Art Spore, als eine molekulare 
Masse, die blos ihrer Kleinheit oder Lichtbrechungsfähigkeit 
wegen nicht von der übrigen Masse zu unterscheiden wäre. Dass 
aus ihnen, die, wenn sie sichtbar werden, ziemlich gleich aus- 
sehen, gegen die verschiedensten äusseren Einflüsse sich ziemlich 
gleich verhalten und darum unter sich auch ziemlich gleich, 
indifferent erscheinen, nachher alles mögliche in dem Protoplasma 
Vorkommende werden kann, Chlorophyll, Erythrophyll, Xanto- 
phyll;, Amylum, Aleuron, Fette, Bowman’sche Fleisch-, 
Schmidt’sche Nervenkörperchen, Dotterkörperchen und Dotter- 
plättchen, Pigmente, wieder Fette, endlich die verschieden- 
artigsten kokken- und bakterienähnlichen Körperchen, das spricht 
nur dafür. Doch ist nicht ausgeschlossen, dass nicht auch noch 
andere Ursachen, Anpassungsvorgänge gewisser Grundsubstanz- 
"teile an die Umgebung, das bedingen möchten. Immerhin, 
wenn die Elementarkörperchen einmal da sind, spielen sie im 
Protoplasma und seiner Thätigkeit die Hauptrolle. Aus ihrem 
Zusammenwirken insbesondere bei ihrer Verschiedenheit, und 
zwar wohl in Folge ursprünglicher verschiedener Abstammung, 
kommt erst die grössere und verschiedenartige Wirkung des 
Protoplasmas zu Stande, wobei die fädige Substanz der Haupt- 
sache nach blos der Kraftübertragung zu dienen .scheint. Die 
Körperchen unterstützen sich dabei gewissermassen gegenseitig; 
es ist als ob sie eine Symbiose unterhielten. Sie verdienen den 


37 


Namen Elementarkörperchen des Protoplasmas, Corpuscula 
primigenia protoplasmatis, damit erst recht, wenn auch aus an- 
deren Gründen, als aus denen er ihnen einstmals gegeben worden 
ist. Es kommt diesen Körperchen damit in Wahrheit auch jene 
Art von Selbständigkeit zu, auf welche wir schon einmal hin- 
gewiesen haben, und die sich namentlich in ihrem Selbständig- 
fortlebenkönnen zeigt, wenn das Protoplasma als Ganzes zu 
Grunde gegangen ist, dem sie angehörten. 

Die einen dieser Protoplasmakörperchen erzeugen Farbstoffe 
in sich, und bleiben dieselben, weil für gewöhnlich. unlöslich, in 
ihnen liegen, so entsteht das Chorophyli, Erytrophyll, Xantho- 
phyli der Pflanzen, das Chromatin, Melanin wie Xanthin u.ä Körper 
der Tiere; sind die betreffenden Farbstoffe indessen löslich, so 
treten sie an die Ernährungsflüssigkeit in den Spalten, Rissen 
und Klüften zwischen den Fäden der Grundsubstanz, und der 
betreffende Saft, Zellsaft, erscheint gefärbt, wie das z. B. bei 
allen blauen und rosaroten Blüten der Fall ist. Andere Kör- 
perchen erzeugen in sich die Elemente des Stärkemehls und 
werden dadurch zu Stärke- oder Amylumkörperchen, die sich in 
Zucker umwandeln können. Wie durch die löslichen Farbstoffe 
die gefärbten Zellsäfte, so entstehen durch den gelösten Zucker 
die süssen. Die Fleischkörperchen kann man während ihrer 
Thätigkeit ebenso wie die sie verbindende Zwischensubstanz, — 
die Muskelfibrille, Muskelprimitivfaser, dürfte nichts Anderes als 
ein Protoplasmafaden sein, ein Element der fädigen Grund- 
substanz, mit in denselben der Reihe nach eingelassenen Ele- 
mentarkörperchen —, beobachten. Aus den an ihnen deutlich 
wahrnehmbaren Veränderungen gehen die Umsatzprodukte der 
Muskelsubstanz, Inosit, Kreatin, Kreatinin, Milchsäure u. s. w. 
hervor, welche in die Räume zwischen den Fibrillen treten und 
aus diesen darauf nach aussen geschafft werden. Die Elementar- 
körperchen liefern also je nach ihrer Natur auch Gifte und, wo 
wir solche auftreten sehen, dürften sie nur Produkte ihrer 
Thätigkeit sein. Die Elementarkörperchen verhalten sich danach 
jedoch nicht blos morphologisch, sondern auch physiologisch 
ganz gleich den Kokken und Bakterien. Es giebt chromogene, 
es giebt, amylo- beziehentlich saccharogene, mit anderen Worten 
also auch alkohologene, denn der Zucker ist ein Alkohol, oder 
kann wenigstens dafür angesehen werden; es giebt toxogene, 


38 


mithin auch pathogene u. s. w. Manche Forscher haben ja die 
im Schlangengift, das der Drüse frisch entnommen war, vor- 
kommenden entsprechenden Körnchen, offenbar Körnchen des 
Epithels, für die das Gift produzierenden Kokken der Drüse ange- 
sehen, ganz so wie andere Forscher die in der Lymphe der Vaccine 
sich findenden Körnchen, meiner Meinung nach Körnchen aus 
zerfallenen Epidermiszellen, in denen diese das übertragene 
Vaccinegift weiter entwickelt haben mögen, für die das Vaccine- 
gift produzierenden Kokken erklärt haben, nur mit dem Unter- 
schiede, dass erstere von aussen an die betreffende Stelle ge- 
rathen wären, letztere der Drüse durchaus eigneten. Selbst die 
Verdauung und die Keimung der Samen hat mam von Kokken 
und Bakterien abhängig gemacht und will ganz bestimmte 
körnige Gebilde bei beiden Vorgängen in Thätigkeit haben treten 
sehen. Das, was man gesehen hat, war gewiss ganz richtig; 
allein wie man es gedeutet hat, das kann beanstandet werden. 
Die jeweiligen fraglichen Gebilde waren wohl nicht eigenartige 
Kokken und Bakterien, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach 
blos Protoplasmakörperchen, Elementarkörperchen des Proto- 
plasmas von Zellen der in Betracht kommenden Organe und 
Samen. Es liegt aber gerade damit auch kein Grund vor, die 
Elementarkörperchen des Protoplasmas, die Corpuscula primi- 
genia, nicht auch wenigstens für eine Art Kokken und Bakterien 
halten zu dürfen. Das Protoplasma würde demgemäss denn 
aber in der That eine Symbiose von Kokken und Bakterien 
darstellen, wie etwa die Syncytien, Synamöbien, des weiteren 
die Flechten, welche eine solche von Pilzen und Algen, oder 
gewisse Infusorien, wie Stentor, Ophrydium, welche eine solche 
von Tieren und Algen bilden. Die Kokken, Bakterien aber würden 
dem entsprechend wieder als die ersten, einfachsten der bis jetzt 
bekannten Lebewesen anzusehen sein, aus denen alle übrigen sich 
erst entwickelt haben. Das Protoplasma selbst jedoch würde 
dann weiter folgerichtig ein Synkokkium oder besser klingend 
ein Symbakterium sein, und Alles, was sich aus ihm entwickelt 
hat, Zellen und Zellenverbände, würde, wie man es bis jetzt als 
Zellen, Syncytien, Synamöbien betrachtet hat, einschliesslich 
unserer selbst, als Symbakterien zu gelten haben. Warum 
zumal der tierische Körper so von Bakterien durchsetzt ist, wie 
viele Autoren wollen, warum die Elementarkörperchen des Pro- 


toplasmas seiner Zellen, nachdem diese als solche, aber nicht 
schlechthin abgestorben sind, in Kokken, Bakterien übergehen 
können, wird hiernach ersichtlich. 

Die Zellen eines Syncytium, Synamöbium hängen unter ein- 
ander zusammen, um so ihre Verbindung zu wahren und ihr 
Zusammenwirken zu ermöglichen. Feine Fäden der Grund-, also 
tädigen Substanz vermitteln den Zusammenhang. Haben sich 
die Zellen, in sich abgeschlossene Protoplasma- oder, wie 
Virchow sagt, Lebensheerde, mit einer Hülle, Membran oder 
Kapsel, einem Erzeugnisse ihrer sekretorischen Thätigkeit, um- 
geben, so geschah das immer mit aller Schonung dieser Ver- 
bindungsfäden.. Die Membranen, Kapseln wurden deshalb 
lückenhaltig. Am schönsten zeigen das die Zellenlager des 
Holzes der Coniferen und Cycadeen, des Knochen- und Knorpel- 
gewebes, von letzerem z. B. besonders schön das der Cephalo- 
poden. Dieselben Verbindungen nun stellt die fädige Masse, 
wie schon berührt, auch zwischen den einzelnen Kokken oder 
Bakterien dar, um durch sie das Zusammenwirken zu ermög- 
lichen, zu dem sie sich ursprünglich zusammengefunden haben, 
und das nun ihre Gemeinschaft auf die Nachkommenschaft ohne 
weiteres und, ich möchte sagen, in sehr abgekürzter Weise 
vererbt. 

Die ächten Kokken, Bakterien, die man gegenwärtig viel 
züchtet, sind unregelmässig kugel- oder stäbchenförmige Gebilde. 
Dieselben bestehen aus einem oder mehreren an einander gereih- 
ten, sehr kleinen rundlichen Körperchen, welche von einer in 
sich anscheinend vollständig geschlossenen Hülle umgeben sind. 
Öfters freilich scheint es auch, als ob diese Hülle eine oder mehrere 
Öffnungen hätte, durch welche der Inhalt sich fadenförmig ver- 
längern und geisselartig hervorzustrecken vermöchte. Umschliesst 
die fragliche Hülle nur ein Körperchen der letzt geschilderten 
Art, so stellt der bezügliche Körper einen einfachen Kokkus 
dar. Enthält sie mehrere, an einander gereihte, so ist er ein 
Diplokokkus, ein Bakterium oder Bacillus. Ich kenne kein Bak- 
terium, keinen Bacillus, in welchem sich nicht mehrere solcher 
rundlichen Körper unterscheiden liessen. Es ist mir das eine 
Zeit lang bestritten worden; allmählich aber hat man sich von 
ihrem Vorhandensein doch so ziemlich überzeugt. Allein man 
sieht sie gemeiniglich nicht für ursprünglich an, sondern für 


f 


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= 5 


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40 

Produkte der formativen Thätigkeit des sonst diffus erscheinenden 
Inhalts der betreffenden Hüllen, Kapseln. Man giebt sie z. T. 
für Sporen aus, indem man dabei an die Pilze denkt, zu denen 
als Spaltpilze Kokken und Bakterien, weil sie doch im Systeme 
irgendwo untergebracht werden ınussten, auch gestellt worden 
sind. Die Kokken und Bakterien haben aber nicht viel 
mehr mit den Pilzen zu thun, als mit Palmen und Elefanten. 
Sie sind :Konstituenten‘ der Pilze wie . der Palmenwzund 
Elefanten; aber Pilze selbst sind sie nicht. Diese sind Zellen- 
pflanzen, also bereits Symbakterien, während jene als solche 
nicht angesprochen werden können. Eher wären sie gewissen 
Algen gleich zu stellen, insbesondere den Protococcus-Arten, und 
möglicher Weise bestehen auch Beziehungen zwischen beiden. — 
Die Kokken-, die Bakterienhülle ist oft deutlich mit einem 
schleimigen, gallertartigen Mantel umgeben. Die beregten 
Geisseln scheinen vielfach in einem innigen Zusammenhange mit 
ihm zu stehen. Durch denselben verkleben leicht die gleich- 
artigen Kokken und Bakterien samt ihren etwaigen Geisseln 
mit einander, und es entstehen dann die Zooglöaformen derselben, 
die ersten und, wenn wir wollen, niedrigsten Symbakterium- 
erscheinungen. Manchmal ist der betreffende Mantel beweglich, 
was grossenteils von den mit ihm verklebten Geisseln ab- 
hängen mag, und was unter Anderem besonders die vortreff- 
lichen Photogramme erkennen lassen, welche Loeffler auf dem 
X. internationalen medizinischen Kongresse zu Berlin 1890 aus- 
gestellt hatte. 

Wenn nun durch solch Zusammenkleben sich Symbakterien 
bilden, was ebenfalls nach den Loeffler'schen Photogrammen 
durchaus annehmbar erscheint, so bekommen wir ein bewegliches 
Symbakterium, ein Stück diffusen Protoplasmas, wie wir das 
seit Leydig nennen. Bildet sich danach durch den engeren 
Zusammenschluss gewisser Kokken ein festerer Kern, der durch 
den Einfluss der Kokken auf die Grundsubstanz, in der sie nun 
als ihrem zusammengeflossenen Mantel liegen, sich in stärkerer 
Weise geltend macht, so verdichtet sich dieselbe in ihm und in 
seiner nächsten Umgebung, verändert sich vielleicht auch sonst 
noch, und es entsteht eine festere und in dieser oder jener 
Richtung veränderte Grundsubstanz in der Grundsubstanz. Wir 
bekommen einen wohl markierten Kern, der aus einer festeren 


41 


als der gewöhnlichen Protoplasmasubstanz, die man ihm zu 
Ehren Nuklein genannt hat, besteht und besonders reich an 
Protoplasmakörnchen ist. Eins oder ein Paar dieser letzteren, 
welche sich vorzugsweise dicht an einander schliessen, werden in 
ihm zum Kernkörperchen, beziehentlich Kernkörperchenkorn, zum 
Nucleolus und Nucleolulus. Der fragliche Kern wirkt auf einen. 
Teil des Protoplasmas, aus dem er sich gebildet hat, als lebens- 
regulierendes Centrum; das von ihm beeinflusste Protoplasma 
grenzt sich von dem von ihm nicht mehr beeinflussten ab, und 
eine Zelle ist fertig. Dass danach in dieser selbst es noch zu 
weiteren Ausbildungen, zur Entstehung einer Attraktionssphäre 
mit einem Centrosoma kommt, ist eine Sache für sich. Nur so 
viel will ich noch sagen, das Centrosoma scheint, ganz abgesehen 
von den Pigmentkörnchen, die, wie B. Solger gezeigt hat, es 
umgeben, auch eine Elementarkörperchen-Verbindung zu sein, 
in mancher Beziehung vergleichbar dem Nucleolus oder Nucleolulus, 
zu welchen es ja auch bei der Zellteilung in besondere Be- 
ziehungen zu treten scheint. 

Doch lassen wir das! Dagegen sei noch ausdrücklich betont, dass 
ich Unterlagen für das beregte Werden einer Zelle durch meine Jahre 
langen Protoplasmauntersuchungen gefunden zu haben glaube. 
Aus ihnen hat sich erst die vorgetragene Ansicht gebildet. Sie 
lehnt sich an die Ansicht von der freien Zellbildung der früheren 
Autoren an, die allerdings jetzt bei uns in Deutschland wohl 
ganz verlassen ist, die aber wo anders z. B. in Frankreich in 
Robin bis zuletzt ihren Vertreter gefunden hat. Ich habe mich 
in meinen jüngeren Jahren unter dem Einfluss der mir gewordenen 
Lehren auch ablehnend gegen die freie Zellbildung verhalten; 
allein ich habe geglaubt, auf die im Laufe der Jahre gewonnenen 
eigenen Erfahrungen hin diese meineHaltung modifizieren zu müssen. 

So lange nun das Organische, beziehungsweise das Proto- 
plasma blos in Form grösserer, in sich gegliederter Wesen, 
Organismen, bekannt war, von denen die Erfahrung gelehrt hatte, 
dass sie sich nur durch ihre Früchte fortpflanzten, konnte Harvey 
seinen ganz allgemein gehaltenen Ausspruch: Nullum vivum nisi 
ex ovo thun, derselbe auch für viele Jahrzehnte trotz aller Ein- 
würfe und Bekämpfungen in Geltung bleiben. Nachdem die 
organische Zelle entdeckt, als der einzige Lebensträger erklärt, 
durch Schleiden und Schwann sodann festgestellt warden 


> 
=7 


42 


war, dass alle, auch die grössten, in mannigfachster Art zusammen- 
gesetzten Organismen nur aus Zellen hervorgegangen wären und 
aus Zellen beständen, und als dann noch erhärtet worden war, dass 
diese Zellen lediglich durch Teilung einer Mutterzelle, beziehungs- 
weise einer befruchteten Eizelle sich herausgebildet hätten, 
konnte Virchow auch den Satz aufstellen: Nulla cellula nisi 
e cellula. Es konnte danach sogar mit einem gewissen Recht 
gelehrt werden: Nullus nucleus nisi e nucleo, oder auch, wie 
das thatsächlich geschehen ist, Nullus nucleolus nisi e nucleolo 
u. s. w.; allein, nachdem man auch ein diffuses, oft zu mächtigen 
Lagern entwickeltes Protoplasma kennen gelernt hatte, wie es 
unter anderem in bestimmten Lebensphasen die Myxomyceten 
und Palmellaceen in hervorragender Weise zeigen, ohne dass 
eine Spur von Zellenabgrenzungen in ihnen wahrgenommen 
werden könnte, dass wohl aber, wie de Bary zuerst für die 
Myxomyceten nachgewiesen hat, aus diesen diffusen Protoplasmen 
sich z. B. unter dem blossen Einflusse der Trockenheit Zellen zu 
bilden vermöchten, die nach Zufuhr der nötigen Feuchtigkeit 
wieder verschwänden, um erst nach längerer Zeit, ich will einmal 
sagen, unter dem Einflusse der Reife und wohl aus ganz anderen 
Elementen hervorgegangen, wieder und dann für die Dauer zu 
erscheinen, seitdem das Alles bekannt geworden ist, lassen sich 
jene Aussprüche wenigstens in vollem Umfange wohl kaum 
mehr aufrecht erhalten. Wenn nun gar das Protoplasma ein 
Symbakterium ist, wofür die Zooglöaformen der ächten Kokken 
und Bakterien und die diffusen Protoplasmalager namentlich auch 
wieder der Myxomyceten und Palmellaceen ein sehr gewichtiges 
Zeugnis abgeben, wenn dann in diesem Protoplasma die Kokken 
das Erste, die Grundsubstanz erst das Zweite, von ihnen Er- 
zeugte, ist, so erhebt sich die Frage, ob nicht die kleinen un- 
ansehnlichen Kokken und Bakterien, welche letztere auch wieder 
als unvollkommen geteilte Kokken, also als Synkokkien ange- 
sehen werden können, durch eine Generatio aequivoca oder 
Abiogenesis noch immer wieder neu zu entstehen vermöchten? 

Die Frage erhebt sich um so leichter, als Haeckel in die 
Biologie ein ganz neues Element, das bis dahin nicht im Geringsten 
gewürdigt worden war und doch ohne Zweifel von der grössten 
Bedeutung ist, die Plastidula, das Protoplasmamolekül, einge- 
führt hat. Wir hätten uns blos zu denken, das unter gewissen 


43 


Umständen noch heutigen Tages, wie einst zu Anfang der 
organischen Schöpfung überhaupt, Kohlenstoff, Wasserstoff, 
Sauerstoff, Stickstoff, Schwefel beziehentlich Phosphor in einer 
bestimmten Atomenzahl in bestimmte Beziehungen träten, eine 
sogenannte chemische Verbindung eingingen, und das Proto- 
plasmamolekül, die Plastidula, wäre fertig. Es wäre dabei 
denkbar, dass eine ganze Reihe derselben nicht gleich geriete, 
so zu sagen, mehr oder weniger unfertig bliebe und über kurz 
oder lang wieder zu Grunde ginge, ohne je eine Lebensäusse- 
rung an den Tag gelegt zu haben, dass andere zwar eine weitere 
Entwickelung erführen, aber zunächst auch noch zu keiner 
Lebensäusserung kämen, weil die eine solche bedingenden Be- 
wegungen der Aussenwelt denen gegenüber, welche in ihnen 
selbst herrschten, zu schwach wären, um sie in die Erscheinung 
treten zu lassen. Erst wenn jene durch Häufung eine genügende 
Stärke erfahren hätten und dadurch diese zu überwinden im 
Stande wären, könnte endlich das Leben zum Durchbruch 
kommen. Bis «dahin bliebe es latent, die bezüglichen Körper wären 
starr und machten den Eindruck toter, beziehentlich unorgani- 
scher Massen, trotzdem ein gewisses Leben in ihnen doch steckte. 

Wir sehen etwas Entsprechendes denn auch ganz gewöhn- 
lich an dem Sporeninhalte der Myxomyceten. Wenn derselbe 
seine Reife erhalten hat und aus seiner Hülle ausgeschlüpft ist, 
liegt er zunächst ruhig da. Mancher bleibt, was er ist, und 
wird über kurz oder lang Ausgangspunkt einer Kokken- und 
Bakterienwucherung; ein anderer fängt an nach einigen Secunden 
sich zu regen und der bekannte Geissler zu werden; ein dritter 
und vierter lässt erst Minute auf Minute, ja Stunde auf Stunde 
verstreichen, ehe er so weit gelangt. Ohne weiteres schlüpft 
aus der Spore wohl selten ein Geissler aus; ohne weiteres mag 
wohl auch nicht leicht eine neu entstandene Plastidula aktives 
Leben erkennen lassen. Ein Stadium der Latenz desselben 
möchte sie wohl der Regel nach immer erst durchzumachen 
haben und, da sie überhaupt sinnlich nicht wahrnehmbar ist, 
erst im Verein mit anderen zur Anschauung kommt, könnte über 
sie und das Herkommen des ganzen Vereins, in dem sie uns 
endlich entgegenträte, kein bestimmtes Urteil gefällt werden. 
Kein Mensch wäre im Stande zu sagen, ob er ein epigenetisches 
oder abiogenetisches Wesen vor sich hätte. Dieses Wesen jedoch, 


23 


der besagte Plastidulaverein, Plastidulacomplex, würde bei 
starker Vergrösserung in Gestalt eines Körnchens sich zur 
Wahrnehmung bringen. Es könnte unter ihm günstigen Um- 
ständen alsdann der Ausgangspunkt einer neuen organischen 
Geschöpfreihe werden, was indessen durchaus nicht der Fall zu 
sein braucht, — es könnte zu Grunde gehen, wie die beregte 
einfache Plastidula —, und nach Myriaden von Jahren, das ist 
nach unseren sonstigen heutigen biologischen Anschauungen 
nicht undenkbar, wäre es möglich, dass, da die bezüglichen Ge- 
schöpfe unter denselben Verhältnissen sich bildeten, unter denen 
die bereits vorhandenen geworden waren, diesen ähnliche aus 
ihrer Nachkommenschaft erwüchsen. Wir würden damit zwar 
verschiedene Schöpfungsperioden und verschiedene Schöpfungs- 
centren auch für die gegenwärtige Schöpfung nicht ganz von 
der Hand weisen dürfen, obgleich zunächst nur wenig Neigung 
zu einer solchen Annahme vorhanden sein möchte; allein so’ 
manches scheint doch dafür zu sprechen und C. Vogt tritt hin- 
sichtlich der Equiden Europas und Amerikas, deren Parallel- 
entwickelung er für vollständig unabhängig von einander hält, 
bis zu einem gewissen Grade sogar schon dafür ein. 
Nichtsdestoweniger sind die zuletzt angestellten Betrach- 
tungen doch eben nur blosse Betrachtungen, Erwägungen, und 
für die Mehrzahl meiner Leser gewiss sogar recht unfruchtbarer 
Natur; allein was bei ihnen doch herausgekommen sein dürfte, 
ist, dass eine Generatio aequivoca oder Abiogenesis auch für die 
heutige Zeit nicht so unbedingt in Abrede zu stellen ist, wie die 
Verfechter einer gegenwärtig allein noch bestehenden Epigenesis 
und durch dieselbe bedingten Continuität des Lebens es ver- 
meinen behaupten zu können. Weder das Bestehen einer zur 
Zeit noch vorkommenden Generatio aequivoca oder Abiogenesis, 
noch das einer zur Zeit blos noch vorhandenen Epigenesis lässt 
sich beweisen. Sämmtliche in dieser Beziehung beigebrachten 
Beweise sind nicht stichhaltig, weil bei den bezüglichen Unter- 
suchungen oft die allerersten Lebensbedingungen übersehen 
worden sind. Denn wenn die zu solchen Versuchen erforder- 
liche Luft erst durch Schwefelsäure, dann durch Kalilauge, 
zuletzt durch ein Glührohr gejagt und so alles Ammoniaks, 
aller Kohlensäure, alles Wassers beraubt wird, dann ist es wohl 
nicht zu verwundern, wenn kein Leben erscheint, da vorhandenes 


45 
zu Grunde gehen müsste. Und wenn bei minder irrationell an- 
gestellten Versuchen sich dennoch wider Erwarten neues Leben 
zeigt, aber dann behauptet wird, dass trotz aller Vorsichts- 
massregeln selbiges nur von aussen gekommen sein könne, kurz, 
wenn nur die Versuche gelten gelassen werden, welche negative 
Resultate ergeben und ergeben müssen, so ist nicht zu ver- 
langen, dass die Gültigkeit derselben von allen Seiten anerkannt 
werde. Abiogenesis überhaupt und Epigenesis allein sind daher 
nur Glaubenssätze, und da der Glaube Gefühlssache ist, so hängt 
es blos von dem Gefühl des einzelnen ab, ob er sich für jene 
oder für diese entscheiden will. Ich für meine Person halte eine 
Abiogenesis auch heut zu Tage noch für nicht ausgeschlossen, 
allein beschränkt auf die niedrigsten Lebewesen, beziehentlich 
ihre Elemente, die Plastidulen. Die Kokken, die Bakterien in 
ihren einfachsten Formen würden nach unserer jetzigen Kenntniss 
vielleicht als die Wesen anzusehen sein, in deren Bereich sie noch 
vorkommen möchte. Für alle entwickelteren Wesen dagegen, 
vom eigentlichen Protoplasma, insbesondere der Zelle an auf- 
wärts, aus denen aber wieder Kokken hervorgehen können, also 
für die ganze heutige Schöpfung im hergebrachten Sinne, halte 
ich die Epigenesis allein für massgebend. Allen denjenigen 
aber, welche diese Ausführungen trotzdem und alledem für 
blosse, und zwar ganz unfruchtbare Spekulationen und darum 
wieder für nicht weiter beachtenswerth halten, möchte ich aber 
entgegen halten, dass das Omne vivum nisi ex ovo u. S. w. 
auch nur Produkt der Spekulation war und ist. Die Spekulation 
hat ihre Berechtigung in allen Wissenschaften, auch in den 
Naturwissenschaften, und wenn sie von Thatsachen ausgeht, auf 
ihnen fusst, entdeckt sie neue Welten, neue Kraftverhältnisse, 
neue Lebensbeziehungen. Die Entdeckung des Planeten Neptun 
durch Le Verrier, die Entdeckung des mechanischen Wärme- 
äquivalents durch J. R. von Mayer, die Entdeckung des Ge- 
setzes von der Erhaltung der Kraft durch H. von Helmholtz, 
des Entwickelungsprinzips der Welt der Organismen durch 
Charles Darwin und Ernst Haeckel legen dafür die be- 
redtesten Zeugnisse ab. Alle Erfindungen sind zuletzt auch nur, 
allerdings in Verbindung mit der Phantasie Produkte der Speku- 
lation. Denn jede Kombination ist nur eine Spekulation. Ohne 
Spekulation daher kein Newkomen, kein Frederic Sauvage, 


46 
kein Oersted, Morse, Bell, kein Faraday, kein Siemens, 
kein Edison, auch kein Dreyse, kein Krupp und zuletzt auch 
kein Moltke. 

In welcher Weise nun auch das Leben entsteht, in welcher 
Weise es sich danach verhält, damit es ein für uns wahrnehm- 
bares, ein aktives, effektives werde, ist es notwendig, dass 
Reize von aussen her auf dasselbe einwirken, es anfachen und 
unterhalten. Die fraglichen Reize sind, wie schon erwähnt, die 
fortschreitenden Bewegungen des Äthers, Licht, Wärme, Elek- 
trizität und die mechanischen Vorgänge, in welche dieselben sich 
umgesetzt haben. Was wir Nahrung nennen, gehört zu der 
Umgebung, welche es in sein Bereich zieht, um ihre eigentüm- 
lichen Bewegungsformen in seine eigenen herüberzuführen und 
sich zu assimilieren. Die Nahrung als solche, als Anhäufung 
von Spannkräften, hat somit nichts mit den Reizen an und für 
sich zu thun, wohl aber können solche ihr beigemengt, in ihr. 
enthalten sein; oder sie selbst sind auch schon in einem solchen 
Zustande der Lockerung, dass sie leicht unter dem Einfluss 
lebendiger Kräfte selbst in solche übergehen. Je mehr’sie dabei 
geneigt sind, sofort in die Lebensbewegung einzutreten, um so 
bessere, zweckmässigere Nahrung stellen sie dar, um so bessere, 
zweckmässigere Nahrungsmittel sind sie. Das Leben, die Lebens- 
bewegung ist an und für sich eine sehr energische, und je ener- 
gischer sie ist, um so leichter versetzt sie die ihrer Umgebung in 
die eigene, assimiliert sie sich; deshalb sehen wir denn auch starke 
Leben mit einer minder guten, d.h. minder leicht assimilierbaren 
Nahrung und allem, was dazu gehört, fertig werden. Je weniger 
energisch sie ist, um so mehr muss diese für die Assimilation 
geeignet sein, damit sie selbst nicht vorzeitig erlischt. Wir 
sehen deshalb auch, dass durch Zufuhr von Reizen, durch welche 
die Lebensbewegung eine Steigerung erfährt, dieselbe ihre 
Umgebung, insbesondere die durch die Nahrung im engeren 
Sinne dargestellte, noch assimiliert, wo sonst die Assimilation 
kaum noch statt hat, erfahrungsgemäss kaum noch statt haben 
kann. Kurzum das Leben bedarf zu seinem Entstehen, seinem 
Bestehen der Reize. Reize erwecken es, Reize unterhalten und 
steigern es. Reize machen es aber, wie wir gesehen haben, 
auch erstarren, machen es latent; sie können es endlich sogar 
aufheben, vernichten. 


47 


Dass das J,eben von Reizen abhänge, welche auf eine reiz- 
oder erregbare Substanz, die Lebenssubstanz, als welche wir 
heute das Proto-, beziehentlich Bioplasma kennen, wirke, ist schon 
vor langer Zeit erkannt worden. Der bekannte schottische Arzt 
John Brown lehrte schon in den sechsziger und siebenziger 
Jahren des vorigen Jahrhunderts diese Abhängigkeit und suchte 
sie zu weiterer Kenntnis durch seine Elementa medicinae zu 
bringen, welche er 1780 zu Edinburg erscheinen liess. Das 
Leben ist nach ihm die Eigenschaft der Körper, durch Reize 
erregt zu werden. Körper, welche diese Eigenschaft besitzen, 
seien lebende. Sie unterscheiden sich durch dieselbe von den 
leblosen oder toten, zu denen sie auch werden, wenn jene 
verloren gehe. Was die Erregbarkeit sei, worin sie bestehe, 
obwohl sie an das Nervensystem schlechthin geknüpft erscheine, 
darüber spricht Brown sich indessen nicht aus, und das hat 
seine Lehre niemals zur rechten Geltung kommen lassen. Man 
hat ihm vorgeworfen, dass seine Reizbarkeit, Erregbarkeit nichts 
Anderes als ein ganz inhaltsloses Wort sei, und dass deshalb 
sein ganzes System, das auf dieselbe erbaut worden, keinen 
Anspruch auf Geltung haben könne. Richtig ist, dass er seine 
Excitabilitas nicht näher bestimmt hat; allein dass er darunter 
kaum etwas Anderes begriffen hat, als was wir heut zu Tage 
Erregbarkeit, Reizbarkeit, Irritabilität, Excitabilität nennen, ohne 
ebenfalls bis jetzt das Wesen derselben erkannt zu haben, das 
darf wohl als richtig angenommen werden. Brown fasste ge- 
wisse, erst seit Haller in ihrer Bedeutung erkannten Erscheinungen 
an lebenden Wesen, deren Sensibilität und Irritabilität als Aus- 
fluss einer allen jenen Wesen zukommenden Grundeigenschaft, 
ihrer Fxcitabilitas, auf und liess durch diese Excitabilitas, welche 
Reize erst zur Bethätigung brächten, zur Irritation, Excitation 
machten, das Leben der bezüglichen Körper entstehen und unter- 
halten werden. Ein mittleres Mass von Reizbarkeit, Erregbarkeit, 
bedingte nach ihm das gesunde Leben; Verminderung oder 
Vermehrung derselben verursachten vorzugsweise die Krank- 
heiten; ihre Erschöpfung durch Übermass von Reiz führte zum 
Tode. Daher, wenn die lebenden Körper ihre Excitabilität ver- 
loren hätten, sie zu leblosen, toten würden, von denen sie sich 
überhaupt nur durch jene unterschieden! 

Man hat Brown sehr unrecht gethan, ihm in Bezug auf 


48 


seine Excitabilitas Vorwürfe zu machen; man ist über ıhn bis 
jetzt noch nicht hinausgekommen; und eine Reihe seiner zum 
Teil sehr berühmt gewordenen Kritiker haben sich dadurch, 
dass sie ihm Widersinnigkeit in seinem ganzen Prinzip vorge- 
worfen, weil er die Spontaneität des Lebens leugnete, eigentlich 
geradezu des Fehlers schuldig gemacht, dessen sie ihn zeihen. 
Die Fehler, welche er gemacht hat, und die ihm wohl vorgeworfen 
werden können, liegen ganz wo anders: in der nicht glücklichen 
Verwertung seiner Theorie für die Praxis und dem ungeschickten, 
z. T. recht groben, plumpen Ausbau derselben. Doch hat 
auch in dieser Beziehung die Welt mehr gescholten, als ihr zu- 
stand. Denn sie verfuhr und verfährt heute auch nicht besser. 
Wenn der Arzt einen Kranken symptomatisch behandelt, das 
Fieber durch Chinin, Antipyrin, Antifebrin, den Collaps durch 
Alkohol, Kampfer, Äther, die Schmerzen und Krämpfe durch 
Morphin, Hyosein, die Lähmungen durch reizende Einreibungen 
und ihre Äquivalente, die Schlaflosigkeit durch Chloral, 
Sulfonal, Acetal, Paraldehid, Urethan u. dgl. zu bekämpfen 
sucht, so bewegt er sich ganz und gar in Brown’schem 
Fahrwasser. 

Zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts lehrte etwas. 
ganz Ähnliches und in offenbarem Zusammenhange mit dem 
Brownismus der französische Arzt Broussais. Er erklärte das 


Leben als eine Wirkung von Reizen und lässt es lediglich durch 


die Reize der Aussenwelt unterhalten werden. Wirken anomale 
Reize ein, so entstehen Krankheiten. Krankheiten seien deshalb 
auch nichts Anderes als Abänderungen des physiologischen 
Verhaltens durch anomale Reize. 

In den fünfziger Jahren war es sodann Virchow, der Ent- 
sprechendes vortrug. Denn nur so sind wohl seine, wenn auch 
anders klingenden Worte aufzufassen, welche sich in seinen ge- 
sammelten Abhandlungen, Frankfurt a/M. 1856 S. 26 finden: 
„Halte man nur das fest, dass überall“, nämlich im Raume, „eine 
mitgetheilte mechanische Bewegung vorhanden ist, deren Anfang 
keine Untersuchung zulässt, welche aber, 'nachdem sie einmal 
da ist, sich auf erregungsfähigen Stoff fortpflanzt und an diesem 
Stoft eine höchst verwickelte, zu immer neuen Umsetzungen 
führende Bewegung hervorruft, welche die gewöhnlichen chemi- 
schen und physikalischen Eigenschaften der Stoffe in einer ebenso ' 


49 

ungewöhnlichen Weise hervortreten lässt, als die erregte Be- 
wegung selbst ungewöhnlich, nur auf eine bestimmte Reihe er- 
regungsfähiger Stoffe beschränkt ist. — Das Leben ist also, 
gegenüber den allgemeinen Bewegungsvorgängen in der Natur, 
etwas Besonderes; allein es bildet nicht einen diametralen, 
dualistischen Gegensatz zu denselben, sondern nur eine besondere 
Art der Bewegung, welche, von der grossen Constante der all- 
gemeinen Bewegung abgelöst, neben derselben und in steter 
Beziehung zu derselben hinläuft.*“ Durch letzteres wird eben, 
wie ich oben nachzuweisen gesucht habe, die Reizbarkeit, Erreg- 
barkeit, und die Reizung, Erregung, bedingt. Ob es mir ge- 
lungen ist, damit das Wesen derselben Anderen auch so klar 
zu machen, wie ich es zu haben glaube, muss ich dahin gestellt 
sein lassen. Dass ich aber mit der entsprechenden Ansicht der 
Hauptsache nach nicht allein stehe, werden die angeführten 
Eideshelfer, unter denen ein Virchow, genugsam bekunden. 

Die Wirkung der Reize in Bezug auf die durch sie herbei- 
geführte Reizung oder Gereiztheit, d. i. den Reizzustand, zeigt 
ganz bestimmte Verhältnisse. Die Qualität der Reize bedingt 
verschiedene Qualitäten der Reizung, der Reizzustände, die 
Quantität der jeweiligen Reize hat quantitativ verschiedene 
Reizungen und Reizzustände zur Folge. Im Allgemeinen kann 
man sagen: Je stärker der Reiz, um so stärker die Reizung; 
denn die Wirkung ist proportional der Ursache; allein die Er- 
scheinung, durch welche sich das an den Tag legt, kann dem 
geradezu zu widersprechen scheinen. Brown hatte ganz recht 
gesehen: Starke Reize können die Reizbarkeit beeinträchtigen, 
vernichten, — warum? haben wir oben gesehen —; sie scheinen 
deshalb gerade die entgegengesetzte Wirkung von schwachen 
zu haben, welche jene immer steigern; für die Praxis in gewisser 
Richtung ist das vielfach auch als eine beherzigenswerte Thatsache 
in Betracht zu ziehen; indessen für das Verständnis der bezüglichen 
Vorgänge, wodurch doch auch wieder die Praxis im Allgemeinen 
allein erfolgreich beeinflusst wird, ist es nötig festzuhalten, dass 
es nur Schein ist. 

Ende der fünfziger und Anfang der sechsziger Jahre hat 
E. Pflüger (vergl. hierüber seine Untersuchungen über die 
Physiologie des Elektrotonus Berlin 1859, seine Untersuchungen 
aus dem physiologischen Laboratorium zu Bonn 1865 und seine 


4 


50 


Disquisitiones de sensu electrico, Bonn 1865) gezeigt, dass 
schwache galvanische Ströme, ob sie den gereizten Nerven in 
absteigender oder aufsteigender Richtung durchflössen, in dem 
zugehörigen Muskel nur beim Kettenschluss Zuckungen, also 
Schliessungszuckungen, hervorriefen, dass stärkere, sogenannte 
mittelstarke derartige Ströme, ebenfalls unabhängig von ihrer 
Richtung, sowohl beim Schluss als auch bei der Öffnung der 
Kette solche Zuckungen, also Schliessungs- und Öffnungszuckungen, 
auslösten, dass aber starke galvanische Ströme, wenn sie abwärts 
flössen, nur Schliessungs-, wenn sie dagegen aufwärts flössen, 
nur Öffnungszuckungen in den bezüglichen Muskeln bewirkten. 
W.Wundt hat das bestätigt und ausserdem gefunden, dass sehr 
starke der genannten Ströme, wie sie auch den betreffenden 
Nerven durchfliessen mögen, lediglich Öffnungszuckungen in den 
zugehörigen Muskeln zur Folge hätten. 

Dass solche sehr starke, stärkste Ströme Lähmung, be- 
ziehentlich den Tod des betreffenden Nerven herbeizuführen im 
Stande sind und auch oft genug herbeigeführt haben, ist all- 
bekannt. Seitdem ist das auch von anderen Seiten mannigfach 
als richtig befunden, und der ganze gesetzmässig erscheinende 
Hergang als das Pflügersche Zuckungsgesetz bezeichnet 
worden. 

Pflüger hat dann weiter gezeigt, dass etwas ganz Ent- 
sprechendes auch in Bezug auf die Empfindungen statt hätte, 
dass schwache galvanische Ströme Empfindungen nur beim 
Kettenschlusse, mittelstarke solcher Ströme Empfindungen sowohl 
beim Kettenschlusse als auch bei der Kettenöffnung verursachten, 
dass starke Ströme dagegen, indem sich die durch sie bedingten 
schon vorhandenen Empfindungen verstärkten, eine solche Ver- 
stärkung nur beim Kettenschlusse oder bei der Kettenöffnung 
zeigten, je nachdem sie abwärts oder aufwärts flössen. 

Wir sehen danach also bei schwachen Strömen allein beim 
Kettenschlusse Empfindungen und Zuckungen auftreten, bei etwas 
stärkeren, sogenannten mittelstarken Strömen dieselben und zwar 
verstärkt sowohl beim Kettenschlusse als auch bei der Ketten- 
Öffnung, d. i. also in grösserer Häufigkeit erscheinen; bei starken 
Strömen treten dagegen, wenn auch wieder verstärkt nur 
Schliessungsempfindungen und Schliessungszuckungen, wenn 
jene abwärts fliessen, und nur Öffnungsempfindungen und Öffnungs- 


Sl 


zuckungen, wenn sie aufwärts fliessen, in die Erscheinung, und 
bei verhältnismässig sehr starken Strömen kommen sogar blos 
Öffnungsempfindungen und Öffnungszuckungen vor, mögen die 
Ströme auch gerade fliessen, wie sie wollen. Starke Ströme 
vermindern also die Häufigkeit der bezüglichen Erscheinungen, 
setzen die Zahl derselben herab, hemmen also die jeweiligen Nerven 
in ihrer Bethätigung und das um so mehr, je stärker sie sind. 
Sind die Ströme gar zu stark, so führen sie leicht zu Lähmungen, 
beziehungsweise zum Tode. Es werden keine Empfindungen, 
keine Zuckungen mehr ausgelöst; die beziehentlichen Thätig- 
keiten sind aufgehoben, vernichtet. 

Der galvanische Strom ist ein Reiz. Ihm entsprechend wirkt 
jeder andere Reiz. Schwaches Licht z. B. erlaubt gerade zu 
sehen, facht die Sehfähigkeit, das Sehen an; helles Licht erlaubt 
von derselben den weitgehendsten Gebrauch zu machen, fördert 
das Sehen; grelles Licht blendet, beschränkt, hemmt die Seh- 
fähigkeit, beziehentlich das Sehen; sehr starkes Licht, langes 
Sehen in die Sonne, kann beide aufheben, vernichten. Etwas 
Salz an die Speisen erhöht die Schmackhaftigkeit derselben, 
beziehungsweise unsere Geschmacksfähigkeit für dieselben; etwas 
mehr Salz an sie, eine gewisse scharfe Salzung, erhöht ihre 
Schmackhaftigkeit, unsere Geschmacksfähigkeit noch mehr; eine 
zu starke Salzung, Versalzung der bezüglichen Speisen beein- 
trächtigt ihre Schmackhaftigkeit, unsere Geschmacksfähigkeit für 
dieselben und zwar in um so höherem Grade, je mehr sie ver- 
salzen sind; endlich in lauter Salz gehüllt, besitzt nichts mehr 
einen eigenen Geschmack. Vor lauter Salz sind wir unfähig ge- 
worden noch etwas Anderes zu schmecken. Bei Personen mit 
sehr erregbarem Nervensysteme, Neurasthenikern, Hysterikern, 
rufen mechanische Reizungen sogenannter sensibeler Nerven, 
namentlich solcher der Geschlechtsorgane, leicht Muskelactionen 
hervor. Ein Klopfen, ein Druck aufjene Nerven bewirkt Husten 
oder Zuckungen in den Armen, in den Beinen, in der Blase u. 
dgl. m. Wird der mechanische Reiz, das bezügliche Klopfen, 
der bezügliche Druck stärker, so nehmen die entsprechenden 
Muskelactionen zu, der Husten wird ärger, die Zuckungen in 
Armen und Beinen, in der Blase werden ausgiebiger: es kommt 
unter dem Einfluss der letzteren zu Harnabgang, und zwar ohne 
dass der betreffende Kranke ihn aufzuhalten vermöchte. Nehmen 

4*F 


52 


die fraglichen Reizungen noch mehr zu oder halten sie zu lange 
an, wodurch ihre Intensität, ohne dass sie sonst eine Steigerung 
erfahren hätten, vermehrt wird, so treten zuerst lähmungsartige 
Zustände ein: Heiserkeit, Lahmheit in den Armen und Beinen, in 
der Blase, welch’ letztere das Harnen erschwert oder ganz un- 
möglich macht; endlich entwickeln sich wirkliche Lähmungen, 
welche für kürzere oder längere Zeit, nicht selten für die 
Lebenszeit anhalten, deren Beseitigung indessen oft auch gelingt, 
wenn es gelingt, die sie verursachende Reizung, beziehungs- 
weise den sie bedingenden Reiz, rechtzeitig ebenfalls zu besei- 
tigen. Die Geschichte der hysterischen Krämpfe und Lähmungen! 

]- Lister, der seiner Zeit, als die Lehre von den Flem- 
mungsnerven aufkam und einen zu weit gehenden Umfang anzu- 
nehmen schien, einschlägige Untersuchungen anstellte, kam des- 
halb zu dem Schluss, dass ein und derselbe Nerv, je nachdem 
er mässig oder stark gereizt würde, die Funktionen des Organes, 
auf das er wirke, erhöhe oder vermindere, d. h. fördere 
oder hemme, und W. Wundt, der fast um dieselbe Zeit nach- 
wies, dass jede starke Hemmung der Thätigkeit eines Nerven 
die Erregbarkeit desselben herabsetze, — natürlich! denn dieselbe 
ist ja auch blos eine solche Thätigkeit oder doch ein Ausfluss 
derselben — , erklärte, dass damit bewirkt werde, dass etwaige 
Reize auf einen solchen Nerven nur einen geringen oder gar 
keinen Einfluss mehr ausüben. Ein stark erregter Nerv wird so 
unfähig, noch andere, zumal schwächere Reize aufzunehmen und 
fortzuleiten und erscheint deshalb, so obenhin betrachtet, wie 
gelähmt. Die vorhin geschilderten Vorgänge erhalten damit 
zum wenigsten der Hauptsache nach ihre Erklärung. 

Im Jahre 1864 wies W. Kühne nach, dass die Reizbarkeit, 
Erregbarkeit des Nerven dem Protoplasma überhaupt, von dem 
der Nerv ja blos eine bestimmte Form darstellt, zukomme, und 
in den achtziger Jahren, speciell im Jahre 1885 in meinem Buche 
„Die Neurasthenie“, S. 32 u. ff., habe ich, auf meine durch 
lange Jahre angestellten Untersuchungen gestützt, geradezu aus- 
sprechen zu dürfen geglaubt, dass alle protoplasmatischen Kör- 
per, alle einschlägigen tierischen und pflanzlichen Gebilde, diese 
Reizbarkeit oder Erregbarkeit besitzen und zwar in um so 
höherem Grade, je näher sie noch dem ursprünglichen, gewisser- 
massen idealen Protoplasma stehen, d. h. je weniger sie sich im 


ng 


53 


Laufe der Zeit von ihm entfernt, differenziert haben. Ja, dem 
Nerven im Besonderen komme seine ihn auszeichnende Erreg- 
barkeit vornehmlich oder auch blos darum zu, weil er ein im 
Allgemeinen und zumal anderen Gebilden, wie den Epithelien, 
dem Knorpel und Knochen gegenüber nur wenig differenziertes 
Protoplasma sei. Das Pflüger’sche Zuckungsgesetz, am Muskel 
gefunden, nachher aber auch als gültix für die Empfindung 
erkannt, müsse darum auch für alles Protoplasma Geltung 
haben. — Und in der That, wird das berufene Gesetz in der 
schon mehrfach berührten Weise verallgemeinert, für galvani- 
schen Strom, Reiz überhaupt, für Zuckung, Empfindung, Lebens- 
äusserung, Lebensthätigkeit schlechthin gesetzt, so ergiebt sich 
mit Berücksichtigung alles Vorausgeschickten: Schwache Reize 
fachen die Lebensthätigkeit, d.h. die, an welcher wir dasLeben 
erkennen, also die evolutionistischen Vorgänge während desselben, 
an, stärkere, mittelstarke beschleunigen, fördern sie, 
starke hemmen und stärkste heben sie auf. Da nun von 
den fraglichen Reizen alles Leben wie überhaupt, so auch in 
seiner besonderen Gestaltung abhängt, so ist das Gesetz in dieser 
Form von mir als das biologische Grundgesetz bezeichnet 
worden. Alle anderen gesetzmässigen Vorgänge ordnen sich 
ihm unter. Die Richtigkeit des biologischen Grundgesetzes des 
Näheren, d.h. seine Gültigkeit für den einzelnen Fall zu beweisen, 
dazu sind die nachfolgenden Abhandlungen bestimmt. 

Das Leben erkennen wir an seinen Äusserungen, Bethäti- 
gungen, Ergasien. Die Trophieen oder Nutritionen, die Aesthesien 
oder Sensationen, die Plasien oder Formationen, die Ekkrisien oder 
Sekretionen, dieKinesien oder Motionen bilden die hauptsächlichsten 
Kategorien derselben. Die Thermosien, Elektrosien u. dgl. m. 
sind andere, doch nicht so auffällig in die Erscheinung tretende. 

Die in bestimmten Grenzen sich haltenden, den Durchschnitt 
ausmachenden und darum für normal erklärten Ergasien sind 
die Euergasien, die Eutrophien, Euästhesien, Euplasien, Euek- 
krisien, Eukinesien u. s. w., alle davon abweichenden, auf einen 
abnormen Grundvorgang hinweisenden die Dysergasien, die 
Dystrophien, Dysästhesien, Dysplasien u. s. f. 

Die Dysergasien können sich durch Beschleunigen oder 
Förderung, durch Verlangsamung oder Hemmung, oder endlich 


54 


auch durch gänzliches Ausbleiben der einschlägigen Vor- 
gänge an den Tag legen. Je nachdem entstehen so ı. dieHyper- 
ergasien, die Hypertrophien, Hyperästhesien, Hyperplasien, 
Hyperekkrisien, Hyperkinesien, Hyperthermosien,' 2. die Hyper- 
gasien, die Hypotrophien, Hypästhesien, Hypoplasien, Hypek- 
krisien, Hypokinesien, Hypothermosien und 3. die Anergasien, 
die Atrophien, Anästhesien, Aplasien, Arekkrisien, Akinesien, 
Athermosien. Es können aber auch die besagten Dysergasien 
durch eine sonstige mehr oder minder fremdartige Erscheinungs- 
weise sich zu erkennen geben und dann kommen die Par- 
ergasien zu Platz, die Paratrophien, Parästhesien, Paraplasien, 
gewöhnlich Heteroplasien genannt, die Parekkrisien, Parakinesien, 
Parathermosien u. s. w. *) 


*) Wie die Hauptkategorien der Dysergasien ihre Unterkategorien haben, 
so umfassen diese natürlich auch wieder solche; ja gegebenen Falles lassen auch 
sie dann noch Unterkategorien unterscheiden, und erst unter diese oder gar ihnen 
noch folgende ordnen sich die Einzelerscheinungen unter, welche gerade in Betracht 
kommen. Es verhält sich damit wie in der ganzen Natur. Die gesetzmässig er- 
folgenden Erscheinungen bilden grössere oder kleinere Gruppen, und diese stellen 
sich für unsere Erkenntnis als Familien, Genera, Species dar. 

Da die Ernährungsvorgänge, Nutritionen oder Trophien, die Grundlage 
aller anderen sind, so kommt es, dass öfters manche dieser letzteren von den 
ersteren nicht scharf geschieden erscheinen, Namentlich zwischen den Tropbien, 
Plasien, Ekkrisien drängen sich die Beziehungen, welche unter ihnen bestehen, 
häufig dergestalt auf, dass es nur schwer und von vornherein blos dem Er- 
fahrenen möglich ist, die trennenden Punkte gehörig aus einander zu halten. Und 
dennoch ist das durchaus notwendig, um in das Wesen der einzelnen Lebensvor- 
gänge einen Einblick zu gewinnen und die mannigfachen Verhältnisse, in welchen 
sie sich zur Darstellung bringen, zu verstehen. Zur weiteren Klärung der Ange- 
legenheit ‘erlaube ich mir darum für die aufgestellten Hauptkategorien der 
Dysergasien einige Unterkategorien anzuführen, Die Hauptkategorien lassen 
damit erkennen, was jede einzelne von ihnen als Inhalt umfasst, und dass die 
Einzelheiten dieses Inhalts sich zu einander verhalten wie die bezüglichen 
Kategorien selbst. Diese sind erst aus jenen abgeleitet hervorgegangen und nicht 
etwa umgekehrt, dass letztere in erstere hineingepresst worden. Es ordnen 
sich also unter die 


Hypertrophien, Hyper- Hyper- Hyper- Hyper- 
die Hyper- aesthesien, plasien, ekkrisien, kinesien, 
trichosie oder die Hyper- die Hyper- die Hyper- die Hyper- 
Derbhaarigkeit, aesthes. op- trichosie, hidrosie, das kinesie, 

dieHyperodon- tica, die Ge- hier aber als starke, über- des 
tosie oder sichtsreizbar- Vielhaarigkeit, mässigee Herzens, 


Grosszahnigkeit, keit, über- die Hyper- Schwitzen, Herzklopfen, 


Das biologische Grundgesetz offenbart sich in der Einhal- 
tung der Reihenfolge der drei erstgenannten Dysergasien, in 
welcher sie soeben angeführt worden sind. Die Hyperergasien 


die Hyper- 
megethie*, 
der Riesenwuchs 
und zwar sowohl 
in Betreff des 
jeweiligen ganzen 
Individuums als 
auch .einzelner 
seiner Teile, ein- 
zelner seiner Glie- 
der. In der Tier- 
welt die grossen 
Glieder, die 
grossen Flossen 
einzelner Fische, 
diegrossenlangen 
Extremitäten, zu- 
mal Hände und 
Füsse, Nasen und 
Ohren einzelner 
höherer Tiere, 
die grossen 
Schnäbel mancher 
Vögel, in der 
Pflanzenwelt die 
Riesenbildungen 
der Spargel, der 
Kohlrabi, Rettige, 
der Zwiebeln, 
Rosen, Stief- 
mütterchen, der 
Erdbeeren, 
Johannis- und 
Stachelbeeren, 
der Kirschen, 
Pflaumen, Äpfel 
und Birnen, der 
Gurken und 
Kürbisse geben 
eine Menge von 
Beispielen dafür 
ab. 


mässige Ge- 
sichtsthätigkeit 
und Empfind- 
lichkeit, 
die Hypera- 
kusie,dieüber- 
mässige Gehörs- 
empfindlichkeit, 
die Hyper- 
geusie, die 
übermässige 
Geschmacks- 
empfindlichkeit, 


die Hyperos- 
mie, über- 
mässige Ge- 
ruchsempfind- 

lichkeit u. s. w. 


daktylie, 
die Viel- 
fingrigkeit, 
die Hyper- 
chrosie, die 
Starkfarbig- 
keit, Dunkel- 
oder Tief- 
farbigkeit. 


die Hyper- 
dakryosie, 
die übermässige 
Thränen- 
abscheidung, 
die Hyper- 
galaktosie, 
die überreiche 
Milchbereitung, 
Milchabsonde- 
rung, 
die Hyper- 
steatosie, 
die überreiche 
Talgbereitung, 
Talg-, Fettab- 
sonderung. 


die Hyper- 
kinesie 

sonstiger 
Muskeln, 
Krämpfe. 


56 


FRE 


bilden Sden Anfang der Hyp- und Anergasien, mit denen sie 
enden, und die gemeinhin als ihr Gegenteil betrachtet werden. 
Doch ist das letztere nicht richtig. Das wirkliche Gegenteil 
derselben bilden nicht die Hyperergasien, die immer schon in 


Hypotrophien, 
die Hypo- 
trichosie, Zart- 
haarigkeit, 
die Hyp- 
odontosie, 
Kleinzahnigkeit, 
die Hypo- 
megethie*), der 
Zwergwuchs und 
zwar ebenfalls in 
Bezug auf ein 
Wesen im Ganzen 
als in Bezug auf 
einzelne seiner 
Reile: 


Atrophien, 
die Atrichosie, 
Haarlosigkeit, 
Kahlheit, 
die Anodon- 
tosie, Zahn- 
losigkeit, 
dieAmegethie*) 
das Fehlen, Aus- 
bleiben von nor- 
malen Gebilden. 


Paratrophien, 
die 
Paratrichosie, 
der abweichende 
Haarwuchs, die 
Haarkrankheiten, 
die 
Parodontosie, 
die abweichende 


Hypaesthesien, 
die Hyp- 
aesthesia op- 
tica, gewöhn- 
lich Amblyopie, 
die Schwach- 
sichtigkeit, 
die Hyp- 

akusie, 
Schwerhörig- 
keit, die 
Hypogeusie, 
Geschmacks- 
stumpfheit, die 
Hyposmie, 
Geruchs- 
schwäche u.s.w. 


