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Miscellaneous Books,
Government Publications,
WASHINGTON, D. C.
BOOKS BOUGHT.
Greifswald. i SR
erlag and A Dre von Fulius Abel. en,
Biologische Studien.
I. Das biologische Grundgesetz.
f
Dr, Rudolf Arndt,
Professor an der Universität Greifswald.
’ExX ndvewv Ev nal 2E Evo navee.
Heraklit.
Greifswald.
Verlag und Druck von Julius Abel.
1822.
Vorrede.
Den sich für biologische Vorgänge interessierenden Kreisen
übergebe ich hiermit eine Reihe von Abhandlungen, welche
bestimmt sind, Licht über etliche der ersteren zu verbreiten.
Ein Paar dieser Abhandlungen sind in kürzerer Form, gewisser-
massen als vorläufige Mitteilungen, schon in medizinischen
Zeitschriften erschienen, so die unter 3 und 6 aufgeführten in
der Berliner Klin. Wochenschrift 1889 No. 44 und 1890 No. 8,
und die unter 4 stehende in der Wiener mediz. Presse 1890
No. 14 und ı5. Um sie, beziehentlich ihren Inhalt auch Nicht-
Medizinern bekannt zu machen, habe ich sie danach noch ein-
mal überarbeitet und dabei durch Heranziehung neuer That-
sachen das, was sie beweisen sollten, noch mehr zu erhärten
gesucht. Mit einer Anzahl anderer, doch denselben Gegen-
stand behandelnder, zu einem Ganzen verbunden erscheinen sie
nun wieder. Die etwaigen alten Bekannten mögen desshalb
nicht aufdringlich erscheinen und darum von vornherein ungünstig
aufgenommen werden.
Dem erwähnten Ganzen, das aus den in Betracht kommenden
Abhandlungen besteht, ist gleichsam als Einleitung zu ihm der
Aufsatz: „Leben und Lebensäusserungen“ voraufgeschickt
worden. Er soll den Standpunkt darlegen, welchen ich zu dem
fraglichen Gegenstande einnehme oder auch, wie derselbe gerecht-
fertigt werden kann. Ich gebe mich nicht der Hoffnung hin,
dass ich da gleich viel Beifall finden werde; im Gegenteil,
ich bin darauf gefasst, dass man mir mehr als genug vorwerfen
werde, ich bewege mich zu sehr im Reiche der Hypothesen;
allein wenn ich das zunächst auch werde hinnehmen müssen, so
vergesse doch niemand, dass Thesen, Lehrsätze, welche sich
noch Einwürfe gefallen lassen müssen, trotz aller gegenteiligen
Versicherungen, doch auch noch nicht Thesen in wissenschaft-
II
lichem Sinne sind, sondern ebenfalls nur als Hypothesen gelten
können. Sollte mir nichtsdestoweniger doch jemand zu sehr das
Hypothetische meiner Ansichten zum Vorwurf machen, so kann
er das nur auf Grund von Hypothesen thun, auf denen er fusst,
ohne es zu wissen. Er hält sie für Thesen. Aber all’ unser
biologisches Wissen ist nur ein hypothetisches. Es beruht auf
Wahrscheinlichkeitsrechnungen, welche von einem gewissen Stand-
punkte unserer Erkenntnis aus unternommen worden sind. Mit der
Änderung dieses müssen sich daher auch jene ändern. Vieles,
was heute noch von dem gerade eingenommenen Standpunkte
aus gültig ist, muss morgen hinfällig werden. Vieles indessen
3
wird auch an Stützen und damit an Wahrscheinlichkeit, beziehent- -
lich Gewissheit gewinnen. Denn je mehr sich unsere Erkennt-
nis mit der Vermehrung unserer Kenntnisse, unseres Wissens,
erweitert, um so mehr werden sich die jeweiligen Hypothesen
festigen und Thesen nähern. Sie werden zwar damit noch
keinen strengen Beweis auszuhalten vermögen; allein je mehr sie
erklären und wahrscheinlich machen, um so mehr nähern sie sich
bewiesenen oder des Beweises fähigen Sätzen. Je grösser dar-
um der Umfang einer Hypothese wird, je reichhaltiger ihr Inhalt
sich gestaltet und gliedert, je mehr in Folge dessen durch sie,
beziehentlich bereits bekannte Dinge und Vorgänge erklärt wird, -
um so mehr Anspruch auf Gültigkeit kann sie wenigstens für
so lange machen, bis sie durch eine andere, namentlich um-
fassendere ersetzt worden ist. Ich gehöre darum auch keines-
wegs zu den Leuten, welche der Hypothese so feind sind, dass
sie immer und überall gegen dieselbe eifern. Ich weiss eben,
dass unser Wissen ein zumeist nur hypothetisches ist, und kann
mich darum auch nicht zu der Ansicht bekennen: Was wir
wissen, wissen wir; wir brauchen bei Hypothesen keine An-
leihe zu machen. Im Gegenteil, weil unser Wissen, namentlich
unser biologisches Wissen ein blos hypothetisches ist, müssen
wir bei weiter gehenden, natürlich auf Thatsachen beruhenden,
durch Induction gewonnenen Hypothesen viele Anleihen machen,
damit wir nur weiter kommen, nicht sitzen bleiben und ver-
sumpfen.
Viele der bisherigen biologischen Anschauungen sind nun
aber durchaus unhaltbar geworden; ja sie sind geradezu als
widerlegt zu betrachten. Nichtsdestoweniger sind sie noch immer
II
im Schwange und spielen sogar eine grosse, selbst massgebende
Rolle. Vor Allem gilt dies von der Spontaneität des Lebens,
beziehentlich der Automatie seiner einzelnen V orgänge. Allein
es giebt keine Automatie, jedenfalls keine räumlich begrenzte.
Jede hierher gehörige Thätigkeit ist als eine reflektorisch er-
folgende und damit als eine bedingte erkannt worden. Die Lebens-
thätigkeit an sich kann deshalb auch nur eine solche sein, und
von einer Spontaneität derselben, wie des Lebens überhaupt zu
reden, ist ein Unding. Das Leben ist etwas von der ganzen
übrigen Welt Abhängiges, durch sie Vermitteltes. In welcher
Weise die fragliche Abhängigkeit sich macht, die bezügliche
Vermittelung stattfindet, das soll der in Rede stehende ein-
leitende Aufsatz darzuthun suchen.
Es wird das dem Aufsatz, wie ich schon ausgesprochen
habe, fürs erste wohl kaum gelingen. Wenn neue Wege er-
öffnet und angebahnt, alte verlassene erneuert und wiederher-
gestellt werden, so sind sie selten gleich bequem zu benutzen.
Hier und da ist es vielleicht sogar beschwerlich, auf ihnen fort-
zukommen, weil sie nur notdürftig hergerichtet, wohl gar
fehlerhaft ausgeführt worden sind. Erst mit der Zeit werden
sie besser gang- und fahrbar. Sie müssen erst gehörig betreten
und befahren, mit diesen und jenen Bequemlichkeiten versehen
werden, hier eine Erhöhung, Aufdämmung, dort eine Vertiefung,
Abtäufung erfahren, ja an einem dritten Punkte Geländer,
Mauern, festere Brücken erhalten, an einem vierten wohl gar
verlegt und zugleich mit Stufen und Treppen versehen werden;
trotzdem und alledem führen sie doch immer schon in erträglicher
Weise in ein bisher oder doch wenigstens zur Zeit noch unbekanntes,
weil unnahbares Land und verstatten vielleicht gerade an den
misslichsten, dem Anscheine nach gefährlichsten Stellen Aussichten
und Einblicke in dasselbe, welche bisher kaum geahnte Förde-
rungen nach den verschiedensten Richtungen hin erhoffen und
selbst schon erkennen lassen.
Mit der Zeit, so hoffe ich, werden denn auch trotz der zu-
nächst erwarteten vorläufigen Ablehnung der Ansichten, welche
der einleitende Aufsatz bringt, dieselben doch mehr und mehr
Geltung bekommen, und die Biologie selbst wird in richtigere
und dazu festere Bahnen geleitet werden, als die sind, in denen
sie sich jetzt bewegt. Man wird sich mit den besagten Ansichten
IA
nur erst näher zu befreunden, mit ihnen bis zu einem gewissen
Grade einzuleben haben, wird sich ihnen bequemen oder auch sie
sich bequem machen, d.h. nach seinem jeweiligen Bedürfnis ver-
bessern müssen. Eine Anzahl von Lebenserscheinungen wird dann
aber auch verständlicher werden und an die Stelle heute noch
unbegreiflich erscheinender Geschehnisse werden mechanische
Vorgänge treten, welche zum Wenigsten einen allgemeinen Einblick
in ihr Zustandekommen gestatten. Die Mechanik des Lebens,
der Mechanismus seiner Träger wird klarer und durchsichtiger
werden, und viele Einrichtungen derselben werden begreiflicher,
ja in einem ganz anderen, zumal helleren Lichte erscheinen.
Unter Annahme der fraglichen Ansichten wird sich so z.B.
ergeben, dass alle höheren Lebewesen, Pflanzen wie Tiere,
nicht Körper sein Können, welche sich durch das Zusammentreten
einzelner Zellen aufgebaut haben, von denen jede mehr oder
weniger autonom ist; sondern dass jedes derselben vielmehr ein
Ganzes ist, das sich bei seiner Entwickelung zu einer höheren
Einheit in Zellen gegliedert hat, deren jeder eine besondere
Aufgabe zum Wohle und damit zur Erhaltung und Weiterent-
wickelung des Ganzen zugefallen ist. Es wird sich ergeben,
dass alle diese Zellen, wenn auch in der verschiedensten Weise,
unter einander in Zusammenhang, wie sie wirklich stehen, so
auch stehen müssen, und dass, wie bei den höheren Pflanzen und
niederen Tieren einfache Protoplasmafäden, so bei den höheren
Tieren und dem Menschen "die Nerven es sind, welche diesen
Zusammenhang vermitteln. Es wird sich ergeben, dass jedes
höhere Lebewesen so zwar einen Zellenstaat darstellt, wie das
bis jetzt gelehrt worden ist, indessen nicht bestehend aus gleich-
wertigen, selbstständigen, autonomen Zellen, sondern vielmehr
aus Zellen, welche alle unter sich in Verbindung und damit von
einander in Abhängigkeit stehen, je nach ihrem Ursprunge und
ihren näheren, beziehentlich nächsten Verbindungen, engeren Ver-
bänden, von sehr verschiedenem Wert und sehr verschiedener
Würde sind, und demgemäss auch Aufgaben von sehr ver-
schiedener Bedeutung und sehr verschiedenem Gewicht zu er-
füllen haben, dass sie diese Aufgaben jedoch nur unter dem
Einfluss ihrer Verbindungen, beziehungsweise des Ganzen aus-
zuführen vermögen, dem sie angehören, und dass dieser, der
jeweilige Zellenstaat, den das betreffende Lebewesen bildet,
- v
nicht etwa ein sogenannter Freistaat ist, in welchen die Indi-
viduen gleichsam aus sich heraus willkürlich thun und lassen
können, was sie gerade für erspriesslich halten, sondern dass
im Gegenteil ein jedes aus einer Anzahl von Zellen bestehende
Lebewesen einen auf ausgesprochen aristokratischer Gliederung
beruhenden, straffen Polizeistaat verwirklicht, in welchem jeder
Angehörige seiner Stellung, seinem Wert und Range gemäss
selbst gegen seine augenblickliche eigene Ansicht das thun und
lassen mus, was das Ganze, der Staat gerade von ihm fordert.
Die Nerven und ihre Verbindungen, Verknüpfungen zu einem
Ganzen, das Nervensystem, dienen dazu, haben wohl auch heute
den Zweck, die entsprechenden Forderungen zum Austrag zu
bringen. Das Nervensystem jedoch entwickelt sich, wie Phylo-
genese und Ontogenese beweisen, von den beiden sogenannten
Grenzblättern des höheren Tierleibes oder seines Embryo her.
Es nimmt damit denn auch seinen Ursprung aus denselben, und
eine ganz falsche Lehre, welche noch aus den Zeiten stammt,
wo man es nicht besser wusste, ist es in Folge dessen, dass die
Nerven, das Nervensystem, gewissermassen aus seinem centralen
Teile, dem Centralnervensysteme, entspringen. Dessenungeachtet
rechnet man doch mit dieser Annahme noch immer ganz allgemein
wie mit einer feststehenden, wohl bewiesenen Thatsache. Natür-
licherweise müssen die Ergebnisse der bezüglichen Rechnungen
durchaus unzutreffend, ja hier und da, besonders in gewissen
Cardinalfragen, wie hinsichtlich der Spontaneität des Lebens, den
sonstigen alltäglichen Erfahrungen geradezu widerstreitend sich
gestalten. Auf derartigen Ergebnissen und daraus entsprungenen
weiteren Ansichten beruhen indessen doch noch immer die haupt-
sächlichsten der heutigen Tages noch herrschenden biologischen
Anschauungen.
Allein wenn die Nerven, das Nervensystem, in den soge-
nannten Grenzblättern des sich entwickelnden Tierleibes und den
sie bildenden Zellen ihren Ursprung nehmen und folgerichtig
denn auch in den fertigen Gebilden dieser letzteren beim er-
wachsenen Tiere wurzeln, so können Teile, wie bei den Wirbel-
tieren Gehirn und Rückenmark, von denen ersteres nachweis-
lich erst aus dem letzteren hervorgeht, und die beide zusammen
das Centralnervensystem ausmachen, nicht Centralnervensystem,
Centralorgane der Nerven in dem Sinne sein, dass sie die ein-
VI
zelnen Nerven aus sich heraus automatisch, spontan beeinflussen
und zu ihrer gerade erforderlichen Thätigkeit veranlassen;
sondern nur insofern können sie als solche Centralorgane an-
gesehen werden, als sie gleichsam in Mitten aller Nerven liegen
und dieselben aus sich scheinbar hervorgehen lassen, wie ihnen
zum Ursprunge dienend. Thatsächlich sind Rückenmark und
Gehirn, die Centralorgane des Nervensystemes der Wirbeltiere,
ihrer ganzen Entstehung nach denn auch blos Durchgangspunkte
der Nerven, die in den erwähnten Grenzblättern und deren Ab-
kömmlingen ihren Ursprung nehmen und in den sogenannten
Mittelblättern und den aus ihnen entstandenen Organen endigen.
Rückenmark und Gehirn sind so nur eine Art von Central-
stationen, an und in denen die sie durchziehenden Nerven in die
tausendfältigen Verbindungen mit einander treten, in Folge deren
wir die eben so viel tausendfältigen Beziehungen zur Erschei-
nung kommen sehen, welche durch das Nervensystem vermittelt
werden. Nicht vom Gehirn und Rückenmark und ihren Zellen
laufen willkürlich Befehle aus nach den verschiedenen Organen
und deren Zellen; sondern in Rückenmark und Gehirn werden
nur die aus den Grenzblättern und deren Gebilden ankommenden
Erregungen seitens der Aussenwelt, des Alls, Weltalls, in die
betreffenden Befehle nach den Mittelblättern und deren Gebilden
so umgesetzt, wie es die Einrichtungen der jeweiligen Lebe-
wesen mit sich bringen. Nicht das Gehirn und Rückenmark an
und für sich arbeiten die betreffenden Befehle aus; sondern
durch Gehirn und Rückenmark als Instrumenten erlässt sie die
Aussenwelt, das grosse All, das sich jene geschaffen hat, um, sit
venia verbo, bestimmte seiner Zwecke zu erreichen. Der straff
geordnete, auf aristokratischer Grundlage beruhende Polizeistaat,
der in den höheren Tieren, im Menschen seine Spitze, sein Verwal-
tungscentrum, im Centralsysteme, zumal im Gehirn hat, wird darum
von diesem aus auch nicht regiert nach Laune und Lust; sondern
so wie es muss, wie es die Welt in ihrem Gange verlangt, die
eiserne Nothwendigkeit der Umstände mit sich bringt. Das
Centralnervensystem, und damit auch das Gehirn, regiert nach
dem Ratschlusse der ewigen Mächte, welche das unendliche
All bis in die kleinsten Teile beherrschen.
Bei der näher dargelegten Arbeit des Centralnervensystemes
kommen die Erregungen seitens der Aussenwelt, des Alls, im
vo
grossen Gehirn, und hauptsächlich in der grauen Rinde seiner
grossen Hemisphären, zum Bewusstsein. Wie? Ignoramus, igno-
rabimus! Das mechanisch zu begreifen, halte ich mit du Bois-
Reymond für unmöglich. Das müssen wir als etwas Gegebenes,
einmal Vorhandenes hinnehmen, ohne uns weiter den Kopf dar-
über zu zerbrechen. Es gehört das in das Reich des Metaphy-
sischen, des Transcendentalen, das wesentlich aus ihm besteht,
und das wissenschattlich irgendwie zu erkennen, ich auch für
unmöglich halte.e Denn unserer Erkenntnis sind Schranken
gesetzt. Wo es mit der Mechanik zu Ende ist, treten sie ihr
unübersteigbar entgegen. Hinter ihnen liegt nur noch, gerade
so wie vor dem Gebiete der Erkenntnis, ein solches des Ahnens,
Wähnens, Meinens, Glaubens, nach welchem die Kreatur, je nach
ihrer Geartung, zwar ebenso mächtig hingezogen wird wie nach
dem der Erkenntnis, und durch das sie gar nicht selten erst
hindurch muss, um rückkehrend zu diesem zu gelangen, auf
dem sie aber niemals zur Klarheit kommen kann, sondern stets
nur in einem mystischen Dunkel befangen sich zu bewegen
vermag.
Unter Annahme der fraglichen Ansichten, namentlich der
letzt erwähnten, sowie der geeigneten Verwertung der
Forschungsresultate, welche ich soeben in Kurzem mitgeteilt
habe, wird sich endlich ergeben, dass jedes Lebewesen, wie das
auch schon alle naiven Beobachter erkannt haben, nur einen
Teil des Alls darstellt, in welchem und durch welches dieses
sich äussert, wie Zeit und Urnstände es gerade verlangen. Das
Leben selbst, der Lebensvorgang, stellt sich damit aber
nur als einen räumlich und zeitlich beschränkten Teil des all-
gemeinen grossen Weltvorganges dar. Die Seele eines Lebe-
wesens ist deshalb auch nur ein Teil der Weltseele und sein
Geist ein solcher des Weltgeistes. Daraus jedoch ergiebt sich
dann aber mit Notwendigkeit die Wahrheit sowohl des alttesta-
mentlichen Wortes: „In ihm leben, weben und sind wir“, wie
auch des neutestamentlichen Ausspruches: „Es fällt kein Sper-
ling vom Dache ohne den Willen ‘eures himmlischen Vaters.“
Die Sätze uralter Weisheit sind eben nur die Zusammenfassung
einer Reihe von Vorgängen, die Dichtung, Verdichtung derselben
zu einem einheitlichen Ganzen, einem einzigen Gedanken, welche
dem Menschen im Laufe der Zeit bewusst geworden sind. Hier-
vm
mit ist, denn weiter aber auch die sogenannte sittliche
Weltordnung gerettet, von welcher in der Gegenwart vielfach
behauptet wird, dass die Naturwissenschaften und vornehmlich
die Biologie sich gegen sie auflehnen und sie in ihrem Einflusse
auf den Menschen bedrohen und untergraben. Denn die sittliche
Weltordnung besteht zuletzt doch nur darin, das alles Einzelne
sich zu einem harmonischen, fast möchte ich sagen, zu einem
organischen Ganzen fügt, das mit der Erhaltung dieses Ganzen
selbst erhalten wird und damit seinen Lohn erhält, während
alles Einzelne, was dem, aus welchem Grunde es immer auch
sei, störend entgegenwirkt, wieder in dem Ganzen, das es aus
sich entstehen liess, früher oder später untergeht und damit
seine Strafe erleidet. Alles Gute, d. i. Erhaltende, Bejahende
wird belohnt; alles Böse, d. i. Zerstörende, Verneinende, wird
bestraft. „Der Tod ist der Sünde Sold!“
Wenn also auch den Vorwurf ich nicht von der Hand zu
weisen vermag, der mir in Betreff des einleitenden Aufsatzes
„Leben und Lebensäusserungen“ gemacht werden kann
und gemacht werden wird, ich bewegte mich zu sehr im Reiche
der Hypothesen, so beruhen dieselben doch auf viel festerem
Boden, sind ungleich sicherer begründet und erklären viel mehr,
namentlich auch mit aus der sittlichen Welt, welche man den Natur-
wissenschaften bis jetzt für unzugänglich hielt, als das von den bis
zur Zeit vielfach für wohl bewiesene Thesen ausgegebenen, in
Wahrheit jedoch viel hinfälligeren Hypothesen geschieht, auf
denen die Biologie noch heutigen Tages beruht. Ja, einige von
diesen letzt erwähnten Hypothesen müssen geradezu, weil den
sonstigen Thatsachen widersprechend, als falsch angesehen
werden. Die Abhandluugen selbst, denen der in Rede stehende
einleitende Aufsatz voraufgeschickt ist, werden dafür Zeugnis
mancherlei Art ablegen.
Rudolf Arndt.
Au +» 0
. Riesen, Zwerge und das biologische Grundgesetz .
IX
Inhaltsangabe.
TBeben@undeolebensäusserungen ss A. yo er Seite
. Die Elementarorganismen und das biologische Grundgesetz .
Der gehaubte Kanarienvogel, die Möwchen-, Perrücken- und
Pfauentaube und das biologische Grundgesetz
. Die Heilkunst und das biologische Grundgesetz . . »
. Plattfuss, Klumpfuss und das biologische Grundgesetz
. Schwarz und Weiss bei Tier und Mensch und das biologische
Grundgesetz .
. Die Körperwärme, besonders das Fieber, und das biologische
Grundgesetz 2 wo.
. Die Psyche und das biologische Grundgesetz . © 2 2 2.»
174.
185.
IRRN
Leben und Lebensäusseruugen.
Schwarz und weiss, kalt und warm, still und laut sind, wie
wir wissen, nur Bewegungsformen im All, beziehungsweise des
Alls, welche von uns in ihrer Eigenart empfunden werden. Das-
selbe gilt auch von hart und weich, starr und flüssig, fest und
locker. Es gilt von jeder Form, jeder Gestalt, jedem Zustand.
Alles was ist, ist das, was es ist und wie es ist, auf Grund von
Bewegung, von Bewegung der es zusammensetzenden Teile,
und zwar kleinsten Teile, zu einander und von einander. Je
stärker, je kraftvoller sich diese Teile zu einander bewegen
und dadurch auf einander drücken, pressen, um so fester, härter,
stärker ist der Körper, der Stoff, den sie bilden; je stärker und
kraftvoller sie sich von einander fortbewegen, auf andere, dritte,
vierte hindrängen, um so lockerer, weicher, flüssiger, flüchtiger
ist er. Die Art und Weise, in der die bezüglichen Bewegungen
vor sich gehen, giebt die Form, in welcher die durch ihre Ver-
mittelung gebildeten Stoffe erscheinen, als Gestein, Metall, Holz,
Fleisch, Wasser, Luft u. s. w.
Die alle sinnlich wahrnehmbaren Stoffe bildenden Atome
erzeugen durch ihre vieltausendfältigen Bewegungsformen, welche
sie zu 2, 3, 4, IO, 20, 50, 100 und noch mehr zu einander haben
können, die Moleküle der verschiedenen Stoffe, und die Be-
wegungen. dieser Moleküle, die Resultanten aus den Bewegungen
ihrer Atome, haben die vieltausendfältigen Erscheinungen, in
denen uns die verschiedenen Stoffe entgegen treten, zur Folge.
Je stärker die Atombewegung zu einander ist, um so stärker
ist es auch die Molekularbewegung, und je stärker diese ist,
um so fester, dichter, aber auch um so härter, spröder oder
zäher ist der Stoff. Die Atombewegung aber ist der Chemismus,
die Molekularbewegung schliesst. in sich das Sichtbare, Greif-
bare, Wägbare. Die Bewegung des Sichtbaren, Greifbaren,
Wägbaren ist die Mechanik.
2
Wie die Mechanik in zwei besondere Gebiete zerfällt, die
Mechanik im engeren Sinne und die Statik, und jene die Be-
wegung, die Fortbewegung der Körper in Bezug auf einander
und unter einander, diese das Verharren und damit die Ruhe
derselben in den nämlichen Verhältnissen begreift, so lässt sich
auch die Molekularbewegung, die Molekularmechanik, in eine
Molekularmechanik im engeren, die Dynamik im älteren Sinne,
und eine Molekularstatik zerfällen. Jene stellt die Bewegung
und zwar wieder Fortbewegung der Moleküle in Bezug auf sich
und unter sich, diese das Verharren und damit wieder die Ruhe
derselben in Bezug auf sich und unter sich dar. Und ebenso lässt
auch die Atombewegung eine entsprechende Bewegung, be-
ziehungsweise Fortbewegungder Atome und ein Verharren dersel-
ben, ihre Ruhe, in Bezug auf sich und unter sich unterscheiden.
Jene offenbart sich uns als Atomomechanik, die wir sonst
schlechtweg Chemismus nennen, diese als Atomostatik. Der
Chemismus, die Atomomechanik, besteht in der Fortbewegung
der Atome, dem chemischen Ausgleich aktiv; der chemische
Ausgleich passiv, die chemische Ausgeglichenheit, ist die
Atomostatik.
Eine völlige Ruhe aber giebt es nicht. Was wir Ruhe
nennen, ist nur etwas Relatives. Es ist das eben das gleich-
mässige Verharren einer Anzahl von Körpern in derselben Lage
zu einander und unter einander, dessen wir schon gedacht haben,
weil dieselben eine wirklich oder doch annähernd unveränder-
liche Bewegungsrichtung inne halten. Die bezügliche Bewegung
selbst kann freilich eine unmerkliche sein, weil Hindernisse einer
stärkeren entgegenstehen und sie hemmen; allein der Druck,
den die in ihrer Bewegung gehemmten Körper gegen die frag-
lichen Hindernisse und diese wieder gegen sie ausüben, sowie
die Folgen davon, die Druckmarken, die Temperaturverhältnisse,
legen für sie Zeugnis ab. |
Alle Körper streben nach einem gewissen Mittelpunkte, die
irdischen Körper nach dem Mittelpunkte der Erde. In ihrem
Streben, den Mittelpunkt zu erreichen, werden sie indessen durch
Körper von gleicher oder grösserer Dichte, beziehentlich gleicher
oder grösserer Widerstandsfähigkeit, welche sich dem Mittel-
punkte bereits näher befinden, zwischen diesem und ihnen ein-
geschaltet sind, gehindert. Diese Bewegung der Körper nach
3 =
einem Mittelpunkte, ihr Streben, an denselben zu gelangen, kann
nach dem Erörterten nur das Resultat der Bewegungen ihrer
Moleküle und deren Atome sein. Denn schliesslich ist die Erde
auch nur ein Körper, auf dem, in dem sich alle seine Teile
verhalten wie die Moleküle und deren Atome zu dem einzelnen
Körper, welcher einen ihrer Teile ausmacht. Ja, mit der Erde
in Bezug auf die Sonne, mit jedem Planeten in Bezug auf diese,
mit der Sonne und den sie umkreisenden Planeten zu einer et-
waigen Centralsonne unseres Fixstern-, d. i. des Milchstrassen-
systems, in Bezug auf welche Centralsonne unser ganzes Planeten-
system nur einen einzigen Stern darstellt, wie etwa die Sterne,
welche erst durch die Spektralanalyse als Doppelsterne erkannt
worden sind, endlich mit dem Milchstrassensystem und den
gleichwertigen Fixstern- oder Sonnensystemen in Bezug aut
Mittelpunkte, nach denen sie streben, und die sie deshalb umkreisen,
verhält es sich nicht anders. Die Gravitation ist eine Concen-
tration und beruht auf einer Contraction. Die Involution des
Weltalls, in der wir uns befinden, und die, wie seine Entropie
einem Maximum entgegenstrebt, diese Involution des Weltalls
hat zur Ursache den chemischen Ausgleich, beziehentlich die
chemische Ausgeglichenheit zwischen den kleinsten seiner Teile,
d. i. die Atomostatik, bezüglich ihre Verhältnisse, die Atomo-
stasen, überhaupt. Das Sichtbar-, Greifbar- Wägbarwerden
seiner selbst ist der Anfang dazu. Das erste wägbare Stoff-
molekül, ein Ausdruck der den Weltenstoff, den sogenannten
Weltenäther beherrschenden Atomostatik, nach W. Thomson ein
Ätherwirbel, giebt den Anstoss dazu.
Also Ruhe ist nirgends! Was wir Ruhe nennen, ist nur der
Ausdruck des Verharrens und zumeist auch blos des scheinbaren
Verharrens einer Anzahl von Körpern, welche dieselbe Bewegungs-
richtung haben, in ihren Beziehungen zu einander und unter
einander. Die Sterne am Himmelszelt, welche in festen Gruppen,
‚Sternbildern, geordnet erscheinen, bewegen sich, und zwar nicht
blos in den immer nahezu gleichen Abständen von einander um
‚einen gemeinsamen Mittelpunkt, sondern auch um sich selbst
und dabei vielleicht sogar noch wieder ein oder das andere
Mal um einen zweiten Stern, vielleicht auch mit diesem zusammen
vereinigt, um einen ihnen gemeinsamen Mittelpunkt; indessen da
‚die Sterne seit Jahrtausenden dieselbe Bewegungsrichtung und
1*
4
in dieser dieselbe Lage zu einander haben, oder aber auch zu
weit von uns entfernt sind, um ihre Bewegung um sich, be-
ziehentlich um andere Sterne noch so ohne Weiteres erkennen
zu lassen, und wir uns ausserdem mit unserer Erde, unserer
Sonne in der gleichen Weise mitbewegen, erscheinen sie uns
ruhend, fix. Erst die sorgfältigsten Beobachtungen, die scharf-
sinnigsten Verwertungen des Beobachteten haben diesen Anschein
als das, was er ist, kennen gelehrt und Bewegung, ja die ge-
waltigste Bewegung, die es überhaupt giebt, auch dort erkennen
lassen, wo nur Ruhe zu herrschen schien. - Die Protuberanzen
der Sonne erreichen in einer halben Stunde eine Höhe von
3—400000 km (18000, 36000, 63000 Meilen, Young, Trovelot,
Fenyi) und Young will selbst eine solche beobachtet haben,
welche in derselben kurzen oder auch noch kürzeren Zeit auf
500000 Km und darüber angewachsen ist (76000 Meilen).
Nach Fenyi, wie fmir Prof. W. Holtz mitteilt, wachsen manche
Protuberanzen, wenn auch nicht zu einer solchen beispiellosen
Höhe, so doch mit einer Schnelligkeit von 40 Meilen also 300
km in einer Sekunde an.
Ich sitze an meinem Tische und arbeite. Es liegen auf
demselben eine Anzahl von Gegenständen umher; warum fallen
dieselben nicht herunter? Warum nicht ich selbst durch den
Stuhl? Warum vermag ich überhaupt einige Meter hoch über dem
festen Erdboden an meinem Tische zu sitzen und zu arbeiten?
Weil feste Unterlagen das ermöglichen, der feste Fussboden
meiner Stube, der feste Stuhl, auf dem ich sitze, der feste Tisch,
auf den ich mich stütze. Allein, was macht diese Körper fest?
Nichts Anderes als die "kraftvolle Cohäsion ihrer kleinsten Teile,
der Moleküle, welche die Stoffe bilden, aus denen sie gefertigt,
in zweckmässiger Weise herausgehauen oder zusammengesetzt
sind. Die Cohäsion der Moleküle aber ist nichts weiter, als der
Ausfluss der Bewegung, beziehungsweise des Bewegungsdranges,
welchen dieselben zu einander haben, des dadurch bedingten
Druckes, den sie auf einander ausüben. Je energischer dieser
Druck, diese verhaltene Fortbewegung der Moleküle auf ein-
ander ist, um so fester ist, wie schon gelegentlich hervorgehoben
worden ist, der Körper, welchen sie bilden, und damit denn
auch der Widerstand, den er selbst einer anderen Bewegung,
einem sich auf ihn, d. h. mehr oder weniger senkrecht auf die
Bewegungsrichtung seiner Moleküle, sich bewegenden Körper
entgegensetzt. So lange diese letztere, beziehentlich die Grösse
derselben geringer ist, als jene und die aus ihr entspringende
Bewegungsgrösse, so lange tritt sie, beziehungsweise der durch
sie zu Stande gebrachte Körper als Hemmnis derselben, und
dann wieder gelegentlich als Stütze, Unterlage, Ruheplatz für
den betreffenden Körper auf, so der Tisch und in Sonderheit
seine Platte, so der Stuhl, der Fussboden für die darauf befind-
lichen, dem Anscheine nach ruhenden, in Wahrheit jedoch fallen-
den und in ihrem Falle nur durch sie aufgehaltenen, gehemmten
Körper. Ist dagegen die Bewegung des z. B. fallenden Körpers
grösser als die, welche den seinen Fall hemmenden Körper,
also das jeweilige Hemmnis, die jeweilige Unterlage, bildet, so
wird diese überwunden. Die Folge ist, dass das Hemmnis,
die Unterlage, bricht, und der zumal auf dieser letzteren schein-
bar ruhende Körper seinen lediglich gehemmten, aufgehaltenen,
aber nicht aufgehobenen Fall fortsetzt. Die Bewegung, welche
das in Betracht kommende Hemmnis, die Unterlage, bedinget,
bleibt in den bezüglichen Bruchstücken erhalten. Wie dieselbe
aber sich macht, ob die betreffenden, auf einander drängenden
Moleküle vibrieren, oscillieren, rotieren, wollen wir nicht erörtern;
indessen ruhig können sie sich nicht verhalten, ebensowenig wie
die Moleküle der Gase und Flüssigkeiten, welche einen Druck
auf die Wände des sie enthaltenden Gefässes und damit wieder
auf sich selbst ausüben.
Ganz gleich verhält’ es sich auch in den Molekülen der ver-
schiedenen Körper oder Stoffe mit den Atomen, welche selbige
zusammensetzen. Denn auch die Atome dieser, wenn sie sich
auch in bestimmter Lage zu einander befinden und, indem sie
in dieser verharren, die verschiedenen Stoffmoleküle und durch
diese wieder die verschiedenen Stoffe bedingen, welche wir
kennen, liegen nicht ruhig da, sondern sind ebenfalls, wie das
auch schon gesagt worden ist, in einer fortwährenden Bewegung.
Mag dieselbe auch noch so klein sein, mag sie auch blos einen
Drang, Druck darstellen, den die einzelnen Atome auf einander
ausüben, da ist sie, da sein muss sie. Wie aber auch sie sich
gerade macht, ob eben auch blos als ein einfaches Drängen, ob
wieder als ein gleichzeitiges Vibrieren, Oscillieren, Rotieren,
wollen wir gleichfalls nicht untersuchen. Allein wie beschaffen
ea ee Rain
sie immer ist, aus ihr geht die betreffende Molekularbewegung,
die betreffende Molarbewegung hervor, wie wir das seiner Zeit
auch schon kennen gelernt haben. Einen Beweis dafür liefern
insbesondere die Temperaturverhältnisse und die Vorgänge,
welche bei Temperaturschwankungen beobachtet werden.
Wärme dehnt aus, Kälte zieht zusammen. Durch jene wer-
den die Körper, von denen dabei nur die Rede sein kann,
grösser, umfangreicher, durch diese kleiner, indem sie an Um-
fang abnehmen. Zugleich werden sie im ersten Falle spezifisch
leichter, im zweiten spezifisch schwerer. Wie hängt das zu-
sammen?
Die Atome, die Weltstoffatome, aus welchen die einzelnen
Moleküle der verschiedenen Körper gebildet werden, liegen in
diesen nicht so dicht zusammen, dass zwischen ihnen nicht immer
noch ein Zwischenraum wäre. Ist dieser auch unendlich klein,
so muss er doch, da die fraglichen Atome, soweit das zu er-
schliessen möglich gewesen ist, nie mit einander verschmelzen,
vorhanden sein. Dieser Zwischenraum ist aber nicht leer, son-
dern wieder mit Weltstoffatomen, die aber beim Aufbau der
Welt als solcher keine eigentliche Verwendung gefunden haben
und, gewissermassen als Üperbleibsel, in ihrer Gesammtheit eine
jetzt interstellare Masse, den sogenannten Äther oder Lichtäther
bilden, erfüllt. Die stoffbildenden Atome wären danach also,
wie immer sie auch in Bezug auf einander lägen, drängten und
drückten, doch noch jedes von Ätheratomen, den sogenannten
Redtenbacher’schen Dynamiden, umgeben, welche zwischen
den einzelnen Atomgruppen, den Molekülen, in den Zwischen-
räumen derselben am zahlreichsten lägen, und in der Masse der
Ätheratome, des Äthers, Lichtäthers selbst, durchsetzt und durch-
tränkt von ihm bis in ihre kleinsten Teile, schwämme die Welt,
das ganze Weltall mit Allem, was sich in ihm, in und auf
seinen einzelnen Welten befindet. Es würde das allerdings dafür
sprechen, dass die einzelnen Weltstoffatome nicht gleich sein
können, dass daher auch die verschiedenen stoffbildenden Atome
verschieden sein müssen, was indessen den gäng und geben An-
nahmen bis zu einem gewissen Grade widerstreitet; allein es
würde das doch Manches erklären, was sonst unerklärlich er-
scheint, wie namentlich die Kant-La Place’sche Ballungstheorie,
welche ohne eine Präponderanz gewisser Atome anderen gegen-
über undenkbar ist, oder die W. Thomson ’sche Ätherwirbeltheorie
zur Frklärung des Wägbaren, welche ohne eine grössere gegen-
seitige Anziehung zweier oder mehrerer Atome den übrigen
gegenüber, unbegreiflich erscheint. Doch dem sei, wie ihm
wolle! Wir halten uns zunächst an die Redtenbacher’sche
Dy namidentheorie, nach welcher alle stoffbildenden Atome von
Ätheratomen, dem Äther schlechtweg, umgeben sind, weil eine
Reihe der für uns wichtigsten Vorgänge in der Welt für sie
sprechen und durch sie ihre einfachste und mithin annehmbarste
Erklärung finden.
Der Äther, in dem das Weltall schwimint, und der Alles,
was in ihm ist, durchsetzt, vermittelt die Beziehungen, welche
zwischen den einzelnen Welten bestehen, und erklärt die Ab-
hängigkeit, in welcher selbst die einzelnen Teile dieser von jenen
überhaupt sich befinden. Er vermittelt auch die Wärme, von der
wir wissen, dass sie wie der Chemismus, das Licht, die Elektri-
zität auf seinen Schwingungen beruht oder auch blos in ihnen
besteht. Je stärker die betreffenden Schwingungen, je grösser
die entsprechenden Schwingungsbogen sind, um so stärker der
etwaige Chemismus, um so stärker das etwaige Licht, um so
stärker die entsprechende Elektrizität, um so stärker und damit
grösser, höher die entsprechende Wärme. Wenn die Redten-
bacher’'schen Dynamiden um die stoffbildenden Atome und
namentlich die aus ihnen bestehenden Moleküle stärker schwingen,
so müssen sie zuerst die Moleküle auseinander treiben und darum
schon den betreffenden Körper umfangreicher machen, vergrössern.