Anaesthesien, 
die Anaesthe- 
sia optica, 
Amaurose, 
Blindheit, 
die Anakusie, 
Taubbheit, 
die Ageusie, 
die Schmeck- 
unfähigkeit, 
die Anosmie, 
die Riechun- 
fähigkeit u.s.w. 
Paraesthesien, 
die 
Paraesthesia 
optica, das 
abweichende 
Sehen, z.B.nach 
Vergiftungen, 
die Photopsien, 
Chromatopsien, 


Hypo- 
plasien, 
die Hypo- 
trichosie, 
aber hier als 
Dünnhaarig- 
keit, Spärlich- 
keit des 
Haares, 
die Hypo- 
daktylie, 
Mangelhaftig- 
keit der 
Finger, 
die Hypo- 
chrosie, 
Schwach- 
farbigkeit, 
Bleichheit. 
Aplasien, 
die 
Atrichosie, 
Haarlosigkeit, 


die Anodon- 
tosie, Zahn- 
losigkeit, 
die 
Achrosie, 
Farblosigkeit, 
der 
Albinismus. 


Paraplasien, 
die Paratri- 
chosie, die 
abweichende 
Haarbildung, 
das Krause, 
rote, weisse 
Haar, die 
Parodonto- 


Hypekkrisien, 
(die Hyphi- 
drosie, 
die Schweiss- 
armut, 
die Hypo- 
dakryosie, 
Thränenarmut, 
die Hypo- 
galaktosie, 
Milcharmut. 


Anekkrisien, 
die 
Anhidrosie, 
Schweisslosig- 
keit, 
Adakryosie, 
Thränenlosig- 
keit u. s. w. 


Parekkrisien, 
die Pari- 
drosie, 
die abnorme 
Schweiss- 
absonderung 


z.B. die Osmi- 
drosie, Abson- 
derung riechen- 


Hypo- 
kinesien, 
die Hypo- 

kinesie des 
Herzens, 

Herz- 
schwäche, 
die Hypo- 
kinesien 
sonstiger 
Muskeln, 
Muskelträg- 

heit. 


Akinesien, 
die 
Lähmungen 
der bezüg- 
lichen 
Muskeln. 


Parakinesien, 


die 


Parakinesie 


des 
Herzens, 
der 
Eingeweide, 
dieabwegigen 
Bewegungen 


einer abnormen Richtung sich zum Ausdruck bringen, mitsamt 
den Hypergasien immer schon mehr oder weniger Parergasien 
sind, sondern die Akro- oder Oxyergasien, welche eine 


blosse einfache Verstärkung der Euergasien darstellen und sich 


Zahnernährung, die Halucinatio- sie,dieabwei- der, Bromi- des Herzens, 
die nen, die Para- chende Zahn- drosie, Abson- der 
Zahnkrankheiten, kusie, das bildung, Spitz- derung stinken- Eingeweide 
die Para- abwegigeHören, zähne statt der, u.S.w. 
megethie*), Akusmata, Schneidezähne Hämathidrosie, 
z.B. die Verhält- Halucinationen, u.s. w. die Absonderung 
nisse, welche bei die Paraes- Parachro- blutiger 
der sogenannten thesia tactus, sie, Anders- Schweisse, 
Akromegalie das fremdartige farbigkeit, die Paraga- 
vorkommen, und Fühlen, das dieNeoplas- Jaktosie, die 
die wohl immer Jucken, Krib- mata,nament- Absonderung 
Paramegethien beln, Prickeln, lich die soge- einer z. B. zu 
darstellen. Ameisen- nannten hete- wässerigen oder 
kriechen, roplastischen, zu fetten Milch 
Würmerwinden die Teratome u. s. w. 
u. Ss. w. u.S. w. 


*) Nach Professor Susemihl's Vorschlag gebildet. 


Es giebt keinen Vorgang in der belebten Natur im gebräuchlichen Sinne 
des Worts, welcher sich nicht den angeführten Kategorien überhaupt, und keinen 
vom Gewöhnlichen abweichenden Vorgang in ihr, welcher sich nicht den letzten 
fünf allein unterordnete. Wir brauchen nur von diesem Gesichtspunkte aus die 
Einzelvorgänge betrachten und ihre bisherigen Benennungen dem entsprechend 
verändern, und es ergiebt sich das auf das bündigste. 

Ptyalismus, eigentlich Spucksucht, beruht auf einer vermehrten Speichelab- 
sonderung, einer sogenannten Sialorrhoe; daraus machen wir Hypersialosie, 
und der Beweis ist da. Hyposialosie, Asialosie, Parasialosie bezeichnen 
sodann das Verhältnis, in welchem die scheinbar entgegengesetzten und zum Teil 
wenigstens sehr abwegigen Vorgänge entsprechender Art zu ihr stehen. Polyuresie 
wird so zu Hyperuresie, die Suppressio urinae zuHypuresie und Anuresie; 
die Uraturie, Albuminurie, Glykosurie, Meliturie u. s. w. sind Paruresien. In 
gleicher Weise wird die Menstruatio nimia zur Hypermenorrhoe, die Menostase 
oder Suppressio mensium zur Hypomenorrhoe oder auch Amenorrhoe, je nach- 
dem sie unvollkommen oder vollkommen ist; die Amenorrhoe bleibt Amenorrhoe; 
sie alle sind Ausdruck von Dysmenorrhoeen; die heute kurzweg als Dysme- 
norrhoeen bezeichneten Störungen sind eigentlich Paramenorrhoen; die Menses 
praecoces, die Menstruatio difficilis, die Menstruatio vicaria, die Menorrhoea oder 
Dysmenorrhoea intermenstrualis, die Menorrhoea oder Dysmenorrhoea membra- 
nacea beweisen es. Ebenso wird die Polysarkie, die Fettsucht, zur, was sie in 
Wahrheit ist, Hyperliposie (Lipomatosie, Lipom); ihr schliesst sich in ent- 
sprechender Weise die Hypoliposie, die Aliposie, die Paraliposie an. 
Ferner wird so aus der Polypragmosyne, der Polypraxie, die Hyperpraxie, 


58 


in der nämlichen Richtung wie diese bewegen. Es sind, wenn 
ich mich so ausdrücken darf, die normalsten der normalen Er- 
gasien oder Euergasien. Die Hyperergasien haben eben, wie 
erwähnt, schon etwas von den Parergasien an sich und ebenso 
auch die Hypergasien. Beiden kommt deshalb auch schon etwas 
Fremdartiges, Anomales zu. Die Parergasien dagegen besitzen 
wieder bald mehr bald weniger von den Hyp- oder Hyper- 
ergasien. Hyperergasien, Hypergasien, Parergasien gehen deshalb 
auch vielfach in einander über und, was noch blosse Hyper- oder 
Hypergasie, was schon Parergasie ist, hängt ganz und gar von 
dem jedesmaligen Beobachter ab. A potiore fit denominatio. 
Es ist wichtig, das Alles im Auge zu behalten, um etwaigen 
missverständlichen Auffassungen in den folgenden einzelnen Ab- 
handlungen zu entgehen. 

Die bezüglichen Ergasien lassen zwei Phasen unterscheiden, 
eine vorbereitende, gleichsam proergastische, und eine eigent-- 
liche, etioergastische oder auch ergastische schlechtweg. 
Die erste beruht auf dem Eindringen des Reizes, der Reizbe- 
wegung in den jeweiligen Körper, einem Vorgange, den man 
sich meistenteils mehr aktiv, als von innen heraus erfolgend 
gedacht und deshalb die Reizaufnahme genannt hat; die zweite 
gründet sich auf die Wirkung des Reizes, welche sich als Lösung 
der in Betracht kommenden Moleküle und deren Folgen, also 
der in das Dasein gerufenen Evolutionen, zu erkennen giebt. Die 
proergastische Phase umfasst die Perceptionen, die ergastische 
selbst die Reaktionen. 


Bei den höheren Tieren, doch schon von den Würmern 
an aufwärts, haben sich besondere Organe gebildet, durch welche 
diese beiden Phasen als solche zum Austrag gebracht werden, 
die receptiven und reaktiven Nerven, welche gemeinhin: 


centripetal- und centrifugalleitende, oder auch sensibele und. 


mit Allem was darum und daran hängt, und aus den entsprechenden Zuständen 
verminderter oder abweichender Thätigkeit die Hypopraxie, Apraxie 
Parapraxie. Wer kennt nicht die Polyphrasie, Logorrhoe oder Logodiarrhoe? 
Sie wird zur Hyperphrasie. Die Mutitas, der Mutacismus wird zur Aphrasie, 
beziehungsweise Hypophrasie u. s. f. Dass dabei die Wortbildung erleichtert, 
das Gedächtnis weniger beschwert wird, weil die ganze Nomenklatur, die doch. 
nun einmal international sein muss, auf eine natürliche Grundlage zurückgeführt,. 
vereinfacht wird, liegt auf der Hand, 


Ki 


39 
motorische, beziehentlich motorische, sekretorische, trophische 
genannt werden. Indessen es liegen den letztgenannten Bezeich- 
nungen viele unzutreffende Vorstellungen zu Grunde, und die 
Namen bezeichnen aus diesem Grunde keineswegs das in richtiger 
Weise, was der Unbefangene erwarten dürfte. Der gegebene» 
Reiz, die ihm zu Grunde liegende Bewegung, dringt in die obersten 
Schichten, Zellenlagen des gegebenen Körpers ein und setzt sich 
durch die aus ihnen hervorgehenden, jedenfalls mit ihnen in 
innigster Verbindung stehenden centripetalleitenden Nerven, als 
dem noch ursprünglichsten und deshalb auch leicht beweglichsten 
Protoplasma des Körpers angehörig, nach dem Inneren desselben 
fort, um im Centralnervensysteme, Rückenmark und Hirnstamm, 
auf diese und jene centrifugalleitenden, welche gerade am 
leichtesten beweglich in ihrem Molekulargefüge sind, überzugehen 
und in den sie aufnehmenden Zellen und Zellencomplexen die 
Reaktionen zu veranlassen, welche wir vorzugsweise als Lebens- 
äusserungen, Lebensthätigkeiten, ansehen. Zwischen dem Beginn 
einer Perception und dem Abschluss der bezüglichen Reaktion 
ist eine lange Reihe stetig sich folgender Evolutionen eingeschaltet. 
Jede derselben führt zur Auslösung der ihr folgenden und wird 
damit zu dem Reize, welcher diese in das Leben ruft. Sie verhält 
sich deshalb auch in Bezug auf diese, als Reaktion gedacht, in 
ihren unmittelbarsten Folgen wie eine Perception. Aus einer 
ununterbrochenen Kette von mit einander regelmässig abwech- 
selnden Perceptionen und Reaktionen, die, ich möchte sagen, in 
chemischen Explosionswellen fortschreiten, besteht nach allem 
dem der Vorgang, welcher zwischen der ersten Reizeinwirkung 
auf einen Körper und der Gegenwirkung von Seiten desselben 
stattfindet, oder in Anbetracht des Nerven selbst, der die Nerven- 
leitung ausmacht. 

Es ist bekannt, dass die Nervenleitung im Centralnerven- 
system und zwar durch die graue Substanz desselben eine 
Hemmung erfährt. In Folge dessen werden die die Reize bildenden 
lebendigen Kräfte in Spann- oder Druckkräfte umgewandelt, 
um, gelegentlich wieder in lebendige Kräfte zurückgeführt, als 
erhöhter Reiz beziehentlich der endlichen Reaktion wirken zu 
können. Aus der grauen Substanz des Rückenmarkes und 
init ihm des Hirnstammes, und zwar aus den hinteren Hörnern 
jenes und ihren Modificationen in diesem, welche beide vor- 


60 


zugsweise den Perceptionen dienen, geht das Gehirn selbst, gehen 
die Hemisphären desselben hervor. Es ist darum das Gehirn, wie 
gross und umfangreich es zuletzt auch erscheinen mag, doch 
nichts Anderes als die über dem Hirnstamme ganz ausserordentlich 
entwickelte Masse der Hinterhörner der grauen Substanz des 
Rückenmarkes. Wenn die graue Substanz, der graue Kern des 
Rückenmarkes, was ja bewiesen ist, den Übergang der Percep- 
tionen in die Reaktionen vermittelt, und wir uns das ganze 
Nervensystem, hier also das eines Wirbelthieres, als einen Leitungs- 
apparat denken für Kräfte, welche von der Aussenwelt her ihn von 
den ersten Perceptionsstellen an bis nach den letzten Reaktionsstellen 
hin durchfliessen, und der zu bestimmten Zwecken eine die Leitung 
hemmende Masse, also die graue Substanz des Rückenmarkes, 
eingeschaltet enthält, so stellt sich das Gehirn als eine Art von 
Nebenleitung heraus, in welche ebenfalls zu bestimmten Zwecken 
leitungshemmende Massen eingeschaltet sind. Die das Gehirn 
mit dem Hirnstamme verbindenden Fasermassen entsprechen den 
eigentlichen Leitungen, die in dasselbe eingestreuten Heerde 
grauer Substanz, die es umhüllenden Massen solcher, seine Rinden, 
den eingeschalteten Apparaten. *) 


*) Stellen wir uns die Sonne als eine Art von grossem Elektrizitätswerk 
vor, von dem allseitig Leitungen ausgehen, auf welchen die von ihr ausstrahlenden 
Kräfte sich weiter verbreiten, so entspricht das den Raum zwischen ihr und den 
übrigen Weltkörpern ausfüllende Medium, der Äther, den von ihm unmittelbar 
nach allen Richtungen hinziehenden Hauptleitungen. Der Äther zwischen der 
Sonne und der Erde entspricht der Hauptleitung nach einem bestimmten Orte. 
Der Äther in der Erde, welcher alle ihre Zwischenräume erfüllt, entspricht der 
Nebenleitung, welche sich in dem Orte von ‚der Hauptleitung abzweigt, in ihm 
wieder durch Nebenleitungen verteilt, sich durch dieselben gewissermassen auflöst, 
sich aber auch wieder sammelt und hinter dem Orte wieder in die Hauptleitung 
einmündet. Zum Zweck. der Abzweigung der Nebenleitungen ist die jedesmalige 
bezügliche Hauptleitung unterbrochen, eine die Kraftleitung hemmende Masse ist 
eingeschaltet, ein bestimmter Apparat in ihr angebracht. 

Von der Nebenleitung, welche durch den fraglichen Ort als Hauptleitung 
zieht, gehen wieder, wie erwähnt, unter Einschaltung von Apparaten, also zunächst 
blos leitungshemmenden Massen, abermals Nebenleitungen ab. Es sind das die 
in die Häuser führenden, durch welche die in dieselben geleiteten Kräfte bestimmten 
Zwecken dienstbar gemacht werden sollen. Je nachdem sind nun in den Häusern 
wieder die Leitungen unterbrochen und in den Unterbrechungen leitungshemmende 
Massen, beziehentlich Apparate eingeschaltet, hier Kohlenstifte, Kohlenfäden zur 
Erzeugung von Licht, dort eine Glocke, ein Telephon, ein Phonograph, eine Leier, 
in Amerika selbst Klaviere, da ein Telegraph, eine Uhr, eine Nähmaschine, Dreh- 


61 


In der grauen Rinde des grossen Gehirns, werden die Per- 
ceptionen bewusst; es entstehen Gefühle. Die Gefühle in ihren 
verschiedenen Beziehungen als Gefühle schlechthin, als Empfindun- 
gen, Wahrnehmungen, als Strebungen, Triebe, Wille, Gedanken, 
sind darum in Anbetracht des Ortes ihres Zustandekommens ein 


bank, ein Ventilator, u. s. w. Zu bestimmten Zwecken sind bestimmte leitungs- 
hemmende Massen, Apparate, in die Leitungen selbst eingelassen. 

Nehmen wir nun das Nervensystem eines Tieres, inbesondere eines Wirbel- 
tieres und des als solchen zu betrachtenden Menschen, so ist dasselbe als eine 
Nebenleitung für die Kräfte anzusehen, welche von der Sonne zur Erde, beziehentlich 
über dieselbe hinaus in den Raum und durch denselben zu anderen Sonnen wogen. 
Durch die centripetalleitenden Nerven dringen die bezüglichen Kräfte in den 
Körper ein, durch die centrifugalleitenden treten sie wieder, wenn auch verändert, 
aus. Zwischen die centripetal- und centrifugalleitenden Nerven, welche zwei 
streng geschiedene Abteilungen bilden, ist die leitungshemmende Masse des 
grauen Kernes des Rückenmarkes eingeschaltet, — es werden dadurch die Per- 
ceptionen zu Wege gebracht —, und als eine weitere Ausbildung dieses Kernes, 
ja sogar blos einer Abteilung desselben, das Gehirn und insbesondere die An- 
häufungen von grauer Substanz in demselben. Der graue Kern des Rückenmarks, 
die grauen Ganglien des Gehirns, die grauen Rinden des letzteren entsprechen 
den Apparaten und Combinationen derselben, welche in elektrischen Leitungen 
angebracht sind. Sie wandeln die ihnen zugeführten Kräfte der Aussenwelt ihrer 
Einrichtung gemäss in ganz bestimmte andere um, der graue Kern des Rücken- 
marks, wohl auch noch die Ganglien des Hirnstammes in blosse Nisus, die Gross- 
hirnrinde in Sensationen und zwar in ihrem hinteren, dem Scheitel- und Hinter- 
hauptslappen zugehörenden Teile, in welchen die centripetalleitenden Fasern ein- 
treten, in blosse reine Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen, im vorderen, 
dem Stirnlappen angehörigen Teile, aus dem die centrifugalleitenden Fasern aus- 
treten, die vorhandenen reinen Gefühle in Strebungen, Triebe, Willen, Gedanken, 
also sich thätig machen wollende Gefühle. 


Das Gehirn als Ganzes ist danach in Bezug auf das gesamte Nervensystem 
als eine Nebenleitung, Nebenschliessung, anzusehen, die wie ich in meinem Lehr- 
buch der Psychiatrie gesagt habe, sich zu der Hauptleitung verhält, wie ein mit 
einer galvanischen Batterie verbundenes Galvanoskop. Das Gehirn und nament- 
lich insofern es Organ der Sensationen, also des Bewusstseins, der Psyche, ist, 
ist darum auch dem Galvanoskop einer solchen Batterie durchaus zu vergleichen. 
Wie wir durch dieses die Ströme kennen lernen, welche die Batterie durchlaufen, 
ihre Richtung, ihre Stärke, Constanz oder Inconstanz, Continuität oder Disconti- 
nuität, so lernen wir durch unser Gehirn und mit uns jedes mit einem solchen 
oder einem entsprechenden Organe ausgestattete Tier, die Kräfte kennen, welche 
von der Aussenwelt her auf uns wirken oder auch, mit denen die Aussenwelt auf 
uns wirkt, und mit denen wir uns, je nachdem sie stärker oder schwächer sind, da- 


nach Lust oder Unlust bereiten, zuneigen oder abneigen, die wir darum begehren 
oder abwehren. 


62 


Mittelding zwischen den eigentlichen Perceptionen und Reaktionen. 
Sie stellen gewissermassen den Anfang dieser letzteren dar und 
um so mehr, je mehr sie aus blossen Gefühlen zu Strebungen, 
Trieben, Willen, Gedanken werden. Sie sind der Ausdruck des 
Anfangs der Molekularbewegung, die auf ihrer Höhe die Evolution 
darstellt, als deren endliche Wirkung wir die bezügliche Reaktion 
gewahren. Sie entsprechen also der Wärme, welche anderwärts 
unter analogen Verhältnissen entsteht. Es sind Äquivalente 
derselben und es fragt sich, ob nicht in der bei weitem grössten 
Mehrzahl der Fälle auch blos Wärme selbst, welche nur in ihren 
verschiedenen Farben und Tönen von dem bezüglichen, besonders 
gearteten Protoplasma in besonderer Weise empfunden wird. Sie 
gehören als solche dann entschieden schon der ergastischen Phase 
an, mag man sie in der Regel auch, wie ich es einst selbst 
gethan habe, noch als Apperceptionen zu den Perceptionen und 
mit diesen zur proergastischen Phase rechnen. Weil Ersteres 
jedoch wohl mehr der Fall sein dürfte, so ist auch die Möglichkeit 
vorhanden, sie nach dem Pflüger'schen Zuckungsgesetze und 
mit diesem wieder nach dem biologischen Grundgesetze überhaupt 
.zu betrachten und zu behandeln. Unter den nachstehenden Ab- 
handlungen findet sich daher auch eine, in welcher wieder ein- 
mal der Versuch gemacht worden ist, die bewussten, die psychi- 
schen Vorgänge, das psychische Leben überhaupt mit dem 
biologischen Grundgesetz in Einklang zu bringen, wie ich es 
bereits bei Abfassung meines Lehrbuches der Psychiatrie ge- 
than habe. 


63 


jk 


Die Elementarorganismen 
und das biologische Grundgesetz. 


Bacterium Termo ist wohl eins der gemeinsten Lebewesen, 
die es giebt, und die Formen, unter denen es vorkommt, sind 
mannigfach. Erscheint es einzeln, ein jedes für sich, so ist es 
oft recht beweglich und, wenn man Gelegenheit hat, es auf einem 
heizbaren Objecttisch zu untersuchen, so wird man bald erkennen, 
dass seine Beweglichkeit mit der Temperatur in Zusammenhang 
steht, unter welcher es sich befindet. Bei gewöhnlicher Zimmer- 
temperatur, d. h. einer solchen von 16—20°C. bewegt es sich nur 
sehr träge; bei einigen 20° C. bewegt es sich lebhafter, noch 
lebhafter bei einigen 30° C. Die grösste Beweglichkeit scheint 
es zwischen 35—38° C. zu besitzen. Steigt die Wärme höher, 
unter welcher es sich befindet, so lässt seine Beweglichkeit nach. 
Bei 40° C. verfällt es nach Ed. Eidam der Wärmestarre, aus 
welcher es indessen sich immer wieder erholen und zur alten 
Beweglichkeit zurückkehren kann; bei 50°C. doch wird dieselbe 
für immer vernichtet. 

So weit die Beweglichkeit des Bacterium Termo von der 
umgebenden Temperatur abhängig ist, sehen wir also, dass eine 
für das besagte Bacterium verhältnismässig geringe Steigerung 
dieser letzteren jene auch in einem geringen Masse steigert, ge- 
wissermassen nur anfacht, dass eine stärkere Steigerung der 
Temperatur eine stärkere Steigerung der Beweglichkeit zur 
Folge hat, dass über einen gewissen Grad der Temperatur- 
steigerung hinaus aber gerade das Gegenteil eintritt, die Be- 
weglichkeit nachlässt, erst gehemmt und endlich ganz auf- 
gehoben wird. 


64 

Was vom Bacterium Termo gilt auch vom Bacterium 
Lineola, von Bacillus subtilis, Ulna, von Spirilla und Spirochaete, 
sowie all’ den beweglichen Wesen hierher gehöriger Art. Mit 
steigender Wärme nimmt die Beweglichkeit derselben, die über- 
haupt erst bei einer gewissen Höhe der ersteren bemerkbar 
wird, zu. Hat die Wärme indessen wieder eine gewisse Höhe 
erreicht, welche zwischen 35—40 °C. liegt, so nimmt die Beweg- 
lichkeit auch wieder ab und hört endlich ganz auf. Dieselbe 
wird erst gehemmt und dann ganz aufgehoben, vernichtet. 

Wie die Beweglichkeit, so erweist sich auch die Fort- 
pflanzungs- beziehentlich die Vermehrungsfähigkeit der Bakterien 
und ihresgleichen in dem nämlichen Grade abhängig von der 
Temperatur, unter welcher sie leben. Nach Mitteilung des Herrn 
Loeffler vermehrt sich der Tuberkelbacillus nicht mehr unter 
28° und nicht über 42° C. Am besten gedeiht, am raschesten 
vermehrt er 'sich bei Brutwärme, also bei 37—38° C. Von 
28° C. aufwärts nimmt also seine Vermehrung beziehungsweise 
Vermehrungsfähigkeit mit Vermehrung der Wärme stufenweise 
zu. Hat die Wärme jedoch 37—38° C. erreicht, so nimmt 
darüber hinaus seine Vermehrung wieder allmählich, doch un- 
gleich schneller ab; sie wird gehemmt und, hat die Wärme 
42% °C. erlangt, so wird sie ganz aufgehoben, ver. 
nichtet. Der Cholerabacillus vermehrt sich zwischen ı5 und 
42°C. Bei ı5° fängt er‘-überhaupt erst an, Vermehrung zu 
zeigen. Mit zunehmender Temperatur nimmt auch diese seine 
etwaige Vermehrung zu. In der Brutwärme von 37—38° C. 
ist auch sie am regsten. In einer Temperatur darüber hinaus 
nımmt sie ebenfalls wieder ab, und bei 42 ° C. hört sie ganz auf; 
sie wird aufgehoben, wird vernichtet. Die Milzbrandbacillen 
vermehren sich nicht unter 14, nicht über 43 ° C. Ihre stärkste, 
beziehungsweise schnellste Vermehrung findet, wie die der vor- 
scenannten Bakterien, auch bei 37—38° C. statt. Was sich von 
diesen sagen liess, lässt sich auch von ibnen sagen. Zunehmende 
Wärme regt zuerst die Vermehrung, die Fortpflanzung an, 
fördert, beschleunigt sie sodann; hat sie aber ein gewisses 
Maximum, die sogenannte Brutwärme von 37—38° C., erreicht, 
so hemmt sie zuvörderst die Vermehrung und, endlich auf 43 °C. 
gekommen, hebt sie dieselbe vollständig auf. 

Ähnlich liegt es mit dem Diphtheriebacillus. Seine etwaige 


fer) 
Si 


Vermehrung fängt erst bei 18—20°C. an. Bei zunehmender 
Wärme nimmt dieselbe zu; bei Brutwärme erreicht sie ihren 
höchsten Grad. Dann zeigt sie sich gehemmt und bei einigen 
40°C. endlich erloschen, aufgehoben. Globig*) ist bei seinen 
Untersuchungen über Bacterium -Wachstum bei ;o bis 70°C. 
auf ein Bakterium gestossen, dessen Vermehrung zwischen rund 
ı5 und 68—70°C. vor sich ging, aber bei etwa 60° am schnell- 
sten und üppigsten erfolgte. Von ı5 bis etwa 60°C. nahm die 
Vermehrungsthätigkeit zu und erreichte da ihr Maximum; von 
60—65— 70°C. nahm sie wieder ab und erlosch dann gänzlich. 
Die fragliche Vermehrungsfähigkeit dehnte sich, so zu sagen, 
über ein Temperaturgebiet von 55°C. aus, zeigte sich aber 
gegen das Ende seiner Ausdehnung am energischsten. Dann 
sind Globig aber auch wieder Bakterien begegnet, deren Ver- 
mehrung nur innerhalb ı0"C. lag, erst bei 54°C. anfing und 
nicht über 65°C. hinausging, aller Wahrscheinlichkeit nach je- 
doch erst gegen diese letztere hin, bei 61—63°C., am kraft- 
vollsten sich machte. Kurzum die Vermehrungfähigkeit der 
Bakterien, soweit dieselbe von dem Einfluss der Wärme ab- 
hängig ist, aber gleichgültig; sonst, ob jene höher sein muss oder 
niedriger sein kann, zeigt ebenso wie ihre Beweglichkeit, dass 
geringe Wärmemengen sie um ein Geringes, grössere Mengen 
beide um ein Grösseres vermehren, dass verhältnismässig grrosse 
Wärmemengen sie aber wieder herabsetzen, hemmen, und dass 
verhältnismässig ganz grosse, grösste Mengen beide aufheben, 
vernichten. 

Durch Virchow ist gezeigt worden, dass Spermatozoen 
ganz gleich den Wimpern der Flimmerepithelien, welche in Folge 
von Ermüdung oder Wassereinwirkung zur Ruhe gekommen 
waren, wieder in Bewegung gerathen, wenn verdünnte Alkalien 
auf sie Einfluss gewinnen; und zwar lässt sich wieder nachweisen, 
dass ein gewisser Prozentsatz der Lösung die Bewegung gerade 
ins Leben ruft, sie anfacht, ein grösserer sie beschleunigt, fördert, 
ein noch grösserer sie wieder mindert, hemmt, und ein abermals 
vergrösserter sie aufhebt. Schwache Alkalien regen die Be- 
wegung der Spermatozoen ebenso wie die Flimmerbewegung 
an, starke vernichten sie. Ganz analog verhalten sich Lösungen 
von Salpeter und Kochsalz und nach Engelmann auch Säuren, 


*) Globig, Zeitschrift f. Hygiene v. Koch u. Flügge II. 1888 S. 295 u. ff. 
5 


Ber 
Alkohol und Ather, nur dass die bezüglichen Wirkungen der 
letzteren auf unendlich viel kleinere prozentische Lösungen der- 
selben eintreten. 

Wenn man einen Tropfen infusorienhaltiger Flüssigkeit, die 
längere Zeit in einem kalten Raume gestanden hat, unter dem 
Mikroskop beobachtet, so sieht man die verschiedenen Enchelys-, 
Colpoda-, Trachelius-, Paramecium-Arten, die etwa vorhandenen 
Rotatorien mehr oder minder zusammengezogen daliegen, nur 
von Zeit zu Zeit flimmern oder auch verhältnismässig träge, kurz- 
dauernde Bewegungen ausführen. Erwärmt sich die Flüssigkeit, 
in welcher sich diese Wesen befinden, so werden die Bewegungen 
derselben lebhafter, ausgiebiger. Das Flimmern ihrer Ober- 
fläche nimmt zu, ihre Ortsveränderungen erfolgen rascher, jäher, 
und bei einer Zimmertemperatur von 18—2o°C, kann das Alles 
schon so bedeutend sein, dass die genauere Beobachtung der Einzel- 
wesen dadurch eine sehr erhebliche Störung erfährt. Wird der 
Objekttisch durch eine passende Flamme erwärmt, so nehmen die 
beregten Bewegungen zu. Das genannte Flimmern wird stärker 
und stärker, die Ortsveränderungen erfolgen häufiger und häufiger, 
jäher und jäher. Colpoden und Paramecien insonders fahren 
wie wild durch einander, schiessen hin und her, und in dem 
Masse als die Temperatur des Objekttisches anwächst, wachsen 
zunächst auch noch diese Erscheinungen an. Im Gesichtsfelde 
des Mikroskopes findet eine wahre wilde Jagd statt. Dann auf 
einmal, wenn die Temperatur des Objekttisches eine noch höhere 
geworden ist, mässigen sich die genannten Bewegungser- 
scheinungen. Die einzelnen Wesen kommen zur Ruhe, das eine 
früher, das andere später, in grossem Ganzen doch zu gleicher 
Zeit; sie ziehen sich zusammen, wimpern langsamer und langsamer, 
werden zum Teil kugelig; einzelne machen noch eine Art krampf- 
hafter Zuckungen; dann liegen sie starr und regungslos da, meist 
um sich nie wieder zu bewegen. Ganz dieselben Vorgänge 
bekommt man an ihnen zu sehen, wenn man auf sie mehr oder 
minder differente Stoffe, kaustisches, beziehentlich kohlensaures 
Natron oder Kali, Kochsalz, Salpeter, Essigsäure, Salzsäure, 
Alkohol, Essigäther, Karminammoniak, einwirken lässt. Bringt 
man diese Stoffe gelöst oder ungelöst an den Rand des Deck- 
gläschens, so gewahrt man, dass in demselben Masse, als sie 
sich der Flüssigkeit unter diesem letzteren beimischen, was die 


67 

farbigen Mittel besonders leicht festzustellen gestatten, die frag- 
lichen Wesen unter demselben erst rascher und rascher mit ihrer 
gesamten Masse sich bewegen, in eine wahre Hatz geraten, 
dann langsamer und langsamer werden, blos noch wimpern und 
endlich, nachdem sie jedoch vielfach erst noch einen Teil ihres 
Inhalts entleert und eine vorübergehende Auflösung erfahren zu 
haben scheinen, mehr oder weniger kugelig zusammengezogen 
daliegen. Vorticellen erscheinen auf dieselben Wirkungen hin 
erst unruhig; sie schwanken hin und her, wirbeln lebhafter, dann 
ziehen sie häufiger und kraftvoller ihren Stiel zusammen und 
lassen, nachdem das geschehen ist, denselben rasch wieder er- 
 schlaffen, so dass sie beinahe noch schneller, als sie sich zu- 
sammenzogen, wieder emporschnellen. Danach jedoch werden 
all diese Bewegungen langsamer und oberflächlicher; es findet 
blos noch ein Wirbeln statt; es erlischt auch dieses Wirbeln; 
die Wimpern stehen gerade aus; der ganze Körper ist wie auf- 
gebläht. Endlich ziehen sich die Wesen als Ganze kugelig 
zusammen, reissen dabei häufig vom Stiel, beziehentlich auch 
blos vom halben Stiel ab, und erscheinen im letzteren Falle als 
kugelige Körper mit einem schraubentörmigen Anhängsel. Eine 
ein gewisses Mass nicht übersteigende Wärmezufuhr, eine ein 
gewisses Mass nicht übersteigende Zufuhr von chemisch wirkenden 
Stoffen, gleichgültis welcher Art, steigert die Beweglichkeit der 
bezüglichen Wesen, fördert sie, erst mässig, dann stärker; über- 
steigt die Wärmezufuhr, die Zufuhr an den bezüglichen Chemikalien 
ein gewisses Mass, so wird die Beweglichkeit vermindert, 
‚gehemmt, endlich aufgehoben und vernichtet. 

Amöben, Flagellaten zeigen ganz dasselbe Verhalten. Die 
untersuchten einschlägigen Wesen stammten aus der Nord- und 
Ostsee, aus Süsswasser, aus Gartenerde und Myxomyceten- 
sporen, welche in ein mit Wasser angefülltes Uhrglas aus- 
gesät worden waren. Eine aus der Ostsee erhaltene, der Amöba 
porrecta M. Schultze’s sehr ähnliche Amöbe zeigte bei der 
Einwirkung von Kalilauge eine sehr merkwürdige Abänderung 
in ihren Bewegungsverhältnissen. Die erwähnte Amoeba por- 
recta ist ausgezeichnet durch ihre Anfangs lappigen, später sich 
teilenden und endlich in lange feine Fäden weit hinaus er- 
streckenden Pseudopodien. Sie ist der Amoeba radiosa Ehrenb. 
ähnlich; aber die Pseudopodien dieser sind niemals in so lange, 

5* 


68 

feine, nadelähnliche Spitzen ausgezogen, sondern, wenn auch 
spitz, so doch mehr keilförmig mit verhältnismässig breiter 
Basis. Der Amoeba radiosa Ehrenb. nicht unähnlich ist die 
Amoeba verrucosa Ehrenb. Dieselbe aber hat in ihrer charak- 
teristischsten Form sehr viel kürzere, mehr abgerundete Pseudo- 
podien und nähert sich damit der Amöba guttula Perty’s, deren 
Pseudopodien wie Tropfen aus ihrem Leibe hervorquellen und den- 
selben auf grössere oder kleinere Strecken, indessen immer nur 
wenig sich ausbreitend, umfliessen, beziehungsweise randartig um- 
geben. Die besagte Am. porrecta gelangte in Seewasser zu 
meiner Beobachtung. Sie sandte langsam ihre langen nadel- 
förmigen Pseudopodien aus breiten Ursprungslappen aus, zog 
sie wieder ein, sandte sie wieder aus und vollzog dies wech- 
'selnde Spiel mit anscheinend stets gleicher Kraft. Da setzte ich 
dem Seewasser etwas Kalilauge zu. Die Amoebe fing an, ihre 
Pseudopodien rascher und anscheinend stärker zu bewegen. Sie 
zog dieselben rascher ein, streckte sie rascher wieder aus, allein 
nicht mehr bis zu der vorigen Länge und als dünne, feine Fäden oder 
Nadeln, sondern in den kürzeren und mehr keilförmigen Zipfeln, 
welche die Am. radiosa auszeichnen. Nachdem ich dann noch 
etwas Kalilauge der Präparatflüssigkeit zugesetzt hatte, ver- 
ringerte sich wieder die Beweglichkeit der Pseudopodien. Die- 
selben wurden nicht mehr so rasch vorgeschoben und zurück- 
gezogen wie bisher; sie wurden auch nicht mehr so weit und 
so spitz vorgeschoben, sondern blieben kürzer und stumpfer, 
mehr abgerundet. Nachdem ich dann abermals etwas Kalilauge 
zugesetzt hatte, wurden die Pseudopodien noch langsamer und 
noch weniger weit vorgeschoben; sie traten als kleine Buckel, 
Tropfen hervor, die sich dicht um den Rand des Leibes hin- 
zogen, ihn blos säumend, und endlich hörte das Pseudopodien- 
spiel ganz auf. Die Amöbe lag zu einer Kugel zusammengezogen, 
wohl totenstarr, da. Die sich mässig rasch bewegende Amoeba 
porrecta hatte durch wenig Kalilauge sich in eine sich schneller 
bewegende Am. radiosa, durch etwas mehr Kalilauge in eine 
sich wieder langsamer bewegende Am. verrucosa, durch noch 
mehr der Lauge in eine träge Am. guttula verwandelt, endlich 
ihre Wandlungen eingestellt, weil ihre Bewegungsfähigkeit auf- 
gehoben war. 

Solche und ähnliche Beobachtungen hat auch Czerny ge- 


69 


macht. Derselbe fand nämlich, dass die von ihm in einer Koch- 
salzlösung gezüchteten Amöben ihre Art sich zu bewegen änder- 
ten, wenn durch Verdunstung oder Zusatz von Wasser die be- 
treffende Kochsalzlösung stärker oder schwächer wurde. Amöben 
von dem Charakter der Am. diffluens Ehrenb., welche ihren 
Namen davon hat, dass sie zeitweise ganz zu zerfliessen scheint, 
nahmen den Charakter der Am. verrucosa an, wenn die Lösung durch 
Verdunstung stärker wurde; diese aber nahmen wieder den Cha- 
rakter der Am. radiosa an, sobald die fragliche Lösung durch Zusatz 
von Wasser verdünnt und damit schwächer geworden war. Bei an- 
deren Amöben salı er, dass nach Zusatz von Kochsalz zu der sie 
enthaltenden Flüssigkeit sich die Pseudopodien verlängerten und 
in ungleich lebhaftere, z. T. spiralige Bewegungen übergingen. 
Czerny hat also auch wahrgenommen, dass eine gewisse Reiz- 
zunahme die Bewegungsfähigkeit beschleunigt, eine stärkere ver- 
mindert, dass diese aber wieder abgeschwächt jene, nämlich die 
Bewegungsfähigkeit, auch wieder erhöht. Aus einer Am. diffluens 
wurde durch zu viel Salzzusatz in Folge der Verdunstung des 
Wassers eine Am. verrucosa, und als der betreffende Salzgehalt 
durch Zusatz von Wasser verringert wurde, ein Am. radiosa, 
von denen beiden, wie oben mitgetheilt worden, die erstere sich 
langsamer, die letztere etwas rascher bewegt. 

Den Amöben sehr ähnlich und bis zu einem gewissen Grade 
gleiche Körper sind die weissen Blutkörperchen, die Lymph-, 
Eiter-, wandernden Bindegewebskörperchen, welche bekanntlich 
alle zusammengehören und, wenn auch nicht gerade ein und 
dasselbe sind, so sich doch gewiss in mannigfacher Weise ver- 
treten und ersetzen können. Werden nun weisse Blutkörperchen 
oder Eiterkörperchen des Menschen, die am leichtesten zu haben 
sind, in einer möglichst indifferenten Flüssigkeit, Serum, Jod- 
serum, physiologischer Kochsalzlösung, unter dem Mikroskop 
auf einem heizbaren Objekttische untersucht, so wird man bei 
gewöhnlicher Zimmertemperatur, solcher von 18—20°C., kaum 
irgend welche Bewegungserscheinungen zu Gesicht bekommen. 
Erst wenn die Temperatur über 20°C. steigt, bemerkt man bei 
anhaltender Aufmerksamkeit sich langsam vollziehende ober- 
flächliche Formänderungen an ihnen. Dieselben werden zwar 
mit zunehmender Temperatur immer deutlicher; allein erst wenn 
die letzere 33°C. überschritten hat, werden sie so bedeutend 


70 


dass sie auch zu Ortsveränderung führen. Doch sind diese 
letzteren zunächst noch geringfügig. Erst jenseits 35°C. nehmen 
dieselben, mögen sie auch immer noch sehr träge erfolgen, einen 
unverkennbar amöboiden Charakter an. Es werden, wenn auch 
kurze, knopfförmige, so doch wohl gekennzeichnete Pseudo- 
podien vorgestreckt und an ihnen, nachdem dieselben grösser 
und grösser geworden sind, zieht sich das bezügliche Körper- 
chen wie an einem ausgeworfenen Ankertau langsam vorwärts. 
Bei 37—38°C. werden diese Bewegungen lebhafter. Die knopf- 
förmigen Pseudopodien werden zu langen fädenförmigen, die 
sich vielfach verästeln, mit den Verästelungen benachbarter zu- 
sammenfliessen und dadurch Plaques, Flecken, bilden, auf die 
sich danach die Körperchen hinziehen. Zwischen 33—40°C. geht 
das Alles noch lebhafter vor sich. Die fraglichen Pseudopodien 
und ihre Verästelungen und Verbindungen entwickeln sich zu 
einer verhältnismässig grossen Länge; die Körperchen ziehen 
sich an ihnen ebenfalls verhältnismässig rasch fort und kommen 
so-auch verhältnismässig rasch vorwärts. Nach 40°C. lassen 
dagegen die Bewegungen an Grösse und Energie wieder nach. 
Doch sind dieselben bei 47—48° C. noch immer ganz ansehnlich. 
Dann aber werden sie langsam, träge, und endlich hören sie auf. 
Bei 50o—zı°C. dürften die weissen Blutkörperchen nach M. 
Schultze ihre Widerstandsfähigkeit gegen höhere Tempera- 


turen verlieren, und das entspricht dem, was wir durch 


W.Kühne über die wandernden Bindegewebskörperchen wissen: 
bei 50— 52°C. starben die betreffenden Körperchen ihm ab. 
Die weissen Blutkörperchen, Eiterkörperchen und ihre Ver- 
wandten, zumal die von mir vorzugsweise untersuchten des 
Menschen, sind sehr empfindliche Wesen. Der leise Druck schon, 
den. ein auf der sie enthaltenden Flüssigkeit halb schwimmendes 
Deckgläschen auf sie ausübt, lähmt sie. Die bezüglichen Deck- 
gläschen müssen, um den besagten Druck hintan zu halten, mit 
Leisten oder Füsschen von Wachs, Staniol u. dgl. m. versehen 
sein. Ebenso beeinflusst sie auch schon die wachsende Dichtig- 
keit des sie enthaltenden Serums ganz ausserordentlich. Wenn 
nicht besondere Schutzmassregeln getroffen sind, so verdunstet 
an den Rändern des Deckgläschens fortwährend etwas von ihm, 
und es selbst wird dadurch dichter, zäher. So wie sich das 
nun geltend macht, verändern die in Rede stehenden weissen 


2a: 


Blutkörperchen, Eiterkörperchen ihre Bewegungsformen, obgleich 
Temperatur, Licht und sonstige Verhältnisse unverändert geblieben 
sind. Auf kurze Zeit werden dieselben gefördert. Die Pseudo- 
podienänderung wird lebhafter; die Pseudopodien selbst werden 
länger; die Körperchen ziehen ihnen schneller nach; allein bald 
werden alle Bewegungen langsanger, träger, weniger ausge- 
sprochen. Die in Betracht kommenden Pseudopodien erscheinen 
dann dicker und umfänglicher, werden langsamer und weniger 
weit vorgestreckt; langsamer schleppt sich -das übrige Körper- 
chen ihnen nach. Wird das Serum durch Verdunstung noch 
dichter, so werden die beregten Bewegungen noch langsamer, 
noch träger, noch weniger ausgiebig. Die Pseudopodien werden 
in Knopf- oder Tropfenform und dem entsprechend natürlich 
nur auf ganz kurze Entfernungen hervorgestreckt; die ganze 
Körpermasse wölbt sich wohl auch einmal gleichzeitig, wie ein 
Buckel, hervor und das Alles geht so langsam, ich möchte 
sagen, so bedächtig vor sich, dass man sich Zeit und Mühe 
nicht verdriessen lassen darf, um es ordentlich zu sehen. 
Schreitet die Verdunstung und mit ihr die Verdichtung des 
Serums noch weiter fort, so kommen nur noch Ausbuchtungen 
der betreffenden Körperchen zu Stande und endlich bleiben 
auch diese aus. Die Körperchen runden sich ab, nehmen mehr 
oder weniger deutliche Kugelform an. Verhielten sich somit 
die Körperchen zuerst bis zu einem gewissen Grade einer Am. 
porrecta nicht unähnlich, so wurden sie danach zu einer Art 
Am. verrucosa, dann zu einer Art Am. guttula und endlich zu 
dem runden Körper, den auch die Am. porrecta aus der Öst- 
see bildete, nachdem sie mit zu viel Kalilauge behandelt worden 
war. Wird nun das verdickte Serum wieder verdünnt, so be- 
kommen wir, wie zuerst Thoma berichtet hat, die nämlichen 
Erscheinungen in umgekehrter Reihe zu sehen. Ist aber das 
Stadium erreicht, in welchem sich die weissen Blut- und Eiter- 
körperchen einer Am. porrecta ähnlich verhalten, und es wird 
nicht mit der Verdünnung des Serums aufgehört, so werden die 
einschlägigen Bewegungen bald wieder gehemmt. i Die Körper- 
chen werden gleichsam gelähmt, quellen auf, lösen sich auf; die 
sie mehr oder weniger erfüllenden Elementarkörperchen gerathen: 
dafür, jedes für sich, in eine immer lebhafter werdende Be- 
wegung; sie werden endlich frei und führen für eine längere 
oder kürzere Zeit ein eigenes Leben besonderer Art. 


An den Speichelkörperchen hat Brücke schon vor drei 
Jahrzehnten etwas ganz Ähnliches beobachtet. Es ist daran ge- 
legentlich schon in dem einleitenden Artikel Leben und Lebens- 
äusserungen S. 28 erinnert worden. 

Dass auch die roten Blutkörperchen eigener Bewegungen fähig 
sind, darf als eine wohl bewiesene Thatsache gelten. Die roten Blut- 
körperchen des gesunden Menschen lassen, wie zuerst M. Schultze 
nachgewiesen hat, eine Contractilität unter gewöhnlichen Verhält- 
nissen indessen nur schwer erkennen; werden sie dagegen auf einem 
heizbaren Objekttisch untersucht, so zeigen sie, wie ich fand, schon 
bei45°C.,*) wieM.Schultze fand, bei 50°C. deutlich amöboide und 
damit ortsverändernde Bewegungen. Bei 50—52°C. fangen sie an, 
längere Fortsätze zu treiben, die bei Steigerung der Wärme oft eine 
bedeutende Länge erreichen und mehr oder minder deutliche 
Schlangenbewegungen machen. Anden Fäden steigen Teilchen der 
übrigen Blutkörperchenmasse in Kügelchen- oder Tröpfchenform 
in die Höhe; es kommt zu einer übermässigen Expansion und 
daraufhin selbst zur Zerbröckelung und zum Zerfall der Körperchen. 
Nähert sich die fragliche Temperatur 537—58°C., so ziehen die 
Blutkörperchendie Fortsätze mitsamt den ihnen anhängenden Kügel- 
chen und Tröpfchen wieder ein; ihre sonstigen amöboiden Bewe- 


gungen werden langsamer und langsamer, zugleich oberflächlicher 


und oberflächlicher, und noch weiter, bis zu 60° C. erwärmt, 
nehmen sie Kugelgestalt an und bilden keine wechselnde Form 
mehr. In einer Wärme darüber hinaus sterben sie ab. 

Wird ein Blutstropfen eines gesunden Menschen unter 
dem Mikroskop mit Harnstoff behandelt, indem man Krystalle 


desselben an den Rand des Deckgläschen legt und sie daselbst in 


dem sie berührenden Teile der Blutflüssigkeit schmelzen lässt, 
so zeigen die Blutkörperchen dieser letzteren ein verschiedenes 
Verhalten und zwar ganz nach dem Masse, dass sie von jenem 
beeinflusst werden. Sie werden zuvörderst alle blasser, dabei 
kleiner und runder und deutlich amöboid. Fortwährend wechseln 
sie ihre Form. Hier treiben sie Höcker, dort buchten sie sich 
aus; in der einen Richtung spitzen sie sich zu; in der anderen 
verdicken sie sich, indem sie wie kolbig anschwellen. Bei vielen 
gleitet eine Art Wellenbewegung über ihre Oberfläche hin. 


*) Siehe Beobachtungen an roten Blutkörperchen der Wirbeltiere. Virchow’s 
Arch. für pathol. Anat. u.s. w. Bd. 78, 1879. S. 17. 


73 


Sodann, wo der Harnstoff bereits stärker eingewirkt hat, ver- 
kleinern sie sich noch mehr und bedecken sich vielfach mit 
Spitzen und Zacken, die eine sehr verschiedene Länge haben 
und bald sich zu strecken, bald sich zu verkürzen scheinen. 
Geschieht letzteres, so werden dieselben öfter wie geknöpft. Die be- 
züuglichen Knöpfchen können sich verlieren, indem sie in die 
Hauptmasse der jeweiligen Blutkörperchen zurücksinken; sie 
können aber auch abfallen, und das betreffende Blutkörperchen 
zerbröckelt und zerfällt damit. Bei noch stärkerer Einwirkung 
des Harnstoffes verkleinern sich die Blutkörperchen noch mehr; 
sie erscheinen als vollkommen runde, blasse, graue Scheiben, 
die sehr bald regungslos daliesgen und nicht selten ein ge- 
schrumpftes Aussehen an den Tag legen. 

Die geschilderten Vorgänge und Zustände an gesunden 
rothen Blutkörperchen des Menschen, welche sich unter ent- 
sprechenden Verhältnissen an den roten Blutkörperchen sämt- 
licher Wirbeltiere, der Säuger, Vögel, Reptilien, Amphibien 
und Fische, zeigen, treten in viel schärferer Weise und unter 
dem Einfluss viel weniger eingreifender Mittel an solchen her- 
vor, welche in krankhafter Weise beeinflusst worden sind und 
dadurch eine Schwächung ihres Bestandes erfahren haben. Die 
roten Blutkörperchen fiebernder Menschen fand schon M. 
Schultze von erhöhter Contractilität. Rommelaere beobach- 
tete sodann, dass dieselben zu leichten amöboiden Bewegungen 
auch schon bei einer Zimmertemperatur von 15—20°C. geneigt 
seien, und ich habe danach feststellen können, dass die roten 
Blutkörperchen von Typhuskranken, deren Körpertemperatur 
39, bis 40,0°C. erlangt hatte, ebenfalls schon bei einer Zimmer- 
temperatur von ı5—20° C. all’ die lebhaften Bewegungen zu 
‚erkennen gaben, welche gesunde, d. h. solche von gesunden 
Menschen, erst bei einigen 50°C. zur Erscheinung kommen lassen. 
Dasselbe zeigt sich bei den roten Blutkörperchen aus Extravasat- 
blut. W. Preyer, welcher die ersten einschlägigen Beobach- 
tungen gemacht hat, erklärt die absonderlichen Formen, welche 
solche Körperchen annehmen, für ganz gleich denen, die auch 
in mit Harnstoff behandeltem Blute vorkommen, .und ich habe 
dem immer nur beistimmen können. Die bezüglichen Extra- 
vasate müssen aber bei Fröschen z. B. mindestens 6—3 Tage 
alt sein, wenn die roten Blutkörperchen in ihnen die fraglichen 


74 
Bewegungen in charakteristiischer Form zeigen sollen. Sind die 
Extravasate erheblich älter, so erscheinen die Blutkörperchen 
wieder weniger beweglich, oder regungslos, zum Teil wirklich 
tot und in Zerfall. 

Die roten Blutkörperchen also, welche contractil und darum 
bewegungsfähig sind, zeigen unter gewöhnlichen Verhältnissen 
diese Eigenschaften nur ın geringem Masse, gleichsam nur ange- 
deutet; unter besonderen Umständen lassen sie dieselben jedoch 
in ganz ausgezeichneter Weise zu Tage treten. Werden die 
roten Blutkörperchen des Menschen erwärmt, so werden sie 
zwischen 45—50° C. amöboid. Zwischen 50—55° C. steigt 
die diesem amöboiden Wesen zu Grunde liegende Beweglichkeit; 
die Blutkörperchen treiben lange Sprossen, zerfallen dabei. 
Zwischen 55—60° C. beschränkt sich wieder mehr und mehr 
ihre Beweglichkeit; sie werden regungslos starr; Wärmestarre 
befällt sie, und um 60° C. herum sterben sie ab. Eine gewisse,, 
verhältnismässig geringe Wärme facht ihre grössere, . ortsver- 
ändernde Bewegungsfähigkeit an, eine stärkere vermehrt, steigert, 
fördert dieselbe; eine noch stärkere, um den Ausdruck zu ge- 
brauchen, eine starke Wärme beschränkt diese Fähigkeit wieder, 
hemmt sie, und eine noch stärkere, in Ansehung der Verhältnisse 
gewissermassen stärkste, hebt sie ganz auf, vernichtet sie. Das- 
selbe zeigt sich in Folge der Einwirkung des Harnstoffes. Kleine: 
Mengen oder schwache Lösungen desselben regen die Form- - 
veränderungen der roten Blutkörperchen an; etwas grössere: 
Mengen oder stärkere Lösungen davon vermehren, verstärken,, 
beziehentlich fördern die besagten Formveränderungen; noch. 
grössere Mengen aber, was dasselbe besagt, starke Lösungen. 
des Harnstoffes beschränken, mässigen, d. h. hemmen sie wieder, 
und verhältnismässig grösste Mengen oder stärkste Lösungen von 
Harnstoff heben sie. ganz auf. Sind die roten Blutkörperchen! 
geschwächt, weil in ihrer Ernährung beeinträchtigt, krank, wie z.B. 
durch fieberhafte Zustände der Personen, von denen sie stammen, 
oder durch den Ausschluss aus dem Kreislauf und des Teilnahme 
an der Oxydation, wie in Extravasaten, so treten alle die geschil- 
derten Bewegungen und Veränderungen in denselben schon früher‘ 
auf, bei einer Zimmertemperatur von 18—20°C. oder einer nur ge- 
ringen Steigerung derselben. Beiläufig gesagt: das Erregungsge- 
setz des ermüdeten, des kranken und absterbenden Nerven macht: 


75 
sich geltend, das eben darin besteht, dass alle Erscheinungen 
des Erregungsgesetzes des gesunden Nerven sich früher als ge- 
wöhnlich und damit auch wie verfrüht, beschleunigt, krampfhaft, 
einstellen. 

Kurzum wir sehen überall in der Welt der Elementarorga- 
nismen das biologische Grundgesetz sich geltend machen, das 
eine Mal deutlicher, das andere Mal weniger deutlich, hier früher 
dort später, aber allenthalben in derselben Weise. Ueberall 
zeigt sich: Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel- 
starke fördern sie, starke hemmen sie und stärkste heben sie 
auf, aber durchaus, ich möchte schon hier sagen, individuell ıst, 
was sich als einen schwachen, einen mittelstarken, einen starken 
oder sogenannten stärksten Reiz wirksam zeigt. 


76 


2 
Der gehaubte Kanarienvogel, 
die Möwechen-, Perrücken- und Pfauentaube 
und das biologische Grundgesetz. 


Es ist Jedermann bekannt, dass es gehaubte Kanarienvögel 
giebt, und dass die Nachkommenschaft derselben häufig Kahl- 
köpfigkeit zeigt. In Betreff ıhrer Züchtung sagt Rusz*): „Die Tolle 
des Zuchtvogels muss federweich und gleichmässig aufgerichtet, 
nicht aber an einer Seite niedergedrückt oder in der Mitte und am 
Genick dünn und kahl sein, sonst bekommen die Jungen zuweilen 
halb oder ganz kahle Köpfe. Ebenso soll man nicht zwei Ge- 
haubte paaren; weil sie nur selten schöne Vögel, sondern meistens 
blos kahlköpfige erzeugen. Doch haben die Züchter schon 
mehrmals abweichende Erfahrungen gemacht und z. B. von 
einem schön gehaubten Männchen und fehlerhaft gehaubten 
Weibchen gleicherweise wie von gut gehaubten Paaren prächtige 
Haubenvögel, allerdings neben einigen fehlerhaften mit kahlen 
Stellen, gezüchtet.“ 

Das Wesentliche davon ist, dass gehaubte Kanarienvögel, 
also solche mit stärker entwickelten Kopffedern, in ihrer Nach- 
kommenschaft häufig kahlköpfige zeigen, nur dass dies um so 
sicherer der Fall ist, wenn die fragliche stärkere Entwickelung 
der Kopffedern ı. an beiden Eltern sich findet, also wenn beide 
Eltern gehaubt sind, und wenn 2. die gedachte Haube, findet 
sie sich auch nur bei einem Teile der Eltern, nicht ganz regel- 
mässig gebildet ist; wenn die Federn derselben nicht weich und 
gleichmässig aufgerichtet, sondern mehr hart, struppig und durch 
einander gedreht erscheinen, oder gar wenn etliche derselben fehlen 
und dadurch zu kahlen Stellen Veranlassung gegeben haben. 


*) C. Rusz. Der Kanarienvogel. Magdeburg 1885. S. ı1ı2. 


17 


Wie kommt das? So viel ich weiss, haben bisher nur zwei 
Biologen das Vorkommnis zu erklären gesucht, Darwin und 
Hensen. Beide nehmen an, dass die Kahlköpfigkeit der Nach- 
kommen gehaubter Kanarienvögel die Folge accumulativer 
Wirkung bei der Vererbung sei. Jener sagt, die Federn in 
den Hauben der bezüglichen Vögel stehen weniger dicht als 
normal, fehlen selbst hie und da, so dass kahle Stellen in ihnen 
vorkommen. Die ausgesprochene Kahlköpfigkeit der Nachkommen 
gehaubter Kanarienvögel sei damit nur die Erbschaft der ange- 
deuteten Kahlköpfigkeit ihrer Eltern mit weiterer Entwickelung der- 
selben. Dieser, Hensen, führt die Angelegenheit auf eine Wirbel- 
bildung zurück. Die Haube der Vögel komme dadurch zu Stande, 
dass die Federn von dem Scheitel aus nach allen Seiten fortbiegen, 
dass also ein Wirbel entstehe. Sei nun auch noch die Neigung 
vorhanden, einen ausgesprochenen Wirbel zu bilden, und ver- 
stärke sich diese Neigung, so rücken die Federn weiter auseinander 
und es komme zu Kahlheit. Nach beiden Biologen ist also die 
Haube der Kanarienvögel mit einer gewissen Federarmut, einer 
verhältnismässigen Kahlheit des Kopfes verbunden. Werden zwei 
sehaubte Vögel gepaart, so vererbt sich mit der Neigung zur 
Haube auch die zur Kahlköpfigkeit, allein vor dieser kann jene 
nicht zur Ausbildung gelangen; sie kommt in Wegfall und 
die Kahlköpfigkeit zur Herrschaft. Es ist das wie mit der Erb- 
schaft von allen Tugenden und Fehlern, von allen Vorzügen und 
Schwächen. Sowohl diese wie jene werden von den Vorfahren 
ererbt, oft in verstärktem Masse; aber die Fehler und Schwächen 
lassen die Tugenden und Vorzüge nicht in gehöriger Weise zur 
Geltung kommen, überwuchern und erdrücken sie damit gleich- 
sam und richten so früher oder später die ganzen Individuen 
zu Grunde, obgleich diese auf ihre Tugenden und Vorzüge hin 
alles Zeug besassen, etwas Tüchtiges zu werden und zu leisten. 

Indessen ganz so liegen die Sachen doch nicht; namentlich die 
Wirbelbildung seitens der Federn, durch die Alles erklärt 
werden soll, bedarf der Richtigstellung. Dass viele Hauben- 
bildungen der Vögel dadurch zu Stande kommen, dass die 
Federn der letzteren am Scheitel nach allen Richtungen ab- 
biegen, mag bis zu einem gewissen Grade richtig sein; die 
Hauben der Hühner, der Enten scheinen dafür zu sprechen; 
allein dass den Hauben anderer, und zu diesen gehören die 


78 


der Kanarienvögel, sowie der Tauben, keine Wirbelbildung zu 
Grunde liegt, das darf als sicher angenommen werden. Bei den 
Kanarienvögeln geht mit der Haubenbildung allenfalls eine 
Scheitelbildung Hand in Hand; bei den Tauben fehlt aber auch 
diese in der Regel. Das, worauf es indessen in jedem Falle an- 
kommt, ist eine Vergrösserung der bezüglichen Federn. Die 
Federn des Kopfes, insbesondere des Hinterkopfes müssen hyper- 
trophieren, müssen dabei mehr oder weniger paratrophieren, wenn 
sich eine Haube bilden soll, und daraus erklärt sich Alles. 

Das Erste, was man nun bei einer Haubenbildung der 
Kanarienvögel gewahrt, ist, dass die Kopffedern sich zum Teil 
vergrössern, zum Teil anders gestalten. Jenes trifft vornehmlich 
die Federn um den Schnabel, den Hinterkopf; dieses zeigt sich 
bei fast allen Kopffedern. 

Beim ungehaubten, gewöhnlichen Kanarienvogel sind die 
Federn um den Schnabel herum ausserordentlich klein. Den 
Schnabel unmittelbar umgeben nur kurze, borstenähnliche Gebilde. 
Dieselben sind der Ausdruck in der Haut sitzen gebliebener 
oder die Haut nur wenig überragender, fahnenloser Kiele. 
Demnächst folgen etwas längere Kiele mit kurzen, wie verküm- 
merten, rudimentären Fahnen, und nach diesen erst kommen wohl- 
ausgebildete, mehr oder weniger rundlich-eiförmige Federn, welche 
den Kopf wie den ganzen Körper flach wie Dachziegeln, mit einer 
leichten Richtung nach aussen, bedecken. In der Nähe des Schnabels 
sind diese Federn auch noch sehr klein, kaum ı mmtr. lang und 
0,75—0,80—0,90 mmtr. breit; nach dem Scheitel, dem Hinterkopf 
hin sich jedoch rasch vergrössernd messen sie an diesem selbst 
etwa ı cmtr. in der Länge und wieder ‚75—0,80—0,90 cmtr. in 
der Breite. Die einzelnen Federn erscheinen weich, leicht nach 
unten gekrümmt, ihr Schaft dünn, namentlich der Kiel saftig 
glänzend. Die Fahne ist bis etwas über die Mitte flaumweich, 
darüber hinaus starrer. Dort ist sie weiss oder grau, hier gelb 
oder gelbgrau, grünlich oder schwärzlich gefärbt. Die Strahlen 
der Fahne sind lang, die mittleren die längsten, etwa halb so 
lang wie der Schaft, manchmal wohl auch noch länger. Da sie 
aber nicht wagerecht abstehen, sondern empor streben, so wird 
dadurch in Verbindung mit den gegenseitigen Strahlen die Feder 
nie breiter als lang. Die untersten Strahlen stehen noch am 
meisten wagerecht ab, die mittleren nur unter einem Winkel 


793 

von 45°; die dann folgenden nähern sich immer mehr der 
Richtung des Schaftes, und die obersten liegen diesem selbst 
dicht an. Jeder Strahl ist gut gesondert und zumal die unter- 
sten weich und flatterig. Ihre Fäserchen verhalten sich ent- 
sprechend. An den untersten Strahlen sind sie lang und dünn, 
an den mittleren etwas kürzer, und an den oberen und ober- 
sten, am meisten genäherten, am kürzesten. 


Beim gehaubten Kanarienvogel nun mit schöner, gleich- 
mässiger, den ganzen Kopf bedeckender, fehlerloser Haube, die 
offenbar blos das Anfangsstadium der Haubenbildung überhaupt 
darstellt, haben sich die blossen, wenigstens dem Anscheine 
nach, blossen, kurzen Kiele sowie etwaigen borstenähnlichen Ge- 
bilde dicht um den Schnabel herum vergrössert. Sie sind länger 
geworden und zeigen den Ansatz zu einer Fahne, tragen rudi- 
mentäre Fahnen wie beim haubenlosen gewöhnlichen Kanarien- 
vogel die Federgebilde der nächst folgenden Zone. Der mittlere, 
die Stirn einnehmende Teil der darauf folgenden, kleinen, kaum 
mmtrlangen, flach niederliegenden Federn hat sich vergrössert, 
aufgerichtet, nach vorn über die Schnabelwurzel, also nach oben 
gekrümmt. Etwas Ähnliches zeigen die sodann folgenden, den 
Scheitel und Hinterkopf besetzenden Federn. Auch sie scheinen 
sich vergrössert und dabei wenigstens die Neigung angenommen 
zu haben, sich aufzurichten, d. i. mehr als gewöhnlich aufrecht 
zu stehen. Indessen die Vergrösserung ist wohl nur scheinbar. 
Ob die bezüglichen Federn länger geworden sind, lasse ich 
dahingestellt sein; breiter sind sie jedenfalls nicht geworden, 
sondern im Gegenteil, auffallend viel schmäler. Aber ganz so 
wie die die Stirn bedeckenden sind sie entschieden derber, 
starrer, steifer geworden. Ihr Schaft lässt das noch weniger 
erkennen; doch auffallend zeigen es die Strahlen desselben und 


80 


namentlich deren Fäserchen. Die Strahlen selbst erscheinen sämt- 
lich dicker. An die Stelle der untersten, weichen und flattrigen, 
fast horizontal abstehenden sind mehr harte, steife, unter einem 
Winkel von vielleicht 45° nach oben strebende getreten. Die 
mittleren Strahlen treten bereits unter einem sehr spitzen Winkel 
von vielleicht 30—25° ab, und die obersten liegen dem Schafte 
alle ziemlich dicht an. Die Feder hat sich zusammengezogen; 
dabei haben die Fäserchen der Strahlen dasselbe Schicksal 
wie diese selbst erfahren. Sie sind auch steifer, starrer ge- 
worden, liegen dem Strahl mehr an; aus Fädchen, die sie sonst 
darstellen, sind eine Art Stacheln geworden, welche der Ober- 
fläche der Strahlen anhaften. 


Bei diesem Derber- und zum Teil auch Grösser-Werden 
der Federn hat sich die Richtung derselben auch mehr oder 
weniger geändert. Die Stirnfedern haben sich nach vorn ge- 
krümmt, fallen auf die Schnabelwurzel; die Scheitelfedern haben 
ihre leichte Richtung nach aussen verstärkt. Dadurch entsteht 
zwischen den beiderseitigen Scheitelfedern eine Furche, ein 
Scheitel, und zwischen ihnen und den Stirnfedern ein trichter- 
förmiger Raum, ein Wirbel, von dem der besagte Scheitel seinen 
Anfang nach hinten nimmt. Der Wirbel ist aber nur selten eine 
wirklich kahle Stelle. Häufig stehen an ihm, beziehentlich auf 
ihm ein Paar Federn, die, weil sie gleichsam nicht wussten, 
wohin sie sich wenden sollten, senkrecht in die Höhe ragen. 
Der besagten Haube, beziehentlich Haubenbildung liegt dem 
Allen nach eine Hypertrophie der Kopffedern zu Grunde, eine 
Hypertrophie, bei welcher sich schon ein paratrophisches Mo- 
ment geltend macht wie bei den Säugetieren, zumal dem Men- 
schen bei der Hypertrophie der Haare und Nägel, die, während 
sie in Folge hypertrophischer Vorgänge an Dicke zunehmen, 


8l 


gleichzeitig in Folge paratrophischer Zustände spröder und 
brüchiger werden als normal. 

Bei einer weiteren Entwickelung der fraglichen Haube er- 
scheinen die Stirnfedern zunächst noch ziemlich unverändert. 
Zwar machen sie einen etwas steiferen, struppigeren Eindruck; 
doch lässt sich eine augenfällige Ursache dafür nicht recht nach- 
weisen. Bei den Scheitel- und Hinterkopffedern, die ebenfalls 
steifer und struppiger geworden sind und deshalb mehr in die 
Höhe stehen, als sie es im Anfangsstadium der Haubenbildung 
zu thun pflegen, findet sich jedoch als Grund dafür, dass sich 
dieselben noch mehr zusammengezogen haben als im vorigen 
Stadium, so dass ihre Breite sich zu ihrer Länge nur wie 
1:3,:4: 5 verhält, und dass sie selbst demgemäss teilweise 
sehr schmal und mehr oder minder nach einer Seite sichelförmig 
gebogen erscheinen. Als Grund hierfür wieder zeigt sich, dass ihre 
Strahlen, die etwas kürzer geworden zu sein scheinen, noch 
steiler in die Höhe steigen als vordem, unter Winkeln von 20°, 
ı0° und darunter, und dass sie darum ganz dicht sowohl unter 
einander als auch dem Schaft anliegen. Die zweite und nament- 
lich die dritte Fig. auf S. So werden das versinnbildlichen. 

Ein gleiches Schicksal haben auch die Fäserchen der Strahlen 
erfahren. Auch sie sind kürzer geworden und liegen dem Strahl 
beziehentlich der Strahlrippe so dicht an, dass sie selbst bei 
starker Lupenvergrösserung zu fehlen scheinen. Sie fehlen wohl 
auch wirklich einmal. Das ganze Verhalten der Federn deutet 
auf einen herabgesetzten Ernährungsvorgang, beziehungsweise 
Ernährungszustand in ihnen, auf eine Hypotrophie, die sie 
befallen hat, und zwar eine solche, bei der sich auch ein para- 
trophisches Moment geltend macht, ähnlich wie bei dem alternden 
Haar, das, während es dünner und dünner wird, sein Pigment 
verliert und an seiner Elastizität Einbusse erleidet. Während 
also die Stirnfedern, vielleicht auch noch die ersten Scheitelfedern 
sich noch stark hypertrophisch erweisen, sind die der hinteren 
Scheitelgegend und des Hinterkopfes bereits einer Hypotrophie 
verfallen. Denn jede Hypertrophie geht nach längerem oder 
kürzerem Bestande in eine Hypotrophie und durch diese 
endlich in eine Atrophie über, und zeigt sich das nicht an einem 
einzigen Individuum, so doch um so sicherer in einer 
durch Abstammung verbundenen Individuenreihe, welche in dem 

6 


82 
Verhältnis von Vater, Sohn, Enkel, Urenkel u. s. w. steht. 
Die Züchtung und Geartung sowie die Verwilderung und Ent- 
artung beruhen darauf. 

Wo die Hypotrophie der Scheitel- und Hinterkopffedern in 
unseren Fällen schon eine vorgeschrittenere ist, da zeigt der 
Hinterkopf auch schon einen Mangel an Federn und in Folge 
dessen eine bald mehr bald minder grosse kahle Stelle. An 
derselben befinden sich öfters zerstreute, verkümmerte Federn; 
öfters indessen ist sie auch ganz kahl. Die fragliche Hypotrophie 
hat zugenommen, ist an den ganz kahlen Stellen in Atrophie 
übergegangen. In einem späteren beziehentlich weiter vorge- 
schrittenen Stadium des ganzen Vorganges finden sich auch 
kleinere oder grössere kahle Stellen auf der hinteren Scheitel- 
gegend ein; sie fliessen unter sich und mit der am Hinterkopfe 
zusammen und bilden eine einzige mitunter recht ansehnliche kahle 
Platte, welche gelegentlich bis tief in den Nacken, beziehungsweise 
bis auf den Hals hinabreichen kann. Wo die kahle Platte in so 
ausgedehnter Weise angetroffen wird, da sind nicht selten die ihr 
benachbarten Kopf- und Halsfedern, also die der Backen und 
des Halses in der von den eigentlichen Kopffedern mitgeteilten 
Weise verändert und zumal hypertrophiert. Dadurch entsteht 
denn aber eine Art steifer Kragen, welcher sich bis nach der 
Brust hin erstreckt und besonders bei lebhafteren Bewegungen 
des Vogels deutlich hervortritt. Im Folgenden werden wir bei 
einer ähnlichen Angelegenheit auf ein ganz gleiches Verhalten 
der betreffenden Federn zurückkommen. Hier genüge diese 
kurze Bemerkung. Bei Darwin*) finde ich, dass an solchen weit- 
gehenden kahlenPlattenauch wunde Stellenbeobachtet wordensind. 
Die berührte Atrophie würde in den entsprechenden Fällen sich 
nicht blos auf die Federn, sondern auch auf die übrige Epidermis 
ausgedehnt haben und vielleicht in Beziehung gebracht werden 
können zu der Widerstandslosigkeit der Epidermis und ihrer 
Gebilde, wie sie der Skrophulose des Menschen allem Anscheine 
nach zu Grundeliegt. Doch sehen wir im Augenblicke davon ab. Die 
Kahlköpfigkeit der Nachkommen gehaubter Kanarienvögel hängt 
jedenfalls nicht mit der Wirbelbildung zusammen, welche bei 
ihnen vorkommt. Denn diese findet sich am Vorderkopfe, und 


*) Darwin. Variiren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation. 
Deutsch von J. Victor Carus. II. Auflg. 1873. I. 328. 


83 


die entsprechenden Wirbel mit etwa vorhandenen Scheiteln er- 
halten sich, so lange überhaupt noch von einer Haube die Rede 
sein kann. Die Kahlköpfigkeit entsteht vielmehr am Hinterkopfe und 
breitet sich zunächst unbeschadet jener immer weiter nach vorn 
und hinten aus. Was schliesslich wird, darüber habe ich keine 
eigene Erfahrung. Darwin*) glaubt, dass der ganze Prozess auf 
einer Krankheit beruhe. Der Prozess fängt mit einer Hypertrophie 
an, geht in eine Hypotrophie über und endet mit einer Atrophie. 
Eine von Geschlecht zu Geschlecht immer tiefer greifende Er- 
nährungsstörung, die zuletzt zu Wundwerden, wie es scheint, 
also zu einer Verschwärung, d.h. zu molekularem Brand führt, 
liegt ihm jedenfalls zu Grunde. Dass diese Ernährungsstörung 
gemildert, gehoben, wie durch Vererbung verstärkt, so auch 
durch Vererbung beseitigt werden kann, sich nur bei einzelnen 
oder gar blos bei einem Individuum derselben Brut zeigt, während 
die anderen Glieder derselben mehr oder weniger normal er- 
scheinen, spricht nicht dagegen. Das ist ein Schicksal, das sie 
mit allen ähnlichen Zuständen und Vorgängen teilt. 

Ein diesbezüglicher Versuch lieferte für alles Das sehr be- 
achtenswerte Zeugnisse. Ich besorgte mir ein Paar gehaubter 
Vögel. Das Männchen hatte eine kleinere, das Weibchen eine 
grössere kahle Platte am Hinterkopfe. Doch war die letztere 
nicht so gross, dass sie sich ohne Weiteres bemerkbar gemacht 
hätte. Die Haubenfedern mussten erst umgebogen werden, um 
sie sehen zu können. Es wurden von dem Paare drei Junge 
ausgebrütet. Eins davon starb sehr bald; eins war nur mit ver- 
einzelten Härchen besetzt; das dritte hatte einen ziemlich dicht 
und lang behaarten, oder, wie die Züchter sagen, bedaunten 
Kopf. Jenes, das zu zweit erwähnte, entwickelte ein ganz nor- 
males Federkleid. Sein Kopf bedeckte sich mit glatt anliegen- 
den Federn und unterscheidet sich zur Zeit in dieser Beziehung 
durch nichts von dem eines gewöhnlichen, ungehaubten Vogels. 
Von einem Paar gehaubter Vögel ist mithin ein durchaus glatt- 
köpfiger Vogel erzeugt worden. Dieses dagegen, das drittge- 
nannte, entwickelte eine Haube, welche nach etwa vier Wochen als 
eine sehr kräftig entwickelte und stark ausgebildete bezeichnet 
werden musste. Bei der Mauser indessen verlor der Vogel die- 


Zialzc: 


6* 


84 

selbe zum grössten Teil. Der Vorderkopf, der Hinterkopf bis 
tief in den Nacken und auf den Hals hinunter wurden kahl, der 
Vorderkopf dabei so verletzbar, dass er nach Stössen an das 
Gitter des Bauers leicht blutete und fast immer wie entzündlich 
geschwollen aussah. Nur der Scheitel war noch mit unregel- 
mässig stehenden, kurzen, krüppelhaften Federn besetzt. All- 
mählig jedoch verlor sich die Verwundbarkeit der Kopfhaut. 
Sie bedeckte sich bis auf eine verhältnismässig kleine Stelle am 
Hinterkopfe wieder mit Federn, und nach beendigter Mauser 
war eine, wenn auch nicht so üppige, Haube wie die erste, wieder 
die Zierde des Vogels. Das Daunenkleid, ein guter Teil auch 
noch des ersten Federkleides des Kopfes zeigte eine Hyper- 
trophie, Hyperplasie. Bei der ersten Mauser gingen dieselben - 
in eine Hypotrophie, beziehentlich Hypoplasie und teilweise 
Atrophie, beziehentlich Aplasie über. Zugleich wurde die 
Epidermis vornehmlich des Vorderkopfes so hinfällig, dass 
sie bei jedem einigermassen kräftigen Anstoss zerstört wurde 
und die von ihr bedeckte Cutis nicht mehr ordentlich schützte. 
Diese blutete darum leicht und befand sich dauernd in einem 
entsprechend entzündlichen Zustande. Nach der Mauser verlor 
sich das Alles zwar dem Anscheine nach wieder; allein eine 
gewisse, hier schwächer, dort stärker markierte Hypotrophie, 
zum Teil Atrophie, beziehungsweise Hypoplasie, zum Teil 
Aplasie war nichtsdestoweniger doch zurückgeblieben. — 
Weitere Versuche missglückten. Das eben erwähnte Paar starb 
während der zweiten Brut, nachdem das Weibchen eben das 
sechsteEi gelegt hatte. Andere Paare legten nur sogenannte Wind- 
eier oder, trotzdem sie lange zusammen gehalten wurden, 
gar keine. 

Einen dem geschilderten Vorgange durchaus ähnlichen 
bekommt man auch bei Tauben zu beobachten. Denn auch 
unter diesen kommen gehaubte vor, und manche Rassen, wie 
die Perrückentauben, haben davon ihren Namen. Auch bei den 
Tauben fängt die Haubenbildung damit an, dass sich gewisse 
Kopffedern, die Hinterkopffedern, zu vergrössern und aufzurichten 
beginnen, dass sie also hypertrophieren und dabei mehr oder 
weniger paratrophieren. Setzt sich der Prozess auf die Nach- 
barschaft fort, werden namentlich die Nacken-, etliche der seit- 
lichen Halsfedern, manchmal bis nach der Brust hin, von ihm 


85 


ergriffen, so entstehen die Perrücken, von denen die bezüglichen 
Tauben ihren Namen haben. : 

Den Perrückentauben stehen sehr nahe die Möwchen. Mir 
ist von verschiedenen Taubenzüchtern gesagt worden, die 
Perrückentauben seien wohl nur eine Möwchenart. Bei den 
Möwchen nun, besonders den sogenannten deutschen, vergrössern 
und richten sich die mittleren Halsfedern auf, so dass dadurch 
eine Art Jabot entsteht, das von der Brust bis zur Kehle reicht. 
Manchmal spaltet sich dasselbe, greift auf beide Seiten des 
Halses, den Nacken, den Hinterkopf über, und dann sieht das 
Möwchen wie eine Perrückentaube aus, ist am Ende auch eine; 
nur dass dieselbe auf umgekehrtem als dem gewöhnlichen Wege 
entstander ist. Schnabel, Füsse, Zehen sind bei beiden so gut 
wie gleich. 

Wenn das Jabot der Möwchen stärker ausgebildet ist, so 
zeigt sich in ihm nicht selten eine Art von Kräuselung; die 
Federn bilden an einer bestimmten Stelle eine Art von Wirbel, 
Trichter, auf dessen Grunde die nackte kahle Haut erscheint. 
Der Wirbel, Trichter, kann sich vergrössern; es erscheint dann 
an seinem Grunde eine mehr oder minder grosse Stelle, die statt 
Federn blos Kiele, Speilen oder Spulen mit sehr rudimentären 
Schaften, allenfalls noch sehr rudimentären Fahnen trägt. Während 
die peripherischen Federn des Wirbels oder Trichters hyper- 
trophisch sind, sind die centralen desselben hypotrophisch und 
selbst atrophisch, beziehentlich, weil der einschlägige Prozess schon 
bei ihrem Werden sich geltend machte, hypoplastisch, selbst 
aplastisch geworden. Bei sehr starkem, weit hinauf gehendem 
Jabot, bei stark entwickelter Perrücke, finden sich auch sonst 
noch federarme Stellen am Halse und sehr regelmässig um den 
Schnabel herum. Die sonst gut entwickelten, wenn auch kleinen 
Federn der Umgebung desselben sind ebenfalls durch Speilen 
oder Spulen ersetzt, indem sie hypo- oder auch aplastisch wur- 
den, weil ihre Matrix hypo- oder auch atrophisch geworden war. 

Weiter habe ich leider den beregten Vorgang nicht ver- 
folgen können, weil die Tauben- wie alle anderen Tierzüchter 
nur solche Tiere ziehen, welche die Reinheit der Rasse dar- 
stellen und sich durch dieselbe auszeichnen. Alle Tiere, welche 
die Rassencharaktere, beziehentlich die schönen Seiten der Rasse 
nicht mehr an sich tragen, statt derselben vielleicht das Gegen- 


teil aufzuweisen haben, werden als entartet oder ausgeartet bei 
Seite geschafft. Über die Weiterentwickelung der Rassen in 
ihrer Rassenrichtung ist darum so gut wie nichts bekannt und 
am allerwenigsten über die Ursachen, die das zur Folge haben. 
Aber auch aus dem wenigen, über die Möwchen- und Perrücken- 
tauben Beigebrachten ergiebt sich, dass zunächst die charakter- 
gebenden Federn hypertrophieren, später, d. ı. in der Nach- 
komnenschaft hypotrophieren und endlich selbst atrophieren. 

Beziehentlich der Pfauentauben habe ich mir von Züchtern 
sagen lassen, dass bei fortgesetzter Inzucht der Schwanz unan- 
sehnlich werde und verkümmere. Was die Pfauentaube ist, ist 
sie auf Grund der Vermehrung und Vergrösserung ihrer Schwanz- 
federn. Ihre Schwanzfedern, die bei der Gattung Columba über- 
haupt ı2 betragen, haben an Zahl zugenommen, das Doppelte 
ja das Dreifache der ursprünglichen erreicht;*) dazu sind sie länger 
und breiter geworden, nach meiner Schätzung bis um die Hälfte, 
und haben eine etwas anders geformte Fahne bekommen. Wenn 
der Schwanz verkümmert, sollen die Federn desselben zunächst 
an Zahl abnehmen, kürzer, schmäler und unregelmässig in ihrer 
Fahne werden; sie hypotrophieren also und paratrophieren zu 
gleicher Zeit. Eine Hypertrophie mit gleichzeitiger Paratrophie 
der Schwanzfedern bedingt also das Charakteristische der Pfauen- 
tauben, eine entsprechende nachfolgende Hypotrophie und anders- 
artige Paratrophie die Ausartung derselben. 

Fassen wir die besprochenen Erscheinungen zusammen und 
verfolgen sie, soweit sie bekannt sind, von ihrem Auftreten bis 
zu ihrem Erlöschen, so ergiebt sich, dass die in Betracht kom- 
menden Abweichungen in der Befiederung der beregten Vögel 
zuerst auf hypertrophischen, dann hypotrophischen, endlich atro- 
phischen Vorgängen beruhen, und dass den ersten beiden 
dabei noch ein gewisses paratrophisches Moment, durch das 
sie etwas Fremdartiges bekommen, beigemischt ist. Dieses para- 
trophische Moment muss aber auftreten. Denn jede Hyper- 
ergasie, jede Hypergasie ist immer zugleich auch eine Parergasie. 
Jeder chemische Prozess, zu sehr beschleunigt, zu sehr verlang- 
samt, verläuft gleichsam in anderen Bahnen uud führt zu anderen 


*) Darwin, Entstehung der Arten u. s. w. deutsch von Bronn II. Auf- 
lage 1863 S. 50; das Variiren der Tiere und Pflanzen u. s. w. deutsch von 
J. Victor Carus. II. Auflage 1873. I. S. 162. 


87 
Resultaten. Die Gährungsvorgänge vornehmlich legen davon die 
vollgültigsten Zeugnisse ab. 

Eine gewisse Widerstandslosigkeit, in gewissen ihrer Bezirke 
grössere Beeinflussbarkeit der Epidermis, beziehentlich des epi- 
dermoidalen Blattes dieser Vögel ist die Ursache davon. Und da 
kommt denn wieder das biologische Grundgesetz zur Gel- 
tung: „Schwache Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel- 
starke fördern, starke hemmen und stärkste heben sie auf“ oder: 
„Dieselben alltäglichen Reize, welche bei Durchschnittsindividuen 
gerade die Unterhaltung und Durchschnittsentwickelung der 
Lebensthätigkeit bewirken, beschleunigen, d. i. fördern dieselben 
bei mittelstark reizbaren, weil widerstandsloseren, hemmen sie 
bei stark reizbaren, weil stark, d. i. sehr widerstandslosen, und 
heben sie auf, vernichten sie bei höchst reizbaren, weil höchst 
widerstandslosen Individuen.* Das auf die einschlägige Befiede- 
rung der in Frage gebrachten Vögel übertragen, heisst: „Die- 
selben Ursachen, welche auf Grund einer gewissen Widerstands- 
losigkeit, davon abhängigen Biegsamkeit, Anpassungsfähigkeit, 
z. B. an die Forderungen des Züchters, zuerst eine stärkere Aus- 
bildung gewisser Federn im Gefolge haben, dieselben Ursachen 
führen in der geschwächten Nachkommenschaft der bezüglichen: 
Vögel erst zu einer Verkümmerung dieser oder auch mit ihnen 
durch ernährungsvermittelnde Wege in Verbindung stehender 
Federn, endlich zu Entwicklungsmangel derselben und damit zu 
Kahlheit, Nacktheit der entsprechenden Körperstellen.“ 


———m 0 


88 


a} 


Die Heilkunst und das biologische 
Grundgesetz. 


Bei meinem Streben, dem biologischen Grundgesetze die 
Anerkennung zu verschaffen, welche es meiner Ansicht nach 
verdient, bekam ich, bis dahin ganz allein für dasselbe ein- 
stehend, recht unverhofft von einer Seite Hülfe, von der ich sie 
am allerwenigsten erwartet hatte. Aus dem Gebiete der Pharma- 
kologie und Therapie kam sie. Hugo Schulz veröffentlichte 
zwei Arbeiten aus demselben, die so reich an Beweisen für die 
Richtigkeit jenes Gesetzes waren, dass sie demselben seitdem, 
wie ich glaube, eine wichtige Stütze geworden sind. 


Ihrer Wichtigkeit und der Art und Weise halber, wie 
Schulz die Sache begründet hat, muss ich indess etwas näher 
auf sie eingehen, zumal auch die weiteren Gesichtspunkte, welche 
sie eröffnen, nur dann gehörig verstanden werden können. 


Die erste dieser Arbeiten „Zur Lehre vonder Arzneiwirkung“ *) 
geht von folgenden Gesichtspunkten aus: Die Veränderungen, die 
ein Medikament in der Thätigkeit eines Organes hervorruft, können 
sich unter bestimmten Bedingungen in Wirkungsbildern dar- 
stellen, welche einander völlig entgegengesetzt sind. Ein und 
dasselbe Organ, von ein und demselben Agens beeinflusst, sehen 
wir entweder ausgeprägt vermehrte physiologische Leistungen 
verrichten, oder mit entschieden herabgesetzter Energie und 
verminderter Thätigkeit seine Existenz nach aussen hin deutlich 
machen. Wie die Erfahrung lehrt, steht diese Verschiedenheit 
der Wirkung zunächst in einem direkten Abhängigkeitsverhält- 
nisse zu der Dosis des angewandten Medikaments. Sie hängt 
davon ab, ob von irgend einem Arzneimittel viel oder wenig 


*) Virchow's Archiv für pathol. Anat. u. s. w. Bd. 108, 1887. 


89 
mit den Elementen eines Organs — den dasselbe constituierenden 
Zellencomplexen — in Berührung tritt. Es handelt sich dem- 
nach um die auffallende Thatsache, dass wir unter gewissen 
Umständen eine bestimmte Arzneiwirkung in ihr Gegenteil ver- 
kehren können. Boecker hat schon vor 30 Jahren auf diese 
interessante Erscheinung hingewiesen mit den Worten: „Wir 
sind gewohnt, von kleineren Dosen kleine, von grösseren be- 
deutendere Wirkungen der Arzneien zu erwarten, müssen aber 
bedenken, dass es Umstände geben könne, unter welchen kleine 
Arzneigaben das Umgekehrte von grösseren hervorbringen“. 

Rein theoretisch betrachtet gilt nun der Satz: „dass kleine 
Arzneigaben das Umgekehrte von grösseren bedingen“ eigentlich 
durchgehend, aber in der Praxis steht ihm der Umstand ent- 
gegen, dass die genannte Erscheinung nicht in allen Fällen mit 
gleicher Deutlichkeit wahrgenommen zu werden pflegt. 

Jegliche Veränderung in der Funktion und Beschaffenheit 
eines Organs in Folge der Einwirkung eines Arzneistoffes ist 
der Ausdruck einer Reizwirkung auf seine Bestandteile, seine 
zelligen Elemente. Die Physiologie lehrt, dass es im letzten 
Grunde nicht auf die Qualität des Reizes ankommt, um eine 
bestimmte Wirkung zu erzielen, sondern dass es wesentlich die 
Quantität desselben ist, welche die Differenz nach aussen bedingt. 
Diese quantitative Wirkung in ihren wechselnden Ausdrucks- 
formen wird am deutlichsten erkannt an verschiedenen Phasen der 
Nerventhätigkeit, wie sie in dem Pflüger’schen Zuckungsgesetze 
sich darstellen. Bei ihm sehen wir klar, wie ein und dieselbe 
Ursache, der elektrische Strom, bei demselben Organ, den Nerven, 
je nach seiner Stärke scheinbar ganz entgegengesetzte Effekte 
hervorruft. In der Wirklichkeit ist der Gegensatz indessen nur 
bedingt durch die spezifischen, dem Nervensystem innewohnen- 
den Eigenschaften. Wird ein motorischer Nerv von einem auf- 
steigenden Strome durchflossen, so treten je nach der Strom- 
stärke bekanntlich folgende Erscheinungen auf: 

f Schliessung — Zuckung. 
\ Öffnung — Ruhe. 

f Schliessung — Zuckung. 
\ Öffnung — Zuckung. 

f Schliessung — Ruhe. 

l Öffnung — Zuckung. 


ı. Schwacher Strom 
2. Mitttelstarker Strom 


3. Starker Strom 


Vergleicht man ı und 3, so findet man eine völlige Um- 
kehrung des Wirkungsbildes. Warum? ist bekannt. Beim ab- 
steigenden Strom ist das Verhältnis durchweg dasselbe, nur muss 
bei ihm ebenfalls aus bekannten Gründen der Strom stärker 
gewählt werden. Eine gleiche Umkehr der Reaktion auf den 
gleichen, aber quantitativ verschiedenen Einfluss zeigt, wie man 
weiss, der Nerv auch bei thermischer und chemischer Reizung. 

Eine Modifikation erleidet dieses Gesetz aber bekanntlich 
beim pathologisch veränderten, beim kranken, beim absterbenden 
Nerven. Für den genügt schon ein verhältnismässig schwacher 
Strom, um je nach dem Stadium des Absterbens, in dem er sich 
befindet, sämtliche drei oben aufgezählten Reaktionsformen her- 
vorzurufen. Die dem Nerven durch den Prozess des Absterbens 
innewohnende Menge von Reiz summiert sich mit der Kraft des 
schwachen Stromes(?) und bringt dadurch ein Bild hervor als 
ob ein gesunder Nerv durch einen mittleren oder einen starken 
Strom gereizt worden wäre.”) 

Ausgehend von dem Gesagten sucht nun Schulz den 
Nachweis zu liefern, dass auch für die Wechselbeziehung 
zwischen Medikament und Organ Gesetze bestehen, welche direkt 
in Parallele gestellt werden können zu dem, was wir von dem 
Verhalten des Nerven bei elektrischer Reizung wissen. Denn 
der wechselnde Ausdruck, den arzneiliche Reize an den ver- 
schiedenen Organen hervorrufen, ist abhängig von der inneren 
Beschaffenheit und äusseren Anordnung einer im Ganzen und 
Grossen überall identischen Substanz, des Protoplasmas. Und 
ebenso, wie die Wirkung irgend eines Agens auf den Nerven, 
seiner Intensität entsprechend von Stufe zu Stufe fortschreitend 
im wechselnden Bilde sich darstellt, so zeigt uns auch jede 
andere Vereinigung von Zellen, jedes aus ihr hervorgegangene 
Organ, eine wechselnde Reaktion gegen den Eingriff der klein- 
sten, der mittleren und der grossen Dosis eines Medikaments. 
Der Satz: „Jeder Reiz bedingt auf eine einzelne Zelle 
oder die aus Zellengruppen zusammengesetzten Organe 
entweder eine Vermehrung oder eine Verminderung 
ihrer physiologischen Leistungen, entsprechend der 
geringeren oder grösseren Intensität des Reizes“, gilt 
deshalb auch in Bezug auf letztere. 


*) Vergl. S. 74 und 75. 


Schulz führt dann aus, Nasse habe gefunden, dass 
die Thätigkeit des Speichelferments durch Kochsalz in der Weise 
abgeändert werde, dass, setzt man die Fermententwickelung an 
sich —= 100, sich diese verhalte wie 


a) Kochsalz = o pCt., Fermentwickelung — 100 

b) 5 NIT r — 130 bezw. 116 
c) » SE [U er ” == 12 » 103 
d) a Il, ” Sn 


er selbst habe dementsprechend gefunden, dass die Kohlensäure- 
menge bei der Vergährung von Zucker, wodurch die Energie 
des Gährungsvorganges selbst bestimmt werde, sich verhalte 


ı. bei Zusatz von Ameisensäure wie: 


pCt. ccm. 
a) Ameisensäure — O, Kohlensäure desselb. Quantums Zuckers = I, 
b) ® = 50.05 5 5 ah k: — 0,00 
c) & —20,025 er R r a — 70,99 
d) 5 —0,01 4 ke ® A — 1720 
€) Y — 20,005 : 5 a ® — 71,08 

2. bei Zusatz von Thallintartrat wie: 

pCt. ccm. 
a) Thallintartrat — O0, Kohlensäure desselb. Quantums Zuckers — 1, 
b) 5 — 16) = = e O2 
c) 5 —12,5 5 “ % ner = 40382 
d) 2 TO 4 & R Sr ==0,99 
€) S — 05 : 5 5 Bu, 27 
f) 33 —HOM 4 e n 2 = 2,38 
g) 5 — 10:05 5 N 3 BR 2,02 


und zieht daraus den Schluss, was ihm in ähnlicher Weise auch 
schon Arsen, Jod und Sublimat gelehrt haben, dass Stoffe, 
welche in grösserer Menge die Gährung zu beschränken im 
Stande sind, das Gegenteil bewirken, kommen sie in geringerer 
Menge zur Verwendung. Er sucht dann durch eigene sowie die 
Beobachtungen Anderer zu beweisen, dass es auch mit der 
Arzneiwirkung einer grossen Reihe anderer Stoffe z. B. des 
Alkohols, des Kampfers, der Digitalis, des Morphiums, der 
sogenannten Balsamica und Aethereo-Oleosa, z. B. des Copaiva- 
balsams und der Juniperuspraeparate, ferner des Arsens, Phos- 
phors und Quecksilbers sich gerade so verhalte. Die Arznei- 
wirkung überhaupt folge darum im grossen Ganzen 


dem Zuckungsgesetze vom normalen Nerven, d. h. sie folgt 
dem Nervenerregungsgesetze schlechtweg. 

Ist das aber der Fall, so wird das natürlich auch in krank- 
haften Zuständen stattfinden, und die Arzneiwirkung wird dem 
Zuckungsmodus des kranken oder absterbenden Nerven ent- 
sprechen, und wie bei diesem bereits schwache elektrische 
Ströme, schwache Reize überhaupt, Effekte hervorrufen können, 
welche der normale Nerv nur bei mittleren oder starken Strömen 
liefert, so werden auch kleine Gaben von Medikamenten auf 
kranke Organe dieselbe Wirkung ausüben, welche erst grössere 
oder ganz grosse auf gesunde haben. „Jedes kranke Organ 
zeigt gegenüber irgend welchem Arzneistoff, der über- 
haupt im Stande ist, auf dasselbe wirken zu können, 
eine veränderte Reaktion, denn seine Erkrankung be- 
dingt eine Schwäche seiner physiologischen Leistung.“ 

Schulz zeigt nun weiter, dass verschiedene Arzneistoffe 
zu verschiedenen Organen in ganz bestimmten Beziehungen stehen, 
so das Chinin zur Milz, das Arsenik zu den Drüsen, namentlich 
zu den Lymphdrüsen, das Cyanguecksilber zur Rachenschleim- 
haut, der Tart. stibiatus zur Lunge, speziell zur Bronchial- und 
Trachealschleimhaut, die Ipecacuanha, bezüglich das Emetin, 
zur Darmschleimhaut, das Eisen und Secale cornutum zum Ge- 
fässsystem, das Wismuth zur Magenschleimhaut; er zeigt, dass 
andere eine andersartige, sogenannte spezifische Wirkung aus- 
üben, indem sie den erkrankten und durch ganz bestimmte Gifte, 
die bekannten Ptomaine, in bestimmter Weise veränderten Nähr- 
boden für die Weiterentwickelung der entsprechenden patho- 
genen Bacillen in ungünstiger, für das bezügliche Individuum 
darum aber günstiger Weise beeinflussen, so das Calomel die 
durch das Typhusgift veränderte Darmschleimhaut, die Salicyl- 
säure die durch das Gift des akuten Gelenkrheumatismus affızierten 
Gelenke, das Chinin die durch das Gift des Wechselfiebers vor- 
nehmlich ergriffene Milz. Schulz tritt damit zwar als ein 
ganz entschiedener Vertreter der Lokaltherapie auf; aber er 
kämpft in Anbetracht des Besprochenen doch vornehmlich für 
die Darreichung kleiner Dosen der bezüglichen Arzneien. Denn 
diese wirken eben in dem erkrankten Organe nach Analogie der 
Reize im erkrankten und absterbenden Nerven. Während sie in 
einem gesunden Organe gar keine oder kaum bemerkenswerte 


93 


Wirkungen, ebenso wenig wie im übrigen Körper hätten, wirkten 
sie in diesem, nämlich dem erkrankten Organe, nach seiner noch 
vorhandenen Widerstandsfähigkeit, bald mehr, bald minder, wie 
sonst grössere Gaben. 

Schulz fasst deshalb zum Schlusse die Ergebnisse seiner 
Untersuchungen in folgenden Sätzen zusammen: 

ı) Die Wirksamkeit eines Medikaments hängt 
zwar in erster Linie von der engeren oder weiteren 
Beziehung ab, die zwischen ihm und irgend einem 
Organ besteht, 

2) Die physiologische Wirkung lead eines Medi- 
kamentes auf ein Organ ist aber abhängig von der 
Quantität des Arzneimittels, in der Art, dass je nach 
der zur wirklichen Aktion gelangenden Menge Erschei- 
nungen auftreten, die in dem Zuckungsgesetz eine völ- 
lige Analogie finden. 

3) Der letzte Satz unterliegt bei pathologischen 
Fostanden der Organe, also tür die Therapie, den 
nämlichen Modifikationen, die wir für das Zuckungs- 
gesetz vom absterbenden Nerven kennen. Ks bedarf 
unter bestimmten pathologischen Verhältnissen nur 
eines geringen Quantums eines Arzneimittels, um den 
Effekt zu erzielen, den man, vom normalen Organ aus- 
gehend, erst von grösseren Dosen erwarten müsste. 

In der zweiten der gedachten Arbeiten: „Ueber Hefegifte“,*) 
sucht Schulz nachzuweisen, dass das, was er in der vorigen in 
Bezug auf die tierische Zelle gezeigt hätte, auch für die 
Pflanzenzelle Gültigkeit habe. In einer grossen Reihe sorg- 
fältig angestellter Versuche, deren Ergebnisse durch Kurven 
verdeutlicht werden, zeigt er, dass dieselben Substanzen, welche 
in grösserer Menge als Gifte auf die Hefenzellen wirken und 
die Gährung hemmen oder gar autheben, in geringer Menge sich 
als Reize in Bezug auf jene erweisen und diese begünstigen. 

Von einigen Substanzen, z. B. Kupfervitriol oder Salicylsäure 
hatte schon die Erfahrung gelehrt, dass sie unter Umständen die 
Hefe zu energischerer Arbeit veranlassen könnten; warum? und 
dass dem ein allgemein gültiges Gesetz zu Grunde liegt, hat 
jedoch erst Schulz dargethan. Seine Versuche erstreckten 


*) Pflüger’s Archiv für die gesamte Physiologie, Band XLII, Bonn 1888. 
(25 S. mit 7 Tafeln). 


94 

sich auf die stärksten Gifte, Sublimat, Jod, Brom, arsenige Säure, 
Chromsäure, Salicylsäure, Ameisensäure; bei allen aber dasselbe 
Ergebnis! KleineDosen derselben vermögendie Thätigkeit 
der Hefe auf kürzere oder längere Zeit bedeutend über 
die Norm zu steigern, Sublimat z. B. bei einer Verdünnung von 
1:700000 bis 1:500000, Jod bei einer solchen von 1: 600000 
bis ı : 100000, Brom bei einer solchen von ı : 400000 bis I : 300000, 
arsenige Säure bei einer Verdünnung von 1: 400000, Chromsäure 
bei einer solchen von 1:6000 bis 1: 5000, Salicylsäure bei einer 
eben solchen von ı : 4000, Ameisensäure bei einer Verdünnung von 
1:40000 bis 1: 10000, am stärksten bei ı : 30000. Noch stärkere 
Verdünnungen jedoch lassen nur geringen oder auch gar keinen Ein- 
fluss der bezüglichen Gifte mehr erkennen, und schwächere, bezüglich 
stärkere ihrer Lösungen setzen stufenweise die Energie der 
Gährung herab, bis sie selbige ganz aufheben. 

Schulz kommt deshalb zu dem Schlusse: „Was ich 
in meiner oben erwähnten Untersuchung für die tierische Zelle 
nachzuweisen suchte, trifft für die Pflanzenzelle ebenfalls zu und 
ich glaube ein Recht zur Aufstellung des Satzes zu haben, dass 
jeder Reiz aufjede lebendige Zelle eine Wirkung ausübt, 
deren Effekt hinsichtlich der Zellentätigkeit umgekehrt 
proportional ist der Intensität des Reizes. Von zwei 
Zellen wird diejenige am leichtesten auf einen Reiz von bestimmter 
Grösse reagieren, die vermöge ihrer inneren Beschaffenheit eine 
geringere Widerstandsfähigkeit besitzt, bei starker Reizwirkung 
erliegt sie früher, stirbt unter Umständen schneller ab, bei stark 
herabgesetztem Reiz wird sie eventuell eher eine deutliche Ver- 
mehrung ihrer Lebensenergie sichtbar werden lassen als eine 
durchaus normale Zelle, die unter derselben Bedingung scheinbar 
ganz unberührt bleibt.“ 

Was sich zunächst aus den beiden Arbeiten ergiebt, ist, 
dass das Nervenerregungsgesetz, wie ich das bereits wiederholt 
ausgesprochen hatte, in der That nicht blos für den Nerven seine 
Gültigkeit hat, sondern sich auch auf alle übrigen tierischen 
Gewebe, die Tiere selbst und dann auch auf die Pflanzen und 
ihre Elemente erstreckt, dass es somit nicht blos ein die Nerven 
und das Nervenleben, sondern das Leben überhaupt beherrschendes 
Gesetz ist und der ganzen Art und Weise nach, wie es sich 
äussert, als das biologische Grundgesetz bezeichnet werden 


95 
kann. Es ist das Gesetz, nach dem sich alle Lebensvorgänge 
regeln und vollziehen. Im weiteren ergiebt sich sodann aus 
den beiden Arbeiten, wie in gewissen Fällen sich diese Vorgänge 
regeln und vollziehen und, wird Gelegenheit geboten, was gerade 
den Arzt angeht, wie manche tiefe Einblicke in das Wesen der 
Arzneiwirkung und das zu thun sie erlauben, worauf es in der 
Therapie gerade ankommt. Auf die Widerstandsfähigkeit des 
Individuums und seiner Organe lenkt Schulz vorzugsweise oft 
das Augenmerk und hebt hervor, dass diese ganz besonders zu 
berücksichtigen sei, wenn es sich um therapeutische Eingriffe 
handelt. Er redet deshalb auch, in Anbetracht der in allen 
Krankheitszuständen gesunkenen Widerstandsfähigkeit, im All- 
gemeinen den kleinen Gaben von Arzneimitteln das Wort, indem 
er betont, dass in widerstandslosen, kranken Körpern, beziehungs- 
weise Organen, schon kleine Gaben der bezüglichen Mittel die 
Wirkung haben müssen, welche in widerstandsfähigen, gesunden 
Körpern oder Organen erst grössere Gaben derselben an den Tag 
legen. Obgleich nun das auch tagtäglich zu sehen ist, obgleich 
bis zu einem gewissen Grade davon auch schon seit Langem in 
der Praxis Gebrauch gemacht worden ist, indem für Erwachsene, 
für Halbwüchsige, für grössere, für kleinere Kinder, für Männer, 
für Frauen dieselben Arzneien unter denselben sonstigen Ver- 
hältnissen in verschieden grossen Mengen gegeben wurden, so 
ist das doch im grossen Ganzen noch nicht zum vollen Verständnis 
gekommen, und die Verabreichung der bezügliehen Medikamente 
im Allgemeinen noch kaum in den kleinen Gaben erfolgt, als 
das den Untersuchungen von Schulz nach sein könnte und 
häufig wohl sogar sein müsste. 

Von welch’ riesenhafter Bedeutung für die gesammte The- 
rapie, namentlich aber die durch Medikamente bedingte, das sein 
muss, liegt auf der Hand. Mit einer Reihe herkömmlicher Vor- 
schriften und Gebräuche wird vollständig zu brechen sein. Das 
Individualisieren bei der Behandlung wird noch viel mehr All- 
gemeingut der Aerzte werden müssen, als es bis jetzt schon der 
Fall ist, und die Verabreichung der gut gewählten Medikamente 
in kleinen Gaben wird viel öfter stattzufinden haben, als man 
für jetzt vielleicht noch glaubt. Sage man doch nicht: „Was 
soll solch’ ein Minimum wohl nützen?“ Wie viel Schwefel ist in 
den Quellen von Aachen, Weilbach oder gar Landeck, Baden 


96 


bei Wien und Zürich enthalten, und ist erunwirksam? Wie viel Arse- 
nik findet sich in den Wässern von Baden-Baden und Cudowa, und 
gilt derselbe, namentlich mit Bezug auf gewisse Kachexien, nicht ge- 
rade als ein Vorzug derselben? Wie viel Jod, Brom trifft man 
in den Solen von Kreuznach, Tölz, Krankenheil, Adelheidsquelle 
oder selbst Hall in Ober-Österreich und Inowrazlaw an, und 
schreibt man nicht insbesondere ihnen die Wirkung auf die 
Skrophulose zu, welche von jenen so günstig beeinflusst wird? 
Wie viel Lithion ist in den Wässern von Baden-Baden, Ems, 
Bilin, Salzbrunn, selbst Radein vorhanden, und wird nichtsdesto- 
weniger gerade das Lithion als wirksamster Bestandteil derselben 
gegen Gicht und Rheumatismus gepriesen, gegen welche ganz 
ähnliche Wässer, aber ohne dasselbe sich indifferent erweisen? 
Einige Zahlen werden das noch besonders auffallend erscheinen 
lassen. Die Aachener Wässer enthalten in einem Liter, also 
1000 Gramm Wasser nur 0,0056 Schwefel, die Wässer von Baden- 
Baden nur 0,007 dreibasisch arsenigsauren Kalk, die von 
Cudowa nur 0,0025 Arsen überhaupt, von den genannten 
Solen, Tölz-Krankenheil nur 0,117 Jodnatrium, Adelheids- 
quelle 0,030 Jodnatrium und 0,060 Bromnatrium, Hall in Ober- 
Östreich 0,040 Jodmagnesium und 0,060 Brommagnesium, und 
von den erwähnten Lithionwässern, Baden-Baden nur 0,002 bis 0,005, 
Ems 0,004— 0,006, Bilin 0,010, Salzbrunn 0,010— 0,015, Radein 0,040 
des bezüglichen Lithion. Selbst die an ihm reichsten Quellen, 
Salzschlirf und Asmannshausen, besitzen davon auf 1000 Gramm 
nicht mehr als 0,2 —o,3, und was die Arsenwässer von Levico und 
Rocegno betrifft, welche in 1000 Teilen 0,001—0,01 arsenige 
Säure haben, so können dieselben hier nicht in Betracht kommen, 
da sie unverdünnt zu Heilzwecken innerlich gar nicht benutzt werden 
können. — Sodann aber denke man erst einmal an den Einfluss 
riechender Stoffe auf nervöse Individuen! Orangenblüten, Jasmin 
(Philadelphus coronarius), Tagetes-, Pyrethrum-, Allium-Arten, 
Oscillarien, Beggiatoen, trocknendes Gras, beziehungsweise frisches 
Heu rufen Kopfschmerzen, Übelkeit, selbst Erbrechen durch ihren 
blossen Duft hervor. Dasselbe gilt unter Anderem auch vom 
Tabaksrauch, namentlich dem von Cigarretten. Demnächst denke 
man an die Wirkung gewisser Nahrungsmittel bei Leuten mit 
sogenanntenIdiosynkrasien! dassmancheMenschen nicht Erdbeeren, 
namentlich nicht Walderdbeeren, nicht Pilze, auch nicht die indiffe- 


97 


rentesten derselben, wie Steinpilze, Pfifferlinge, nicht Krebse und 
insbesondere nicht Flusskrebse, oder gewisse Fische, wie Aale, 
Flundern, Quappen vertragen können. Sie erkranken, bekommen 
Darm- und Magenbeschwerden, Übelkeit, Erbrechen, Bauch- 
grimmen, Durchfälle oder auch allerhand, namentlich Nessel- 
ausschläge. Wie viel von den wirksamen Stoffen sind in den 
bezüglichen Nahrungsmitteln enthalten? Die Chemie hat sie 
wegen ihrer geringen Menge kaum noch nachweisen können, 
und dennoch wirken sie. Man denke an den Einfluss gewisser 
Farben, namentlich des Rot oder Gelb auf andere, ähnlich ge- 
artete Menschen, die davon Kopfschmerzen, Migräne, Übelkeit 
und Erbrechen bekommen und nachher noch Tage lang krank 
sein können! Man denke an die Erscheinungen der Photophobie! 
Das einfache Licht, das sonst nur beschränkte Bewegungen der 
Iris hervorruft, führt zu krankhaftem Schluss der Augenlider 
und selbst krampfartigen Bewegungen des ganzen Körpers. Man 
denke ferner an den Einfluss gewisser, namentlich schriller Töne 
auf verschiedene Individuen und dabei auch auf Hunde! Schwin- 
gungen der Luft von bestimmter Form rufen Schauern, rufen 
Schwindel, Schreien, Heulen, Ohrenzuhalten, Weglaufen, krampf- 
hafte Bewegungen hervor. Man denke endlich an den Einfluss 
auf die äussere Haut aufgelegter Metalle und die dadurch her- 
vorgerufenen Erscheinungen der Translatio aesthesis, des Trans- 
fert der Franzosen, an die Vornahmen zur Erzeugung des 
Hypnotismus, an die Suggestion, die mit dem sogenannten Be- 
sprechen ebenso zusammenfällt, wie die Massage mit dem 
einstigen Streichen der alten Weiber, und man wird genug 
Beweise für die oft grossartige Wirkung kleinster Reize in der 
Welt der Organismen bekommen! 