Es dehnt sich derselbe aus und auf einen grösseren Raum ver-
theilt wird seine Masse specifisch leichter.
Je länger und stärker die Redtenbacher’schen Dynamiden
schwingen, je höher als Ausdruck davon, wie wir sagen, die Tem-
peratur wird, um so mehr nehmen an diesen ihren Schwingungen
in den Zwischenräumen der Moleküle auch die in den Zwischen-
räumen der die Moleküle bildenden Atome Teil. Die Atome
werden auf Grund dessen und dadurch, dass die Zahl der be-
sagten Dynamiden von aussen her zunimmt, indem immer mehr
Ätherteilchen in die erweiterten Zwischenräume zwischen ihnen
eindringen, auch auseinander getrieben. Die Folge davon ist,
dass sich auch die Moleküle vergrössern, aber sich zugleich
auch lockern, und der aus ihnen bestehende Körper sich noch
2
mehr ausdehnt, spezifisch noch leichter wird. Werden die
Schwingungen der Redtenbacher’schen Dynamiden und ihre
von aussen eindringende Zahl noch grösser, werden die ersteren
noch stärker, ausgiebiger, wird die Wärme immer mehr erhöht,
so wird das Molekular-, das Atomgefüge noch lockerer. Die
Moleküle fangen an, sich untereinander zu verschieben, bekommen
ein anderes Aussehen. Der betreffende Körper wird weicher
und weicher, ändert dabei oft seine Farbe: er fängt an zu
leuchten, fängt an zu zerfliessen, schmilzt. Steigert sich die
Anzahl und Bewegung der Redtenbacher’schen Dynamiden
noch weiter, wird die Wärme zu grosser Hitze, so werden die
Moleküle aus einander getrieben, erst in Gruppen, dann einzeln:
der Körper verdampft, verflüchtigt, wird gasförmig. Endlich
werden auch die jeweiligen Atome aus einander gerissen, aller-
dings meist nur um sich bald wieder mit anderen zu verbinden,
mit denen sie unter den gegebenen Verhältnissen verbunden
bleiben können, und der Chemismus, die Atomomechanik, ist
damit wieder in vollen Gang gebracht, nachdem er, beziehentlich
sie, eine Zeitlang durch atomostatische Zustände, d. i. Atomostasen
ersetzt war.
Nehmen darauf wieder die Bewegungen der Redten-
bacher’schen Dynamiden ab, werden ihre Schwingungsaus-
schläge kleiner und kleiner, so kehren auch die verflüchtigten
Moleküle, wenn ihre Atome nicht andere Verbindungen einge-
gangen sind, nach und nach in den alten Zustand zurück. Sie
sammeln sich wieder zu flüssigen Massen, zuerst in Tropfen; die
Tropfen, wenn sie nicht vorzeitig erstarren, fliessen zusammen,
bilden einen Fluss, d. h. eine fliessende Masse. War bei der
voraufgegangenen Verflüssigung der festen Masse eine Farben-
veränderung eingetreten, so verliert sich diese wieder allmählich.
Die alte Farbe des Körpers kehrt zurück und mit ihr auch
seine alte Festigkeit. Indem die Atome seiner Moleküle immer
mehr auf einander eindrängen, nähern sie sich soweit, als sie
können. Mit ihnen thun das die Produkte ihrer Verbindungen,
die Moleküle, selbst. Der bezügliche Körper zieht sich zusammen,
sein Umfang wird kleiner und kleiner, sein spezifisches Gewicht
dagegen grösser und grösser. Dabei werden die Redten-
bacher’schen Dynamiden, die von aussen als blosse Äther-
teilchen in ihn eingedrungen waren, wieder ausgestossen, und
2)
da sie sich in dem Grade von erhöhten Schwingungen befinden,
den sie noch so eben im Innern des sie ausstossenden Körpers
hatten, so werden sie als die diesem eigene oder doch wenigstens
‚als eine dieser nahe stehende Wärme empfunden. Darauf beruht,
dass Körper, die sich zusammen ziehen, Wärme ausstrahlen, die,
welche sich ausdehnen, Wärme aufnehmen, oder, dass beim
Übergang der Körper aus einem weniger dichten in einen dichteren
Zustand Wärme frei, umgekehrt Wärme gebunden wird. Es ist
das um so verständlicher, wenn wir erwägen, dass alle Wärme
dem Körper von aussen her zugeführt wird und nicht, mit
wenigen scheinbaren Ausnahmen, etwa in dem Körper selbst
entsteht, ohne dass ein Anstoss dazu von dorther gegeben wäre.
Wir haben bei unserer obigen Darstellung der einschlägigen
Verhältnisse keine Rücksicht darauf genommen, weil sie für den
beabsichtigten Zweck nicht nöthig erschien.
Werfen wir nun noch einmal einen Blick auf das Gesagte,
so ergiebt sich, dass die verschiedenen Zustände, namentlich
Aggregatzustände, in denen uns die verschiedenen Körper er-
scheinen, von den Bewegungsverhältnissen abhängen, welchen
ihre kleinsten Teile, ihre Moleküle, ihre Atome, unterstehen.
Am lebhaftesten, ausgiebigsten sind diese Bewegungen, wenn
die betreffenden Körper gasförmig erscheinen. Sind dieselben
flüssig, tropfbar flüssig, so sind die fraglichen Bewegungen, ich
will einmal sagen, mittelstark. Am geringfügigsten sind sie,
stellen sich die in Betracht kommenden Körper als feste dar.
Aber mag ein Körper noch so fest sein, sie fehlen nimmer. Sie
können unendlich klein sein, gemeinhin nicht zu bemerken;
indessen da sein müssen sie, und auf mannigfache Weise, durch
ihre Farbe, ihre Durchsichtigkeit, ihre Anziehungs- und Ab-
stossungsfähigkeit, legen die Körper davon auch Zeugnis ab.
Das Wasser in seinen verschiedenen Formen als Eis, Schnee,
Wasser schlechtweg, als Dampf, Nebel, Dunst und in grosser
Hitze als Wasserstoff und Sauerstoff, die bei der Abkühlung,
wenn sie inzwischen nicht anderweitige chemische Körper, nament-
lich Kohlensäure und Ammoniak oder zusammen kohlensaures
Ammoniak gebildet haben, sich wieder zu Wasser verbinden,
liefert unter Anderem einen Beleg dafür. Solche geringfügigen
Bewegungen, die zu keinen in gewöhnlicher Weise wahrnehm-
baren Ortsveränderungen führen, nennt man stehende Be-
10
wegungen. Sie beschränken sich auf ein Drängen, Drücken,
Vibrieren, Oscillieren, Rotieren u. dgl. m. Die stärkeren, aus-
giebigeren Bewegungen, welche deutlich zu erkennende Orts-
veränderungen nach sich ziehen, heissen im Gegensatze dazu
tortschreitende Bewegungen. Alle Mechanik, die Atomo-
mechanik, d. i. der Chemismus, die Molekularmechanik oder
Dynamik im älteren Sinne, die Mechanik im engeren Sinne,
haben es mit fortschreitenden, alle Statik, die Atomostatik, die
Molekularstatik, die Statik im hergebrachten Sinne mit stehen-
den Bewegungen zu thun.
Bewegung ist Kraft! Jede Kraft besteht nur in Bewegung.
Die fortschreitende Bewegung ist sogenannte lebendige Kraft,
motorische, kinetische Energie; die stehende Bewegung ist
Spannkraft, Druckkraft, virtuelle, potentielle Energie. Lebendige
Kraft und Spannkraft sind darum nicht so sehr verschieden,
wie vielfach angenommen wird, als ob sie eine Art Gegensätze
zu einander bilden; sondern sie sind nur gradweise von einander
verschieden. Die Spannkraft, Druckkraft, beziehentlich die
Spannkräfte, Druckkräfte, stellen den niedrigsten Grad von
Bewegung dar; in den lebendigen Kräften erreicht die letztere:
den höchsten, den es giebt. Wie stehende Bewegung in fort-
schreitende, diese wieder in jene übergeführt werden kann,
so kann auch Spannkraft in lebendige Kraft, und lebendige
Kraft wieder in Spannkraft übergeführt werden. Vermittelt wird
das durch die sogenannten auslösenden Kräfte, und zwar je
nachdem sie zur Wirkung oder in Wegfall kommen. Diese:
auslösenden Kräfte aber sind die Bewegungen, welche von aussen:
her auf die jeweiligen Körper, d. h. also aus der Umgebung
dieser, auf sie selbst einwirken und die stehende Bewegung in:
ihrem Innern so steigern, dass selbige zu einer fortschreitenden:
wird, oder aber auch, ist sie eine fortschreitende, so diese derart
mässigen, hemmen, dass'sie endlich zu einer stehenden wird. Ein
mässiger Luftzug steigert den Verbrennungsprozess, ein starker‘
stört, hemmt ıhn und hebt ihn zuletzt auf. Die fortschreitende
Bewegung des Verbrennens wird in die stehende, welche die:
Kerze, der Holzspahn, das Öl, das Gas darstellt, verwandelt.
In letzter Reihe wirken so nach unseren Auseinandersetzungen:
als auslösende Kräfte immer nur die Bewegungen, Schwingungen
des Äthers, die anscheinend mit gleicher Geschwindigkeit wellen-
a
förmig sich durch den Raum sowie Alles, was er enthält, fort-
pflanzen. Die kürzesten und darum sich am schnellsten folgenden
der betreffenden Wellen bedingen den Chemismus, die in Anbe-
tracht ihrer Länge nächst folgenden das Licht, die in Bezug
darauf folgenden die Wärme; die längsten und demgemäss sich
auch am langsamsten folgenden Ätherwellen sind das Substrat
der Elektrizität. Darum finden sich einerseits Chemismus, Wärme
Licht und Elektrizität so regelmässig zusammen und gehen selbst _
in einander über; darum aber haben sie auch andererseits die
ungeheuren, umwälzenden Wirkungen, welche wir unter ihrem
Einfluss, wenn auch zuerst kaum merklich, sich in der Körper-
welt vollziehen sehen.
Es ist halb und halb modern, die Elektrizität bis zu einem
gewissen Grade als die das All beherrschende Grundkraft an-
zusehen, die, so zu sagen, elektrische Bewegung als diejenige
zu betrachten, aus welcher die anderen genannten Bewegungs-
formen erst hervorgehen. Doch hat man auch die Schwere,
ohne indessen über ihr Wesen sich weiter Rechenschaft zu geben,
als diese Grundkraft betrachtet wissen wollen, zumal weil Wärme
und Licht mit Leichtigkeit sich .aus ihr ableiten lassen. Allein
sollte man nicht vielmehr von all’ den zu berücksichtigenden
Bewegungsformen, die von den kleinsten Bewegungen bis jetzt
allein bekannt sind, den Chemismus, die chemische Bewegung,
als diejenige bezeichnen dürfen, welche der Urquell aller übrigen
ist? Die Schwere entspringt erst aus ihm, beruht auf ihm, wie
wir gesehen haben. Auf dem Chemismus, der Atomomechanik,
beziehungsweise der chemischen Ausgleichung beruht aber auch
das Sichtbar-, Greifbar- und Wägbarwerden des Stoffes; auf
der chemischen Ausgeglichenheit, der Atomostatik oder auch
Atomostase, beruht die Körperwelt schlechthin. An diese aber
ist, was wir Licht und Wärme an sich nennen, nachweislich ge-
bunden. Ohne Körper kein Licht, ohne Körper keine Wärme!
Und mit der Elektrizität verhält es sich kaum anders. Strahlendes
Licht leuchtet nicht;strahlende Wärme wärmt nicht, und strahlende
Elektrizität? Nicht die bezüglichen Ätherbewegungen an sich
werden als Licht, Wärme, Elektrizität empfunden; erst die
Molekularbewegungen, zu denen sie in den Körpern geführt
haben, rufen diese Empfindungen in uns hervor. Die chemische
Bewegung, der Chemismus, scheint danach die Urkraft, Grund-
IRRE EN
kraft des Alls zu sein, und jede andere sich erst aus ihm zu
entwickeln. Wie von dem Punkte aus, an dem ein Stein in das
Wasser geworfen worden ist, sich erst nur kurze, hohe, dann
immer länger, aber gleichzeitig flacher werdende Wellen auszu-
breiten scheinen, welche langsamer und langsamer dahin zu
fliessen den Anschein erwecken, so breiten sich scheinbar auch
von dem Orte eines chemischen Vorganges zuerst blos kurze
hohe, sich rasch tolgende, dann immer länger, aber niedriger
werdende und sich langsamer folgende aus. Die ersten derselben
werden als Licht, die letzten als Elektrizität und die zwischen
beiden auf und nieder wogenden als Wärme empfunden.
Ist der Chemismus, die Atomomechanik, die Grundkraft,
welche das All beherrscht, seine Folge, die Atomostatik oder
Atomostase die Ursache seiner Sichtbarkeit, Greifbarkeit, Wäg-
barkeit, oder auf uns und unseres Gleichen bezogen, der‘ sinn-
lichen Wahrnehmbarkeit überhaupt, so ist es nach unseren Aus-
einandersetzungen auch die Umwandlung der das All durchwo-
genden lebendigen Kraft in Spannkraft, Druckkraft, welche
dieses bewerkstellist. Alle Werke der Natur sind nur An-
häufungen von Spannkräften in besonderer Form, und die Form
wird bedingt durch die Art und Weise, wie die besagte Um-
wandlung, welche unter gleichen Verhältnissen immer und immer
die gleiche ist, vor sich geht. Man hat schon vor langer Zeit
die Steinkohle als umgewandelte Sonnenwärme, als umge-
wandeltes Sonnenlicht bezeichnet und hält das auch noch gegen-
wärtig für durchaus zutreffend. Mit demselben Recht, jedenfalls
in demselben Sinne, kann man jedoch auch alle andern ent-
sprechenden Körper der Erde, ja die ganze Erde selbst als
umgewandelte Sonnenwärme, umgewandeltes Sonnenlicht ansehen.
Durch die Contraction, die Concentration ihrer kleinsten Theile,
ihrer Atome, ihrer Moleküle, durch welche die Cohäsion, die
gelegentliche Adhäsion derselben bedingt wird, und durch welche
sie selbst noch immer zur Sonne gravitiert, von der sie sich
einst abgelöst hat, ist sie das geworden, was sie ist. Und stürzt
sie einstmals auf Grund ihrer Gravitation wieder in die Sonne
hinein, wie das, wenn auch erst nach unendlichen Zeiten und
mannigfaltigen Veränderungen, welche sie selbst erst noch durch-
zumachen hätte, der Fall sein dürfte, so wird sie wieder in
demselben Sinne Sonnenwärme und Sonnenlicht. Endlich wird
u...
aber auch in Folge der Contraction ihrer Teile die Sonne
erkalten, dicht und fest werden. In Folge auch ihrer Gravitation
nach dem Mittelpunkte ihrer Bahn, einer etwaigen Centralsonne,
wird auch sie wohl einstmals an denselben mit all’ der Grösse
ihrer endlichen Bewegung gelangen. Sonne auf Sonne gelangt
dann dahin. Dort stürzen sie zusammen und unter der Wucht
des gewaltigen Sturzes, unter Umwandlung der sie zusammen-
haltenden Kräfte in Wärme und Licht lösen sie sich dabei wieder
aufin den Weltenstoff, aus dem sie sich gebildet haben. Das ist dann
eine Evolution des Weltalls, beziehentlich des Teiles desselben,
dem unsere Sonne, unsere Erde angehört, die Evolution des
Milchstrassensystems oder einzelner seiner Teile, die Evolution,
welche notwendiger Weise eintreten muss, wenn die gegen-
wärtige Involution desselben ihr Maximum erreicht hat. Ein
Weltendasein geht damit zu Ende, aber da Ruhe niemals und
nirgends vorkommt und vorkommen kann, so beginnt auch gleich
wieder eine neue Involution, und eine neue Welt nimmt aus den
Trümmern der alten ihren Anfang. Wie viele solcher Welten
mögen der unseren, also dem Milchstrassensystem, wie es heute
ist, schon voraufgegangen sein? Wie viele werden ihr noch
folgen? Die Welt an sich ist nur eine und ist ewig, der Welten
sowohl dem Raume wie der Zeit nach aber sind unendlich viele.
Jede dieser letzteren hat ihren Anfang gehabt, jede wird ihr
Ende haben. Allein der Anfang der einen und das Ende der
anderen sind nicht scharf geschieden; während die eine vergeht,
entsteht schon wieder die andere. Involution und Evolution
sind in unaufhörlicher Wechselwirkung, und daher ist es sehr
wohl verständlich, dass während in dem uns erkennbaren Teile
der Welt Involution herrscht, in einem anderen Teile’ derselben
eine Evolution vor sich geht. Involution ist Einwärtswendung,
Verdichtung, Gestaltung, Evolution ist Auswärtswendung,
Lockerung, Auflösung. Von dem Vorherrschen des einen vor
dem anderen wird die Benennung gebraucht. Herrscht die
Involution vor, so heissen wir den Zustand kurzweg Involution,
herrscht Evolution vor, so Evolution. So viel Weltkörper,
Sternschnuppen, Cometen, Planeten, vielleicht Sonnen sogar in
ihm mit anderen bereits zusammengestürzt sein mögen und sich
dabei aufgelöst haben, das Milchstrassensystem als Ganzes be-
findet sich gegenwärtig im Zustande der Involution, unsere Sonne
14
mit ihren Planeten, wenigstens vom Neptun angefangen bis zu
unserer Erde, also mitsammt den sogenannten oberen Planeten,
desgleichen. Die Erde mit Allem, was sie erfüllt, ist Produkt
.dieser Involution.
Auch das Leben, beziehentlich die lebenden Wesen sind als
ein solches Produkt zu betrachten. Das Leben ist eine Be-
wegung, wie Virchow sagt, eine eigenartige Bewegung, und
nur, wo wir diese oder gewisse ihrer Äusserungen gewahren,
aber auch überall, wo wir dieselbe gewahren, nehmen wir Leben
an und nennen das Wesen, das sie uns zeigt, ein belebtes,
lebendes oder lebendiges. Und was für Bewegungen sind das,
die wir als Ausdruck des Lebens ansehen? Alle solche, für
deren Entstehung wir keinen Grund, keine Ursache erkennen
können, welche uns hinreichend erscheinen, um namentlich ihre
Grösse zu erklären. Wir betrachten die fraglichen Bewegungen
deshalb als den Ausfluss eines besonderen Etwas, das den
Wesen, an denen wir sie beobachten, zukommt, das sie von den
übrigen Wesen, an denen wir gleiche oder ähnliche Bewegungen
nur in Folge der Einwirkung entsprechender äusserer Gewalten
auftreten sehen, unterscheidet, und nennen daher dieses Etwas
eben Leben. Alle Wesen, welche ein solches Leben zeigen,
heissen, wie bereits gesagt, ganz allgemein belebt, lebend; alle
welche dessen entbehren, leblos oder, mit Rücksicht auf die
scheinbare Ruhe, in der sie ohne äusseren Anlass unabänderlich
verharren, tot. Die lebendige Welt unterscheidet sich von der
toten dadurch, dass jene scheinbar aus sich selbst, automatisch,
sich bewegt, diese nur in Folge äusserer Veranlassung.
Nun wissen wir aber, dass der Chemismus und insbesondere
wenn er zu Verdichtungen führt, Licht, Wärme, Elektrizität er-
zeugt, beziehentlich in sie übergeht, indem die jenen darstellende
Atombewegung sich in eine Molekularbewegung fortsetzt. Wir
wissen, dass diese in eine molare übergeführt werden kann und
dass aus chemischen Vorgängen so mechanische Arbeit zu er-
wachsen vermag. Jede der zeitigen Dampfmaschinen, jeder
Gasmotor, jede Elektrizitätsmaschine, jede Wind-, jede Wasser-
mühle beweist das alle Tage. Je weniger ein Mensch mit
diesen Vorgängen bekannt ist, je weniger. er weiss, dass es
zuletzt die chemischen Vorgänge und Verdichtungen auf der
Sonne sind, in Folge deren unsere Schiffe den Ozean durchziehen,
15
unsere Maschinen die Gebirge durchtunneln, unsere Bauwerke
zum Himmel sich erheben können, um so mehr wird er allent-
halben Leben sehen. Je besser und in je grösserer Ausdehnung,
d. h. je genauer, intensiv wie extensiv, ein Mensch sich dagegen
mit den genannten Vorgängen vertraut gemacht hat, um so mehr
wird er überall nur Mechanismus erblicken, das Leben selbst
sich ihm endlich als eine einfach mechanische Thätigkeit offen-
baren. Der Wilde hält, den Mittheilungen fast aller Reisenden
zufolge, eine Taschenuhr für ein lebendes Wesen. Als die
ersten Eisenbahnen in Deutschland aufkamen, hat manches alte
Mütterchen es sich nicht ausreden lassen, dass die Lokomotive
auch ein solches lebendes Wesen sei oder doch wenigstens
lebende Wesen in sich berge, durch welche sie getrieben würde.
Und auf der anderen Seite verkündet du Bois-Reymond die
mechanische Weltauffassung und mit ihr natürlich, dass das
Leben nichts Anderes als ein blosser mechanischer Vorgang sei.
Jeder urtheilt nach dem, was und wie er etwas versteht. Wem
der genügende Einblick in das Wesen und Walten der Natur
fehlt, der wird leicht überall Leben im hergebrachten Sinne in
ihr sehen, ja sie leicht ganz und gar für diesem Leben ent-
sprechend belebt halten; wer sich Rechenschaft über jenes Wesen
und Walten zu geben im Stande ist, der wird dagegen an Stelle
des Lebens in diesem Sinne einfach mechanische Vorgänge er-
blicken, die ganze Natur für einen Mechanismus erkennen, der
allein durch die atomistischen Vorgänge in ihr in die ent-
sprechende Bewegung gesetzt wird. Die Welt, die Natur scheint
ihm zwar unbelebt, in des Wortes gewöhnlicher Bedeutung, aber
durchaus nicht tot. Überall in ihr herrscht Bewegung; überall
schieben in ihr sich die verschiedensten Bewegungsformen durch-
einander, wie die sichtbaren Wellen im Wasser, die hörbaren
in der Luft, und, da wir rege Bewegung in einer gewissen
Mannigfaltigkeit auch Leben nennen, wohl weil das die charak-
teristischste Eigenschaft des Begriffes Leben überhaupt ist, so
herrscht damit auch Leben, aber freilich in einem andern als dem
landläufigen Sinne, für ihn durch die ganze Welt. Die Welt,
die Natur ist ihm belebt.
Das Leben ist also eine eigenartige Bewegung, bei welcher
die Ursachen derselben in keinem Verhältnis zu ihrer nament-
lich zeitweise bedeutenden Grösse zu stehen scheinen, die aus-
16
lösenden Kräfte dieser mithin so klein sind, dass selbige als kaum
vorhanden, jedenfalls in Bezug auf den Erfolg als gleichgültig
erscheinen, und die fragliche Bewegung, Lebensbewegung,
somit gleichsam unvermittelt, automatisch, spontan erscheint. Die
Grundlage dieser Bewegungbilden wie überall chemische Vorgänge.
Atome, Weltstoffatome, drängensich in mannigfaltiger, aber in ıhrer
Mamnigfaltigkeit doch immer recht bestimmter Art zu entsprechen-
den Molekülen und damit zu’mannigfaltigen, aber in ihrer Mannig-
faltigkeit auch wieder recht bestimmten Stoffen zusammen; der
das bedingende Chemismus, die entsprechende Atomomechanik,
geht in die entsprechende Atomostatik über; eine Involution als.
teilweiser Ausdruck der Involution unseres Sonnen-, des Milch-
strassensystems, macht sich geltend. Dann erfolgt durch Hin-
zutritt anderer Atome, wieder Weltstoffatome, eine Lösung der
beregten Moleküle; ihre Atome fahren aus einander; es erfolgt
eine Evolution, ebenfalls als örtlich beschränkter Ausdruck der
auch im grossen All vorkommenden evolutionistischen Vorgänge,
und, kaum dass dieselbe eingetreten ist, bilden sich unter den
auseinanderfahrenden Atomen der verschiedenen Stoffmoleküle
und den zu ihnen eben erst hinzugetretenen Weltstoffatomen neue
Beziehungen aus. Der Chemismus, die Atomomechanik, tritt wieder
ein; ihr folgt wieder eine Atomostatik; eine Involution anderer
Art, deren Produkte von grösserer Dauer sind, hat Platz gegriffen.
Dieser rege Wechsel zwischen Involution und Evolution
dürfte aber das sein, was wesentlich das Leben aus-
macht. Eingeleitet und unterhalten wird der Wechsel durch
den Äther, der sich auch hier als Redtenbacher'sche Dyna-
miden in die Zwischenräume zwischen den Molekülen, den Ato-
men des lebenden Körpers einschiebt, und als Licht, Wärme,
Elektrizität zur Wirkung bringt, und die dabei von aussen her
in den Körper eindringenden Weltstoffatome, welche die zur
Sprache gebrachte Evolution, wohl nachdem sie sie erst be-
schleunigt haben, wieder in eine Involution umwandeln, sind
der Hauptsache nach die Combination derselben, welche wir
Sauerstoff nennen, der Sauerstoff schlechthin. Die durch den-
selben herbeigeführte Oxydation ist demnach vorzugsweise eine
Involution, wenn sie vielleicht auch, so zu sagen, um sich zur
Geltung zu bringen, die Evolution, welche notwendiger Weise
ihr voraufgehen muss, beschleunigt oder gar auch erst hervorruft.
17
Überblicken wir das nun noch einmal im Ganzen, so ergiebt
sich: Es drängen unter bestimmten Verhältnissen, Kraftentfal-
tungen der Natur, eine Anzahl von Atomen zu bestimmten Be-
ziehungen zu einander. Dadurch entsteht zuletzt eine Atomostase,
schlechthin chemische Verbindung genannt, welche bestimmte,
zusammengesetzte Stoffe darstellt. Durch die Veränderung der
Verhältnisse, unter denen das $eschah, namentlich durch An-
wachsen des Lichts, der Wärme, der Elektrizität und natürlich
auch gewisser Folgen davon, tritt wieder, je nachdem, eine
Lockerung der bezüglichen Verbindung, eine Überführung der
Atomostase, Atomostatik, in Atomomechanik, der durch jene
erzeugten Spannkräfte, Druckkräfte, in lebendige Kräfte ein,
und während dessen bilden sich vornehmlich unter dem Hinzu-
tritt von Sauerstoff, neue Atombeziehungen, d. h. neue Atomo-
stasen, chemische Verbindungen, Stoffe, und mit ihnen Umwand-
lungen von lebendiger Kraft in Spannkraft aus.
Die neuen Stoffe und die alten Stoffe stossen sich ab. Die
alten Stoffe durch die ihnen innewohnende Bewegung reissen
aus ihrer Umgebung, welche an ihren Atomen gleichen Atomen
mehr oder.minder reich ist, solche an sich, indem sie selbige
in die gleiche Bewegung versetzen. Sie ersetzen dadurch, was
sie durch Einwirkung zumal des Sauerstoffes auf sie,.also durch
Oxydation, vorher verloren hatten und, wenn auch gleich wieder,
ja schon während dieses Vorganges neue Oxydationen vor sich
gehen, so werden sie doch, wenn diese letzteren nicht in zu aus-
giebigem Masse und zu jäh erfolgen, dadurch erhalten, ja selbst
in ihrer Masse vermehrt. Die durch die Oxydationen neu ge-
bildeten Stoffe sammeln sich zuerst in den grösseren Zwischen-
räumen, welche sich zwischen den Bestandteilen der alten finden,
bleiben in diesen liegen oder werden endlich aus ihnen, da die
besagten Bestandteile einen. Druck auf einander ausüben, aus-
gestossen. |
Das Vermögen gewisser Atomostasen auf Grund der ihnen
innewohnenden stehenden Bewegungen, beziehentlich der ihnen
innewohnenden Gesammtbewegung, ihnen gleiche oder wenigstens
nahe verwandte Atome ihrer Umgebung heranzuziehen und in ihre
eigene, beziehentlich eine dieser sehr ähnliche Bewegung zu ver-
setzen, damit ihnen gleiche oder doch ähnliche Atomostasen zu
schaffen und sich durch diese gelegentlich zu vermehren, zu den
2
ad
18
durch sie bedingten Molekülen neue, gleichartige in das Dasein
zu rufen, dieses Vermögen wird als das Assimilationsvermögen
und seine Bethätigung als Assimilation bezeichnet. Das Unter-
worfensein dieser Atomostasen, unter dem Einfluss stärkerer
Ätherbewegungen, stärkeren Lichts, grösserer Wärme, ver-
mehrter Elektrizität und ihrer Folgen, wieder in Atomomechanik,
Chemismus, und unter dem Hinzutritt von Sauerstoff in anders-
artige Atomostasen, andersartige Moleküle übergehen zu müssen,
die von den alten Molekülen und ihren Komplexen abgestossen
und endlich ausgestossen werden, das hat man in seinen ver-
schiedenen Erscheinungsweisen Sekretion, beziehentlich Ex-
kretion genannt.
Die Assimilation wie die Sekretion sind Involutionen, welche
durch eine Evolution vermittelt werden; die Exkretion hat damit
nichts zu thun, sie ist ein mechanischer Vorgang, zu welchem
die Sekretion erst Veranlassung giebt. Die Drüsen z. B. secer-
nieren; die Ausstossung des Sekrets ist die bezügliche Exkretion.
Bei der Excretio alvi handelt es sich um Ausstossung von
Massen, die der Hauptsache nach, streng genommen, dem Körper
nie angehört haben und nur zum kleinsten Theile Sekrete bei-
gemengt enthalten. Aus Assimilation und Sekretion, welche
sich so ununterbrochen folgen und deshalb so in einander greifen,
dass man nicht sagen kann, wo jene aufhört und diese anfängt,
setzt sich der sogenannte Stoffwechsel zusammen. Von dem
Gange desselben hängen die Lebenserscheinungen ab. Sie sind
gleichmässig, ist er gleichmässig; sie zeigen Schwankungen,
Abwegigkeiten, wenn er in entsprechender Weise vor sich geht.
Allein wenn auch dieser Stoffwechsel die Grundlage der Lebens-
erscheinungen abgiebt, so sind es doch nicht gerade die Assi-
milation und Sekretion, durch welche sich jene zu erkennen
geben, — denn das sind Involutionen, also Umwandlungen in Spann-
kraft, beziehentlich Anhäufungen von Spannkraft —, sondern die
zwischen beiden liegenden Evolutionen, die Umwandlungen der
vorhandenen Spannkräfte in lebendige Kräfte. Gehen dieselben
mehr oder weniger langsam und ganz allmählich vor sich, das
eine Mal rascher, das andere Mal langsamer, so wird von den
fraglichen Lebenserscheinungen zunächst nur wenig, ja vielleicht
gar nichts wahrgenommen werden können; erst nach und nach
werden sie sich bemerkbar machen. Sie beschränken sich dann,
da nach dem bereits Angeführten die Assimilauon in solchen
Verhältnissen das Übergewicht über die Sekretion hat, auf Ver-
mehrung, Anhäufung der Assimilationsprodukte. Es findet Bildung
neuer Moleküle, Vergrösserung der jeweiligen Molekularkom-
plexe, also Grössenzunahme des bezüglichen Stoffes, Körpers
statt. Das Wachstum dieses ist vermehrt, der demselben zu
Grunde liegende Anbildungsprozess erhöht. Von ihnen beiden
aber wissen wir, dass das in sehr verschiedenem Grade sein
kann und dass beide sich das eine Mal beschleunigter, das
andere Mal weniger beschleunigt vollziehen können. Erfolgen
dagegen jene Evolutionen rascher, jäher, dazu vielleicht auch
in grösserem Umfange, so gehen die betreffenden Atom- und
Molekularbewegungen gemäss der Eingangs gemachten Ausein-
andersetzungen in molare über. Es kommt zu fortschreitenden
Massenbewegungen, mechanischen Vorgängen im engeren Sinne
des Wortes, und das sind eben die, welche wir vorzugsweise
als Lebenserscheinungen, Lebensäusserungen ansehen, wenn wir
nicht ihre Ursachen in der Umgebung des gerade in Betracht
kommenden Körpers gleich zu erkennen vermögen.
Das Leben ist eine Erscheinung der allgemeinen Involution
des Weltalls, die zwar durch eine sich stetig folgende Reihe
von Evolutionen in ihrer Eigenart unterbrochen wird, aber ledig-
lich nur, um dann in eine um so stärkere und dauerndere über-
zugehen. Seine charakteristischen mechanischen Vorgänge, welche,
wie man sagt, von Wärme, Elektrizität, vielfach auch Licht sich
begleitet zeigen, in der That aber aus diesen molekularen Vor-
gängen erwachsen, sind den entsprechenden Evolutionen in der
grossen Welt zu vergleichen: den Lichterscheinungen des St.
Elmsfeuers, den Licht- und Wärmeerscheinungen, zündenden
Blitzen mit gleichzeitigen oder unmittelbar nachfolgenden ander-
weitigen Elektrizitätsäusserungen in unserer Atmosphäre bei
Verdichtungen von Wasserdunst zu Nebel, Regen, Schnee, Hagel,
Schlossen, dem Aufleuchten und Verpuffen der sogenannten
Sternschnuppen in derselben, dem Heller-, Lichterwerden, Sich-
aufblähen, Teilen der Kometen in der Sonnennähe, dem Auf-
flammen von bis dahin matten oder noch nicht gesehenen Sterner
bei einem mutmasslichen Zusammenstoss derselben u. s. w.
Es klingt das vielleicht sonderbar, ja vielleicht hier gar richt
hergehörig, ist aber doch zum Verständnis dessen, was wir
28
Leben nennen, und der Beziehungen desselben zu anderen Vor-
gängen in der Welt nicht‘ ohne Belang. Man vergegenwärtige
sich immer: Das Leben stammt aus dem grossen All; die Lebens-
bewegung ist nur eine Sonderbewegung in der grossen Allbe-
wegung; auch das edelste Leben hat sich nur aus der Atom-
bewegung des Alls gebildet, aus der die Sonne, die Planeten
und mit ihnen die Erde hervorgegangen ist. . Man erinnere sich,
dass vom Menschen es heisst: Von Erde bist du genommen, zu
Erde sollst du wieder werden, und wir finden es bestätigt.
Was die Erde beherrscht, beherrscht auch die lebenden Wesen,
und auf der Erde vollzieht sich nichts, was nicht im grossen
All, wenn auch in anderer Form, seinen Vollzug hätte. |
Man hat gesagt — ich will etwas vorgreifen —: Das Leben
ist an das Organische gebunden, so als ob dieses das erste und
jenes «das zweite wäre. Würde es indessen nicht vielleicht
richtiger sein zu sagen: Das Leben, wenn wir es nun einmal
doch nur als eine eigenartige, räumlich beschränkte Bewegung
des Alls anerkennen können, bringt das Organische hervor, be-
ziehungsweise macht den Stoff zu etwas Organischem? Die
eigenartige Bewegung ist nicht Leistung des Organischen, sondern
das Organische ist sinnlicher Ausdruck dieser Bewegung. Eine
fortschreitende Bewegung des Weltenstoffs,. der Atome, .die be-
zügliche Atomomechanik, der bezügliche Chemismus, ist das
Erste; die daraus hervorgegangenen sogenannten chemischen
Verbindungen, die bezüglichen Atomostasen, die bezügliche.
Atomostatik selbst, die Masse stehender Bewegung, welche die
Atome greifbar, sichtbar, wägbar macht, das Zweite. In diesem
Sichtbaren, Greifbaren, Wägbaren vollziehen sich allerdings
dann, für uns allein bemerkbar, die fraglichen Bewegungen in
der oben geschilderten charakteristischen Weise; aber immer
ist der durch seine Sichtbarkeit, Greifbarkeit, Wägbarkeit sinn-
lich wahrnehmbare Körper nur der Träger dieser Bewegung,
beziehentlich der Vermittler dafür, dass sie in gröberer und
darum für uns deutlicher Weise in dynamischen und mecha-
nischen Vorgängen sich zur Erscheinung bringt, nie jedoch
ihre Ursache. |
Übrigens giebt es eine Menge von organischen Wesen,
Organismen, welche zu Zeiten kein Leben zeigen, deshalb für
schon leblos, tot, also nicht mehr für organisch im Gegensatz
zum Unorganıschen gehalten werden, bis mit einem Male sich
dieses Leben wieder zu regen, zu bewegen anfängt. Zu diesen
Wesen gehören so ziemlich alle Pflanzen der kalten und kälteren
Zonen während des Winters, und nur die Erfahrung, dass sie
mit erwachendem Frühling sich wieder belebt zeigen werden,
lässt ihren winterlichen Zustand anders beurteilen. Umgekehrt
verhält es sich mit vielen Pflanzen der wärmeren und warmen
Zonen, namentlich der Wüsten und Steppen der östlichen, der
Pampas, Llanos, Prairien der westlichen Halbkugel. In der
regenlosen Jahreszeit erscheinen sie verdorrt, tot, aus dem
leicht zerstäubenden Boden herausgerissen, ein Spiel der Winde;
wenn aber dann die kühlere, regenreiche Zeit folgt, so frischen
sie sich wieder auf und ergrünen zu neuem Leben. Die soge-
nannte Mannaflechte, die Sphaerothallia esculenta, die bekannte
Rose von Jericho, die Anastatica hierochuntica, mögen als be-
sonders bemerkbare Zeugnisse dafür angeführt werden. Nur
die Erfahrung, dass das sein werde, wenn die fraglichen Pflanzen
in der heissen Zeit noch so trocken, noch so dürr, wie todt,
also dem Unorganischen gleich aussehen, lässt auch ihren Zustand
demgemäss beurtheilen. : Und doch welche Täuschungen kommen
dabei vor!? Ferner gehören zu diesen Wesen die keimungs-
fähigen Samen der Pflanzen, welcher Art sie auch sein mögen,
die jahrelang, wie wir von den aus ägyptischen Mumiensärgen
‚stammenden wissen, Jahrtausende lang ihre Keimkraft bewahren
können, inzwischen wie tot aussehen und, was namentlich die
letzteren anlangt, auch dafür lange galten. Alle Eier von Tieren,
namentlich von Gliedertieren und Würmern, welche sich Wochen
und Monate hindurch in eisiger Winterskälte und sengender
Sommershitze, in sonst Alles austrocknender Dürre oder zer-
weichender Nässe entwickelungsfähig erhalten, sind andere
Gruppen dieser Wesen. Selbst ausgebildete und zum Teil
hoch entwickelte Tiere kommen sodann unter ihnen vor. Es
giebt ihrer solche, welche vollständig gefrieren, welche voll-
ständig, ich möchte sagen, gebacken werden können, in diesem
Zustande spröde und zerbrechlich sind und nichtsdestoweniger
wieder zu einem Leben zu gelangen vermögen, welches dem
vollständig gleich ist, das sie vordem besassen. Verschiedene
Krebse, namentlich Copepoden, verschiedene Spinnen, wie
Hydrachniden, Tardigraden, verschiedene Würmer, vorzugsweise
22 f
Gordiaceen, Anguillulideen, liefern dafür die meisten Belege.
Im Jahre 1856 sammelte ich mit Prof. Münter im Anfang des
Monats Juli ein Phleum Böhmeri mit monströsen Fruchtknoten.