Diese Wirkung, wohl die einer auslösenden Kraft, entfalten 
die kleinsten oder auch nur die kleinen Reize allerdings blos, wie 
wir das bereits wiederholt gesagt haben, in abnorm widerstands- 
losen und darum krankhaften Körpern beziehungsweise Organen; 
aber darauf kommt es uns gerade an. Denn bei krankhaften, 
kranken, geschwächten Individuen überhaupt oder entsprechenden 
Organen wirken kleine Dosen so wie bei gesunden, starken, 
kräftigen grössere, grosse, selbst erst ganz grosse derselben. 
Ich habe Personen behandelt, erwachsene, welche zur Besänftigung 
ihres Hustenreizes drei- bis viermal täglich Morphium chloratum 

7 


38 
0,005 erhielten und davon Intoxikationserscheinungen zeigten. 
Erst als sie den zehnten Teil davon — 0,0005 erhielten, blieben 
letztere aus. Der Hustenreiz aber wurde gedämpft, wie bei 
Durchschnittsmenschen, welche die übliche Dosis von 0,005 nehmen. 
Ich habe einem nervösen Herrn Chinin in kleinen Gaben gegeben. 
So lange er die von mir gewöhnlich verordnete Dosis von 
0,05— 0,1 täglich nahm, wurde er aufgeregt, verlor den Schlaf, 
erfuhr überhaupt eine Steigerung seiner Nervosität; erst als die 
fraglichen Dosen auf 0,015 und 0,010 täglich herabgesetzt wurden, 
trat die gewünschte Wirkung, d. h. Beruhigung ein. Ich hatte 
einer jungen Dame als Zusatz zu einer expektorierenden Mixtur 
Syr. Ipecacuanhae im Verhältnis von 15,0:200 verschrieben, 
zweistündlich einen Esslöffel voll. In jedem Esslöffel war also 
ungefähr der Auszug von Radix Ipecacuanhae 0,05 und, da der 
Esslöffel sehr klein war und nicht voll genommen wurde, vielleicht 
nur 0,04 enthalten. Das ist aber etwa die Dosis, in welcher 
die Ipecacuanha von Budd, Hufeland, Niemeyer u. A. als 
Stomachicum gegeben wurde. Bei der erwähnten Dame bewirkte 
dieselbe indessen schon nach dem dritten Male Einnehmen eine 
solche Nausea, dass von dem weiteren Einnehmen Abstand ge- 
nommen werden musste. — Tuberculinum Kochii, das bei 
Gesunden bis zu 0,01 und darüber subkutan eingespritzt werden 
kann, ohne erhebliche Folgen nach sich zu ziehen, und in der 
genannten Grösse zu diagnostischen Zwecken wiederholt auch 
eingespritzt worden ist, rief_z. B. unter den Augen Leyden's, 
nur zu 0,001 in der besagten Art beigebracht, bei gewissen 
Nierenkranken, Schwangeren und chlorotischen Individuen recht 
unangenehme, selbst bedenkliche Zufälle hervor. — Es ist bekannt, 
dass nervöse Personen, zumal hysterische Frauen Opiate, und 
besonders Morphium, schlecht vertragen. Sie werden durch -die 
gewöhnlichen Gaben derselben, anstatt beruhigt, aufgeregt, ja 
sogar tobsüchtig gemacht. Um die gewünschte Beruhigung zu 
erzielen, müsse man darum, so wird vielfach gelehrt, das Morphium 
in grösseren Gaben als gewöhnlich ihnen verabreichen. Es ist 
die zu Grunde liegende Beobachtung an und für sich richtig. 
Allein was man mit grösseren als den gewöhnlichen Dosen bei 
den betreffenden Personen erzielt, erzielt man auch mit kleineren. 
Die gewöhnlichen Dosen, von 0,02 etwa, sind schon zu gross 


een 

für dieselben. Sie beschleunigen, fördern den bezüglichen bio- 
logischen Vorgang und häufig sogar zu sehr; deshalb muss zu 
noch grösseren Dosen 0,04—0,06 und darüber gegriffen werden, 
durch welche sie eine Hemmung erfahren. Fine anscheinend 
ganz gleiche Wirkung haben aber auch kleinere Dosen 
0,01 — 0,007 — 0,005, da diese den in Betracht kommenden bio- 
logischen Prozess gerade nur so weit beeinflussen, um ihn 
beruhigt erscheinen zu lassen. 

Mit derhergebrachten, trotz alles scheinbaren Individualisierens 
im Allgemeinen doch recht kritiklosen Anwendung grosser oder 
auch nur grösserer Gaben von Arzneimitteln wird deshalb nicht 
mehr so schablonenmässig vorgegangen werden können, wie 
das jetzt so schlechthin doch für gewöhnlich noch immer der 
Fall ist; die grossen Dosen werden ja auch noch nach wie vor 
ihren Platz haben; aber mit kleinen, selbst kleinsten wird man 
in einer grossen Anzahl von Fällen entschieden weiter kommen. 
Mit Solut. Fowleri dreimal täglich 1—ı!/s Tropfen habe ich in 
einzelnen Fällen bereits viel mehr erreicht, als mit der gebräuch- 
lichen Verabreichung derselben in allmälig steigender Dosis bis 
zu dreimal täglich 5—6—8 Tropfen. Von vielen, vorzüglich 
weiblichen Patienten wird letzteres Verfahren gar nicht vertragen, 
während sie bei ersterem einer allmählichen Besserung entgegen 
geführt werden. — Rothe-Altenburg hat das Cyanquecksilber 
zu 0,01 auf 120,0 Aq. stündlich einen Thee- oder Esslöffel voll 
gegen Diphtheritis empfohlen. Ich weiss, dass hochangiesehene, 
viel beschäftigte Ärzte daraufhin es auch angewandt haben und 
mit dem erzielten Erfolge geradeso zufrieden gewesen sind, wie 
ihre betreffenden Patienten und deren Angehörige. Mit arsenik- 
saurem Kupfer zu 0,0003—0,0006 auf 120,0— 180,0 Ag. und da- 
von zuerst alle ro Minuten und danach alle Stunden einen halben 
oder ganzen Theelöffel voll, also ungefähr 0,0000006—-0,00002 
p- d. wollen eine ganze Reihe amerikanischer Ärzte, und unter 
diesen Brougham u. Aulde, vornehmlich bei Darmerkrankungen 
der Kinder, die bemerkenswertesten Erfolge gehabt haben. — 
Das Viel hilft viel mag wo anders seine Richtigkeit haben, im 
gewöhnlichen Sinne in der Medicin, vornehmlich der Therapie, 
gewiss nicht. Gerade da, wo man alterierend, d.i. constitutions- 
verändernd einwirken will, und wo es vorteilhaft erscheint, die 
‚einschlägigen Mittel lange gebrauchen zu lassen, dürften kleine 

Te 


100 


Dosen am Platz sein; in mehr akuten Fällen, in gelegentlichen 
Erkrankungen mehr robuster Naturen, wären die grösseren Gaben 
anzuwenden. 

Und dann ist eine sehr zu beachtende und doch nur wenig, 
meist gar nicht gewürdigte Thatsache: Es haben die Heilmittel 
in kleinen Dosen eine ganz entschieden andere Wirkung als in 
grossen. Von der Ipecacuanha z.B. ist das schon lange bekannt. 
Man hatte seit Decennien erfahren, dass ıo Gran derselben 
— 0,60 leichter Erbrechen herbeiführten als ı Skrupel = 20 Gran 
oder r,2. Dann aber erfuhr man noch weiter, dass sie in kleinen 
Gaben von 0,015—0,05 Appetit erregend, in etwas grösseren von 
0,1—0,3 Appetit vermindernd oder gar Übelkeit verursachend 
wirkte, dass sie in mittleren Gaben von 0,5— 1,0 Erbrechen und 
Diarrhöen hervorrief und in grossen von 3,0—5,0 als Antidiar- 
rhoicum, oder wie in der Jacksch’schen Mixtur (Rad. Ipecac. 
6,0—10,0— 15,0 auf 200,0 Flüssigkeit) auch ohne Zusatz von 
Moschus als Ereticum beziehentlich Analepticum sich bethätigte. 
Ricinusöl, das kinderlöffel- bis esslöffelweise gereicht, ein Ab- 
führmittel ist, verhält sich in Dosen von !/ı bis !/a bis ı Thee- 
löffel vielfach gerade umgekehrt. Anstatt durch ein paar kräf- 
tige Entleerungen die vorhandene Diarrhöe mit der Hinweg- 
räumung der sie bedingenden Schädlichkeiten zu beseitigen, be- 
seitigt es sie ‚in diesen kleinen Dosen häufig unmittelbar. 
Dasselbe gilt auch vom Crotonöl, wenn es nur zu !/ao—!/s Tropfen 
= 0,0012 bis 0,005, wie von Charles Bell gegen Neuralgien 
empfohlen, angewandt wird. Crotonöl ist deshalb in so kleinen 
Dosen auch schon gegen allerhand in Durchfällen sich zeigenden 
Darmleiden angewandt und gegen die Ruhr z. B. von Konop- 
leff auf das lebhafteste gepriesen worden. — Carlsbader Salz 
ruft in kleinen Dosen leicht Stuhlverstopfung hervor und muss 
in erheblich grösseren gegeben werden, damit es die abführenden 
Wirkungen entfalte, um deren Willen es gerade geschätzt wird. 
Daher komnit es auch, dass in einer Anzahl von Fällen, in denen 
es in Gaben genommen wurde, die gerade zur Erzielung einer 
Stuhlentleerung hinreichend waren, es seine Dienste auf einmal 
versagte und diese erst wieder leistete, wenn es in grösserer 
Menge genommen wurde. Die Natur hatte sich, wie es heisst, 
an dasselbe gewöhnt. Sie war durch den es darstellenden Reiz 
abgestumpft, der Reiz war dadurch für sie zu klein geworden, 


101 


um auf ıhn in der bisherigen Weise zu antworten, und da- 
ınit sie von Neuem auf ihn in derselben Weise antwortete, 
musste er verstärkt, das Carlsbader Salz in grösserer Menge 
genommen werden. — Man vergegenwärtige sich ferner die 
Wirkung des Alkohols, des Opiums, des Tabaks, die alle zuerst 
d. i. in kleinen Mengen, erregen, sodann aber, d.h. in etwas 
grösseren Mengen die Erregung steigern, darauf d. i. in grossen 
Mengen hemmen und dadurch anscheinend erschlaffen, endlich 
d. i. in relativ grössten Mengen lähmen, töten. — Das Tuber- 
ceulinum Kochii, das bei der Tuberkulose wirksame Ptomain, 
wirkt in den angewandten Gaben auf den tuberkulosen 
Prozess im Sinne der Heilbestrebungen günstig ein. Es ruft 
in dem tuberkulosen Gewebe, den tuberkulosen Entzündungs- 
heerden, eine solche Steigerung des bereits bestehenden Pro- 
zesses hervor, dass unter derselben das Gewebe sogar ab- 
sterben und brandig zu Grunde gehen kann. Die in ihm vor- 
handenen Bacillen haben unter solchen Umständen nicht mehr 
den geeigneten Nährboden, degenerieren und sterben über kurz 
oder lang ebenfalls ab. Allein ehe es so weit kommt, erliegt 
der Tuberkulose selbst sehr häufig, ganz abgesehen von anderen 
Ursachen, namentlich den Folgen der Wirkung, welche die Stei- 
gerung der örtlichen tuberkulosen Prozesse auf den Gesamt- 
organismus ausübt. Das Mittel, welches heilen sollte, führt zu 
einem früheren Tode, zumal wenn jene Prozesse sich in Organen 
entwickelt haben, welche einen stärkeren Eingriff in ihre Lebens- 
vorgänge nicht gestatten. Das Centralnervensystem, Gehirn und 
Rückenmark, die Lungen, der Darm, sind da ganz besonders 
empfindlich. In Folge dessen wird auch dem Tuberculinum 
Kochii besten Falls immer nur eine beschränkte Heilwirkung 
zukommen, welche sich nicht über die anderer Mittel erhebt. 
Die Tuberkulose wird durch dasselbe darum auch nicht aus der 
Welt geschafft werden, und der Tod an ihr wird nach wie vor 
die Geschlechter dezimieren. Wenn indessen das Tuberculinum 
Kochii auf die schon vorhandene ausgebrochene Tuberkulose 
den geschilderten Einfluss ausübt, wie verhält es sich da wohl 
in Bezug auf die Entstehung derselben? Die Tuberkulose soll 
nur durch den Tuberkeibacillus erzeugt werden. Allein der 
Tuberkelbacillus an sich soll das auch noch nicht thun, sondern 
erst das Ptomain, oder vielleicht auch die Ptomaine, welche er be- 


102 


reitet und absondert, also eben der wirksame Bestandteil des 
Tuberculinum Kochi. Ist das jedoch der Fall, und anders ist 
es den gegebenen Verhältnissen nach nicht wohl denkbar, so 
würde das Tuberculinum Kochii, das in grösseren Mengen, wenn 
dieselben auch nur einige Milligramm oder Centigramm betragen, 
das tuberkulose Gewebe zerstören, in kleineren, ja sogar unend- 
lich viel kleineren, dasselbe erzeugen. Es würden also sehr 
kleine Mengen des Tuberkulins, und unter Umständen vielleicht 
verflüchtigte und danach eingeathmete oder sonstwie inkorporierte, 
ohne dass wir gerade wüssten, woher sie kämen, die Tuberkulose 
hervorrufen, anfachen, etwas grössere sie in ihrer Entwickelung 
beschleunigen, fördern, relativ grosse sie hemmen, und noch 
grössere sie vernichten, wobei indessen das betreffende Indivi- 
duum selbst leider häufig mit vernichtet würde. Diese Erkennt- 
nis erklärt denn auch den Umstand, warum nach Einspritzungen 
von Tuberkulin wiederholt das Auftreten von akuter Miliartuber- 
kulose beobachtet worden ist. Das Tuberkulin erzeugte dieselbe, 
wie es die chronische Tuberkulose, wenn es sie erzeugt, über- 
haupt wohl erzeugt. — Die grossen Dosen haben that- 
sächlich so eine umgekehrte Wirkung wie die kleinen. 
Die Hemmung ist das Umgekehrte von der Anregung, 
die Lähmung das Umgekehrte von der Erregtheit. 
Dass so etwas bestehe, ist, wie bereits hervorgehoben wurde, 
auch schon lange bekannt. Warum? und dass dem etwas 
durchaus Gesetzmässiges zu Grunde liege, das Eingangs er- 
wähnte biologische Grundgesetz, das hat jedoch erst Schulz 
dargethan. Es ist nicht zu verkennen, er hat damit der Therapie 
und insbesondere, soweit sie durch die Pharmakodynamik be- 
dingt ist, erst einen festeren, einen sichereren Boden geschaffen, 
auf dem sich gründend sie nunmehr in wissenschaftlich rationeller 
Weise sich immer weiter und weiter entwickeln kann. Er hat 
aber auch die gesamte Biologie damit gefördert. Denn indem 
er die Arzneiwirkung auf das Nervenerregungsgesetz zurückzu- 
führen wusste, ermöglichte er erst die Betrachtung jener so 
mannigfaltigen Wirkungen unter einem einheitlichen Gesichts- 
punkte, bewies aber auch damit wieder die Gültigkeit dieses 
Gesetzes auch für andere Gebiete als blos das Nervensystem 
und damit denn auch die Richtigkeit des von mir verfochtenen 
Satzes, dass es überhaupt ein die Gesamtheit der Organismen, 


die ganze organische Welt beherrschendes Gesetz, ein biolo- 
gisches Grundgesetz in vollem Umfange sei. 

Was von der medizinischen Therapie im Besonderen, das 
gilt auch von den therapeutischen Vornahmen im Allgemeinen, 
vornehmlich auch von vielen ächt chirurgischen Vornahmen, 
von der Balneotherapie und der ihr sich unterordnenden 
Hydrotherapie, von der Elektrotherapie, der Klimato- 
therapie, der Massage, selbst dem zu therapeutischen Zwecken. 
verwandten Hypnotismus und der Suggestion. 

Heidenhain und Granville haben festgestellt, dass die 
Erregbarkeit eines bereits mechanisch erregten Nerven durch 
einen mässigen Druck gesteigert, durch einen stärkeren aber 
herabgesetzt und endlich selbst aufgehoben werde. Zu einem 
ganz gleichen Ergebnis gelangte Zederbaum, nach welchem 
eine gewisse, sagen wir mässige Belastung, eines blossgelegten 
Nerven die Erregbarkeit desselben erhöht, eine stärkere ver- 
mindert. Nach Schleich wird durch eine schwache Dehnung 
der Nerven die Reflexthätigkeit bis zu einem gewissen Grade 
gesteigert, und nach Valentin durch eine stärkere Dehnung 
diese Thätigkeit ebenso wie ihre Erregbarkeit überhaupt zuerst 
vermindert und dann vorübergehend aufgehoben. Eine starke 
Dehnung dagegen vernichtet diese dauernd. Von P. Vogt 
wurden diese Angaben zur Zeit der Nervendehnung zu Heil- 
zwecken durch seine in dieser Hinsicht gewonnenen Erfahrungen 
durchaus bestätigt. 

Ein schwacher Druck regt das Wachstum, die trophischen 
und plastischen Vorgänge in der Epidermis, im Corium an. Es 
kommt zu Wucherungen in denselben; beide verdicken sich. 
Ein etwas stärkerer, ein mittelstarker Druck steigert die frag- 
lichen Wucherungen und mit ihnen die entsprechenden Ver- 
dickungen; es kommt zu Schwielenbildungen, von denen die an 
Händen und Füssen die bekanntesten sind. Wird der Druck 
noch stärker, wird er ein sogenannter starker, so hat er das 
Gegenteil zur Folge: es entsteht Druckatrophie. Wird endlich 
der Druck ein sehr starker, stärkster, so werden die unter ihm 
leidenden Gewebe ertötet, und es kommt damit zu Druckbrand, 
Decubitus. 

Ein lauwarmes Bad wirkt caeteris parıbus, vornehmlich in 
Betreff der Zeit, mild anregend, ein warmes aufregend, ein 


104 


heisses erschlaffend, und ein überheisses kann wie siedendes 
Wasser überhaupt den Tod nach sich ziehen. Ebenso wirkt 
ein kühles Bad belebend, erfrischend, ein kaltes stark erregend, 
ein noch kälteres lähmend, und in Eiswasser hat schon manch! 
Einer, ohne dass er geradezu ertrank, seinen Tod gefunden. Die 
nasse Kälte macht erstarren und setzt schliesslich dem Leben 
ein Ende. Die Hydrotherapeuten haben längst und zwar schon 
die alten Empiriker, Piuty, Priessnitz, Vieck, von dieser Er- 
fahrung Gebrauch gemacht und, je nach der Individualität ihrer 
Kranken und der Widerstandsfähigkeit derselben, das kalte 
Wasser durch lauwarmes, z. B. durch Einwickelungen, die jähen 
Übergiessungen durch Bespülungen, wie ich es von Vieck bei 
der Behandlung von Typhuskranken in den fünfziger Jahren 
selbst gesehen habe, ersetzt. Dass der Tod unter der Douche 
erfolgen kann, habe ich ebenfalls gesehen, wenn auch nicht ge- 
rade in einer Kaltwasserheilanstalt, und dass nach ihr wie nach 
jähen kalten Übergiessungen überhaupt Krämpfe, eine Art 
Tetanus, eintreten, rasche Verblödung sich entwickeln Kann, 
habe ıch leider auch erfahren. Und doch ist die kalte 
Douche, sind die kalten Übergiessungen für Viele ein wahres 
Labsal. 

In Bezug auf die Elektrotherapie gilt, was zum Teil schon 
den Ärztendes vorigen Jahrhunderts bekannt war, dass schwächere 
Ströme schwächer, stärkere, sogenannte mittelstarke stärker er- 
regend wirken, dass starke Ströme zu lähmungsartigen Zuständen 
führen und sehr starke gleich den gewöhnlichen Blitzen dauernde 
Lähmungen, selbst den Tod zur Folge haben können. 

Kühlere Klimata, in denen eine leicht bewegte Luft herrscht, 
rufen ein Wohlbefinden als Ausdruck eines gesteigerten Lebens- 
prozesses, wie man sagt, des erhöhten Stoffwechsels hervor. 
Kühle Klimata mit etwas belebteren Winden steigern in der 
Regel dieses Wohlbefinden; rauhe mit stärkeren Winden ziehen 
leicht sogenannte Überreizungen, Zustände von Erschlaffung, 
Erlahmung nach sich, — die übel berufenen Erkältungszustände 
sind die bekanntesten Erscheinungen derselben —, und dass kalten, 
rauhen Klimaten vorzugsweise widerstandslose Individuen, und 
zwar nicht blos Menschen, sondern auch Tiere und selbst Pflanzen 
alljährlich zum Opfer fallen, ist männiglich bekannt. Mutatis 
mutandis wirken die wärmeren, warmen und heissen Klimate 


1v5 
ebenso, und darauf beruht es, dass Jahr aus Jahr ein so und so 
viele Leidende, welche durch ein Höhenklima, ein nördliches 
Seeklima Besserung erhofft hatten, dieselben, nur kränker ge- 
worden, verlassen und z. B. Pontresina, St. Moritz mit Gersau 
oder Beckenried, Sylt, Helgoland mit Glücksburg, Müritz oder 
Zinnowitz vertauschen, oder aber, nachdem sie den Winter in 
Egypten, Algier oder Sicilien verbracht haben, nach der Riviera, 
von da nach den italienischen oder insbesondere dem Genfer 
See übersiedeln müssen, um aber auch diesen im Monat Mai, 
weil es an ihm zu heiss geworden, wieder zu verlassen. 

Von der Massage weiss jedermann, und die alten Streich- 
weiber von vor vierzig, fünfzig Jahren haben schon davon den 
Gebrauch gemacht, der die Streich- oder Knetkur im Volke 
hochhalten liess, dass leises Streicheln, wie es die Hand der 
Mutter beim leidenden Kinde übt, eine ganz andere Wirkung 
hat, als ein starkes Streichen, Kneten, Klopften, Walken. Das 
leise Streicheln einer ruhigen Hand hat etwas Besänftigendes. 
Es setzt durch Gegenreiz eine vorhandene Reizwirkung herab, 
ohne selbst einen höheren Reizzustand, wenigstens fürs Erste 
hervorzurufen. Das stärkere Streichen bewirkt dies Alles im 
stärkeren Masse, ruft deshalb aber auch leicht einen stärkeren 
Reizzustand hervor, der, wenn er auch einen andersartigen, vor- 
handenen aufhebt, an und für sich doch nun fortbesteht. Starkes 
Streichen, Kneten, Klopfen, Walken hat Überreizung, lähmungs- 
artige Zustände zur Folge, und ganz starke entsprechende 
Einwirkungen können den Tod nach sich ziehen. Man kann 
Menschen zu Tode kitzeln, zu Tode kneten, zu Tode klopfen, - 
zu Tode hauen, zu Tode walken. 

Der Hypnotismus, die Suggestion, die im tröstenden Zu- 
spruch der Familienmitglieder, des Arztes, des Seelsorgers sich 
zunächst in wohlthätiger Weise zur Geltung bringt, kann, in 
Übermass angewandt, gerade die entgegengesetzte Wirkung 
haben. Beweisende Fälle auch dafür fehlen nicht. Ich habe 
sie selbst erlebt. 

Nach alledem macht sich das biologische Grundgesetz durch 
die gesamte Therapie geltend. Es giebt keinen Zweig der- 
selben, über welchen es nicht seine Herrschaft ausübte, und 
ganz besonders ist es die Form desselben, die als das Erregungs- 
gesetz des ermüdeten und absterbenden Nerven bekannt ist, in 
welcher es sich bethätigt. 


106 


Die Möglichkeit einer Verständigung der verschiedenen 
Richtungen in der Therapie, selbst der Homöopathie und 
Allopathie, ist damit gegeben. Man hat, das auszusprechen, 
mancherseits sehr anstössig gefunden und hart getadelt. Allein 
auch die Hydrotherapie und die Hydrotherapeuten hat man einst 
viel gescholten und über das Streichen und Besprechen. oder 
Stillen der alten Weiber sich lustig gemacht. Und heute? Die 
Hydrotherapie wird bis zu einem gewissen Grade von jedem 
Arzte geübt. Der Priessnitz'sche Umschlag wird alle Tage 
angewandt und des Weiteren? Die grössten Chirurgen massieren, 
und die berühmtesten Nervenärzte suggerieren. Man streicht 
und bespricht oder stillt ärztlicherseits allenthalben. Difficile 
est satiram non scribere! Die etwaige beregte Verständigung 
aber wird endgiltig herbeigeführt werden durch das biologische 
Grundgesetz: „Schwache Reize fachen die Lebensthätig- 
keit an, mittelstarke fördern sie, und stärkste heben 
sie auf!“ beziehentlich: „Schwache Reize — und jedes 
therapeutische Mittel ist ein Reiz — haben die umgekehrte 
Wirkung von starken!“ 

Was indessen ein schwacher, was ein starker Reiz ist, ist ganz 
individuell und hängt von der jeweiligen Reizbarkeit, beziehungs- 
weise Widerstandsfähigkeit des betreffenden Individuumsund seiner 
bezüglichen Organe ab. Was für den Einen schwach ist, ist 
für den Andern stark, selbst sehr stark. Und da kommt denn 
das Pflüger-Wundt’sche Erregungsgesetz vom ermüdeten und 
absterbenden Nerven zur Geltung, das Gesetz, das man wohl — 
ich wiederhole es — für ein begrenztes Gebiet in der Neurologie 
für stichhaltig erklärt hat, aber in seiner ganzen biologischen 
Bedeutung, und damit in seiner Gültigkeit für die gesamte Medicin 
noch immer nicht anerkennen will, obgleich, wie die Erfahrung 
gelehrt und Schulz für einen der wichtigsten Teile der Medizin 
experimentell nun nachgewiesen hat, es die Grundlage für alle 
unsere entsprechenden Handlungen zu bilden hat. 


————— 


un 


4, 
Plattfuss, Klumpfuss 


und das biologische Grundgesetz. 


Plattfuss und Klumpfuss werden seit Langem schon von 
einer Reihe von Anthropologen und Aerzten, namentlich Irren- 
ärzten, als Stigmata degenerationis, Zeichen einer Entartung an- 
gesehen, welche zum schliesslichen Untergange des Stammes, 
der Familie führt, welcher das betreffende Individuum angehört 
und insbesondere insofern, als es Ausgangspunkt eines neuen 
Zweiges derselben wird. Wie die Sache zusammenhängt, ist 
indessen bis jetzt im Ganzen unbekannt geblieben. Nur verein- 
zelte allgemeine Erwägungen haben ein Verständnis dafür an- 
zubahnen gesucht; doch hat man sich immer mehr bei der 
blossen Thatsache beruhigt, dass Platt- und Klumpfuss vorzugs- 
weise bei auch sonst mit Entartungszeichen behafteten Personen 
vorkommen, als dass man nach dem Zusammenhange dabei ernstlich 
geforscht hätte. Dazu kam, dass über die Entstehung des Platt- 
fuss wie des Klumpfus die sonderbarsten, grob mechanischen Auf- 
fassungen sich breit machten und zum Teil noch breit machen, die 
sich erst heranbildenden Aerzte beeinflussten und zum Teil noch 
beinflussen, so dass diese, einmal erzogen, für die grob mechani- 
schen Einflüsse, welche jene Missbildungen herbeiführen sollten, 
auch wenn sie in ihrer ganzen Annahme unberechtigt waren, 
dennoch mehr Verständnis besassen, als für die feineren biolo- 
gischen Vorgänge, trotzdem dieselben auch nur rein mechanische, 
allerdings molekular-mechanische sind, welche allein zu ihnen 
führen. Man denke nur daran, dass der Plattfuss, der {Pes 
valgus, beziehentlich die Pedes valgi nur dadurch zu Stande 
kommen sollten, dass die Last des Körpers den Fuss platt 
drückte, oder, wie man das klangvoller und möglichst überzeugend 
zu bezeichnen suchte, sein Gewölbe eindrückte, und dass der 
Klumpfuss, der Pes varus, beziehenjlich die Pedes vari, wenig- 
stens die angeborenen, dadurch zur Entwicklung kämen, dass 


Wahe hue Be 
vv 


108 
der gehörigen Ausbildung der Füsse im Uterinleben wegen 
Raumbeschränkung in Folge mangelnden Fruchtwassers zu grosse 
Hindernisse entgegengesetzt worden wären! Ich will keineswegs 
den mächtigen Einfluss leugnen, den gröbere mechanische Vor- 
gänge auf die Entwickelung unserer Körperformen ausüben — 
man braucht sich ja nur der Füsse der chinesischen Damen zu 
erinnern, der wunderbaren Kopfformen asiatischer und ameri- 
kanischer Völkerschaften, der Wespentaillen unserer Frauen 
höherer Stände —; allein dass die erwähnten von der Bedeutung 
für die Entwickelung der in Rede stehenden Missbildungen sein 
sollten, wie behauptet worden ist, das dürfte, von vereinzelten 
Fällen abgesehen, doch wohl noch sehr bestritten werden können. 

Wenn diese Bedeutung nämlich in der That so gewaltig 


und allein entscheidend wäre, wie sie es sein soll, warum zeigen 


sich da Plattfuss und Klumpfuss, trotzdem beide so häufig vor- 
kommen, nicht doch noch häufiger, da die fraglichen Einflüsse 
zum Teil ganz allgemein verbreitet, zum Teil viel öfter vor- 
handen sind, als ihre Bethätigung wahrgenommen wird? Warum 
sind beide doch blos mehr an vereinzelte Persönlichkeiten ge- 
bunden und warum da wieder besonders an solche, an denen 
auch noch andere Mängel und Fehler vorhanden sind, vor Allem 
entsprechende Missbildungen an den Knien, an den Händen 
und dem Antlitz, dessen Kiefer ja als die Homologa der Ex- 
tremitätenknochen zu denken sind, und demnächst Blutarmut, 
Feistigkeit, Plumpheit oder übermässige Zartheit, Nervosität, 
Hysterie, Epilepsie, Imbecillität, Idiotie? Die meisten und am 
weitesten entwickelten Platt- und Klumpfüsse findet man bei 
den Cretins, bei denen dadurch nicht selten das Gehen geradezu 
unmöglich wird, nun, und die Cretins sind eben im höchsten 
Grade degenerierte, nach allen Richtungen hin missbildete, weil 
missratene Menschen! Es gehört eben noch etwas. Anderes 
dazu, als blos die fraglichen mechanischen Einflüsse, um die 
einschlägigen Missbildungen herbeizuführen, und das weist auf 
eine besondere Anlage, Disposition zu ihnen hin, auf eine 
Widerstandslosigkeit der betreffenden Individuen, namentlich in 
Bezug auf die jeweiligen Gliedmassen und ihrer einzelnen Teile, 
in Folge deren erst die beregten äusseren, rein mechanischen 
Einflüsse die Macht gewinnen, welche man ihnen von vornherein 
zuschreibt, beziehentlich zuschrieb. 


Be - 


109 


Wie sehr das zutrifft, zeigt schon der Umstand, dass Platt- 
fuss vornehmlich bei mehr schmalen, schlanken Leuten mit 
langen Gliedmassen, bei denen sich besonders auch X-Beinbildung, 
Genu valgum, findet, angetroffen wird, dass dagegen Klump- 
fuss mehr bei breiten, untersetzten Leuten mit mehr kurzen 
Gliedmassen, von denen die unteren zur O-Beinbildung, Genu 
varum, neigen, vorkommt. Ueberhaupt ist der Idealfuss wohl 
nur im Reiche der Ideale und der Kunst zu finden; im gemeinen 
Leben sieht man wohl blos entsprechend dem sonstigen Wuchse 
des Körpers Füsse, die, je nachdem, zum Plattfuss oder Klump- 
fuss hinneigen. Der Plattfuss, der Klumpfuss schlechtweg wäre dann 
auch blos eine Ausschreitung dieses Verhaltens, ein Excess, wie 
Rokitansky gesagt haben würde, und die Art und Weise, wie 
die verschiedenen Menschen gehen und namentlich ihre Schuhe 
austreten und die Sohlen und Absätze derselben ablaufen, be- 
weist das. Langgliederige, schlanke Menschen neigen so kurz- 
weg mehr zu Plattfuss mit entsprechenden X-Beinen, untersetzte, 
stämmige mehr zu Klumpfuss mit entsprechenden O-Beinen hin. 
Sodann legt dafür der weitere, schon in Erwähnung gebrachte 
Umstand Zeugnis ab, dass, wo Plattfuss oder Klumpfuss vor- 
kommt, auch die Hand, das Antlitz in entsprechender Weise 
abgeändert zu sein pflegt. Die Hand ist eine Art Platt- oder 
Klumphand, das Gesicht ein mehr langes, schmales oder ein mehr 
rundes, breites, im ersteren Falle häufig mit mehr oder minder 
vorgestrecktem Unterkiefer, wie er für das sogenannte Cranium 
progenaeum charakteristisch ist. 


Es fragt sich nun: Wie hängt das Alles zusammen, und 
worin besteht die Disposition zu ihm, das nur auf sie hin zur 
Ausbildung kommen soll? Um hierauf eine genügende Antwort 
geben zu können ist es notwendig, weiter auszuholen und auf 
die Entstehung, die phylogenetische Entstehung, der Glied- 
massen näher einzugehen. 


Die Gliedmassen der Ringelwürmer, der Arthropoden, der 
Vertebraten, sowohl was sie als Fortbewegungs- wie anch als 
Ergreifungsorgane anlangt, stehen mit den Athmungswerkzeugen, 
namentlich, insofern dieselben Kiemen darstellen, in sehr inniger 
Beziehung. Aus den Gliedmassen entwickeln sich Kiemen wie 
bei den Krustern; aus den Kiemen entwickeln sich Gliedmassen, 


110 

wie z. B. die Flügel der Insekten aus den sogenannten Tracheen- 
kiemen, welche sich noch nachweislich bei den im Wasser leben- 
den Larven der Ephemeriden, Perliden, Phryganiden, zum Teil 
auch Culiciden u. s. w. finden. Aus Kiemen haben sich auch 
die Gliedmassen der Vertebraten entwickelt. Die Kiefer, also 
die Hauptmasse des Gesichtsskelets, gehen, wie die Embryologie 
lehrt, noch heutigen Tages daraus hervor; bei den Vorder- und 
Hinter- oder Ober- und Untergliedmassen, Armen und Beinen, 
ist dagegen abgekürzte Vererbung eingetreten. Die Gesichts- 
entwicklung stellt eine Palingenie dar; Arme und Beine haben- 
eine Känogenie eingeschlagen. Da der Kiemenapparat als ein 
Ganzes anzusehen ist, das von einem bestimmten Abschnitte des 
Centralnervensystems innerviert wird, so leuchtet ein, warum so’ 
häufig, wie das auch schon Tierzüchtern aufgefallen ist, Gesicht 
und Extremitäten in derselben Richtung geartet, beziehentlich 
abgeändert sind, warum, wenn die Extremitäten kurz gerathen 
sind, auch das Gesicht, insbesondere die Kiefer kurz sind, — 
der Kopf selbst, d. i. der Schädel, ändert sich wohl erst, nach- 
dem die Kiefer verändert sind —, warum dagegen, wenn jene 
ein grösseres Längenwachstunm erfahren haben, auch diese sich 
durch eine grössere Länge auszeichnen. Unter den Pferden die 
englischen Rennpferde und die schottischen Ponnys, unter den 
Rindern die holländische, die oldenburger und die schweizer, 
namentlich aber die hornlose schottische Rasse, unter den 
Schweinen die älteren deutschen, polnischen Hausschweine, die 
englische Berkshire-Rasse und die ungarischen, sowie manche 
englischen, z. B. die Suffolk-Rasse, unter den Hunden die Wind- 
hunde, Windspiele, die dänischen, die Ulmer Doggen und die 
Bullenbeisser oder Boxer, die Möpse, die King Charles- und 
Bologneser Hündchen, unter den Kaninchen die sogenannten 
weissen englischen und die wilden, unter den Tauben die Runt- 
taube, der Kröpfer und das Möwchen, unter den Hühnern das 
spanische, das japanische, vor allen aber das englische Kampf- 
huhn und das belgisch-holländische Bart- und Haubenhuhn, und 
endlich unter den Menschen, um nur einige wenige herauszu- 
heben, die Angeln, die Engländer, die Nordamerikaner auf der 
einen, und die Wenden der Lausitz, die Czechen, die Thüringer 
auf der anderen Seite beweisen das vollauf. Indessen, weil doch 
jeder Kiemenbogen auch wieder ein bis zu einem gewissen Grade 


für sich Bestehendes ist, das von einem besonderen Theile des 
gedachten Abschnittes des Centralnervensystems innerviert wird, 
ist auch wieder ersichtlich, warum die fraglichen Abänderungen 
nicht gerade immer Gesicht, beziehentlich Kiefer und Extremi- 
täten zugleich treffen müssen, sondern warum sie sehr wohl 
auch einmal nur auf diese oder jene, ja sogar blos auf eins oder 
das andere dieser letzteren beschränkt sein können. So erklärt 
sich z. B., dass der Dachshund trotz seiner kurzen Beine eine 
lange, und die Bracken trotz ihrer verhältnismässig langen Beine 
doch eine nur kurze Schnauze haben. 

Wie die Entwickelung des Gesichtes, beziehentlich der Kiefer 
aus dem ersten Kimenbogen sich macht, kann noch alle Tage 
beobachtet werden. Aus der Basis dieses letzteren wächst der 
Oberkieferfortsatz hervor, und der übrig bleibende. Teil wird 
damit zum Unterkieferfortsatz. An diesem entsteht durch Aus- 
wachsen der Meckel'sche Knorpel und an der Aussenseite des- 
selben als Beleg- oder Deckknochen aus den Flementen der 
Lederplatte der bleibende knöcherne Unterkiefer. Wie die 
Extremitäten aus den Kiemenbogen entstehen, ist nicht bestimmt 
festzustellen. Da muss Vieles erschlossen und namentlich durch 
Combination von Thatsachen ans der vergleichenden Anatomie 
und Embryologie wahrscheinlich gemacht werden. Über das 
blos Wahrscheinliche kommen wir deshalb hierbei nicht hinaus; 
allein es kann durch Umfang des Beobachteten der Wahrheit 
so genähert werden, dass wir selbiges mit der bekannten Ein- 
schränkung auch als solche ansehen können. 

Nach Gegenbaur*) wird aus dem betreffenden Kiemen- 
bogen selbst Schulter-, beziehentlich Beckengürtel, 
und zwar auch nicht unmittelbar, sondern ebenfalls erst, nachdem 
sich, wie beim Unterkiefer, Beleg- oder Deckknochen aus der 
Lederplatte gebildet haben. Diese Beleg- oder Deckknochen 
in ihren verschiedenen Verbindungen stellen dann der Haupt- 
sache nach Schulter- und Beckengürtel dar, und nur ein unbe- 
deutender Anteil dieser letzteren kann noch auf den ursprüng- 
lichen Kiemenbogen oder seinen Knorpel zurückgeführt werden, 
wie z. B. der Processus coracoides scapulae.. Arm und Bein 
dagegen gehen aus gewissen Anhängen oder Auswüchsen des 


* C. Gegenbaur, Grundriss der vergleichenden Anatomie, 2. Auflage, 
Leipzig 1878. S. 496 u. ff. 


112 


Kiemenbogens hervor, wie solche sich z. B. an dem Hyoidbogen 
des Barsches, des Zanders, des Dorsches u. a. m. finden, und 
die in Fig. ı, d—e, schematisch dargestellt sind. 


NZ RH s N 
a an I —G N Be 
i Ss 2 N Ne 
on So Ss 
U S 


Schemata zur Erläuterungen der Entwickelung des Extremitäten-Skeletes aus den 


Bier. 


Kiemen. « b c d Kiemenbogen von Selachiern; e Archipterygiumform. 
(Nach Gegenbaur.) 


An den Kiemenbögen entstehen nämlich eine Anzahl von 
strahlenartig angeordneten Stacheln oder Dornen, welche durch 
Häutchen mit einander verbunden sind. In Folge von fort- 
gesetzten Bewegungsversuchen werden diese Stacheln oder 
Dornen selbst beweglich, und zwischen ihnen und dem Kiemen- 
bogen bildet sich damit eine Art von Gelenk aus. Einer der 
Stacheln oder, wie wir sie hinfort nach ihrer Anordnung nennen 
wollen, Strahlen, entwickelt sich stärker, wird stämmiger und 
länger, zieht damit die andern, durch Häute mit ihm verbundenen 
seitlich an sich in die Höhe und entwickelt zwischen diesen noch 
neue, ihnen ähnliche Strahlen. Hierdurch entsteht die Grund- 
oder Urform der an den Schulter- und Beckengürtel angehefteten 
freien Gliedmassen, die Gegenbaur als Archipterygium 
bezeichnet hat, die Grund- oder Urform der Fischflosse, von 
der sich alle anderen Gliedmassenformen ableiten lassen. Bei 
den Selachiern, Haien, bei denen der Mittelstrahl sich stärker 
entwickelt und so zum Hauptstrahl der ganzen Bildung wird, 
lässt sich der Übergang von dem einfach stachelbesetzten 
Kiemenbogen bis zum Archipterygium ziemlich genau verfolgen. 


Die Stacheln oder Strahlen des Archipterygiums gliedern 
sich. Wohl in Folge der Bewegung zerfallen sie in einzelne 
immer kleinere, durch Häutchen unter sich verbundene Stücke, 
und so entsteht die eigentliche Fischflosse, die, trägt sie den 
vollständigen Charakter des Archipterygiums an sich, eine 
biseriale genannt wird. Als solche findet sie sich noch 
heutigen Tages bei dem Ceratodus Forsteri, einem in 


NT 


115 


Australien lebenden Überbleibsel einer ehemals zahlreicheren 
Gattung bis mehrere Fuss langer Fische (Fig. 2). 


Bie2. 
Brustflosse von Ceratodus Forsteri, a b Flossenstamm, cd Flossenstrahlen. 
(Nach Haeckel.) 


Wohl wieder in Folge von Bewegung, also auf Grund des 
Gebrauches, wanderten danach die Flossen samt ihrem Gürtel 
und rückten aus dem Bereiche des Kiemenapparates an Brust 
und Bauch, den ganzen Rumpf so in Hals, Rumpf im engeren 
Sinne und Schwanz teilend. Dass die Flossen wandern und in 
Folge dessen verschiedene Lagen am Körper einnehmen, erliegt 
wohl kaum noch der Frage. Namentlich sind es die Bauch- 
oder Beckenflossen, welche solche Wanderungen zeigen, und 
die deshalb als sogenannte Kehlflossen beim Meergrundel, Kabel- 
jau, Dorsch, der Aalquappe (Blennius) z. B. vor, beim Barsch, 
Zander unter und dicht hinter den Brustflossen, oder als soge- 
nannte Brust-Bauchflossen bei den Lippfischen, dem Harder, etwas 
weiter hinter denselben liegen. Doch das nur nebenbei, wenn 
auch für die Erklärung, wie Arme und Beine aus Kiemenbogen 
hervorgegangen sein sollen, wichtig! 


Die einfache biseriale Flotte wird zum Ausgang der Glied- 
massenbildung aller höheren Wirbeltiere. Bei Fischen kommen 
zwar noch Flossen vor, welche gewissermassen aus einer Zu- 
sammensetzung von mehreren, wenn auch sehr veränderten 
biserialen Flossen beruhen, indem sie neben dem Archipterygium 
aus den am Kiemenbogen sitzen gebliebenen Stachelstrahlen 
noch weitere archipterygienartige Gebilde entwickelten, die dann 
mit dem eigentlichen Archipterygium verschmolzen und so nun 
eine Art zusammengesetzter Flossen darstellen. Gegenbaur 
unterscheidet an solchen zusammengesetzten Flossen von vorn 
nach hinten, beziehentlich von unten nach oben oder auch von 
Bauch nach Rücken gezählt: das Propterygium, das Meso- 
pterygium und Metapterygium, von denen das letzte dem 

8 


114 


eigentlichen Archipterygium entspricht; allein diese Flossen 
(Fig. 3, 4, 5), durch welche die mitunter sehr abwegig gebildet . 


Fig. 3. Fig. 4. 

Primäres Brustflossenskelet von 
Acipenser ruthenus nach Entfernung 
eines Teiles des sekundären Skelets. 
B Basale des Metapterygiums, RB 
knöcherner Randstrahl des nur teil- 
weise dargestellten secundären Flos- 


senskelets. 
(Nach Gegenbaur.) 


Brustflossenskelet von Acanthias vulgaris. 
p Basale des Propterygiums, mt des Meta- 
pterygiums, ms des Mesopterygiums, 
B medialer Flossenrand. Die durch mt 
gezogene Linie deutet die Stammreihe 
des Archipterygiums an. Die punktirten 
Linien entsprechen den Radien, die gröss- 
tenteils lateral (R R) und nur in Rudi- 
menten auch medial (Rl) angeordnet sind. 
(Nach Gegenbaur.) 


Fig. 5. 
Schema der Brustflosse eines Selachiers. bbb Basale des Pro- 
pterygiums pt, des Mesopterygiums ms und des Metaptery- 
giums mt. Der schraffierte Anteil des Metapterygiums stellt 
den in die Gliedmassen der höheren Wirbeltiere sich fort- 
setzenden Abschnitt dar. (Nach Gegenbaur.) 


erscheinenden Flossen der Rochen, Haie, Störe doch wieder 
auf ein und denselben Bildungsvorgang zurückgeführt werden, 
sind für die Entwicklung der Gliedmassen der höheren Wirbel- 
tiere von keiner Bedeutung. Diese stehen nur mit der biserialen 
FlosseinZusammenhang, wiesienochCeratodusForsteri besitzt. 

An der biserialen Flosse heisst der Mittelstrahl der Stamm 
der Flosse, der damit denn auch der Stamm des Archiptery- 
giums ist. Er ist wie auch die Seitenstrahlen vielfach gegliedert. 
Die betreffenden Glieder können mannigfache Veränderungen 
erleiden. Die Seitenglieder können ganz in Wegfall kommen, so 
dass nur knorpelige Fäden übrig bleiben, wie bei dem Lungen- 


115 

fiich Protopterus adnectens, oder starrere Stacheln ihre 
Stelle einnehmen, wie bezüglich der Bauchflossen beim Stichling, 
Gasterosteus, oder aber, was wichtiger ist, sie fallen nur 
teilweise fort, auf einer, und zwar der äusseren oder Rückenseite, 
und die Flossen werden dann uniserial. Demnächst können die 
einzelnen Glieder sich vergrössern, namentlich verlängern, mit 
anderen verschmelzen und dabei in die verschiedensten Formen 
übergehen. 

Das Glied des Flossenstammes, mit welchem derselbe dem 
zugehörigen Gürtel aufsitzt, heisst das Basale. Dieses ver- 
grössert sich zuerst und zumeist und wird, wie das die Glied- 
massen vonlchthyosaurus beweisen, zum Humerus, beziehungs- 
weise Femur. Doch dürfte mit Rücksicht auf das eben Gesagte 
aus dem ursprünglichen Basale allein kaum Humerus und Femur 
hervorgegangen sein, sondern vielmehr erst nachdem eine Ver- 
schmelzung desselben mit den nächstfolgenden, wenigstens 
zweien stattgefunden hatte. Aus den Basale selbst wurde dann 
die obere, aus dem äussersten oder letzten die untere Epiphyse 
und aus dem, beziehentlich den mittleren Stücken die Diaphyse. 
Wir werden sehen, dass durch diese Annahme, für welche auch 
die noch heute erfolgenden Össifikationen aus drei entsprechen- 
den Össifikationspunkten ein nicht unberechtigtes Zeugnis ablegen, 
mehr erklärt wird, als es sonst möglich ist. Das oder nach dem 
eben Gesagten, die nachfolgenden wenigstens drei Glieder, wur- 
den, wie ebenfalls Ichthyosaurus, mehr noch Plesiosaurus, 
lehrt, zu Ulna beziehentlich Fibula, und das, oder wieder viel- 
mehr die ersten Glieder des mit dem Basale verbundenen Seiten- 
strahles zu Radius, beziehentlich Tibia. An Ulna, Fibula schliesst 
sich dann, dem Stamme angehörig, das Os ulnare und fibulare, 
an Radius und Tibia, dem ersten Seitenstrahle angehörig, das 
Os radiale und tibiale an, und zwischen Ulna und Radius einer- 
seits und Fibula und Tibia andererseits, den zweiten Seitenstrahl 
darstellend, welcher von Ulna, beziehentlich Fibula ausgeht, 
schiebt sich das Os intermedium ein, Zwischen Os ulnare, be- 
ziehentlich fibulare, und Os radiale, beziehentlich tibiale, sind 
zwei Ossa centralia eingeschaltet, von denen das Oscentrale radiale 
und tibiale gleich dem intermedium ein Teil des zweiten Seiten- 
strahles ist, während das Os centrale ulnare und fibulare zu dem 
dritten Seitenstrahle zu rechnen ist, welcher von dem Ulnare seinen 


gr 


116 

Ursprung nimmt. Vor diesen in zwei Reihen angeordneten 
Knöchelchen, deren oberste von dem Intermedium allein gebildet 
wird, liegen in einer dritten Reihe fünf Knöchelchen: die Car- 
palia, beziehentlich Tarsalia primum bis quintum. Das erste, 
eigentlich fünfte, schliesst sich an das Radiale und Tibiale an und 
ist dem ersten Seitenstrahle zugehörig; das zweite, eigentlich vierte, 
steht im Anschluss an das Centraie radiale und tibiale und 
gehört zu dem zweiten Seitenstrahle. Das dritte oder mittlere 
steht im Anschluss an das Centrale ulnare und ist Glied des dritten 
Seitenstrahles; das vierte, eigentlich zweite, steht im Anschluss 
an das fünfte, von dem der vierte Seitenstrahl sich abzweigt, 
und den es somit als sein erstes Glied bildet, und das fünfte 
endlich, unmittelbar an das Ulnare beziehentlich Fibulare an- 
schliessend, gehört dem Stamme selbst an und ist somit eigentlich 
als das erste der ganzen fraglichen Reihe zu betrachten. 

Die genannten zehn Knöchelchen, in der geschilderten Weise 
im Allgemeinen noch bei den Amphibien vorhanden (Fig. 6, 7), 
bilden in ihrem Zusammenhange den Carpus, beziehungsweise 
Tarsus. An jedes ihrer dritten Reihe setzt sich dann ein 


Fig. 6. 

Schema der Vordergliedmasse eines Amphibiums. Die Punktlinien 
deuten die Radien an, welche am Stamm des Archipterygium ver- 
bleiben. 

(Nach Gegenbaur.) 


Big.7. 
Hintere Gliedmasse einer Larve von Salamandra maculosa. Die punktierten 
Linien sind durch die Radien gelegt, denen die einzelnen Stücke angehören. 
(Nach Gegenbaur.) 


Metacarpal-, beziehungsweise Metatarsalknochen mit zugehörigen 
Phalangen an, und diese, wahrscheinlich auch jeder aus mehreren, 


ER 


mit Berücksichtigung ihrer Össificationspunkte, wenigstens zwei 
ursprünglichen Flossenstücken entstanden, bilden so das Ende 
des Stammes und der beziehentlichen Seitenstrahlen. Die Glied- 
massen der Wirbeltiere, Arme und Beine sowie Flügel, 
sind also umgeänderte uniseriale Flossen, deren Stamm 
durch Humerus, Ulna, kleinen Finger, Femur, Fibula, 
Biene Zehe sche, unde deren andere, enesprechende 
Teile, natürlich mit zugehörigen Weichteilen, Nerven, 
Muskeln, Bändern, Gefässen, sich aus den entsprechen- 
den Seitenstrahlen gebildet haben. Nicht Daumen und 
grosse Zehe, nicht der innere Hand- und Fussrand sind, wenn 
ich mich so ausdrücken darf, die vornehmsten Teile an Hand 
und Fuss, sondern, obgleich am mächtigsten entwickelt, doch 
nur Gebilde zweiter Ordnung, und darin liegt der Schlüssel zur 
Lösung der uns beschäftigenden Angelegenheit. 

Die zehn Carpal- und Tarsalknöchelchen sind bekanntlich 
sehr grosser Veränderungen fähig. Auf denselben beruhen ja 
wesentlich mit die zahllosen Fuss-, beziehentlich Handformen, 
welche bei den Wirbeltieren vorkommen. Sie können sich hier 
vergrössern, eigene Gestalt annehmen, dort zurückbilden, rudi- 
mentär werden, ganz in Wegfall kommen; manche können auch 
verwachsen. Bereits bei den Amphibien ist dergleichen zu be- 
obachten, und im Hinterfusse schon der Larve von Salamandra 
maculosa erscheint daher nur ein Carpale centrale: beide sind 
mit einander verwachsen. Bei den Schildkröten ist das Inter- 
medium mit dem Tibiale und entsprechenden Centrale zu einem 
Astragalus verschmolzen, bei den Eidechsen sind es sogar die 
ersten beiden Reihen, d.h. das Intermedium mit den vier daran- 
stossenden, die dann zusammen noch mit der Tibia vereinigt 
sind. Bei den Vögeln liegt die Sache ähnlich, und bei den 
Säugetieren? Die verschiedenen Vorkommnisse sind da all- 
bekannt. 

Beim Menschen ist aus dem Intermedium das Os lunatum 
s. semilunatum manus und das Corpus tali s. astragali, aus dem 
Ulnare das Os triquetum und aus dem Fibulare das Corpus 
calcanei, aus dem Radiale das Os naviculare manus und aus 
dem Tibiale das Os naviculare pedis, vielleicht auch das Caput 
astragali geworden. Aus dem Carpale primum ging das Os 
multangulum majus, aus dem Tarsale primum das Os cuneiforme 


118 


primum, aus dem Carpale secundum das Os multangulum 
minus, und aus dem Tarsale secundum das Os cuneiforme 
secundum, aus dem Carpale tertium das Os cuneiforme tertium 
hervor. Das Carpale quartum wurde zum Os hamatum, vielleicht 
in Vereinigung mit dem Carpale quintum, das sonst, an das 
Os triquetrum herangedrängt, sich zum Os pisiforme gestaltete, 
und das Tarsale quartum ward Os cuboideum, vielleicht eben- 
falls in Verbindung mit dem Tarsale quintum, das anders aber, 
auch an den Calcaneus» gedrängt, nach seiner Verschmelzung 
mit demselben sich zu seiner Tuberositas umgestaltete. Diese 
letztere würde dann dem Os pisiforme entsprechen und die 
Homologie zwischen Hand und Fuss möglichst vollständig sein. 
Aus dem Carpale centrale radiale entstand, nach Verwachsung 
desselben mit dem Carpale tertium s. Os capitatum, das Capitu- 
lum desselben, und aus dem Carpale centrale tibiale, nach seiner 
Verwachsung mit dem Astragalus, das Caput dieses. Das Car- 
pale centrale ulnare verwuchs mit dem Os hamatum zu seiner 
Pars superior, und das Tarsale centrale tibiale mit dem Os 
cuboideum zu dessen Pars superior s. interna. Doch soll nach 
Gegenbaur das Caput astragali aus dem Tibiale hervorge- 
gangen sein und das Naviculare sich aus dem Centrale gebildet 
haben, sowie das Hamatum aus dem vierten und fünften Tarsale. 
Das Os pisiforme aber soll gar nicht den besprochenen zehn 
Carpalknochen angehören, sondern ein Überbleibsel aus einer 
Zeit sein, in welcher noch mehr als zehn Carpalknochen vor- 
handen waren, wie bei Ichthyosaurus, Plesiosaurus u. s. w. In- 
dessen das ist für unsere Zwecke nicht von Belang. Für diese 
genügt zu wissen, dass die einzelenen Knochen von Hand und 
Fuss mitsamt den zugehörigen Weichteilen einer uniserialen 
Flosse entsprechen, deren sämtliche nach innen von den 
unmittelbaren Ulnar- und Fibulargebilden, durch welche der 
Flossenstamm geht, gelegenen Teile aus den Seitenstrahlen 
dieser Flosse hervorgegangen sind. 

Sehen wir nun einmal die Verbildungen der Gliedmassen 
an Hand und Fuss, welche in Frage kommen können, näher an, 
so sehen wir, dass sie fast ausnahmslos der Radial- und Tibial- 
seite angehören, und dass selbst die, welche die Ulnar- und 
Fibularseite betroffen zu haben scheinen, sich doch meist auf 
jene zurückführen lassen. 


Fassen wir zunächst z. B. den Plattfuss in’s Auge, so finden 
wir, dass das Wesentliche desselben, der Verlust des Fuss- 
gewölbes und das Berühren des Bodens mit dem ganzen inneren 
Fussrande, auf eine Verlängerung dieses letzteren zurückzuführen 
i5t. Schon Hueter machte, und so viel ich weiss, als der 
erste, darauf aufmerksam, dass eine Verlängerung des Collum, 
beziehentlich Caput tali, als die Hauptursache des Plattfusses 
anzusehen sei, und schlug darum denn auch ein entsprechendes 
Operationsverfahren ein. Allein nicht blos das Collum, beziehent- 
lich Caput tali, sind verlängert; es sind es die sämtlichen 
Knochen des inneren Fussrandes und seiner Nachbarschaft, das 
Os naviculare, die Ossa cuneiformia, die entsprechenden drei 
inneren Metatarsalknochen und Phalangen, beziehentlich Phalangen- 
reihen oder Zehen. Wenn das Collum und Caput tali sich ver- 
längert, so muss, wenn der ganze Körper des betreffenden 
Individuums dadurch nicht gehoben wird, die Stellung des Collum 
zum Corpus eine weniger steile, eine flachere, mehr horizontale 
werden und das Fussgewölbe damit einsinken. Dass die Be- 
lastung des Fusses durch das Körpergewicht dies nur zu ver- 
mehren, zu beschleunigen geeignet sein wird, liegt auf der Hand, 
zumal wenn, wie das beim Plattfuss gewöhnlich ist, die Weich- 
teile und unter ihnen namentlich auch die Bänder, Gelenk- 
kapseln schlaff und nachgiebig sind; aber es gelangt das nur 
zur Wirkung, wenn jenes pathologisch vermehrte Wachstum 
als prädisponierendes Moment voraufgegangen ist, die bezügliche 
Disposition gesetzt hat. Dadurch jedoch, dass sich alle Knochen 
des inneren Fussrandes, beziehungsweise der inneren Fusshälfte, 
verlängern, während die des äusseren Fussrandes, der äusseren 
Fusshälfie mehr die dem gerade vorliegenden Falle zukömm- 
liche Länge behalten, muss ı. der innere Fussrand sich hervor- 
wölben, also eine mehr oder minder convexe Krümmung er- 
fahren, und 2. der ganze innere Fussrand und damit auch der 
ganze Fuss nicht blos länger, sondern auch der Winkel, welcher 
von den durch den inneren Fuss- und den vorderen Zehenrand 
gelegten Linien eingeschlossen wird, kleiner werden, als er sein 
sollte. Und darin liegt denn auch etwas durchaus Charakteristisches 
für den Plattfuss. Er erscheint auffallend lang, spitz, wenigstens 
verhältnismässig schmal und leicht nach aussen gebogen. 

Im Übrigen sind, wie bekannt, so gut als keine ihn be- 


120 


dingenden Abwegigkeiten bisher aufzufinden gewesen. Was 
sonst noch eigentümlich Fremdartiges bei ihm angetroffen worden 
ist, sind mehr Folgezustände als Ursachen gewesen. 

Beim Klumpfuss verhält es sich gerade umgekehrt. Der 
innere Fussrand, die innere Fusshälfte, beziehentlich ihre Be- 
standteile, sind verkürzt, mehr oder minder verstümmelt ge- 
blieben. Vielleicht alle Knochen eines Klumpfusses haben 
nicht die ihnen für den jeweiligen Fall zukommende Länge 
und Dicke erreicht, sind vielmehr kürzer und dünner geblieben, 
als sie sein sollten, allein die des inneren Fussrandes, der 
inneren Fusshälfte ungleich mehr als alle übrigen. Zunächst 
zeigt das wieder am auffallendsten der Astragalus. Sein 
Corpus ist, wie Bessel-Hagen*) gezeigt hat, abgeplattet; 
sein Collum, sein Caput sind kürzer, dünner und steiler, 
d. h. stehen mehr senkrecht, als es der Regel nach sein 
sollte.e Das Os naviculare ist kürzer, beziehentlich schmäler, 
der Calcaneus zeigt eine abnorme Höhe seines Processus anterior 
und einen Mangel seines Proc. lateralis; die Bänder, insbesondere 
die seitlichen des Sprunggelenkes, sind aussergewöhnlich kurz, 
und vornehmlich ist es das Lig. calcaneo-fibulare, welches kurz 
erscheint, aber wohl blos dem Lig. laterale internum gegenüber 
als ein Folgezustand. Wir wissen, dass ausserdem beim Klump- 
fuss Subluxationen zwischen Os naviculare und Caput astragali 
einerseits, sowie zwischen Corpus astragali und Calcaneus, be- 
ziehentlich Tibia andererseits stattgefunden haben, und eine 
Reihe von Autoren will gerade darin das Wesentliche des 
Klumpfusses sehen. Es ist etwas Wesentliches, das ist richtig, 
aber doch erst etwas mehr Secundäres. Es bildete sich erst 
aus und konnte sich auch erst ausbilden, nachdem die Bedingungen 
dazu gegeben, die Disposition dazu vorhanden waren, d. h. die 
Verkürzung des inneren Fussrandes sich geltend gemacht hatte. 
Denn dadurch, dass er verkürzt blieb, in Bezug auf den äusseren 
verkürzt wurde, musste der Fuss sich nach innen krümmen, die 
Fusssohle sich nach innen heben, der äussere Fussrand sich 
senken und dadurch notwendig der Astragalus sich gegen Os 
naviculare, Calcaneus und Tibia verschieben, sowie das ganze 


*) Bessel-Hagen: Ueber die Pathologie des Klumpfusses und über die Be- 
handlung hochgradiger Fälle mittelst der Talusexstirpation. Verhandl. d. deutschen 
Gesellschaft f. Chirurgie, 1885, Bd. I, p. 76. 


121 

Bein nach Innen drehen. Dadurch indessen wurden wieder Folgen 
hervorgerufen, die, auf den Fuss rückwirkend, die Uebel nur 
verschlimmerten, aus denen sie selbst entsprungen waren, und 
damit trat dann auch der Circulus vitiosus ein, welcher bei 
allen pathologischen Vorgängen, wie bekannt, überhaupt eine 
grosse Rolle spielt. Wenn der innere Fussrand sich dem äusseren 
gegenüber verkürzt, so muss die Linie, welche, durch ihn ge- 
zogen, sich mit der durch den Zehenrand gezogenen schneidet, 
dies unter einem grösseren Winkel thun. 

Der Klumpfuss erscheint deshalb kurz, relativ breit, nach 
innen gekrümmt, concav. Er ist also ganz das Gegenteil vom 
Plattfuss. Weitere seiner Eigentümlichkeiten sind wie beim Platt- 
fuss als Folgezustände zu betrachten, die aber in dem Circulus 
vitiosus, der sich ausbildete, auf ihre Ursachen, so weit die- 
selben ständig wurden, nicht ohne Einfluss und damit wieder 
ohne Folgen blieben. — In einzelnen wenigen Fällen von sehr 
ausgesprochenem Klumpfuss, aber auch immer nur in Verbindung 
mit diesem, hat man die Tibia nur mangelhaft entwickelt, z. B. 
ohne Knöchel, rudimentär, oder wieBillroth, Albert, Thümmel, 
Ehrlich, auch ganz fehlend gefunden. Der ursprünglich erste 
Seitenstrahl war also nicht zur gehörigen Ausbildung gekommen.*) 
Billroth nimmt an, dass eine frühzeitige Verrenkung mit 
nachherigem Schwunde an dem Mangel der Tibia Schuld 
sein dürfte; in dem einen oder anderen Falle warum nicht; 
aber, da die Tibia’ wie der: Radıus in den bezüglichen 
Fällen gewöhnlich vorhanden und nur mangelhaft und vor- 
zugsweise in den unteren Teilen mangelhaft entwickelt und 
ausgebildet ist, so ist die genannte Annahme für die Mehrzahl 
der einschlägigen Fälle wohl nicht zutreffend. In diesen muss der 


fragliche Mangel in anderer Art zu Stande gekommen sein. 
Plaftfuss, sowie Klumpfuss kommen aber dadurch zu Stande, 


dass sich die Teile des inneren Fussrandes, der inneren Fuss- 
hälfte anomal entwickeln, entweder im Wachstum excedieren 
oder zurückbleiben. Der äussere Fussrand, der Fibularteil des 
Flossenstammes, beziehungsweise die Abkömmlinge desselben, 


*) Franz Thiele, Ein Fall von angeborenem Defekt der rechten Tibia. 
Dissert. inaug. Greifswald 1890 und N. Ehrlich, Untersuchungen über die 
congenit. Defekte und Hemmungsbildungen der Extremitäten. Aus dem pathol. 
Institut in Strassburg. Virchow’s Arch. für path, Anat., Bd. C., S. 107 und ff. 


122 


erweist sich so als die beständige, der innere Fussrand, die 
Flossenstrahlen, beziehungsweise ihre Abkömmlinge, als die 
veränderliche Grösse. 

Und das zeigt sich auch an anderen, entsprechenden Teilen. 
Mit Plattfuss findet sich gewöhnlich X-Bein, Genu valgum, mit 
Klumpfuss O-Bein, Genu varum, vergesellschaftet. Zwar kommen 
auch die Verbindungen von Plattfuss und O-Bein vor, selbst 
diejenigen von Plattfuss und X-Bein; allein die Regel ist, dass 
Plattfuss und X-Bein, sowie Klumpfuss und O-Bein zusammen 
vorkommen. Die Mehrzahl der Forscher hat von jeher, seitdem 
man die pathologisch-anatomischen Ursachen für diese beiden 
Missbildungen zu erforschen gesucht hat, sich dafür entschieden, 
dass neben grob mechanischen Einflüssen, wie Belastung, die. 
nicht zu unterschätzen sind, vorzugsweise doch ungleiches Wachs- 
tum in den Epiphysenlinien des Femur und der Tibia dafür 
verantwortlich zu machen sei. Von deutschen Autoren sind da 
besonders Roser zu nennen, der schon im Jahre 1859 dafür ein- 
getreten ist*), demnächst Mikulicz, der vornehmlich heutigen 
Tages dafür streitet,**) und König, welcher sich dem letzteren 
der Hauptsache nach angeschlossen hat.***) 

Das Wesentlichste am X-Bein ist ı. die Verlängerung der 
inneren Seite des unteren Teiles des Femur und des oberen 
Teiles der Tibia, so dass die untere Fpiphyse jenes und die 
obere dieser wie unter einem Winkel an die Diaphyse angesetzt 
erscheinen, und 2. die wenn auch nur geringe Vergrösserung 
des Condylus internus femoris, welche freilich auch vielfach 
bestritten wird und nur da sein soll, weil der Condylus externus 
durch Druckatrophie kleiner geworden sei, die aber dennoch 
vielfach recht wohl festgestellt werden kann. Endlich wird auch 
noch angegeben, dass die Bänder an der Innenseite des Knies 
zu lang und darum zu schlaff und die auf der Aussenseite 
wenigstens verhältnismässig zu kurz und darum zu straff seien, 
weshalb sie denn auch durchschnitten werden müssten, sollten 
gewisse Fälle von X-Bein mit Erfolg operirt werden; allein es 
wird auch dieses nicht allseitig zugegeben. 


*) W. Roser, Handbuch der anatomischen Chirurgie, Tübingen 1859, S. 778. 
**) J. Mikulicz, Die seitliche Verkrümmung am Knie und deren Heilungs- 
methode. Langenbeck’s Archiv, 1879, Bd. XXIU, S. 596 u. ff. 
***) O. F. König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 4. Aufl. Berlin 1886, 
Bar 11,28. Agonu, tt 


123 


Beim O-Beine ist das gerade Gegenteil vorhanden. Die 
äussere Seite von Femur und Tibia sind verlängert und die 
bezüglichen Epiphysen wie unter entgegengesetztem Winkel an 
die Diaphyse angesetzt, der Condylus femoris externus in Rück- 
sicht auf den Condylus internus, allein nicht an und für sich 
betrachtet, wie vergrössert, und nur der internus, der aber ent- 
schieden, wie verkleinert; in Bezug auf die Bänder indessen ist 
nichts Entsprechendes zu sagen. 


Bei X-Bein wie O-Bein ist von den Oberschenkelknochen 
also nur die Tibia krankhaft verändert und von den Ober- 
schenkelknochen, wenigstens von vornherein, nur die innere 
Seite des unteren Endes, soweit es von Epiphyse und Epi- 
physenlinie beeinflusst wird. Denn die Veränderungen an der 
äusseren Seite sind alle nur beziehentliche und wohl nichts An- 
deres, als blosse Folgezustände. Die Epiphyse aber stellt, wie 
seinerzeit hervorgehoben worden ist, nicht unwahrscheinlicher 
Weise einen ursprünglich mehr selbstständigen Teil der Flossen- 
strahlen dar, der erst nachträglich mit der Diaphyse sich verbunden 
hat und bis dahin notwendigerweise Weise unter dem Einfluss 
stand, durch welchen, wo er sich findet, der bezügliche Seitenstrahl 
der Flosse hergevorbracht wurde. Wiewohl diese Angelegenheit 
noch sehr der Klärung bedarf, erklärt sie so die fraglichen Ver- 
hältnisse doch leichter als eine andere Annahme. Da auch sonst 
die anatomischen Verhältnisse dazu auffordern, ist es viel natür- 
licher, die langen Röhrenknochen aus mehreren, zum Mindesten 
drei sich folgenden festeren Flossenstrahlenteilchen entstanden zu 
denken, als blos aus einem. Der Fall III in der oben erwähnten 
Arbeit vonEhrlich, welcher unterv.Recklingshausenarbeitete, 
und namentlich die Besprechung desselben auf S. 123 und 124 
a. a.O., bei welcher auf die Gegenbaur’sche Archipterygium- 
Theorie ebenfalls Rücksicht genommen worden ist, kann dafür 
nur als Beweis angesehen werden. 


Man hat als eine beim X-Bein sehr häufig vorkommende 
Veränderung des Oberschenkelbeines die Schlankheit seines 
Schaftes betont und davon eine geringere Widerstandsfähigkeit 
des Knochens überhaupt hergeleitet. Dem soll nicht wider- 
sprochen werden; aber wir erinnern daran, dass wir Eingangs 
angeführt haben, dass Plattfuss und X-Bein vornehmlich bei 


124 
langgliedrigen, schlanken, Klumpfuss und O-Bein bei mehr kurz- 
gliedrigen, untersetzten Individuen sich finden. 

Wo Plattfuss, Klumpfuss auch in den niedrigsten Graden 
vorhanden sind, da werden meist auch wenigstens Andeutungen 
von Platthand, wenn wir sie so nennen wollen, und Klumphand, 
Manus valga und Manus vara, gefunden, — nicht immer, es 
finden sich wohl öfter noch als die Verbindungen von Plattfuss 
und O-Bein, von Klumpfuss und X-Bein die von Plattfuss und 
Klumphand, von Klumpfuss und Platthand; allein die Regel ist 
auch hier, dass die gleichnamigen Störungen verbunden auftreten. 
Die Platthand weicht ausgestreckt mehr oder weniger nach der 
Ulnarseite, die Klumphand nach der Radialseite ab; doch ist in 
den gewöhnlich vorkommenden Fällen diese Abweichung nie 
eine erhebliche, dazu durch leicht krampfartige Bewegungen 
sehr verdeckte, und ist darum, wie es scheint, bisher vollständig 
übersehen worden. Die Kleinheit der sie bedingenden Carpal- 
knochen, in erster Reihe des Os lunatum und Os naviculare 
mag daran vorzugsweise Schuld sein. Bei der Platthand ist die 
innere Handhälfte, Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, gegenüber 
den anderen verlängert, bei der entsprechenden Klumphand 
verkürzt. Die Platthand erscheint lang und schmal, langfingrig, 
die Klumphand kurz und breit, kurzfingerig. Die Fläche der 
letzteren ist verhältnismässig gross, rundlich, die Finger, nament- 
lich die äussersten Phalangen kurz, vielfach wie abgehackt, — 
Cretinenhand der Franzosen. Sehr bezeichnend ist, dass auch 
hier bei höheren Graden der Klumphand, der Talipomanus im 
eigentlichen Sinne des Wortes, der Radius, also wieder der 
ursprüngliche Seitenstrahl, oft nur unvollkommen vorhanden ist, 
oder auch ganz fehlt. 

Von Nicoladoni*) ist ein Cubitus varus, von v. Lesser**) 
ein Cubitus valgus beschrieben worden. In den niederen 
oder auch ersten Graden in ihrer Erscheinung namentlich 
durch die beziehentliche Hyperextension dem Genu valgum, 
und durch die leichte Flexion dem Genu varum entsprechend, 
kommen sie gar nicht so selten vor und scheinen ganz wie diese 
hauptsächlich auf Veränderungen der Innen-, also der Radialseite 


*), Nicoladoni, Zur Arthrotomie veralteter Luxationen. „Wiener med. Woch.“, 
1885, pP. 729. 

**) L. v. Lesser, Über Cubitus valgus, Virchow’s Archiv für path. Anat., 
1833, Bd Xeli.p. 1. 


125 


der das Ellbogengelenk bildenden Knochen, welche herkömmlich, 
aber mit Unrecht, die äussere genannt wird, zu beruhen.*) Beide 
Formen der abwegigen Ellbogengelenkbildungen kommen am 
häufigsten da vor, wo entsprechende Missbildungen an den übrigen 
grossen Gelenken sich finden, also im Vereine mit diesen und den 
entsprechenden Miss-, oder doch wenigstens eigentümlichen Bil- 
dungen im Gesicht, besonders an den Kiefern; indessen sie finden 
sich und zwar noch öfter als die bereits erwähnten Gliedverbil- 
dungen, in allen möglichen einschlägigen Combinationen. 

Das Alles zusammengenommen weist aber -auf eine gemein- 
same Beeinflussung, ein gemeinsames Beeinflusstsein der fraglichen 
Teile hin. Diese Beeinflussung, dieses Beeinflusstsein kann bei 
dem weiten Auseinanderliegen der Teile indessen nur von einem 
Orte aus geschehen, an dem sie alle einen Vereinigungspunkt 
haben, und das wieder führt denn gleichsam von selbst auf das 
Nervensystem und in Sonderheit das Centralnervensystem. 
In diesem muss es dann eine umschriebene Stelle geben, ein soge- 
nanntes Centrum, von dem aus dieser Einfluss geübt wird, 
autonom oder functionär, automatisch oder reflectorisch, das ist 
für jetzt ganz gleichgiltig, von dem aus er aber statthat. Mit 
einem Wort: Es weist das auf nervöse Einflüsse hin, gleichviel 
wo und woher dieselben ausgelöst werden. 

Dass nervöse Einflüsse bei dem Zustandekommen der in 
Rede stehenden Missbildungen eine grosse Rolle spielen, ist auch 
seit Langem schon von den verschiedensten Seiten angenommen 
worden. In welcher Weise jedoch die nervösen Einflüsse sich 
geltend machten, darüber sind die Meinungen immer weit aus- 
einander gegangen. Am meisten wurde noch angenommen, dass 
sie durch Muskelwirkung sich zur Geltung brächten. Durch 
krampfartige Zustände derselben, Contracturen, oder durch mehr 
lähmungsartige, Relaxationen, und die dadurch hervorgerufenen 
Folgezustände käme es zu Knochenverbildungen und durch 
diese im Verein mit den anomalen Muskelwirkungen, durch 
welche auch noch der ernährende Blutumlauf gestört würde, 
zu den ausgiebigen Missbildungen, um die es sich handelt. 
Diese Annahmen sind sehr beachtenswert, erklären Vieles, 
aber nicht Alles, und sind deshalb auch immer wieder 
durch andere zu ersetzen oder wenigstens zu ergänzen 


SjeVierelave Besser, lc pe: 


126 


gesucht worden. Den rein mechanischen, von aussen her auf 
die bezüglichen Gliedmassen wirkenden Ursachen räumte man 
von Zeit zu Zeit ein mehr oder minder grosses Gewicht ein, 
und dann und wann sah man in ihnen sogar nur die einzigen 
überhaupt. Das Bäckerbein hat dem entsprechend seinen Namen 
erhalten. Der angeborene Klumpfuss soll danach bis auf die 
wenigen Ausnahmen, wo er von Vater und Mutter ererbt 
worden, nur durch uterinen Druck zu Stande kommen u. s. w. 
Die mechanischen Einflüsse sind nicht zu unterschätzen, als aus- 
schlaggebendes Moment in einzelnen Fällen gewiss sogar von 
hervorragendster Bedeutung, wie bei Bäckern, Schlächtern, 
Maurern, Kellnern zur Entwicklung eines hochgradigen Platt- 
fusses und X-Beines, aber erst dann, wenn, wie wir wiederholt 
betont haben, die Disposition dazu vorhanden ist, d. h. die 
inneren Bedingungen dazu gegeben sind. Denn wenn anders, 
warum ist das Bäckerbein selbst bei Bäckern doch immer nur 
verhältnismässig häufig, und warum findet es sich mitsamt 
dem Plattfuss auch bei Schlächtern, Maurern, Kellnern doch 
immer blos bei einem gewissen Prozentsatze derselben? 

Die fraglichen nervösen Einflüsse sind von vornherein rein 
trophische, die fraglichen Missbildungen dem zufolge Ausdruck 
rein trophischer Störungen auf Grund neurotischer Vorgänge, 
also Ausdruck von Trophoneurosen. Die fraglichen Einflüsse 
erstrecken sich von Anfang an nicht blos auf die Knochen, 
sondern auch auf die sie bedeckenden, namentlich ihnen zuge- 
hörigen Weichteile, also die bezüglichen Bänder und Muskeln, 
und diese, entsprechnd länger oder kürzer geworden, beein- 
flussen dann selbst auch noch wieder, bald stark, bald weniger 
stark die zugehörigen Knochen. 

Von jeher hat es Autoren gegeben, welche angenommen 
haben, dass Rhachitis bei der Entwickelung mancher der frag- 
lichen Missbildungen, zumal des O-Beines, eine grosse Rolle 
spiele; es ist das von anderen Autoren, wenn auch nicht ganz 
abgelehnt, so doch stark in Zweifel gezogen worden; jetzt kommt 
Mikulicz*) und erklärt, dass nicht blos die O-Beine, sondern auch 
die X-Beine rhachitischen Vorgängen ihre Entstehung ver- 
danken. Und da nun X-Bein und Plattfuss, O-Bein und Klumpfuss 
so häufig zusammen vorkommen, sich selbst eine Art Platthand 


* Mikuliczl. c., p. 620. 


mit jenen, eine Art Klumphand mit diesen vergesellschaftet 
zeigt, ja sogar Ellbogengelenke und Gesichtsknochen eine be- 
zügliche Abänderung ihrer Gestalt an den Tag legen, sollten 
da nicht auch hier immer die rhachitischen Vorgänge ihr Spiel 
treiben oder auch getrieben haben? Ich für meinen Teil sehe 
nicht ein, warum nicht. 

Unter Rhachitis versteht man einen Krankheitsvorgang 
welcher sich hauptsächlich durch einen Reizzustand im Knochen- 
bildungsgewebe, das verhältnismässig am mächtigsten in den 
Knochennähten und somit auch in den Epiphysenlinien ange- 
häuft ist, zu erkennen giebt. Eine beschleunigte Wucherung 
der betreffenden Gewebszellen ist Ausdruck jenes Reizzustandes. 
Von der Heftigkeit desselben und der Umwandlung des neuge- 
bildeten Knochenbildungsgewebes in Knochen selbst hängt es 
ab, ob vermehrtes Längenwachstum oder auffälliges Kurzbleiben 
der befallenen Knochen eintritt. Die langen Beine des Wind- 
hundes und die kurzen des Dachshundes haben in letzter Reihe 
den nämlichen Grund. Ist das Knochenwachstum auf Grund 
einer Reizung an seinen Wachstumsstätten zwar beschleunigt, 
aber nicht in dem Masse, dass die neugebildeten Knochen- 
elemente nicht noch rechtzeitig verknöchern könnten, so erfolgt 
ein vermehrtes Längenwachstum: die Glieder z. B. werden 
lang. Es geschieht das unter Anderem sehr allgemein zur Zeit 
des grössten Wachstums zwischen dem 2. und 5., sowie dem 
ı2. und 17. Lebensjahre, wofür auch Billroth, Delore und, 
wie es scheint, nicht minder wieder Mikulicz, eintreten. Ist 
dagegen jenes Wachstum so beschleunigt, dass die Verknöcherung 
mit ihm nicht Schritt halten kann, ist es darum dieser letzteren 
gegenüber auch nur verhältnismässig zu stark, weil es in Bezug 
auf sie vielleicht auch einmal blos darum zu stark ist, als sie selbst 
eine Verlangsamung erfahren hat, so entwickelt sich zunächst ein 
weiches, leichtzu verbiegendes und zu verkrümmendes Gewebe, das 
später mehr oder minder rasch verknöchert und die zum Teil 
durch Verkrümmungen bedingte, zum Teil mit ihnen blos ver- 
gesellschaftete Kürze der befallenen Knochen zur Folge hat. 
Das ist der rhachitische Prozess, die Rhachitis xat’ &Zoynv, welche 
als Ausdruck nervöser Affectionen durch die Erfahrungen 
namentlich Schiffs eine sehr kräftige Bestätigung erhalten hat. 
Werden nämlich die sämtlichen Nerven einer Extremität, also 


128 


an der unteren z. B. die Nn. ischiadicus und cruralis durch 
schnitten, so wird mit der Ernährung der Weichteile jener auch 
die der Knochen in Mitleidenschaft gezogen, und zwar werden 
bei ausgewachsenen Individuen sie im Verlaufe von einigen 
Monaten blos einfach dünner, indem sie an Umfang verlieren, 
während bei noch wachsenden sie geradezu entarten. Sie er- 
weichen, werden knorpelartig, verkrümmen in Folge dessen 
und, da ihr Periost unregelmässig zu werden anfängt, ungleich- 
mässig an Dicke und Umfang zunimmt, werden sie selbst auch 
ungleich dick und umfangreich. Sie erscheinen verkrümmt und 
an verschiedenen Stellen wie aufgetrieben. Endlich kann das 
besagte Wachstum und die besagte Verknöcherung gleichzeitig 
beschleunigt sein; die letztere ist es aber in höherem Grade; 
die Bildungszellen verfallen vorzeitig samt und sonders der 
fraglichen Verknöcherung; sogenannte Bildungshemmungen im 
engeren Sinne, Stehenbleiben auf früheren Entwicklungsstufen, die 
eine Kürze der Glieder, vielleicht Kleinheit und Zartheit des ganzen 
Körpers, Zwergwuchs, nach sich ziehen, sind dann die Folge. 
Dass der rhachitische Prozess immer zu argen Verbildungen, 
Verkrümmungen führe, ist darum nicht notwendig, und Miku- 
licz dürfte deswegen gar nicht Unrecht haben, wenn er die an- 
scheinend verschiedenartigsten Dinge auf denselben zurückführt. 
Allein was ist der schlechtweg sogenannte rhachitische Process? 
Doch nichts weiter als der Ausdruck eines Allgemeinleidens an 
bestimmten Orten. Und da diese Orte in Bezug auf den Gesamt- 
körper zumeist eine symmetrische Lage aufweisen oder in 
sonstiger bestimmter Beziehung stehen, wie Tibia und Radius, 
Fibula und Ulna, oder Hand- und Fussgelenk überhaupt, so ist 
es wohl nicht anders möglich, als dass das Leiden sich örtlich 
nur durch das Nervensystem, speziell durch einen beschränkten 
Raum im Centralnervensystem, von dem die bezüglichen peri- 
pherischen Nerven ihren Ursprung nehmen, zum Ausdruck 
bringt. Der rachitische Process, abgesehen von dem ihm zu 
Grunde liegenden Allgemeinleiden, würde damit zuletzt auch 
nichts Anderes als einen neurotischen Vorgang, eine neurotische 
Östeitis, kurzweg eine Trophoneurose darstellen. Auf Trophoneu- 
rosen würden die fraglichen Missbildungen, zumal also Plattfuss 
und Klumpfuss, auch aus diesen Gründen zurückzuführen sein, 
und ersichtlich wird damit wie von der Geartung dieser Neurosen, 


129 
ihrer Gleichmässigkeit oder Ungleichmässigkeit es abhängt, ob 
der bezügliche Gliederbau ein mehr gleichmässiger oder ungleich- 
mässiger wird, warum in der Regel die gleichnamigen Ab- 
weichungen in ihm zur Entwickelung kommen, warum das 
aber nicht gerade sein muss, warum also z. B. Plattfuss und O-Bein, 
Klumpfuss und Platthand, ja selbst die nicht so gar seltene Com- 
bination von Plattfuss und Klumpfuss sich ausbilden kann. Die 
einzelnen Glieder der einzelnen ursprünglichen Flossen-,beziehentlich 
Seitenstrahlen derselben erhalten in Folge ungleicher Beeinflussung 
eine ungleiche Ausbildung: Die Tarsalknochen bleiben kurz, ver- 
krüppeln, während die Metatarsalknochen, namentlich ihr vorderes 
Ende und die sich ihnen anreihenden Phalangen lang werden. Jeder 
dieser Knochen, beziehentlich jedes dieser Glieder hat ja seine 
besonderen Nerven und ist natürlich mittelst dieser im Central- 
nervensysteme besonders vertreten. 

Wenn dem nun in der That so ist, warum wird von den 
fraglichen trophoneurotischen Störungen gerade die Innenseite 
der Glieder, die Radial- und Tibialseite derselben befallen? 
Denn die Radialseite des Armes ist ja, wie die Tihialseite des 
Beines, die Innenseite geworden, und nur eine falsche anatomische 
Betrachtungweise, welche die durch Gebrauch entstandene Dreh- 
ung des Humerus ausser Acht liess, die wieder freilich erst nach 
Darwins Auftreten gewürdigt werden konnte, hat den Daumen, 
die grosse Zehe der Hand, und mit ihm den Radius an die 
Aussenseite des Armes gebracht. Entsprechend musste dann 
freilich der ursprüngliche Condylus internus humeri zu einem 
Cond. externus und der ursprüngliche Cond. externus zu einem 
internus werden. Praktisch ganz gleichgültig, hat das aber für 
die Beurteilung mancher Vorgänge Bedeutung, und es wäre 
deshalb vielleicht besser, statt von Cond. externus und internus 
von Cond. ulnaris und radialis, fibularis und tibialis zu reden. 
Doch das nur zur augenblicklichen Verständigung, sonst bleibt die 
Frage: Warum machen sich die fraglichen trophoneurotischen 
Störungen geradeander Radial- und Tibialseite der Glieder geltend? 
Weil die Gebilde dieser letzteren aus ursprünglichen Flossen- 
seitenstrahlen hervorgegangen sind, und diese als Äste des 
Flossenstammes, wie sie schon auf den ersten Blick schwächer 
und zarter als dieser selbst erscheinen, wirklich auch schwächer, 
zarter und darum widerstandsloser und leichter beeinflussbar 


9 


sind, als er oder die aus ihm hervorgegangenen Teile. Die 
Äste eines Stammes sind immer schwächer, darum biegsamer 
und veränderlicher als der Stamm selbst. 

Die Gliedmassen eines Tieres sind schon an und für sich 
veränderlicher als sein Stamm; es müssen so auch gewisser- 
massen die Gliedmassen der Gliedmassen veränderlicher sein als 
ihr Stamm. Der Stamm ist immer den Ästen gegenüber der 
stärkere, widerstandsfähigere und deshalb beständigere Teil. 

Zwar sind auch mangelhafte Entwickelung beziehentlich gänz- 
liches Fehlen der Ulna und Fibula bekannt geworden, — der Radius, 
die Tibia sollen dann fast immer, wie bei den Equiden, stärker ent- 
wickelt und hauptsächlich dicker gewesen sein —; allein das spricht 
nicht dagegen. Geht ein Baum der Spitze seines Stammes, d.i. 
seiner Axe verlustig, so erhebt sich einer der nächsten seiner 
Äste, wird stärker und übernimmt gewissermassen die Führung 
des Stammes als neue sekundäre Axe. Er wird aber damit 
eben Axe, Stamm, wenigstens Ersatz desselben, wenn auch nicht 
ohne Verkrüppelung, und in Bezug auf seine Äste wird er, was er 
selbst ursprünglich in Bezug auf den Stamm, die primäre Axe, war. 

Und nun kommt das biologische Grundgesetz zur Geltung: 
Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel- 
starke fördern sie, starke hemmen sie, und stärkste 
heben sie auf. 

Eine gewöhnliche Reizung lässt die Glieder gewöhnlich 
lang werden; eine stärkere, sogenannte mittelstarke, hat die 
langen Beine des Windhundes, eine noch stärkere, sogenannte 
starke, die kurzen, krummen Beine des Dachshundes zur Folge; 
eine übermässig starke Reizung lässt, wie bei Talipomanus, den 
Radius, oder bei Pes varus den Processus lateralis calcanei, die 
Tibia rudimentär werden oder scheinbar auch ganz ausfallen. 

Drehen wir das biologische Grundgesetz aber um und lassen 
wir die Reizgrösse die stetige, die Beeinflussbarkeit der Indivi- 
dualität die veränderliche Grösse sein, so ergiebt sich: „Unter 
einer bestimmten, sagen wir der alltäglichen Reizein- 
wirkung entwickeln sich kräftige und auch blos kräf- 
tiger veranlagte Individuen in alltäglicher Weise, d.h. 
was wir normal nennen. Etwas schwächer veranlagte, 
mässig reizbare Individuen, auf welche die genannten 
Reize bereits als sogenannte mittelstarke wirken, ent- 


131 


wickeln sich zu grösserem Längenwachstum; ihre 
Gliedmassen strecken sich, und namentlich sind es bei 
einer geringeren Steigerung dieser Reizbarkeit die 
inneren Seiten der Glieder, welche, ein grösseres 
Wachstum zeigen. Pes valgus, Genu valgum, Manus 
valga, Cubitus valgus sind die Folge. Sind die be- 
treffenden Individuen noch schwächer veranlagt, daher 
sehr widerstandslos und im hohen Grade reizbar, so 
verhalten sie sich den gedachten Reizen gegenüber wie 
bereits starken; ihr Wachstum erfährt eine Hemmung, 
die Glieder bleiben kurz und namentlich wieder an 
ihrer Innenseite. Pes varus, Genu varum, Manus vara, 
Cubitus varus kommen zur Ausbildung. Sind endlich 
die Individuen sehr schwach, so sterben sie schon unter 
der Einwirkung der alltäglichen Reize, oder wenn sie 
nur in einzelnen Teilen diese Schwäche besitzen, so 
kommen diese nicht zur Entwickelung. Der Radius fehlt, 
die Tibia fehlt, der Processus calcanei lateralis fehlt.“ 

Fassen wir nun das Ergebnis unserer Untersuchungen zu- 
sammen, so ergiebt sich: Der Plattfuss und die ent- 
sprechenden Gliedverbildungen sind der Ausdruck 
einer allgemeinen, aber doch noch verhältnismässig ge- 
ringen Schwäche und Widerstandslosigkeit des Körpers 
überhaupt; der Klumpfuss und die ihm entsprechenden 
Gliedverbildungen dagegen sind der Ausdruck einer 
eben solchen, aber viel weiter gediehenen Schwäche, 
einer bereits mehr oder minder grossen Hinfälligkeit. 
Die Schwäche, Widerstandslosigkeit, Hinfälligkeit sind indessen 
das Hauptwesen der Entartung oder Degeneration. Plattfuss 
und Klumpfuss sind damit aber in der That, wie von einer 
Reihe von Anthropologen und Aerzten, namentlich Irrenärzten, 
behauptet wird, Degenerationszeichen, Stigmata degenera- 
tionis, jener je nach seinem Grade ein noch mehr oder minder 
leichtes, dieser ebenfalls je nach seiner Entwicklung ein schon 
mehr oder minder schweres. Das Zustandekommen beider erfolgt 
nach dem biologischen Grundgesetz, das auch hier seine Macht 
entfaltet: „Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, 
mittelstarke fördern sie, starke hemmen sie, und stärkste 
heben sie auf.“ 


— 0 9# 


132 


- 


d. 
Riesen, Zwerge und das biologische 
Grundgesetz, 


Auf dem X. internationalen medizinischen Kongress im Jahre 
1890 zu Berlin hatte ich in der Abteilung für die Kgl. psychiatrische 
Klinik zu Greifswald eine Reihe von Gypsabgüssen, namentlich. 
von Händen, Füssen, Ohren, ausgestellt. Sie sollten dazu dienen, 
das Wesen der sogenannten Stigmata degenerationis erläutern 
zu helfen. Sie betrafen daher fast ausschliesslich Missbildungen,, 
beziehentlich Verbildungen, welche durch die Symmetrie, mit der 
sie an beiden Körperhälften aufgetreten waren, oder die Cor- 
relation, in der sie sonst nachweislich standen, darthaten, dass, 
nicht sowohl rein lokale Ursachen sie verschuldet haben könnten,, 
als vielmehr Umstände, Verhältnisse, welche mehr oder weniger 
gleichmässig durch den ganzen Körper, in Sonderheit das Nerven- 
system, namentlich das Centralnervensystem, auf sie gewirkt 
haben müssten. Vornehmlich waren es zwei Gruppen von 
zusammengehörigen Händen und Füssen einer Person, welche: 
dies zu beweisen schienen. Beide Gruppen stammten von Schwach- 
sinnigen, beziehentlich geistigen Schwächlingen mit allerhand 
Abwegigkeiten und selbst Verkehrtheiten her, welche beide in- 
dessen noch immer im Stande waren, der eine als Fischer-, der 
andere als Ackerknecht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die 
beiden Gruppen sollten ebenso wie alle übrigen bezüglichen 
Abgüsse beweisen, dass der jeweilige Schwachsinn, die jeweiligen 
Abwegigkeiten und Verkehrtheiten nicht minder blosser Ausfluss. 
einer mangelhaften, zu abwegigen und selbst verkehrten Pro- 
duktionen geneigten Natur sei, wie diese letzteren selbst. Denn 
das ist eben das Wesen der Stigmata degenerationis, dass sie als. 
Ausfluss, Produkt, einer abwegigen, aus der Art geschlagenen, 
also entarteten, degenerierten Natur, diese selbst anzeigen, kenn- 


133 


zeichnen. Sie sind deshalb, seit B. Morel zuerst mit aller Ent- 
schiedenheit auf ihre Bedeutung aufmerksam gemacht hat, allein 
ohne sich des bezüglichen genaueren Zusammenhanges be- 
wusst geworden zu sein, noch mit viel grösserer Rücksicht in 
allen anthropologischen Fragen zu behandeln, als man dies zur 
Zeit noch im Allgemeinen zugestehen will. 

Die eine der besagten Gruppen bestand aus Händen und 
Füssen, an denen die vierten Metacarpal- und Metatarsalknochen 
zum Teil auffällig verkürzt waren. Der entsprechende rechte 
Metacarpalknochen war es nur unbedeutend; sein Köpfchen 
erschien, und zwar auch blos bei schärferem Zusehen, etwas 
schmächtiger. (Fig. 1.) Dagegen war der linke um ı,5 cm hinter den 
benachbarten zurückgeblieben, und eine tiefe Grube zwischen den 
Knöcheln beziehentlich Köpfchen des dritten und fünften Meta- 
carpalknochens war die Folge davon. Der vierte Finger selbst 
sowie seine Glieder liessen zwar keine einschlägigen Abweichungen 
stärkerer Art erkennen; doch waren alle ihre Masse knapp, 

a 


Fig. 1. Fig. 2. 
wo die der rechtsseitigen voll waren. (Fig. 2.) Die bezüglichen Meta- 
tarsalknochen erwiesen sich ebenfalls um ı,5 cm kürzer als die 
benachbarten. Die ihnen zugehörigen vierten Zehen waren dazu 
erheblich kürzer und krummer, als sie in ihrem Verhältnis zu 
den übrigen sein sollten, und sassen auf Grund dessen rund 
1,5 cm hinter denselben wie auf dem Fussrücken. Sie lagen in 
Folge davonwieder auch grossen Teils auf den fünftenkleinen Zehen, 
diese zur Hälfte bedeckend, auf. Sie waren etwa 3,5 cm lang. 
Ungefähr ı cm kam davon auf ihr erstes Glied; während die 
ersten Glieder der benachbarten Zehen 2,o cm und darüber 


134 


massen. Was an den Händen schon bemerkt worden war, zeigte 
sich auch an den 
Füssen. Der linke 
Fuss war hinterdem 
rechten in der Ent- 
wickelungein wenig 
zurückgeblieben. 
Namentlich erreich- 
ten seine etwas 
schmächtigeren Zehen nur knapp das Mass, das jene voll 
besassen. Auch befanden sich dieselben anhaltend in einer 
krampfigen Stellung, leichten Flexion, und waren deshalb krummer 
als die des rechten Fusses. Sie befanden sich also offenbar in 
einem erhöhten Reizzustande denen der rechten Seite gegenüber. 
SonstwarenHände 
und Füsse gut ge- 
bildet u. konnten, 
namentlich die 
ersteren, ohne ir- 
gend welche Be- 


hinderung ge- 
braucht werden. 
Bei den letzteren wirkte nur das Schuhzeug angeblich öfters 
recht störend ein. (Fig. 3. 4.) 

Die andere der bezeichneten Gruppen wurde aus Händen 
und Füssen zusammengesetzt, welche bei sonstiger, in Ganzen 
guter Ausbildung einige merkwürdige Fehler an den Fingern 
und Zehen aufwies. Die rechte Hand hatte nur einen Stummel- 
daumen (Fig. 5.), die linke gar keinen (Fig. 6.). Es versteht sich 
von selbst, dass danach geforscht worden ist, ob derselbe 
etwa erst im Laufe der Zeit verloren gegangen; aber nein; er 
hat von Geburt an gefehlt. Der Stummeldaumen rechterseits, 
um ungefähr 1,0 cm kürzer, als er der Hand nach hätte sein 
müssen, war sehr schmächtig; namentlich sein letztes Glied war 
dünn, ausgesprochen kegelförmig, zitzenförmig. Eine ähnliche, 
nur nicht so scharf hervortretende Form hatten auch die beiden 
letzten und vornehmlich wieder das letzte Glied des linken Zeige- 
fingers (Fig. 5. 6.). Die Füsse waren leichte Klumpfüsse, zeigten 
wenigstens den Übergang dazu. Am rechten Fuss (Fig. 7.) 


waren die Nagelglieder der Zehen, insbesondere das der grossen 
Zehe kurz. Am linken Fusse (Fig. 8.) fehlte das Nagelglied 
der grossen Zehe ganz, und ihr erstes war verkürzt, stummelig. 


Dre, 5 
Von seiner zweiten Zehe war nur das erste Glied vorhanden, 
von der dritten und vierten ebenfalls nur dieses und zwar in 
Sonderheit von der letztgenannten dieses, sogar blos sehr 
rudimentär. Die fünfte, kleine Zehe fehlte vollständig. 


Bis 7: Fig. 8. 


Wenn wir nun die beiden Gruppen unter einem Gesichts- 
punkt betrachten, so ergiebt sich zunächst, dass die sämtlichen 
Fehler und die durch sie bedingten Missbildungen, beziehentlich 
Verbildungen, welche in ihnen zur Anschauung kamen, sich 
vornehmlich stark ausgebildete an den Gliedern der linken 
Körperseite fanden. Es entspricht das ganz dem, was ich u. 
A. schon im Jahre 1885 in meinem Buche „die Neurasthenie* 
S. 99—101 gesagt habe, dass alle Dystrophien und aus ihnen 
hervorgehenden sonstigen Dysergasien, ihren Sitz vorzugsweise 
links haben, und der Grund davon sei, dass erfahrungsmässig 
die linke Seite die schwächere, widerstandslosere, darum aber 


136 

reizbarere, veränderlichere und mithin auch zu abwegigen, krank- 
haften Vorgängen und Bildungen geneigtere sei. Sodann sehen 
wir, dass die bezüglichen Missbildungen, Verbildungen in einem 
offenbaren Zusammenhange, in Correlation, stehen. In der ersten 
Gruppe sind es hauptsächlich die vierten Metacarpal- und Me- 
tatarsalknochen, sowie die beiden vierten Zehen, welche das zu 
erkennen geben, in der zweiten entsprechende Teile der Hände 
und Füsse überhaupt. Das letztere weist darauf hin, dass von 
einem gemeinsamen Mittelpunkte aus die Bedingungen zu den 
fraglichen Missbildungen oder Verbildungen gewirkt haben 
müssen, und das erstere, dass das nur vermittelst des Nerven- 
systemes, und in Sonderheit der Teile desselben geschehen sein 
kann, welche durch den bedeuteten gemeinsamen Mittelpunkt 
die miss- beziehentlich verbildeten Teile mit einander in Beziehung, 
Verbindung, in Correlation, setzen. 

Der fragliche Mittelpunkt selbst kann danach auch blos ein 
Teil des Nervensystemes und zwar des Centralnervensystemes 
sein. Er muss in ihm das sogenannte Centrum darstellen, von 
welchem aus die Innervation der Gliedmaassen stattfindet oder 
auch, durch das dieselbe blos vermittelt wird. Von diesem 
Centrum aus oder, wohl richtiger gesagt, durch dieses Centrum 
hindurch wurde die Ernährung der sich bildenden Gliedmassen 
geregelt. Denn dass die Ernährung der einzelnen Körperteile‘ 
durch das Nervensystem geregelt wird, dass sie vielleicht sogar 
blos unter dem Einflusse desselben vor sich geht, ist eine nicht 
zu beanstandende Thatsache. Es giebt ganz entschieden tro- 
phische Nerven und, wie ich in du Bois-Reymond’s Archiv für 
Anatomie und Physiologie vom Jahre 1891 und zwar in seiner 
physiologischen Abteilung in der Abhandlung „Über trophische 
Nerven“ z. B. S. 67, 74, 75 u. a. m. glaube dargethan zu haben, 
ist jeder Nerv, unbeschadet seiner sonstigen Thätigkeit und im 
Besondern auch seiner Energie, in erster Reihe ein ernährungs- 
regelnder, trophischer. Die Innervation der Gliedmassen durch 
jenes fragliche Centrum würde so vorzugsweise für die Er- 
nährung jener von Bedeutung sein. Da aber die linke Seite, 
wie die Erfahrung gelehrt hat, die schwächere, widerstandslosere 
und reizbarere überhaupt ist, so müssen das auch ihre Nerven 
sein. Und in der That hat die Erfahrung auch dies gelehrt. 
Die Nerven der linken Körperhälfte, namentlich sogenannter 


137 


nervöser Menschen, zumal hysterischer, sind ungleich reizbarer, 
ungleich erregbarer, als die der rechten. Die von dem be- 
sagten Centrum nach den Gliedmassen ausgehenden, beziehent- 
lich auch blos durch dasselbe hindurch gehenden Reize, Er- 
regungen mussten danach denn auch, ganz abgesehen von 
anderen Verhältnissen, die linksseitigen Nerven anders, vor 
Allem viel stärker erregen, als die rechtsseitigen, und damit 
denn auch andere Ernährungsvorgänge und davon abhängige 
Bildungen zur Folge haben. 

Nun wissen wir jedoch: Kleine Reize, ehe nur zu schwachen 
Erregungen führen, fachen die Lebensthätigkeit blos an, unter- 
halten sie gerade, stärkere, sogenanntemittelstarke, welchestärkere, 
sogenannte mittelstarke Erregungen hervorrufen, verstärken 
dieselbe und fördern sie damit, noch stärkere, sogenannte 
starke Reize, die starke Erregungen setzen, beeinträchtigen und 
hemmen damit die Lebensthätigkeit, und stärkste heben sie auf. 
Da wir allen Grund haben anzunehmen, dass im Grossen und 
Ganzen immer dieselben Reize und zwar mit immer derselben Kraft 
aufdieinBetrachtkommenden Teiledes Nervensystemes und nament- 
lich desCentralnervensystemesgewirkt haben, so müssen die Erreg- 
barkeitsverhältnisse dieser Teile und namentlich wieder der des Cen- 
tralnervensystemes vorzugsweise hinsichtlich der Stärke von den ge- 
wöhnlichen sehr abweichend gewesen sein. Sie müssen ver- 
mehrte, gesteigerte gewesen sein und zwar in Bezug auf die 
linke Seite in ungleich höherem Masse, als auf die rechte; 
allein, was die Veranlassung dazu gegeben hat, das entzieht 
sich zunächst wenigstens noch unserer Erkenntnis. Eine Er- 
krankung jener Teile, in Folge deren sie widerstandsloser und 
damit reizbarer wurden, wird daran, wie wir sagen, Schuld 
gewesen sein. Die entsprechende Erkrankung jedoch war 
unter allen Umständen die Folge einer Überreizung durch 
stärkere oder auch starke Reize, und daraufhin mussten denn 
natürlich alle nachfolgenden Reize auf die betreffenden Teile 
immer stärker einwirken, als auf die anderen, nicht überreizten, 
weil nicht erkrankten Teile. 

Je nach dem Grade, dass die fragliche Überreizung statt- 
gefunden hatte, und an den Stellen des Centralnervensystemes, 
welche erfahrungsmässig der schwächeren linken Seite ent- 
sprechen, hatte sie entschieden einen höheren Grad erreicht, 


138 


hatten nun auch die von ihnen innervierten Gliedmassen ihre 
Ausbildung erfahren. Alle Reize hatten auf die fraglichen Stellen 
und Nerven als starke gewirkt. Die in Betracht kommenden 
Gliedmassen waren deshalb nicht zu ihrer gehörigen Ent- 
wickelung und Ausbildung gekommen; sie waren in ihnen gehemmt 
worden und je nachdem, waren sie kurz und dünn geblieben oder 
ganz ausgefallen. Aus diesem Grunde sahen wir in der zuerst 
besprochenen Gruppe vom rechten Os metacarpi quartum nur 
das Köpfchen etwas verschmächtigt, das ganze linke gleich- 
namige Os dagegen um ı,5 cm verkürzt, sowie den zugehörigen 
Ringfinger in allen seinen Massen knapper als den rechten; und 
an den Füssen erkannten wir, dass, wenn auch die näher be- 
zeichneten Missbildungen wohl so ziemlich gleich waren, doch 
die übrigen Teile der Füsse, namentlich ihre Zehen linkerseits. 
dünner, schmächtiger, in allen ihren Massen ebenfalls knapper 
sich erwiesen, als rechterseits. Auch hatten die letzteren eine 
Art Krampfstellung uud erschienen deshalb krumm. Aus dem 
nämlichen Grunde sahen wir dann weiter in der zu zweit be- 
sprochenen Gruppe am rechten Fusse nur die grosse Zehe in 
ihrem Nagelgliede etwas verkürzt, den rechten Daumen als 
einen blossen Stummeidaumen, an der linken Hand den Daumen 
ausgefallen, ftehlend, dazu den Zeigefinger namentlich in seinen 
Endgliedern verschmächtigt, und am linken Fusse die sämt- 
lichen Zehen teils nur halb, teils blos rudimentär, teils gar nicht 
vorhanden. Das oben angeführte biologische Grundgesetz hatte 
sich in seiner zweiten Hälfte, dass starke und stärkste Reize 
die Lebensthätigkeit hemmen und vernichten, die Entwickelung 
der Glieder beeinträchtigen, zurückhalten, oder gänzlich unter- 
drücken, sowie ich dieSache nuneinmalansehe, vollständig bewährt. 

Im Jahre 1889 habe ich einen Mann ärztlich zu behandeln 
gehabt, der mir als Alkoholist zugeführt worden war. Der 
Mann kam mit einem gebrochenen rechten Unterschenkel an. 
Der entsprechende Bruch heilte zwar; aber das Bein wurde da- 
bei immer krummer, zumal, seitdem kein Verband dauernd mehr 
an ihm geduldet, sondern nach ein paar Tagen immer und immer 
wieder abgerissen wurde. 

In Anbetracht aller sonstigen Verhältnisse musste eine ein- 
seitige stärkere Calluswucherung für dieses Kruimmmwerden ver- 
antwortlich gemacht und dem Patienten wegen seines unruhigen 


Verhaltens die Schuld daran zugeschrieben werden. Nach eini- 
gen Monaten stellte sich heraus, dass Patient ein beginnender 
Tabiker war. Gastrische Krisen hatten den ersten Verdacht 
dazu aufkommen lassen; nachdem sie ein paar Wochen in wech- 
selnder Stärke bestanden hatte, konnte er nicht mehr von der 
Hand gewiesen werden. Die beginnende Tabes, Tabes dorsualis, 
mit ihren Symptomen hatte den Mann bei einem Teil seiner 
Umgebung in den Geruch eines Alkoholisten gebracht. Es 
lagen sonst wenig Anhaltspunkte dafür vor, und von einem 
anderen Teile seiner Umgebung wurden auch diese durchaus 
bestritten. 

Es ist nun bekannt, dass im Verlaufe der Tabes dorsualis 
sehr weitgehende Knochenatrophien vorkommen. Charcot hat 
ja welche beschrieben, durch die ganze Gelenkenden, z. B. des 
Femur verloren gegangen waren. In unserem Falle dagegen 
handelte es sich um eine Knochenhypertrophie. Denn eine 
Calluswucherung ist doch am Ende nichts Anderes als eine 
Knochenhypertrophie oder auch Knochenhyperplasie, was in- 
dessen für den Fall ganz gleichgültig ist; sollte die Tabes, die 
beginnende Tabes dorsualis auch solche verschulden können? 

Dass die beginnende Tabes dorsualis sich durch allerhand 
Hyperergasien kund giebt, dass diese gewissermassen zu den 
Vorläufern derselben gehören, ist eine alte Erfahrung. Ganz 
abgesehen von den mannigfachen Hyperästhesien und Hyper- 
algien, den viel berufenen Hyperaesthesiae sexualis und urinaria, 
den berüchtigten Neuralgien, Myalgien, Arthralgien, legen die 
Hyperkinesien im Gebiete der Nn. erigentes penis, die zu qual- 
vollen Priapismen, die Hyperkinesien des M. Detrusor vesicae, 
welche zu der gefürchteten Incontinentia urinae führen, dafür 
Zeugnis genug ab. Dasselbe thun auch das nervöse Erbrechen, 
die nervösen Athembeschwerden, welche die sogenannten Crises 
gastriques, lanryngees etc. bedingen, sowie die Hyperkinesien 
in den Extremitätenmuskeln, auf welche hin die unheimlichen 
Zuckungen in denselben erfolgen. Nicht minder Zeugnis legen 
dafür aber auch ab die verschiedenen Hyperekkrisien, die 
Hyperuresis, Hyperhidrosis, Hypersialosis, die zeitweise alle 
Aufmerksamkeit erregen, und endlich auch manche Hypertrophien 
oder Hyperplasien. Unter den letzteren sind namentlich die der 
Gelenkenden der Knochen hervorzuheben. Sie bedingen eine 


140 
mehr oder minder grosse Anschwellung derselben, damit ein der 
Arthritis nodosa ähnliches Bild, und gehen mehr oder minder 
unmittelbar den atrophischen Zuständen vorauf, welche, wie er- 
wähnt, von Charcot bekannt gemacht und danach auch von 
Andern gesehen worden sind. Die Annahme, dass die besagte 
Calluswucherung mit der beginnenden Tabes dorsualis im Zu- 
sammenhang gestanden habe, ein Ausfluss der Reizzustände des 
Rückenmarkes oder einzelner seiner Teile gewesen sei, welche 
sich später auch sonst noch zu erkennen gegeben haben, war darum 
keineswegs ungerechtfertigt. Unter der mittelstarken Reizung 
vornehmlich einzelner, die gegebene Callusbildung vermittelnder 
Nerven kam es zu entsprechenden Wucherungen bei derselben 
und in Folge dessen zu ungleicher Entwickelung des Callus selbst. 
In Folge hiervon wieder wurden sodann die bezüglichen Bruch- 
enden in verschiedener und zwar einseitiger Weise auseinander 
gedrängt, und der Unterschenkel selbst musste damit krummer 
und krummer werden. Dass anhaltende Nervenreizung, z. B. 
des N. ischiadicus, zur Vergrösserung des Schenkels und Fusses 
führt, ist ja von Lewaschew experimentellnachgewiesen worden. 

Wir würden demgemäss aber auch für die Vorgänge bei der 
Tabes dorsualiss, und im Besondren für die die Knochener- 
nährung und mit ihr das Knochenwachstum betreffenden, die 
Gültigkeit des biologischen Grundgesetzes als erwiesen zu be- 
trachten haben. Im Beginne der Tabes, wenn die Widerstands- 
fähigkeit des Körpers und namentlich seines Nervensystemes 
nachzulassen beginnt, und daraufhin die alltäglichen schwachen 
Reize anfangen als stärkere, mittelstarke, zu wirken, kommt es 
zu Gelenkendenanschwellungen, zu gelegentlichen Callus- 
wucherungen und mit letzteren auch zu vermehrtem Längen- 
wachstum. Unter Anderm, z. B. wenn dieses vorzugsweise ein- 
seitig vor sich geht, vird dadurch Verkrümmung des bezüg- 
lichen Gliedes herbeigeführt. Wenn danach im weiteren Ver- 
laufe der Tabes die Widerstandsfähigkeit des Körpers und 
wieder namentlich seines Nervensystemes noch mehr sinkt und 
deswegen seine Reizbarkeit noch mehr gesteigert wird, wirken 
die alltäglichen Reize mehr und mehr als starke ein; es kommt 
zu Hypotrophien der Knochen und Knorpel, die sich auf Grund 
sogenannter rarifizierender OÖsteitiden in einer abnormen Brüchig- 
keit kund geben. Sinkt endlich die Widerstandsfähigkeit des 


Körpers und seiner Nerven auf das Tiefste herab, wird seine 
Reizbarkeit damit auf das Höchste gesteigert, so dass er sich 
wie man sagt, gewissermassen selbst verzehrt, so verzehren sich 
auch seine Knochen, und es kommt zu dem weitgehenden Schwunde 
an denselben, mit welchem uns Charcot bekannt gemacht hat. 

Im Jahre 1886 ist von Marie ein Krankheitsbild beschrieben 
worden, das er mit dem Namen Akromegalie belegt hat. Es 
ist dadurch gekennzeichnet, dass einzelne Glieder, namentlich 
die Extremitätenenden, Füsse, Hände, der Unterkiefer, die Nase 
ein stärkeres Wachstum erfahren, beziehungsweise erfahren haben 
und in Folge dessen grösser als gewöhnlich, länger und haupt- 
sächlich dicker geworden sind. In den zuständigen Kreisen 
streitet man indessen noch immer darüber, ob die Akromegalie 
eine blosse einfache Wachstumsabweichung oder eine eigentliche 
Krankheit darstelle. dem Riesenwuchse zuzuzählen sei oder 
unter einem ganz eigenen Gesichtspunkte betrachtet werden 
muss. Nichtsdestoweniger neigen doch die meisten Kundigen 
zu der Ansicht, dass, wie dem auch immer sei, die die Akro- 
megalie hauptsächlich bezeichnende Vergrösserung einzelner 
Glieder als ein Ausfluss besonderen Nervenlebens, einer beson- 
deren Innervation dieser letzteren, der Riesenglieder, anzusehen 
sei, und namentlich ist es v. Recklinghausen*) gewesen, 


der sich in disem Sinne ausgesprochen hat. In Anbetracht des 
erst von der Tabes dorsualis Mitgeteilten hätten wir demnach 


in der akromegalischen Vergrösserung der betreffenden Glieder, 
welche erstere trotz aller Einwendungen doch immer einen auf 
diese letzteren beschränkten Riesenwuchs darstellt, den trophi- 
schen Ausdruck einer mittelstarken Nervenreizung zu sehen, die 
allerdings aus den verschiedensten Ursachen entsprungen sein 
kann, das eine Mal aus intercurrenten Nervenkrankheiten 
hervorging, wie in dem Fall von Holschewnikoff, das 
andere Mal durch die ganze Anlage des Individuums, eine ge- 
wisse Schwäche und Reizbarkeit seiner Teile bedingt war, wie 
Freund**) des haben will. Eine Verstärkung dieser Reizung 
führte dann zu entsprechenden Zwergformen, wie wir sie z. B. 