Das sehr nasse Wetter des ganzen Sommers liess die für das
Herbarium bestimmten Pflanzen nicht zur Trockenheit kommen.
Um diese letztere dennoch zu erzielen, wurden die betreffenden
Pflanzen in einen Trockenofen gebracht, der immer doch mit
einer Wärme von einigen 50° C. und darüber auf sie wirken
mochte. Die Pflanzen wurden denn auch vollkommen trocken
in ihm, ja selbst spröde. Im November oder December des-
selben Jahres wurden gelegentlich die monströsen Fruchtknoten
untersucht. In jedem derselben befand sich ein kleines Würmchen,
das leicht zerbrach und zu Staub zerrieben werden konnte. In
einem Tropfen Wasser unter das Mikroskop gebracht, zeigte
es aber sehr bald lebhafte Bewegungen, und ich erinnere mich
noch sehr wohl der grossen Verwunderung, welche ich darüber
empfand, dass ein unter meinen Augen gedörrtes Tier, nachdem
es wenigstens fünf Monate tot dagelegen zu haben schien, sich
wieder zu neuem Leben erhob.
Wir wissen, dass in allen diesen Fällen nicht neues Leben
in die betreffenden Wesen hineinfährt, dass sie nicht zu neuem
Leben erwachen, sondern dass ihr noch immer vorhandenes nur
so ausserordentlich schwach und geringfügig war, dass wir es
nicht an irgend welchen Äusserungen wahrzunehmen vermochten.
Sein Bestand war für uns verborgen; es war latent. In der
That bezeichnet man denn auch ein Leben, das sich durch
längere Zeit für uns nicht äussert, durch einen Scheintod,
so zu sagen, vertreten wird, als ein latentes. Die Wesen, welche
nach mehreren Jahren noch ein Leben besitzen, nur dass es bis
dahin latent war, erscheinen uns starr. Sie erscheinen uns da-
mit wie leblos, tot, der Welt des Unorganischen anheimgefällen.
Denn die Form an sich macht ja nicht das Organische aus,
sondern lediglich die Art und Weise, in welcher sie auf uns
wirkt, d. h. sich äussert, bethätigt.
Wir unterscheiden dem oben Erörterten gemäss vorzugsweise
eine Starrheit aus Kälte, die Kältestarre, und eine Starrheit aus
Wärme, die Wärmestarre. Wir unterscheiden zwar neben dieser und
jener Starre auch noch insbesondere eine Totenstarre, die Starr-
heit, welche in Folge des Todes eintreten soll; allein das Jetztere
ist nicht ganz richtig. Die Totenstarre tritt nicht ın Folge des
Todes, sondern des Ablebens, des Absterbens, ein. Sie ist die
letzte Lebensäusserung, an die sich der Tod der Regel nach
anschliesst, indessen nicht gerade anschliessen muss. Auch aus
der Totenstarre kann eine Rückkehr zu voller Lebensäusserung
noch erfolgen, wenn auch wohl kaum in so zahlreichen Fällen,
wie die Erzählungen vom Wiedererwaechen aus dem Scheintode
"glaubhaft machen wollen. Was bedingt nun die fragliche Starre?
Doch nichts Anderes als die Starrheit des bezüglichen Mole-
kulargefüges auf Grund einer sehr weit gediehenen Atomostase,
einer sehr starken Concentration beziehentlich Contraction der
betreffenden Atome um einen bestimmten Punkt. Dass die Kälte
zu einer solchen führt, haben wir schon erfahren; dass es auch
die Wärme vermögen soll, die sonst das Gegenteil bewirkt,
ist für uns neu. Allein wir brauchen uns blos zu denken, dass
die Wärme die allen lebenden Wesen innewohnende Feuchtigkeit
austreibt, un das dennoch ganz 'begreiflich zu finden. Denn ’ı.
vertreibt sie die sogenannte interstitielle, intermolekulare Flüssig-
keit, wodurch wenigstens die Moleküle zusammenrücken und
deshalb urbeweglicher werden müssen, und 2. zerstört sie auch
die in den Molekülen selbst vorhandene, welche eine Art von
Constitutionswasser darstellt und da sein muss, damit der bereits
erwähnte Stoffwechsel vor sich gehen kann, indem durch diese
Flüssigkeit die zu demselben erforderlichen Bestandteile den
einzelnen Atomen nahe gebracht und die durch denselben erst
hervorgegangenen Körper aus ihrer Nähe wieder entfernt werden
können; es müssen aber dadurch auch die Atome noch zusammen
rücken und ebenfalls in ihrer Beweglichkeit beeinträchtigt werden,
und das Ganze muss sich mithin noch mehr verdichten, muss
noch unbeweglicher werden, mehr oder weniger erstarren. Was
Kälte, was Wärme in verhältnismässig hohem Grade vermögen,
die Lebensthätigkeit latent zu machen, indem sie’dieselbe hemmen,
die durch sie zum Ausdruck gebrachte lebendige Kraft in Spann-
kraft umwandeln, das vermögen auch alle sonstigen gleich-
wertigen Momente: das Licht, die Elektrizität, die entsprechenden
mechanischen Vorgänge, Druck, Stoss. Jede stärkere, jede starke
Krafteinwirkung, oder, wie wir in Bezug auf organische Körper
sagen, jede stärkere, jede starke Reizung, beziehentlich jeder
stärkere oder starke Reiz, hat eine Hemmung der Lebensthätig-
keit zur Folge. Wir werden hierauf später zurückkommen.
24
In Anbetracht nun all’ dessen lässt sich doch wohl nicht so
ohne Weiteres behaupten, das Leben sei an das Organische ge-
bunden, gleichsam einen Ausfluss desselben darstellend. Das latente
Leben ist eigentlich kein Leben mehr, ebenso wenig wie die
latente Wärme noch Wärme, wenigstens im gewöhnlichen Sinne
des Wortes, ist. Das latente Leben wird darum auch .oft, und
um so häufiger, je länger seine Latenz dauert, für ein schon
erloschenes gehalten. Es ist nur noch, ich möchte sagen, die
Möglichkeit zum Leben. Es ist nur noch ein potentielles, ein
virtuelles Leben, und der Körper, in welchem es steckt, ist ab-
gesehen von der Form, eigentlich kein Organischer mehr; uns
fehlt das Kriterium dafür; er nimmt vielmehr eine Mittelstellung
zwischen Organischem und Unorganischem ein und wird un-
zweifelhaft zu letzterem, wenn sein latentes Leben sich nicht zu |
einem aktiven, effektiven erhebt. Damit es sich aber zu einem
solchen erhebe, bedarf es der Zufuhr von Reizen, durch welche
die es bindenden Reize in ihrer Wirkung gemässigt, gehoben,
oder auch durch welche gewisse, es noch unterhaltende Reize
so verstärkt werden, dass andere, es niederhaltende dadurch
überwunden werden. Es ergiebt sich hieraus, dass, wenn auch
nach unseren Erfahrungen das Leben an das Organische ge-
bunden erscheint, es doch noch durchaus nicht an dasselbe ge-
bunden zu sein braucht. Das aktive, effektive Leben scheint
allerdings immer nur mittelst desselben uns zur Wahrnehmung
zu kommen; das latente jedoch, warum sollte es sich nicht auch
in Atomverbindungen, Molekularkomplexen finden, die als organisch
in der herkömmlichen Bedeutung noch nicht bezeichnet werden
können? — Wenn das Leben nur eine von der grossen Allbe-
wegung räumlich und zeitlich ausgesonderte ist und in dieselbe
wieder zurückkehrt und zwar allmählich, — die Totenstarre ist
der Ausdruck dieses allmählichen Überganges —, so ist es doch
auch mehr als wahrscheinlich, dass sie sich nur allmählich aus
der grossen Allbewegung ausgesondert hat und in Stoffen und
Körpern anwesend sein muss, welche noch nicht organisch
genannt werden können, aber die Möglichkeit besitzen, es zu
werden, welche gewissermassen eine Mittelstellung zwischen dem
Organischen und Unorganischen, dem Belebten und Unbelebten
oder Leblosen, Toten, einnehmen.
Die Angelegenheit ist hinsichtlich der Frage: Was ist Leben,
25
wie äussert sich Leben und welchen Gesetzen zeigt es sich
unterthan? von grösserem Belang als es im ersten Augenblick
scheinen dürfte. Sie hängt in Anbetracht dieser Frage auch auf
das Innigste mit der nach der Generatio aequivoca oder Abio-
genesis zusammen, über welche zwar wiederholt ein Anathema
sit ausgesprochen, deren Nicht-Vorhandensein auch in der Gegen-
wart indessen nicht im Geringsten erwiesen worden ist. Männer
wie Charlton Bastian, Huizinga sind erst in den letzten Jahr-
zehnten noch für sie eingetreten, und ich kann nicht einsehen,
warum sie nicht noch vorhanden sein soll. Ich will sie nicht behaup-
ten, denn ich habe keine Unterlagen dafür; allein alle, die sie ab-
leugnen und behaupten: Omne vivum nisi ex ovo, haben ebenso
wenig Unterlagen hierfür. Behauptung steht da gegen Behauptung.
Aller Stützen entbehrt keine. Die Neigung und der Geschmack
der Behauptenden entscheidet allein, zu welcher sie sich selbst
bekennen und welche sie stützen wollen. Endgültig beweisen
jedoch kann weder der eine noch der andere, was er behauptet.
Als das Organische, beziehungsweise als die Grundlage
alles Organischen gilt heut zu Tage das von Hugo v. Mohl ım
Jahre 1846 in seiner wahren Bedeutung zuerst erkannte Proto-
plasma, das heute auch vielfach Bioplasma genannt wird. Es ist das
eine sehr zusammengesetzte chemische Verbindung, welche der
Hauptsache nach aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauer-
stoff besteht, etwas Schwefel und Phosphor, gelegentlich aber
auch noch manche andere Stoffe enthält. Vornehmlich durch den
letztgenannten Umstand wird sie in ihrer Zusammensetzung
mehr oder weniger abgeändert, zeigt sich in Folge dessen auch
in ihrem sonstigen Verhalten mehr oder weniger andersartig;
büsst aber niemals wesentlich an ihrem eigentlichen, ihrem Haupt-
charakter ein. Das Protoplasma erscheint bei genügender,
etwa 1000 maliger Vergrösserung als eine glasig helle, stark
lichtbrechende, in ihrem Zusammenhange leichter oder schwerer
verschiebbare und darum mehr dünn- oder mehr dickflüssige
Masse. Man kann dieselbe schlechtweg als zähflüssig bezeichnen.
Da sie bei nachlassendem Druck, durch welchen sie auseinander
_ getrieben worden, leicht wieder in die alte oder doch eine dieser
ähnliche Form zurückkehrt, so erweist sie sich auch als elastisch,
und man kann sie deshalb auch zäh-elastisch oder elastisch-zäh
nennen. Dabei ist sie contractil, d. h. sie zieht sich auf Reize,
welche sie treffen, zusammen und dehnt sich, kommen dieselben
in Wegfall, wieder aus. Es gilt das für ihre charakteristischste
Eigenschaft; es ist dieselbe aber wohl kaum etwas Anderes, als
die sehr gesteigerte, namentlich in Betreff der Schnelligkeit
ihres Vollzuges gesteigerte entsprechende Eigenschaft aller übrigen
Körper, auf gewisse Kraftwirkungen hin sich zusammen zu ziehen
und nach Aufhören derselben wieder auszudehnen. Die gedachte
Contractilität kann wie alle Eigenschaften des Protoplasmas sehr
verschieden sein. Sie kann sehr auffällig, sie kann nur schwer
zu erkennen sein; aber vermisst wird sie im aktiven Leben wohl
niemals! Sie vermittelt den das Leben ausmachenden Chemismus
mit den mechanischen Vorgängen, welche wir als bezeichnend
für jenes ansehen.
Bei genauerer Besichtigung erscheint die Masse des Proto-
plasmas wie aus bald mehr geraden, bald mehr gewundenen,
einen mannigfachen Verlauf einhaltenden Fäden zusammengesetzt.
Die Fäden, an welche die Contractilität gebunden erscheint,
werden einesteils durch Spalten, Risse, Klüfte auseinander ge-
halten und stehen andernteils vielfach mit kleinen, eben erst
sichtbar werdenden, aber auch eine Grösse von I , d. i. 0,001
Mmtr. im Durchmesser besitzenden, recht verschieden gestalteten
Körnchen in Verbindung.
Die die Fäden trennenden Spalten, Risse und Klüfte sind
mit einer Flüssigkeit erfüllt, welche wohl das Material enthält,
das der Ernährung der Fäden und Körnchen erst noch dienen
soll oder auch bereits gedient hat. Die Fäden selbst würden so,
wenigstens grossen Teils und insoweit sie nicht durch andere
Verhältnisse vorgebildet worden, nur dadurch entstehen und
entstanden sein, dass die einst mehr homogene Masse durch
Aufnahme von Ernährungsmaterial, Ausscheidung von Ver-
brauchsmaterial von Lücken durchsetzt wurde, welche sich nach-
her zu Spalten, Rissen und Klüften verbanden. Es wäre damit
dann aber auch ein Kanalsystem zu Stande gekommen, in welchem
sich die erwähnten Materialien bewegten, das schliesslich die
ganze Protoplasmamasse durchzöge und sie in das Fadennetz um-
wandelte, als welches es vornehmlich von einem gewissen Alter
ab erscheint.
Die erwähnten Körnchen sitzen in den Knotenpunkten sich
anscheinend kreuzender Fäden. Sie sind deshalb auch vielfach
27
lediglich als der Ausdruck der blossen Kreuzung dieser letzeren
angesehen worden und werden auch noch vielfach dafür weiter an-
gesehen. Die Körnchen sitzen aber auch im Zuge der Fäden selbst
und zwar wie in sie eingebettet, manchmal auch so, als ob sie ihnen
blos anhafteten, einfach anklebten oder auch mit einem Stiele auf-
sässen, und in einigen Gebilden scheinen sie sogar blos lose neben
ihnen und damit zwischen ihnen zu liegen. Dass es wirklich frei
zwischen den Fäden, also in den besprochenen, dem Ernährungs-
material dienenden Kanälen liegende Körnchen giebt, erliegt kaum
noch einem Zweifel. Indessen dieselben dürften vielfach dem Er-
nährungsmaterial allein zugehören, und sind durchaus von den
in Rede stehenden getrennt zu halten. Diese letzteren, in ihrem
Vorhandensein am entschiedensten von M. Schultze, danach von
Boll, mir und neuestens von Altmann behauptet, im Allge-
meinen indess durchaus bestritten, sind meiner Meinung nach
Bläschen oder Kapseln, da sich an ihnen ein Inhalt und eine
diesen umschliessende Hülle unterscheiden lassen. Von den
Pathologen sind mir diese Körnchen vielfach als Kokken, Bakte-
rien gezeigt worden, und ich erinnere mich noch sehr wohl, wie
ein eifriger Kokken- und Bakterienforscher vor Jahren in einem
entzündeten Knorpel die in denselben hinein wachsenden Gefäss-
sprossen sowie an dem z. T. in lebhafter Cellulation begriffenen
Inhalte der bezüglichen Knorpelkapseln, welche beide, wie alles
jugendliche Protoplasma, sehr reich an den besagten Körnchen
waren, als massenhafte Einwanderungen und Ansiedelungen von
Kokken in dem Knorpel nachzuweisen suchte. Die Pathologen
haben diese Körnchen im Allgemeinen immer als Körnchen auf-
gefasst, wenn sie dieselben auch zumeist als etwas dem Proto-
plasma an sich nicht Zukommendes, ihm Fremdartiges, erachteten,
sie eben für eingewanderte Kokken oder Bakterien erklärten.
Die Physiologen dagegen, und unter diesen in Sonderheit die
für gewöhnlich nur normale Gewebe untersuchenden Histiologen
haben, wie schon gesagt, dieselben blos für Kreuzungs- oder '
Knotenpunkte der sich mannigfach verflechtenden Fäden ange-
sehen, bis sie in der neuesten Zeit durch ihr Chromatin, das
körnchenartig in den Fäden liegt, oder diesen anhängt, ihnen
als Körnchen bis zu einem gewissen Grade doch auch gerecht
geworden sind.
Die fraglichen Körnchen besitzen in der Regel eine grosse
28
Anziehungskraft für Farbstoffe, während den Fäden eine solche
nur in beschränktem Masse zukommt. Manche Körnchen scheinen
manche Farbstoffe ganz besonders gern aufzunehmen, und au-
deren gegenüber sich mehr indifferent zu verhalten, und, da
etwas Gleiches bei den Kokken und Bakterien vorkommt,
scheinen die Pathalogen sie gerade darauf hin für Kokken und
Bakterien erklärt zu haben. Die Form der Körnchen ist, wie
schon erwähnt, eine sehr verschiedene. Sie ist rundlich, eckig,
eiförmig, -birnförmig, keulenförmig. Ihr Inhalt, beziehentlich
Inhaltskörperchen, zeigt sich ebenfalls recht mannigfaltig. Meist
sieht es schwärzlich aus, bald mehr mit einem Stich in das ein-
fach Graue, bald mehr mit einem solchen in das Braune. Es
kann aber auch anders gefärbt sein und rötlich, grünlich, gelb-
lich erscheinen. Manchmal ist es das Licht doppelt brechend.
Die Körnchen liegen in der übrigen Masse des Protoplasmas,
welche herkömmlich ziemlich allgemein Grundsubstanz desselben
geheissen wird, einzeln oder zu mehreren, in dichteren oder
loseren Gruppen. Dieselben erscheinen als Reihen, kleinen
Perlenschnüren vergleichbar, oder als kleinere oder grössere
Häufchen, drusenartigen Gebilden nicht unähnlich. Wo die
Körnchen dichter zusammenliegen, ist die Grundsubstanz an und.
für sich auch dichter: sie ist glänzender und nimmt die Farb-
stoffe leichter und in grösserer Menge auf, als wo jene weniger
dicht an einander liegen. Die Körnchen sind häufig und nament-
lich da, wo sie mehr vereinzelt liegen, in lebhafter, vibrierender,
oscillierender oder auch selbst fortschreitender Bewegung, wie
insbesondere bei Pflanzen. Die Bewegung pflegt um so aus-
giebiger und darum deutlicher zu sein, je weniger Widerstand
ihr von Seiten der Grundsubstanz entgegengesetzt wird, also je
weniger dicht, je flüssiger, je zerfliesslicher sie ist. Zerfliesst
sie einmal wirklich, werden die Körnchen dabei frei, so schwir-
ren dieselben auseinander. Unter vibrierenden, oscillierenden,
rotierenden Bewegungen tanzen sie unter einander herum, fahren °
plötzlich in weiten Bogen durch einander, nähern sich, stossen
sich ab, nähern sich wieder, stossen sich wieder ab, bis sie mit
einem Male zusammenschiessen und sich zu eigentlichen Gruppen
verbinden, was Brücke an.den Körnchen der Speichelkörperchen
schon vor Jahren gesehen und von Impulsen abhängig gemacht hat,
welche möglicher Weise von den Körnchen selbst oder ihrer
29
Umgebung ausgingen. Reste der ehemaligen Grundsubstanz, in
die sie eingebettet waren, scheinen sie in diesen Gruppen zu-
sammen zu halten, mit einander zu verkleben.
Die bezüglichen Gruppen bestehen aus 3—4, auch 5—6 oder
noch mehr der beschriebenen Körnchen, sind drusenartig, oder
fadenförmig, schnurartig, Öfter verzweigt, kurz im grossen
Ganzen in ihrem Wesen durchaus ähnlich den in noch wohler-
haltener Grundsubstanz gelegenen. Die fraglichen Körnchen
erweisen sich danach als eine Art selbstständiger Lebewesen,
lassen sich jedenfalls nicht ohne Weiteres von gewissen solcher
unterscheiden. Sie gleichen Kokken und Bakterien und unter
ihnen günstigen Verhältnissen, passendem Nährboden, gehöriger
Wärme, scheinen sie in solche geradezu überzugehen. Sie ver-
grössern sich, teilen sich, vermehren sich damit und gemäss
der Verhältnisse, unter denen das geschieht, in sehr verschie-
dener Weise. Sıe werden zu Monokokken, Diplokokken, Torula-
und Zoologlöa-Formen derselben, zu Bakterien, Bacillen, Bakte-
ridien und den verschiedenen Formen, unter welchen dieselben
überhaupt vorkommen. Es ist das, wie es A. Bechamp seiner
Zeit beschrieben und v. Nencky bis zu einem gewissen Grade
als richtig anerkannt hat. Ich habe darüber schon im Jahre 1880
in Virchow’s Archiv für pathol. Anatomie und Physiologie und
für klin. Med. eine Reihe von Aufsätzen veröffentlicht. Allein
‘dieselben haben nur wenig Beachtung gefunden: und sind jetzt
wohl ganz vergessen. Die darin entwickelten Ansichten entfern-
ten sich zu sehr von den gemeingültigen und schienen in keiner
Weise mit denselben in Einklang gebracht werden zu können.
Zudem war die breite Entwickelung, welche die Bakteriologie
unter R. Koch genommen hatte, diesen Ansichten nichts weniger
als günstig. Diese Ansichten waren ein Ausfluss Darwin-
Haeckel’scher Lehren. Sie stützten sich auf Anschauungen,
welche in das Gebiet der Transmutationstheorie schlagen, und
Herr Koch wie seine ganze Schule huldigt wenigstens in der
Bakteriologie der Stabilitätstheorie. Die Species ist für ıhn und
die Seinigen ständig und wenigstens als solche auch unverän-
derlich. Ein Kokkus zeugt immer nur denselben Kokkus, ein
Bakterium giebt immer nur demselben Bakterium das Dasein.
Es ist das bisher wenig oder gar nicht beachtet worden; aus
ihm aber erklärt sich gar Manches. Ist die Transmutations-
30
theorie ıudessen überhaupt richtig, so muss sie es auch für die
Bakteriologie sein; die Stabilitätstheorie aber ist unter allen
Umständen unhaltbar. Und hieran leidend werden die Kochschen
Theorien sich wohl noch manche Einschränkurgen gefallen lassen
müssen. Ganz zu Grunde gehen werden sie wohl kaum, wie
von manchen Seiten erwartet wird. Die Kokken, die Bakterien,
welche hier in Frage kommen, sind nun einmal da und entfalten
erwiesener Massen ihre unheilvolle Wirkung bei Menschen,
Tieren, Pflanzen, in welche sie geraten sind; allein kaum
werden sie, namentlich in ärztlicher Beziehung, in Anbetracht
der Heilkunde und Heilkunst, die Bedeutung, den Wert behalten,
den man ihnen gegenwärtig zuschreibt, und den man in noch
höherem Masse von ihnen für die Zukunft erhofft.
Die Ptomaine, durch welche die eingewanderten Kokken
und Bakterien den betreffenden Organismen schaden sollen und,
wie nachgewiesen ist, auch wirklich schaden, stammen in vielen
Fällen ursprünglich wohl ganz wo anders her. Einfach chemische
Vorgänge bei der Fäulnis, der Zersetzung organischer Körper
unter besonderen Verhältnissen dürften ihnen gar oft allein den
Ursprung geben. Wo sie aber vorhanden sind, werden geeignete
biegsame Körper sich an sie gewöhnen, sich den durch sie ver-
änderten Lebensbedingungen, wie es heisst, anpassen, sich damit
selbst verändern und Träger, Fortpflanzer, ja Bereiter jener
Ptomaine werden. Sie werden danach als solche verharren so
lange, als die Bedingungen fortwirken, unter denen sie wurden.
Fallen diese jedoch weg, so werden auch die durch sie er-
haltenen Eigenschaften hinfällig werden und verschwinden. Die
betreffenden Körper arten dann aus, passen sich wieder den
veränderten Verhältnissen an, oder, sind sie dazu nicht im Stande,
gehen zu Grunde.
Buchner fand, dass bei lang fortgesetzter geeigneter Züch-
tung des Milzbrandbacillus die Infectionsfähigkeit desselben all-
mählich abnahm, bei der 36. Züchtung schon stark veringert
und nach einem halben Jahre vollständig erloschen war, ferner
dass die Bacillen dabei sich auch sonst stark verändert hatten
und dem natürlich vorkommenden unschuldigen Heubacillus ähn-
lich geworden waren. Auf der anderen Seite fand er aber
auch, dass Heubacillen durch Züchtung in arteriell gehaltenem
Blute Formen bildeten, welche zwar noch nicht wie gewöhnliche
al
Milzbrandbacillen sich verhielten, indessen doch, in grösserer
Menge Tieren beigebracht, bei diesen eine Art langsam ent-
stehenden Milzbrandes hervorriefen. Impfungen mit den dann
in dem betreffenden Tierkörper gewucherten Bacillen brachten
jedoch schon in kleinen Mengen geimpft den gewöhnlichen Milz-
brand zur Erscheinung.
Es sind diese Angaben freilich vielfach bestritten worden; sie
sollten auf Täuschung beruhen; allein merkwürdig ist doch, dass
Pasteur und nach ihm auch R. Koch selbst gefunden haben, dass,
wenn Milzbrandbacillen bei einer Temperatur von 42— 43°C. in neu-
tralisirter Bouillon gezüchtet werden, sie zwar Milzbrandbacillen
bleiben, d. h. ihre morphologischen und gewisse andere Eigen-
schaften beibehalten, dass sie indessen allmählich ihre Giftigkeit
verlieren und schon nach einigen Wochen sich als ganz unschäd-
lich erweisen.
Von W. Löwenthal ist sodann mitgeteilt worden, dass
Cholerabakterien in Bouillon oder Pepton-Gelatine gezüchtet,
ebenfalls rasch ihre Giftigkeit verlieren, dass sie dieselbe jedoch
gleichfalls bald wiederbekommen, wenn sie unter den Einfluss
von Pankreassubstanz oder auch blos Pankreatin gebracht werden
Löwenthal hat daraus gefolgert, dass das Pankreatin bei
der Cholera eine grosse Rolle spiele. Besonders von Hüppe
ist ihm dieses letztere als ein Irrtum nachgewiesen worden;
allein darin, dass die Cholerabakterien ihre Giftigkeit verlieren
und wiederbekommen können, je nachdem ihr Nährboden wechselt,
scheint er doch Recht behalten zu haben.
Unter dem Einfluss der verschiedenen Ptomaine nun, welche
von Brieger bekanntlich mit vielem Glück künstlich dargestellt
worden sind, so dass obiger ‘Ausspruch über ihre Entstehung
und ihr Herkommen wohl gethan werden konnte, gehen aus den
überlebenden Protoplasmakörnchen der bezüglichen Cadaver
die entsprechenden Ptomaine tragenden und bereitenden Kokken
und Bakterien. hervor. Unter ihrem Einfluss, und dabei ist zu
erwägen, dass es auch flüchtige Ptomaine giebt, dass feste ver-
flüchtigen können und dass, da die meisten Ptomaine wohl die
letztgenannte Eigenschaft besitzen, sie auch durch den Atmungs-
prozess in andere lebende Organismen gelangen können, gehen
dann in diesen, zumal wenn ihre Widerstandsfähigkeit gering
ist, aus den Protoplasmakörnchen ihres eigenen Körpers die
Kokken und Bakterien hervor, welche unter bestimmten Ver-
hältnissen in ihnen gefunden werden. Die Kokken und Bakterien,
welche wir gelegentlich in lebenden Wesen antreffen, brauchen
deshalb gar nicht von aussen in sie hineingekommen zu sein;
sie können es; allein nötig ist es durchaus nicht. Sie können
sich auch in ihnen gebildet haben, indem sie sich gewissermassen
in ihnen und aus ihnen selbst züchteten und vermehrten. Und was
die von aussen stammenden Ptomaine zu leisten im Stande sind,
das leisten ein ander Mal auch die ihnen entsprechenden Stoffe,
welche im eigenen Körper entstanden, die sogenannten Leuko-
maine, und mit ihnen alle schädlichen Stoffwechselsergebnisse,
deren es eine ganze Menge giebt, überhaupt. Denn indem diese
"sämmtlich als Reize. wirken, Steigerung der Körperwärme bis,
zur Fieberhitze und unter deren Einfluss Veränderung des Nähr-
bodens, der Protoplasmakörnchen herbeiführen, leisten sie auch
der Umbildung derselben in eigentliche Kokken und Bakterien
Vorschub. Es können darüber allerdings, ehe es zu solchen
kommt, nach den beregten Beobachtungen von Buchner, Pasteur,
Koch viele Wochen, selbst Monate und in diesen wieder viele
Generationen der sich umbildenden Körper vergehen, inzwischen
aber krankt der in Betracht kommende Körper ganz in derselben
Weise, als wenn in ihm bereits Kokken und Bakterien hausten,
von denen man glaubt, dass sie allein ihn in der entsprechenden
Weise krank zu machen im Stande seien.
Die Erfahrungen, welche man bei den Einspritzungen von
Tuberculinum Kochii gesammelt hat, dass sich nach denselben
Miliartuberkulose entwickelt, auch ohne dass Tuberkulose über-
haupt bis dahin bestanden zu haben schien, die man indessen
bis jetzt ganz anders gedeutet hat, sind in dieser Beziehung
gewiss nicht ohne Belang. Ebenso wenig sind es aber auch die
Erfahrungen, welcheBeumer und Peiper hinsichtlich des Typhus,
Loeffler hinsichtlich der Diphtherie, Nicatiund Rietsch sammt
ihren Nachfolgern hinsichtlich der Cholera, Brieger u. A. hin-
sichtlich desStarrkrampfesgemacht haben, nämlich dassdie von den
bezüglichen Bakterien gelieferten Ptomaine schon an und für sich
die entsprechenden Krankheitszustände hervorzurufen vermögen,
d.h. ohne dass dabei nachweislich auch nur eins der zugehöri-
gen Bakterien zur unmittelbaren Mitwirkung zu gelangen brauche.
Ja nach Behring und Kitasato sind es in Bezug auf die
33
Diphtherie und den Tetanus nur die von den betreffenden Bak-
terien erzeugten Ptomaine, welche die einschlägigen Krankheits-
erscheinungen hervorrufen, da sich die Bakterien selbst von
der jeweiligen Impfstelle aus der Hauptsache nach nicht weiter
verbreiten. Sie senden blos ihr Gift aus, welches dann den
ganzen Körper durchsetzt und die diphtherischen und tetani-
schen Erscheinungen hervorruft. Es verhält sch also mit den
Ptomainen ganz ähnlich wie mit den flüchtigen. Arsenik-, Phos-
phor- oder auch Kohlenstoffverbindungen, die jäh töten, wenn
sie in grösseren Mengen eingeatmet werden, indessen zu mehr
akuten oder chronischen Krankheiten, chronischem Siechtum
mit allerhand Veränderungen in den verschiedenen Organen
führen, wenn sie nur in geringerem Masse, aber durch mehr oder
weniger lange Zeitin entsprechender Weise aufgenommen wurden.
Die in letzterem Falle sich etwa vorfindenden Bakterien werden
jedoch Jabei in keinen, wenigstens keinen näheren Zusammen-
hang mit den ursächlichen Momenten der einschlägigen Organ-
veränderungen gebracht, weil die bezüglichen Arsenik-, Phosphor-,
Kohlenstoffverbindungen bis jetzt als keine Produkte bakterieller
Thätigkeit erkannt worden sind.
Sind jedoch die in Rede stehenden Kokken und Bakterien
einmal rla, so führen sie, ihrem erworbenen Naturell gemäss,
auch zu all’ den Uebelständen und Schäden, welche ihnen, als
: von vornherein gegebenen spezifischen Körpern, von Koch und
seinen Anhängern, beziehentlich allen exklusiven Bakteriopatho-
logen allein zugeschrieben werden.
Die Koch’schen Lehren, in ihrer Grundanschauung vielfach
im Widerspruch stehend mit den sonstigen auf umfassenden
Beobachtungen und Experimenten beruhenden Anschauungen der
modernen Biologie, sind in ihren Consequenzen unhaltbar. Mögen
immerhin einige oder selbst eine ganze Anzahl von aussen her
in die verschiedenen Organismen eingedrungener Kokken und
Bakterien, wie vor Allem die Milzbrandbacillen, die Strahlen-
pilzkörner, also der Bacillus anthracis und der Actinomyces
Bollingeri, den vernichtenden Einfluss ausüben, der ihnen zuge-
schrieben wird, mögen andere, wie vornehmlich die Wurzel-
bakterien der hülsenfrüchtigen Pflanzen, der Leguminosen, mit
denen diese eine Symbiose eingegangen zu sein scheinen, zu
ihrem Lebensunterhalte beitragen; die Hauptmasse der Kokken
3
. 34
und Bakterien, beziehungsweise kokken- und bakterienähnlichen
Wesen, welche in einem Organismus überhaupt gefunden wird,
stammt wohl aus ihm selbst, gehört ihm von Hause aus an.
Die betreffenden Kokken und Bakterien sind Umbildungen der
vielbesprochenen Körnchen des ihn bildenden Protoplasmas
oder diese Körnchen in der ihnen jeweilig zukommenden Form
selbst. Die Wurzelbakterien der Leguminosen sind vielleicht
auch nur solche durch Anpassung umgewandelte Körnchen des
Protoplasmas gewisser ihrer Zellen.
Die fraglichen Körnchen wurden von M. Schultze als
Produkte der formativen Thätigkeit des Protoplasmas, nämlich
der Grundsubstanz, welche er als den wesentlichsten Bestand-
teil desselben betrachtete, angesehen. Boll u. A. sind ihm
gefolgt. Ich auch, und in Anbetracht des Umstandes, dass die
Körperchen die ersten Leistungen dieses Protoplasmas darstellten,
aus denen die meisten anderen desselben erst wieder hervor-
gingen, habe ich sie als Elementarkörperchen, Corpuscula primi-
genia protoplasmatis, bezeichnet. Bereits im Jahre 1879 habe
ich ın dem Artikel: Etwas über die Axencylinder ders
Nervenfasern — Virchow’s Archiv für pathol. Anat. und
Physiol. und klinisch. Med., Band 78. 1879. S. 355 — sie dann
für die vornehmsten Werkzeuge erklärt, deren sich die Natur
bedient hat und noch fort und fort bedient, um aus dem ein-
fachsten Protoplasma, dem Plasson Edouard van Beneden’s,
Organismen zu schaffen, die auf Grund der unendlich mannig-
fachen Art, wie sie sich in ihren kleinsten Teilen bewegen,
so auch empfinden, wahrnehmen, fühlen, denken, streben, thun.
Schon in demselben Artikel, noch mehr in einem späteren, im
Jahre 1880 ebenfalls in Virchow’s Archiv Band 82 veröffent-
lichten: „Untersuchungen über die Entstehung von Kok-
ken und Bakterien in organischen Substanzen“ habe ich
dann, auf die Ergebnisse derselben gestützt, erklärt, dass aus
diesen Körperchen, die indifferent angelegt erschienen, im Laufe
der Zeit, natürlich je nach den: sonstigen Verhältnissen, denen
sie unterstellt wären, sowohl Stärke wie Chlorophyll nebst
seinen Verwandten, als auch die Bowman'’schen Sarcous Ele-
ments oder Brücke’schen Disdiaklastengruppen, die Schmidt-
schen Nervous Elements, die Dotterkörperchen, eine Anzahl von
Pigment- und Fettkörperchen hervorgingen, dass sie sich selbst
35
teilten, durch Teilung vermehrten und dabei Gebilde produ-
zieren könnten, welche den verschiedensten Formen von Kokken
und Bakterien ganz gleich aussähen (S. 132). Die Annahme
verschiedener Forscher, zu denen vornehmlich auch Bechamp
und v. Nencki gehörten, dass in den gesunden lebenden Zellen
gesunder lebender Tiere Bakterien und Bakterienkeime vor
kämen, worauf hin man dann weiter annehme und das auch
meiner Meinung nach anzunehmen gezwungen wäre, dass
alle lebenden Wesen und wir mit ihnen zum grossen Teil aus
solchen beständen, die nur darauf lauerten, uns aufzuzehren, um
im Kampfe um das Dasein ihre Rasse zu erhalten, würde damit
ihre Erklärung finden (S. 130). Denn die Bakterien und Bak-
terienkeime, welche alle gesunden Gewebe durchsetzen sollten,
und die nur den Bakterien zu Liebe überhaupt vorhanden
wären, welche sich gelegentlich aus anscheinend ganz gesunden
Geweben, ohne dass sie von aussen her in diese hinein gelangt
sein könnten, entwickelten, diese Bakterien und Bakterienkeime
würden danach im grossen Ganzen nichts Anderes als die Ele-
mentarkörperchen des Protoplasmas der verschiedenen Zellen
sein, denen sie ja auch sonst physikalisch wie chemisch voll-
kommen gleichen.
Heutigen Tages sehe ich die Sache jedoch noch etwas
anders an. Wiederholt habe ich mich verschiedenen Orts schon
geäussert, dass die Thätigkeit und Leistung des Protoplasmas
auf einer Wechselwirkung zwischen den in Rede stehenden
Körnchen, den Elementarkörperchen, und der Grundsubstanz, in
Sonderheit deren fädigem Anteil, beruhen dürfte. In dem
Aufsatz: Über trophische Nerven in du Bois-Reymond’s
Archiv für Anat. und Physiol. physiol. Abth. 1891 habe ich
Seite 69 u. ff. dies, wie es sich mir durch die Beobachtung in:
Bezug auf den quergestreiften Muskel allmählich aufgedrängt
hatte, des Breiteren aus einander gesetzt. Danach ist es der
Chemismus in den Elementarkörperchen, welcher mit seinen
Folgen auf die fädige Substanz einwirkt, die dann wieder auf
jene zurück wirkt, der das Leben des Protoplasmas überhaupt
bedingt und unterhält. Die Elementarkörperchen sind somit das
Hauptsächlichste, das Wesentlichste am Protoplasma, wenigstens
in der Art, als wir bis jetzt seinen Begriff gefasst haben. Schon
vor Jahren hat auch A. Bechamp eine ähnliche Ansicht ge-
EV UWERETG,
36
äussert. Er stellte die Körperchen als notwendige Bestand-
teile der organischen Zelle hin und gab sie als Faiseurs des
cellules aus, welche die chemischen Vorgänge in diesen entfachten
und unterhielten. Unter den neueren Autoren ist es Altmann,
der ihnen eine ähnliche Stellung anweist. Die Elementar-
körperchen können deshalb nicht wohl erst Produkte des Proto-
plasmas, Produkte seiner formativen Thätigkeit, sondern müssen
im Gegenteil mehr ursprünglich sein. Es dürfte vielleicht die
fädige Substanz sogar erst als Produkt ihrer Thätigkeit zu be-
trachten sein, indem sich dieselbe unter Anderem, teleologisch
ausgedrückt, von ihnen aus gebildet hätte, um ihr etwaiges
Zusammenwirken zu ermöglichen.
Es fehlen die Elementarkörperchen in keinem entwickelteren
Protoplasma. Wo sie zu fehlen scheinen und später sich doch
zeigen, dürtten sie wenigstens der Anlage nach schon vorhanden
sein, als eine Art Same, als eine Art Spore, als eine molekulare
Masse, die blos ihrer Kleinheit oder Lichtbrechungsfähigkeit
wegen nicht von der übrigen Masse zu unterscheiden wäre. Dass
aus ihnen, die, wenn sie sichtbar werden, ziemlich gleich aus-
sehen, gegen die verschiedensten äusseren Einflüsse sich ziemlich
gleich verhalten und darum unter sich auch ziemlich gleich,
indifferent erscheinen, nachher alles mögliche in dem Protoplasma
Vorkommende werden kann, Chlorophyll, Erythrophyll, Xanto-
phyll;, Amylum, Aleuron, Fette, Bowman’sche Fleisch-,
Schmidt’sche Nervenkörperchen, Dotterkörperchen und Dotter-
plättchen, Pigmente, wieder Fette, endlich die verschieden-
artigsten kokken- und bakterienähnlichen Körperchen, das spricht
nur dafür. Doch ist nicht ausgeschlossen, dass nicht auch noch
andere Ursachen, Anpassungsvorgänge gewisser Grundsubstanz-
"teile an die Umgebung, das bedingen möchten. Immerhin,
wenn die Elementarkörperchen einmal da sind, spielen sie im
Protoplasma und seiner Thätigkeit die Hauptrolle. Aus ihrem
Zusammenwirken insbesondere bei ihrer Verschiedenheit, und
zwar wohl in Folge ursprünglicher verschiedener Abstammung,
kommt erst die grössere und verschiedenartige Wirkung des
Protoplasmas zu Stande, wobei die fädige Substanz der Haupt-
sache nach blos der Kraftübertragung zu dienen .scheint. Die
Körperchen unterstützen sich dabei gewissermassen gegenseitig;
es ist als ob sie eine Symbiose unterhielten. Sie verdienen den
37
Namen Elementarkörperchen des Protoplasmas, Corpuscula
primigenia protoplasmatis, damit erst recht, wenn auch aus an-
deren Gründen, als aus denen er ihnen einstmals gegeben worden
ist. Es kommt diesen Körperchen damit in Wahrheit auch jene
Art von Selbständigkeit zu, auf welche wir schon einmal hin-
gewiesen haben, und die sich namentlich in ihrem Selbständig-
fortlebenkönnen zeigt, wenn das Protoplasma als Ganzes zu
Grunde gegangen ist, dem sie angehörten.
Die einen dieser Protoplasmakörperchen erzeugen Farbstoffe
in sich, und bleiben dieselben, weil für gewöhnlich. unlöslich, in
ihnen liegen, so entsteht das Chorophyli, Erytrophyll, Xantho-
phyli der Pflanzen, das Chromatin, Melanin wie Xanthin u.ä Körper
der Tiere; sind die betreffenden Farbstoffe indessen löslich, so
treten sie an die Ernährungsflüssigkeit in den Spalten, Rissen
und Klüften zwischen den Fäden der Grundsubstanz, und der
betreffende Saft, Zellsaft, erscheint gefärbt, wie das z. B. bei
allen blauen und rosaroten Blüten der Fall ist. Andere Kör-
perchen erzeugen in sich die Elemente des Stärkemehls und
werden dadurch zu Stärke- oder Amylumkörperchen, die sich in
Zucker umwandeln können. Wie durch die löslichen Farbstoffe
die gefärbten Zellsäfte, so entstehen durch den gelösten Zucker
die süssen. Die Fleischkörperchen kann man während ihrer
Thätigkeit ebenso wie die sie verbindende Zwischensubstanz, —
die Muskelfibrille, Muskelprimitivfaser, dürfte nichts Anderes als
ein Protoplasmafaden sein, ein Element der fädigen Grund-
substanz, mit in denselben der Reihe nach eingelassenen Ele-
mentarkörperchen —, beobachten. Aus den an ihnen deutlich
wahrnehmbaren Veränderungen gehen die Umsatzprodukte der
Muskelsubstanz, Inosit, Kreatin, Kreatinin, Milchsäure u. s. w.
hervor, welche in die Räume zwischen den Fibrillen treten und
aus diesen darauf nach aussen geschafft werden. Die Elementar-
körperchen liefern also je nach ihrer Natur auch Gifte und, wo
wir solche auftreten sehen, dürften sie nur Produkte ihrer
Thätigkeit sein. Die Elementarkörperchen verhalten sich danach
jedoch nicht blos morphologisch, sondern auch physiologisch
ganz gleich den Kokken und Bakterien. Es giebt chromogene,
es giebt, amylo- beziehentlich saccharogene, mit anderen Worten
also auch alkohologene, denn der Zucker ist ein Alkohol, oder
kann wenigstens dafür angesehen werden; es giebt toxogene,
38
mithin auch pathogene u. s. w. Manche Forscher haben ja die
im Schlangengift, das der Drüse frisch entnommen war, vor-
kommenden entsprechenden Körnchen, offenbar Körnchen des
Epithels, für die das Gift produzierenden Kokken der Drüse ange-
sehen, ganz so wie andere Forscher die in der Lymphe der Vaccine
sich findenden Körnchen, meiner Meinung nach Körnchen aus
zerfallenen Epidermiszellen, in denen diese das übertragene
Vaccinegift weiter entwickelt haben mögen, für die das Vaccine-
gift produzierenden Kokken erklärt haben, nur mit dem Unter-
schiede, dass erstere von aussen an die betreffende Stelle ge-
rathen wären, letztere der Drüse durchaus eigneten. Selbst die
Verdauung und die Keimung der Samen hat mam von Kokken
und Bakterien abhängig gemacht und will ganz bestimmte
körnige Gebilde bei beiden Vorgängen in Thätigkeit haben treten
sehen. Das, was man gesehen hat, war gewiss ganz richtig;
allein wie man es gedeutet hat, das kann beanstandet werden.
Die jeweiligen fraglichen Gebilde waren wohl nicht eigenartige
Kokken und Bakterien, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach
blos Protoplasmakörperchen, Elementarkörperchen des Proto-
plasmas von Zellen der in Betracht kommenden Organe und
Samen. Es liegt aber gerade damit auch kein Grund vor, die
Elementarkörperchen des Protoplasmas, die Corpuscula primi-
genia, nicht auch wenigstens für eine Art Kokken und Bakterien
halten zu dürfen. Das Protoplasma würde demgemäss denn
aber in der That eine Symbiose von Kokken und Bakterien
darstellen, wie etwa die Syncytien, Synamöbien, des weiteren
die Flechten, welche eine solche von Pilzen und Algen, oder
gewisse Infusorien, wie Stentor, Ophrydium, welche eine solche
von Tieren und Algen bilden. Die Kokken, Bakterien aber würden
dem entsprechend wieder als die ersten, einfachsten der bis jetzt
bekannten Lebewesen anzusehen sein, aus denen alle übrigen sich
erst entwickelt haben. Das Protoplasma selbst jedoch würde
dann weiter folgerichtig ein Synkokkium oder besser klingend
ein Symbakterium sein, und Alles, was sich aus ihm entwickelt
hat, Zellen und Zellenverbände, würde, wie man es bis jetzt als
Zellen, Syncytien, Synamöbien betrachtet hat, einschliesslich
unserer selbst, als Symbakterien zu gelten haben. Warum
zumal der tierische Körper so von Bakterien durchsetzt ist, wie
viele Autoren wollen, warum die Elementarkörperchen des Pro-
toplasmas seiner Zellen, nachdem diese als solche, aber nicht
schlechthin abgestorben sind, in Kokken, Bakterien übergehen
können, wird hiernach ersichtlich.
Die Zellen eines Syncytium, Synamöbium hängen unter ein-
ander zusammen, um so ihre Verbindung zu wahren und ihr
Zusammenwirken zu ermöglichen. Feine Fäden der Grund-, also
tädigen Substanz vermitteln den Zusammenhang. Haben sich
die Zellen, in sich abgeschlossene Protoplasma- oder, wie
Virchow sagt, Lebensheerde, mit einer Hülle, Membran oder
Kapsel, einem Erzeugnisse ihrer sekretorischen Thätigkeit, um-
geben, so geschah das immer mit aller Schonung dieser Ver-
bindungsfäden.. Die Membranen, Kapseln wurden deshalb
lückenhaltig. Am schönsten zeigen das die Zellenlager des
Holzes der Coniferen und Cycadeen, des Knochen- und Knorpel-
gewebes, von letzerem z. B. besonders schön das der Cephalo-
poden. Dieselben Verbindungen nun stellt die fädige Masse,
wie schon berührt, auch zwischen den einzelnen Kokken oder
Bakterien dar, um durch sie das Zusammenwirken zu ermög-
lichen, zu dem sie sich ursprünglich zusammengefunden haben,
und das nun ihre Gemeinschaft auf die Nachkommenschaft ohne
weiteres und, ich möchte sagen, in sehr abgekürzter Weise
vererbt.
Die ächten Kokken, Bakterien, die man gegenwärtig viel
züchtet, sind unregelmässig kugel- oder stäbchenförmige Gebilde.
Dieselben bestehen aus einem oder mehreren an einander gereih-
ten, sehr kleinen rundlichen Körperchen, welche von einer in
sich anscheinend vollständig geschlossenen Hülle umgeben sind.
Öfters freilich scheint es auch, als ob diese Hülle eine oder mehrere
Öffnungen hätte, durch welche der Inhalt sich fadenförmig ver-
längern und geisselartig hervorzustrecken vermöchte. Umschliesst
die fragliche Hülle nur ein Körperchen der letzt geschilderten
Art, so stellt der bezügliche Körper einen einfachen Kokkus
dar. Enthält sie mehrere, an einander gereihte, so ist er ein
Diplokokkus, ein Bakterium oder Bacillus. Ich kenne kein Bak-
terium, keinen Bacillus, in welchem sich nicht mehrere solcher
rundlichen Körper unterscheiden liessen. Es ist mir das eine
Zeit lang bestritten worden; allmählich aber hat man sich von
ihrem Vorhandensein doch so ziemlich überzeugt. Allein man
sieht sie gemeiniglich nicht für ursprünglich an, sondern für
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40
Produkte der formativen Thätigkeit des sonst diffus erscheinenden
Inhalts der betreffenden Hüllen, Kapseln. Man giebt sie z. T.
für Sporen aus, indem man dabei an die Pilze denkt, zu denen
als Spaltpilze Kokken und Bakterien, weil sie doch im Systeme
irgendwo untergebracht werden ınussten, auch gestellt worden
sind. Die Kokken und Bakterien haben aber nicht viel
mehr mit den Pilzen zu thun, als mit Palmen und Elefanten.
Sie sind :Konstituenten‘ der Pilze wie . der Palmenwzund
Elefanten; aber Pilze selbst sind sie nicht. Diese sind Zellen-
pflanzen, also bereits Symbakterien, während jene als solche
nicht angesprochen werden können. Eher wären sie gewissen
Algen gleich zu stellen, insbesondere den Protococcus-Arten, und
möglicher Weise bestehen auch Beziehungen zwischen beiden. —
Die Kokken-, die Bakterienhülle ist oft deutlich mit einem
schleimigen, gallertartigen Mantel umgeben. Die beregten
Geisseln scheinen vielfach in einem innigen Zusammenhange mit
ihm zu stehen. Durch denselben verkleben leicht die gleich-
artigen Kokken und Bakterien samt ihren etwaigen Geisseln
mit einander, und es entstehen dann die Zooglöaformen derselben,
die ersten und, wenn wir wollen, niedrigsten Symbakterium-
erscheinungen. Manchmal ist der betreffende Mantel beweglich,
was grossenteils von den mit ihm verklebten Geisseln ab-
hängen mag, und was unter Anderem besonders die vortreff-
lichen Photogramme erkennen lassen, welche Loeffler auf dem
X. internationalen medizinischen Kongresse zu Berlin 1890 aus-
gestellt hatte.
Wenn nun durch solch Zusammenkleben sich Symbakterien
bilden, was ebenfalls nach den Loeffler'schen Photogrammen
durchaus annehmbar erscheint, so bekommen wir ein bewegliches
Symbakterium, ein Stück diffusen Protoplasmas, wie wir das
seit Leydig nennen. Bildet sich danach durch den engeren
Zusammenschluss gewisser Kokken ein festerer Kern, der durch
den Einfluss der Kokken auf die Grundsubstanz, in der sie nun
als ihrem zusammengeflossenen Mantel liegen, sich in stärkerer
Weise geltend macht, so verdichtet sich dieselbe in ihm und in
seiner nächsten Umgebung, verändert sich vielleicht auch sonst
noch, und es entsteht eine festere und in dieser oder jener
Richtung veränderte Grundsubstanz in der Grundsubstanz. Wir
bekommen einen wohl markierten Kern, der aus einer festeren
41
als der gewöhnlichen Protoplasmasubstanz, die man ihm zu
Ehren Nuklein genannt hat, besteht und besonders reich an
Protoplasmakörnchen ist. Eins oder ein Paar dieser letzteren,
welche sich vorzugsweise dicht an einander schliessen, werden in
ihm zum Kernkörperchen, beziehentlich Kernkörperchenkorn, zum
Nucleolus und Nucleolulus. Der fragliche Kern wirkt auf einen.
Teil des Protoplasmas, aus dem er sich gebildet hat, als lebens-
regulierendes Centrum; das von ihm beeinflusste Protoplasma
grenzt sich von dem von ihm nicht mehr beeinflussten ab, und
eine Zelle ist fertig. Dass danach in dieser selbst es noch zu
weiteren Ausbildungen, zur Entstehung einer Attraktionssphäre
mit einem Centrosoma kommt, ist eine Sache für sich. Nur so
viel will ich noch sagen, das Centrosoma scheint, ganz abgesehen
von den Pigmentkörnchen, die, wie B. Solger gezeigt hat, es
umgeben, auch eine Elementarkörperchen-Verbindung zu sein,
in mancher Beziehung vergleichbar dem Nucleolus oder Nucleolulus,
zu welchen es ja auch bei der Zellteilung in besondere Be-
ziehungen zu treten scheint.
Doch lassen wir das! Dagegen sei noch ausdrücklich betont, dass
ich Unterlagen für das beregte Werden einer Zelle durch meine Jahre
langen Protoplasmauntersuchungen gefunden zu haben glaube.
Aus ihnen hat sich erst die vorgetragene Ansicht gebildet. Sie
lehnt sich an die Ansicht von der freien Zellbildung der früheren
Autoren an, die allerdings jetzt bei uns in Deutschland wohl
ganz verlassen ist, die aber wo anders z. B. in Frankreich in
Robin bis zuletzt ihren Vertreter gefunden hat. Ich habe mich
in meinen jüngeren Jahren unter dem Einfluss der mir gewordenen
Lehren auch ablehnend gegen die freie Zellbildung verhalten;
allein ich habe geglaubt, auf die im Laufe der Jahre gewonnenen
eigenen Erfahrungen hin diese meineHaltung modifizieren zu müssen.
So lange nun das Organische, beziehungsweise das Proto-
plasma blos in Form grösserer, in sich gegliederter Wesen,
Organismen, bekannt war, von denen die Erfahrung gelehrt hatte,
dass sie sich nur durch ihre Früchte fortpflanzten, konnte Harvey
seinen ganz allgemein gehaltenen Ausspruch: Nullum vivum nisi
ex ovo thun, derselbe auch für viele Jahrzehnte trotz aller Ein-
würfe und Bekämpfungen in Geltung bleiben. Nachdem die
organische Zelle entdeckt, als der einzige Lebensträger erklärt,
durch Schleiden und Schwann sodann festgestellt warden
>
=7
42
war, dass alle, auch die grössten, in mannigfachster Art zusammen-
gesetzten Organismen nur aus Zellen hervorgegangen wären und
aus Zellen beständen, und als dann noch erhärtet worden war, dass
diese Zellen lediglich durch Teilung einer Mutterzelle, beziehungs-
weise einer befruchteten Eizelle sich herausgebildet hätten,
konnte Virchow auch den Satz aufstellen: Nulla cellula nisi
e cellula. Es konnte danach sogar mit einem gewissen Recht
gelehrt werden: Nullus nucleus nisi e nucleo, oder auch, wie
das thatsächlich geschehen ist, Nullus nucleolus nisi e nucleolo
u. s. w.; allein, nachdem man auch ein diffuses, oft zu mächtigen
Lagern entwickeltes Protoplasma kennen gelernt hatte, wie es
unter anderem in bestimmten Lebensphasen die Myxomyceten
und Palmellaceen in hervorragender Weise zeigen, ohne dass
eine Spur von Zellenabgrenzungen in ihnen wahrgenommen
werden könnte, dass wohl aber, wie de Bary zuerst für die
Myxomyceten nachgewiesen hat, aus diesen diffusen Protoplasmen
sich z. B. unter dem blossen Einflusse der Trockenheit Zellen zu
bilden vermöchten, die nach Zufuhr der nötigen Feuchtigkeit
wieder verschwänden, um erst nach längerer Zeit, ich will einmal
sagen, unter dem Einflusse der Reife und wohl aus ganz anderen
Elementen hervorgegangen, wieder und dann für die Dauer zu
erscheinen, seitdem das Alles bekannt geworden ist, lassen sich
jene Aussprüche wenigstens in vollem Umfange wohl kaum
mehr aufrecht erhalten. Wenn nun gar das Protoplasma ein
Symbakterium ist, wofür die Zooglöaformen der ächten Kokken
und Bakterien und die diffusen Protoplasmalager namentlich auch
wieder der Myxomyceten und Palmellaceen ein sehr gewichtiges
Zeugnis abgeben, wenn dann in diesem Protoplasma die Kokken
das Erste, die Grundsubstanz erst das Zweite, von ihnen Er-
zeugte, ist, so erhebt sich die Frage, ob nicht die kleinen un-
ansehnlichen Kokken und Bakterien, welche letztere auch wieder
als unvollkommen geteilte Kokken, also als Synkokkien ange-
sehen werden können, durch eine Generatio aequivoca oder
Abiogenesis noch immer wieder neu zu entstehen vermöchten?
Die Frage erhebt sich um so leichter, als Haeckel in die
Biologie ein ganz neues Element, das bis dahin nicht im Geringsten
gewürdigt worden war und doch ohne Zweifel von der grössten
Bedeutung ist, die Plastidula, das Protoplasmamolekül, einge-
führt hat. Wir hätten uns blos zu denken, das unter gewissen
43
Umständen noch heutigen Tages, wie einst zu Anfang der
organischen Schöpfung überhaupt, Kohlenstoff, Wasserstoff,
Sauerstoff, Stickstoff, Schwefel beziehentlich Phosphor in einer
bestimmten Atomenzahl in bestimmte Beziehungen träten, eine
sogenannte chemische Verbindung eingingen, und das Proto-
plasmamolekül, die Plastidula, wäre fertig. Es wäre dabei
denkbar, dass eine ganze Reihe derselben nicht gleich geriete,
so zu sagen, mehr oder weniger unfertig bliebe und über kurz
oder lang wieder zu Grunde ginge, ohne je eine Lebensäusse-
rung an den Tag gelegt zu haben, dass andere zwar eine weitere
Entwickelung erführen, aber zunächst auch noch zu keiner
Lebensäusserung kämen, weil die eine solche bedingenden Be-
wegungen der Aussenwelt denen gegenüber, welche in ihnen
selbst herrschten, zu schwach wären, um sie in die Erscheinung
treten zu lassen. Erst wenn jene durch Häufung eine genügende
Stärke erfahren hätten und dadurch diese zu überwinden im
Stande wären, könnte endlich das Leben zum Durchbruch
kommen. Bis «dahin bliebe es latent, die bezüglichen Körper wären
starr und machten den Eindruck toter, beziehentlich unorgani-
scher Massen, trotzdem ein gewisses Leben in ihnen doch steckte.
Wir sehen etwas Entsprechendes denn auch ganz gewöhn-
lich an dem Sporeninhalte der Myxomyceten. Wenn derselbe
seine Reife erhalten hat und aus seiner Hülle ausgeschlüpft ist,
liegt er zunächst ruhig da. Mancher bleibt, was er ist, und
wird über kurz oder lang Ausgangspunkt einer Kokken- und
Bakterienwucherung; ein anderer fängt an nach einigen Secunden
sich zu regen und der bekannte Geissler zu werden; ein dritter
und vierter lässt erst Minute auf Minute, ja Stunde auf Stunde
verstreichen, ehe er so weit gelangt. Ohne weiteres schlüpft
aus der Spore wohl selten ein Geissler aus; ohne weiteres mag
wohl auch nicht leicht eine neu entstandene Plastidula aktives
Leben erkennen lassen. Ein Stadium der Latenz desselben
möchte sie wohl der Regel nach immer erst durchzumachen
haben und, da sie überhaupt sinnlich nicht wahrnehmbar ist,
erst im Verein mit anderen zur Anschauung kommt, könnte über
sie und das Herkommen des ganzen Vereins, in dem sie uns
endlich entgegenträte, kein bestimmtes Urteil gefällt werden.
Kein Mensch wäre im Stande zu sagen, ob er ein epigenetisches
oder abiogenetisches Wesen vor sich hätte. Dieses Wesen jedoch,
23
der besagte Plastidulaverein, Plastidulacomplex, würde bei
starker Vergrösserung in Gestalt eines Körnchens sich zur
Wahrnehmung bringen. Es könnte unter ihm günstigen Um-
ständen alsdann der Ausgangspunkt einer neuen organischen
Geschöpfreihe werden, was indessen durchaus nicht der Fall zu
sein braucht, — es könnte zu Grunde gehen, wie die beregte
einfache Plastidula —, und nach Myriaden von Jahren, das ist
nach unseren sonstigen heutigen biologischen Anschauungen
nicht undenkbar, wäre es möglich, dass, da die bezüglichen Ge-
schöpfe unter denselben Verhältnissen sich bildeten, unter denen
die bereits vorhandenen geworden waren, diesen ähnliche aus
ihrer Nachkommenschaft erwüchsen. Wir würden damit zwar
verschiedene Schöpfungsperioden und verschiedene Schöpfungs-
centren auch für die gegenwärtige Schöpfung nicht ganz von
der Hand weisen dürfen, obgleich zunächst nur wenig Neigung
zu einer solchen Annahme vorhanden sein möchte; allein so’
manches scheint doch dafür zu sprechen und C. Vogt tritt hin-
sichtlich der Equiden Europas und Amerikas, deren Parallel-
entwickelung er für vollständig unabhängig von einander hält,
bis zu einem gewissen Grade sogar schon dafür ein.
Nichtsdestoweniger sind die zuletzt angestellten Betrach-
tungen doch eben nur blosse Betrachtungen, Erwägungen, und
für die Mehrzahl meiner Leser gewiss sogar recht unfruchtbarer
Natur; allein was bei ihnen doch herausgekommen sein dürfte,
ist, dass eine Generatio aequivoca oder Abiogenesis auch für die
heutige Zeit nicht so unbedingt in Abrede zu stellen ist, wie die
Verfechter einer gegenwärtig allein noch bestehenden Epigenesis
und durch dieselbe bedingten Continuität des Lebens es ver-
meinen behaupten zu können. Weder das Bestehen einer zur
Zeit noch vorkommenden Generatio aequivoca oder Abiogenesis,
noch das einer zur Zeit blos noch vorhandenen Epigenesis lässt
sich beweisen. Sämmtliche in dieser Beziehung beigebrachten
Beweise sind nicht stichhaltig, weil bei den bezüglichen Unter-
suchungen oft die allerersten Lebensbedingungen übersehen
worden sind. Denn wenn die zu solchen Versuchen erforder-
liche Luft erst durch Schwefelsäure, dann durch Kalilauge,
zuletzt durch ein Glührohr gejagt und so alles Ammoniaks,
aller Kohlensäure, alles Wassers beraubt wird, dann ist es wohl
nicht zu verwundern, wenn kein Leben erscheint, da vorhandenes
45
zu Grunde gehen müsste. Und wenn bei minder irrationell an-
gestellten Versuchen sich dennoch wider Erwarten neues Leben
zeigt, aber dann behauptet wird, dass trotz aller Vorsichts-
massregeln selbiges nur von aussen gekommen sein könne, kurz,
wenn nur die Versuche gelten gelassen werden, welche negative
Resultate ergeben und ergeben müssen, so ist nicht zu ver-
langen, dass die Gültigkeit derselben von allen Seiten anerkannt
werde. Abiogenesis überhaupt und Epigenesis allein sind daher
nur Glaubenssätze, und da der Glaube Gefühlssache ist, so hängt
es blos von dem Gefühl des einzelnen ab, ob er sich für jene
oder für diese entscheiden will. Ich für meine Person halte eine
Abiogenesis auch heut zu Tage noch für nicht ausgeschlossen,
allein beschränkt auf die niedrigsten Lebewesen, beziehentlich
ihre Elemente, die Plastidulen. Die Kokken, die Bakterien in
ihren einfachsten Formen würden nach unserer jetzigen Kenntniss
vielleicht als die Wesen anzusehen sein, in deren Bereich sie noch
vorkommen möchte. Für alle entwickelteren Wesen dagegen,
vom eigentlichen Protoplasma, insbesondere der Zelle an auf-
wärts, aus denen aber wieder Kokken hervorgehen können, also
für die ganze heutige Schöpfung im hergebrachten Sinne, halte
ich die Epigenesis allein für massgebend. Allen denjenigen
aber, welche diese Ausführungen trotzdem und alledem für
blosse, und zwar ganz unfruchtbare Spekulationen und darum
wieder für nicht weiter beachtenswerth halten, möchte ich aber
entgegen halten, dass das Omne vivum nisi ex ovo u. S. w.
auch nur Produkt der Spekulation war und ist. Die Spekulation
hat ihre Berechtigung in allen Wissenschaften, auch in den
Naturwissenschaften, und wenn sie von Thatsachen ausgeht, auf
ihnen fusst, entdeckt sie neue Welten, neue Kraftverhältnisse,
neue Lebensbeziehungen. Die Entdeckung des Planeten Neptun
durch Le Verrier, die Entdeckung des mechanischen Wärme-
äquivalents durch J. R. von Mayer, die Entdeckung des Ge-
setzes von der Erhaltung der Kraft durch H. von Helmholtz,
des Entwickelungsprinzips der Welt der Organismen durch
Charles Darwin und Ernst Haeckel legen dafür die be-
redtesten Zeugnisse ab. Alle Erfindungen sind zuletzt auch nur,
allerdings in Verbindung mit der Phantasie Produkte der Speku-
lation. Denn jede Kombination ist nur eine Spekulation. Ohne
Spekulation daher kein Newkomen, kein Frederic Sauvage,
46
kein Oersted, Morse, Bell, kein Faraday, kein Siemens,
kein Edison, auch kein Dreyse, kein Krupp und zuletzt auch
kein Moltke.
In welcher Weise nun auch das Leben entsteht, in welcher
Weise es sich danach verhält, damit es ein für uns wahrnehm-
bares, ein aktives, effektives werde, ist es notwendig, dass
Reize von aussen her auf dasselbe einwirken, es anfachen und
unterhalten. Die fraglichen Reize sind, wie schon erwähnt, die
fortschreitenden Bewegungen des Äthers, Licht, Wärme, Elek-
trizität und die mechanischen Vorgänge, in welche dieselben sich
umgesetzt haben. Was wir Nahrung nennen, gehört zu der
Umgebung, welche es in sein Bereich zieht, um ihre eigentüm-
lichen Bewegungsformen in seine eigenen herüberzuführen und
sich zu assimilieren. Die Nahrung als solche, als Anhäufung
von Spannkräften, hat somit nichts mit den Reizen an und für
sich zu thun, wohl aber können solche ihr beigemengt, in ihr.
enthalten sein; oder sie selbst sind auch schon in einem solchen
Zustande der Lockerung, dass sie leicht unter dem Einfluss
lebendiger Kräfte selbst in solche übergehen. Je mehr’sie dabei
geneigt sind, sofort in die Lebensbewegung einzutreten, um so
bessere, zweckmässigere Nahrung stellen sie dar, um so bessere,
zweckmässigere Nahrungsmittel sind sie. Das Leben, die Lebens-
bewegung ist an und für sich eine sehr energische, und je ener-
gischer sie ist, um so leichter versetzt sie die ihrer Umgebung in
die eigene, assimiliert sie sich; deshalb sehen wir denn auch starke
Leben mit einer minder guten, d.h. minder leicht assimilierbaren
Nahrung und allem, was dazu gehört, fertig werden. Je weniger
energisch sie ist, um so mehr muss diese für die Assimilation
geeignet sein, damit sie selbst nicht vorzeitig erlischt. Wir
sehen deshalb auch, dass durch Zufuhr von Reizen, durch welche
die Lebensbewegung eine Steigerung erfährt, dieselbe ihre
Umgebung, insbesondere die durch die Nahrung im engeren
Sinne dargestellte, noch assimiliert, wo sonst die Assimilation
kaum noch statt hat, erfahrungsgemäss kaum noch statt haben
kann. Kurzum das Leben bedarf zu seinem Entstehen, seinem
Bestehen der Reize. Reize erwecken es, Reize unterhalten und
steigern es. Reize machen es aber, wie wir gesehen haben,
auch erstarren, machen es latent; sie können es endlich sogar
aufheben, vernichten.
47
Dass das J,eben von Reizen abhänge, welche auf eine reiz-
oder erregbare Substanz, die Lebenssubstanz, als welche wir
heute das Proto-, beziehentlich Bioplasma kennen, wirke, ist schon
vor langer Zeit erkannt worden. Der bekannte schottische Arzt
John Brown lehrte schon in den sechsziger und siebenziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts diese Abhängigkeit und suchte
sie zu weiterer Kenntnis durch seine Elementa medicinae zu
bringen, welche er 1780 zu Edinburg erscheinen liess. Das
Leben ist nach ihm die Eigenschaft der Körper, durch Reize
erregt zu werden. Körper, welche diese Eigenschaft besitzen,
seien lebende. Sie unterscheiden sich durch dieselbe von den
leblosen oder toten, zu denen sie auch werden, wenn jene
verloren gehe. Was die Erregbarkeit sei, worin sie bestehe,
obwohl sie an das Nervensystem schlechthin geknüpft erscheine,
darüber spricht Brown sich indessen nicht aus, und das hat
seine Lehre niemals zur rechten Geltung kommen lassen. Man
hat ihm vorgeworfen, dass seine Reizbarkeit, Erregbarkeit nichts
Anderes als ein ganz inhaltsloses Wort sei, und dass deshalb
sein ganzes System, das auf dieselbe erbaut worden, keinen
Anspruch auf Geltung haben könne. Richtig ist, dass er seine
Excitabilitas nicht näher bestimmt hat; allein dass er darunter
kaum etwas Anderes begriffen hat, als was wir heut zu Tage
Erregbarkeit, Reizbarkeit, Irritabilität, Excitabilität nennen, ohne
ebenfalls bis jetzt das Wesen derselben erkannt zu haben, das
darf wohl als richtig angenommen werden. Brown fasste ge-
wisse, erst seit Haller in ihrer Bedeutung erkannten Erscheinungen
an lebenden Wesen, deren Sensibilität und Irritabilität als Aus-
fluss einer allen jenen Wesen zukommenden Grundeigenschaft,
ihrer Fxcitabilitas, auf und liess durch diese Excitabilitas, welche
Reize erst zur Bethätigung brächten, zur Irritation, Excitation
machten, das Leben der bezüglichen Körper entstehen und unter-
halten werden. Ein mittleres Mass von Reizbarkeit, Erregbarkeit,
bedingte nach ihm das gesunde Leben; Verminderung oder
Vermehrung derselben verursachten vorzugsweise die Krank-
heiten; ihre Erschöpfung durch Übermass von Reiz führte zum
Tode. Daher, wenn die lebenden Körper ihre Excitabilität ver-
loren hätten, sie zu leblosen, toten würden, von denen sie sich
überhaupt nur durch jene unterschieden!
Man hat Brown sehr unrecht gethan, ihm in Bezug auf
48
seine Excitabilitas Vorwürfe zu machen; man ist über ıhn bis
jetzt noch nicht hinausgekommen; und eine Reihe seiner zum
Teil sehr berühmt gewordenen Kritiker haben sich dadurch,
dass sie ihm Widersinnigkeit in seinem ganzen Prinzip vorge-
worfen, weil er die Spontaneität des Lebens leugnete, eigentlich
geradezu des Fehlers schuldig gemacht, dessen sie ihn zeihen.
Die Fehler, welche er gemacht hat, und die ihm wohl vorgeworfen
werden können, liegen ganz wo anders: in der nicht glücklichen
Verwertung seiner Theorie für die Praxis und dem ungeschickten,
z. T. recht groben, plumpen Ausbau derselben. Doch hat
auch in dieser Beziehung die Welt mehr gescholten, als ihr zu-
stand. Denn sie verfuhr und verfährt heute auch nicht besser.
Wenn der Arzt einen Kranken symptomatisch behandelt, das
Fieber durch Chinin, Antipyrin, Antifebrin, den Collaps durch
Alkohol, Kampfer, Äther, die Schmerzen und Krämpfe durch
Morphin, Hyosein, die Lähmungen durch reizende Einreibungen
und ihre Äquivalente, die Schlaflosigkeit durch Chloral,
Sulfonal, Acetal, Paraldehid, Urethan u. dgl. zu bekämpfen
sucht, so bewegt er sich ganz und gar in Brown’schem
Fahrwasser.
Zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts lehrte etwas.
ganz Ähnliches und in offenbarem Zusammenhange mit dem
Brownismus der französische Arzt Broussais. Er erklärte das
Leben als eine Wirkung von Reizen und lässt es lediglich durch
die Reize der Aussenwelt unterhalten werden. Wirken anomale
Reize ein, so entstehen Krankheiten. Krankheiten seien deshalb
auch nichts Anderes als Abänderungen des physiologischen
Verhaltens durch anomale Reize.
In den fünfziger Jahren war es sodann Virchow, der Ent-
sprechendes vortrug. Denn nur so sind wohl seine, wenn auch
anders klingenden Worte aufzufassen, welche sich in seinen ge-
sammelten Abhandlungen, Frankfurt a/M. 1856 S. 26 finden:
„Halte man nur das fest, dass überall“, nämlich im Raume, „eine
mitgetheilte mechanische Bewegung vorhanden ist, deren Anfang
keine Untersuchung zulässt, welche aber, 'nachdem sie einmal
da ist, sich auf erregungsfähigen Stoff fortpflanzt und an diesem
Stoft eine höchst verwickelte, zu immer neuen Umsetzungen
führende Bewegung hervorruft, welche die gewöhnlichen chemi-
schen und physikalischen Eigenschaften der Stoffe in einer ebenso '
49
ungewöhnlichen Weise hervortreten lässt, als die erregte Be-
wegung selbst ungewöhnlich, nur auf eine bestimmte Reihe er-
regungsfähiger Stoffe beschränkt ist. — Das Leben ist also,
gegenüber den allgemeinen Bewegungsvorgängen in der Natur,
etwas Besonderes; allein es bildet nicht einen diametralen,
dualistischen Gegensatz zu denselben, sondern nur eine besondere
Art der Bewegung, welche, von der grossen Constante der all-
gemeinen Bewegung abgelöst, neben derselben und in steter
Beziehung zu derselben hinläuft.*“ Durch letzteres wird eben,
wie ich oben nachzuweisen gesucht habe, die Reizbarkeit, Erreg-
barkeit, und die Reizung, Erregung, bedingt. Ob es mir ge-
lungen ist, damit das Wesen derselben Anderen auch so klar
zu machen, wie ich es zu haben glaube, muss ich dahin gestellt
sein lassen. Dass ich aber mit der entsprechenden Ansicht der
Hauptsache nach nicht allein stehe, werden die angeführten
Eideshelfer, unter denen ein Virchow, genugsam bekunden.
Die Wirkung der Reize in Bezug auf die durch sie herbei-
geführte Reizung oder Gereiztheit, d. i. den Reizzustand, zeigt
ganz bestimmte Verhältnisse. Die Qualität der Reize bedingt
verschiedene Qualitäten der Reizung, der Reizzustände, die
Quantität der jeweiligen Reize hat quantitativ verschiedene
Reizungen und Reizzustände zur Folge. Im Allgemeinen kann
man sagen: Je stärker der Reiz, um so stärker die Reizung;
denn die Wirkung ist proportional der Ursache; allein die Er-
scheinung, durch welche sich das an den Tag legt, kann dem
geradezu zu widersprechen scheinen. Brown hatte ganz recht
gesehen: Starke Reize können die Reizbarkeit beeinträchtigen,
vernichten, — warum? haben wir oben gesehen —; sie scheinen
deshalb gerade die entgegengesetzte Wirkung von schwachen
zu haben, welche jene immer steigern; für die Praxis in gewisser
Richtung ist das vielfach auch als eine beherzigenswerte Thatsache
in Betracht zu ziehen; indessen für das Verständnis der bezüglichen
Vorgänge, wodurch doch auch wieder die Praxis im Allgemeinen
allein erfolgreich beeinflusst wird, ist es nötig festzuhalten, dass
es nur Schein ist.
Ende der fünfziger und Anfang der sechsziger Jahre hat
E. Pflüger (vergl. hierüber seine Untersuchungen über die
Physiologie des Elektrotonus Berlin 1859, seine Untersuchungen
aus dem physiologischen Laboratorium zu Bonn 1865 und seine
4
50
Disquisitiones de sensu electrico, Bonn 1865) gezeigt, dass
schwache galvanische Ströme, ob sie den gereizten Nerven in
absteigender oder aufsteigender Richtung durchflössen, in dem
zugehörigen Muskel nur beim Kettenschluss Zuckungen, also
Schliessungszuckungen, hervorriefen, dass stärkere, sogenannte
mittelstarke derartige Ströme, ebenfalls unabhängig von ihrer
Richtung, sowohl beim Schluss als auch bei der Öffnung der
Kette solche Zuckungen, also Schliessungs- und Öffnungszuckungen,
auslösten, dass aber starke galvanische Ströme, wenn sie abwärts
flössen, nur Schliessungs-, wenn sie dagegen aufwärts flössen,
nur Öffnungszuckungen in den bezüglichen Muskeln bewirkten.
W.Wundt hat das bestätigt und ausserdem gefunden, dass sehr
starke der genannten Ströme, wie sie auch den betreffenden
Nerven durchfliessen mögen, lediglich Öffnungszuckungen in den
zugehörigen Muskeln zur Folge hätten.
Dass solche sehr starke, stärkste Ströme Lähmung, be-
ziehentlich den Tod des betreffenden Nerven herbeizuführen im
Stande sind und auch oft genug herbeigeführt haben, ist all-
bekannt. Seitdem ist das auch von anderen Seiten mannigfach
als richtig befunden, und der ganze gesetzmässig erscheinende
Hergang als das Pflügersche Zuckungsgesetz bezeichnet
worden.
Pflüger hat dann weiter gezeigt, dass etwas ganz Ent-
sprechendes auch in Bezug auf die Empfindungen statt hätte,
dass schwache galvanische Ströme Empfindungen nur beim
Kettenschlusse, mittelstarke solcher Ströme Empfindungen sowohl
beim Kettenschlusse als auch bei der Kettenöffnung verursachten,
dass starke Ströme dagegen, indem sich die durch sie bedingten
schon vorhandenen Empfindungen verstärkten, eine solche Ver-
stärkung nur beim Kettenschlusse oder bei der Kettenöffnung
zeigten, je nachdem sie abwärts oder aufwärts flössen.