*) F. v. Recklinghausen. Ueber die Akromegalie. Vircow’s Archiv für 
pathol. Anat., Physiol. u. kl. Med. Bd. ıı19 S. 5ı. u. ff, 

**) V. A. Freund. Ueber Akromegalie. Volkmann’s Sammlung klin. Vor- 
träge. Serie IX., Nr. 329/30. 


142 


in den oben näher besprochenen Gruppen von Händen und Füssen 
kennen gelernt und endlich zu dem Ausfall sämtlicher Bildung, 
wie wir das ebenfalls daselbst in Erfahrung gebracht haben. 

Was von einzelnen Nerven, einzelnen Bezirken im Nerven- 
und besonders im Centralnervensysteme gilt, das gilt auch von 
dem Nervensysteme als Ganzem. Es kann einmal auch das 
gesamte Nervensystem, wenn auch vielleicht nicht erkrankt im 
landläufigen Sinne des Wortes, so doch schwächer, und damit 
widerstandsloser und reizbarer als gewöhnlich, d. h. beim Durch- 
schnittsindividuum sein. Die Neurastheniker, die Hysteriker, bei 
denen die einzelnen Nervenfasern, Nervenzellen, Ganglienkörper 
mehr oder weniger allgemein dünner, schmächtiger, zarter, un- 
fertiger, mit einem Worte hypoplastisch gegenüber denen 
gesunder, nervenstarker Individuen geblieben sind, liefern den 
Beweis dafür. 

An verschiedenen Orten z. B. Virchow’s Archiv f. patholog. 
Anat., Physiologie u. kl. Med. Bd. LXI in dem Artikel „Apho- 
rismen zur patholog. Anatomie der Centralorgane d. Nerven- 
systems“. S. 112; ın Bd. EXV Il Zinadem, Artikel; „Über die 
Bedeutung der Markscheiden der Nervenfasern“ S. 4r u. ff., in 
Bd. LXXII in dem Artikel: „Über einige bemerkenswerte Ver- 
schiedenheiten im Hirnbau des Menschen“, habe ich schon vor 
Jahren darüber des Genaueren berichtet und davon wenigstens 
teilweise die mannigfachen Verschiedenheiten hergeleitet, durch 
welche sich eben die einzelnen Individuen von einander unter- 
scheiden, indem gerade durch sie das ihnen Eigene, Individuelle, 
bedingt werde. 

Nehmen wir an, dass Individuen schwächer und reizbarer 
als gewöhnlich angelegt sind, weil ihre Bildungszellen schon die 
Bedingungen dazu in sich trugen, und dass dem entsprechend 
auch ihr etwaiges Nervensystem schwächer und reizbarer als 
gewöhnlich ist, so wird je nach dem Grade der jeweiligen 
Schwäche und der auf ihr beruhenden Reizbarkeit sich dies 
zuerst in allerhand Hyperergasien, vornehmlich auch Hyper- 
trophien und Hyperplasien und, sind dieselben mehr allgemein, 
so auch in einer mehr allgemeinen Hypertrophie und Hyper- 
plasie kund geben. Es kommt eine allgemeine Hypermegalie 
oder besser gesagt, Hypermegethie, der Riesenwuchs, die soge- 
nannte Makrosomie zu Stande. Zunächst wird dieselbe noch 


143 


gefördert, und wir sehen deshalb den Riesenwuchs sich in einer 
gewissen Breite bewegen, d. h. Leute, die wir Riesen nennen, 
in Bezug auf ihre Grösse um ein gewisses Maass schwanken, das 
sie zum Teil nicht erreichen, zum Teil aber auch bedeutend 
überragen. Ist die bezügliche Schwäche und Reizbarkeit aber 
grösser, so bringt sie sich unter sonst gleichen Verhältnissen 
in allerhand Hypergasien, namentlich auch wieder Hypotrophien 
und Hypoplasien zum Ausdruck und, sind dieselben ebenfalls 
mehr allgemein, so auch in einer mehr allgemeinen Hypotrophie 
und Hypoplasie, welche wir als eine Hypomegalie, oder wieder 
besser gesagt, als eine Hypomegethie bezeichnen wollen. 

Die bezüglichen Individuen sind klein, kleiner als der Durch- 
schnitt der Individuen gleicher Art, die Hauptmasse derselben, 
nämlich der ersteren, nur um ein Geringes, einige wenige jedoch 
so erheblich, dass sie oft ganz andere Wesen zu sein scheinen. 
Es sind das die den Riesen scheinbar schroff gegenüber stehenden 
Zwerge. Bei den ersteren, den blos kleinen Individuen ihrer 
Gattung, wurden sie das, was sie wurden, wenn auch auf Grund 
einer starken Reizbarkeit, so doch immer nur noch einer verhält- 
nismässig starken. Die Zwerge jedoch wurden Zwerge, weil 
ihre Reizbarkeit von Hause aus eine wirklich starke, eine sehr 
starke, war. Ist die in Rede stehende Schwäche und Reizbar- 
keit eine noch grössere, so gehen, weil die bezügliche Wider- 
standslosigkeit eine fast unbedingte zu nennen ist, die betreffenden 
Individuen schon früh zu Grunde. Jede Entwickelung bleibt aus; 
es findet in keiner Richtung eine Bildung statt; eine Amegalie, 
Amegethie, greift Platz, hat Platz gegriffen. 

Der Riesenwuchs, der Zwergwuchs bilden dem entsprechend 
denn auch ebensowenig wie die Riesen und Zwerge selbst Gegen- 
sätze. Sie werden zwar gewöhnlich dafür ausgegeben, und bei 
naiver Betrachtung erscheinen sie auch als solche; allein beide 
sind doch eigentlich nur Erzeugnisse der verschieden starken 
Reizung, welche gleichartige Individuen derselben Gattung er- 
fahren haben. 

Diese Reizung kann eine dem Grade nach wirklich ver- 
schiedene gewesen sein, wodurch die etwaigen gleich starken 
und widerstandstähigen Naturen eine allmähliche Abänderung in 
dem Sinne des oben angeführten Gesetzes erfahren mussten; 
oder sie war dem Grade nach zwar keine wesentlich ver- 


schiedene, im Gegenteil eine im grossen Ganzen sehr gleiche, 
indessen die bezüglichen Individuen waren von sehr ungleicher 
Stärke und Widerstandsfähigkeit, und da musste denn dessen 
ungeachtet doch ihr Beeinflusstwerden durch wenn auch immer 
gleich starke Reize ein sehr verschiedenes sein und cben- 
falls Abänderungen an ihnen im Sinne des nämlichen Gesetzes 
nach sich ziehen. Der Riesenwuchs erweist sich sonach auch 
nur gewissermassenals der Anfang, oder vielleicht treffender gesagt, 
als der Vorläufer des Zwergwuchses, indem in Geschlechtern, 
Familien, in denen Riesen auftauchen, sehr bald nach ihnen auch 
Zwerge zum Vorschein kommen werden. Zunächst werden auf 
grosse, Riesengestalten, wenn die Verhältnisse nicht gar zu un- 
günstig liegen, allerdings nur kleine folgen; im Weiteren jedoch, 
wenn nicht die gehörigen Rücksichten genommen werden, werden 
wirkliche Zwerge sich einstellen und das einstige Riesengeschlecht 
ersetzen. [Die Geschichte so manchen bekannten Geschlechts 
dürfte dafür, glaube ich, die nötigen Beweise liefern. 

Übrigens entstehen Riesen und Zwerge vielfach blos durch 
die entsprechende Entwickelung einzelner Teile ihres Körpers, 
vor allen derer, durch welche vorzugsweise ihre Grösse und 
namentlich Höhe bedingt wird. Was insbesondere den Menschen 
anlangt, so ist es hauptsächlich die Entwickelung seiner Beine, 
welche ihn, ich will nicht sagen geradezu zum Riesen oder 
Zwerge macht, aber ihm doch etwas Riesen- oder Zwerghaftes 
verleiht. Mancher für einen Riesen ausgeschrieene Mann ist nur 
langbeinig; mancher, der im Volksmunde als Zwerg geht, hat blos 
kurze Beine. Wenn beide neben einander sitzen, gleicht sich 
ihr auffallender Grössenunterschied häufig in wunderbarer Weise 
aus. Wenn Ajax und Odysseus standen, war Ajax der 
grössere; wenn sie beide sassen, so Odysseus. 

Wo nun riesenhaftes und zwerghaftes Wesen des Menschen 
auf der Länge beziehungsweise Kürze seiner Beine beruht, da 
kommt nach den einschlägigen Auseinandersetzungen in der 
Abhandlung Platttuss, Klumpfuss und das biologische 
Grundgesetz dieses letztere in der Weise zur Geltung, wie 
es daselbst gezeigt worden ist. Rhachitische Prozesse spielen 
dabei eine hervorragende, ich möchte sagen, unzweifelhafte 
Rolle. Sicher ist, dass bei der hierher gehörigen Art Riesen 
die Exiphysenfugen viel länger unverknöchert bleiben, als das 


dem Durchschnitt nach sein sollte und dass bei den hierher 
gehörigen Zwergen meist eine so grosse Reihe rhachitischer 
Folgeerscheinungen beobachtet werden, dass wenigstens über 
die nächsten Ursachen ihrer Zwerghaftigkeit eigentlich Kein 
rechter Zweifel mehr bestehen kann. Wie die langen Beine des 
Windhundes, die kurzen des Dachshundes aus im Allgemeinen 
gleichen, und nur in ihren Verhältnissen zu einander verschiedenen 
Zuständen hervorgehen, so nehmen auch die entsprechenden 
langen und kurzen Beine des Menschen und der durch sie be- 
dingte Riesen- oder Zwergwuchs aus den nämlichen und nur in 
ihren Verhältnissen zu einander verschiedenen Vorgängen ihren 
Ursprung. 

Die in Rede stehende Art von Riesen oder auch blos riesen- 
haften Gestalten, zum Teil auch die entsprechenden Zwerge oder 
blos zwerghaften Gestalten haben auch das mit dem Wind- und 
Dachshunde gemein, dass ihre Gesichtsknochen, vornehmlich die 
Nase und der Unterkiefer zumeist eine hervortretendere Ge- 
staltung erfahren haben. Nicht immer! Keineswegs! Ich habe 
Männer von mehr als 180 cm Grösse kennen gelernt, bei denen der 
Unterkiefer kurz geblieben war und infolge dessen das Kinn in 
kindlicher Weise auffällig zurücktrat; wie umgekehrt ich auch 
kleinen kurzbeinigen Leuten begegnet bin, deren Unterkiefer lang 
war und mit einem mehr oder weniger spitz hervortretenden Kinne 
endigte..e Doch das sind Ausnahmen, welche auf verhältnis- 
mässig stärkeren oder schwächeren Reizungen der bezüglichen 
Nerven beruhen und den Verbindungen von Plattfuss mit O-Bein 
oder Klumpfuss mit X-Bein an die Seite gestellt werden dürften. Die 
Regel ist, dass der Unterkiefer bei den riesenhaften Gestalten 
insbesondere lang geraten ist. Seine Schneidezähne stehen deshalb 
vor denen des Oberkiefers. Es ist damit eine Art von Cranium 
progenaeum entstanden, auf das überhaupt, als eine abwegige 
Bildung, welche mit psychischen Unzulänglichkeiten in Beziehung 
steht, Ludwig Meyer schon vor mehr als zwei Jahrzehnten 
aufmerksam gemacht hat*), und merkwürdig, im Plattdeutschen 
wird ein langer, hoch aufgeschossener, schlaffer, leistungsunfähiger 
Mensch ein langscheniger Kerl geschimpft, um damit seine 
Unbrauchbarkeit und Unzuverlässigkeit auf Grund geringer An- 


*) L.Meyer, Archiv für Psychiatrie u. Nervenkrankheiten Bd.I. 1868 —69. S. 96. 
10 


146 

stelligkeit, geringer Dauerhaftigkeit in wegwerfender, verächt- 
licher Weise zu bezeichnen. Das Zusammentreffen der Beobach- 
tung Ludwig Meyer’s, dass mit Cranium progenaeum, und 
die des plattdeutschen Volkes, dass mit Langschenigkeit, d. i. 
Langschienigkeit, Langbeinigkeit, welche beide wieder gemeinhin 
zusammentreffen, psychische Mangelhaftigkeit, Widerstandslosig- 
keit und damit Neigung zum psychischen Erkranken verbunden 
sind, ist jedenfalls auffallend. Allein das Verständnis der Be- 
ziehungen, welche zwischen Cranium progenaeum schlechthin 
und Langbeinigkeit an und für sich obwalten, erklärt dasselbe 
vollkommen. 

Wo das Riesenhafte, Riesenmässige, das Zwerghafte, Zwerg- 
mässige, zumal des Menschen, jedoch nicht auf der entsprechen- 
den hauptsächlichen Entwickelung der Gliedmassen, besonders der 
Beine, beruht, sondern in der mehr gleichmässigen Grössenzu- 
oder Grössenabnahme aller Körperteile seinen Grund hat, wo 
also das erstere durch eine allgemeine, nach allen Richtungen 
gehende Vergrösserung, das letztere durch eine ebensolche Ver- 
kleinerung des ganzen Körpers zu Stande gekommen ist, wo es sich 
bei Wahrung der im Allgemeinen herrschenden Proportionalität, 
ich möchte sagen, um ächte Riesen und ächte Zwerge handelt, da 
pflegt die Gesichtsbildung von dem landläufigen Typus nicht 
abzuweichen. Die einschlägigen Individuen haben deshalb auch 
oft sogenannte runde oder breite Gesichter mit kleiner, häufig 
etwas aufgestülpter Nase, mit wenn auch kräftig entwickeltem, 
so doch in der Regel kurzem, breitem Kinn. Jedem, der offenen 
Blicks in die Welt hinaus sieht, werden derartige Individuen 
begegnet sein. Ich kenne ihrer eine ganze Anzahl und darunter 
etliche, die 200,0 cm und darüber messen. Sıe sind wohl schon 
den eigentlichen Riesen zuzuzählen, wenn sie sich auch nicht 
für Geld sehen und an sich genauere Messungen vornehmen 
lassen; ich hebe das aber ganz besonders hervor, weil von 
mehreren und recht gewichtigen Seiten erst noch in jüngster Zeit 
die Meinung ausgesprochen worden ist, die Verlängerung des 
Unterkiefers sei für den Riesentypus etwas Charakteristisches. 
Das ist indessen, ich betone es ausdrücklich, durchaus nicht 
zutreffend. Nur wo das Riesenhafte auf der plattdeutschen Lang- 
schenigkeit beruht, hat es Geltung, sonst aber nicht im Geringsten. 
Im Gegenteil: das Cranium progenaeum Ludwig Meyer’s 


147 


findet sich vorzugweise bei kleinen vermissquiemten, freilich aber 
verhältnismässig langbeinigen Gestalten. Die spanischen Habs- 
burger von Carl I. (V) an haben ein solches in hohem Masse 
besessen; sie besassen aber auch entsprechende Gestalten. Eine 
so dürftige, kümmerliche und vermissquiemte Gestalt, wie sie 
die Statue Carls V. auf der Piazza Bologni zu Palermo zeigt, 
habe ich selten gesehen. Sie stimmt indessen zu allen Ab- 
bildungen und Beschreibungen, welche mir sonst von diesem bis 
in die neueste Zeit durchaus falsch beurteilten Manne der Geschichte 
vorgekommen sind. Die seines Sohnes Philipp I. war nicht anders, 
und die der Nachfolger dieses noch weniger günstig. Der lange 
Unterkiefer mit den die oberen nach vorn überragenden Schneide- 
zähnen, welcher vorzugsweise das Cranium progenaeum bedingt, 
kommt sehr oft bei kleinen, zwerghaften Menschen, ja selbst 
bei eigentlichen Zwergen vor und ist keineswegs für den Riesen- 
typus bezeichnend. 

Carls V. Bruder, Ferdinand I., war ein grosser, stattlicher 
Mann. Er scheint allerdings auch ein Cranium progenaeum ge- 
habt zu haben, jedenfalls doch nur ein sehr unbedeutendes. 
Immerhin würde das aber dafür sprechen, dass auch seine Grösse 
doch hauptsächlich nur durch eine gewisse Länge der Beine 
und weniger durch eine den ganzen Körper betreffende, ent- 
sprechende Ausbildung bedingt war. Allein wie dem auch sei, 
beide Brüder legen dafür Zeugnis ab, wie nahe sich Riesen- 
und Zwergwuchs stehen und, wie beide selbst in der nächsten 
Verwandtschaft sich zeigen können. Dasselbe beweisen auch 
Ferdinand Il. und seine Nachkommen. Denn dieser Ferdinandll. 
war wie sein Grossvater Ferdinand I. ebenfalls ein grosser, 
stattlIcher Mann, und wie es scheint, ebenfalls mit einem leichten 
Cranium progenaeum behaftet. Sehr erheblich war dies jedoch 
schon bei seinem Sohne, Ferdinand Ill, der auch sonst 
eine viel unansehnlichere Persönlichkeit gewesen zu sein scheint, 
und sein Enkel, Leopold I., ist, ein sehr beachtenswertes Zeug- 
nis für die sprungweise Vererbung und die Cumulation der 
Fehler und Schwächen durch Heiraten in zu naher Verwand- 
schaft, der reine Carl V. Durch Eleonore von der Pfalz, 
also durch das Haus Wittelsbach, findet eine Blutauf- 
frischung statt, und der schöne, stattliche Josef I. wird der 
Sohn dieses kleinen und unansehnlichen Leopold I1., des Enkels 

10* 


und Urenkels grosser, stattlicher, dem Riesenhaften sich wenigstens 
nähernder Väter. Das Riesenhafte der Individuen einzelner Arten 
ist aber nur der Vorläufer des Zwerghaften in denselben, das 
sich in der Nachkommenschaft allerdings wieder verlieren kann, 
wenn die Umstände, unter denen es entstanden ist, sich gleich- 
falls verlieren und günstiger gestalten. 

Alle Riesen, selbst alle blos riesenhaften Individuen sind 
also, was sie sind, auf Grund einer gewissen Reizbarkeit und 
damit wieder auch einer gewissen Widerstandslosigkeit, durch 
welche sie sich von den Durchschnittsindividuen ihrer Art unter- 
scheiden. Eine gewisse Schwäche und Hinfälligkeit ist darum 
auch ihnen allen, wie sonderbar für's erste das auch manch 
Einem erklingen mag, demnach eigen. Alle Riesen und riesen- 
haften Individuen, und das ganz gleich, ob Pflanze, ob 
Tier oder Mensch, erkranken darum auch leicht und gehen im 
Allgemeinen leichter und früher zu Grunde, als die Durch- 
schnittsindividuen ihrer Art. Dass sie dabei zu gewissen, rasch 
vorübergehenden Kraftleistungen mehr befähigt sind, als die 
Durchschnittsindividuen, aus denen sie hervorragen, widerspricht 
dem nicht. Ihre Schwäche zeigt sich eben in dem Mangel an 
Nachhaltigkeit und Ausdauer, welche vorzugsweise der Aus- 
druck von Stärke sind. Es ist hier wieder einmal der Ort, auf 
den Unterschied von Stärke und Üppigkeit hinzuweisen, welche 
im gemeinen Leben nicht leicht unterschieden, sondern ganz ge- 
wöhnlich zusammengeworfen werden. Jene ist der Ausdruck 
einer Eu- oder gar Akroergasie, diese der einer Hyperergasie. 
Die letztere jedoch birgt bekanntlich schon den Keim einer 
Hyp- und Anergasie in sich, von welcher sie damit denn auch 
gleichsam den Anfang bilde. Alle Riesen und riesenhaften 
Individuen sind aber immer mehr üppige als starke Naturen. 
Der sogenannte geile Wuchs der Pflanzen, einzelner ihrer Teile, 
Äste und Früchte, die Neigung zur Fettleibigkeit bei den in 
Frage kommenden Individuen der warmblütigen Wirbelthiere z. 
B. des flämischen und des normännischen Pferdes, der sogenannten 
Percherons, bei denen das ganze Individuum eine Hypertrophie 
oder besser wohl Hyperplasie erfahren hat, beweisen das ebenso 
wie die ächten Riesen unfer den Menschen. Alle ächten Riesen 
sind fettleibig, sind mit einer Hyperlipomatosie behaftet, welche 
in der Jugend mehr erethischer, im Alter mehr torpider Natur 


ist und als solche eine Art paralytischer Fettbildung darstellt. 
Die unächten, mehr scheinbaren Riesen, bei denen die Grösse 
mehr durch die Entwickelung einzelner ihrer Teile, also bei 
den warmblütigen Wirbeltieren und dem Menschen mehr durch 
die Entwickelung ihrer Beine als durch die des ganzen Körpers 
bedingt wird, besitzen diese entschiedene Neigung zur Fettlei- 
bigkeit nicht. Ja sie fehlt ihnen oft ganz, und die betreffenden 
Riesen sind hager und bleiben hager, selbst wenn sie ein höhe- 
res Alter erreichen. Unter den Tieren die Windhunde, die 
englischen Rennpferde, unter den Menschen der lange Herzog 
von Alba mögen hierfür als Beispiele angeführt werden. Die 
bezügliche Reizbarkeit ist bei diesen Wesen schon so gross, dass 
es unter ihrem Einfluss nicht mehr zu Hypertrophien, wohl 
aber schon zu Hypotrophien und gelegentlich selbst Atrophien 
kommt. Im Fettgewebe, als dem leichtest gebildeten und 
leichtest verzehrten Bestandteile des Körpers, giebt sich das 
zuerst zu erkennen. 

Bei den, ich möchte sagen, kleinen Formen der unächten 
Riesen, bei den schon dem Zwerghaften sich zuneigenden, vermiss- 
quiemten, aber verhältnismässig langbeinigen Gestalten mit einem 
ausgesprochenen Cranium progenaeum fehlt die Fettleibigkeit, so- 
weit bis jetzt meine Beobachtungen reichen, ausnahmslos, und bei 
den Zwergen? Da trifft man sie bald; bald sucht man sie ver- 
gebens. Allein wo sie vorhanden ist, da scheint sie erst im 
Alter sich eingestellt zu haben, — Zwerge altern sehr früh —, 
oder von vorn herein auf einem gewissen Torpor, einer gewissen 
Paralyse, Parese, zu beruhen, wie bei den Cretins, vorzugsweise 
denen von alpinem Typus. 

Die allen Riesen zukommende grössere Reizbarkeit zeigt 
sich ganz besonders auch in ihrem psychischen Verhalten. Sie 
wird durch dieses gerade erst bewiesen. Alle Riesen sind 
melancholisch, d. h. ihr Selbstgefühl, Ichgefühl, Ich, ist über- 
reizt und stellt eine Hyperthymie dar, und zwar in um so höhe- 
rem Grade, je geringer die Reaktionsfähigkeit ist, welche sie 
selbst auf die sie treffenden Reize besitzen. Denn ihr langsames, 
bald mehr gemessen, bald mehr träg erscheinendes Wesen ist 
nur durch ihre Schwerfälligkeit, die grosse Masse, welche sich 
in ihnen zu bewegen hat, bedingt, nicht aber etwa durch einen 
Mangel an Erregbarkeit überhaupt oder auch blos eine daraus ent- 


150 

springende Gleichgültigkeit, wie man gemeinhin anzunehmen 
beliebt. Im Gegenteil, alle Riesen und zumal die von mir der 
Kürze halber als unächte bezeichneten, sind psychisch reizbar, 
und gerade aus dem Missverhältnis zwischen dieser Reizbarkeit 
und der durch ihre Masse verminderten Reaktionsfähigkeit ent- 
springt die ihnen eigene ernste, trübe, traurige oder ärgerliche, 
oft bösartige, d. i. eben die melancholische Stimmung, welche 
sie beherrscht. 

Jeder Melancholische ist zu gelegentlichen Ausbrüchen von 
sogenannter Heftigkeit, die als mehr oder minder schwere 
Raptus melancholici bekannt sind, geneigt. Es vermitteln die- 
selben den Übergang vom Melancholischen zum Cholerischen, 
zu welchem ersteres wird, wenn letzteres die Oberhand be- 
kommt. Daher denn die Riesen auch vielfach als leidenschaft- 
liche, jähzornige, wohl ungeschlachte Menschen gelten und durch 
Sagen und Mähren als böse, grausame Wüteriche gehen, wenn 
sie auch bisweilen von einer zarteren, sanfteren Hülle umgeben 
zu sein schienen. Der lange Herzog von Alba kann wieder 
als ein geschichtliches Beispiel für die Richtigkeit der ein- 
schlägigen Beobachtung angeführt werden. 

Das cholerische Wesen ist das eigentlich thätige, durch 
seine gewaltigeren, indessen der Dauer ermangelnden Äusserungen 
das zerstörende, durch seine massvolleren aber andauernden das 
erbauende und damit auch das schaffende, schöpferische. 
Riesen oder auch blos den Riesen sich nähernde Individuen 
sind selten schöpferisch, am ersten noch die den ächten Riesen 
zuzuzählenden. Die in jeder Beziehung ächte Riesen darstellenden 
Gestalten Kaiser Wilhelms I. und Bismarcks legen 
für letzteres Zeugnis ab. Die unächten, die blos langbeinigen 
und darum auch blos als Riesen erscheinenden Menschen sind von 
Ajax ab, wenn sie sich einmal stärker bethätigten, samt und 
sonders nur wahnsinnige Zerstörer gewesen. Es fehlt ihnen, 
um dort wieder etwas zu errichten, wo sie eingerissen haben, 
vielleicht um etwas Neues zu errichten, an nachhaltiger Kraft, 
dieses nun auch wirklich zu errichten, und so erscheinen sie uns 
denn, was sie in der That auch sind, als blosse Zerstörer. Es 
giebt auch da anscheinende Ausnahmen, von denen Schiller 
eine ist. Dieselben stellen gewissermassen den Anfang zu denkleinen, 
den Übergang zu den Zwergen vermittelnden Gestalten dar und 


151 
sind deshalb eben Ausnahmen, indessen doch nur solche, die sich 
der Regel immer noch bis zu einem gewissen Grade unterordnen. 

Nichtsdestoweniger tritt das cholerische Etwas im Ganzen 
doch in dem Wesen der Riesen zurück, und das Melancho- 
lische ist für sie kennzeichnend.. Mit dem Melancholischen 
verbindet sich leicht etwas Pathisches, das von Unkundigen 
häufig, ja vielleicht meist für etwas Apathisches gehalten wird 
und deshalb die Riesen in den Geruch gebracht hat, im Ganzen 
träge, gleichgültige Geschöpfe zu sein. Dass das jedoch 
nicht der Fall ist, haben wir bereits mitgeteilt. Sie können 
auch Choleriker, sogar arge Chloleriker sein, und einzelne der 
ächten Riesen sind es vorzugsweise. Das Cholerische bedingt 
stets etwas Pathetisches und zumal da, wo es sich aufbauend, 
schöpferisch, erweist. Aussprüche wie: „Und wenn so viel 
Beufelwie Zıeseln auf den Dächern wären, ich ginze 
doch“ — „Ich dien“ — „Rocher de bronze“ — „Erster 
Biiener des Staats“  — „Blut lund. Eisen“ —. .„Berst 
wägen, dann wagen“ — „Songez, que de la hauteur de 
ces pyramides quarantesiecles vous comtemplent“ und 
derartige mehr bestätigen das. Sonst ist das Cholerische 
und mit ıhm das Pathetische mehr Eigenschaft kleiner Leute, 
deren Reizbarkeit und insbesondere deren entsprechende Reak- 
tionsfähigkeit grösser, als die der Riesen ist, und die nach 
meiner Meinung eben auf diese grössere Reizbarkeit hin klein, 
beziehentlich kleiner geblieben sind. Mit der Reizbarkeit hängt 
die Intelligenz zusammen. Je grösser innerhalb gewisser Grenzen 
jene ist, um so grösser ist auch diese, und umgekehrt, je dürftiger 
diese sich zeigt, nm so geringfügiger erweist sich auch jene. 
Das Genie ist Genie wesentlich deshalb, weil es auf Grund seiner 
ausserordentlichen Reizbarkeit dort noch Wirkungen wahrnimmt, 
wo der gewöhnliche Mensch nicht mehr berührt wird, und der 
blödsinnige ist häuptsächlich darum blödsinnig, weil ihn nichts 
mehr von dem bewegt, in Erregung versetzt und seine Aufmerk- 
samkeit auf sich zieht, was dem Durchschnittsmenschen schon 
Freude oder Schmerz bereitet. Ein Blödsinniger kann in die 
Sonne sehen, ohne zu blinzeln, am Ofen sich verbrennen, ohne es 
zu merken; ein Genie dagegen wird leicht zu heftig gereizt. Es 
leidet darum auch leicht, und Schmerzen, selbst aus ihnen ent- 
stehende Krämpfe, sind seine tägliche Qual. 


152 


Diese Reizbarkeit des Genies, des intelligenten Menschen 
überhaupt, die ja beide allein die schöpferischen, weil that- 
kräftigen sind, ist wohl die Ursache, dass die Genies, die 
hervorragenden Intelligenzen, die hervorragenden Männer der 
That meist klein waren, meist klein sind. Wenn sie wohl auch 
niemals Zwerge waren, so näherten sie sich doch oft schon dem 
Zwerghaften. Die bei Weitem grösste Mehrzahl derselben war 
unter Mittelgrösse, die meisten schwächlich, kränklich, vielfach 
leidend, viele in der einen oder andern Art verwachsen, schief, 
buckelig, lahm, mit grossen, dicken Köpfen (Kephalonen) 
und hässlichen, affenartigen Gesichtern. Alexander d. Gr., 
Friedrich II. von Hohenstaufen, ‘Carl V., Philipps 
Spanien, Carl XII. v. Schweden, der Prinz Eugen v. Sa- 
voyen, der grosse Kurfürst, Friedrich Il. v. Pr., Friedrich 
d. Gr., sein Bruder der Prinz Heinrich, der alte Ziethen, 
Napoleon I. waren kleine, zum Teil sehr kleine Männer, des- 
gleichen Aristoteles, der Apostel Paulus, der Papst 
Gregor VI., Spinoza, Moses Mendelssohn, Voltaire, 
Kant, Schleiermacher, Schopenhauer, Herman Lotze, 
die beiden Humboldt, Schliemann, Lord Byron, Wieland, 
Ibsen, Gottfried Keller, Mozart, Beethoven, CzW7 
Weber, Robert Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdi, 
Chopin, Meyerbeer, Richard Wagner, der jüngere Pitt, 
Talleyrand, der Fürst Clemens Metternich, Disraei 
Cavour, Thiers, Windhorst, Th. Mommsen, Rafael, van 
Dyck, Meissonier, Adolf Menzel. 

Unter diesen mehr oder weniger kleinen Männern, welche 
die Welt in der einen oder der anderen Richtung bewegt haben, 
waren einige mit dem Meyer’schen Cranium progenaeum be- 
haftet, Carl V., Philipp IL, wie es scheint auch Carl XII., 
und ebenso Robert Schumann, Richard Wagner. Einige 
waren, wenn auch schwächliche, so doch zierliche, elegante Ge- 
stalten mit wenigstens in ihrer Jugend auffallend schönen Ge- 
sichtern, so besonders Alexander d. Gr., Friedrich d. Gr. 
Wenn die mit dem Meyer’schen Cranium progenaeum behafteten 
kleinen, dürftigen Gestalten den Übergang von den unächten 
Riesen zu den Zwergen bilden, so bilden die kleinen mehr oder 
minder wohlproportionierten den Übergang von den ächten Riesen 
zu den Zwergen. Und wenn wir uns nun das ansehen, was die 


bezüglichen Individuen, welche diesen beiden Kategorien ange- 
hören, geleistet haben, und das sie zu den thätigen und thatvollen 
Männern gemacht hat, die sie waren, die sie sind, was ist aus den 
Thaten Carls V., Philipps I., Carls XII. geworden? — „Und 
jeder Ausgang ist ein Gottesurteil!“ — Der Ausgang der Thaten 
der beiden Karle, der Thaten Philipps verurteilt sowohl diese 
selbst, wie auch ihre Urheber; während die Thaten Alexanders 
d. Gr. und Friedrichs I. v. Hohenstaufen noch immer ihre 
segensreichen Früchte tragen, und die des grossen Kur- 
fürsten, sowie Friedrichs d. Gr. erst anfangen, ihre Früchte 
zu voller Reife zu bringen. Robert Schumann doch starb im 
Irrenhause, und Richard Wagner galt Zeit seines Lebens als 
problematische Natur. — Die Thaten, die wirklichen, Leben und 
Welt gestaltenden Thaten der kleinen progenäen Menschen 
gleichen denen der entsprechenden Riesen oder auch öfter blos 
riesenhaften Gestalten. Sie zerstören, wenn auch nur langsam, 
ohne dass sie jemals wieder das Fundament zu einem neuen, 
bleibenden Aufbau gewährten. Damit aber kennzeichnen sie sich 
als völlig ungeschickte, ungehörige, und wenn sie etwa gar in 
der Absicht unternommen waren, Glück und Wohlergehen zu 
schaffen, so als verkehrte, aller gesunden Logik bare. Und 
wenn das Sprüchwort wahr ist: „An ihren Früchten sollt ihr sie 
erkennen“, so wissen wir, was von den genannten, namentlich den 
drei erstgenannten Persönlichkeiten zu halten ist. Sie waren 
abwegig fühlende, abwegig denkende und daher auch abwegig 
handelnde Persönlichkeiten; sie waren mit einem Worte — 
Paranoiker. Ihr ganzes Leben hat das auch sonst bewiesen, 
und wenn sie, die ersten drei, nicht an der Stelle gestanden hätten, 
in die sie das Schicksal hineingeboren hatte, würden sie auch 
längst als solche beurteilt worden sein. Die kleinen progenäen 
Persönlichkeiten sind wie sie eigentlich niemals wirklich schöpfe- 
risch. Der schöpferische Genius, der Dauerndes in das Dasein 
treten lässt, scheint vielmehr an die kleinen Menschen gebunden 
zu sein, welche den Übergang der ächten Riesen zu den Zwergen 
vermitteln. Die Bedingungen, welche dem Genie zu Grunde 
liegen, in erster Reihe die verhältnismässig starke Reizbarkeit, 
haben auch die Kleinheit der jeweiligen Körper zur Folge. Dass 
dabei die mannigfaltigsten Verhältnisse obwalten, die mannig-’ 
faltigsten Cumulationen und Paralysierungen standfinden können 


liegt auf der Hand. Daher kommt es aber auch, dass einmal 
ein schöpferischer Genius in einem grossen, selbst riesenhaften 
Körper stecken kann, dass neben einem Windhorst, Thiers, 
Disraeli, Cavour ein Bismarck, neben einem Alexander, 
Friedrich, Napoleon ein Moltke, neben einem Mozart, 
Beethoven, C. M. v. Weber ein Haendl erscheint. Das 
Prinzip ist und bleibt indessen: Das Genie ist im Allge- 
meinen an einen kleinen Körper gebunden, und zwar in Folge 
der Ursachen, die es selbst bedingen, in Folge hauptsächlich 
der Reizbarkeit. für welche die gewöhnlichen Reize sich schon 
wie starke verhalten und, dann gereizt, eine stärkere Körper- 
entwickelung hemmen. 

Boveri*) will gefunden haben, dass bei künstlicher Be- 
fruchtung von Seeigeleiern Zwerglarven zum Vorschein kamen, 
wenn kernlose Abschnitte des jeweiligen Eies befruchtet wurden, 
und dass bei künstlicher Ausbrütung von Hühnereiern Zwerg- 
formen von Hühnchen sich einstellten, wenn die Ausbrütung bei 
verhältnismässig sehr hoher Temperatur und mangelhafter Zu- 
fuhr von Sauerstoff erfolgte. In beiden Fällen musste aber ganz 
notwendig das in abnormer, unzulänglicher Weise befruchtete 
und in abnormer, unzweckmässiger Weise ernährte Protoplasma. 
der Eier sich abnorm weiter entwickeln. Es musste unkräftiger,. 
widerstandsloser, erreg- oder reizbarer und damit auch beein- 
flussbarer werden und dieses Letztere in einer entsprechenden: 
Weise an den Tag legen. 

Je stärker die Reizbarkeit, um so stärker wirken natürlich 
die in Betracht kommenden alltäglichen, d. h. die gewöhnlichen 
Reize ein. Die bezüglichen Individuen werden, je nachdem, in 
ihrer Entwickelung gefördert oder gehemmt, und zwar zuerst 
weniger dann mehr und wie sie daraufhin erst zu Riesen, aus. 
Riesen zu mittelgrossen und kleinen Persönlichkeiten werden, 
werden sie endlich zu Zwergen; die grösste Mehrzahl geht in- 
dessen vorzeitig zu Grunde. Die Widerstandslosigkeit, aus welcher 
ihre Reizbarkeit entspringt, lässt sie leicht erkranken und den 
betreffenden Krankheiten unterliegen. Sie verkrüppeln deshalb 
auch so oft; es giebt nur wenig nicht missgestaltete Zwerge, 


*) Tb. Boveri. Ein geschlechtlich erzeugter Organism. ohne mütterl. Eigen- 
chaften. Münch. Wochenschft. Jahrg. XXXVI. 1889 Nr. 41. S. 704 u. ff. 


155 


und das erklärt, warum so viele der kleinen Genies sich eben- 
falls mehr oder weniger verkrüppelt zeigen. Der Apostel 
Paulus, der Papst Gregor VII, Spinoza, Moses Mendels- 
sohn, der Prinz Eugen, der Prinz Heinrich, welcher schielte, 
Lord Byron, Talleyrand, welche beide ein zu kurzes Bein 
hatten und hinkten, liefern dafür den Beweis. Auf Grund 
ihrer starken Entwickelungshemmung und der daraus sich 
ergebenden Unfertigkeit, sind Zwerge auch fortpflanzungs- 
unfähig, wenigstens der Regel nach, und das erklärt, warum so 
viele geniale Männer, Genies, kinderlos waren und kinderlos sind, 
beziehentlich eine fortpflanzungsunfähige Nachkommenschaft hin- 
terliessen. 

Dem Riesenwuchs, dem Zwergwuchs liegt nach alledem wie 
so vielem Andern lediglich das biologische Grundgesetz zu 
Grunde. Von der Reizbarkeit des Individuums hängt es auch 
ab, was ein starker, was ein schwacher Reiz ist; allein das be- 
rücksichtigt, gilt wie sonst auch hierbei: Kleine Reize fachen 
das Wachstum an, grössere fördern es, noch grössere hemmen 
es, und grösste verhindern es ganz, und gar. Und da das 
Wachstum Äusserung einer Lebensthätigkeit ist, gilt auch in 
Bezusss auf, dasselbe; Kleine Reize tachen die TLebens- 
thätigkeit an, mittelstarke fördern sie, starke hemmen 
sie und stärkste heben sie auf. 


— 0 u — 


6. 
Schwarz und Weiss bei Tier und Mensch 
und das biologische Grundgesetz. 


Schwarz und weiss pflegen als Gegensätze angesehen zu 
werden und die schwarzen und weissen Tiere einer vielfarbigen 
Art als die Repräsentanten der beiden Enden der Farbenscala, 
unter welche sich die einzelnen Individuen einer solchen Art 
unterordnen. Man sieht die schwarzen Tiere derselben gewisser- 
massen als den Gegensatz, das Gegenteil der weissen an; man 
sieht in dem Rappen das Gegenteil vom Schimmel, in dem 
schwarzen Rinde, dem schwarzen Schafe das Gegenteil vom 
weissen, in dem schwarzen Hunde, der schwarzen Katze, dem 
schwarzen Kaninchen, den schwarzen Tauben und Hühnern das 
Gegenteil von den weissen Tieren der entsprechenden Art. 
Und beim Menschen? Der Neger gilt wohl allgemein als der 
Gegensatz des Kackerlacken. Vom psysikalischen Standpunkt 
aus ist das wohl auch ganz richtig und selbst vom anatomischen 
aus dürfte sich nicht leicht etwas dagegen einwenden lassen. 
Denn dem Schwarz der Tiere und Menschen liegt der grösste 
Reichtum intensivsten Pigments zu Grunde, und das Weiss hat 
seine Ursache in dem nahezu völligen Mangel an jedem Pigment. 
Wie verhält sich aber die Sache vom psysiologischen, beziehent- 
lich biologischen Standpunkte aus? Bis jetzt ist darüber noch 
nichts Näheres bekannt, und selbst einer der neuesten Bearbeiter 
des Gegenstandes, Herr Dr. Crampe, erklärt in seinem sehr ein- 
gehenden Aufsatz: Die Farben der Pferde von Trakehnen. 
I. Theil: Die Ergebnisse der Farbenreinzucht. Landwirthschaft- 
liche Jahrbücher, herausgegeben von Dr. Thiel, Bd. XVII, 1888, 
Heft 6, S. 834—835: Wir wissen es nicht! „denn,“ sagt er, „in 
nahezu allen Säugetier- und Vogelspecies kommen Farben- 
abänderungen vor. Dieselben haben mit einander gemein, dass 
sie gelegentlich und aus unbekannten Ursachen in die Erscheinung 
treten. Weshalb dies bei einigen Species häufiger geschieht, 
als bei anderen und weshalb beispielsweise in einem Wurf Hasen 
fünf Junge die Farbe der Species besitzen und eins weiss, ge- 


157 


scheckt, schwarz u. s. w. ist, das wissen wir nicht, und deshalb 
vermögen wir auch nicht die Species durch Mittel der Zucht zu 
zwingen, Abänderungen hervorzubringen..... Von zwei Pferden 
gleicher Farbe fallen Nachkommen, die den Eltern gleichen und 
ausserdem solche von anderen Farben. Welche Ursachen diese 
Eigenschaften bedingen, das wissen wir nicht.“ 

Ein Zufall führte mich auf eine Fährte, die weiter verfolgt» 
Licht in die fragliche Angelegenheit bringen zu können scheint. 
Ich hatte zu physiologischen Zwecken mir eine Kaninchenzucht 
angelegt. Ich wünschte die grossen weissen Kaninchen mit 
langem, eckigem Kopfe, roten Augen und langen, durch- 
scheinenden, die Blutgefässe in sehr klarer und deutlicher Weise 
bervortreten lassenden Ohren, mir als weisse englische bezeichnet, 
zu züchten. Ich musste sie mir von auswärts kommenflassen; 
das mir zugesandte Paar stellte sich aber als aus zwei Weibchen 
bestehend heraus. Ich suchte nach einem Männchen, konnte 
jedoch lange keins bekommen. Die beiden weissen Kaninchen- 
weibchen wurden indessen sorglicb gehütet, damit sie nicht mit an- 
dern Kaninchenmännchen zusammenkämen, und dadurch vielleicht 
ihre ganze Nachzucht bezüglich der Rassenreinheit verdorben 
würde. Ein Hasenkaninchenmännchen aus einer schon vorhandenen 
Zucht wusste nichtsdestoweniger den Weg zu ihnen zu finden. 
Beide Weibchen wurden tragend, und beide warfen — die 
Hasenkaninchen sind gelblich -braungrau, hasengrau — nur 
schwarze oder schwarze und blos hin und wieder mit einem 
kleinen weissen Flecken versehene zahlreiche Junge, kein einziges 
weisses oder auch nur vorwiegend weisses, kein einziges graues 
oder auch nur weiss und grau geflecktes. Alle hatten dem 
entsprechend schwarze Augen und dazu einen kürzeren Kopf, 
kürzere Ohren mit anscheinend weniger stark entwickelten Blut- 
gefässen als die Mütter. Sie glichen in dieser Beziehung, d. i. 
dem äusseren Bau, vielmehr dem Vater. — Warum im Bau so 
gleichsam zwischen Vater und Mutter stehend und in der Farbe 
von beiden vollständig abweichend? Der Vater grau, die Mutter 
weiss, noch mehr als weiss, Kackerlack, und sie selbst 
schwarz! Steht das Schwarz vielleicht auch in der Mitte zwischen 
dem Weiss der Mutter und dem Grau des Vaters? Sonderbare 
Frage! Aber ohne mich viel zu besinnen, beantwortete ich sie 
mir mit Ja! Das Schwarz in der Färbung der Tiere ist nicht 


158 
wie sonst der Gegensatz von Weiss, sondern es ist die Vorstufe 
von ihm, und in Folge dessen können auch von weissen oder 
anders gefärbten Tieren gelegentlich schwarze erzeugt werden. 

Um den raschen Schluss, den ich machte, zu verstehen, 
wolle man sich an das in dem einleitenden Aufsatze Leben und 
Lebensäusserungen S. 55 u. ff. Gesagte erinnern, nämlich dass 
die Hyperergasien der Organismen und ihrer Organe, also die 
Hypertrophien, Hyperästhesien, Hyperplasien, die Hyperek- 
krisien, die Hyperkinesien, u. s. w. nicht das Gegenteil der Hyp- 
und Anergasien seien, wie man gewöhnlich annimmt, sondern 
dass sie vielmehr blos den Anfang dieser letzteren darstellen 
und zwar so, dass sie den ersten Ausdruck einer Ernährungs- 
störung bilden, welche mit den letzteren ende, dass die Endigung 
dieser wieder aber keineswegs schon in dem nämlichen Individuum 
zu erfolgen brauche, sondern erst in seinen Nachkommen zum 
Abschluss kommen könne, worauf unter Anderem die Entartung 
beruhe, ferner, dass das wirkliche Gegenteil der Hyp- und 
Anergasien nur die Akro- oder Oxyergasien seien, einfache 
Steigerungen der Euergasien, d. h. der als normal angenommenen 
Durchschnittsäusserungen der jeweiligen Organismen, beziehungs- 
weise Organe, während die Hyperergasien dem Gesagten nach 
als krankhafte Steigerungen zu gelten haben, und dass das um 
so mehr anzunehmen sei, als sie auch sonst noch in verschiedener 
Richtung sich abwegig zeigen. Beide, die Hyperergasien und 
Oxyergasien werden indessen gemeiniglich mit einander ver- 
wechselt, wenigstens zusammengeworfen; aber daraus entspringe 
eben die Unerklärlichkeit mancher Lebensvorgänge und unter 
ihnen auch das „Warum schwarz, warum weiss“ in bestimmten 
Fällen. Die Akro- oder Oxyergasien zeichnen sich durch Nach- 
haltigkeit, Kraft und Ausdauer aus; das Zeichen der Hyperergasien 
sei rasche Erschöpfung, Schwäche und Widerstandslosigkeit. 
Die reizbare Schwäche schlechthin sei ihr Wesen. Die in ganz 
abwegiger Richtung erfolgenden organischen 'Thätigkeiten seien 
die Parergasien, für deren einzelne die schon längst gebräuchlichen 
Ausdrücke: Parästhesie, Parakusie, Parosmie, Parageusie, Paralgie 
und Paralgesie, sowie Parakinesie, Paralalie, Paraphasie, Para- 
graphie, Parhidrosie zur möglichst treffenden Bezeichnung dienen. 

Wenden wir das nun auf die Färbung vielfarbiger Tier- 
arten an, so haben wir in der schwarzen Farbe derselben den 


Ausdruck einer Hyperergasie, nämlich einer Hyperplasie von 
Pigment zu sehen, und in der weissen Farbe den einer An- 
beziehentlich Hypergasie, nämlich einer Aplasie oder Hypoplasie 
von Pigment, und warum von einem weissen Kaninchenweibchen, 
nachdem es von einem hasengrauen belegt worden ist, schwarze 
Junge geboren werden können, indessen nicht gerade müssen, 
liegt auf der Hand. 

Die Farbe des wilden Kaninchens, nennen wir sie die Grund- 
oder Urfarbe der Kaninchen überhaupt, ist ein sogenanntes 
Hasengrau. Das Hasengrau des Kaninchens ist danach für das 
jeweilige Individuum als Ausdruck einer Euergasie, einer Eu- 
plasie von Pigment, aufzufassen. Eine Akro- oder Oxyplasie 
von Pigment würde sich bei ihnen in einer grösseren Dunkelheit, 
einer tieferen Sättigung des Hasengrau bis an das Schwarz 
hinan, ohne aber wohl jemals ganz schwarz zu werden, zeigen. 
Die Ratten, bei welchen sich solche dunklere, in das Schwärz- 
liche hineinragende Varietäten vorfinden, liefern dafür die Beläge. 
Im Winter 1890/91 haben Herr Dr. W. Müller und ich auch 
entsprechend gefärbte, auf den ersten Blick schwarz aus- 
sehende Sperlinge hier in Greifswald beobachtet. Das Schwarz 
selbst aber ist der Ausdruck einer Hyper- mit einer gleichzeitig 
einhergehenden Paraplasie. Denn der Natur der Sache nach 
muss jede Hyperergasie auch eine Parergasie sein. Eine aus- 
gesprochene Paraplasie von Pigment bei den Kaninchen würden 
z. B. die falben, beziehentlich mehr oder minder ockergelben 
an den Tag legen. Die schwarze Farbe jedoch ist, wie gesagt, 
vorzugsweise bedingt durch eine Hyperplasie von Pigment. 
Wenn diese Hyperplasie nun nachlässt, in eine Hypoplasie über- 
geht, so tritt an die Stelle des Schwarz ein mehr einfaches 
Grau, bei dem sich das paraplastische Element in einem bläu- 
lichen Schimmer zu erkennen giebt. Tritt endlich an die Stelle 
der Hypoplasie von Pigment eine Aplasie oder doch relative 
Aplasie desselben, so werden die Kaninchen weiss. Zunächst be- 
halten sie dann noch schwarze Augen; das Tapetum nigrum ihrer 
Choroidea ist noch gut erhalten. Dann schwindet in Folge einer 
allgemeiner gewordenen Pigmentaplasie auch dieses; die Augen 
werden rot, und der Kackerlack ist fertig. Vermischt sich nun ein 
solcher Kackerlack, der erfahrungsgemäss, wenn auch gross, doch 
immer ein entarteter Schwächling ist, mit einem die Grund- oder 


Urfarbe der Art tragenden und darum überhaupt im Allgemeinen 
euergastischen Individuum, so findet für die bezüglichen Jungen 
eine Blutauffrischung statt. Die Individuen werden stärker, in- 
dem sie sich in ihren Eigenschaften denen des stärkeren Teils 
ihrer Eltern nähern. In der Farbe zeigt sich das, indem je nach 
der mitgeteilten Energie des stärkeren Teiles der Eltern das 
anergastische Weiss zunächst in das hypergastische Grau über- 
geht, das gewissermassen geteilt als weiss und schwarz oder, 
etwas weiter vorgeschritten, als schwarz und weiss gefleckt er- 
scheint, dann zum hyperergastischen Schwarz wird und danach end- 
lich erst dem euergastischen Hasengrau Platz macht, als der gleich- 
sam erst gesunden, vollkräftigen Hauptfarbe der Art. Es ist - 
ersichtlich, dass je nach dem Einfluss der Eltern oder eines Teiles 
derselben aber auch einmal ein weisses, ein hasengraues Junges 
neben sonst schwarzen oder schwarz und weissen in einem 
Wurf vorhanden sein kann, und manche der bis jetzt rätsel- 
haften hierher gehörigen Erscheinungen klärt sich ganz von selbst 
auf. Reicht die Kraft des die Ur- oder Grundfarbe tragenden 
Individuums, beziehentlich des in Betracht kommenden Eichens 
nicht aus, um auf das aus ihm hervorgehende Junge seine Farbe 
zu vererben, so wird dieses schwarz oder schwarz und weiss 
gefleckt oder auch ganz weiss; anderenfalls bekommt es die 
Grund- oder Urfarbe überliefert, rein oder zum mindesten doch 
in mehr oder minder grossen Flecken. 


Ganz ähnlich verhält es sich mit den Pferden. Die Grund- 
farbe derselben ist braun.*) Das braune Pferd in den verschie- 
denen Farbentönen gilt auch ganz allgemein als das dauerhafteste, 
weil widerstandsfähigste und nachhaltig leistungsfähigste. Die 
Falben — es giebt solche mit schwarzen Mähnen und Schweifen 
und solche mit weissen Mähnen und Schweifen, welch’ letztere 
den Übergang zu Schimmeln zu vermitteln scheinen — die Falben 
also und die Füchse, Ausdruck einer Paraplasie des Pigments, 
Stehen ihnen am nächsten. Die Schimmel werden allgemein als 
die widerstandslosesten, als die am leichtesten erschöpfbaren und 
am wenigsten leistungsfähigen angesehen. Auch sonst zeigen 
sie noch manche Unzuverlässigkeiten. Sie sind scheu, launenhaft, 


*) Darwin, „Über Entstehung der Arten u. s. w.“ 2. deutsche Auflage 
von Dr. H.G. Bronn, Stuttgart 1868, S. 191 und Crampe a.a. O.S. 834. 


capriciös, jung lebhaft, ausgelassen, alt faul und schläfrig, und 
das Alles zum Wenigstens mehr und häufiger als andersfarbige 
Pferde. Die Rappen sind ihnen am ähnlichsten, doch entschieden, 
zumal in ihrer Jugend, kräftiger, ausdauernder und darum auch 
leistungsfähiger. Sie sind vor Allem stetiger, und darum wieder 
zuverlässiger, wenn auch wegen ihres Feuers immer noch viel 
weniger als die Braunen, die Füchse, die Falben. Im Übrigen 
sind, wie in anderer Beziehung, so auch darin viele Übergänge 
von den Rappen zu den Schimmeln vorhanden und umgekehrt — 
beide sind auch besonders leichte Durchgänger —, und Rappen 
und Schimmel verhalten sich deshalb zu einander etwa wie 
Neurastheniker und Hysteriker. Der Hauptübergang zwischen 
beiden liegt aber in der Farbe selbst. Der Grauschimmel in 
allen Schattierungen beweist das nicht blos an und für sich, 
sondern ganz besonders auch durch den Umstand, dassderbeiWeitem 
grösste Teil der Schimmel als Rappen oder doch ganz dunkle, den 
Rappen nahe stehende Grauschimmel geboren und erst im Laufe 
der Zeit, das eine Mal rascher, das andere Mal langsamer, zu 
eigentlichen Schimmeln werden. Junge, beziehentlich auch jugend- 
liche Greise! Das Schwarz der Rappen erweist sich damit so 
recht eigentlich als die: Vorstufe zum Weiss der Schimmel, ich 
will einmal sagen, als die physiologische Mittel- oder Zwischen- 
farbe zwischen dem Weiss und Braun der Pferde überhaupt, 
und vom Weiss aus betrachtet, als ein Zeichen kräftigerer Kon- 
stitution. Es ist bekannt, dass von allen noch so verschiedenartig 
gefärbten Pferden sowohl Rappen wie Schimmel erzeugt werden. 
Warum? Ist die Kraft der Erzeuger nicht so gross, um ihrem 
Sprössling die Grund- oder Urfarbe geben zu können, so wird 
dieser bei noch vorhandener grösserer Kraft derselben ein Rappe, 
bei geringerer ein Schimmel, erst Grauschimmel, dann ein echter 
Schimmel, oder auch einmal ein Rothschimmel, ein stichelhaariges 
Pferd überhaupt und wohl auch ein Schecke. Das Mysteriöse 
der Vererbung verliert so ausserordentlich viel von seinem Dunkel. 

Bei Rindern liegt die Sache ganz gleich. Die Grundfarbe 
des Rindes ist das bekannte Rot oder Rotbraun in seinen ver- 
schiedenen Abänderungen. Wird indessen eine weisse Kuh und 
ein solcher roter oder rotbrauner Stier zusammengebracht, so 
sollte man erwarten und hat es lange erwartet, dass das danach 
geborene Kalb rot, rotbraun, weiss oder wenigstens ent- 

11 


sprechend gescheckt wäre; allein es ist das gar nicht so selten, 
dass es schwarzscheckig ausfällt, vielleicht auch einmal ganz 
schwarz; doch ist mir darüber nichts Bestimmtes bekannt ge- 
worden. Das Schwarz erweist sich somit auch hier wieder als 
die physiologische Mittel- oder Zwischenfarbe zwischen weiss 
und rot, beziehentlich rotbraun. 