Wir sehen danach also bei schwachen Strömen allein beim
Kettenschlusse Empfindungen und Zuckungen auftreten, bei etwas
stärkeren, sogenannten mittelstarken Strömen dieselben und zwar
verstärkt sowohl beim Kettenschlusse als auch bei der Ketten-
Öffnung, d. i. also in grösserer Häufigkeit erscheinen; bei starken
Strömen treten dagegen, wenn auch wieder verstärkt nur
Schliessungsempfindungen und Schliessungszuckungen, wenn
jene abwärts fliessen, und nur Öffnungsempfindungen und Öffnungs-
Sl
zuckungen, wenn sie aufwärts fliessen, in die Erscheinung, und
bei verhältnismässig sehr starken Strömen kommen sogar blos
Öffnungsempfindungen und Öffnungszuckungen vor, mögen die
Ströme auch gerade fliessen, wie sie wollen. Starke Ströme
vermindern also die Häufigkeit der bezüglichen Erscheinungen,
setzen die Zahl derselben herab, hemmen also die jeweiligen Nerven
in ihrer Bethätigung und das um so mehr, je stärker sie sind.
Sind die Ströme gar zu stark, so führen sie leicht zu Lähmungen,
beziehungsweise zum Tode. Es werden keine Empfindungen,
keine Zuckungen mehr ausgelöst; die beziehentlichen Thätig-
keiten sind aufgehoben, vernichtet.
Der galvanische Strom ist ein Reiz. Ihm entsprechend wirkt
jeder andere Reiz. Schwaches Licht z. B. erlaubt gerade zu
sehen, facht die Sehfähigkeit, das Sehen an; helles Licht erlaubt
von derselben den weitgehendsten Gebrauch zu machen, fördert
das Sehen; grelles Licht blendet, beschränkt, hemmt die Seh-
fähigkeit, beziehentlich das Sehen; sehr starkes Licht, langes
Sehen in die Sonne, kann beide aufheben, vernichten. Etwas
Salz an die Speisen erhöht die Schmackhaftigkeit derselben,
beziehungsweise unsere Geschmacksfähigkeit für dieselben; etwas
mehr Salz an sie, eine gewisse scharfe Salzung, erhöht ihre
Schmackhaftigkeit, unsere Geschmacksfähigkeit noch mehr; eine
zu starke Salzung, Versalzung der bezüglichen Speisen beein-
trächtigt ihre Schmackhaftigkeit, unsere Geschmacksfähigkeit für
dieselben und zwar in um so höherem Grade, je mehr sie ver-
salzen sind; endlich in lauter Salz gehüllt, besitzt nichts mehr
einen eigenen Geschmack. Vor lauter Salz sind wir unfähig ge-
worden noch etwas Anderes zu schmecken. Bei Personen mit
sehr erregbarem Nervensysteme, Neurasthenikern, Hysterikern,
rufen mechanische Reizungen sogenannter sensibeler Nerven,
namentlich solcher der Geschlechtsorgane, leicht Muskelactionen
hervor. Ein Klopfen, ein Druck aufjene Nerven bewirkt Husten
oder Zuckungen in den Armen, in den Beinen, in der Blase u.
dgl. m. Wird der mechanische Reiz, das bezügliche Klopfen,
der bezügliche Druck stärker, so nehmen die entsprechenden
Muskelactionen zu, der Husten wird ärger, die Zuckungen in
Armen und Beinen, in der Blase werden ausgiebiger: es kommt
unter dem Einfluss der letzteren zu Harnabgang, und zwar ohne
dass der betreffende Kranke ihn aufzuhalten vermöchte. Nehmen
4*F
52
die fraglichen Reizungen noch mehr zu oder halten sie zu lange
an, wodurch ihre Intensität, ohne dass sie sonst eine Steigerung
erfahren hätten, vermehrt wird, so treten zuerst lähmungsartige
Zustände ein: Heiserkeit, Lahmheit in den Armen und Beinen, in
der Blase, welch’ letztere das Harnen erschwert oder ganz un-
möglich macht; endlich entwickeln sich wirkliche Lähmungen,
welche für kürzere oder längere Zeit, nicht selten für die
Lebenszeit anhalten, deren Beseitigung indessen oft auch gelingt,
wenn es gelingt, die sie verursachende Reizung, beziehungs-
weise den sie bedingenden Reiz, rechtzeitig ebenfalls zu besei-
tigen. Die Geschichte der hysterischen Krämpfe und Lähmungen!
]- Lister, der seiner Zeit, als die Lehre von den Flem-
mungsnerven aufkam und einen zu weit gehenden Umfang anzu-
nehmen schien, einschlägige Untersuchungen anstellte, kam des-
halb zu dem Schluss, dass ein und derselbe Nerv, je nachdem
er mässig oder stark gereizt würde, die Funktionen des Organes,
auf das er wirke, erhöhe oder vermindere, d. h. fördere
oder hemme, und W. Wundt, der fast um dieselbe Zeit nach-
wies, dass jede starke Hemmung der Thätigkeit eines Nerven
die Erregbarkeit desselben herabsetze, — natürlich! denn dieselbe
ist ja auch blos eine solche Thätigkeit oder doch ein Ausfluss
derselben — , erklärte, dass damit bewirkt werde, dass etwaige
Reize auf einen solchen Nerven nur einen geringen oder gar
keinen Einfluss mehr ausüben. Ein stark erregter Nerv wird so
unfähig, noch andere, zumal schwächere Reize aufzunehmen und
fortzuleiten und erscheint deshalb, so obenhin betrachtet, wie
gelähmt. Die vorhin geschilderten Vorgänge erhalten damit
zum wenigsten der Hauptsache nach ihre Erklärung.
Im Jahre 1864 wies W. Kühne nach, dass die Reizbarkeit,
Erregbarkeit des Nerven dem Protoplasma überhaupt, von dem
der Nerv ja blos eine bestimmte Form darstellt, zukomme, und
in den achtziger Jahren, speciell im Jahre 1885 in meinem Buche
„Die Neurasthenie“, S. 32 u. ff., habe ich, auf meine durch
lange Jahre angestellten Untersuchungen gestützt, geradezu aus-
sprechen zu dürfen geglaubt, dass alle protoplasmatischen Kör-
per, alle einschlägigen tierischen und pflanzlichen Gebilde, diese
Reizbarkeit oder Erregbarkeit besitzen und zwar in um so
höherem Grade, je näher sie noch dem ursprünglichen, gewisser-
massen idealen Protoplasma stehen, d. h. je weniger sie sich im
ng
53
Laufe der Zeit von ihm entfernt, differenziert haben. Ja, dem
Nerven im Besonderen komme seine ihn auszeichnende Erreg-
barkeit vornehmlich oder auch blos darum zu, weil er ein im
Allgemeinen und zumal anderen Gebilden, wie den Epithelien,
dem Knorpel und Knochen gegenüber nur wenig differenziertes
Protoplasma sei. Das Pflüger’sche Zuckungsgesetz, am Muskel
gefunden, nachher aber auch als gültix für die Empfindung
erkannt, müsse darum auch für alles Protoplasma Geltung
haben. — Und in der That, wird das berufene Gesetz in der
schon mehrfach berührten Weise verallgemeinert, für galvani-
schen Strom, Reiz überhaupt, für Zuckung, Empfindung, Lebens-
äusserung, Lebensthätigkeit schlechthin gesetzt, so ergiebt sich
mit Berücksichtigung alles Vorausgeschickten: Schwache Reize
fachen die Lebensthätigkeit, d.h. die, an welcher wir dasLeben
erkennen, also die evolutionistischen Vorgänge während desselben,
an, stärkere, mittelstarke beschleunigen, fördern sie,
starke hemmen und stärkste heben sie auf. Da nun von
den fraglichen Reizen alles Leben wie überhaupt, so auch in
seiner besonderen Gestaltung abhängt, so ist das Gesetz in dieser
Form von mir als das biologische Grundgesetz bezeichnet
worden. Alle anderen gesetzmässigen Vorgänge ordnen sich
ihm unter. Die Richtigkeit des biologischen Grundgesetzes des
Näheren, d.h. seine Gültigkeit für den einzelnen Fall zu beweisen,
dazu sind die nachfolgenden Abhandlungen bestimmt.
Das Leben erkennen wir an seinen Äusserungen, Bethäti-
gungen, Ergasien. Die Trophieen oder Nutritionen, die Aesthesien
oder Sensationen, die Plasien oder Formationen, die Ekkrisien oder
Sekretionen, dieKinesien oder Motionen bilden die hauptsächlichsten
Kategorien derselben. Die Thermosien, Elektrosien u. dgl. m.
sind andere, doch nicht so auffällig in die Erscheinung tretende.
Die in bestimmten Grenzen sich haltenden, den Durchschnitt
ausmachenden und darum für normal erklärten Ergasien sind
die Euergasien, die Eutrophien, Euästhesien, Euplasien, Euek-
krisien, Eukinesien u. s. w., alle davon abweichenden, auf einen
abnormen Grundvorgang hinweisenden die Dysergasien, die
Dystrophien, Dysästhesien, Dysplasien u. s. f.
Die Dysergasien können sich durch Beschleunigen oder
Förderung, durch Verlangsamung oder Hemmung, oder endlich
54
auch durch gänzliches Ausbleiben der einschlägigen Vor-
gänge an den Tag legen. Je nachdem entstehen so ı. dieHyper-
ergasien, die Hypertrophien, Hyperästhesien, Hyperplasien,
Hyperekkrisien, Hyperkinesien, Hyperthermosien,' 2. die Hyper-
gasien, die Hypotrophien, Hypästhesien, Hypoplasien, Hypek-
krisien, Hypokinesien, Hypothermosien und 3. die Anergasien,
die Atrophien, Anästhesien, Aplasien, Arekkrisien, Akinesien,
Athermosien. Es können aber auch die besagten Dysergasien
durch eine sonstige mehr oder minder fremdartige Erscheinungs-
weise sich zu erkennen geben und dann kommen die Par-
ergasien zu Platz, die Paratrophien, Parästhesien, Paraplasien,
gewöhnlich Heteroplasien genannt, die Parekkrisien, Parakinesien,
Parathermosien u. s. w. *)
*) Wie die Hauptkategorien der Dysergasien ihre Unterkategorien haben,
so umfassen diese natürlich auch wieder solche; ja gegebenen Falles lassen auch
sie dann noch Unterkategorien unterscheiden, und erst unter diese oder gar ihnen
noch folgende ordnen sich die Einzelerscheinungen unter, welche gerade in Betracht
kommen. Es verhält sich damit wie in der ganzen Natur. Die gesetzmässig er-
folgenden Erscheinungen bilden grössere oder kleinere Gruppen, und diese stellen
sich für unsere Erkenntnis als Familien, Genera, Species dar.
Da die Ernährungsvorgänge, Nutritionen oder Trophien, die Grundlage
aller anderen sind, so kommt es, dass öfters manche dieser letzteren von den
ersteren nicht scharf geschieden erscheinen, Namentlich zwischen den Tropbien,
Plasien, Ekkrisien drängen sich die Beziehungen, welche unter ihnen bestehen,
häufig dergestalt auf, dass es nur schwer und von vornherein blos dem Er-
fahrenen möglich ist, die trennenden Punkte gehörig aus einander zu halten. Und
dennoch ist das durchaus notwendig, um in das Wesen der einzelnen Lebensvor-
gänge einen Einblick zu gewinnen und die mannigfachen Verhältnisse, in welchen
sie sich zur Darstellung bringen, zu verstehen. Zur weiteren Klärung der Ange-
legenheit ‘erlaube ich mir darum für die aufgestellten Hauptkategorien der
Dysergasien einige Unterkategorien anzuführen, Die Hauptkategorien lassen
damit erkennen, was jede einzelne von ihnen als Inhalt umfasst, und dass die
Einzelheiten dieses Inhalts sich zu einander verhalten wie die bezüglichen
Kategorien selbst. Diese sind erst aus jenen abgeleitet hervorgegangen und nicht
etwa umgekehrt, dass letztere in erstere hineingepresst worden. Es ordnen
sich also unter die
Hypertrophien, Hyper- Hyper- Hyper- Hyper-
die Hyper- aesthesien, plasien, ekkrisien, kinesien,
trichosie oder die Hyper- die Hyper- die Hyper- die Hyper-
Derbhaarigkeit, aesthes. op- trichosie, hidrosie, das kinesie,
dieHyperodon- tica, die Ge- hier aber als starke, über- des
tosie oder sichtsreizbar- Vielhaarigkeit, mässigee Herzens,
Grosszahnigkeit, keit, über- die Hyper- Schwitzen, Herzklopfen,
Das biologische Grundgesetz offenbart sich in der Einhal-
tung der Reihenfolge der drei erstgenannten Dysergasien, in
welcher sie soeben angeführt worden sind. Die Hyperergasien
die Hyper-
megethie*,
der Riesenwuchs
und zwar sowohl
in Betreff des
jeweiligen ganzen
Individuums als
auch .einzelner
seiner Teile, ein-
zelner seiner Glie-
der. In der Tier-
welt die grossen
Glieder, die
grossen Flossen
einzelner Fische,
diegrossenlangen
Extremitäten, zu-
mal Hände und
Füsse, Nasen und
Ohren einzelner
höherer Tiere,
die grossen
Schnäbel mancher
Vögel, in der
Pflanzenwelt die
Riesenbildungen
der Spargel, der
Kohlrabi, Rettige,
der Zwiebeln,
Rosen, Stief-
mütterchen, der
Erdbeeren,
Johannis- und
Stachelbeeren,
der Kirschen,
Pflaumen, Äpfel
und Birnen, der
Gurken und
Kürbisse geben
eine Menge von
Beispielen dafür
ab.
mässige Ge-
sichtsthätigkeit
und Empfind-
lichkeit,
die Hypera-
kusie,dieüber-
mässige Gehörs-
empfindlichkeit,
die Hyper-
geusie, die
übermässige
Geschmacks-
empfindlichkeit,
die Hyperos-
mie, über-
mässige Ge-
ruchsempfind-
lichkeit u. s. w.
daktylie,
die Viel-
fingrigkeit,
die Hyper-
chrosie, die
Starkfarbig-
keit, Dunkel-
oder Tief-
farbigkeit.
die Hyper-
dakryosie,
die übermässige
Thränen-
abscheidung,
die Hyper-
galaktosie,
die überreiche
Milchbereitung,
Milchabsonde-
rung,
die Hyper-
steatosie,
die überreiche
Talgbereitung,
Talg-, Fettab-
sonderung.
die Hyper-
kinesie
sonstiger
Muskeln,
Krämpfe.
56
FRE
bilden Sden Anfang der Hyp- und Anergasien, mit denen sie
enden, und die gemeinhin als ihr Gegenteil betrachtet werden.
Doch ist das letztere nicht richtig. Das wirkliche Gegenteil
derselben bilden nicht die Hyperergasien, die immer schon in
Hypotrophien,
die Hypo-
trichosie, Zart-
haarigkeit,
die Hyp-
odontosie,
Kleinzahnigkeit,
die Hypo-
megethie*), der
Zwergwuchs und
zwar ebenfalls in
Bezug auf ein
Wesen im Ganzen
als in Bezug auf
einzelne seiner
Reile:
Atrophien,
die Atrichosie,
Haarlosigkeit,
Kahlheit,
die Anodon-
tosie, Zahn-
losigkeit,
dieAmegethie*)
das Fehlen, Aus-
bleiben von nor-
malen Gebilden.
Paratrophien,
die
Paratrichosie,
der abweichende
Haarwuchs, die
Haarkrankheiten,
die
Parodontosie,
die abweichende
Hypaesthesien,
die Hyp-
aesthesia op-
tica, gewöhn-
lich Amblyopie,
die Schwach-
sichtigkeit,
die Hyp-
akusie,
Schwerhörig-
keit, die
Hypogeusie,
Geschmacks-
stumpfheit, die
Hyposmie,
Geruchs-
schwäche u.s.w.
Anaesthesien,
die Anaesthe-
sia optica,
Amaurose,
Blindheit,
die Anakusie,
Taubbheit,
die Ageusie,
die Schmeck-
unfähigkeit,
die Anosmie,
die Riechun-
fähigkeit u.s.w.
Paraesthesien,
die
Paraesthesia
optica, das
abweichende
Sehen, z.B.nach
Vergiftungen,
die Photopsien,
Chromatopsien,
Hypo-
plasien,
die Hypo-
trichosie,
aber hier als
Dünnhaarig-
keit, Spärlich-
keit des
Haares,
die Hypo-
daktylie,
Mangelhaftig-
keit der
Finger,
die Hypo-
chrosie,
Schwach-
farbigkeit,
Bleichheit.
Aplasien,
die
Atrichosie,
Haarlosigkeit,
die Anodon-
tosie, Zahn-
losigkeit,
die
Achrosie,
Farblosigkeit,
der
Albinismus.
Paraplasien,
die Paratri-
chosie, die
abweichende
Haarbildung,
das Krause,
rote, weisse
Haar, die
Parodonto-
Hypekkrisien,
(die Hyphi-
drosie,
die Schweiss-
armut,
die Hypo-
dakryosie,
Thränenarmut,
die Hypo-
galaktosie,
Milcharmut.
Anekkrisien,
die
Anhidrosie,
Schweisslosig-
keit,
Adakryosie,
Thränenlosig-
keit u. s. w.
Parekkrisien,
die Pari-
drosie,
die abnorme
Schweiss-
absonderung
z.B. die Osmi-
drosie, Abson-
derung riechen-
Hypo-
kinesien,
die Hypo-
kinesie des
Herzens,
Herz-
schwäche,
die Hypo-
kinesien
sonstiger
Muskeln,
Muskelträg-
heit.
Akinesien,
die
Lähmungen
der bezüg-
lichen
Muskeln.
Parakinesien,
die
Parakinesie
des
Herzens,
der
Eingeweide,
dieabwegigen
Bewegungen
einer abnormen Richtung sich zum Ausdruck bringen, mitsamt
den Hypergasien immer schon mehr oder weniger Parergasien
sind, sondern die Akro- oder Oxyergasien, welche eine
blosse einfache Verstärkung der Euergasien darstellen und sich
Zahnernährung, die Halucinatio- sie,dieabwei- der, Bromi- des Herzens,
die nen, die Para- chende Zahn- drosie, Abson- der
Zahnkrankheiten, kusie, das bildung, Spitz- derung stinken- Eingeweide
die Para- abwegigeHören, zähne statt der, u.S.w.
megethie*), Akusmata, Schneidezähne Hämathidrosie,
z.B. die Verhält- Halucinationen, u.s. w. die Absonderung
nisse, welche bei die Paraes- Parachro- blutiger
der sogenannten thesia tactus, sie, Anders- Schweisse,
Akromegalie das fremdartige farbigkeit, die Paraga-
vorkommen, und Fühlen, das dieNeoplas- Jaktosie, die
die wohl immer Jucken, Krib- mata,nament- Absonderung
Paramegethien beln, Prickeln, lich die soge- einer z. B. zu
darstellen. Ameisen- nannten hete- wässerigen oder
kriechen, roplastischen, zu fetten Milch
Würmerwinden die Teratome u. s. w.
u. Ss. w. u.S. w.
*) Nach Professor Susemihl's Vorschlag gebildet.
Es giebt keinen Vorgang in der belebten Natur im gebräuchlichen Sinne
des Worts, welcher sich nicht den angeführten Kategorien überhaupt, und keinen
vom Gewöhnlichen abweichenden Vorgang in ihr, welcher sich nicht den letzten
fünf allein unterordnete. Wir brauchen nur von diesem Gesichtspunkte aus die
Einzelvorgänge betrachten und ihre bisherigen Benennungen dem entsprechend
verändern, und es ergiebt sich das auf das bündigste.
Ptyalismus, eigentlich Spucksucht, beruht auf einer vermehrten Speichelab-
sonderung, einer sogenannten Sialorrhoe; daraus machen wir Hypersialosie,
und der Beweis ist da. Hyposialosie, Asialosie, Parasialosie bezeichnen
sodann das Verhältnis, in welchem die scheinbar entgegengesetzten und zum Teil
wenigstens sehr abwegigen Vorgänge entsprechender Art zu ihr stehen. Polyuresie
wird so zu Hyperuresie, die Suppressio urinae zuHypuresie und Anuresie;
die Uraturie, Albuminurie, Glykosurie, Meliturie u. s. w. sind Paruresien. In
gleicher Weise wird die Menstruatio nimia zur Hypermenorrhoe, die Menostase
oder Suppressio mensium zur Hypomenorrhoe oder auch Amenorrhoe, je nach-
dem sie unvollkommen oder vollkommen ist; die Amenorrhoe bleibt Amenorrhoe;
sie alle sind Ausdruck von Dysmenorrhoeen; die heute kurzweg als Dysme-
norrhoeen bezeichneten Störungen sind eigentlich Paramenorrhoen; die Menses
praecoces, die Menstruatio difficilis, die Menstruatio vicaria, die Menorrhoea oder
Dysmenorrhoea intermenstrualis, die Menorrhoea oder Dysmenorrhoea membra-
nacea beweisen es. Ebenso wird die Polysarkie, die Fettsucht, zur, was sie in
Wahrheit ist, Hyperliposie (Lipomatosie, Lipom); ihr schliesst sich in ent-
sprechender Weise die Hypoliposie, die Aliposie, die Paraliposie an.
Ferner wird so aus der Polypragmosyne, der Polypraxie, die Hyperpraxie,
58
in der nämlichen Richtung wie diese bewegen. Es sind, wenn
ich mich so ausdrücken darf, die normalsten der normalen Er-
gasien oder Euergasien. Die Hyperergasien haben eben, wie
erwähnt, schon etwas von den Parergasien an sich und ebenso
auch die Hypergasien. Beiden kommt deshalb auch schon etwas
Fremdartiges, Anomales zu. Die Parergasien dagegen besitzen
wieder bald mehr bald weniger von den Hyp- oder Hyper-
ergasien. Hyperergasien, Hypergasien, Parergasien gehen deshalb
auch vielfach in einander über und, was noch blosse Hyper- oder
Hypergasie, was schon Parergasie ist, hängt ganz und gar von
dem jedesmaligen Beobachter ab. A potiore fit denominatio.
Es ist wichtig, das Alles im Auge zu behalten, um etwaigen
missverständlichen Auffassungen in den folgenden einzelnen Ab-
handlungen zu entgehen.
Die bezüglichen Ergasien lassen zwei Phasen unterscheiden,
eine vorbereitende, gleichsam proergastische, und eine eigent--
liche, etioergastische oder auch ergastische schlechtweg.
Die erste beruht auf dem Eindringen des Reizes, der Reizbe-
wegung in den jeweiligen Körper, einem Vorgange, den man
sich meistenteils mehr aktiv, als von innen heraus erfolgend
gedacht und deshalb die Reizaufnahme genannt hat; die zweite
gründet sich auf die Wirkung des Reizes, welche sich als Lösung
der in Betracht kommenden Moleküle und deren Folgen, also
der in das Dasein gerufenen Evolutionen, zu erkennen giebt. Die
proergastische Phase umfasst die Perceptionen, die ergastische
selbst die Reaktionen.
Bei den höheren Tieren, doch schon von den Würmern
an aufwärts, haben sich besondere Organe gebildet, durch welche
diese beiden Phasen als solche zum Austrag gebracht werden,
die receptiven und reaktiven Nerven, welche gemeinhin:
centripetal- und centrifugalleitende, oder auch sensibele und.
mit Allem was darum und daran hängt, und aus den entsprechenden Zuständen
verminderter oder abweichender Thätigkeit die Hypopraxie, Apraxie
Parapraxie. Wer kennt nicht die Polyphrasie, Logorrhoe oder Logodiarrhoe?
Sie wird zur Hyperphrasie. Die Mutitas, der Mutacismus wird zur Aphrasie,
beziehungsweise Hypophrasie u. s. f. Dass dabei die Wortbildung erleichtert,
das Gedächtnis weniger beschwert wird, weil die ganze Nomenklatur, die doch.
nun einmal international sein muss, auf eine natürliche Grundlage zurückgeführt,.
vereinfacht wird, liegt auf der Hand,
Ki
39
motorische, beziehentlich motorische, sekretorische, trophische
genannt werden. Indessen es liegen den letztgenannten Bezeich-
nungen viele unzutreffende Vorstellungen zu Grunde, und die
Namen bezeichnen aus diesem Grunde keineswegs das in richtiger
Weise, was der Unbefangene erwarten dürfte. Der gegebene»
Reiz, die ihm zu Grunde liegende Bewegung, dringt in die obersten
Schichten, Zellenlagen des gegebenen Körpers ein und setzt sich
durch die aus ihnen hervorgehenden, jedenfalls mit ihnen in
innigster Verbindung stehenden centripetalleitenden Nerven, als
dem noch ursprünglichsten und deshalb auch leicht beweglichsten
Protoplasma des Körpers angehörig, nach dem Inneren desselben
fort, um im Centralnervensysteme, Rückenmark und Hirnstamm,
auf diese und jene centrifugalleitenden, welche gerade am
leichtesten beweglich in ihrem Molekulargefüge sind, überzugehen
und in den sie aufnehmenden Zellen und Zellencomplexen die
Reaktionen zu veranlassen, welche wir vorzugsweise als Lebens-
äusserungen, Lebensthätigkeiten, ansehen. Zwischen dem Beginn
einer Perception und dem Abschluss der bezüglichen Reaktion
ist eine lange Reihe stetig sich folgender Evolutionen eingeschaltet.
Jede derselben führt zur Auslösung der ihr folgenden und wird
damit zu dem Reize, welcher diese in das Leben ruft. Sie verhält
sich deshalb auch in Bezug auf diese, als Reaktion gedacht, in
ihren unmittelbarsten Folgen wie eine Perception. Aus einer
ununterbrochenen Kette von mit einander regelmässig abwech-
selnden Perceptionen und Reaktionen, die, ich möchte sagen, in
chemischen Explosionswellen fortschreiten, besteht nach allem
dem der Vorgang, welcher zwischen der ersten Reizeinwirkung
auf einen Körper und der Gegenwirkung von Seiten desselben
stattfindet, oder in Anbetracht des Nerven selbst, der die Nerven-
leitung ausmacht.
Es ist bekannt, dass die Nervenleitung im Centralnerven-
system und zwar durch die graue Substanz desselben eine
Hemmung erfährt. In Folge dessen werden die die Reize bildenden
lebendigen Kräfte in Spann- oder Druckkräfte umgewandelt,
um, gelegentlich wieder in lebendige Kräfte zurückgeführt, als
erhöhter Reiz beziehentlich der endlichen Reaktion wirken zu
können. Aus der grauen Substanz des Rückenmarkes und
init ihm des Hirnstammes, und zwar aus den hinteren Hörnern
jenes und ihren Modificationen in diesem, welche beide vor-
60
zugsweise den Perceptionen dienen, geht das Gehirn selbst, gehen
die Hemisphären desselben hervor. Es ist darum das Gehirn, wie
gross und umfangreich es zuletzt auch erscheinen mag, doch
nichts Anderes als die über dem Hirnstamme ganz ausserordentlich
entwickelte Masse der Hinterhörner der grauen Substanz des
Rückenmarkes. Wenn die graue Substanz, der graue Kern des
Rückenmarkes, was ja bewiesen ist, den Übergang der Percep-
tionen in die Reaktionen vermittelt, und wir uns das ganze
Nervensystem, hier also das eines Wirbelthieres, als einen Leitungs-
apparat denken für Kräfte, welche von der Aussenwelt her ihn von
den ersten Perceptionsstellen an bis nach den letzten Reaktionsstellen
hin durchfliessen, und der zu bestimmten Zwecken eine die Leitung
hemmende Masse, also die graue Substanz des Rückenmarkes,
eingeschaltet enthält, so stellt sich das Gehirn als eine Art von
Nebenleitung heraus, in welche ebenfalls zu bestimmten Zwecken
leitungshemmende Massen eingeschaltet sind. Die das Gehirn
mit dem Hirnstamme verbindenden Fasermassen entsprechen den
eigentlichen Leitungen, die in dasselbe eingestreuten Heerde
grauer Substanz, die es umhüllenden Massen solcher, seine Rinden,
den eingeschalteten Apparaten. *)
*) Stellen wir uns die Sonne als eine Art von grossem Elektrizitätswerk
vor, von dem allseitig Leitungen ausgehen, auf welchen die von ihr ausstrahlenden
Kräfte sich weiter verbreiten, so entspricht das den Raum zwischen ihr und den
übrigen Weltkörpern ausfüllende Medium, der Äther, den von ihm unmittelbar
nach allen Richtungen hinziehenden Hauptleitungen. Der Äther zwischen der
Sonne und der Erde entspricht der Hauptleitung nach einem bestimmten Orte.
Der Äther in der Erde, welcher alle ihre Zwischenräume erfüllt, entspricht der
Nebenleitung, welche sich in dem Orte von ‚der Hauptleitung abzweigt, in ihm
wieder durch Nebenleitungen verteilt, sich durch dieselben gewissermassen auflöst,
sich aber auch wieder sammelt und hinter dem Orte wieder in die Hauptleitung
einmündet. Zum Zweck. der Abzweigung der Nebenleitungen ist die jedesmalige
bezügliche Hauptleitung unterbrochen, eine die Kraftleitung hemmende Masse ist
eingeschaltet, ein bestimmter Apparat in ihr angebracht.
Von der Nebenleitung, welche durch den fraglichen Ort als Hauptleitung
zieht, gehen wieder, wie erwähnt, unter Einschaltung von Apparaten, also zunächst
blos leitungshemmenden Massen, abermals Nebenleitungen ab. Es sind das die
in die Häuser führenden, durch welche die in dieselben geleiteten Kräfte bestimmten
Zwecken dienstbar gemacht werden sollen. Je nachdem sind nun in den Häusern
wieder die Leitungen unterbrochen und in den Unterbrechungen leitungshemmende
Massen, beziehentlich Apparate eingeschaltet, hier Kohlenstifte, Kohlenfäden zur
Erzeugung von Licht, dort eine Glocke, ein Telephon, ein Phonograph, eine Leier,
in Amerika selbst Klaviere, da ein Telegraph, eine Uhr, eine Nähmaschine, Dreh-
61
In der grauen Rinde des grossen Gehirns, werden die Per-
ceptionen bewusst; es entstehen Gefühle. Die Gefühle in ihren
verschiedenen Beziehungen als Gefühle schlechthin, als Empfindun-
gen, Wahrnehmungen, als Strebungen, Triebe, Wille, Gedanken,
sind darum in Anbetracht des Ortes ihres Zustandekommens ein
bank, ein Ventilator, u. s. w. Zu bestimmten Zwecken sind bestimmte leitungs-
hemmende Massen, Apparate, in die Leitungen selbst eingelassen.
Nehmen wir nun das Nervensystem eines Tieres, inbesondere eines Wirbel-
tieres und des als solchen zu betrachtenden Menschen, so ist dasselbe als eine
Nebenleitung für die Kräfte anzusehen, welche von der Sonne zur Erde, beziehentlich
über dieselbe hinaus in den Raum und durch denselben zu anderen Sonnen wogen.
Durch die centripetalleitenden Nerven dringen die bezüglichen Kräfte in den
Körper ein, durch die centrifugalleitenden treten sie wieder, wenn auch verändert,
aus. Zwischen die centripetal- und centrifugalleitenden Nerven, welche zwei
streng geschiedene Abteilungen bilden, ist die leitungshemmende Masse des
grauen Kernes des Rückenmarkes eingeschaltet, — es werden dadurch die Per-
ceptionen zu Wege gebracht —, und als eine weitere Ausbildung dieses Kernes,
ja sogar blos einer Abteilung desselben, das Gehirn und insbesondere die An-
häufungen von grauer Substanz in demselben. Der graue Kern des Rückenmarks,
die grauen Ganglien des Gehirns, die grauen Rinden des letzteren entsprechen
den Apparaten und Combinationen derselben, welche in elektrischen Leitungen
angebracht sind. Sie wandeln die ihnen zugeführten Kräfte der Aussenwelt ihrer
Einrichtung gemäss in ganz bestimmte andere um, der graue Kern des Rücken-
marks, wohl auch noch die Ganglien des Hirnstammes in blosse Nisus, die Gross-
hirnrinde in Sensationen und zwar in ihrem hinteren, dem Scheitel- und Hinter-
hauptslappen zugehörenden Teile, in welchen die centripetalleitenden Fasern ein-
treten, in blosse reine Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen, im vorderen,
dem Stirnlappen angehörigen Teile, aus dem die centrifugalleitenden Fasern aus-
treten, die vorhandenen reinen Gefühle in Strebungen, Triebe, Willen, Gedanken,
also sich thätig machen wollende Gefühle.
Das Gehirn als Ganzes ist danach in Bezug auf das gesamte Nervensystem
als eine Nebenleitung, Nebenschliessung, anzusehen, die wie ich in meinem Lehr-
buch der Psychiatrie gesagt habe, sich zu der Hauptleitung verhält, wie ein mit
einer galvanischen Batterie verbundenes Galvanoskop. Das Gehirn und nament-
lich insofern es Organ der Sensationen, also des Bewusstseins, der Psyche, ist,
ist darum auch dem Galvanoskop einer solchen Batterie durchaus zu vergleichen.
Wie wir durch dieses die Ströme kennen lernen, welche die Batterie durchlaufen,
ihre Richtung, ihre Stärke, Constanz oder Inconstanz, Continuität oder Disconti-
nuität, so lernen wir durch unser Gehirn und mit uns jedes mit einem solchen
oder einem entsprechenden Organe ausgestattete Tier, die Kräfte kennen, welche
von der Aussenwelt her auf uns wirken oder auch, mit denen die Aussenwelt auf
uns wirkt, und mit denen wir uns, je nachdem sie stärker oder schwächer sind, da-
nach Lust oder Unlust bereiten, zuneigen oder abneigen, die wir darum begehren
oder abwehren.
62
Mittelding zwischen den eigentlichen Perceptionen und Reaktionen.
Sie stellen gewissermassen den Anfang dieser letzteren dar und
um so mehr, je mehr sie aus blossen Gefühlen zu Strebungen,
Trieben, Willen, Gedanken werden. Sie sind der Ausdruck des
Anfangs der Molekularbewegung, die auf ihrer Höhe die Evolution
darstellt, als deren endliche Wirkung wir die bezügliche Reaktion
gewahren. Sie entsprechen also der Wärme, welche anderwärts
unter analogen Verhältnissen entsteht. Es sind Äquivalente
derselben und es fragt sich, ob nicht in der bei weitem grössten
Mehrzahl der Fälle auch blos Wärme selbst, welche nur in ihren
verschiedenen Farben und Tönen von dem bezüglichen, besonders
gearteten Protoplasma in besonderer Weise empfunden wird. Sie
gehören als solche dann entschieden schon der ergastischen Phase
an, mag man sie in der Regel auch, wie ich es einst selbst
gethan habe, noch als Apperceptionen zu den Perceptionen und
mit diesen zur proergastischen Phase rechnen. Weil Ersteres
jedoch wohl mehr der Fall sein dürfte, so ist auch die Möglichkeit
vorhanden, sie nach dem Pflüger'schen Zuckungsgesetze und
mit diesem wieder nach dem biologischen Grundgesetze überhaupt
.zu betrachten und zu behandeln. Unter den nachstehenden Ab-
handlungen findet sich daher auch eine, in welcher wieder ein-
mal der Versuch gemacht worden ist, die bewussten, die psychi-
schen Vorgänge, das psychische Leben überhaupt mit dem
biologischen Grundgesetz in Einklang zu bringen, wie ich es
bereits bei Abfassung meines Lehrbuches der Psychiatrie ge-
than habe.
63
jk
Die Elementarorganismen
und das biologische Grundgesetz.
Bacterium Termo ist wohl eins der gemeinsten Lebewesen,
die es giebt, und die Formen, unter denen es vorkommt, sind
mannigfach. Erscheint es einzeln, ein jedes für sich, so ist es
oft recht beweglich und, wenn man Gelegenheit hat, es auf einem
heizbaren Objecttisch zu untersuchen, so wird man bald erkennen,
dass seine Beweglichkeit mit der Temperatur in Zusammenhang
steht, unter welcher es sich befindet. Bei gewöhnlicher Zimmer-
temperatur, d. h. einer solchen von 16—20°C. bewegt es sich nur
sehr träge; bei einigen 20° C. bewegt es sich lebhafter, noch
lebhafter bei einigen 30° C. Die grösste Beweglichkeit scheint
es zwischen 35—38° C. zu besitzen. Steigt die Wärme höher,
unter welcher es sich befindet, so lässt seine Beweglichkeit nach.
Bei 40° C. verfällt es nach Ed. Eidam der Wärmestarre, aus
welcher es indessen sich immer wieder erholen und zur alten
Beweglichkeit zurückkehren kann; bei 50°C. doch wird dieselbe
für immer vernichtet.
So weit die Beweglichkeit des Bacterium Termo von der
umgebenden Temperatur abhängig ist, sehen wir also, dass eine
für das besagte Bacterium verhältnismässig geringe Steigerung
dieser letzteren jene auch in einem geringen Masse steigert, ge-
wissermassen nur anfacht, dass eine stärkere Steigerung der
Temperatur eine stärkere Steigerung der Beweglichkeit zur
Folge hat, dass über einen gewissen Grad der Temperatur-
steigerung hinaus aber gerade das Gegenteil eintritt, die Be-
weglichkeit nachlässt, erst gehemmt und endlich ganz auf-
gehoben wird.
64
Was vom Bacterium Termo gilt auch vom Bacterium
Lineola, von Bacillus subtilis, Ulna, von Spirilla und Spirochaete,
sowie all’ den beweglichen Wesen hierher gehöriger Art. Mit
steigender Wärme nimmt die Beweglichkeit derselben, die über-
haupt erst bei einer gewissen Höhe der ersteren bemerkbar
wird, zu. Hat die Wärme indessen wieder eine gewisse Höhe
erreicht, welche zwischen 35—40 °C. liegt, so nimmt die Beweg-
lichkeit auch wieder ab und hört endlich ganz auf. Dieselbe
wird erst gehemmt und dann ganz aufgehoben, vernichtet.
Wie die Beweglichkeit, so erweist sich auch die Fort-
pflanzungs- beziehentlich die Vermehrungsfähigkeit der Bakterien
und ihresgleichen in dem nämlichen Grade abhängig von der
Temperatur, unter welcher sie leben. Nach Mitteilung des Herrn
Loeffler vermehrt sich der Tuberkelbacillus nicht mehr unter
28° und nicht über 42° C. Am besten gedeiht, am raschesten
vermehrt er 'sich bei Brutwärme, also bei 37—38° C. Von
28° C. aufwärts nimmt also seine Vermehrung beziehungsweise
Vermehrungsfähigkeit mit Vermehrung der Wärme stufenweise
zu. Hat die Wärme jedoch 37—38° C. erreicht, so nimmt
darüber hinaus seine Vermehrung wieder allmählich, doch un-
gleich schneller ab; sie wird gehemmt und, hat die Wärme
42% °C. erlangt, so wird sie ganz aufgehoben, ver.
nichtet. Der Cholerabacillus vermehrt sich zwischen ı5 und
42°C. Bei ı5° fängt er‘-überhaupt erst an, Vermehrung zu
zeigen. Mit zunehmender Temperatur nimmt auch diese seine
etwaige Vermehrung zu. In der Brutwärme von 37—38° C.
ist auch sie am regsten. In einer Temperatur darüber hinaus
nımmt sie ebenfalls wieder ab, und bei 42 ° C. hört sie ganz auf;
sie wird aufgehoben, wird vernichtet. Die Milzbrandbacillen
vermehren sich nicht unter 14, nicht über 43 ° C. Ihre stärkste,
beziehungsweise schnellste Vermehrung findet, wie die der vor-
scenannten Bakterien, auch bei 37—38° C. statt. Was sich von
diesen sagen liess, lässt sich auch von ibnen sagen. Zunehmende
Wärme regt zuerst die Vermehrung, die Fortpflanzung an,
fördert, beschleunigt sie sodann; hat sie aber ein gewisses
Maximum, die sogenannte Brutwärme von 37—38° C., erreicht,
so hemmt sie zuvörderst die Vermehrung und, endlich auf 43 °C.
gekommen, hebt sie dieselbe vollständig auf.