Wie aber da, wo von beiden ganz weissen Eltern ein 
schwarzes, oder wenigstens schwarzfleckiges oder graues Kind 
erzeugt wird, wie das bei den Schafen z. B. häufig der Fall ist? 
Nun, da verhält es sich ebenso. Man nimmt für gewöhnlich an, 
dass in einem solchen Falle unter den Vorfahren der Eltern 
sich ein entsprechend gefärbtes Individuum befunden habe, und 
dass so ein blosser Rückschlag auf dieses erfolgt sei. Gewiss 
ist das wohl in der bei Weitem grössten Zahl der Fälle anzu- 
nehmen; sicher jedoch ist es keineswegs. Ausserdem ist damit 
zunächst blos eine Erfahrung festgestellt, aber ein Verständnis 
für sie noch nicht gewonnen. 

Die Grundfarbe der Schafe ist aller Wahrscheinlichkeit nach 
wieder ein Braun, beziehentlich Graubraun oder Rötlichbraun, 
wie es die wilden Arten Ovis Ammon und Musimon, von denen 
ja auch das Hausschaf herstammen soll, an den Tag legen, und 
wie dieses selbst es mitunter, namentlich in einigen nördlichen 
Gegenden, Pommern, Rügen, Mecklenburg u. s. w. noch zeigt. 
Ovis Musimon ist braun, in einer Art rehbraun, im Gesicht, an 
den Füssen mehr oder weniger weiss und namentlich der Bock an 
Brust und Schultern schwärzlich, selbst schwarz. Die Hufe sind 
schwarz; das Kleid ist hären, das Haar kurz, straff. Ovis Aries 
var. Kamerunschaf ist Ovis Musimon im Bau ähnlich; die Farbe 
aber ist schwarz. Doch habe ich auch schwarz und weiss und 
selbst weiss und schwarz gefleckte gesehen, so dass die Annahme, 
es werde auch ganz weisse geben, gewiss nicht ungerechtfertigt 
ist. Bei den gefleckten, die mehr weiss als schwarz waren, fanden 
sich denn wohl auch vereinzelte weisse Hufe. Das Kleid des Ka- 
merunschafes wird auch noch durch ein kurzes straffes Haar 
gebildet, das beim Bock jedoch an Nacken, Brust und Bauch in 
Zotten übergeht, und damit den Anfang der Wollbildung dar- 
stell. Ovis Aries var. Heidschnucke ist im Bau den vorigen 
nicht unähnlich, schwarz, weiss, stichelhaarig, schwarz-weiss, 
weiss-schwarz gefleckt, und je nachdem sind auch seine Hufe 


165 
gefärbt. Das Kleid ist ein Zottenpelz in weit fortgeschrittener 
Wollbildung; die Wolle desselben ist jedoch noch grob, zottig 
und darum als Wolle schlecht. Der Übergang von Ovis Musi- 
mon zu Ovis Aries var. Merinoschaf, das uns nur zart und ge- 
meinhin auch nur weisswollig und dementsprechend mit weissen 
Hufen vor Augen kommt, würde demnach eine gewisse Klärung 
erfahren, zugleich aber auch ersichtlich werden, warum unter den 
gewöhnlichen Schafen, von denen das Merinoschaf doch blos eine 
Abart ist, neben weissen, schwarzen, auch braune vorkommen. 

Das Schwarz würde damit aber auch hier, d.h. bei den Schafen 
nur als die physiologische Mittelfarbe von der Entartungsfarbe 
Weiss und der Grund- oder Urfarbe Braun auftreten und eine Er- 
starkung der Art in dem betreffenden Individuum anzeigen, weil in 
dem Elternpaare, trotzdem beide weiss waren, doch die Beding- 
ungen zu Ausmerzung gewisser Entartungsursachen, zum Aus- 
gleich gewisser Schwächen und Fehler lagen. 

Ein mir bekannter Taubenzüchter zog unter anderen Rassen 
weisse Hochflieger. Um eine Blutauffrischung in seine Zucht 
hineinzubringen, liess er sich von weit her einen entsprechenden 
Täuberich kommen. Derselbe war ganz weiss ebenso wie die 
Taube, mit welcher er zusammengebracht wurde, und die ersten 
beiden Jungen dieses Paares, im Ganzen auch weiss, hatten 
schwarze Flecken an beiden Schultern und den Flügelspitzen. 
Die Grundfarbe der Haustaube, der sogenannten Feldtaube, 
welche, wie Darwin nachgewiesen hat, von der Felstaube ab- 
stammt, ist blaugrau, mit nach hinten weisslichem Rücken, einer 
schwarzen Endbinde am Schwanz und zwei schwarzen Binden 
über den Flügeln. Die schwarzen Flecke bei den erwähnten 
Jungen sassen also keinesweges entsprechend diesen schwarzen 
Binden; sie sassen vielmehr an Stellen, welche bei der Felstaube 
graublau gefärbt sind und erwiesen sich damit als physiologische 
Zwischenfarben zwischen Weiss und eben Blaugrau, als eine 
Vorstufe von diesem zum Weiss, oder umgekehrt, von diesem 
wieder zum Blaugrau. 

Wenn weisse Mäuse und Ratten in die Hauptart zurückzu- 
schlagen scheinen, so zeigen sie häufig erst schwarze oder 
wenigstens viel dunklere graue Flecke, als das Grau der Haupt- 
art ist; es treten auch ganz schwarze Tiere auf oder gescheckte, 
bei denen das Schwarz vorherrschend ist, nicht blos dunkler 


11* 


164 
gefärbte, von denen oben die Rede war. Kurz, das Schwarz 
vielfarbiger Tierarten ist nur eine Vorstufe des endlichen Weiss 
derselben und nicht ein Gegensatz zu diesem. Es ist ein Zeichen 
einer schon weit gediehenen Entartung, welche endlich in dem 
reinsten Weiss, der grössten Pigmentarmut, wie sie bei den 
Kackerlacken vorkommt, ihren weitest gehenden Ausdruck findet. 
Um dahinter zu kommen, wie wohl der Zusammenhang 
zwischen dem Allen sein möchte, legte ich mir eine Ratten- und 
Mäusezucht an. Weisse Ratten, weisse Mäuse wurden mit 
wild eingefangenen grauen gepaart. Bis jetzt hat indessen nur ein 
Rattenpaar, ein wildes graues Männchen und ein weisses Weib- 
chen, befriedigende Ergebnisse geliefert. Die übrigen Ratten 
wie Mäuse haben sich entweder überhaupt noch nicht vermehrt, 
oder sie haben ihre Jungen bald nach der Geburt, oder aber 
sich selber unter einander aufgefressen. Besonders war ein 
wildes Rattenweibchen von einem hervorragenden Kannibalismus 
beseelt. Alle weissen Männchen, die mit ihm zusammengebracht 
wurden, wurden von ihm angebissen, todt gebissen und halb 
aufgefressen, so dass es, zur Zucht unbrauchbar, endlich ge- 
tötet werden musste. Von dem Rattenpaare jedoch, das sich 
vermehrt hat, sind bis jetzt fünf Würfe zu verzeichnen gewesen, 
und jeder Wurf bestand blos aus grauen, die Farbe des Vaters 
tragenden Jungen. Im ersten Wurf hatten dieselben alle eine 
ı—2 Mmtr. lange weisse Schwanzspitze, in den übrigen vier 
Würfen, bis auf ein Tierchen, dessen äusserste Schwanzspitze 
ebenfalls weiss war, waren alle samt und sonders wie die 
wilden Ratten grau, echte Kinder ihres Erzeugers. — Ich be- 
hielt mir von dem ersten Wurf einige Junge zurück; alle übrigen 
gab ich im Herbst 1890 an Herrn Loeffler zu seinen bakterio- 
logischen Untersuchungen. Herr Loeffler liess sie, da er an 
ihrer Zucht in einer bestimmten Richtung kein Interesse hatte, 
alle zusammen sitzen; doch blieben sie für sich allein; keine 
andere Ratte kam mit ihnen in Berührung. Im Frühjahr ı8gı 
liess mich Herr Loeffler rufen, um mir die Jungen zu zeigen, 
welche inzwischen geboren worden waren. Die sämtlichen 
älteren Ratten, welche Herrn Loeffler übergeben worden 
waren, waren grau. Einzelne waren fleckig ausgeblasst, grau 
und grau gescheckt. Von den Jungen aber war nur eins der 
Hauptsache nach grau, alle anderen waren grau und weiss ge- 


LS 
scheckt, 3 waren ganz weiss und 2 tief schwarz. — Von den 
vom ersten Wurfe zurückbehaltenen Ratten suchte ich ein 
Männchen und ein Weibchen, also Bruder und Schwester nächster 
Beziehung aus und brachte sie zur Zucht zusammen. Beide 
waren ächt rattengrau — die weisse Schwanzspitze war in- 
zwischen abgestossen worden —, und die zuerst geworfenen 
Jungen, elf an der Zahl? Keins ganz grau!‘ Eins grau mit 
mehr oder minder weiss an den Beinen, 5 grau und weiss, be- 
ziehentlich weiss und grau gescheckt, 3 weiss, ı weiss und 
schwarz gescheckt, ı ganz schwarz. Das Schwarz erwies 
sich somit hier in der That als die physiologische Zwischen- 
farbe zwischen weiss und der Grundfarbe grau, als welche sie 
nach den bisherigen Wahrnehmungen angenommen werden 
durfte und, wenn das auch nicht unmittelbar an den Kindern 
hervortrat, an den Enkeln zeigte es sich ausser Zweifel stehend. 
Später wurden ganz unter denselben Verhältnissen noch mehrere 
schwarze Tiere geboren. Sie alle waren Männchen, und wenn 
vielleicht auch stärker, kräftiger als die weissen, so doch ent- 
schieden schwächer als die einfach grauen, 

Ich versuchte in derselben Richtung auch Tauben und 
Hühner zu ziehen. Die Versuche mit Tauben schlugen fehl, 
weil es mir nicht gelang, ein gutes Zuchtpaar zu beschaffen. 
Es war mir bis jetzt unmöglich, eine ächte Feldtaube zu er- 
langen, welche bekanntlich von allen Taubenarten der Felstaube 
noch am nächsten steht. Doch ist immerhin interessant, dass 
von einem weissen Täuberich und einer Brieftaube, welche in 
ihrer Färbung der Feldtaube nahe kam und namentlich recht 
gute schwarze Binden besass, ein Täubchen gezeugt wurde, das 
weiss war und sepiafarbene Flügel, sepiafarbenen Schwanz 
und gleichfarbene Flecken an der Brust hatte, das Schwarz 
also wenigstens in einer gewissen Nüance enthielt. 

Dagegen waren die Versuche mit Hühnern von sehr be- 
stimmtem Erfolg. Vier rein weisse Hennen, italiener Rasse, 
Halbblut-Italiener und Halbblut-Brahma, wurden mit einem Hahn 
der alten Landrasse, ausgezeichnet durch seinen doppelten Kamm 
und sein bunt glänzendes Gefieder, in einer gut vergitterten 
Voliere zusammengebracht. Aus den bezüglichen Eiern wurden 
ausgebrütet und dann bis zur Fortpflanzungszeit aufgezogen neben 
einer Anzahl weisser Hennen, von denen einige später am Rücken 


einen kupferigen Schiller zeigten, ein kleines rebhuhnfarbenes 
Huhn, stark an die entsprechenden Italiener erinnernd, ein weisser, 
ein grauer (sogenanter Kuckuckssperber) und drei schwarze 
Hähne. Einer dieser letzteren war mit einem leicht goldigen 
Schiller am Halse versehen; die beiden anderen aber waren 
kohlschwarz. Beide waren ausserordentlich starke Tiere. Der 
eine hatte den doppelten Kamm des Vaters geerbt; der andere, 
dessen Mutter die Halbblut-Brahmahenne war, hatte das Aus- 
sehen eines Minorkahahnes. Von guten Hühnerkennern ist er 
auch von vornherein dafür gehalten worden und selbst, nach- 
dem denselben seine Abstammung behannt gemacht worden war, 
erklärten sie, trotzdem könne er als Minorkahahn auf jede Ge- 
flügel-Ausstellung gebracht werden und als solcher daselbst 
sogar einen Preis erhalten. Ich führe letzteres an, weil es mir 
auf die Rassenbildung ein Licht zu werfen scheint, unter welchem 
dieselbe bisher noch nicht recht betrachtet worden ist. 

Der Olm der Adelsberger Grotten, der Proteus anguineus, 
ist in der Regel gelbweiss mit einem bald schwächeren, bald 
stärkeren rötlich-grauen Anfluge, der im Lichte stärker und 
särker wird und zuletzt in ein förmliches Blauschwarz übergeht. 
Letzteres aber kann sich wieder verlieren und in das eigentümliche 
grauliche Gelbweiss zurückkehren, das vordem bestand. Es 
braucht dem Molch nur das Licht wieder entzogen, und er in 
dem anhaltenden Dunkel zu leben gezwungen werden, wie in 
den genannten Grotten, denen er entstammt. Das Schwarz be- 
ziehentlich Blauschwarz und das Weiss beziehentlich Gelbweiss 
stehen also auch hier in nächster Beziehung und gehen vielfach 
in einander über. Ja, hier ist sogar bekannt, was diesen Über- 
gang für gewöhnlich vermittelt: das Licht, und dass es von der 
Stärke desselben und der Dauer seiner Einwirkung abhängt, in 
welcher Weise der gerade in Betracht kommende Übergang 
sich macht und bis zu welchem Grade er gelangt. Viel Licht 
führt zu einer tiefen Schwärzung; aber auch schwaches Licht, 
wenn es nur Dauer hat, kann eine wenigstens verhältnismässig 
starke herbeifüren; schwaches Licht von keiner Dauer oder 
blosses trübes Dämmerlicht, das dazu noch häufig unterbrochen 
wird, lässt jedoch nur eine geringe Schwärzung, ein mehr oder 
minder lichtes Grau aufkommen. Das Schwarz ist so auch hier 
nicht der Gegensatz von Weiss, sondern nur eine Vorstufe 


167 


desselben, zu dem im übrigen zahllose andere allmählig hin- 
überleiten. 

Im Berliner Aquarium findet sich ein gelber Aal, an dem 
nichts Anderes als die Augen und zwar schwarz gefärbt er- 
scheinen. Neben diesem Aal in demselben Behälter tummelt 
sich ein anderer, der fast schwarz wie ein Meeraal, Conger, aus- 
sieht, aber einen ungleich breiten gelben Streifen am vorderen, 
beziehentlich oberen Teile des Rückens trägt und an verschie- 
denen Stellen des Rumpfes durch dessen Schwarz gewisser- 
massen ein gleiches Gelb durchschimmern lässt. Das Schwarz 
und Gelb dieser beiden Aale steht in offenbarer Beziehung zu 
einander. Die Urfarbe des Aales ist am Rücken und den 
Seiten olivengrün, olivenbraun und am Bauche weiss. Die 
Farbe der Seiten geht aber nur bei dem sogenannten Blankaal 
unmittelbar in dieses Weiss über; bei der ungleich grösseren, 
vornehmlich im Meere lebenden Anzahl von Arten dagegen 
findet sich zwischen ersterer und letzterer oft ein noch 
mehrere Milllimeter breiter gelber Streifen eingeschaltet, der 
sich in das Grün oder Braun der Seiten allmählig verliert, 
während er von dem Weiss des Bauches im Ganzen recht scharf 
abgesetzt ist. Dieser gelbe Streifen ist der Ausdruck eines ganz 
bestimmten Pigments, das sich von dem Weiss des Bauches 
aus über den ganzen übrigen Körper verbreitet und an diesem 
zum grössten Teil in das die olivengrüne oder olivenbraune 
Färbung bedingende übergeht. Nehmen die Bedingungen, unter 
denen das geschieht, zu, d. h. steigern sich die Vorgänge, unter 
denen die Pigmentbildung stattfindet, so tritt dieses quantitativ 
und qualitativ verstärkt auf. Die olivengrünen oder braunen 
Hautteile nähern sich dem Schwarz, erscheinen schwarz. Nehmen 
dagegen die Bedingungen, unter welchen diese Veränderungen 
vor sich gehen, ab, lassen die Vorgänge, die der Pigmentbildung 
zu Grunde liegen, nach, so tritt dieses auch sowohl der Masse, 
wie seiner Farbe nach verringert, geschwächt auf. Die oliven- 
grüne oder braune Farbe blasst ab, mehr und mehr kommt 
gelb zum Durchbruch. Anfangs schimmert es nur hier und da 
gleichsam durck; dann greift es an einzelnen Stellen, wie z. B. 
am Rücken, in einem mehr oder minder breiten Streifen Platz, 
der Aal ist gefleckt, gescheckt; endlich erstreckt es sich über 
die ganze, sonst dunkel gefärbte Hautdeeke und das gelbe Tier 


168 
ist fertig. Es entspricht dann etwa den Schimmeln unter den 
Pferden, wie da, wo das Gelb blos noch so durchscheint, den 
Grauschimmeln, den stichelhaarigen Tieren überhaupt. Das 
fragliche Schwarz geht somit auch hier dem das Weiss ver- 
tretenden Gelb vorauf, ist die physiologische Zwischenfarbe 
zwischen olivengrün oder braun und gelb, nicht aber etwa ein 
Gegensatz zu diesem. 

Und beim Menschen? Die sogenannten Weissen, d. h. die 
weissen Rassen sind keine Homologa der weissen Tiere oder 
weissen Tierrassen. Die sogenannten Weissen, welche ihren 
charakteristischsten Ausdruck in den Blonden finden, sind noch 
immer gefärbte, eigentümlich, wenn auch schwach gefärbte 
Menschen, vielleicht bis zu einem gewissen Grade gleich den 
rothaarigen, den Füchsen unter den Menschen, Erscheinungen 
einer Paraplasie des Pigments. Den weissen Tieren, den Kacker- 
lacken unter diesen, entsprechen allein die Kackerlacken unter 
den Menschen. Diese letzteren nun kommen zwar unter allen 
Menschenrassen vor, unter hell- und dunkelfarbigen, unter blonden 
Europäern, bräunlichen Asiaten und Amerikanern, allein nirgend 
häufiger als unter den mehr oder weniger schwarzen Bewohnern 
des Äquatorialgürtels, namentlich unter den Negern Afrikas und 
Centralamerikas. Unter diesen letzteren, unter denen sie über- 
haupt zuerst und zwar im vorigen Jahrhundert von Wafer in 
Panama gesehen worden sein sollen, sind sie wenigstens früher 
am öftesten beobachtet worden, vielleicht blos, weil die Gelegen- 
heit am öftesten sich darbot, vielleicht aber auch, weil die 
amerikanischen Neger unter ganz besonders ungünstigen Verhält- 
nissen, in einer drückenden Sklaverei lebten, dadurch sehr her- 
untergekommen und zu einer weit gehenden Entartung vorbereitet 
waren. Doch dem mag sein, wie ihm wolle; jedenfalls erweist 
sich hierdurch das Weiss auch beim Menschen erst als ein Folge- 
zustand des Schwarz, das unter allen Farben vorzugsweise zu 
ihm hinneigt, und damit denn wieder auch blos als eine Vorstufe 
und nicht als ein Gegensatz zum Weiss angesehen werden kann. 

Unter den Cretins, den Repräsentanten der weitest gehen- 
den Entartung der Menschennatur, giebt es zwei Arten, die Cretins 
im engeren Sinne und die Marrons, welche letztere hauptsächlich 
inSavoyen heimisch sind. Jene sind, mit Virchow zu reden, klein, 
missgestaltet, leukophlegmatisch, pastös; diese sind verhältnis- 


mässig gross, nicht auffallend ”ungestaltet, dazu trocken, hager. 
Die ersteren, wie es nach Rösch scheint, meist jung, sind blass, 
kreideweiss; die letzteren, nach demselben Gewährsmann meist 
älter, sind braun, woher sie denn auch Marrons, Marronen, heissen. 
Nach Virchov ist die Entartung der Marrons nie so weit ge- 
diehen, wie die der eigentlichen Cretins, vernehmlich auch ihre 
kleinen Köpfe nie so unförmig, wie diejenigen dieser. „Überall 
hier scheint die Schädeldifformität entweder eine mässigere zu 
sein, und man beschreibt die Leute als Halbcretinen, oder sie 
betrifft das Schädeldach“.*) Die weniger entarteten Marrons, 
die meist älter als die eigentlichen Cretins sind, wohl weil sie 
diese einfach überleben, indem sie widerstandsfähiger als diese, 
älter werden, die weniger entarteten Marrons also,sind braun, 
dem Schwarz sich nähernd, stärker pigmentiert; die, weiter ent- 
arteten ächten Cretins dagegen sind auffallend weiss, oft/an- 
scheinend kreideweiss, — daher denn auch nach Vieler Annahme 
überhaupt ihr Name Cretin, nämlich von cretinus,/ beziehentlich 
Creta, und nach Virchow’s Ansicht noch im Besonderen," um 
mit ihm zugleich den Gegensatz zu Marron auszudrücken —, 
die weiter entarteten Cretins also dagegen sind kreideweiss, ‚d. h. 
der Farblosigkeit sich nähernd und damit wenig oder so gut 
wie gar nicht pigmentiert. Das Schwarz, wenigstens relative 
Schwarz ist somit auch hier, in der Reihe der Entartungsformen, 
welche den Cretinismus darstellen, nur die Vorstufe des Weiss, 
nicht aber sein Gegensatz. 

Dasselbe zeigt sich endlich auch an verschiedenen Ver- 
färbungen der Haut und ihrer Anhänge, welche im Laufe des 
Lebens bei diesen und jenen Individuen auftreten und wohl 
immer durch Nerveneinfluss bedingt sind, vornehmlich an den 
Chloasmata und Vitiligines.. Jene zeigen sich als mehr oder 
minder grosse, dunkle, bisweilen sogar tief braunschwarze 
Flecken, welche eine sogenannte Nigrities partialis darstellen; 
diese erscheinen als entsprechende Stellen von hellerer Farbe, 
als sie die übrige Haut besitzt, häufig sogar weisslich, ja dem 
Anscheine nach selbst ganz weiss. Sehrmerkwürdig nun ist, 
dass die Chloasmata, die Nigrities partialis, den Vitiligines vor- 
aufgehen und zwar der Art, dass letztere sich an den Orten 


*) R. Virchow. Knochenwachsthum und Schädelformen, mit besonderer 
Rücksicht auf Cretinismus, Virchow’s Archiy f. pathol. Anat. u. s. w. Bd. XIIL.S. 355° 


170 


entwickeln, wo jene vor dem sich ausgebildet hatten, d. h. also, 
dass die Vitiligines gewissermassen die Chloasmata ablösen, 
verdrängen, indem sie sich an deren Stelle setzen. 

Ich habe einen Herrn zu behandeln gehabt, dessen Scrotum 
der Sitz grosser, unregelmässiger, schwarzer und weisser Flecken 
war, die anscheinend bunt durch einander wechselten. In 
Wahrheit aber sassen die weissen Flecke in mitten der schwarzen, 
indem sie von diesen wie von ungleich breiten Rändern, welche 
hie und da durch gesunde Haut, beziehentlich Hautfarbe getrennt 
erschienen, umgeben waren. Nach Aussage des betreffenden 
Herren sollen zuerst sich nur die schwarzen Flecken gezeigt 
haben und erst, nachdem dieselben eine Zeit lang bestanden hätten, 
in ihnen die weissen zum Vorschein gekommen sein. Anfangs 
seien diese letzteren nur klein gewesen; sodann aber haben sie 
sich mehr und mehr vergrössert, und in dem Masse, als das 
geschehen sei, haben sich dann die schwarzen Flecke selbst, in denen 
sie entstanden wären, vergrössert. Die schwarzen Flecke mit 
ihrer weissen Mitte haben sich mehr und mehr genähert, seien 
zusammengestossen, zusammengeflossen, und es habe zuletzt 
ausgesehen, als ob nicht blos die schwarzen Ränder, um die sich 
immermehr vergrössernden weissen Flecke breiter geworden und 
hie und da zusammengeflossen seien, sondern auch diese selbst. 

Übrigens wird von den Dermatologen ganz allgemein an- 
gegeben, dass die Vitiligines von bald breiteren, bald schmaleren, 
stärker oder schwächer pigmentierten Rändern umgeben sein, 
und dass diese in dem Masse centralwärts verschwänden und 
peripheriewärts neu entständen, als jene an Ausdehnung zunähmen. 
Eine stärkere Pigmentbildung, die gelegentlich bis zum Schwarz 
führt, geht also einer so schwachen Pigmentbildung, dass Weiss 
zur Erscheinung kommt, vorauf, und das Schwarz erweist sich 
damit auch hier wieder blos als eine Vorstufe, und nicht als 
ein Gegensatz des Weiss. 

Bei Leuten, die vorzeitig ergraut sind, was am häufigsten 
hei dunkel-, selbst scheinbar schwarzhaarigen der Fall sein dürftes 
welche in ihrer Jugend blond, in ihrer Kindheit vielleicht gar 
flachshaarig gewesen sind, kommt es vor, dass sie wieder dunkler 
werden, ihr Haupt-, ihr Barthaar sich wieder, wenn auch nur 
stellenweise, dunkel, tiefkastanienbraun bis schwarz färbt, in- 
dessen blos, wie es scheint, um nach einiger Zeit, und zwar in 


171 
je späterem Lebensalter um so sicherer, wieder rasch zu ergrauen 
oder gar weiss zu werden. — Bekanntlich lebt gegen das Alter, im 
Alter der Geschlechtstrieb, ehe er erlischt, noch einmal auf, in 
der Regel jedoch, um danach um so schneller völlig zu erlöschen: 
der Anergasie desselben geht eine zeitweilige Hyperergasie 
vorauf. So auch hier. Das alternde, alt gewordene Haar lebt 
gewissermassen noch einmal auf; es wird wieder dunkler, selbst 
schwarz, um danach jedoch, wie es den Anschein hat, desto 
schneller von Neuem zu ergrauen, selbst weiss zu werden. Das 
Schwarz geht dabei auch wieder nur dem Weiss vorauf, bildet 
keinen Gegensatz, sondern lediglich die Vorstufe zu ihm und ist 
damit denn auch in vielen Fällen offenbar nichts Anderes als 
die physiologische Mittel- oder Zwischenfarbe zwischen blond 
und weiss. 

Wir mögen so hinsehen, wohin wir wollen, das Schwarz 
und Weiss im Tierreich treffen wir nirgends im Gegensatz zu 
einander, sondern stets in den nächsten Beziehungen. Keine der 
zahlreichen Farben im Tierreiche haben so die Neigung in ein- 
ander überzugehen, wie gerade sie. Unter den vielfarbigen 
Arten zeigen sie Entartungszustände an, das Schwarz geringere, 
das Weiss weiter gediehene, zuweilen soweit gediehene, dass sie 
zum Erlöschen der Art führen, wie das namentlich unter den 
Kackerlacken der Menschen der Fall sein soll. Das Schwarz 
ist Ausdruck einer hyperergastischen, das Weiss solcher einer 
hypergastischen, um nicht zu sagen, anergastischen Konstitution. 

Halten wir das nun fest, so erklären sich endlich auch 
Vorkommnisse, wie die von Crampe erwähnten, warum 
z. B. ı) manche Arten mehr, manche weniger zu Farben- 
abänderungen neigen, und warum z. B. 2) in einem Wurf Hasen 
fünf Junge die Farbe der Art besitzen und eins weiss, gescheckt 
oder schwarz ist. Es sind nämlich einer Farbenveränderung, 
beziehentlich einer Vielfarbigkeit nur die Arten unterworfen, 
deren Individuen sich durch eine gewisse Widerstandslosigkeit, 
Impressionabilität, Vulnerabilität, und davon abhängige Bieg- 
und Schmiegsamkeit oder auch Anpassungsfähigkeit, welch’ 
letztere ja allein nur auf jenen ersteren beruhen kann, auszeichnen. 
Die zu Farbenänderungen geneigten Arten haben wir deshalb 
von vornherein als aus mehr oder minder schwächlichen Individuen 
bestehende anzusehen und dem oben Erörterten nach die schwarzen, 


udn 


die gescheckten, nb. weissgescheckten, die weissen selbst als beson- 
ders schwächlich geratene unter ihnen zu betrachten. Allerdings 
lässt sich das nur erklären, wenn wir das Leben nicht als etwas 
ganz Eigenes betrachten, sondern lediglich als eine in bestimmter 
Weise auf einen kleinen Raum konzentrierte Bewegung des grossen 
Alls, welche von ihrer Umgebung, d.i. von aussen her, unter- 
halten wird, wie etwa ein Wirbel in dem Gewoge eines mächtig 
dahiuflutenden Stromes; allein dann klärt sich auch die uns be- 
schäftigende Angelegenheit an der Hand des biologischen Grund- 
gesetzes wie von selbst auf. 

Dieses biologische Grundgesetz aber lautet: Kleine Reize 
fachen die Lebensthätigkeit an, mittelstarke fördern 
sie, starke hemmen sie und stärkste heben sie auf. Kehrt 
man den Satz um, insofern man die Reizgrösse ein und die- 
selbe, dagegen die Lebensthätigkeit, vertreten durch die ver- 
schiedenen Individuen, die veränderliche sein lässt, so lautet 
' das Gesetz: „Dieselben Reize, welche bei gewissen, widerstands- 
fähigen, darum als stark und kräftig bezeichneten Individuen 
die Lebensthätigkeit gerade anfachen und unterhalten, fördern 
und ‚beschleunigen sie bei andern, widerstandsloseren und darum 
schwächeren, hemmen sie bei noch schwächeren und heben sie 
auf, vernichten sie bei ganz schwachen.“ Das tägliche Leben 
liefert dafür die zahlreichsten Beweise, vom Alkohol und Tabak 
angefangen, bis zum Ärger und zur Freude. Auf die Farbe 
übertragen heisst das aber: Dieselben Reize, d. h. dieselben, 
namentlich äusseren Verhältnisse und Umstände, 
welche bei widerstandsfähigen, kräftigen, sogenannten 
Durchschnittsindividuen zu der Entwickelung der 
Grundfarbe einer Art führen, führen bei schwäch- 
lichen, speciellschwächlicher und darumreizungsfähiger 
in ihrem Hornblatt veranlagten Individuen zur Ent- 
wickelung der schwarzen Farbe in Folge von Pigment- 
hyperplasie, bei noch schwächlicheren zur Entwicke- 
lung eines mehr oder minder reinen Weiss in Folge 
von Pigmenthypoplasie und bei den schwächlichsten 
zur Entwickelung eines durchaus reinen Weiss mit 
roten Augen in Folge einer mehr oder weniger voll- 
ständigen Pigmentaplasie. Die etwaigen abwegigen Fär- 
bungen dagegen beruhen auf einer abwegigen Konstitution des 


173 


betreffenden Individuums von Hause aus, auf einer Besonderheit 
in der Geartung des mütterlichen Eichens, des väterlichen 
Samens oder auch beider. An der Rothaarigkeit, der Fuchs- 
farbe unter den Tieren, soll ein, wenigstens ein verhältnis- 
mässig grosser Überschuss an Schwefel Schuld sein, ein etwas 
geringerer an der gelben Farbe der Haare. Was bedingt die 
bläuliche, beziehentlich die ins Blaue spielende Farbe, welche 
vornehmlich bei Rindern, Kaninchen, Hunden vorkommt? 

Doch dass sind Fragen, die noch kaum angeregt sind, zur 
Zeit auch kaum anzuregen sind. Für jetzt mag darum genügen, 
dass wir überhaupt nicht mehr in Unkenntnis darüber sind, 
was die Vielfarbigkeit mancher Tierarten und ihre leichte Varia- 
bilität in der Farbe bedingt, denn das biologische Grundgesetz: 
Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel- 
starke fördern sie, starke hemmen und stärkste heben 
sie auf, giebt darüber genügenden Aufschluss. 


174 


M 
Die Körperwärme, besonders das Fieber, 
und das biologische Grundgesetz. 


Die Körperwärme ist das Ergebnis einer Verbrennung der 
Körperteile. Von der Art dieser Verbrennung, ob sie rascher 
oder langsamer vor sich geht, ob diese oder jene Stoffe, Ele- 
mentarverbindungen, dabei verbrannt werden, ob diese oder jene 
äusseren Verhältnisse sich dabei geltend machen, hängt es ab, 
ob die Körperwärme eine höhere oder niedrigere ist, ob sie 
einen allen gleichartigen Wesen mehr gleichen Charakter besitzt, 
oder sich davon abwegig zeigt. Denn auch die Wärme hat, 
wie das Licht ihre Verschiedenheiten. Der 'Thermanismus, die 
Thermochrosie ist wissenschaftlich nachgewiesen. 

Die dem gesunden Menschen zukommende Wärme bewegt 
sich zwischen 37,0 ° und 38,0 °C. Bei Einzelnen sinkt sie wohl 
auch ein wenig darunter, oder steigt auch ein wenig darüber. 
Als Durchschnittswärme, als sogenanntes Tagesmittel der be- 
züglichen Wärme für alle hat man daher 37,5 °C. angenommen; 
von derselben aus werden auch nunmehr alle Bestimmungen in 
Bezug auf Abweichungen und deren Grösse gemacht. Die 
Körperwärme von 37,5 °C. hat man deshalb als die normale 
bezeichnet. Sie stellt, als eine Euergasie des menschlichen 
Organismus, die Euthermosie desselben dar, und die Farbe, 
Chrosis, welche ihr zukommt, dürfte ebenso wie sie selbst als 
die normale angesehen werden. 

Steigt die Körperwärme über 37,5 °C., so ist sie Ausdruck 
einer Hyperergasie des jeweiligen Körpers, also eine Hyper- 
thermosie; sinkt sie unter 37,5 'C., so ist sie Zeichen einer 
Hypergasie desselben, also auch eine Hypothermosie. Hyper- 
thermosien über 38,0 °C. bezeichnet man als Fiebertemperaturen, 
Hypothermosien unter 37,0°C. als Collapstemperaturen. In- 
dessen ist dabei festzuhalten, dass nicht jede der bezeichneten 
Hyperthermosien als Ausdruck eines Fiebers und damit als eine 
Fiebertemperatur anzusehen ist. Es geschieht das freilich viel- 
fach; allein es ist auch vielfach davor gewarnt worden. Dem 


175 
Fieber, beziehentlich der Fieberwärme, der Fiebertemperatur, 
kommt noch etwas Anderes, Besonderes, zu. Ausser der Höhe 
ist auch die Farbe, die Chrosis, der normalen Wärme abgeändert. 
Die normale Thermochrosis ist eine anomale geworden, die 
Euthermosie in ihrer Steigerung zur Hyperthermosie eine Para- 
thermosie, und darin besteht das Wesentliche, Charakteristische 
der Fieberwärme. 

Jeder Verbrennungsvorgang wird, wenn sich die Bedingungen 
ändern, unter denen er sich vollzieht, ein anderer. Abgesehen 
davon, dass man dies schon, während er sich vollzieht, nach- 
weisen kann, liefern die Verbrennungsergebnisse vornehmlich 
dafür Beweise. Dieselbe Kerze, welche bei reichlicher Sauer- 
stoffzufuhr hell und licht brennt und fast nur Kohlensäure 
liefert, brennt bei ungenügender Sauerstoffzufuhr trüb und 
dunkel und liefert neben geringeren Mengen von Kohlensäure 
noch Kohlenoxydgas, Kohlenwasserstoffverbindungen, Kohle, 
in Form des Russes, überhaupt. Und dem entsprechend 
muss die Wärme, welche sie liefert, da die Beschaffen- 
heit derselben erwiesenermassen unter verschiedenen Um- 
ständen eine verschiedene ist, auch verschieden sein. Ihre Farbe, 
die jeweilige Thermochrose, muss einen anderen Charakter haben. 
Die Wärme, die ein eiserner Ofen ausstrahlt, ist eine andere als 
die, welche ein Kachelofen abgiebt, und empfindliche Personen 
behaupten, dass die aus einem glasierten Kachelofen stammende 
Wärme ihnen weniger angenehm sei, als die aus einem blos mit 
Tünche versehenen. Die letztere habe etwas Weicheres, sei 
weniger spitz. Dass die Wärme, welche glühende Metalle aus- 
strahlen, als eine andere gefühlt wird, als die, welche Gas- 
flammen oder gar das elektrische Licht verbreiten, ist allgemein 
bekannt. Die feuchte Wärme, die trockene Wärme, die als 
Gewitterschwüle bezeichnete Wärme u. s. w. sind ebenfalls in 
ihrer Verschiedenheit jedermann bekannt. Kurz die Thermochrose, 
die Farbe der Wärme, hängt gerade so wie die Farbe des 
Lichts von den Umständen ab, unter denen beide, Wärme und 
Licht, entstehen beziehentlich bestehen: von den Körpern, die 
verbrennen, von den Umständen, unter denen sie verbrennen, 
und von der Art und Weise, wie sie, Wärme und Licht, sich 
fortbewegen beziehungsweise sich fortbewegen können. 

Im Fieber nun, das, ich möchte sagen, die Fieberwärme 


liefert, ist der Stoffumsatz nicht blos der bezüglichen Temperatur 
gemäss beschleunigt, — sie beruht ja auf ihm —, sondern er 
ist auch verändert. Der Harnstoff, die Harnsäure sind, jedoch 
nur in dem Verhältnis, in welchem sie auch im gesunden Leben 
zu einander stehen, vermehrt; aber der Harnfarbstoff, das Urobilin, 
ist nach Jaffe, manchmal bis auf das gofache seiner normaler 
Weise ausgeschiedenen Menge gestiegen. Ebenso ist nach 
Salkowski die Kreatinin- und Kaliausscheidung durch den Urin, 
sowie nach Koppe der Gehalt des letzteren an Ammoniak, zum 
Teil sogar um ein ganz Erhebliches, grösser geworden. Auch die 
Kohlensäureabsonderung hat zugenommen, und zwar nicht selten, 
wie z. B. im Typhus, um ı13—15°/o. Statt 730-750 gr 
werden 800—850 gr davon in 24 Stunden ausgeatmet. Dagegen 
hat sich die Ausscheidung des Natrons, des Chlors in sehr auf- 
fälliger Weise, die der Phosphate wenigstens stark vermindert. 
Das Verhäitnis, in welchem die verschiedenen der genannten 
Ausscheidungsstoffe regelrechter Weise unter einander stehen, 
hat sich damit bald mehr, bald weniger verschoben. Woran 
das liegt, mag unerörtert bleiben; allein unter allen Umständen 
weist es darauf hin, dass der Stoffwechsel ein von der Norm 
abweichender, ein abwegiger und der ihm zu Grunde liegende, 
ihn ausmachende Verbrennungsprozess ein anderer, mehr oder 
weniger sich in fremden Bahnen bewegender geworden oder 
auch gewesen ist. Das Auftreten sonst nicht bemerkbarer Riech- 
stoffe im Harn, in der Ausathmungsluft, in den Hautausdünstungen, 
in den Darmgasen legt ein weiteres Zeugnis dafür ab. 

Die Fieberwärme, Fiebertemperatur ist danach aber nicht nur 
Ausdruck eines gesteigerten, sondern auch eigenartigen, d. h. 
von dem Gewöhnlichen abweichenden Verbrennungsvorganges 
der Körperbestandteile. Sie ist Ausdruck eines erhöhten, zu- 
gleich aber abwegigen und darum fremdartigen, darum aber auch 
wieder krankhaften Ernährungszustandes, einer Paratrophie des 
Gesamtorganismus, und ist darum endlich eine Parathermosie. 
Hierdurch unterscheidet sie sich eben von der einfachen Über- 
hitzung, der blossen der Hyperthermosie, und ist der Unterschied 
auch nicht haarscharf, so ist er doch immerhin so erheblich, dass 
in charakteristischen Fällen er deutlich wahrgenommen werdenkann. 

Jede Hyperergasie, jede Hypergasie enthält parergastische 
Beimischungen. Es ist undenkbar, und die Erfahrung hat es 


177 


gelehrt, dass eine Bewegung beschleunigt, dass sie verlangsamt 
werden kann, ohne dass sie sich dabei in ihrer Form veränderte: 
Die Wellen des Meeres, die Wellen des kochenden Wassers, 
die Wellen der Luft, die auf ein Blatt Papier verzeichnet werden, 
die Entwickelung der Chladni’schen Klangfiguren, jeder Kreisel, 
jede rollende Kugel, jeder Gährungs-, jeder Fäulnisprozess, die 
letzteren namentlich in ihren Produkten, von Brot und Kuchen, 
von Bier, Wein und Branntwein angefangen, bis zum eklen 
Fleisch, das im Eiskeller oder in der warmen Küche in Zer- 
setzung geraten ist, bezeugen dies zur Genüge. Jede Hyper- 
thermosie, jede Hypothermosie muss deshalb auch zugleich eine 
Parathermosie sein. Aber a potiore fit denominatio. Herrscht 
das hyper- oder hypergastische Moment vor, so Hyper- oder 
Hypothermosie; tritt besonders das parergastische Moment in die 
Erscheinung, so Parathermosie. In Folge dessen sehen wir denn auch 
insbesondere Hyperthermosien leicht in Parathermosien über- 
gehen. Die einfache Überhitzung wird zum Fieber, das wieder, 
wenn die Ursachen jener nicht in Wegfall kommen, sie nur 
steigert und so den bekannten Circulus vitiosus bilden hilft, der 
jede Krankheitsentwickelung gewissermassen beherrscht. Der 
Hitzschlag, nicht Sonnenstich, liefert dafür den besten Beweis. 

Ist die Fieberwärme dem Allen nach auch wohl eine eigen- 
tümliche, eine Parathermosie, so ist sie der Hauptsache nach 
doch eine Hyperthermosie, und das ist es, was mir am Herzen 
lag, erst festzustellen. Dasselbe lässt sich mutatis mutandis in 
Bezug auf die Collapstemperaturen sagen. Sind auch sie bald 
mehr bald weniger Parathermosien, das Wesentlichste an ihnen 
ist und bleibt doch, dass sie Hypothermosien sind. Ganz ab- 
gesehen von all den Erfahrungen und den etwaigen, daraus ent- 
springenden Bedürfnissen, welche zu den eben angestellten Er- 
örterungen geführt haben, sollen im Folgenden darum alle 
Temperaturen des menschlichen Körpers über 37,5° C. einfach als 
Hyperthermosien, alle unter 37,5° C. als Hypothermosien be- 
zeichnet werden. Für den beabsichtigten Zweck kann das nur 
zur Klärung der Sachlage beitragen. 

Die gesunde menschliche Körperwärme, die Euthermosie 
des Menschen von 37,5 C., ist, wie die Erfahrung gelehrt hat, 
im grossen Ganzen stets dieselbe. Der Mensch gehört wie die 
Hauptmasse der Säugetiere und Vögel zu den homöothermen 

12 


178 


Geschöpfen Bergmann’'s. Es kann zwar bei Herrschaft hoher 
Temperaturen der Umgebung, die über die Körperwärme hin- 
ausgehen, diese selbst eine Steigerung erfahren; sie erfährt eine 
solche auch, und zwar um so sicherer, je höher jene sind, je besser 
diese selbst die Wärme leitet und die Verdunstung der Körper- 
ausdünstungen hindert. Ebenso kann auch die Körperwärme 
mehr oder minder tief unter die Norm sinken und sinkt auch 
ebenfalls um so gewisser unter dieselbe, je tiefer die Tempera- 
tur der Umgebung unter jener steht, je besser die Elemente 
derselben die Wärme leiten und die Entweichung der Körper- 
ausdünstungen befördern. Allein zunächst leistet die Körper- 
temperatur, so zu sagen, noch Widerstand gegen die Temperatur 
der Umgebung. Sie bleibt fürs erste immer noch niedriger als 
die höhere Temperatur der Umgebung, und höher als die 
niedrigere derselben, sich so viel als möglich um 37,5° C. 
haltend, obgleich das Gesetz der Wärmeausgleichung dabei 
seine volle Geltung behält. Ganz besonders zeigt sich dies bei 
den niedrigeren Temperaturen der Umgebung. Während bei 
den höheren derselben, wenn sie anhalten, die Körpertempera- 
tur sehr bald steigt und sich ihnen nähert, weil die dem 
letzteren zu Grunde liegende, stets neugebildete Wärme nicht 
entweichen kann und sich darum je länger je mehr häuft, so 
hält sich bei niedrigen Temperaturen der Umgebung die Körper- 
temperatur verhältnismässig lange auf wenigstens annähernd 
gleicher Höhe der Normaltemperatur. Eine Temperatur der 
Umgebung von 42,0° C.—45,0° C., die also nur 5,0°—7,0° 
höher ist, als die normale Körpertemperatur, dürfte sich von 
dem Durchschnittsmenschen nicht über ein, zwei Stunden er- 
tragen lassen, ohne ihn in die grösste Gefahr zu bringen oder 
gar zu töten. Wird die Umgebung von Wasser gebildet, 
stellt sie z. B. ein Bad dar, so kann der Mensch eine Tempe- 
ratur von 45,0° C. sogar nur 10o—ız Minuten aushalten ohne 
in Lebensgefahr zu geraten. Denn steigt seine eigene Tempe- 
ratur über 42,0° C., so tritt bald Herzlähmung ein. Eine Tem- 
peratur der Umgebung, die 20,0 °—30,0° C. und noch niedriger 
ist, als die in Rede stehende Körpertemperatur, wird dagegen 
in der Regel ohne besonderen Nachteil ertragen und zwar weil 
die Körpertemperatur auf wenigstens annähernd 37,5 °, d.h. 36,0, 
35,0, 33,0°C. erhalten wird und nur in ganz besonderen Fällen 


179 


tiefer sinkt. Selbst Temperaturen der Umgebung unter 0,0°C., 
können, wie die alltägliche Erfahrung lehrt, noch ganz gut aus- 
gehalten werden, natürlich aber nur um so kürzere Zeit, je niedriger 
sie sind, weil die Körpertemperatur auf einer die Lähmung der 
wichtigsten Körperorgane, namentlich des Nervensystems, aus- 
schliessenden Höhe erhalten bleibt. Eine grosse Rolle spielt 
dabei wieder die Natur der Umgebung, und in dem die Wärme 
gut leitenden Wasser tritt die bezügliche Abkühlung wieder 
leichter und früher ein, als in der die Wärme im Ganzen schlecht 
leitenden trockenen Luft. Allein auch in sehr kaltem, selbst 
Eis haltendem Wasser kann doch diese Abkühlung, wie vor- 
nehmlich die Geschichte Schiffbrüchiger in den späten Herbst- 
und Wintermonaten lehrt, erst nach ı0, ı2, 20 Stunden erfolgen. 

Das Alles weist darauf hin, dass im Körper des Menschen 
wie der homöothermen Tiere ein Apparat, ein Organ, thätig 
sein muss, welches die Temperatur desselben, beziehentlich den ihr 
zu Grunde liegenden Verbrennungsvorgang so regelt, dass jene 
trotz der mannigfach wechselnden Temperaturen der Umgebung 
immer auf wenigstens annähernd 37,5° C. erhalten wird. Es 
weist das darauf hin, dass durch diesen Apparat die Ver- 
brennungsvorgänge, also der Stoffwechsel überhaupt, erhöht, 
beschleunigt wird bei äusserer Kälte, dass er dagegen herab- 
gedrückt, verlangsamt wird bei äusserer Wärme. Dieser Apparat 
ist das Nervensystem und wohl das ganze Nervensystem, wenn 
auch seine Anfänge oder Ursprünge an der äusseren und inneren 
Oberfläche, beziehentlich in dem Paremchym der einzelnen Organe, 
als Anfänge oder Ursprünge seiner centripetalen Abteilung, d. i. 
seiner receptiven oder sensibelen Sphäre, und daneben der Über- 
gang dieser letzteren in seine centrifugale Abteilung, d. i. seine 
reactive oder trophische, mithin auch motorische und sekreto- 
rische Sphäre, am Ende die vornehmste Bedeutung in demselben 
haben mögen. 

Die Temperatur der Umgebung wirkt als Reiz und zwar 
in einer gewissen Breite, die zwischen + 45,0° C. und — 10,0, 
15,0, — ?”C. liegt, als ein um so stärkerer, je niedriger sie ist. Dieser 
Reiz wird von den Aufnahme- oder Receptionsapparaten desNerven- 
systemes aufgenommen, recipiert, wird durch die aus ihnen ent- 
springenden centripetalleitenden Nerven nach dem Centralnerven- 
system geleitet, in dessen dem Bewusstsein dienenden Abteilung er 

12* 


180 

zu einer Empfindung oder Wahrnehmung wird, um dann durch 
die centrifugalen Nerven nach den Bethätigungs- oder Reactions- 
apparaten geführt zu werden, in welchen, oder vielmehr besser 
gesagt, mit welchen sie enden. In diesen Organen, beziehungs- 
weise deren Zellen, wird dadurch zunächst eine der Reizstärke 
oder auch dem Wechsel in derselben entsprechende Veränderung 
im Gange ihrer Ernährungsarbeit, des sogenannten Stoffwechsels, 
hervorgerufen. Derselbe wird beschleunigt oder verlangsamt, 
und zwar jenes mehr bei Abkühlung, dieses mehr bei Erwär- 
mung der Umgebung. Der entsprechende Ernährungs- oder 
Stoffwechselsvorgang, ein atomistisch-molekularer, wächst in der 
Regel bald so an, dass er als molarer in die Erscheinung tritt, 
und mehr oder minder ausgiebige Muskelbewegungen, die sich 
in Zittern und Schauern des ganzen Körpers, in Zähneklappen, 
Schütteln, Stampfen, Springen, Laufen, an den Tag legen, so- 
dann beschleunigte Atmung, beschleunigte Absonderungen, 
namentlich seitens der Nieren, aber wohl auch der Leber, der 
Magen- und Darmdrüsen, wofür der gute Appetit und die treff- 
liche Verdauung in der Kälte zu sprechen scheinen, sind die 
Folgen davon. Bei all’ diesen Vorgängen wird nun, wie wir 
wissen, Wärme erzeugt und inumso höherem Masse, je energischer 
sie sich abspielen. Kälte steigert die bezügliche Energie; aber 
wie jedermann an sich selbst wohl erfahren hat, jedenfalls in 
strengem Winter leicht erfahren kann, geht sie über ein gewisses 
Mass hinaus, so bewirkt sie das Gegenteil. Strenge Kälte, zu- 
mal wenn sie längere Zeit ihren Einfluss ausübt, wirkt hemmend 
auf die genannten Vorgänge ein. Es entwickelt sich ein läh- 
mungsartiger Zustand, meist geradezu als Lähmung bezeichnet; 
die Wärmebildung lässt nach, die Körperwärme sinkt. Und wird 
die Kälte noch strenger, oder währt ihre Einwirkung noch länger 
an, so führt jener lähmungsartige Zustand in den Tod hinüber. 
Die näher bezeichneten Vorgänge werden, weil die ihnen zu 
Grunde liegenden Thätigkeiten aufgehoben werden, selbst auf- 
gehoben. Es tritt Ruhe ein, das Tier, der Mensch stirbt. 

Was die Temperatur der Umgebung, die Kühle, die Kälte 
derselben thut, das thut jeder andere Reiz. Ein mehr oder 
minder starker Schlag, Stoss, Druck, ein entsprechender Knall, 
Blitz, Duft, Geschmack, rufen je nach der Stärke, mit der sie 
einwirken, eine grössere oder geringere Wärmesteigerung ins Sein. 


Dunst 
Dasselbe haben damit natürlich auch alle sogenannten Schädlich- 
keiten zur Folge, welche gerade zur Wirkung gelangten, ins- 
besondere Gifte, die je nach der Menge, in welcher sie zur 
Wirkung kamen, die Lebensthätigkeit selbst erhöhen oder herab- 
setzen, die Körperwärme damit steigern oder erniedrigen und 
demgemäss sich als Heilmittel oder als Gifte im engeren Sinne des 
Wortes erweisen. Unter den Giften sind es wieder hauptsächlich 
die organischen und unter ihnen die die sogenannten Infections- 
krankheiten verursachenden, welche in dieser Beziehung vorzugs- 
weise die Aufmerksamkeit in Anspruch genommen haben, und 
nach den heute gäng und gäben Anschauungen von Mikrobien, 
aber wohl auch das eine oder das andere Mal von dem eigenen 
Körper bereitet werden. Es sind das die Ptomaine, Toxine, 
Leukomaine u. s. w. 

Werden diese Gifte in die Säftemasse des Körpers auf- 
genommen, so entstehen je nach ihrer Art verschiedene entzünd- 
liche Krankheiten, Scharlach, Masern, Pocken, Rotlauf, Diphthe- 
ritis, Typhus, Cholera, Ruhr, Lungen- und Leberentzündungen, 
Entzündungen der Knochen, Muskeln, des Unterhautzellgewebes 
u. dgl. m. und mit allen diesen eine für sie mehr oder weniger 
charakteristische Steigerung der Körperwärme, ein Fieber. 
Dieses Fieber, oder vielmehr blos diese Fieberwärme, Fieber- 
hitze, ist um so höher, je grösser caeteris paribus die Menge 
oder Stärke des aufgenommenen Giftes war, und je grösser 
nach Intensität oder Extensität oder auch beiden zusammen die 
entzündlichen Zustände wurden, welche sie nach sich zogen. 
Aus der Höhe des Fiebers und heutigen Tages vornehmlich 
aus der der Fieberwärme, zieht der Arzt, natürlich wieder 
caeteris paribus, seine Schlüsse in Bezug auf die Schwere der 
jeweiligen Vergiftung und ihrer Folgen. Ist das Fieber stark, 
seine Temperatur hoch, so war die bezügliche Vergiftung schwer 
und zu ausgedehnten entsprechenden Ernährungsstörungen 
führend; ist dagegen das Fieber nur,schwach, seine Temperatur 
niedrig, so war die in Betracht kommende Vergiftung auch nur 
leicht und die durch sie herbeigeführten Ernährungsstörungen 
unbedeutend. Die Erfahrungen, welche mit dem Tuberculinum 
Kochii gewonnen worden sind, bestätigen das vollständig, so 
gut wie ein Experiment. Kleine Dosen, von 0,0005—0,001, 
steigern unter Umständen auch bei gesunden Menschen die 


182 


Körperwärme; grössere, von 0,00I —0,0015—0,002, rufen bei 
Tuberkulosen mehr oder weniger heftiges Fieber hervor; noch 
grössere führen zu Collaps und selbst zum Tode. Die Vac- 
cination thut, mutatis mutandis, so ziemlich dasselbe. Das Fieber, 
die Fieberwärme der Infectionskrankheiten hat so eine doppelte 
Ursache, ı. Die Reizung des Organismus durch die eingeführten 
Gifte und 2. die durch diese letzteren hervorgebrachten Ent- 
zündungen. Denn jede Entzündung, und um so deutlicher je 
schneller sie sich entwickelt, je akuter sie auftritt und verläuft, 
ist von Fieber begleitet. Die nach einfach mechanischen Ver- 
letzungen, nach Quetschung, Druck, Stoss, Schlag, nach Ver- 
brennung, Erfrierung auftretenden beweisen das. Jede Entzün- 
dung, jeder Entzündungsheerd stellt einen die Körperwärme 
beeinflussenden Reiz dar, und, je nachdem, wird er wie jeder 
andere Reiz, also auch die Temperatur der Umgebung, sich in 
Bezug auf sie geltend machen. Von dieser letzteren jedoch 
wissen wir, dass sie die Wärmebildung des Körpers um so höher 
steigert, je stärker sie bis zu einem gewissen Grade auf den 
Körper selbst reizend einwirkt, dass sie danach indessen die 
gedachte Wärme wieder mehr und mehr herabsetzt, indem sie 
die Bildung derselben hemmt. 

Bringen wir das in eine bestimmte Formel, so würde die- 
selbe etwa lauten: Kleine Reize fachen die Wärmebildung 
des Menschen wie nachweislich jedes homöothermen 
Tieres oder Wesens an; grössere Reize beschlew- 
nigen die Wärmebildung, noch grössere dagegen 
setzen sie herab, und über diese letzteren hinausgehende 
vernichtensie ganz. Aufdas biologische Grundgesetz übertragen 
würde das aber nun heissen: Kleine Reize fachen die Lebens- 
thätigkeit an, mittelstarke fördern sie, starke hemmen 
sie, und stärkste heben sie auf. Auch die Wärmebildung, die 
Wärme der Organismen, namentlich des Menschen, wie der 
homöothermen Wesen schlechthin, würde somit blos zur Be- 
stätigung desselben beitragen. 

Natürlich ist auch hierbei ganz individuell, was als ein 
schwacher, was als ein starker Reiz zu betrachten ist. Für 
schwache, widerstandslose und darum mehr oder minder reiz- 
bare Persönlichkeiten, Kinder, Greise, sind schon Reize stark zu 
nennen, die für kräftige und darum widerstandsfähige Personen, 


Mh 
a 


183 


gesunde Männer, nur als schwache, vielleicht auch einmal als 
mittelstarke zu gelten haben. Auch ist die Widerstandsfähigkeit 
ein und desselben Menschen nicht zu allen Zeiten dieselbe. Die 
bei verschiedenen Menschen und bei den nämlichen zu ver- 
schiedenen Zeiten verschiedene Neigung zu sogenannten Er- 
kältungen, welche im Wesentlichen nichts Anderes als Über- 
reizungen durch Abkühlung sind, finden hierdurch ihre Erklärung. 