Ähnlich liegt es mit dem Diphtheriebacillus. Seine etwaige
fer)
Si
Vermehrung fängt erst bei 18—20°C. an. Bei zunehmender
Wärme nimmt dieselbe zu; bei Brutwärme erreicht sie ihren
höchsten Grad. Dann zeigt sie sich gehemmt und bei einigen
40°C. endlich erloschen, aufgehoben. Globig*) ist bei seinen
Untersuchungen über Bacterium -Wachstum bei ;o bis 70°C.
auf ein Bakterium gestossen, dessen Vermehrung zwischen rund
ı5 und 68—70°C. vor sich ging, aber bei etwa 60° am schnell-
sten und üppigsten erfolgte. Von ı5 bis etwa 60°C. nahm die
Vermehrungsthätigkeit zu und erreichte da ihr Maximum; von
60—65— 70°C. nahm sie wieder ab und erlosch dann gänzlich.
Die fragliche Vermehrungsfähigkeit dehnte sich, so zu sagen,
über ein Temperaturgebiet von 55°C. aus, zeigte sich aber
gegen das Ende seiner Ausdehnung am energischsten. Dann
sind Globig aber auch wieder Bakterien begegnet, deren Ver-
mehrung nur innerhalb ı0"C. lag, erst bei 54°C. anfing und
nicht über 65°C. hinausging, aller Wahrscheinlichkeit nach je-
doch erst gegen diese letztere hin, bei 61—63°C., am kraft-
vollsten sich machte. Kurzum die Vermehrungfähigkeit der
Bakterien, soweit dieselbe von dem Einfluss der Wärme ab-
hängig ist, aber gleichgültig; sonst, ob jene höher sein muss oder
niedriger sein kann, zeigt ebenso wie ihre Beweglichkeit, dass
geringe Wärmemengen sie um ein Geringes, grössere Mengen
beide um ein Grösseres vermehren, dass verhältnismässig grrosse
Wärmemengen sie aber wieder herabsetzen, hemmen, und dass
verhältnismässig ganz grosse, grösste Mengen beide aufheben,
vernichten.
Durch Virchow ist gezeigt worden, dass Spermatozoen
ganz gleich den Wimpern der Flimmerepithelien, welche in Folge
von Ermüdung oder Wassereinwirkung zur Ruhe gekommen
waren, wieder in Bewegung gerathen, wenn verdünnte Alkalien
auf sie Einfluss gewinnen; und zwar lässt sich wieder nachweisen,
dass ein gewisser Prozentsatz der Lösung die Bewegung gerade
ins Leben ruft, sie anfacht, ein grösserer sie beschleunigt, fördert,
ein noch grösserer sie wieder mindert, hemmt, und ein abermals
vergrösserter sie aufhebt. Schwache Alkalien regen die Be-
wegung der Spermatozoen ebenso wie die Flimmerbewegung
an, starke vernichten sie. Ganz analog verhalten sich Lösungen
von Salpeter und Kochsalz und nach Engelmann auch Säuren,
*) Globig, Zeitschrift f. Hygiene v. Koch u. Flügge II. 1888 S. 295 u. ff.
5
Ber
Alkohol und Ather, nur dass die bezüglichen Wirkungen der
letzteren auf unendlich viel kleinere prozentische Lösungen der-
selben eintreten.
Wenn man einen Tropfen infusorienhaltiger Flüssigkeit, die
längere Zeit in einem kalten Raume gestanden hat, unter dem
Mikroskop beobachtet, so sieht man die verschiedenen Enchelys-,
Colpoda-, Trachelius-, Paramecium-Arten, die etwa vorhandenen
Rotatorien mehr oder minder zusammengezogen daliegen, nur
von Zeit zu Zeit flimmern oder auch verhältnismässig träge, kurz-
dauernde Bewegungen ausführen. Erwärmt sich die Flüssigkeit,
in welcher sich diese Wesen befinden, so werden die Bewegungen
derselben lebhafter, ausgiebiger. Das Flimmern ihrer Ober-
fläche nimmt zu, ihre Ortsveränderungen erfolgen rascher, jäher,
und bei einer Zimmertemperatur von 18—2o°C, kann das Alles
schon so bedeutend sein, dass die genauere Beobachtung der Einzel-
wesen dadurch eine sehr erhebliche Störung erfährt. Wird der
Objekttisch durch eine passende Flamme erwärmt, so nehmen die
beregten Bewegungen zu. Das genannte Flimmern wird stärker
und stärker, die Ortsveränderungen erfolgen häufiger und häufiger,
jäher und jäher. Colpoden und Paramecien insonders fahren
wie wild durch einander, schiessen hin und her, und in dem
Masse als die Temperatur des Objekttisches anwächst, wachsen
zunächst auch noch diese Erscheinungen an. Im Gesichtsfelde
des Mikroskopes findet eine wahre wilde Jagd statt. Dann auf
einmal, wenn die Temperatur des Objekttisches eine noch höhere
geworden ist, mässigen sich die genannten Bewegungser-
scheinungen. Die einzelnen Wesen kommen zur Ruhe, das eine
früher, das andere später, in grossem Ganzen doch zu gleicher
Zeit; sie ziehen sich zusammen, wimpern langsamer und langsamer,
werden zum Teil kugelig; einzelne machen noch eine Art krampf-
hafter Zuckungen; dann liegen sie starr und regungslos da, meist
um sich nie wieder zu bewegen. Ganz dieselben Vorgänge
bekommt man an ihnen zu sehen, wenn man auf sie mehr oder
minder differente Stoffe, kaustisches, beziehentlich kohlensaures
Natron oder Kali, Kochsalz, Salpeter, Essigsäure, Salzsäure,
Alkohol, Essigäther, Karminammoniak, einwirken lässt. Bringt
man diese Stoffe gelöst oder ungelöst an den Rand des Deck-
gläschens, so gewahrt man, dass in demselben Masse, als sie
sich der Flüssigkeit unter diesem letzteren beimischen, was die
67
farbigen Mittel besonders leicht festzustellen gestatten, die frag-
lichen Wesen unter demselben erst rascher und rascher mit ihrer
gesamten Masse sich bewegen, in eine wahre Hatz geraten,
dann langsamer und langsamer werden, blos noch wimpern und
endlich, nachdem sie jedoch vielfach erst noch einen Teil ihres
Inhalts entleert und eine vorübergehende Auflösung erfahren zu
haben scheinen, mehr oder weniger kugelig zusammengezogen
daliegen. Vorticellen erscheinen auf dieselben Wirkungen hin
erst unruhig; sie schwanken hin und her, wirbeln lebhafter, dann
ziehen sie häufiger und kraftvoller ihren Stiel zusammen und
lassen, nachdem das geschehen ist, denselben rasch wieder er-
schlaffen, so dass sie beinahe noch schneller, als sie sich zu-
sammenzogen, wieder emporschnellen. Danach jedoch werden
all diese Bewegungen langsamer und oberflächlicher; es findet
blos noch ein Wirbeln statt; es erlischt auch dieses Wirbeln;
die Wimpern stehen gerade aus; der ganze Körper ist wie auf-
gebläht. Endlich ziehen sich die Wesen als Ganze kugelig
zusammen, reissen dabei häufig vom Stiel, beziehentlich auch
blos vom halben Stiel ab, und erscheinen im letzteren Falle als
kugelige Körper mit einem schraubentörmigen Anhängsel. Eine
ein gewisses Mass nicht übersteigende Wärmezufuhr, eine ein
gewisses Mass nicht übersteigende Zufuhr von chemisch wirkenden
Stoffen, gleichgültis welcher Art, steigert die Beweglichkeit der
bezüglichen Wesen, fördert sie, erst mässig, dann stärker; über-
steigt die Wärmezufuhr, die Zufuhr an den bezüglichen Chemikalien
ein gewisses Mass, so wird die Beweglichkeit vermindert,
‚gehemmt, endlich aufgehoben und vernichtet.
Amöben, Flagellaten zeigen ganz dasselbe Verhalten. Die
untersuchten einschlägigen Wesen stammten aus der Nord- und
Ostsee, aus Süsswasser, aus Gartenerde und Myxomyceten-
sporen, welche in ein mit Wasser angefülltes Uhrglas aus-
gesät worden waren. Eine aus der Ostsee erhaltene, der Amöba
porrecta M. Schultze’s sehr ähnliche Amöbe zeigte bei der
Einwirkung von Kalilauge eine sehr merkwürdige Abänderung
in ihren Bewegungsverhältnissen. Die erwähnte Amoeba por-
recta ist ausgezeichnet durch ihre Anfangs lappigen, später sich
teilenden und endlich in lange feine Fäden weit hinaus er-
streckenden Pseudopodien. Sie ist der Amoeba radiosa Ehrenb.
ähnlich; aber die Pseudopodien dieser sind niemals in so lange,
5*
68
feine, nadelähnliche Spitzen ausgezogen, sondern, wenn auch
spitz, so doch mehr keilförmig mit verhältnismässig breiter
Basis. Der Amoeba radiosa Ehrenb. nicht unähnlich ist die
Amoeba verrucosa Ehrenb. Dieselbe aber hat in ihrer charak-
teristischsten Form sehr viel kürzere, mehr abgerundete Pseudo-
podien und nähert sich damit der Amöba guttula Perty’s, deren
Pseudopodien wie Tropfen aus ihrem Leibe hervorquellen und den-
selben auf grössere oder kleinere Strecken, indessen immer nur
wenig sich ausbreitend, umfliessen, beziehungsweise randartig um-
geben. Die besagte Am. porrecta gelangte in Seewasser zu
meiner Beobachtung. Sie sandte langsam ihre langen nadel-
förmigen Pseudopodien aus breiten Ursprungslappen aus, zog
sie wieder ein, sandte sie wieder aus und vollzog dies wech-
'selnde Spiel mit anscheinend stets gleicher Kraft. Da setzte ich
dem Seewasser etwas Kalilauge zu. Die Amoebe fing an, ihre
Pseudopodien rascher und anscheinend stärker zu bewegen. Sie
zog dieselben rascher ein, streckte sie rascher wieder aus, allein
nicht mehr bis zu der vorigen Länge und als dünne, feine Fäden oder
Nadeln, sondern in den kürzeren und mehr keilförmigen Zipfeln,
welche die Am. radiosa auszeichnen. Nachdem ich dann noch
etwas Kalilauge der Präparatflüssigkeit zugesetzt hatte, ver-
ringerte sich wieder die Beweglichkeit der Pseudopodien. Die-
selben wurden nicht mehr so rasch vorgeschoben und zurück-
gezogen wie bisher; sie wurden auch nicht mehr so weit und
so spitz vorgeschoben, sondern blieben kürzer und stumpfer,
mehr abgerundet. Nachdem ich dann abermals etwas Kalilauge
zugesetzt hatte, wurden die Pseudopodien noch langsamer und
noch weniger weit vorgeschoben; sie traten als kleine Buckel,
Tropfen hervor, die sich dicht um den Rand des Leibes hin-
zogen, ihn blos säumend, und endlich hörte das Pseudopodien-
spiel ganz auf. Die Amöbe lag zu einer Kugel zusammengezogen,
wohl totenstarr, da. Die sich mässig rasch bewegende Amoeba
porrecta hatte durch wenig Kalilauge sich in eine sich schneller
bewegende Am. radiosa, durch etwas mehr Kalilauge in eine
sich wieder langsamer bewegende Am. verrucosa, durch noch
mehr der Lauge in eine träge Am. guttula verwandelt, endlich
ihre Wandlungen eingestellt, weil ihre Bewegungsfähigkeit auf-
gehoben war.
Solche und ähnliche Beobachtungen hat auch Czerny ge-
69
macht. Derselbe fand nämlich, dass die von ihm in einer Koch-
salzlösung gezüchteten Amöben ihre Art sich zu bewegen änder-
ten, wenn durch Verdunstung oder Zusatz von Wasser die be-
treffende Kochsalzlösung stärker oder schwächer wurde. Amöben
von dem Charakter der Am. diffluens Ehrenb., welche ihren
Namen davon hat, dass sie zeitweise ganz zu zerfliessen scheint,
nahmen den Charakter der Am. verrucosa an, wenn die Lösung durch
Verdunstung stärker wurde; diese aber nahmen wieder den Cha-
rakter der Am. radiosa an, sobald die fragliche Lösung durch Zusatz
von Wasser verdünnt und damit schwächer geworden war. Bei an-
deren Amöben salı er, dass nach Zusatz von Kochsalz zu der sie
enthaltenden Flüssigkeit sich die Pseudopodien verlängerten und
in ungleich lebhaftere, z. T. spiralige Bewegungen übergingen.
Czerny hat also auch wahrgenommen, dass eine gewisse Reiz-
zunahme die Bewegungsfähigkeit beschleunigt, eine stärkere ver-
mindert, dass diese aber wieder abgeschwächt jene, nämlich die
Bewegungsfähigkeit, auch wieder erhöht. Aus einer Am. diffluens
wurde durch zu viel Salzzusatz in Folge der Verdunstung des
Wassers eine Am. verrucosa, und als der betreffende Salzgehalt
durch Zusatz von Wasser verringert wurde, ein Am. radiosa,
von denen beiden, wie oben mitgetheilt worden, die erstere sich
langsamer, die letztere etwas rascher bewegt.
Den Amöben sehr ähnlich und bis zu einem gewissen Grade
gleiche Körper sind die weissen Blutkörperchen, die Lymph-,
Eiter-, wandernden Bindegewebskörperchen, welche bekanntlich
alle zusammengehören und, wenn auch nicht gerade ein und
dasselbe sind, so sich doch gewiss in mannigfacher Weise ver-
treten und ersetzen können. Werden nun weisse Blutkörperchen
oder Eiterkörperchen des Menschen, die am leichtesten zu haben
sind, in einer möglichst indifferenten Flüssigkeit, Serum, Jod-
serum, physiologischer Kochsalzlösung, unter dem Mikroskop
auf einem heizbaren Objekttische untersucht, so wird man bei
gewöhnlicher Zimmertemperatur, solcher von 18—20°C., kaum
irgend welche Bewegungserscheinungen zu Gesicht bekommen.
Erst wenn die Temperatur über 20°C. steigt, bemerkt man bei
anhaltender Aufmerksamkeit sich langsam vollziehende ober-
flächliche Formänderungen an ihnen. Dieselben werden zwar
mit zunehmender Temperatur immer deutlicher; allein erst wenn
die letzere 33°C. überschritten hat, werden sie so bedeutend
70
dass sie auch zu Ortsveränderung führen. Doch sind diese
letzteren zunächst noch geringfügig. Erst jenseits 35°C. nehmen
dieselben, mögen sie auch immer noch sehr träge erfolgen, einen
unverkennbar amöboiden Charakter an. Es werden, wenn auch
kurze, knopfförmige, so doch wohl gekennzeichnete Pseudo-
podien vorgestreckt und an ihnen, nachdem dieselben grösser
und grösser geworden sind, zieht sich das bezügliche Körper-
chen wie an einem ausgeworfenen Ankertau langsam vorwärts.
Bei 37—38°C. werden diese Bewegungen lebhafter. Die knopf-
förmigen Pseudopodien werden zu langen fädenförmigen, die
sich vielfach verästeln, mit den Verästelungen benachbarter zu-
sammenfliessen und dadurch Plaques, Flecken, bilden, auf die
sich danach die Körperchen hinziehen. Zwischen 33—40°C. geht
das Alles noch lebhafter vor sich. Die fraglichen Pseudopodien
und ihre Verästelungen und Verbindungen entwickeln sich zu
einer verhältnismässig grossen Länge; die Körperchen ziehen
sich an ihnen ebenfalls verhältnismässig rasch fort und kommen
so-auch verhältnismässig rasch vorwärts. Nach 40°C. lassen
dagegen die Bewegungen an Grösse und Energie wieder nach.
Doch sind dieselben bei 47—48° C. noch immer ganz ansehnlich.
Dann aber werden sie langsam, träge, und endlich hören sie auf.
Bei 50o—zı°C. dürften die weissen Blutkörperchen nach M.
Schultze ihre Widerstandsfähigkeit gegen höhere Tempera-
turen verlieren, und das entspricht dem, was wir durch
W.Kühne über die wandernden Bindegewebskörperchen wissen:
bei 50— 52°C. starben die betreffenden Körperchen ihm ab.
Die weissen Blutkörperchen, Eiterkörperchen und ihre Ver-
wandten, zumal die von mir vorzugsweise untersuchten des
Menschen, sind sehr empfindliche Wesen. Der leise Druck schon,
den. ein auf der sie enthaltenden Flüssigkeit halb schwimmendes
Deckgläschen auf sie ausübt, lähmt sie. Die bezüglichen Deck-
gläschen müssen, um den besagten Druck hintan zu halten, mit
Leisten oder Füsschen von Wachs, Staniol u. dgl. m. versehen
sein. Ebenso beeinflusst sie auch schon die wachsende Dichtig-
keit des sie enthaltenden Serums ganz ausserordentlich. Wenn
nicht besondere Schutzmassregeln getroffen sind, so verdunstet
an den Rändern des Deckgläschens fortwährend etwas von ihm,
und es selbst wird dadurch dichter, zäher. So wie sich das
nun geltend macht, verändern die in Rede stehenden weissen
2a:
Blutkörperchen, Eiterkörperchen ihre Bewegungsformen, obgleich
Temperatur, Licht und sonstige Verhältnisse unverändert geblieben
sind. Auf kurze Zeit werden dieselben gefördert. Die Pseudo-
podienänderung wird lebhafter; die Pseudopodien selbst werden
länger; die Körperchen ziehen ihnen schneller nach; allein bald
werden alle Bewegungen langsanger, träger, weniger ausge-
sprochen. Die in Betracht kommenden Pseudopodien erscheinen
dann dicker und umfänglicher, werden langsamer und weniger
weit vorgestreckt; langsamer schleppt sich -das übrige Körper-
chen ihnen nach. Wird das Serum durch Verdunstung noch
dichter, so werden die beregten Bewegungen noch langsamer,
noch träger, noch weniger ausgiebig. Die Pseudopodien werden
in Knopf- oder Tropfenform und dem entsprechend natürlich
nur auf ganz kurze Entfernungen hervorgestreckt; die ganze
Körpermasse wölbt sich wohl auch einmal gleichzeitig, wie ein
Buckel, hervor und das Alles geht so langsam, ich möchte
sagen, so bedächtig vor sich, dass man sich Zeit und Mühe
nicht verdriessen lassen darf, um es ordentlich zu sehen.
Schreitet die Verdunstung und mit ihr die Verdichtung des
Serums noch weiter fort, so kommen nur noch Ausbuchtungen
der betreffenden Körperchen zu Stande und endlich bleiben
auch diese aus. Die Körperchen runden sich ab, nehmen mehr
oder weniger deutliche Kugelform an. Verhielten sich somit
die Körperchen zuerst bis zu einem gewissen Grade einer Am.
porrecta nicht unähnlich, so wurden sie danach zu einer Art
Am. verrucosa, dann zu einer Art Am. guttula und endlich zu
dem runden Körper, den auch die Am. porrecta aus der Öst-
see bildete, nachdem sie mit zu viel Kalilauge behandelt worden
war. Wird nun das verdickte Serum wieder verdünnt, so be-
kommen wir, wie zuerst Thoma berichtet hat, die nämlichen
Erscheinungen in umgekehrter Reihe zu sehen. Ist aber das
Stadium erreicht, in welchem sich die weissen Blut- und Eiter-
körperchen einer Am. porrecta ähnlich verhalten, und es wird
nicht mit der Verdünnung des Serums aufgehört, so werden die
einschlägigen Bewegungen bald wieder gehemmt. i Die Körper-
chen werden gleichsam gelähmt, quellen auf, lösen sich auf; die
sie mehr oder weniger erfüllenden Elementarkörperchen gerathen:
dafür, jedes für sich, in eine immer lebhafter werdende Be-
wegung; sie werden endlich frei und führen für eine längere
oder kürzere Zeit ein eigenes Leben besonderer Art.
An den Speichelkörperchen hat Brücke schon vor drei
Jahrzehnten etwas ganz Ähnliches beobachtet. Es ist daran ge-
legentlich schon in dem einleitenden Artikel Leben und Lebens-
äusserungen S. 28 erinnert worden.
Dass auch die roten Blutkörperchen eigener Bewegungen fähig
sind, darf als eine wohl bewiesene Thatsache gelten. Die roten Blut-
körperchen des gesunden Menschen lassen, wie zuerst M. Schultze
nachgewiesen hat, eine Contractilität unter gewöhnlichen Verhält-
nissen indessen nur schwer erkennen; werden sie dagegen auf einem
heizbaren Objekttisch untersucht, so zeigen sie, wie ich fand, schon
bei45°C.,*) wieM.Schultze fand, bei 50°C. deutlich amöboide und
damit ortsverändernde Bewegungen. Bei 50—52°C. fangen sie an,
längere Fortsätze zu treiben, die bei Steigerung der Wärme oft eine
bedeutende Länge erreichen und mehr oder minder deutliche
Schlangenbewegungen machen. Anden Fäden steigen Teilchen der
übrigen Blutkörperchenmasse in Kügelchen- oder Tröpfchenform
in die Höhe; es kommt zu einer übermässigen Expansion und
daraufhin selbst zur Zerbröckelung und zum Zerfall der Körperchen.
Nähert sich die fragliche Temperatur 537—58°C., so ziehen die
Blutkörperchendie Fortsätze mitsamt den ihnen anhängenden Kügel-
chen und Tröpfchen wieder ein; ihre sonstigen amöboiden Bewe-
gungen werden langsamer und langsamer, zugleich oberflächlicher
und oberflächlicher, und noch weiter, bis zu 60° C. erwärmt,
nehmen sie Kugelgestalt an und bilden keine wechselnde Form
mehr. In einer Wärme darüber hinaus sterben sie ab.
Wird ein Blutstropfen eines gesunden Menschen unter
dem Mikroskop mit Harnstoff behandelt, indem man Krystalle
desselben an den Rand des Deckgläschen legt und sie daselbst in
dem sie berührenden Teile der Blutflüssigkeit schmelzen lässt,
so zeigen die Blutkörperchen dieser letzteren ein verschiedenes
Verhalten und zwar ganz nach dem Masse, dass sie von jenem
beeinflusst werden. Sie werden zuvörderst alle blasser, dabei
kleiner und runder und deutlich amöboid. Fortwährend wechseln
sie ihre Form. Hier treiben sie Höcker, dort buchten sie sich
aus; in der einen Richtung spitzen sie sich zu; in der anderen
verdicken sie sich, indem sie wie kolbig anschwellen. Bei vielen
gleitet eine Art Wellenbewegung über ihre Oberfläche hin.
*) Siehe Beobachtungen an roten Blutkörperchen der Wirbeltiere. Virchow’s
Arch. für pathol. Anat. u.s. w. Bd. 78, 1879. S. 17.
73
Sodann, wo der Harnstoff bereits stärker eingewirkt hat, ver-
kleinern sie sich noch mehr und bedecken sich vielfach mit
Spitzen und Zacken, die eine sehr verschiedene Länge haben
und bald sich zu strecken, bald sich zu verkürzen scheinen.
Geschieht letzteres, so werden dieselben öfter wie geknöpft. Die be-
züuglichen Knöpfchen können sich verlieren, indem sie in die
Hauptmasse der jeweiligen Blutkörperchen zurücksinken; sie
können aber auch abfallen, und das betreffende Blutkörperchen
zerbröckelt und zerfällt damit. Bei noch stärkerer Einwirkung
des Harnstoffes verkleinern sich die Blutkörperchen noch mehr;
sie erscheinen als vollkommen runde, blasse, graue Scheiben,
die sehr bald regungslos daliesgen und nicht selten ein ge-
schrumpftes Aussehen an den Tag legen.
Die geschilderten Vorgänge und Zustände an gesunden
rothen Blutkörperchen des Menschen, welche sich unter ent-
sprechenden Verhältnissen an den roten Blutkörperchen sämt-
licher Wirbeltiere, der Säuger, Vögel, Reptilien, Amphibien
und Fische, zeigen, treten in viel schärferer Weise und unter
dem Einfluss viel weniger eingreifender Mittel an solchen her-
vor, welche in krankhafter Weise beeinflusst worden sind und
dadurch eine Schwächung ihres Bestandes erfahren haben. Die
roten Blutkörperchen fiebernder Menschen fand schon M.
Schultze von erhöhter Contractilität. Rommelaere beobach-
tete sodann, dass dieselben zu leichten amöboiden Bewegungen
auch schon bei einer Zimmertemperatur von 15—20°C. geneigt
seien, und ich habe danach feststellen können, dass die roten
Blutkörperchen von Typhuskranken, deren Körpertemperatur
39, bis 40,0°C. erlangt hatte, ebenfalls schon bei einer Zimmer-
temperatur von ı5—20° C. all’ die lebhaften Bewegungen zu
‚erkennen gaben, welche gesunde, d. h. solche von gesunden
Menschen, erst bei einigen 50°C. zur Erscheinung kommen lassen.
Dasselbe zeigt sich bei den roten Blutkörperchen aus Extravasat-
blut. W. Preyer, welcher die ersten einschlägigen Beobach-
tungen gemacht hat, erklärt die absonderlichen Formen, welche
solche Körperchen annehmen, für ganz gleich denen, die auch
in mit Harnstoff behandeltem Blute vorkommen, .und ich habe
dem immer nur beistimmen können. Die bezüglichen Extra-
vasate müssen aber bei Fröschen z. B. mindestens 6—3 Tage
alt sein, wenn die roten Blutkörperchen in ihnen die fraglichen
74
Bewegungen in charakteristiischer Form zeigen sollen. Sind die
Extravasate erheblich älter, so erscheinen die Blutkörperchen
wieder weniger beweglich, oder regungslos, zum Teil wirklich
tot und in Zerfall.
Die roten Blutkörperchen also, welche contractil und darum
bewegungsfähig sind, zeigen unter gewöhnlichen Verhältnissen
diese Eigenschaften nur ın geringem Masse, gleichsam nur ange-
deutet; unter besonderen Umständen lassen sie dieselben jedoch
in ganz ausgezeichneter Weise zu Tage treten. Werden die
roten Blutkörperchen des Menschen erwärmt, so werden sie
zwischen 45—50° C. amöboid. Zwischen 50—55° C. steigt
die diesem amöboiden Wesen zu Grunde liegende Beweglichkeit;
die Blutkörperchen treiben lange Sprossen, zerfallen dabei.
Zwischen 55—60° C. beschränkt sich wieder mehr und mehr
ihre Beweglichkeit; sie werden regungslos starr; Wärmestarre
befällt sie, und um 60° C. herum sterben sie ab. Eine gewisse,,
verhältnismässig geringe Wärme facht ihre grössere, . ortsver-
ändernde Bewegungsfähigkeit an, eine stärkere vermehrt, steigert,
fördert dieselbe; eine noch stärkere, um den Ausdruck zu ge-
brauchen, eine starke Wärme beschränkt diese Fähigkeit wieder,
hemmt sie, und eine noch stärkere, in Ansehung der Verhältnisse
gewissermassen stärkste, hebt sie ganz auf, vernichtet sie. Das-
selbe zeigt sich in Folge der Einwirkung des Harnstoffes. Kleine:
Mengen oder schwache Lösungen desselben regen die Form- -
veränderungen der roten Blutkörperchen an; etwas grössere:
Mengen oder stärkere Lösungen davon vermehren, verstärken,,
beziehentlich fördern die besagten Formveränderungen; noch.
grössere Mengen aber, was dasselbe besagt, starke Lösungen.
des Harnstoffes beschränken, mässigen, d. h. hemmen sie wieder,
und verhältnismässig grösste Mengen oder stärkste Lösungen von
Harnstoff heben sie. ganz auf. Sind die roten Blutkörperchen!
geschwächt, weil in ihrer Ernährung beeinträchtigt, krank, wie z.B.
durch fieberhafte Zustände der Personen, von denen sie stammen,
oder durch den Ausschluss aus dem Kreislauf und des Teilnahme
an der Oxydation, wie in Extravasaten, so treten alle die geschil-
derten Bewegungen und Veränderungen in denselben schon früher‘
auf, bei einer Zimmertemperatur von 18—20°C. oder einer nur ge-
ringen Steigerung derselben. Beiläufig gesagt: das Erregungsge-
setz des ermüdeten, des kranken und absterbenden Nerven macht:
75
sich geltend, das eben darin besteht, dass alle Erscheinungen
des Erregungsgesetzes des gesunden Nerven sich früher als ge-
wöhnlich und damit auch wie verfrüht, beschleunigt, krampfhaft,
einstellen.
Kurzum wir sehen überall in der Welt der Elementarorga-
nismen das biologische Grundgesetz sich geltend machen, das
eine Mal deutlicher, das andere Mal weniger deutlich, hier früher
dort später, aber allenthalben in derselben Weise. Ueberall
zeigt sich: Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel-
starke fördern sie, starke hemmen sie und stärkste heben sie
auf, aber durchaus, ich möchte schon hier sagen, individuell ıst,
was sich als einen schwachen, einen mittelstarken, einen starken
oder sogenannten stärksten Reiz wirksam zeigt.
76
2
Der gehaubte Kanarienvogel,
die Möwechen-, Perrücken- und Pfauentaube
und das biologische Grundgesetz.
Es ist Jedermann bekannt, dass es gehaubte Kanarienvögel
giebt, und dass die Nachkommenschaft derselben häufig Kahl-
köpfigkeit zeigt. In Betreff ıhrer Züchtung sagt Rusz*): „Die Tolle
des Zuchtvogels muss federweich und gleichmässig aufgerichtet,
nicht aber an einer Seite niedergedrückt oder in der Mitte und am
Genick dünn und kahl sein, sonst bekommen die Jungen zuweilen
halb oder ganz kahle Köpfe. Ebenso soll man nicht zwei Ge-
haubte paaren; weil sie nur selten schöne Vögel, sondern meistens
blos kahlköpfige erzeugen. Doch haben die Züchter schon
mehrmals abweichende Erfahrungen gemacht und z. B. von
einem schön gehaubten Männchen und fehlerhaft gehaubten
Weibchen gleicherweise wie von gut gehaubten Paaren prächtige
Haubenvögel, allerdings neben einigen fehlerhaften mit kahlen
Stellen, gezüchtet.“
Das Wesentliche davon ist, dass gehaubte Kanarienvögel,
also solche mit stärker entwickelten Kopffedern, in ihrer Nach-
kommenschaft häufig kahlköpfige zeigen, nur dass dies um so
sicherer der Fall ist, wenn die fragliche stärkere Entwickelung
der Kopffedern ı. an beiden Eltern sich findet, also wenn beide
Eltern gehaubt sind, und wenn 2. die gedachte Haube, findet
sie sich auch nur bei einem Teile der Eltern, nicht ganz regel-
mässig gebildet ist; wenn die Federn derselben nicht weich und
gleichmässig aufgerichtet, sondern mehr hart, struppig und durch
einander gedreht erscheinen, oder gar wenn etliche derselben fehlen
und dadurch zu kahlen Stellen Veranlassung gegeben haben.
*) C. Rusz. Der Kanarienvogel. Magdeburg 1885. S. ı1ı2.
17
Wie kommt das? So viel ich weiss, haben bisher nur zwei
Biologen das Vorkommnis zu erklären gesucht, Darwin und
Hensen. Beide nehmen an, dass die Kahlköpfigkeit der Nach-
kommen gehaubter Kanarienvögel die Folge accumulativer
Wirkung bei der Vererbung sei. Jener sagt, die Federn in
den Hauben der bezüglichen Vögel stehen weniger dicht als
normal, fehlen selbst hie und da, so dass kahle Stellen in ihnen
vorkommen. Die ausgesprochene Kahlköpfigkeit der Nachkommen
gehaubter Kanarienvögel sei damit nur die Erbschaft der ange-
deuteten Kahlköpfigkeit ihrer Eltern mit weiterer Entwickelung der-
selben. Dieser, Hensen, führt die Angelegenheit auf eine Wirbel-
bildung zurück. Die Haube der Vögel komme dadurch zu Stande,
dass die Federn von dem Scheitel aus nach allen Seiten fortbiegen,
dass also ein Wirbel entstehe. Sei nun auch noch die Neigung
vorhanden, einen ausgesprochenen Wirbel zu bilden, und ver-
stärke sich diese Neigung, so rücken die Federn weiter auseinander
und es komme zu Kahlheit. Nach beiden Biologen ist also die
Haube der Kanarienvögel mit einer gewissen Federarmut, einer
verhältnismässigen Kahlheit des Kopfes verbunden. Werden zwei
sehaubte Vögel gepaart, so vererbt sich mit der Neigung zur
Haube auch die zur Kahlköpfigkeit, allein vor dieser kann jene
nicht zur Ausbildung gelangen; sie kommt in Wegfall und
die Kahlköpfigkeit zur Herrschaft. Es ist das wie mit der Erb-
schaft von allen Tugenden und Fehlern, von allen Vorzügen und
Schwächen. Sowohl diese wie jene werden von den Vorfahren
ererbt, oft in verstärktem Masse; aber die Fehler und Schwächen
lassen die Tugenden und Vorzüge nicht in gehöriger Weise zur
Geltung kommen, überwuchern und erdrücken sie damit gleich-
sam und richten so früher oder später die ganzen Individuen
zu Grunde, obgleich diese auf ihre Tugenden und Vorzüge hin
alles Zeug besassen, etwas Tüchtiges zu werden und zu leisten.
Indessen ganz so liegen die Sachen doch nicht; namentlich die
Wirbelbildung seitens der Federn, durch die Alles erklärt
werden soll, bedarf der Richtigstellung. Dass viele Hauben-
bildungen der Vögel dadurch zu Stande kommen, dass die
Federn der letzteren am Scheitel nach allen Richtungen ab-
biegen, mag bis zu einem gewissen Grade richtig sein; die
Hauben der Hühner, der Enten scheinen dafür zu sprechen;
allein dass den Hauben anderer, und zu diesen gehören die
78
der Kanarienvögel, sowie der Tauben, keine Wirbelbildung zu
Grunde liegt, das darf als sicher angenommen werden. Bei den
Kanarienvögeln geht mit der Haubenbildung allenfalls eine
Scheitelbildung Hand in Hand; bei den Tauben fehlt aber auch
diese in der Regel. Das, worauf es indessen in jedem Falle an-
kommt, ist eine Vergrösserung der bezüglichen Federn. Die
Federn des Kopfes, insbesondere des Hinterkopfes müssen hyper-
trophieren, müssen dabei mehr oder weniger paratrophieren, wenn
sich eine Haube bilden soll, und daraus erklärt sich Alles.
Das Erste, was man nun bei einer Haubenbildung der
Kanarienvögel gewahrt, ist, dass die Kopffedern sich zum Teil
vergrössern, zum Teil anders gestalten. Jenes trifft vornehmlich
die Federn um den Schnabel, den Hinterkopf; dieses zeigt sich
bei fast allen Kopffedern.
Beim ungehaubten, gewöhnlichen Kanarienvogel sind die
Federn um den Schnabel herum ausserordentlich klein. Den
Schnabel unmittelbar umgeben nur kurze, borstenähnliche Gebilde.
Dieselben sind der Ausdruck in der Haut sitzen gebliebener
oder die Haut nur wenig überragender, fahnenloser Kiele.
Demnächst folgen etwas längere Kiele mit kurzen, wie verküm-
merten, rudimentären Fahnen, und nach diesen erst kommen wohl-
ausgebildete, mehr oder weniger rundlich-eiförmige Federn, welche
den Kopf wie den ganzen Körper flach wie Dachziegeln, mit einer
leichten Richtung nach aussen, bedecken. In der Nähe des Schnabels
sind diese Federn auch noch sehr klein, kaum ı mmtr. lang und
0,75—0,80—0,90 mmtr. breit; nach dem Scheitel, dem Hinterkopf
hin sich jedoch rasch vergrössernd messen sie an diesem selbst
etwa ı cmtr. in der Länge und wieder ‚75—0,80—0,90 cmtr. in
der Breite. Die einzelnen Federn erscheinen weich, leicht nach
unten gekrümmt, ihr Schaft dünn, namentlich der Kiel saftig
glänzend. Die Fahne ist bis etwas über die Mitte flaumweich,
darüber hinaus starrer. Dort ist sie weiss oder grau, hier gelb
oder gelbgrau, grünlich oder schwärzlich gefärbt. Die Strahlen
der Fahne sind lang, die mittleren die längsten, etwa halb so
lang wie der Schaft, manchmal wohl auch noch länger. Da sie
aber nicht wagerecht abstehen, sondern empor streben, so wird
dadurch in Verbindung mit den gegenseitigen Strahlen die Feder
nie breiter als lang. Die untersten Strahlen stehen noch am
meisten wagerecht ab, die mittleren nur unter einem Winkel
793
von 45°; die dann folgenden nähern sich immer mehr der
Richtung des Schaftes, und die obersten liegen diesem selbst
dicht an. Jeder Strahl ist gut gesondert und zumal die unter-
sten weich und flatterig. Ihre Fäserchen verhalten sich ent-
sprechend. An den untersten Strahlen sind sie lang und dünn,
an den mittleren etwas kürzer, und an den oberen und ober-
sten, am meisten genäherten, am kürzesten.
Beim gehaubten Kanarienvogel nun mit schöner, gleich-
mässiger, den ganzen Kopf bedeckender, fehlerloser Haube, die
offenbar blos das Anfangsstadium der Haubenbildung überhaupt
darstellt, haben sich die blossen, wenigstens dem Anscheine
nach, blossen, kurzen Kiele sowie etwaigen borstenähnlichen Ge-
bilde dicht um den Schnabel herum vergrössert. Sie sind länger
geworden und zeigen den Ansatz zu einer Fahne, tragen rudi-
mentäre Fahnen wie beim haubenlosen gewöhnlichen Kanarien-
vogel die Federgebilde der nächst folgenden Zone. Der mittlere,
die Stirn einnehmende Teil der darauf folgenden, kleinen, kaum
mmtrlangen, flach niederliegenden Federn hat sich vergrössert,
aufgerichtet, nach vorn über die Schnabelwurzel, also nach oben
gekrümmt. Etwas Ähnliches zeigen die sodann folgenden, den
Scheitel und Hinterkopf besetzenden Federn. Auch sie scheinen
sich vergrössert und dabei wenigstens die Neigung angenommen
zu haben, sich aufzurichten, d. i. mehr als gewöhnlich aufrecht
zu stehen. Indessen die Vergrösserung ist wohl nur scheinbar.
Ob die bezüglichen Federn länger geworden sind, lasse ich
dahingestellt sein; breiter sind sie jedenfalls nicht geworden,
sondern im Gegenteil, auffallend viel schmäler. Aber ganz so
wie die die Stirn bedeckenden sind sie entschieden derber,
starrer, steifer geworden. Ihr Schaft lässt das noch weniger
erkennen; doch auffallend zeigen es die Strahlen desselben und
80
namentlich deren Fäserchen. Die Strahlen selbst erscheinen sämt-
lich dicker. An die Stelle der untersten, weichen und flattrigen,
fast horizontal abstehenden sind mehr harte, steife, unter einem
Winkel von vielleicht 45° nach oben strebende getreten. Die
mittleren Strahlen treten bereits unter einem sehr spitzen Winkel
von vielleicht 30—25° ab, und die obersten liegen dem Schafte
alle ziemlich dicht an. Die Feder hat sich zusammengezogen;
dabei haben die Fäserchen der Strahlen dasselbe Schicksal
wie diese selbst erfahren. Sie sind auch steifer, starrer ge-
worden, liegen dem Strahl mehr an; aus Fädchen, die sie sonst
darstellen, sind eine Art Stacheln geworden, welche der Ober-
fläche der Strahlen anhaften.
Bei diesem Derber- und zum Teil auch Grösser-Werden
der Federn hat sich die Richtung derselben auch mehr oder
weniger geändert. Die Stirnfedern haben sich nach vorn ge-
krümmt, fallen auf die Schnabelwurzel; die Scheitelfedern haben
ihre leichte Richtung nach aussen verstärkt. Dadurch entsteht
zwischen den beiderseitigen Scheitelfedern eine Furche, ein
Scheitel, und zwischen ihnen und den Stirnfedern ein trichter-
förmiger Raum, ein Wirbel, von dem der besagte Scheitel seinen
Anfang nach hinten nimmt. Der Wirbel ist aber nur selten eine
wirklich kahle Stelle. Häufig stehen an ihm, beziehentlich auf
ihm ein Paar Federn, die, weil sie gleichsam nicht wussten,
wohin sie sich wenden sollten, senkrecht in die Höhe ragen.
Der besagten Haube, beziehentlich Haubenbildung liegt dem
Allen nach eine Hypertrophie der Kopffedern zu Grunde, eine
Hypertrophie, bei welcher sich schon ein paratrophisches Mo-
ment geltend macht wie bei den Säugetieren, zumal dem Men-
schen bei der Hypertrophie der Haare und Nägel, die, während
sie in Folge hypertrophischer Vorgänge an Dicke zunehmen,
8l
gleichzeitig in Folge paratrophischer Zustände spröder und
brüchiger werden als normal.
Bei einer weiteren Entwickelung der fraglichen Haube er-
scheinen die Stirnfedern zunächst noch ziemlich unverändert.
Zwar machen sie einen etwas steiferen, struppigeren Eindruck;
doch lässt sich eine augenfällige Ursache dafür nicht recht nach-
weisen. Bei den Scheitel- und Hinterkopffedern, die ebenfalls
steifer und struppiger geworden sind und deshalb mehr in die
Höhe stehen, als sie es im Anfangsstadium der Haubenbildung
zu thun pflegen, findet sich jedoch als Grund dafür, dass sich
dieselben noch mehr zusammengezogen haben als im vorigen
Stadium, so dass ihre Breite sich zu ihrer Länge nur wie
1:3,:4: 5 verhält, und dass sie selbst demgemäss teilweise
sehr schmal und mehr oder minder nach einer Seite sichelförmig
gebogen erscheinen. Als Grund hierfür wieder zeigt sich, dass ihre
Strahlen, die etwas kürzer geworden zu sein scheinen, noch
steiler in die Höhe steigen als vordem, unter Winkeln von 20°,
ı0° und darunter, und dass sie darum ganz dicht sowohl unter
einander als auch dem Schaft anliegen. Die zweite und nament-
lich die dritte Fig. auf S. So werden das versinnbildlichen.
Ein gleiches Schicksal haben auch die Fäserchen der Strahlen
erfahren. Auch sie sind kürzer geworden und liegen dem Strahl
beziehentlich der Strahlrippe so dicht an, dass sie selbst bei
starker Lupenvergrösserung zu fehlen scheinen. Sie fehlen wohl
auch wirklich einmal. Das ganze Verhalten der Federn deutet
auf einen herabgesetzten Ernährungsvorgang, beziehungsweise
Ernährungszustand in ihnen, auf eine Hypotrophie, die sie
befallen hat, und zwar eine solche, bei der sich auch ein para-
trophisches Moment geltend macht, ähnlich wie bei dem alternden
Haar, das, während es dünner und dünner wird, sein Pigment
verliert und an seiner Elastizität Einbusse erleidet. Während
also die Stirnfedern, vielleicht auch noch die ersten Scheitelfedern
sich noch stark hypertrophisch erweisen, sind die der hinteren
Scheitelgegend und des Hinterkopfes bereits einer Hypotrophie
verfallen. Denn jede Hypertrophie geht nach längerem oder
kürzerem Bestande in eine Hypotrophie und durch diese
endlich in eine Atrophie über, und zeigt sich das nicht an einem
einzigen Individuum, so doch um so sicherer in einer
durch Abstammung verbundenen Individuenreihe, welche in dem
6
82
Verhältnis von Vater, Sohn, Enkel, Urenkel u. s. w. steht.
Die Züchtung und Geartung sowie die Verwilderung und Ent-
artung beruhen darauf.
Wo die Hypotrophie der Scheitel- und Hinterkopffedern in
unseren Fällen schon eine vorgeschrittenere ist, da zeigt der
Hinterkopf auch schon einen Mangel an Federn und in Folge
dessen eine bald mehr bald minder grosse kahle Stelle. An
derselben befinden sich öfters zerstreute, verkümmerte Federn;
öfters indessen ist sie auch ganz kahl. Die fragliche Hypotrophie
hat zugenommen, ist an den ganz kahlen Stellen in Atrophie
übergegangen. In einem späteren beziehentlich weiter vorge-
schrittenen Stadium des ganzen Vorganges finden sich auch
kleinere oder grössere kahle Stellen auf der hinteren Scheitel-
gegend ein; sie fliessen unter sich und mit der am Hinterkopfe
zusammen und bilden eine einzige mitunter recht ansehnliche kahle
Platte, welche gelegentlich bis tief in den Nacken, beziehungsweise
bis auf den Hals hinabreichen kann. Wo die kahle Platte in so
ausgedehnter Weise angetroffen wird, da sind nicht selten die ihr
benachbarten Kopf- und Halsfedern, also die der Backen und
des Halses in der von den eigentlichen Kopffedern mitgeteilten
Weise verändert und zumal hypertrophiert. Dadurch entsteht
denn aber eine Art steifer Kragen, welcher sich bis nach der
Brust hin erstreckt und besonders bei lebhafteren Bewegungen
des Vogels deutlich hervortritt. Im Folgenden werden wir bei
einer ähnlichen Angelegenheit auf ein ganz gleiches Verhalten
der betreffenden Federn zurückkommen. Hier genüge diese
kurze Bemerkung. Bei Darwin*) finde ich, dass an solchen weit-
gehenden kahlenPlattenauch wunde Stellenbeobachtet wordensind.
Die berührte Atrophie würde in den entsprechenden Fällen sich
nicht blos auf die Federn, sondern auch auf die übrige Epidermis
ausgedehnt haben und vielleicht in Beziehung gebracht werden
können zu der Widerstandslosigkeit der Epidermis und ihrer
Gebilde, wie sie der Skrophulose des Menschen allem Anscheine
nach zu Grundeliegt. Doch sehen wir im Augenblicke davon ab. Die
Kahlköpfigkeit der Nachkommen gehaubter Kanarienvögel hängt
jedenfalls nicht mit der Wirbelbildung zusammen, welche bei
ihnen vorkommt. Denn diese findet sich am Vorderkopfe, und
*) Darwin. Variiren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation.
Deutsch von J. Victor Carus. II. Auflg. 1873. I. 328.
83
die entsprechenden Wirbel mit etwa vorhandenen Scheiteln er-
halten sich, so lange überhaupt noch von einer Haube die Rede
sein kann. Die Kahlköpfigkeit entsteht vielmehr am Hinterkopfe und
breitet sich zunächst unbeschadet jener immer weiter nach vorn
und hinten aus. Was schliesslich wird, darüber habe ich keine
eigene Erfahrung. Darwin*) glaubt, dass der ganze Prozess auf
einer Krankheit beruhe. Der Prozess fängt mit einer Hypertrophie
an, geht in eine Hypotrophie über und endet mit einer Atrophie.
Eine von Geschlecht zu Geschlecht immer tiefer greifende Er-
nährungsstörung, die zuletzt zu Wundwerden, wie es scheint,
also zu einer Verschwärung, d.h. zu molekularem Brand führt,
liegt ihm jedenfalls zu Grunde. Dass diese Ernährungsstörung
gemildert, gehoben, wie durch Vererbung verstärkt, so auch
durch Vererbung beseitigt werden kann, sich nur bei einzelnen
oder gar blos bei einem Individuum derselben Brut zeigt, während
die anderen Glieder derselben mehr oder weniger normal er-
scheinen, spricht nicht dagegen. Das ist ein Schicksal, das sie
mit allen ähnlichen Zuständen und Vorgängen teilt.
Ein diesbezüglicher Versuch lieferte für alles Das sehr be-
achtenswerte Zeugnisse. Ich besorgte mir ein Paar gehaubter
Vögel. Das Männchen hatte eine kleinere, das Weibchen eine
grössere kahle Platte am Hinterkopfe. Doch war die letztere
nicht so gross, dass sie sich ohne Weiteres bemerkbar gemacht
hätte. Die Haubenfedern mussten erst umgebogen werden, um
sie sehen zu können. Es wurden von dem Paare drei Junge
ausgebrütet. Eins davon starb sehr bald; eins war nur mit ver-
einzelten Härchen besetzt; das dritte hatte einen ziemlich dicht
und lang behaarten, oder, wie die Züchter sagen, bedaunten
Kopf. Jenes, das zu zweit erwähnte, entwickelte ein ganz nor-
males Federkleid. Sein Kopf bedeckte sich mit glatt anliegen-
den Federn und unterscheidet sich zur Zeit in dieser Beziehung
durch nichts von dem eines gewöhnlichen, ungehaubten Vogels.
Von einem Paar gehaubter Vögel ist mithin ein durchaus glatt-
köpfiger Vogel erzeugt worden. Dieses dagegen, das drittge-
nannte, entwickelte eine Haube, welche nach etwa vier Wochen als
eine sehr kräftig entwickelte und stark ausgebildete bezeichnet
werden musste. Bei der Mauser indessen verlor der Vogel die-
Zialzc:
6*
84
selbe zum grössten Teil. Der Vorderkopf, der Hinterkopf bis
tief in den Nacken und auf den Hals hinunter wurden kahl, der
Vorderkopf dabei so verletzbar, dass er nach Stössen an das
Gitter des Bauers leicht blutete und fast immer wie entzündlich
geschwollen aussah. Nur der Scheitel war noch mit unregel-
mässig stehenden, kurzen, krüppelhaften Federn besetzt. All-
mählig jedoch verlor sich die Verwundbarkeit der Kopfhaut.
Sie bedeckte sich bis auf eine verhältnismässig kleine Stelle am
Hinterkopfe wieder mit Federn, und nach beendigter Mauser
war eine, wenn auch nicht so üppige, Haube wie die erste, wieder
die Zierde des Vogels. Das Daunenkleid, ein guter Teil auch
noch des ersten Federkleides des Kopfes zeigte eine Hyper-
trophie, Hyperplasie. Bei der ersten Mauser gingen dieselben -
in eine Hypotrophie, beziehentlich Hypoplasie und teilweise
Atrophie, beziehentlich Aplasie über. Zugleich wurde die
Epidermis vornehmlich des Vorderkopfes so hinfällig, dass
sie bei jedem einigermassen kräftigen Anstoss zerstört wurde
und die von ihr bedeckte Cutis nicht mehr ordentlich schützte.
Diese blutete darum leicht und befand sich dauernd in einem
entsprechend entzündlichen Zustande. Nach der Mauser verlor
sich das Alles zwar dem Anscheine nach wieder; allein eine
gewisse, hier schwächer, dort stärker markierte Hypotrophie,
zum Teil Atrophie, beziehungsweise Hypoplasie, zum Teil
Aplasie war nichtsdestoweniger doch zurückgeblieben. —
Weitere Versuche missglückten. Das eben erwähnte Paar starb
während der zweiten Brut, nachdem das Weibchen eben das
sechsteEi gelegt hatte. Andere Paare legten nur sogenannte Wind-
eier oder, trotzdem sie lange zusammen gehalten wurden,
gar keine.
Einen dem geschilderten Vorgange durchaus ähnlichen
bekommt man auch bei Tauben zu beobachten. Denn auch
unter diesen kommen gehaubte vor, und manche Rassen, wie
die Perrückentauben, haben davon ihren Namen. Auch bei den
Tauben fängt die Haubenbildung damit an, dass sich gewisse
Kopffedern, die Hinterkopffedern, zu vergrössern und aufzurichten
beginnen, dass sie also hypertrophieren und dabei mehr oder
weniger paratrophieren. Setzt sich der Prozess auf die Nach-
barschaft fort, werden namentlich die Nacken-, etliche der seit-
lichen Halsfedern, manchmal bis nach der Brust hin, von ihm
85
ergriffen, so entstehen die Perrücken, von denen die bezüglichen
Tauben ihren Namen haben. :
Den Perrückentauben stehen sehr nahe die Möwchen. Mir
ist von verschiedenen Taubenzüchtern gesagt worden, die
Perrückentauben seien wohl nur eine Möwchenart. Bei den
Möwchen nun, besonders den sogenannten deutschen, vergrössern
und richten sich die mittleren Halsfedern auf, so dass dadurch
eine Art Jabot entsteht, das von der Brust bis zur Kehle reicht.
Manchmal spaltet sich dasselbe, greift auf beide Seiten des
Halses, den Nacken, den Hinterkopf über, und dann sieht das
Möwchen wie eine Perrückentaube aus, ist am Ende auch eine;
nur dass dieselbe auf umgekehrtem als dem gewöhnlichen Wege
entstander ist. Schnabel, Füsse, Zehen sind bei beiden so gut
wie gleich.
Wenn das Jabot der Möwchen stärker ausgebildet ist, so
zeigt sich in ihm nicht selten eine Art von Kräuselung; die
Federn bilden an einer bestimmten Stelle eine Art von Wirbel,
Trichter, auf dessen Grunde die nackte kahle Haut erscheint.
Der Wirbel, Trichter, kann sich vergrössern; es erscheint dann
an seinem Grunde eine mehr oder minder grosse Stelle, die statt
Federn blos Kiele, Speilen oder Spulen mit sehr rudimentären
Schaften, allenfalls noch sehr rudimentären Fahnen trägt. Während
die peripherischen Federn des Wirbels oder Trichters hyper-
trophisch sind, sind die centralen desselben hypotrophisch und
selbst atrophisch, beziehentlich, weil der einschlägige Prozess schon
bei ihrem Werden sich geltend machte, hypoplastisch, selbst
aplastisch geworden. Bei sehr starkem, weit hinauf gehendem
Jabot, bei stark entwickelter Perrücke, finden sich auch sonst
noch federarme Stellen am Halse und sehr regelmässig um den
Schnabel herum. Die sonst gut entwickelten, wenn auch kleinen
Federn der Umgebung desselben sind ebenfalls durch Speilen
oder Spulen ersetzt, indem sie hypo- oder auch aplastisch wur-
den, weil ihre Matrix hypo- oder auch atrophisch geworden war.
Weiter habe ich leider den beregten Vorgang nicht ver-
folgen können, weil die Tauben- wie alle anderen Tierzüchter
nur solche Tiere ziehen, welche die Reinheit der Rasse dar-
stellen und sich durch dieselbe auszeichnen. Alle Tiere, welche
die Rassencharaktere, beziehentlich die schönen Seiten der Rasse
nicht mehr an sich tragen, statt derselben vielleicht das Gegen-
teil aufzuweisen haben, werden als entartet oder ausgeartet bei
Seite geschafft. Über die Weiterentwickelung der Rassen in
ihrer Rassenrichtung ist darum so gut wie nichts bekannt und
am allerwenigsten über die Ursachen, die das zur Folge haben.
Aber auch aus dem wenigen, über die Möwchen- und Perrücken-
tauben Beigebrachten ergiebt sich, dass zunächst die charakter-
gebenden Federn hypertrophieren, später, d. ı. in der Nach-
komnenschaft hypotrophieren und endlich selbst atrophieren.
Beziehentlich der Pfauentauben habe ich mir von Züchtern
sagen lassen, dass bei fortgesetzter Inzucht der Schwanz unan-
sehnlich werde und verkümmere. Was die Pfauentaube ist, ist
sie auf Grund der Vermehrung und Vergrösserung ihrer Schwanz-
federn. Ihre Schwanzfedern, die bei der Gattung Columba über-
haupt ı2 betragen, haben an Zahl zugenommen, das Doppelte
ja das Dreifache der ursprünglichen erreicht;*) dazu sind sie länger
und breiter geworden, nach meiner Schätzung bis um die Hälfte,
und haben eine etwas anders geformte Fahne bekommen. Wenn
der Schwanz verkümmert, sollen die Federn desselben zunächst
an Zahl abnehmen, kürzer, schmäler und unregelmässig in ihrer
Fahne werden; sie hypotrophieren also und paratrophieren zu
gleicher Zeit. Eine Hypertrophie mit gleichzeitiger Paratrophie
der Schwanzfedern bedingt also das Charakteristische der Pfauen-
tauben, eine entsprechende nachfolgende Hypotrophie und anders-
artige Paratrophie die Ausartung derselben.
Fassen wir die besprochenen Erscheinungen zusammen und
verfolgen sie, soweit sie bekannt sind, von ihrem Auftreten bis
zu ihrem Erlöschen, so ergiebt sich, dass die in Betracht kom-
menden Abweichungen in der Befiederung der beregten Vögel
zuerst auf hypertrophischen, dann hypotrophischen, endlich atro-
phischen Vorgängen beruhen, und dass den ersten beiden
dabei noch ein gewisses paratrophisches Moment, durch das
sie etwas Fremdartiges bekommen, beigemischt ist. Dieses para-
trophische Moment muss aber auftreten. Denn jede Hyper-
ergasie, jede Hypergasie ist immer zugleich auch eine Parergasie.
Jeder chemische Prozess, zu sehr beschleunigt, zu sehr verlang-
samt, verläuft gleichsam in anderen Bahnen uud führt zu anderen
*) Darwin, Entstehung der Arten u. s. w. deutsch von Bronn II. Auf-
lage 1863 S. 50; das Variiren der Tiere und Pflanzen u. s. w. deutsch von
J. Victor Carus. II. Auflage 1873. I. S. 162.
87
Resultaten. Die Gährungsvorgänge vornehmlich legen davon die
vollgültigsten Zeugnisse ab.
Eine gewisse Widerstandslosigkeit, in gewissen ihrer Bezirke
grössere Beeinflussbarkeit der Epidermis, beziehentlich des epi-
dermoidalen Blattes dieser Vögel ist die Ursache davon. Und da
kommt denn wieder das biologische Grundgesetz zur Gel-
tung: „Schwache Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel-
starke fördern, starke hemmen und stärkste heben sie auf“ oder:
„Dieselben alltäglichen Reize, welche bei Durchschnittsindividuen
gerade die Unterhaltung und Durchschnittsentwickelung der
Lebensthätigkeit bewirken, beschleunigen, d. i. fördern dieselben
bei mittelstark reizbaren, weil widerstandsloseren, hemmen sie
bei stark reizbaren, weil stark, d. i. sehr widerstandslosen, und
heben sie auf, vernichten sie bei höchst reizbaren, weil höchst
widerstandslosen Individuen.* Das auf die einschlägige Befiede-
rung der in Frage gebrachten Vögel übertragen, heisst: „Die-
selben Ursachen, welche auf Grund einer gewissen Widerstands-
losigkeit, davon abhängigen Biegsamkeit, Anpassungsfähigkeit,
z. B. an die Forderungen des Züchters, zuerst eine stärkere Aus-
bildung gewisser Federn im Gefolge haben, dieselben Ursachen
führen in der geschwächten Nachkommenschaft der bezüglichen:
Vögel erst zu einer Verkümmerung dieser oder auch mit ihnen
durch ernährungsvermittelnde Wege in Verbindung stehender
Federn, endlich zu Entwicklungsmangel derselben und damit zu
Kahlheit, Nacktheit der entsprechenden Körperstellen.“
———m 0
88
a}
Die Heilkunst und das biologische
Grundgesetz.
Bei meinem Streben, dem biologischen Grundgesetze die
Anerkennung zu verschaffen, welche es meiner Ansicht nach
verdient, bekam ich, bis dahin ganz allein für dasselbe ein-
stehend, recht unverhofft von einer Seite Hülfe, von der ich sie
am allerwenigsten erwartet hatte. Aus dem Gebiete der Pharma-
kologie und Therapie kam sie. Hugo Schulz veröffentlichte
zwei Arbeiten aus demselben, die so reich an Beweisen für die
Richtigkeit jenes Gesetzes waren, dass sie demselben seitdem,
wie ich glaube, eine wichtige Stütze geworden sind.
Ihrer Wichtigkeit und der Art und Weise halber, wie
Schulz die Sache begründet hat, muss ich indess etwas näher
auf sie eingehen, zumal auch die weiteren Gesichtspunkte, welche
sie eröffnen, nur dann gehörig verstanden werden können.
Die erste dieser Arbeiten „Zur Lehre vonder Arzneiwirkung“ *)
geht von folgenden Gesichtspunkten aus: Die Veränderungen, die
ein Medikament in der Thätigkeit eines Organes hervorruft, können
sich unter bestimmten Bedingungen in Wirkungsbildern dar-
stellen, welche einander völlig entgegengesetzt sind. Ein und
dasselbe Organ, von ein und demselben Agens beeinflusst, sehen
wir entweder ausgeprägt vermehrte physiologische Leistungen
verrichten, oder mit entschieden herabgesetzter Energie und
verminderter Thätigkeit seine Existenz nach aussen hin deutlich
machen. Wie die Erfahrung lehrt, steht diese Verschiedenheit
der Wirkung zunächst in einem direkten Abhängigkeitsverhält-
nisse zu der Dosis des angewandten Medikaments. Sie hängt
davon ab, ob von irgend einem Arzneimittel viel oder wenig
*) Virchow's Archiv für pathol. Anat. u. s. w. Bd. 108, 1887.
89
mit den Elementen eines Organs — den dasselbe constituierenden
Zellencomplexen — in Berührung tritt. Es handelt sich dem-
nach um die auffallende Thatsache, dass wir unter gewissen
Umständen eine bestimmte Arzneiwirkung in ihr Gegenteil ver-
kehren können. Boecker hat schon vor 30 Jahren auf diese
interessante Erscheinung hingewiesen mit den Worten: „Wir
sind gewohnt, von kleineren Dosen kleine, von grösseren be-
deutendere Wirkungen der Arzneien zu erwarten, müssen aber
bedenken, dass es Umstände geben könne, unter welchen kleine
Arzneigaben das Umgekehrte von grösseren hervorbringen“.
Rein theoretisch betrachtet gilt nun der Satz: „dass kleine
Arzneigaben das Umgekehrte von grösseren bedingen“ eigentlich
durchgehend, aber in der Praxis steht ihm der Umstand ent-
gegen, dass die genannte Erscheinung nicht in allen Fällen mit
gleicher Deutlichkeit wahrgenommen zu werden pflegt.
Jegliche Veränderung in der Funktion und Beschaffenheit
eines Organs in Folge der Einwirkung eines Arzneistoffes ist
der Ausdruck einer Reizwirkung auf seine Bestandteile, seine
zelligen Elemente. Die Physiologie lehrt, dass es im letzten
Grunde nicht auf die Qualität des Reizes ankommt, um eine
bestimmte Wirkung zu erzielen, sondern dass es wesentlich die
Quantität desselben ist, welche die Differenz nach aussen bedingt.
Diese quantitative Wirkung in ihren wechselnden Ausdrucks-
formen wird am deutlichsten erkannt an verschiedenen Phasen der
Nerventhätigkeit, wie sie in dem Pflüger’schen Zuckungsgesetze
sich darstellen. Bei ihm sehen wir klar, wie ein und dieselbe
Ursache, der elektrische Strom, bei demselben Organ, den Nerven,
je nach seiner Stärke scheinbar ganz entgegengesetzte Effekte
hervorruft. In der Wirklichkeit ist der Gegensatz indessen nur
bedingt durch die spezifischen, dem Nervensystem innewohnen-
den Eigenschaften. Wird ein motorischer Nerv von einem auf-
steigenden Strome durchflossen, so treten je nach der Strom-
stärke bekanntlich folgende Erscheinungen auf:
f Schliessung — Zuckung.
\ Öffnung — Ruhe.
f Schliessung — Zuckung.
\ Öffnung — Zuckung.
f Schliessung — Ruhe.
l Öffnung — Zuckung.
ı. Schwacher Strom
2. Mitttelstarker Strom
3. Starker Strom
Vergleicht man ı und 3, so findet man eine völlige Um-
kehrung des Wirkungsbildes. Warum? ist bekannt. Beim ab-
steigenden Strom ist das Verhältnis durchweg dasselbe, nur muss
bei ihm ebenfalls aus bekannten Gründen der Strom stärker
gewählt werden. Eine gleiche Umkehr der Reaktion auf den
gleichen, aber quantitativ verschiedenen Einfluss zeigt, wie man
weiss, der Nerv auch bei thermischer und chemischer Reizung.
Eine Modifikation erleidet dieses Gesetz aber bekanntlich
beim pathologisch veränderten, beim kranken, beim absterbenden
Nerven. Für den genügt schon ein verhältnismässig schwacher
Strom, um je nach dem Stadium des Absterbens, in dem er sich
befindet, sämtliche drei oben aufgezählten Reaktionsformen her-
vorzurufen. Die dem Nerven durch den Prozess des Absterbens
innewohnende Menge von Reiz summiert sich mit der Kraft des
schwachen Stromes(?) und bringt dadurch ein Bild hervor als
ob ein gesunder Nerv durch einen mittleren oder einen starken
Strom gereizt worden wäre.”)
Ausgehend von dem Gesagten sucht nun Schulz den
Nachweis zu liefern, dass auch für die Wechselbeziehung
zwischen Medikament und Organ Gesetze bestehen, welche direkt
in Parallele gestellt werden können zu dem, was wir von dem
Verhalten des Nerven bei elektrischer Reizung wissen. Denn
der wechselnde Ausdruck, den arzneiliche Reize an den ver-
schiedenen Organen hervorrufen, ist abhängig von der inneren
Beschaffenheit und äusseren Anordnung einer im Ganzen und
Grossen überall identischen Substanz, des Protoplasmas. Und
ebenso, wie die Wirkung irgend eines Agens auf den Nerven,
seiner Intensität entsprechend von Stufe zu Stufe fortschreitend
im wechselnden Bilde sich darstellt, so zeigt uns auch jede
andere Vereinigung von Zellen, jedes aus ihr hervorgegangene
Organ, eine wechselnde Reaktion gegen den Eingriff der klein-
sten, der mittleren und der grossen Dosis eines Medikaments.
Der Satz: „Jeder Reiz bedingt auf eine einzelne Zelle
oder die aus Zellengruppen zusammengesetzten Organe
entweder eine Vermehrung oder eine Verminderung
ihrer physiologischen Leistungen, entsprechend der
geringeren oder grösseren Intensität des Reizes“, gilt
deshalb auch in Bezug auf letztere.
*) Vergl. S. 74 und 75.
Schulz führt dann aus, Nasse habe gefunden, dass
die Thätigkeit des Speichelferments durch Kochsalz in der Weise
abgeändert werde, dass, setzt man die Fermententwickelung an
sich —= 100, sich diese verhalte wie
a) Kochsalz = o pCt., Fermentwickelung — 100
b) 5 NIT r — 130 bezw. 116
c) » SE [U er ” == 12 » 103
d) a Il, ” Sn
er selbst habe dementsprechend gefunden, dass die Kohlensäure-
menge bei der Vergährung von Zucker, wodurch die Energie
des Gährungsvorganges selbst bestimmt werde, sich verhalte
ı. bei Zusatz von Ameisensäure wie:
pCt. ccm.
a) Ameisensäure — O, Kohlensäure desselb. Quantums Zuckers = I,
b) ® = 50.05 5 5 ah k: — 0,00
c) & —20,025 er R r a — 70,99
d) 5 —0,01 4 ke ® A — 1720
€) Y — 20,005 : 5 a ® — 71,08
2. bei Zusatz von Thallintartrat wie:
pCt. ccm.
a) Thallintartrat — O0, Kohlensäure desselb. Quantums Zuckers — 1,
b) 5 — 16) = = e O2
c) 5 —12,5 5 “ % ner = 40382
d) 2 TO 4 & R Sr ==0,99
€) S — 05 : 5 5 Bu, 27
f) 33 —HOM 4 e n 2 = 2,38
g) 5 — 10:05 5 N 3 BR 2,02
und zieht daraus den Schluss, was ihm in ähnlicher Weise auch
schon Arsen, Jod und Sublimat gelehrt haben, dass Stoffe,
welche in grösserer Menge die Gährung zu beschränken im
Stande sind, das Gegenteil bewirken, kommen sie in geringerer
Menge zur Verwendung. Er sucht dann durch eigene sowie die
Beobachtungen Anderer zu beweisen, dass es auch mit der
Arzneiwirkung einer grossen Reihe anderer Stoffe z. B. des
Alkohols, des Kampfers, der Digitalis, des Morphiums, der
sogenannten Balsamica und Aethereo-Oleosa, z. B. des Copaiva-
balsams und der Juniperuspraeparate, ferner des Arsens, Phos-
phors und Quecksilbers sich gerade so verhalte. Die Arznei-
wirkung überhaupt folge darum im grossen Ganzen
dem Zuckungsgesetze vom normalen Nerven, d. h. sie folgt
dem Nervenerregungsgesetze schlechtweg.
Ist das aber der Fall, so wird das natürlich auch in krank-
haften Zuständen stattfinden, und die Arzneiwirkung wird dem
Zuckungsmodus des kranken oder absterbenden Nerven ent-
sprechen, und wie bei diesem bereits schwache elektrische
Ströme, schwache Reize überhaupt, Effekte hervorrufen können,
welche der normale Nerv nur bei mittleren oder starken Strömen
liefert, so werden auch kleine Gaben von Medikamenten auf
kranke Organe dieselbe Wirkung ausüben, welche erst grössere
oder ganz grosse auf gesunde haben. „Jedes kranke Organ
zeigt gegenüber irgend welchem Arzneistoff, der über-
haupt im Stande ist, auf dasselbe wirken zu können,
eine veränderte Reaktion, denn seine Erkrankung be-
dingt eine Schwäche seiner physiologischen Leistung.“
Schulz zeigt nun weiter, dass verschiedene Arzneistoffe
zu verschiedenen Organen in ganz bestimmten Beziehungen stehen,
so das Chinin zur Milz, das Arsenik zu den Drüsen, namentlich
zu den Lymphdrüsen, das Cyanguecksilber zur Rachenschleim-
haut, der Tart. stibiatus zur Lunge, speziell zur Bronchial- und
Trachealschleimhaut, die Ipecacuanha, bezüglich das Emetin,
zur Darmschleimhaut, das Eisen und Secale cornutum zum Ge-
fässsystem, das Wismuth zur Magenschleimhaut; er zeigt, dass
andere eine andersartige, sogenannte spezifische Wirkung aus-
üben, indem sie den erkrankten und durch ganz bestimmte Gifte,
die bekannten Ptomaine, in bestimmter Weise veränderten Nähr-
boden für die Weiterentwickelung der entsprechenden patho-
genen Bacillen in ungünstiger, für das bezügliche Individuum
darum aber günstiger Weise beeinflussen, so das Calomel die
durch das Typhusgift veränderte Darmschleimhaut, die Salicyl-
säure die durch das Gift des akuten Gelenkrheumatismus affızierten
Gelenke, das Chinin die durch das Gift des Wechselfiebers vor-
nehmlich ergriffene Milz. Schulz tritt damit zwar als ein
ganz entschiedener Vertreter der Lokaltherapie auf; aber er
kämpft in Anbetracht des Besprochenen doch vornehmlich für
die Darreichung kleiner Dosen der bezüglichen Arzneien. Denn
diese wirken eben in dem erkrankten Organe nach Analogie der
Reize im erkrankten und absterbenden Nerven. Während sie in
einem gesunden Organe gar keine oder kaum bemerkenswerte
93
Wirkungen, ebenso wenig wie im übrigen Körper hätten, wirkten
sie in diesem, nämlich dem erkrankten Organe, nach seiner noch
vorhandenen Widerstandsfähigkeit, bald mehr, bald minder, wie
sonst grössere Gaben.
Schulz fasst deshalb zum Schlusse die Ergebnisse seiner
Untersuchungen in folgenden Sätzen zusammen:
ı) Die Wirksamkeit eines Medikaments hängt
zwar in erster Linie von der engeren oder weiteren
Beziehung ab, die zwischen ihm und irgend einem
Organ besteht,
2) Die physiologische Wirkung lead eines Medi-
kamentes auf ein Organ ist aber abhängig von der
Quantität des Arzneimittels, in der Art, dass je nach
der zur wirklichen Aktion gelangenden Menge Erschei-
nungen auftreten, die in dem Zuckungsgesetz eine völ-
lige Analogie finden.
3) Der letzte Satz unterliegt bei pathologischen
Fostanden der Organe, also tür die Therapie, den
nämlichen Modifikationen, die wir für das Zuckungs-
gesetz vom absterbenden Nerven kennen. Ks bedarf
unter bestimmten pathologischen Verhältnissen nur
eines geringen Quantums eines Arzneimittels, um den
Effekt zu erzielen, den man, vom normalen Organ aus-
gehend, erst von grösseren Dosen erwarten müsste.
In der zweiten der gedachten Arbeiten: „Ueber Hefegifte“,*)
sucht Schulz nachzuweisen, dass das, was er in der vorigen in
Bezug auf die tierische Zelle gezeigt hätte, auch für die
Pflanzenzelle Gültigkeit habe. In einer grossen Reihe sorg-
fältig angestellter Versuche, deren Ergebnisse durch Kurven
verdeutlicht werden, zeigt er, dass dieselben Substanzen, welche
in grösserer Menge als Gifte auf die Hefenzellen wirken und
die Gährung hemmen oder gar autheben, in geringer Menge sich
als Reize in Bezug auf jene erweisen und diese begünstigen.
Von einigen Substanzen, z. B. Kupfervitriol oder Salicylsäure
hatte schon die Erfahrung gelehrt, dass sie unter Umständen die
Hefe zu energischerer Arbeit veranlassen könnten; warum? und
dass dem ein allgemein gültiges Gesetz zu Grunde liegt, hat
jedoch erst Schulz dargethan. Seine Versuche erstreckten
*) Pflüger’s Archiv für die gesamte Physiologie, Band XLII, Bonn 1888.
(25 S. mit 7 Tafeln).
94
sich auf die stärksten Gifte, Sublimat, Jod, Brom, arsenige Säure,
Chromsäure, Salicylsäure, Ameisensäure; bei allen aber dasselbe
Ergebnis! KleineDosen derselben vermögendie Thätigkeit
der Hefe auf kürzere oder längere Zeit bedeutend über
die Norm zu steigern, Sublimat z. B. bei einer Verdünnung von
1:700000 bis 1:500000, Jod bei einer solchen von 1: 600000
bis ı : 100000, Brom bei einer solchen von ı : 400000 bis I : 300000,
arsenige Säure bei einer Verdünnung von 1: 400000, Chromsäure
bei einer solchen von 1:6000 bis 1: 5000, Salicylsäure bei einer
eben solchen von ı : 4000, Ameisensäure bei einer Verdünnung von
1:40000 bis 1: 10000, am stärksten bei ı : 30000. Noch stärkere
Verdünnungen jedoch lassen nur geringen oder auch gar keinen Ein-
fluss der bezüglichen Gifte mehr erkennen, und schwächere, bezüglich
stärkere ihrer Lösungen setzen stufenweise die Energie der
Gährung herab, bis sie selbige ganz aufheben.
Schulz kommt deshalb zu dem Schlusse: „Was ich
in meiner oben erwähnten Untersuchung für die tierische Zelle
nachzuweisen suchte, trifft für die Pflanzenzelle ebenfalls zu und
ich glaube ein Recht zur Aufstellung des Satzes zu haben, dass
jeder Reiz aufjede lebendige Zelle eine Wirkung ausübt,
deren Effekt hinsichtlich der Zellentätigkeit umgekehrt
proportional ist der Intensität des Reizes. Von zwei
Zellen wird diejenige am leichtesten auf einen Reiz von bestimmter
Grösse reagieren, die vermöge ihrer inneren Beschaffenheit eine
geringere Widerstandsfähigkeit besitzt, bei starker Reizwirkung
erliegt sie früher, stirbt unter Umständen schneller ab, bei stark
herabgesetztem Reiz wird sie eventuell eher eine deutliche Ver-
mehrung ihrer Lebensenergie sichtbar werden lassen als eine
durchaus normale Zelle, die unter derselben Bedingung scheinbar
ganz unberührt bleibt.“
Was sich zunächst aus den beiden Arbeiten ergiebt, ist,
dass das Nervenerregungsgesetz, wie ich das bereits wiederholt
ausgesprochen hatte, in der That nicht blos für den Nerven seine
Gültigkeit hat, sondern sich auch auf alle übrigen tierischen
Gewebe, die Tiere selbst und dann auch auf die Pflanzen und
ihre Elemente erstreckt, dass es somit nicht blos ein die Nerven
und das Nervenleben, sondern das Leben überhaupt beherrschendes
Gesetz ist und der ganzen Art und Weise nach, wie es sich
äussert, als das biologische Grundgesetz bezeichnet werden
95
kann. Es ist das Gesetz, nach dem sich alle Lebensvorgänge
regeln und vollziehen. Im weiteren ergiebt sich sodann aus
den beiden Arbeiten, wie in gewissen Fällen sich diese Vorgänge
regeln und vollziehen und, wird Gelegenheit geboten, was gerade
den Arzt angeht, wie manche tiefe Einblicke in das Wesen der
Arzneiwirkung und das zu thun sie erlauben, worauf es in der
Therapie gerade ankommt. Auf die Widerstandsfähigkeit des
Individuums und seiner Organe lenkt Schulz vorzugsweise oft
das Augenmerk und hebt hervor, dass diese ganz besonders zu
berücksichtigen sei, wenn es sich um therapeutische Eingriffe
handelt. Er redet deshalb auch, in Anbetracht der in allen
Krankheitszuständen gesunkenen Widerstandsfähigkeit, im All-
gemeinen den kleinen Gaben von Arzneimitteln das Wort, indem
er betont, dass in widerstandslosen, kranken Körpern, beziehungs-
weise Organen, schon kleine Gaben der bezüglichen Mittel die
Wirkung haben müssen, welche in widerstandsfähigen, gesunden
Körpern oder Organen erst grössere Gaben derselben an den Tag
legen. Obgleich nun das auch tagtäglich zu sehen ist, obgleich
bis zu einem gewissen Grade davon auch schon seit Langem in
der Praxis Gebrauch gemacht worden ist, indem für Erwachsene,
für Halbwüchsige, für grössere, für kleinere Kinder, für Männer,
für Frauen dieselben Arzneien unter denselben sonstigen Ver-
hältnissen in verschieden grossen Mengen gegeben wurden, so
ist das doch im grossen Ganzen noch nicht zum vollen Verständnis
gekommen, und die Verabreichung der bezügliehen Medikamente
im Allgemeinen noch kaum in den kleinen Gaben erfolgt, als
das den Untersuchungen von Schulz nach sein könnte und
häufig wohl sogar sein müsste.