Reizbare Persönlichkeiten, Frauen, zarte junge Männer, 
sogenannte nervöse Individuen, pflegen vielfach eine grössere 
als die Durchschnittswärme zu besitzen. Das Tagesmittel ihrer 
Temperatur beträgt 37,6%, 37,7°, selbst 37,8° und leicht geht es 
einmal über 38,0°C. hinaus. Schwächliche, nervöse, reizbare 
Menschen fiebern leicht, und ihr Fieber nimmt auf den geringsten 
Reiz hin bald einen hohen Grad an; 40,0°, 41,0°, 42,0°C. treten 
zumal bei nervösen Persönlichkeiten rasch auf, freilich um in 
der Regel auch ebenso rasch wieder zu verschwinden. Bei 
eben solchen Persönlichkeiten führen darum auch stärkere Reize 
gar nicht selten zu einer auffallenden Temperaturerniedrigung, 
und derselbe Reiz, welcher vielleicht erst eine Temperaturer- 
höhung bis auf 40,0%, 41,0°C. und darüber herbeigeführt hat, 
bewirkt durch Hemmung ein Absinken derselben bis auf 31,0, 
30,0°C. und darunter. Bei den an allgemeiner progressiver 
Paralyse leidenden Kranken, welche nach den leichtesten In- 
sulten, den oberflächlichsten Erkältungen, oft ein lebhaftes 
Fieber zeigen, dessen Temperatur bis auf 41,0°C. und darüber 
steigen kann, kommen bei schwereren Verletzungen, die sie er- 
fahren haben, ganz aussergewöhnlich niedrige Temperaturen 
vor. Bechterew beobachtete solche von 27,5°C., ich selbst 
solche von 27,0°C. und 25,5°C. in der Achselhöhle. In meinen 
beiden Fällen waren Lungenentzündungen, die zum Tode führten, 
die Ursache davon. Und dasselbe fand statt in einigen anderen 
Fällen, in welchen indessen die Temperatur nicht so tief, sondern 
Dur bis auf 73,02 220.@,, in, den letzten Tebenstagen «e- 
sunken war. 

Was eine Lungenentzündung macht, macht gelegentlich auch 
eine stärkere Darmreizung, machen Entzündungen, akute Verschwä- 
rungen, namentlich des Dickdarms. Die sogenannten subnormalen 
Temperaturen, welche dergleichen Zustände begleiten, sind dann 
auch nieht als Ausdruck einer Lähmung, sondern als einer zu 


184 


starken Reizung in einem heruntergekommenen, schwachen, 
widerstandslosen Organismus aufzufassen. Der betreffende Or- 
ganismus ist allerdings zur Erlahmung geneigt; aber er ist noch 
nicht erlahmt. Denn eine Erlahmung oder, des besseren Ver- 
ständnisses wegen, Erlahmtheit, schliesst all’ und jede Funktion 
aus. Allein auf Grund einer sich ausbildenden, einer beginnenden 
Lährnung, treten leicht krampfartige Zustände ein, welche jede 
energischere Funktion behindern, hemmen, und das hat in den 
bezüglichen Fällen wohl alle Mal statt. Die Temperatur- 
erniedrigung in der Cholera um 2,0° bis 3,0°C. unter die Norm 
wird so wohl nur durch die erwiesene starke Darmentzündung 
verursacht, welche den von den Kranken so viel beklagten 
innerlichen Brand bedingt, und der Umstand, dass bei Cholera- 
kranken kurz vor dem Tode, also wenn der Darm nicht mehr 
in der bisherigen Kraft auf den Gesamtorganismus wirken kann, 
und der von ihm eingeleitete und danach für einige Zeit gewisser- 
massen festgehaltene Verbrennungsprocess sich nunmehr gleich- 
sam von selbst macht, der Umstand, dass da wieder eine 
Temperaturerhöhung eintritt, spricht wohllediglich dafür. Alle so- 
genannten prämortalen und postmortalen Temperatursteigerungen 
lassen sich in gleicher Weise vielleicht am leichtesten erklären. 
Die voraufgegangene Hemmung der Wärmebildung lässt nach; 
der eingeleitete bezügliche Chemismus vollzieht sich von selbst. 

Die Körperwärme, Ausdruck der Lebensthätigkeit, wie 
immer sie sich auch zur Wahrnehmung bringt, folgt dem Allen 
nach lediglich dem biologischen Grundgesetze. Auch für sie 
gilt: „Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an; 
mittelstarke fördernsie, starke hemmen sie, und stärkste 
heben sie auf.“ 


185 


8, | 
Die Psyche und das biologische 
Grundgesetz. 


Was die Psyche ist, wissen wir nicht. Wir verstehen dar- 
unter das Etwas, durch welches die Wesen, denen wir es zu- 
schreiben, sich ihrer bewusst werden, indem sie durch die 
Reize der sie umgebenden Welt getroffen, diesen entsprechend 
empfinden, fühlen, sich regen. Was wir Psyche nennen, ist also 
wesentlich das Etwas, das wir als Bewusstseinsträger schlecht- 
hin ansehen, das die mit ihm ausgerüsteten Wesen gleichsam 
aus der übrigen Welt heraushebt, über dieselbe erhebt. Dieser 
Bewusstseinsträger schlechthin entwickelt sich indessen mit 
jedem Individuum, dem er eignet, wie dieses selbst. Er ist ein 
Produkt seiner Entwickelung und damit denn auch offenbar 
Produkt der Thätigkeit seiner Substanz. Die Substanz der 
Bewusstsein besitzenden Wesen, all’ derjenigen also, welche be- 
fähigt sind, sich ihrer jemals bewusst zu werden, trägt demnach 
in ihren Bestandteilen wenigstens die Elemente, die Bedingungen 
dazu, dass sie sich ihrer bewusst werden können. Das Bewusst- 
sein oder auch blos die Möglichkeit sich ihrer bewusst werden 
zu können, muss darum wieder an diese Bestandteile, beziehungs- 
weise die Elemente, aus denen sich dieselben zusammensetzen, 
geknüpft sein. Das Bewusstsein, die Möglichkeit sich seiner 
jemals bewusst werden zu können, muss deshalb eine Eigen- 
schaft dieser Elemente, beziehentlich ihres Zusammenwirkens 
sein, ist darum als eine Funktion der Wesen anzusehen, welche 
aus ihnen und ihrem Zusammenwirken hervorgegangen sind. 
Ein besonderes Etwas als Träger dafür ist nicht erwiesen; es 
ist nur angenommen. Die Psyche ist somit als etwas Besonde- 
res, vom übrigen Sein der bezüglichen Wesen Getrenntes auch 
Dicht zu erachten; sie kann nur als eine Funktion derselben, wie 


186 
etwa die Wärme, welche jene Wesen auch bilden, angesehen 
werden. Und Wärme und Psyche stehen sogar in einem un- 
verkennbar nahen Zusammenhange. Ja, wenn wir die bezüg- 
lichen Wärmeäquivalente, Motionen und Sekretionen, ins Auge 
fassen, so ist dieser Zusammenhang sogar ein sehr inniger. 
Gewisse psychische Vorgänge werden geradezu in jene Aqui- 


valente umgesetzt und, werden diese in ihrer Art sich zu be-. 


thätigen verhindert, so in die Wärme, die ihnen äquivalent ist. 

Es ist allerdings schwer, ja kaum, es ist gar nicht zu be- 
greifen, wie die Bestandteile, aus denen Bewusstsein entwickelnde 
Wesen zusammengesetzt sind, dieses Bewusstsein hervorbringen 


sollen. Denn die fraglichen Bestandteile sind erwiesenermassen 


rein stoffliche, sind rein materieller Art, wie die Bestandteile 
aller sonstigen sinnlich wahrnehmbaren Wesen. Eine Reihe von 
Forschern hat deshalb auch angenommen, den materiellen 
Stoffen, aus denen die sinnlich wahrnehmbare Welt besteht, 
komme Bewusstsein, wenn auch nur in seinen allerersten An- 
fängen zu, und jedes materielle Atom enthalte in sich die Be- 
dingungen wie zur Schwere, zu der Elektrizität, der Wärme, 
dem Lichte, dem Chemismus, so auch zum Bewusstsein, bezie- 
hentlich der Psyche. Andere, denen das nicht wohl möglich 
erschien, und unter diesen Lotze, nahmen neben den materiellen 
Atomen noch Seelenatome an, aus deren Verbindung mit den 
ersteren das, was wir Leben nennen, entstehen sollte. Als Aus- 
druck desselben sollte dann nach einer gewissen Richtung hin das 
Bewusstsein oder auch die Psyche überhaupt entstehen, die, wenn 
das Leben bedeutungsvoll gewesen wäre, wohl auch nach demsel- 
ben erhalten bleiben könnte, sonst aber mit ihm zu sein aufhörte. 
Noch Andere, also Dritte, welchen auch die Lotze’sche Auf- 
fassung nicht Genüge schafft, und die den Begriff Psyche enger 
fassen, sehen- in ihr etwas von dem Materiellen, dem Körper 
des jeweiligen Wesens, durchaus Verschiedenes, wenn ihn viel- 
leicht auch gänzlich Durchdringendes. Kurzum, was die Psyche 
ist, wie sie, beziehungsweise das Bewusstsein aus der Materie ent- 
stehen sollen, entstehen können, wissen wir nicht und werden 
wir auch wohl niemals wissen. Es erscheint das Bewusstsein 
als Produkt der Materie uns geradezu unbegreiflich. 
Nichtsdestoweniger sind die Bewusstseinsvorgänge doch 
alle an das Materielle, den Körper der bezüglichen Wesen 


187 


geknüpft und bringen sich nur durch diesen sowohl subjektiv 
als auch objektiv zur Geltung. Die Gesetze, nach denen sich 
alle materiellen Vorgänge in den betreffenden Wesen vollziehen, 
müssen deswegen auch für sie massgebend sein, wenigstens in 
ihrer Bedeutung für uns. Um sie einigermassen richtig zu be- 
urteilen, haben wir wenigstens kein anderes Mittel als die materiellen 
Vorgänge, durch welche sie veranlasst werden, und welche sie 
selbst der herkömmlichen Auffassung nach veranlassen, durch 
welche sie sich also bemerklich machen, und nach denen sie auch 
von all’ und jedermann seither beurteilt worden sind. 

Alle Bewusstseinsvorgänge, alle Bewusstseinszustände lassen 
sich auf ein blosses Fühlen, und zwar ein Sich-fühlen, ein Sich- 
selbst-fühlen in Bezug auf etwas Anderes zurückführen. Jede 
Empfindung, jede Wahrnehmung ist ein Sich-fühlen, Sich-selbst- 
fühlen und darum ein Selbst- oder auch schlechthin Gemein- 
gefühlszustand, ein Selbstempfinden, ein Selbstbewusstsein gegen- 
über dem Reize, welcher es hervorgerufen hat und erhält, und 
zwarzunächst blos insofern, als er eshervorgerufen hat und unterhält. 
Jedes Streben und damit auch jeder Trieb, jede Absicht, jeder Wille 
ist aber darum auch nichts Anderes als dieser nämliche Selbst- oder 
auch blos Gemeingefühlszustand, dieses Selbstempfinden, dieses 
Selbstbewusstsein in Bezug auf den genannten Reiz, und zwar inso- 
fern als es von ihm angezogen oder abgestossen wird, als es ihn er- 
strebt oder abwehrt, haben oder nichthaben will. Jede Aeusserung, 
Bethätigung, Handlung, mithin aber auch jedes Wort und was 
diesem zu Grunde liegt, jeder Gedanke, jeder Begriff, ist nur 
der Ausdruck davon, die beiden letzteren der subjektive, die 
ersteren der objektive. 

Anziehend, weil angenehm, wirken alle sogenannten mittel- 
starken Reize, abstossend, weil unangenehm, belästigend, widrig, 
schmerzend, alle starken. Der Duft der Rose, eines ganzen Rosen- 
bukets, ist angenehm; reines Rosenöl wirkt belästigend, widrig. 
Der leichte Thrangeschmack des Kaviar macht diesen zum 
Leckerbissen; Thran selbst ist unausstehlich. Den zarten Gesang 
eines wohlerzogenen Kanarienvogels hören wir mit Vergnügen; 
vor dem wilden Geschmetter eines sogenanten Natursängers 
halten wir uns die Ohren zu. Dem milden Morgen- und Abend- 
licht, vornehmlich im Frühling und Herbst, kommt etwas Er- 
quickendes, Labendes zu; das grelle Mittagslicht im Hochsommer 


188 


lässt uns halb die Augen schliessen. Auch das sanfte elektrische 
Glühlicht hat etwas Angenehmes, während das starke Bogen- 
licht, das volle Sonnenlicht schmerzt. Das sanfte Streicheln, 
Drücken der Haut wirkt wohlthuend ein; starkes Reiben, 
Quetschen, Kneifen derselben thut weh. Liebe und Hass sind 
demnach auch nicht Gegensätze, sondern lediglich Stufen, Phasen 
in der Stärke einer bestimmten Erregungsrichtung. Daher geht 
die Liebe auch so oft in Hass über, und kehrt der Hass, wenn 
er eine Zeitlang ohne Nahrung geblieben ist, wieder in Liebe, 
wenn auch nicht von alter Stärke, zurück. Liebe und Hass 
sind somit auch kein Geheimnis mehr. Magnetes Geheimnis ist ge- 
schwunden und das von Liebe und Hass auch. 

Wenn jede Empfindung, jede Wahrnehmung nur ein Selbst- 
oder Gemeingefühlszustand und damit ein Gefühl überhaupt ist, 
wofür die, wie die älteren Psychologen sagten, sie begleitenden 
oder betonenden Gefühle, die durch sie erzeugten Lust- oder 
Unlustgefühle, sprechen, — in Wirklichkeit liegt es indessen 
wohl so: Ein Reiz ruft je nach seiner Stärke, seiner Quantität 
ein Lust- oder Unlustgefühl hervor, das je nach seiner Qualität 
zu dieser oder jener Empfindung oder Wahrnehmung wird, die 
wohl in der Betrachtung, nicht aber thatsächlich von jenen zu 
trennen ist, da sie beide immer nur zusammen, als ein untrenn- 
bares Ganze vorkommen, — wenn also jede Empfindung und 
Wahrnehmuug nur ein besonderes, durch den ihnen zu Grunde 
liegenden Reiz bedingtes Gefühl ist, so müssen auch die ab- 
strakten Vorstellungen es sein, welche von ihnen zurückbleiben, 
aus ihnen sich entwickeln. Denn im Grunde sind diese ab- 
strakten Vorstellungen nichts Anderes als solche Empfindungen 
und Wahrnehmungen minus des bezüglichen, ich will einmal zum 
besseren Verständnis sagen, adäquaten Reizes, während die Empfin- 
dungen und Wahrnehmungen selbst nichts als solche Vorstellungen 
plus eben desselben ‚Reizes sind. Alle Vorstellungen aber, wie 
beschaffen sie auch sonst sein mögen, sind mithin auch blosse 
Gemeingefühls-, Selbstgefühlszustände oder auch Gemeingefühle, 
Selbstgefühle schlechtweg und zwar in ihrer Beziehung zu dem 
Reiz, welcher sie in das Leben rief und dabei anziehend oder 
. abstossend wirkte, ein scheinbar aktives Streben nach ihm oder 
von ihm weg, d. i. ein Begehren oder Abwehren desselben 
bedingte. Das Wort jedoch, als Zeichen dafür, das auch durch 


189 

andere Zeichen, Schreie, Gesten, Minen, Marken an Steinen, 
Bäumen, Wegen, am Erdboden, auf Holz, Papier, ersetzt werden 
kann, ist nur, wie das ja auch zum Teil längst anerkannt wird, eine 
Aeusserung dieses Zustandes, um einem Anderen denselben in 
allen seinen Beziehungen zu erkennen zu geben.‘ Durch das Zu- 
sammenleben mit Anderen ist das Zeichen dann durch eine Art 
stillschweigenden Uebereinkommens gewohnheitsmässig geworden; 
zur Bezeichnung desselben Gemeingefühlszustandes ist es dann 
von sämtlichen Beteiligten gebraucht worden. 

In der weiteren Entwickelung ist darauf wieder zur möglichst 
genauen Bezeichnung des betreffenden Gemeingefühlszustandes, 
um ihn von sehr ähnlichen unterscheiden lassen zu können, das 
Wort gewissermassen auseinandergelegt, die durch dasselbe gege- 
benekomplexe Bezeichnung noch durch andere spezialisiert worden. 
Es entstand so die Sprache, Sprache in dem Sinne, wie der 
Begriff derselben von den Anhängern einer dualistischen Welt- 
anschauung gebraucht zu werden pflegt. Mit der Begriffsbildung 
von vornherein, so, als ob diese ihr erst hätte voraufgehen 
müssen, hat die Sprache wohl nichts zu schaffen. Denn dass 
sie erst möglich geworden sei, nachdem sich Begriffe gebildet 
hätten, beruht wohl auf irrtümlichen Beurteilungen einer Reihe 
von sprachlichen Vorgängen. Die Begriffe dürften sich im 
Gegenteil erst mit der Sprache entwickelt haben. Zuerst ist 
immer, wie das auch noch heut zu Tage jede individuelle Ent- 
wickelung lehrt, blos ein Concretum, ein durch dasselbe hervor- 
gebrachter Gemeingefühlszustand — auf den kommt es immer 
an — durch das Wort bezeichnet worden, und erst nach und 
nach sind mehrere solche gleichartige oder sich auch blos ähnelnde 
Concreta, beziehentlich Gemeingefühlszustände unter demselben 
Zeichen, d. i. demselben Worte, begriffen worden. 

Dass mit der entwickelten Sprache und deren Lehre es 
sich gegenwärtig anders verhält, ist dem nicht entgegen. In- 
dessen das Wort, obwohl es nach wie vor dasselbe Zeichen 
geblieben ist, hat auch seinen ursprünglichen Wert bedeutend 
verändert. Es stellt sich beim Sprechen ein, ohne dass nach 
ihm gesucht, geschweige denn der Begriff in das Auge gefasst 
wird, den es bezeichnet. Jeder, auch nur einigermassen ge- 
wandte Redner weiss das. Er hält seine Rede und, nachdem 
er sie gehalten, ist gegebenen Falls er ebenso wie seine Zu- 


190 
hörer mit dem in ihr Gesagten zufrieden und nicht selten sogar 
darüber erstaunt, wie er zu allen den Worten gekommen ist, die 
sich ihm einstellten. Sie kamen ihm eben von selbst. Ja sogar 
über die einzelnen Gedanken, welche er in diese Worte kleidete, 
weiss er sich nicht Rechenschaft zu geben, weder wie sie kamen, 
noch woher sie kamen. Sie waren auf einmal da, und er wurde 
sich ihrer erst beim Aussprechen bewusst. Nicht er hatte die 
Gedanken, sondern die Gedanken hatten ihn, habe ich einmal 
bei einem. modernen Schriftsteller gelesen, und das passt so 
recht eigentlich auf jeden Redenden, jeden Sprechenden, und 
um so mehr, je besser er redet, je besser, d. h. je schnellere, 
gewandter er spricht. Der unerwünschte Umstand, dass ein 
sogenanntes unbedachtes Wort entflieht, das, so zu sagen, gar 
nicht beabsichtigt war und doch sich gar nicht selten durch das 
ganze Leben rächt, spricht nur dafür. Allein, was dem Redner 
unter allen Umständen zum guten Sprechen notthut, das 
ist ein gewisser erregter Gemeingefühlszustand, ein in bestimmter 
Richtung, weil durch bestimmte Reize erregtes und damit ver- 
stärktes Ichgefühl, das sich in einem bestimmten Interesse zu 
erkennen giebt. Daher auch der alte Satz: Pectus est, quod 
disertum facit! 

Damit jedoch würde in der That alles bewusste Leben, das 
ganze psychische Sein und Wesen, auf nichts Anderem, als einem 
blossen Fühlen, einem Sich-selbst-fühlen, und zwar entsprechend 
den aus der Umgebung und ihren Verhältnissen wirkenden 
Reizen beruhen. Und in Wirklichkeit kann ich denn auch nichts 
Anderes in ıhm erkennen! Denn alles psychische Leben is‘ 
lediglich das Aeussern eines Selbsgefühls, eines sich fühlenden 
Selbst, eines Ich’s. Wie das in Folge der Einwirkung, sit venia 
verbo, materieller Kräfte möglich ist, wissen wir eben nicht, 
ist auch gar nicht einzusehen, und deshalb werden wir es auch 
nie zu wissen bekommen; allein es ist nun einmal so. 

Das Selbstgefühl, das Gemeingefühl, aus dem das psychische 
Leben hervorgegangen ist, das Persönlichkeitsgefühl oder Ich- 
gefühl, zu dem es geführt hat, die aber alle im Grunde das- 
selbe sind, wie die zum Teil scherzhaften Ausdrücke: „Ich, ich 
selbst“, „Ich für meine Person“, „Ich, was mein hohes Selbst 
anlangt“ u. s. w. bezeugen, das Selbstgefühl also in seinen 
verschiedenen Modifikationen und Relationen, die wir an der 


Art und Weise, wie sie sich äussern, erkennen, bildet den Inhalt 
des psychischen Lebens. Von dem Selbstgefühl in dem an- 
gegebenen Sinne wissen wir jedoch durch E. H. Weber, dass 
Ess m = einem senauen ‚Verhältnisse zu) den Reizen‘ steht, 
welche dasselbe bestimmen. Das sogenannte psychophysische 
Grundgesetz oder Weber’'sche Gesetz, wie Fechner es genannt 
hat, besagt, dass, wenn in einer gewissen Breite, der der mittleren 
Reizgrössen oder Schwellenwerte, die Intensität der Em- 
pfindung um gleiche absolute Grössen zunehmen soll, 
der relative Reizzuwachs konstant bleiben muss, oder 
auch, dass ein Unterschied zwischen je zwei Reizen nur 
dann als gleich gross empfunden werden wird, wenn 
das Verhältnis derselben unverändert ein und dasselbe 
bleibt. Das Weber’sche Gesetz besagt so kurz, dass in einer 
gewissen Breite jeder Empfindungszuwachs proportional 
dem Reizzuwachs ist, und dass das Selbstgefühl sich damit 
ähnlich einem Manometer, Barometer, Thermometer, Elektro- 
beziehungsweise Galvanometer, Photometer u. dgl. m. verhält. 
Es hat dies Weber’sche Gesetz, wie gesagt, allerdings volle 
Gültigkeit nur in der Breite der mittleren Schwellenwerte, der 
mittelstarken Reize; vornehmlich in der Region der grossen 
Schwellenwerte, der starken Reize, ist der Reizzuwachs nicht 
mehr ganz proportional dem Empfindungszuwachs; sondern um 
denselben Empfindungszuwachs zu bewirken, muss der Reizzu- 
wachs immer grösser werden, bis dann schliesslich überhaupt 
durch Zunahme der Reizgrösse keine Zunahme der Empfindung 
mehr erzielt wird; allein im Grossen und Ganzen behält das 
Gesetz darum doch seine Gültigkeit. Man kann daher schlecht- 
hin auch immer sagen: „Der Empfindungszuwachs ist propor- 
tional dem Reizzuwachs.“ Das Selbstgefühl verhält sich somit 
gleichsam wie die Flüssigkeitssäule oder die Spiralfeder in jedem 
Kraftmesser, nainentlich wie letztere, die auch in der Region 
der höheren Grade der zu messenden Kraft immer stärker be- 
lastet werden muss, um gleiche Ausschläge des bezüglichen 
Zeigers zu bewirken, und es zeigt sich damit in keiner Weise 
abwegig von Vorkommnissen, welche auch sonst in der Natur 
Statt haben. 

Das Selbstgefühl, Ichgefühl, Ich, ist also von der Aussen- 
welt und ihren Reizen in ganz bestimmter, gesetzmässiger Weise 


192 


abhängig. Es wird in ihr in ganz bestimmter, gesetzmässiger 
Weise beeinflusst. Es ist gewissermassen das Dynamometer, 
beziehungsweise die Skala an demselben, durch welches das 
betreffende Wesen erfährt, wie und welche Kräfte der Aussen- 
welt auf dasselbe wirken. 


Weniger von der Art dieser Kräfte, gemeiniglich Reize 
genannt, als von der Stärke derselben hängt es ab, wie das 
Selbstgefühl, das Ichgefühl, das Ich eines Wesens berührt wird. 
Dasselbe kann gesteigert, erhöht, es kann herabgesetzt, ver- 
mindert werden; es kann ebenso auch eine Förderung und eine 
Hemmung erfahren. Denn Steigerung, Erhöhung und Förderung 
sind hier, d. h. in Betreff des Selbstgefühls nicht etwa Eins, 
ebenso wenig wie Herabsetzung, Verminderung und Hemmung; 
im Gegenteil ein gesteigertes, erhöhtes Selbst- oder Ichgefühl 
ist in der Regel ein gehemmtes, ein herabgesetztes, vermindertes 
ein gefördertes. Das gesteigerte, erhöhte Ich nur fühlt sich 
leicht gehemmt, das herabgesetzte, verminderte gefördert. Das 
erstere erscheint deshalb in seinen Äusserungen wie bedrückt, 
belastet, mehr oder minder nach Befreiung von dem bezüglichen 
Druck, der bezüglichen Last strebend; das letztere erscheint 
frei und ungebunden, in Gleichgültigkeit, Behaglichkeit, Heiter- 
keit, selbst Ausgelassenheit geniessend, was der Augenblick 
bietet. Das erstere wird damit zum melancholischen, melan- 
cholisch-cholerischen, cholerischen Ich, beziehungsweise Tempera- 
ment desselben, dies, das ist das letztere, zum phlegmatiseuzu 
phlegmatisch-sanguinischen, sanguinischen. 


Steigern sich die charakteristischen Züge der angeführten 
verschiedenen Formen des Ich’s oder Selbstgefühls, d. h. treten 
die Temperamente des letzteren schlechtweg immer stärker 
hervor, überschreiten sie die Breite des Gewöhnlichen, des 
Masses, das der Durchschnittszahl der Wesen gleicher Art eigen 
ist, werden sie damit aussergewöhnlich, krankhaft, so entsteht 
die Melancholie im engeren, landläufigen Sinne des Wortes, die 
Melancholia passiva, activa, der Furor, die Manie, die Mania 
sensu strietiore, die Chaeromanie, der Stupor. Die Melancholie 
ist das gehemmte Ich in des Wortes vollster Bedeutung, die 
Manie das geförderte Ich in demselben Sinne und der Stupor 
das 'aufgehobene, das wvernichtete, zu Grunde sc 


193 


gangene Ich, soweit dies eben der Fall sein kann, ohne dass 
der Tod des betreffenden Wesens erfolgt ist. 

Was man im gewöhnlichen Leben, in der schönen Literatur 
ein vernichtetes, ein zu Grunde gegangenes Ich .nennt, ist etwas 
Anderes. Darunter wird ein verzweifeltes, tief niedergeschlagenes, 
zum Tode bedrücktes Ich verstanden, also ein melancholisches, 
das zwar leicht ein stuporoses werden kann, indessen es noch 
nicht ist. Die Melancholie, das gehemmte Ich oder Selbstgefühl, ist 
aber auch zugleich ein gesteigertes, erhöhtes, also hyperästhe- 
tisches Ich oder Selbstgefühl, weil, wie schon hervorgehoben 
worden ist, und die Erfahrung alltäglich lehrt, nur ein solches 
hyperästhetisches, also überempfindliches Ich oder Selbstgefühl 
sich immer zu stark berührt, beeinträchtigt, bedrückt, behindert, 
gehemmt fühlen kann. Die Melancholie ist darum auch wesent- 
lich eine Hyperthymie, eine krankhafte Steigerung, Erhöhung 
des Selbstgefühls, das leicht eine zu starke Reizung erfährt und 
dadurch zum Unlustgefühl wird, zum Gefühl des Bedrücktseins, 
des Gehemmtseins und damit des Sich -nicht-bethätigen-könnens 
in der angemessenen Form. Das melancholische Ich ist demnach 
auch kurzweg das unlustige Ich, das schmerzerfüllte Ich und 
zwar auf Grund seiner Hyperästhesie, d. i. der Hyperthymie, 
die es darstellt, und in der es sich, so zu sagen, weil erhöhter, 
erhabener, so nicht entsprechend berücksichtigt, vorkommt. 

Die Manie, das geförderte Ich oder Selbstgefühl, ist davon 
so ziemlich das Gegenteil. Sie ist das hypästetische Ich oder 
Selbstgefühl, das nur wenig, z. T. sehr wenig empfindlich ist, 
deshalb durch alle Einwirkungen nur schwach, vielfach auch gar 
nicht beeinflusst wird und aus diesem Grunde sich auch nur wenig 
oder selbst gar nicht gehemmt fühlt. Im Gegenteil, weil es sich 
nicht gehemmt fühlt, fühlt es sich frei und ungebunden und wie 
in seinem Streben, sich in ihm gleicher Form zu äussern, gefördert. 
Die Manie, das geförderte Ich oder Selbstgefühl ist das, was 
es ist, auf Grund einer gewissen Stumpfheit, Hypästhesie, die 
ihm eignet. Die Manie ist das lustige, das heitere, das aus- 
gelassene Ich, weil dieses die Hindernisse, die Hemmnisse nicht 
ordentlich fühlt, die es überall umgeben und sich ihm entgegen- 
stellen. Die Manie ist somit die Hypothymie, auf Grund welcher 
schrankenlose Ungebundenheit und damit sich allerdings auch 
eine gewisse Erhoben- oder Erhabenheit geltend macht, die aber 

13 


194 


doch von der die Hyperthymie kennzeichnenden verschieden ist. 
Beide unterscheiden sich z. B. sehr charakteristisch als Selbstgefühl 
eines nervösen Aristokraten und Selbstgefühl eines angetrunkenen 
Protzen. 

In der Regel wird die Melancholie als ein blosser Depres- 
sionszustand, die Manie als ein reiner Exaltationszustand be- 
schrieben, jene als ein depressiver, dieser als ein expansiver 
Affekt bezeichnet.. Ich muss darauf hinweisen, um nicht in den 
Ruf zu kommen, mit meiner Auseinandersetzung Verwirrung an- 
gerichtet zu ‘haben. Nach dem schon Besprochenen ist es ja 
richtig, dass, wenn die Melancholie das gehemmte, die Manie 
das geförderte Ich ist, jene auch einen depressiven, diese einen 
expansiven Affekt darstellt, jene ein Depressions-, diese ein 
Exaltationszustand ist. Allein es geschieht das nur — ich wieder- 
hole es — weil jene vor Allem eine Hyperästhesie, die Hyper- 
thymie, und diese ein Hypästhesie, die Hypothymie, darstellt, 
Und darauf kommt es zum Verständnis, dem genetischen Ver- 
ständnis des Ganzen an. 

Ist die Melancholie die Hyperthymie, die Manie die Hypo- 
thymie, so ist der Stupor, der ächte wahre Stupor, die Athymie, 
wenigstens soweit als dies bei einem lebenden Wesen möglich 
ist. Auch hier zur Vermeidung von Missverständnissen, Athymie, 
im hier gebrauchten Sinne, ist nicht, was wir gewöhnlich Mut- 
losigkeit nennen; das ist ein melancholischer Zustand; sondern 
es ist auch wieder und zwar noch mehr als die Manie, das 
Gegenteil davon. Was hier aus Zweckmässigkeitsgründen als 
Athymie bezeichnet worden ist, entspricht dem, was man sonst 
in der Regel Apathie nennt, das in der That aber nur eine 
Selbstgefühlslosigkeit, Ichlosigkeit, und das ist eben die Athymie, 
anzeigt. 

Der physiologische, beziehentlich anatomisch-physiologische 
Grund für alle diese Verhältnisse liegt bei den höheren Wesen 
und vornehmlich beim Menschen, bei welchem bis zu einem ge- 
wissen Grade es nachgewiesen werden kann, in der Ernährungs- 
und den davon abhängigen Reizleitungsverhältnissen des Nerven- 
systems. Denn das Nervensystem und in diesem wieder das 
Gehirn, und in Sonderheit, das grosse Gehirn, ist der materielle 
Träger des Bewusstseins und damit des Selbstgefühls, des Ichs. 
Die Arbeit des grossen Gehirns, seine Funktion, ist, die ihm 
zugeführten Reize bewusst zu machen und die bewusst gemachten 


195 


in entsprechende Thätigkeiten, Handlungen, umzusetzen. Durch 
centripetalleitende Nerven und deren Reizaufnahme- Apparate 
werden sie ihm nach physikalischen Gesetzen zugeführt; durch 
centrifugalleitende Nerven und deren Reizumsatz-Apparate werden 
sie wieder von ihm auf gleiche Weise abgeführt. Während die 
Reize das Gehirn selbst durchwandern, empfindet es sie, nimmt 
es sie wahr, wird es sich ihrer bewusst. Was geht dabei vor? 
Das ist eben die Frage, die wir nicht zu beantworten vermögen, 
obwohl wir uns recht gut schon sagen können, was rein physika- 
lisch dabei geschieht, geschehen muss. 

Die centripetalleitenden Nerven leiten die sie erregenden 
Reize 2—3 mal so rasch als die centrifugalleitenden. Die Folge 
davon ist, dass die fraglichen Reize in dem zwischen beiden 
liegenden Gehirn, in welchem auch noch wieder eine Menge 
entsprechender Leitungsverschiedenheiten zwischen seinen Ele- 
menten vorhanden sind, aufgehalten, gehemmt werden. Dabei 
wird die lebendige Kraft, welche diese Reize darstellen, in 
Spannkraft, Druckkraft umgewandelt und so lange aufgestapelt, 
bis die vorhandene, durch immer wieder neu angekommene und 
in Spann- oder Druckkraft umgewandelte, lebendige Kräfte so 
verstärkt worden ist, dass sie die hemmenden Leitungswider- 
stände zu überwinden vermag und sich damit wieder in leben- 
dige Kraft umsetzend in die centrifugalleitenden Nerven entladen 
kann. In den mit diesen zusammenhängenden Endapparaten, 
den verschiedenen Äusserungs- oder Reaktionsorganen, treten sie 
dann als sogenannte auslösende Kraft auf. 

Aus diesem Gehemmtwerden, Gehemmtsein der einwirken- 
den Reize geht aber allem Anscheine nach das Selbstgefühl, 
das Ich in den verschiedenen Modifikationen hervor, weiche wir 
besprochen haben. Die vorhandenen Spannkräfte, ihr Druck 
auf das Hindernis, das ihre Umwandlung aus lebendigen Kräften 
bedingt und ihre Wiederumwandlung in lebendige Kräfte annoch 
verhindert, werden bewusst, und es tritt der jeweilige, eigenartige 
Selbstgefühlszustand in’s Leben, wie das seiner Zeit auseinander- 
gesetzt worden ist. Je grösser die Menge der vorhandenen 
Spannkräfte ist, um so grösser muss das Hindernis sein, unter 
dem sie entstanden; um so grösser jedoch muss auch das aus 
ihnen hervorgehende Selbstgefühl an sich, sowie der Druck, die 
Hemmung sein, welche dieses an oder von dem Hindernis her 

13% 


empfindet, durch dessen Einwirkung es selbst erst entstand. 
Jedes stärkere Selbstgefühl, jedes regere Ich muss darum auch 
ein gehemmtes sein. Die Erfahrung lehrt es auch alle Tage. 
Die Unzufriedenheit, nämlich mit dem Gegebenen, ist der erkenn- 
bare Ausdruck davon. Umgekehrt, je weniger Spannkräfte in 
dem Gehirn angesammelt sind, um so geringfügiger kann 
auch nur das Hindernis sein, unter dessen Einfluss sie überhaupt 
entstehen. Die ankommenden, lebendige Kräfte darstellende 
Reize werden mehr oder weniger rasch weiter geleitet. Damit 
muss dann aber auch das aus den bezüglichen Spannkräften 
hervorgegangene, sie in gewisser Weise kennzeichnende Selbst- 
gefühl nur ein geringes, und der Druck, den es Seitens des in 
Betracht kommenden Hindernisses empfindet, ein unbedeutender, 
kaum zu bemerkender sein. Jedes schwächere Selbstgefühl, 
jedes trägere Ich muss deshalb auch ein gefördertes sein, und 
das tägliche Leben beweist auch dies. Die Zufriedenheit, die 
Wohligkeit, die Ausgelassenheit ist die Marke davon. Das un- 
zufriedene, verdriessliche, mürrische, nach Veränderung strebende 
Ich ist als solches immer ein starkes, bedeutendes; das zufrie- 
dene, gelassene, heitere und fröhliche, nach Genuss der Gegen- 
wart drängende ist immer ein schwaches, ein unbedeutendes. 
Dass jenes ein für Andere leicht unbequemes, dieses ein immer 
bequemes ist, ändert daran auch nicht das Geringste. 

Der Unterschied in den Leitungsverhältnissen zwischen 
centripetal- und centrifugalleitenden Nerven ist schon in gewöhn- 
lichen Zuständen, d. h. solchen, die wir als normal bezeichnen, 
ein marnigfaltiger. Die Thatsache, dass die ersteren 2—3 mal, 
also in einer nicht genau bestimmbaren Breite schneller als die 
letzteren leiten, beweist das. Es ist das bei den verschiedenen 
Individuen verschieden. Auch leiten nicht alle centripetal-, nicht 
alle centrifugalleitenden Nerven gleich rasch. Unter jenen dürften 
die höheren Sinnesnerven, besonders N. opticus und acusticus, 
unter diesen die Vasomotoren und vorzugsweise die Regulatoren 
des Herzens am raschesten leiten. 

Auf diesen mannigfachen, im Einzelnen ganz individuellen 
Verschiedenheiten beruhen die Temperamente und ihre krank- 
haften Ausschreitungen, die oben aufgeführten psychischen 
Störungen. Ist der Unterschied in der Geschwindigkeit der 
Leitung der centripetal- und centrifugalleitenden Nerven sowie 


197 

des zwischen beiden eingeschaltenen Gehirns nur ein geringer, so 
kommt es in diesem letzteren zu keinen sonderlichen Hemmungen 
und damit auch zu keinem recht gehemmten Ich. Ist die Erreg- 
barkeit des Nervensystems überhaupt dabei eine geringe, so 
entsteht vielmehr das lässige, behäbige Ich, das sich im phleg- 
matischen Temperamente zum Ausdruck bringt, und ist die ge- 
nannte Erregbarkeit eine grössere, so entsteht das heitere, 
fröhliche, ausgelassene Ich, das sich in den verschiedenen Formen 
des sanguinischen Temperaments an den Tag legt. Wenn da- 
gegen der Unterschied in der Leitungsgeschwindigkeit der 
centripetal- und centrifugalleitenden Nerven sowie des dazwischen 
liegenden Gehirns ein grösserer ist, so kommt es je nach der 
Grösse dieses Unterschiedes zu mehr oder weniger grossen 
Hemmungen in diesem letzteren und daraufhin auch zur Aus- 
bildung eines mehr oder weniger gehemmten Ich’s. Das melan- 
cholische, das cholerische Temperament kommt zur Erscheinung. 
Werden die in Rede stehenden Verhältnisse in der Leitungs- 
geschwindigkeit der verschiedenen Nerven-, beziehentlich Ab- 
teilungen des ganzen Nervensystemes durch krankhafte Zustände 
in ihm sehr verschoben, gleichen sich die betreffenden Leitungs- 
unterschiede mehr aus, wachsen sie mehr an, so entsteht der 
Stupor, der ächte, rechte Stupor — denn es giebt auch einen 
Stupor, der eigentlich eine Melancholie ist, die Melancholia 
stuporosa, cum stupore oder, wie man ihn sonst wohl noch 
nennt — und ferner die Manie, die Melancholie, der Furor. Da 
die betreffenden krankhaften Zustände aber auf entsprechenden 
Ernährungsvorgängen beruhen, welche im grossen Ganzen immer 
ein und denselben Gang einhalten, schwach anfangen und all- 
mählich erst an Stärke gewinnen, so treten auch die bezüglichen 
psychischen Störungen im grossen Ganzen immer in derselben 
Weise, hauptsächlich Reihenfolge, auf. Den Reigen eröffnet 
die Melancholie. Ihr folgt der Furor. Die Manie verdrängt 
diesen und an ihrer Statt tritt endlich der Stupor, häufig ersetzt 
durch eine Melancholia stuporosa, auf. Genesung oder unheil- 
barer Blödsinn bildet ‚das Ende beider. 

Nach diesen Auseinandersetzungen, welche hauptsächlich 
gemacht worden sind, um den scheinbaren Widerspruch zu lösen, 
der in der Annahme liegt, dass das gehemmte Ich ein an sich 
erhöhtes und das geförderte ein an sich herabgesetztes sein soll, 


198 
wenden wir uns wieder zu den Reizen und ihren Wirkungen auf 
das Selbstgefühl, Ichgefühl, das Ich selbst. 

Wenn jemand aufmerksam eine zechende Gesellschaft beob- 
achtet, so wird er leicht Gelegenheit bekommen, die allmählich 
sich steigernde Wirkung des Alkohols und seiner Verbündeten 
sowohl an und für sich, als auch in Bezug auf die einzelnen 
Persönlichkeiten wahrzunehmen. In letzterer Beziehung herrschen 
viele Verschiedenheiten. Sie sind so zahlreich wie die Individuen, 
die sie zu erkennen geben. Sie beruhen eben auf dem Indivi- 
duellen. Dessenungeachtet ordnen sie sich doch auch wieder 
einem allgemein Gültigen unter, das gewissermassen den Rahmen 
bildet, in dem sie alle erscheinen, und dies ist das Charakteristische 
der Alkoholwirkung. Dieses Charakteristische der Alkohol- 
wirkung in psychischer Beziehung zeigt sich nun zuerst, also nach 
einer geringen Einfuhr von Alkohol, in einer leichten Erhöhung 
des Selbstgefühls. Das betreffende Individuum kommt sich in 
sich gefestigter vor. Es zeigen alle seine Äusserungen mehr 
Zuversicht und Selbstvertrauen, daher auch mehr Haltung, selbst 
Würde. Danach tritt, nach weiterer Aufnahme von Alkohol, 
ein Zustand ein, in welchem das Individuum sich offenbar schon 
recht gehoben fühlt und das durch allerhand Überhebungen 
anzeigt. Es tritt aus sich heraus, drängt sich mehr und mehr 
hervor, zunächst noch in mehr rücksichtsvoller, sehr bald aber 
auch in mehr oder weniger rücksichtsloser Weise. Es ent- 
wickelt sich in ihm eine missmütige, ärgerliche Stimmung; es 
fängt an zu nörgeln, zanken, zu streiten und, wie man ja weiss, 
leider auch oft genug handgreiflich zu werden oder in Heulen 
und Elend zu verfallen. Wird nun noch mehr Alkohol aufge- 
nommen oder kommt der bereits aufgenommene zu stärkerer 
Wirkung, so schlägt die Stimmung jetzt in der Regel um. 
Das betreffende Individuum zeigt sich heiter, selbst ausgelassen, 
macht allerhand Scherze und Spässe und lässt solche mit sich 
treiben. Haltung und Würde, die eine Zeitlang zugenommen 
hatten, gehen mehr und mehr verloren. Das Individuum macht 
sich zum Narren, lässt sich zum Narren machen und dünkt sich 
zur Herrlichkeit geboren, ein halber Gott zu sein. Geht die 
Alkoholwirkung weiter, so fängt das Individuum an, unbesinn- 
lich zu werden, erst unvollkommen, zeitweise, vorübergehend, 
dann vollkommen und anhaltend. Zuerst percipiert und apper- 


199 


cipiert es wohl noch ganz leidlich; aber es vermag nicht mehr 
gehörig dagegen zu reagieren. Es stockt in der Rede, es wird 
verworren, redet Unsinn. Es kann nicht mehr sich recht halten; 
es wankt und schwankt beim Gehen, selbst Stehen, fällt nieder. 
Die bezüglichen Impulse erfolgen nicht mehr korrekt genug, im 
Ganzen oder theilweise verlangsamt, und daher die jeweiligen 
Störungen. Noch weiter und alle bewusste Thätigkeit hört 
auf. Schlaf, selbst Schlaf bis zum Tode stellt sich ein. 

Wer eine gute, kräftige Cigarre raucht, wird finden, dass 
schon mit den ersten Zügen aus derselben sein Daseinsgefühl, 
und das ist nichts Anderes als sein Selbstgefühl, ein gehobeneres, 
gesteigerteres wird. Das Gefühl etwaiger Ermüdung, Er- 
schöpfung, Schläfrigkeit schwindet; ein neuer, frischer Lebens- 
genuss greift Platz und tritt immer stärker hervor. Der Raucher 
fühlt sich gehoben, damit indessen doch auch bis zu einem ge- 
wissen Grade gehemmt; in Rede und Widerrede, im ganzen 
übrigen Denken, im Pläne- und Entwürfe-Machen, findet das 
seinen Ausdruck. Das nimmt eine Zeitlang mit jedem Zuge aus 
der Cigarre zu, und darauf gründet sich vorzugsweise der 
Genuss des Rauchens an sich. Allein nach einiger Zeit ändert 
sich das. Die Cigarre ist oft noch nicht aufgeraucht oder die 
zweite ist kaum erst angeraucht, so hört die Unterhaltung, das 
Pläne- und Entwürfe-Machen auf; eine beschauliche Ruhe tritt 
an seine Stelle. Bilder um Bilder ziehen, wie wir sagen, an der 
Seele des Rauchers vorüber, d.h. sein Selbstgefühl ändert sich 
ohne Unterlass, aber ohne jede tiefere Erschütterung. Eine be- 
hagliche Wonne, ein wonniges Behagen erfüllt ihn. Er fühlt 
sich in sich gefördert, zufrieden, glücklich. Indessen das dauert 
nicht lange. Abgesehen von den Zuständen der Nausea, die 
sich einzustellen beginnen, manchmal einen sehr hohen Grad 
erreichen, aber, nachdem sie zu Erbrechen und Stuhlgang ge- 
führt haben, die Lage meist rasch ändern, treten jetzt auch 
Zustände von Benommenheit des Bewusstseins auf, stellen sich 
sogenannte Bewusstseinspausen ein. Es scheinen diese um so 
bedeutender zu sein und um so mehr in den Vordergrund sich 
zu drängen, je weniger die Nausea mit Allem, was zu ihr ge- 
hört, ausgebildet ist. In der Regel hört jetzt aber der Be- 
treffende auf zu rauchen. Er hat sich beraucht; das Weiter- 
rauchen widert ihn an. Legt er die Cigarre nicht weg, raucht 


200 


er fort oder wirkt das Gerauchthaben weiter, so wird der 
Raucher immer weniger im Stande zu percipieren oder gar zu 
appercipieren; er hört auf, darauf zu reagieren und verhält sich 
ganz analog, dem in demselben Stadium befindlichen Trunkenen. 
Endlich verliert er wie dieser das Bewusstsein, sinkt oder bricht 
auf einmal jäh in sich zusammen und verfällt in einen tiefen, 
tiefen Schlaf. 

Der Zustoss eines angenehmen Freignisses, eine kleine 
Freude will ich sagen, deren Wesen ist, dass Hindernisse hin- 
weggeräumt, Hemmungen beseitigt und Spannkräfte in lebendige 
umgewandelt werden, ruft ein Gefühl der Behaglichkeit, des 
Wohlseins hervor. Eine grössere Freude bewirkt Hüpfen und 
Springen, Johlen und Singen, ganz Ausser-sich-sein vor Freude. 
Eine noch grössere Freude kann für Augenblicke stumm und 
starr machen. „Die Freude übermannte ihn.“ „Er konnte kein: 
Wort reden.“ „Es dauerte erst einige Zeit, ehe er sich zu 
fassen vermochte.“ Endlich kann die Freude, die übergrosse 
Freude, der freudige Schreck tödten. „Vor Freude rührte sie 
der Schlag.“ 

Ganz ebenso verhält es sich mit dem entgegengesetzten 
Zustande, der Trauer. Die Trauer entsteht durch das Eintreten 
von Hindernissen, welche die Bethätigung von Strebungen 
hemmen, unmöglich machen. Ein unbedeutendes entsprechendes. 
Vorkommnis macht missmutig. Ein Wehgefühl greift Platz, das 
in etwas höherem Grade sich durch Thränen oder einige 
heftigere Äusserungen Luft zu machen sucht. Ist das traurige 
Vorkommnis bedeutender, so äussert sich seine stärkere Wirkung 
durch verzweiflungsvolles Heulen, Schreien, Umherlaufen, Haare- 
raufen u. dgl. m. Eine noch stärkere Trauer macht auch hier 


stumm und starr. „Sie war vor Schreck wie gelähmt“. „Sie 
konnte vor Schreck kein Wort sagen“. „Sie war wie ver- 
steinert“. „Sie gab keinen Laut von sich, verlor keine Thräne“. 


„Sie war wie zu einer Bildsäule gewandelt“. Dass endlich 
Trauer auch tötet und viel leichter und öfter noch als Freude, 
ist auch bekannt. „Vor Schreck fiel er tot um“. „Die Trauer-- 
botschaft erschütterte ihn so, dass er tot vom Stuhle sank“. 
Les extremes se touchent. 

Süssigkeiten, Leckereien aller Art in kleinen oder mässig‘ 
grossen Mengen, beziehentlich nicht zu lange Zeit hintereinander 


em20l 

genossen, steigern das Wohlbefinden, fördern damit das Selbst- 
gefühl, das Ich. In grösseren Mengen oder durch zu lange 
Zeit hinter einander genommen, erzeugen sie dagegen Wider- 
willen gegen sie, Ekel, Übelkeit, Erbrechen. “Sie setzen das 
Wohlbefinden herab, erst in geringerem, dann in stärkerem 
Masse, heben es endlich auf, und indem sie das thun, schwächen 
und vernichten sie, wenigstens bis zu einem gewissen Grade 
auch das Selbstgefühl, das Ich. 

Jeder Genuss, wie beschaffen er auch immer sein mag, 
regt stets zuerst das Wohlbefinden an, steigert es bis zu einer 
bestimmten Höhe; dann setzt er dasselbe herab, hebt es auf, 
indem er Überdruss, Widerwille, Ekel bis zum Erbrechen erzeugt. 
Musik und farbenprächtige Bilder, die Erzeugnisse selbst der 
edelsten Literatur sind in ihren Wirkungen davon nicht ausge- 
nommen. 

Man ist im Conzert, in einer länger dauernden Oper. Die 
ersten Stücke jenes, der erste Akt dieser rufen eine gehobene 
Stimmung hervor. Durch die nächsten Stücke jenes, den zweiten, 
dritten Akt dieser wird dieselbe gesteigert; die dann folgenden 
Stücke, der vierte Akt, wirken schon auf Viele, nämlich die 
reizbaren, weil widerstandslosen Zuhörer, wie dafür der ge- 
wöhnliche Ausdruck ist, ermüdend. Die betreffenden Personen 
sind nicht mehr im Stande, alle Eindrücke in der bisherigen 
Schärfe und Gesondertheit aufzunehmen. Die schwächeren, 
zarteren Töne entgehen ihnen; nur die stärkeren, härteren ver- 
nehmen sie noch und dazuin vielfach veränderter, unreiner Weise. 
Sie sind unvermögend geworden, aufzumerken. Erst gehen ihre 
Gedanken spazieren; eine Art Ideenflucht bildet sich aus. Dann 
verwirren sich die Gedanken; ein Träumen, ein in sich Versinken 
stellt sich ein. Die betreffenden Personen hören nicht mehr, 
sehen nicht mehr. Der lange andauernde Gehörsreiz, anfänglich 
ein verhältnismässig schwacher, wurde durch seine Dauer erst 
ein mittelstarker, dann ein starker und wirkte als solcher 
hemmend. In Folge dessen wurden zuerst die schwächeren 
Töne nicht mehr percipiert und appercipiert, zuletzt aber so 
gut als keiner mehr. Die meisten in der Art berührten Zuhörer 
verlassen dann bei passender Gelegenheit das Conzert, die Oper. 
Geht das nicht und können sie sich nicht in den etwaigen 
Pausen gehörig erholen, so kann es sich ereignen, dass sie 


während der folgenden Musikstücke einschlafen und dass nach Be- 
endigung des betreffenden Finale der bezüglichen Oper sie müssen 
erweckt werden, um endlich nach Hause gehen zu können. Der 
starke Gehörsreiz wurde durch seine Dauer zu einem sehr 
starken, stärksten, und der lähmte, hob die Bewusstseinsfähigkeit 
auf und veranlasste damit das, was wir Schlaf nennen. 

In Ausstellungen, Gewerbe- und Kunstaustellungen, Ge- 
mälde- und Skulpturensammlungen, in Museen, überall, wo es 
viel zu sehen giebt und namentlich von einerlei Art, kann man 
etwas Ähnliches gewahren. Die Besucher treten ein. Man 
sieht jedem die Freude, das Entzücken an, das er empfindet, . 
und hört es ausserdem bestätigt. Freude und Entzücken nehmen 
zunächst noch mit jedem Saale, der neu beschritten wird, zu; 
danach aber macht sich, und zwar zuvörderst nur bei Einzelnen, 
sehr bald aber mehr allgemein eine gewisse Abspannung, wie 
wir sagen, bemerkbar. Je länger, je mehr tritt sie hervor. Die 
Leute sehen nicht mehr recht. Das, was sie sehen, verwirrt 
sich unter einander. Es sind nicht mehr einzelne Dinge, welche 
sie wahrnehmen, sondern ein Chaos von solchen. Sie ver- 
stummen, setzen sich, starren vor sich hin, starren ins Leere, ver- 
lieren sich in demselben und fangen an, einzuschlafen, schlafen 
wohl auch ein. Die ersten Eindrücke, beziehentlich Reize, waren 
noch verhältnismässig schwach und regten das bewusste, das 
Gefühlsleben blos in etwas stärkerer Weise an. Dasselbe nahm 
fürs erste durch immer neue Reize und Dauer der Einwirkung - 
derselben zu. Die Reize wurden dadurch zu stärkeren, mittel- 
starken. Dann wurden die folgenden und vornehmlich wieder 
auf Grund der schon bestehenden Reizung, zu starken, und eine 
Hemmung des bewussten Lebens trat ein. Endlich wurden die 
fort und fort wirkenden Reize, auf Grund der Zeit ihrer Wirkung, 
beziehungsweise ihrer Häufung zu sehr starken oder stärksten, 
und die in Rede stehenden Lebensvorgänge wurden mehr und 
mehr wenigstens auf Zeit vernichtet. 

Wer hätte nicht an sich selbst erfahren, dass ein anerkannt 
vortreffliches Buch, welcher Art es auch sonst war, zuerst blos 
ein gewisses Interesse erregte, dass dieses Interesse jedoch mit 
jeder Seite, die gelesen wurde, wuchs; bis mit einem Male es 
‚nachliess, sich verlor, die Fähigkeit das Gelesene aufzunehmen 
und zu behalten erlosch, und schliesslich das interessante Buch 


203 

nicht blos nicht vor dem Einschlafen schützte, sondern geradezu 
einächtes, rechtes Schlafmittel wurde? Wer hätte dasselbe nicht an 
einem längeren, noch so guten Schauspiele, an einer längeren, 
im Übrigen ganz vorzüglichen, geistreichen Rede, zumal Jubi- 
läumsrede, oder entsprechenden Predigt erlebt? Jeder Genuss, 
wie beschaffen er. auch sein. wie sehr er auch von dem 
Materiellen losgelöst, geistig, hehr und erhaben erscheinen mag, 
regt eben immer zuerst blos das Wohlbefinden an, steigert es 
danach bis zu einem gewissen Grade; dann setzt er dasselbe 
herab und hebt es endlich auf. Die Neigung verwandelt sich 
in Liebe, die Liebe in Abneigung, Hass und zuletzt in Gleich- 
gültigkeit. 

Je stärker ein Genuss von vornherein wirkt, je früher tritt 
die entsprechende Phase auf, und man kann deshalb kurzweg 
sagen, dass, da jeder Genuss auf Aneignung eines Reizes beruht, 
kleine Reize das Wohlbefinden, beziehentlich das Selbst- 
Mesinls das Ich, ın irsend) einer Wieisel anreoen, an- 
fachen, mittelstarke es fördern, starke es hemmen und 
sfärkste es aufheben. 

Das biologische Grundgesetz hat somit auch für das psy- 
chische Leben, die Psyche kurweg, Geltung. Sobald wir uns 
nur mit ihm und seinem Wesen, mit dem Wesen der Psyche 
und ihren Aeusserungen bekannt gemacht haben, gewahren wir 
seine Herrschaft über sie allenthalben. Unser ganzes Fühlen und 
Denken, unser ganzes davon abhängigesStreben und Handelnist dem 
biologischen Grundgesetz unterworfen, wenn auch individuelle 
Verhältnisse, eine grössere oder geringere Reizbarkeit, eine 
grössere oder geringere Erschöpfbarkeit im Allgemeinen oder 
in besonderen Gebieten noch so viele Ausnahmen davon zu 
bilden scheinen. Schwächere Individuen lassen es in seinen 
Wirkungen auf sich früher und deutlicher erkennen; stärkere 
setzen ihm einen grösseren und längeren Widerstand entgegen, 
und namentlich sind es seine gewaltigen Wirkungen, die sie nur 
schwer an sich erkennen lassen; aber gebeugt werden sie zu- 
letzt doch alle durch dasselbe. 


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