Von welch’ riesenhafter Bedeutung für die gesammte The-
rapie, namentlich aber die durch Medikamente bedingte, das sein
muss, liegt auf der Hand. Mit einer Reihe herkömmlicher Vor-
schriften und Gebräuche wird vollständig zu brechen sein. Das
Individualisieren bei der Behandlung wird noch viel mehr All-
gemeingut der Aerzte werden müssen, als es bis jetzt schon der
Fall ist, und die Verabreichung der gut gewählten Medikamente
in kleinen Gaben wird viel öfter stattzufinden haben, als man
für jetzt vielleicht noch glaubt. Sage man doch nicht: „Was
soll solch’ ein Minimum wohl nützen?“ Wie viel Schwefel ist in
den Quellen von Aachen, Weilbach oder gar Landeck, Baden
96
bei Wien und Zürich enthalten, und ist erunwirksam? Wie viel Arse-
nik findet sich in den Wässern von Baden-Baden und Cudowa, und
gilt derselbe, namentlich mit Bezug auf gewisse Kachexien, nicht ge-
rade als ein Vorzug derselben? Wie viel Jod, Brom trifft man
in den Solen von Kreuznach, Tölz, Krankenheil, Adelheidsquelle
oder selbst Hall in Ober-Österreich und Inowrazlaw an, und
schreibt man nicht insbesondere ihnen die Wirkung auf die
Skrophulose zu, welche von jenen so günstig beeinflusst wird?
Wie viel Lithion ist in den Wässern von Baden-Baden, Ems,
Bilin, Salzbrunn, selbst Radein vorhanden, und wird nichtsdesto-
weniger gerade das Lithion als wirksamster Bestandteil derselben
gegen Gicht und Rheumatismus gepriesen, gegen welche ganz
ähnliche Wässer, aber ohne dasselbe sich indifferent erweisen?
Einige Zahlen werden das noch besonders auffallend erscheinen
lassen. Die Aachener Wässer enthalten in einem Liter, also
1000 Gramm Wasser nur 0,0056 Schwefel, die Wässer von Baden-
Baden nur 0,007 dreibasisch arsenigsauren Kalk, die von
Cudowa nur 0,0025 Arsen überhaupt, von den genannten
Solen, Tölz-Krankenheil nur 0,117 Jodnatrium, Adelheids-
quelle 0,030 Jodnatrium und 0,060 Bromnatrium, Hall in Ober-
Östreich 0,040 Jodmagnesium und 0,060 Brommagnesium, und
von den erwähnten Lithionwässern, Baden-Baden nur 0,002 bis 0,005,
Ems 0,004— 0,006, Bilin 0,010, Salzbrunn 0,010— 0,015, Radein 0,040
des bezüglichen Lithion. Selbst die an ihm reichsten Quellen,
Salzschlirf und Asmannshausen, besitzen davon auf 1000 Gramm
nicht mehr als 0,2 —o,3, und was die Arsenwässer von Levico und
Rocegno betrifft, welche in 1000 Teilen 0,001—0,01 arsenige
Säure haben, so können dieselben hier nicht in Betracht kommen,
da sie unverdünnt zu Heilzwecken innerlich gar nicht benutzt werden
können. — Sodann aber denke man erst einmal an den Einfluss
riechender Stoffe auf nervöse Individuen! Orangenblüten, Jasmin
(Philadelphus coronarius), Tagetes-, Pyrethrum-, Allium-Arten,
Oscillarien, Beggiatoen, trocknendes Gras, beziehungsweise frisches
Heu rufen Kopfschmerzen, Übelkeit, selbst Erbrechen durch ihren
blossen Duft hervor. Dasselbe gilt unter Anderem auch vom
Tabaksrauch, namentlich dem von Cigarretten. Demnächst denke
man an die Wirkung gewisser Nahrungsmittel bei Leuten mit
sogenanntenIdiosynkrasien! dassmancheMenschen nicht Erdbeeren,
namentlich nicht Walderdbeeren, nicht Pilze, auch nicht die indiffe-
97
rentesten derselben, wie Steinpilze, Pfifferlinge, nicht Krebse und
insbesondere nicht Flusskrebse, oder gewisse Fische, wie Aale,
Flundern, Quappen vertragen können. Sie erkranken, bekommen
Darm- und Magenbeschwerden, Übelkeit, Erbrechen, Bauch-
grimmen, Durchfälle oder auch allerhand, namentlich Nessel-
ausschläge. Wie viel von den wirksamen Stoffen sind in den
bezüglichen Nahrungsmitteln enthalten? Die Chemie hat sie
wegen ihrer geringen Menge kaum noch nachweisen können,
und dennoch wirken sie. Man denke an den Einfluss gewisser
Farben, namentlich des Rot oder Gelb auf andere, ähnlich ge-
artete Menschen, die davon Kopfschmerzen, Migräne, Übelkeit
und Erbrechen bekommen und nachher noch Tage lang krank
sein können! Man denke an die Erscheinungen der Photophobie!
Das einfache Licht, das sonst nur beschränkte Bewegungen der
Iris hervorruft, führt zu krankhaftem Schluss der Augenlider
und selbst krampfartigen Bewegungen des ganzen Körpers. Man
denke ferner an den Einfluss gewisser, namentlich schriller Töne
auf verschiedene Individuen und dabei auch auf Hunde! Schwin-
gungen der Luft von bestimmter Form rufen Schauern, rufen
Schwindel, Schreien, Heulen, Ohrenzuhalten, Weglaufen, krampf-
hafte Bewegungen hervor. Man denke endlich an den Einfluss
auf die äussere Haut aufgelegter Metalle und die dadurch her-
vorgerufenen Erscheinungen der Translatio aesthesis, des Trans-
fert der Franzosen, an die Vornahmen zur Erzeugung des
Hypnotismus, an die Suggestion, die mit dem sogenannten Be-
sprechen ebenso zusammenfällt, wie die Massage mit dem
einstigen Streichen der alten Weiber, und man wird genug
Beweise für die oft grossartige Wirkung kleinster Reize in der
Welt der Organismen bekommen!
Diese Wirkung, wohl die einer auslösenden Kraft, entfalten
die kleinsten oder auch nur die kleinen Reize allerdings blos, wie
wir das bereits wiederholt gesagt haben, in abnorm widerstands-
losen und darum krankhaften Körpern beziehungsweise Organen;
aber darauf kommt es uns gerade an. Denn bei krankhaften,
kranken, geschwächten Individuen überhaupt oder entsprechenden
Organen wirken kleine Dosen so wie bei gesunden, starken,
kräftigen grössere, grosse, selbst erst ganz grosse derselben.
Ich habe Personen behandelt, erwachsene, welche zur Besänftigung
ihres Hustenreizes drei- bis viermal täglich Morphium chloratum
7
38
0,005 erhielten und davon Intoxikationserscheinungen zeigten.
Erst als sie den zehnten Teil davon — 0,0005 erhielten, blieben
letztere aus. Der Hustenreiz aber wurde gedämpft, wie bei
Durchschnittsmenschen, welche die übliche Dosis von 0,005 nehmen.
Ich habe einem nervösen Herrn Chinin in kleinen Gaben gegeben.
So lange er die von mir gewöhnlich verordnete Dosis von
0,05— 0,1 täglich nahm, wurde er aufgeregt, verlor den Schlaf,
erfuhr überhaupt eine Steigerung seiner Nervosität; erst als die
fraglichen Dosen auf 0,015 und 0,010 täglich herabgesetzt wurden,
trat die gewünschte Wirkung, d. h. Beruhigung ein. Ich hatte
einer jungen Dame als Zusatz zu einer expektorierenden Mixtur
Syr. Ipecacuanhae im Verhältnis von 15,0:200 verschrieben,
zweistündlich einen Esslöffel voll. In jedem Esslöffel war also
ungefähr der Auszug von Radix Ipecacuanhae 0,05 und, da der
Esslöffel sehr klein war und nicht voll genommen wurde, vielleicht
nur 0,04 enthalten. Das ist aber etwa die Dosis, in welcher
die Ipecacuanha von Budd, Hufeland, Niemeyer u. A. als
Stomachicum gegeben wurde. Bei der erwähnten Dame bewirkte
dieselbe indessen schon nach dem dritten Male Einnehmen eine
solche Nausea, dass von dem weiteren Einnehmen Abstand ge-
nommen werden musste. — Tuberculinum Kochii, das bei
Gesunden bis zu 0,01 und darüber subkutan eingespritzt werden
kann, ohne erhebliche Folgen nach sich zu ziehen, und in der
genannten Grösse zu diagnostischen Zwecken wiederholt auch
eingespritzt worden ist, rief_z. B. unter den Augen Leyden's,
nur zu 0,001 in der besagten Art beigebracht, bei gewissen
Nierenkranken, Schwangeren und chlorotischen Individuen recht
unangenehme, selbst bedenkliche Zufälle hervor. — Es ist bekannt,
dass nervöse Personen, zumal hysterische Frauen Opiate, und
besonders Morphium, schlecht vertragen. Sie werden durch -die
gewöhnlichen Gaben derselben, anstatt beruhigt, aufgeregt, ja
sogar tobsüchtig gemacht. Um die gewünschte Beruhigung zu
erzielen, müsse man darum, so wird vielfach gelehrt, das Morphium
in grösseren Gaben als gewöhnlich ihnen verabreichen. Es ist
die zu Grunde liegende Beobachtung an und für sich richtig.
Allein was man mit grösseren als den gewöhnlichen Dosen bei
den betreffenden Personen erzielt, erzielt man auch mit kleineren.
Die gewöhnlichen Dosen, von 0,02 etwa, sind schon zu gross
een
für dieselben. Sie beschleunigen, fördern den bezüglichen bio-
logischen Vorgang und häufig sogar zu sehr; deshalb muss zu
noch grösseren Dosen 0,04—0,06 und darüber gegriffen werden,
durch welche sie eine Hemmung erfahren. Fine anscheinend
ganz gleiche Wirkung haben aber auch kleinere Dosen
0,01 — 0,007 — 0,005, da diese den in Betracht kommenden bio-
logischen Prozess gerade nur so weit beeinflussen, um ihn
beruhigt erscheinen zu lassen.
Mit derhergebrachten, trotz alles scheinbaren Individualisierens
im Allgemeinen doch recht kritiklosen Anwendung grosser oder
auch nur grösserer Gaben von Arzneimitteln wird deshalb nicht
mehr so schablonenmässig vorgegangen werden können, wie
das jetzt so schlechthin doch für gewöhnlich noch immer der
Fall ist; die grossen Dosen werden ja auch noch nach wie vor
ihren Platz haben; aber mit kleinen, selbst kleinsten wird man
in einer grossen Anzahl von Fällen entschieden weiter kommen.
Mit Solut. Fowleri dreimal täglich 1—ı!/s Tropfen habe ich in
einzelnen Fällen bereits viel mehr erreicht, als mit der gebräuch-
lichen Verabreichung derselben in allmälig steigender Dosis bis
zu dreimal täglich 5—6—8 Tropfen. Von vielen, vorzüglich
weiblichen Patienten wird letzteres Verfahren gar nicht vertragen,
während sie bei ersterem einer allmählichen Besserung entgegen
geführt werden. — Rothe-Altenburg hat das Cyanquecksilber
zu 0,01 auf 120,0 Aq. stündlich einen Thee- oder Esslöffel voll
gegen Diphtheritis empfohlen. Ich weiss, dass hochangiesehene,
viel beschäftigte Ärzte daraufhin es auch angewandt haben und
mit dem erzielten Erfolge geradeso zufrieden gewesen sind, wie
ihre betreffenden Patienten und deren Angehörige. Mit arsenik-
saurem Kupfer zu 0,0003—0,0006 auf 120,0— 180,0 Ag. und da-
von zuerst alle ro Minuten und danach alle Stunden einen halben
oder ganzen Theelöffel voll, also ungefähr 0,0000006—-0,00002
p- d. wollen eine ganze Reihe amerikanischer Ärzte, und unter
diesen Brougham u. Aulde, vornehmlich bei Darmerkrankungen
der Kinder, die bemerkenswertesten Erfolge gehabt haben. —
Das Viel hilft viel mag wo anders seine Richtigkeit haben, im
gewöhnlichen Sinne in der Medicin, vornehmlich der Therapie,
gewiss nicht. Gerade da, wo man alterierend, d.i. constitutions-
verändernd einwirken will, und wo es vorteilhaft erscheint, die
‚einschlägigen Mittel lange gebrauchen zu lassen, dürften kleine
Te
100
Dosen am Platz sein; in mehr akuten Fällen, in gelegentlichen
Erkrankungen mehr robuster Naturen, wären die grösseren Gaben
anzuwenden.
Und dann ist eine sehr zu beachtende und doch nur wenig,
meist gar nicht gewürdigte Thatsache: Es haben die Heilmittel
in kleinen Dosen eine ganz entschieden andere Wirkung als in
grossen. Von der Ipecacuanha z.B. ist das schon lange bekannt.
Man hatte seit Decennien erfahren, dass ıo Gran derselben
— 0,60 leichter Erbrechen herbeiführten als ı Skrupel = 20 Gran
oder r,2. Dann aber erfuhr man noch weiter, dass sie in kleinen
Gaben von 0,015—0,05 Appetit erregend, in etwas grösseren von
0,1—0,3 Appetit vermindernd oder gar Übelkeit verursachend
wirkte, dass sie in mittleren Gaben von 0,5— 1,0 Erbrechen und
Diarrhöen hervorrief und in grossen von 3,0—5,0 als Antidiar-
rhoicum, oder wie in der Jacksch’schen Mixtur (Rad. Ipecac.
6,0—10,0— 15,0 auf 200,0 Flüssigkeit) auch ohne Zusatz von
Moschus als Ereticum beziehentlich Analepticum sich bethätigte.
Ricinusöl, das kinderlöffel- bis esslöffelweise gereicht, ein Ab-
führmittel ist, verhält sich in Dosen von !/ı bis !/a bis ı Thee-
löffel vielfach gerade umgekehrt. Anstatt durch ein paar kräf-
tige Entleerungen die vorhandene Diarrhöe mit der Hinweg-
räumung der sie bedingenden Schädlichkeiten zu beseitigen, be-
seitigt es sie ‚in diesen kleinen Dosen häufig unmittelbar.
Dasselbe gilt auch vom Crotonöl, wenn es nur zu !/ao—!/s Tropfen
= 0,0012 bis 0,005, wie von Charles Bell gegen Neuralgien
empfohlen, angewandt wird. Crotonöl ist deshalb in so kleinen
Dosen auch schon gegen allerhand in Durchfällen sich zeigenden
Darmleiden angewandt und gegen die Ruhr z. B. von Konop-
leff auf das lebhafteste gepriesen worden. — Carlsbader Salz
ruft in kleinen Dosen leicht Stuhlverstopfung hervor und muss
in erheblich grösseren gegeben werden, damit es die abführenden
Wirkungen entfalte, um deren Willen es gerade geschätzt wird.
Daher komnit es auch, dass in einer Anzahl von Fällen, in denen
es in Gaben genommen wurde, die gerade zur Erzielung einer
Stuhlentleerung hinreichend waren, es seine Dienste auf einmal
versagte und diese erst wieder leistete, wenn es in grösserer
Menge genommen wurde. Die Natur hatte sich, wie es heisst,
an dasselbe gewöhnt. Sie war durch den es darstellenden Reiz
abgestumpft, der Reiz war dadurch für sie zu klein geworden,
101
um auf ıhn in der bisherigen Weise zu antworten, und da-
ınit sie von Neuem auf ihn in derselben Weise antwortete,
musste er verstärkt, das Carlsbader Salz in grösserer Menge
genommen werden. — Man vergegenwärtige sich ferner die
Wirkung des Alkohols, des Opiums, des Tabaks, die alle zuerst
d. i. in kleinen Mengen, erregen, sodann aber, d.h. in etwas
grösseren Mengen die Erregung steigern, darauf d. i. in grossen
Mengen hemmen und dadurch anscheinend erschlaffen, endlich
d. i. in relativ grössten Mengen lähmen, töten. — Das Tuber-
ceulinum Kochii, das bei der Tuberkulose wirksame Ptomain,
wirkt in den angewandten Gaben auf den tuberkulosen
Prozess im Sinne der Heilbestrebungen günstig ein. Es ruft
in dem tuberkulosen Gewebe, den tuberkulosen Entzündungs-
heerden, eine solche Steigerung des bereits bestehenden Pro-
zesses hervor, dass unter derselben das Gewebe sogar ab-
sterben und brandig zu Grunde gehen kann. Die in ihm vor-
handenen Bacillen haben unter solchen Umständen nicht mehr
den geeigneten Nährboden, degenerieren und sterben über kurz
oder lang ebenfalls ab. Allein ehe es so weit kommt, erliegt
der Tuberkulose selbst sehr häufig, ganz abgesehen von anderen
Ursachen, namentlich den Folgen der Wirkung, welche die Stei-
gerung der örtlichen tuberkulosen Prozesse auf den Gesamt-
organismus ausübt. Das Mittel, welches heilen sollte, führt zu
einem früheren Tode, zumal wenn jene Prozesse sich in Organen
entwickelt haben, welche einen stärkeren Eingriff in ihre Lebens-
vorgänge nicht gestatten. Das Centralnervensystem, Gehirn und
Rückenmark, die Lungen, der Darm, sind da ganz besonders
empfindlich. In Folge dessen wird auch dem Tuberculinum
Kochii besten Falls immer nur eine beschränkte Heilwirkung
zukommen, welche sich nicht über die anderer Mittel erhebt.
Die Tuberkulose wird durch dasselbe darum auch nicht aus der
Welt geschafft werden, und der Tod an ihr wird nach wie vor
die Geschlechter dezimieren. Wenn indessen das Tuberculinum
Kochii auf die schon vorhandene ausgebrochene Tuberkulose
den geschilderten Einfluss ausübt, wie verhält es sich da wohl
in Bezug auf die Entstehung derselben? Die Tuberkulose soll
nur durch den Tuberkeibacillus erzeugt werden. Allein der
Tuberkelbacillus an sich soll das auch noch nicht thun, sondern
erst das Ptomain, oder vielleicht auch die Ptomaine, welche er be-
102
reitet und absondert, also eben der wirksame Bestandteil des
Tuberculinum Kochi. Ist das jedoch der Fall, und anders ist
es den gegebenen Verhältnissen nach nicht wohl denkbar, so
würde das Tuberculinum Kochii, das in grösseren Mengen, wenn
dieselben auch nur einige Milligramm oder Centigramm betragen,
das tuberkulose Gewebe zerstören, in kleineren, ja sogar unend-
lich viel kleineren, dasselbe erzeugen. Es würden also sehr
kleine Mengen des Tuberkulins, und unter Umständen vielleicht
verflüchtigte und danach eingeathmete oder sonstwie inkorporierte,
ohne dass wir gerade wüssten, woher sie kämen, die Tuberkulose
hervorrufen, anfachen, etwas grössere sie in ihrer Entwickelung
beschleunigen, fördern, relativ grosse sie hemmen, und noch
grössere sie vernichten, wobei indessen das betreffende Indivi-
duum selbst leider häufig mit vernichtet würde. Diese Erkennt-
nis erklärt denn auch den Umstand, warum nach Einspritzungen
von Tuberkulin wiederholt das Auftreten von akuter Miliartuber-
kulose beobachtet worden ist. Das Tuberkulin erzeugte dieselbe,
wie es die chronische Tuberkulose, wenn es sie erzeugt, über-
haupt wohl erzeugt. — Die grossen Dosen haben that-
sächlich so eine umgekehrte Wirkung wie die kleinen.
Die Hemmung ist das Umgekehrte von der Anregung,
die Lähmung das Umgekehrte von der Erregtheit.
Dass so etwas bestehe, ist, wie bereits hervorgehoben wurde,
auch schon lange bekannt. Warum? und dass dem etwas
durchaus Gesetzmässiges zu Grunde liege, das Eingangs er-
wähnte biologische Grundgesetz, das hat jedoch erst Schulz
dargethan. Es ist nicht zu verkennen, er hat damit der Therapie
und insbesondere, soweit sie durch die Pharmakodynamik be-
dingt ist, erst einen festeren, einen sichereren Boden geschaffen,
auf dem sich gründend sie nunmehr in wissenschaftlich rationeller
Weise sich immer weiter und weiter entwickeln kann. Er hat
aber auch die gesamte Biologie damit gefördert. Denn indem
er die Arzneiwirkung auf das Nervenerregungsgesetz zurückzu-
führen wusste, ermöglichte er erst die Betrachtung jener so
mannigfaltigen Wirkungen unter einem einheitlichen Gesichts-
punkte, bewies aber auch damit wieder die Gültigkeit dieses
Gesetzes auch für andere Gebiete als blos das Nervensystem
und damit denn auch die Richtigkeit des von mir verfochtenen
Satzes, dass es überhaupt ein die Gesamtheit der Organismen,
die ganze organische Welt beherrschendes Gesetz, ein biolo-
gisches Grundgesetz in vollem Umfange sei.
Was von der medizinischen Therapie im Besonderen, das
gilt auch von den therapeutischen Vornahmen im Allgemeinen,
vornehmlich auch von vielen ächt chirurgischen Vornahmen,
von der Balneotherapie und der ihr sich unterordnenden
Hydrotherapie, von der Elektrotherapie, der Klimato-
therapie, der Massage, selbst dem zu therapeutischen Zwecken.
verwandten Hypnotismus und der Suggestion.
Heidenhain und Granville haben festgestellt, dass die
Erregbarkeit eines bereits mechanisch erregten Nerven durch
einen mässigen Druck gesteigert, durch einen stärkeren aber
herabgesetzt und endlich selbst aufgehoben werde. Zu einem
ganz gleichen Ergebnis gelangte Zederbaum, nach welchem
eine gewisse, sagen wir mässige Belastung, eines blossgelegten
Nerven die Erregbarkeit desselben erhöht, eine stärkere ver-
mindert. Nach Schleich wird durch eine schwache Dehnung
der Nerven die Reflexthätigkeit bis zu einem gewissen Grade
gesteigert, und nach Valentin durch eine stärkere Dehnung
diese Thätigkeit ebenso wie ihre Erregbarkeit überhaupt zuerst
vermindert und dann vorübergehend aufgehoben. Eine starke
Dehnung dagegen vernichtet diese dauernd. Von P. Vogt
wurden diese Angaben zur Zeit der Nervendehnung zu Heil-
zwecken durch seine in dieser Hinsicht gewonnenen Erfahrungen
durchaus bestätigt.
Ein schwacher Druck regt das Wachstum, die trophischen
und plastischen Vorgänge in der Epidermis, im Corium an. Es
kommt zu Wucherungen in denselben; beide verdicken sich.
Ein etwas stärkerer, ein mittelstarker Druck steigert die frag-
lichen Wucherungen und mit ihnen die entsprechenden Ver-
dickungen; es kommt zu Schwielenbildungen, von denen die an
Händen und Füssen die bekanntesten sind. Wird der Druck
noch stärker, wird er ein sogenannter starker, so hat er das
Gegenteil zur Folge: es entsteht Druckatrophie. Wird endlich
der Druck ein sehr starker, stärkster, so werden die unter ihm
leidenden Gewebe ertötet, und es kommt damit zu Druckbrand,
Decubitus.
Ein lauwarmes Bad wirkt caeteris parıbus, vornehmlich in
Betreff der Zeit, mild anregend, ein warmes aufregend, ein
104
heisses erschlaffend, und ein überheisses kann wie siedendes
Wasser überhaupt den Tod nach sich ziehen. Ebenso wirkt
ein kühles Bad belebend, erfrischend, ein kaltes stark erregend,
ein noch kälteres lähmend, und in Eiswasser hat schon manch!
Einer, ohne dass er geradezu ertrank, seinen Tod gefunden. Die
nasse Kälte macht erstarren und setzt schliesslich dem Leben
ein Ende. Die Hydrotherapeuten haben längst und zwar schon
die alten Empiriker, Piuty, Priessnitz, Vieck, von dieser Er-
fahrung Gebrauch gemacht und, je nach der Individualität ihrer
Kranken und der Widerstandsfähigkeit derselben, das kalte
Wasser durch lauwarmes, z. B. durch Einwickelungen, die jähen
Übergiessungen durch Bespülungen, wie ich es von Vieck bei
der Behandlung von Typhuskranken in den fünfziger Jahren
selbst gesehen habe, ersetzt. Dass der Tod unter der Douche
erfolgen kann, habe ich ebenfalls gesehen, wenn auch nicht ge-
rade in einer Kaltwasserheilanstalt, und dass nach ihr wie nach
jähen kalten Übergiessungen überhaupt Krämpfe, eine Art
Tetanus, eintreten, rasche Verblödung sich entwickeln Kann,
habe ıch leider auch erfahren. Und doch ist die kalte
Douche, sind die kalten Übergiessungen für Viele ein wahres
Labsal.
In Bezug auf die Elektrotherapie gilt, was zum Teil schon
den Ärztendes vorigen Jahrhunderts bekannt war, dass schwächere
Ströme schwächer, stärkere, sogenannte mittelstarke stärker er-
regend wirken, dass starke Ströme zu lähmungsartigen Zuständen
führen und sehr starke gleich den gewöhnlichen Blitzen dauernde
Lähmungen, selbst den Tod zur Folge haben können.
Kühlere Klimata, in denen eine leicht bewegte Luft herrscht,
rufen ein Wohlbefinden als Ausdruck eines gesteigerten Lebens-
prozesses, wie man sagt, des erhöhten Stoffwechsels hervor.
Kühle Klimata mit etwas belebteren Winden steigern in der
Regel dieses Wohlbefinden; rauhe mit stärkeren Winden ziehen
leicht sogenannte Überreizungen, Zustände von Erschlaffung,
Erlahmung nach sich, — die übel berufenen Erkältungszustände
sind die bekanntesten Erscheinungen derselben —, und dass kalten,
rauhen Klimaten vorzugsweise widerstandslose Individuen, und
zwar nicht blos Menschen, sondern auch Tiere und selbst Pflanzen
alljährlich zum Opfer fallen, ist männiglich bekannt. Mutatis
mutandis wirken die wärmeren, warmen und heissen Klimate
1v5
ebenso, und darauf beruht es, dass Jahr aus Jahr ein so und so
viele Leidende, welche durch ein Höhenklima, ein nördliches
Seeklima Besserung erhofft hatten, dieselben, nur kränker ge-
worden, verlassen und z. B. Pontresina, St. Moritz mit Gersau
oder Beckenried, Sylt, Helgoland mit Glücksburg, Müritz oder
Zinnowitz vertauschen, oder aber, nachdem sie den Winter in
Egypten, Algier oder Sicilien verbracht haben, nach der Riviera,
von da nach den italienischen oder insbesondere dem Genfer
See übersiedeln müssen, um aber auch diesen im Monat Mai,
weil es an ihm zu heiss geworden, wieder zu verlassen.
Von der Massage weiss jedermann, und die alten Streich-
weiber von vor vierzig, fünfzig Jahren haben schon davon den
Gebrauch gemacht, der die Streich- oder Knetkur im Volke
hochhalten liess, dass leises Streicheln, wie es die Hand der
Mutter beim leidenden Kinde übt, eine ganz andere Wirkung
hat, als ein starkes Streichen, Kneten, Klopften, Walken. Das
leise Streicheln einer ruhigen Hand hat etwas Besänftigendes.
Es setzt durch Gegenreiz eine vorhandene Reizwirkung herab,
ohne selbst einen höheren Reizzustand, wenigstens fürs Erste
hervorzurufen. Das stärkere Streichen bewirkt dies Alles im
stärkeren Masse, ruft deshalb aber auch leicht einen stärkeren
Reizzustand hervor, der, wenn er auch einen andersartigen, vor-
handenen aufhebt, an und für sich doch nun fortbesteht. Starkes
Streichen, Kneten, Klopfen, Walken hat Überreizung, lähmungs-
artige Zustände zur Folge, und ganz starke entsprechende
Einwirkungen können den Tod nach sich ziehen. Man kann
Menschen zu Tode kitzeln, zu Tode kneten, zu Tode klopfen, -
zu Tode hauen, zu Tode walken.
Der Hypnotismus, die Suggestion, die im tröstenden Zu-
spruch der Familienmitglieder, des Arztes, des Seelsorgers sich
zunächst in wohlthätiger Weise zur Geltung bringt, kann, in
Übermass angewandt, gerade die entgegengesetzte Wirkung
haben. Beweisende Fälle auch dafür fehlen nicht. Ich habe
sie selbst erlebt.
Nach alledem macht sich das biologische Grundgesetz durch
die gesamte Therapie geltend. Es giebt keinen Zweig der-
selben, über welchen es nicht seine Herrschaft ausübte, und
ganz besonders ist es die Form desselben, die als das Erregungs-
gesetz des ermüdeten und absterbenden Nerven bekannt ist, in
welcher es sich bethätigt.
106
Die Möglichkeit einer Verständigung der verschiedenen
Richtungen in der Therapie, selbst der Homöopathie und
Allopathie, ist damit gegeben. Man hat, das auszusprechen,
mancherseits sehr anstössig gefunden und hart getadelt. Allein
auch die Hydrotherapie und die Hydrotherapeuten hat man einst
viel gescholten und über das Streichen und Besprechen. oder
Stillen der alten Weiber sich lustig gemacht. Und heute? Die
Hydrotherapie wird bis zu einem gewissen Grade von jedem
Arzte geübt. Der Priessnitz'sche Umschlag wird alle Tage
angewandt und des Weiteren? Die grössten Chirurgen massieren,
und die berühmtesten Nervenärzte suggerieren. Man streicht
und bespricht oder stillt ärztlicherseits allenthalben. Difficile
est satiram non scribere! Die etwaige beregte Verständigung
aber wird endgiltig herbeigeführt werden durch das biologische
Grundgesetz: „Schwache Reize fachen die Lebensthätig-
keit an, mittelstarke fördern sie, und stärkste heben
sie auf!“ beziehentlich: „Schwache Reize — und jedes
therapeutische Mittel ist ein Reiz — haben die umgekehrte
Wirkung von starken!“
Was indessen ein schwacher, was ein starker Reiz ist, ist ganz
individuell und hängt von der jeweiligen Reizbarkeit, beziehungs-
weise Widerstandsfähigkeit des betreffenden Individuumsund seiner
bezüglichen Organe ab. Was für den Einen schwach ist, ist
für den Andern stark, selbst sehr stark. Und da kommt denn
das Pflüger-Wundt’sche Erregungsgesetz vom ermüdeten und
absterbenden Nerven zur Geltung, das Gesetz, das man wohl —
ich wiederhole es — für ein begrenztes Gebiet in der Neurologie
für stichhaltig erklärt hat, aber in seiner ganzen biologischen
Bedeutung, und damit in seiner Gültigkeit für die gesamte Medicin
noch immer nicht anerkennen will, obgleich, wie die Erfahrung
gelehrt und Schulz für einen der wichtigsten Teile der Medizin
experimentell nun nachgewiesen hat, es die Grundlage für alle
unsere entsprechenden Handlungen zu bilden hat.
—————
un
4,
Plattfuss, Klumpfuss
und das biologische Grundgesetz.
Plattfuss und Klumpfuss werden seit Langem schon von
einer Reihe von Anthropologen und Aerzten, namentlich Irren-
ärzten, als Stigmata degenerationis, Zeichen einer Entartung an-
gesehen, welche zum schliesslichen Untergange des Stammes,
der Familie führt, welcher das betreffende Individuum angehört
und insbesondere insofern, als es Ausgangspunkt eines neuen
Zweiges derselben wird. Wie die Sache zusammenhängt, ist
indessen bis jetzt im Ganzen unbekannt geblieben. Nur verein-
zelte allgemeine Erwägungen haben ein Verständnis dafür an-
zubahnen gesucht; doch hat man sich immer mehr bei der
blossen Thatsache beruhigt, dass Platt- und Klumpfuss vorzugs-
weise bei auch sonst mit Entartungszeichen behafteten Personen
vorkommen, als dass man nach dem Zusammenhange dabei ernstlich
geforscht hätte. Dazu kam, dass über die Entstehung des Platt-
fuss wie des Klumpfus die sonderbarsten, grob mechanischen Auf-
fassungen sich breit machten und zum Teil noch breit machen, die
sich erst heranbildenden Aerzte beeinflussten und zum Teil noch
beinflussen, so dass diese, einmal erzogen, für die grob mechani-
schen Einflüsse, welche jene Missbildungen herbeiführen sollten,
auch wenn sie in ihrer ganzen Annahme unberechtigt waren,
dennoch mehr Verständnis besassen, als für die feineren biolo-
gischen Vorgänge, trotzdem dieselben auch nur rein mechanische,
allerdings molekular-mechanische sind, welche allein zu ihnen
führen. Man denke nur daran, dass der Plattfuss, der {Pes
valgus, beziehentlich die Pedes valgi nur dadurch zu Stande
kommen sollten, dass die Last des Körpers den Fuss platt
drückte, oder, wie man das klangvoller und möglichst überzeugend
zu bezeichnen suchte, sein Gewölbe eindrückte, und dass der
Klumpfuss, der Pes varus, beziehenjlich die Pedes vari, wenig-
stens die angeborenen, dadurch zur Entwicklung kämen, dass
Wahe hue Be
vv
108
der gehörigen Ausbildung der Füsse im Uterinleben wegen
Raumbeschränkung in Folge mangelnden Fruchtwassers zu grosse
Hindernisse entgegengesetzt worden wären! Ich will keineswegs
den mächtigen Einfluss leugnen, den gröbere mechanische Vor-
gänge auf die Entwickelung unserer Körperformen ausüben —
man braucht sich ja nur der Füsse der chinesischen Damen zu
erinnern, der wunderbaren Kopfformen asiatischer und ameri-
kanischer Völkerschaften, der Wespentaillen unserer Frauen
höherer Stände —; allein dass die erwähnten von der Bedeutung
für die Entwickelung der in Rede stehenden Missbildungen sein
sollten, wie behauptet worden ist, das dürfte, von vereinzelten
Fällen abgesehen, doch wohl noch sehr bestritten werden können.
Wenn diese Bedeutung nämlich in der That so gewaltig
und allein entscheidend wäre, wie sie es sein soll, warum zeigen
sich da Plattfuss und Klumpfuss, trotzdem beide so häufig vor-
kommen, nicht doch noch häufiger, da die fraglichen Einflüsse
zum Teil ganz allgemein verbreitet, zum Teil viel öfter vor-
handen sind, als ihre Bethätigung wahrgenommen wird? Warum
sind beide doch blos mehr an vereinzelte Persönlichkeiten ge-
bunden und warum da wieder besonders an solche, an denen
auch noch andere Mängel und Fehler vorhanden sind, vor Allem
entsprechende Missbildungen an den Knien, an den Händen
und dem Antlitz, dessen Kiefer ja als die Homologa der Ex-
tremitätenknochen zu denken sind, und demnächst Blutarmut,
Feistigkeit, Plumpheit oder übermässige Zartheit, Nervosität,
Hysterie, Epilepsie, Imbecillität, Idiotie? Die meisten und am
weitesten entwickelten Platt- und Klumpfüsse findet man bei
den Cretins, bei denen dadurch nicht selten das Gehen geradezu
unmöglich wird, nun, und die Cretins sind eben im höchsten
Grade degenerierte, nach allen Richtungen hin missbildete, weil
missratene Menschen! Es gehört eben noch etwas. Anderes
dazu, als blos die fraglichen mechanischen Einflüsse, um die
einschlägigen Missbildungen herbeizuführen, und das weist auf
eine besondere Anlage, Disposition zu ihnen hin, auf eine
Widerstandslosigkeit der betreffenden Individuen, namentlich in
Bezug auf die jeweiligen Gliedmassen und ihrer einzelnen Teile,
in Folge deren erst die beregten äusseren, rein mechanischen
Einflüsse die Macht gewinnen, welche man ihnen von vornherein
zuschreibt, beziehentlich zuschrieb.
Be -
109
Wie sehr das zutrifft, zeigt schon der Umstand, dass Platt-
fuss vornehmlich bei mehr schmalen, schlanken Leuten mit
langen Gliedmassen, bei denen sich besonders auch X-Beinbildung,
Genu valgum, findet, angetroffen wird, dass dagegen Klump-
fuss mehr bei breiten, untersetzten Leuten mit mehr kurzen
Gliedmassen, von denen die unteren zur O-Beinbildung, Genu
varum, neigen, vorkommt. Ueberhaupt ist der Idealfuss wohl
nur im Reiche der Ideale und der Kunst zu finden; im gemeinen
Leben sieht man wohl blos entsprechend dem sonstigen Wuchse
des Körpers Füsse, die, je nachdem, zum Plattfuss oder Klump-
fuss hinneigen. Der Plattfuss, der Klumpfuss schlechtweg wäre dann
auch blos eine Ausschreitung dieses Verhaltens, ein Excess, wie
Rokitansky gesagt haben würde, und die Art und Weise, wie
die verschiedenen Menschen gehen und namentlich ihre Schuhe
austreten und die Sohlen und Absätze derselben ablaufen, be-
weist das. Langgliederige, schlanke Menschen neigen so kurz-
weg mehr zu Plattfuss mit entsprechenden X-Beinen, untersetzte,
stämmige mehr zu Klumpfuss mit entsprechenden O-Beinen hin.
Sodann legt dafür der weitere, schon in Erwähnung gebrachte
Umstand Zeugnis ab, dass, wo Plattfuss oder Klumpfuss vor-
kommt, auch die Hand, das Antlitz in entsprechender Weise
abgeändert zu sein pflegt. Die Hand ist eine Art Platt- oder
Klumphand, das Gesicht ein mehr langes, schmales oder ein mehr
rundes, breites, im ersteren Falle häufig mit mehr oder minder
vorgestrecktem Unterkiefer, wie er für das sogenannte Cranium
progenaeum charakteristisch ist.
Es fragt sich nun: Wie hängt das Alles zusammen, und
worin besteht die Disposition zu ihm, das nur auf sie hin zur
Ausbildung kommen soll? Um hierauf eine genügende Antwort
geben zu können ist es notwendig, weiter auszuholen und auf
die Entstehung, die phylogenetische Entstehung, der Glied-
massen näher einzugehen.
Die Gliedmassen der Ringelwürmer, der Arthropoden, der
Vertebraten, sowohl was sie als Fortbewegungs- wie anch als
Ergreifungsorgane anlangt, stehen mit den Athmungswerkzeugen,
namentlich, insofern dieselben Kiemen darstellen, in sehr inniger
Beziehung. Aus den Gliedmassen entwickeln sich Kiemen wie
bei den Krustern; aus den Kiemen entwickeln sich Gliedmassen,
110
wie z. B. die Flügel der Insekten aus den sogenannten Tracheen-
kiemen, welche sich noch nachweislich bei den im Wasser leben-
den Larven der Ephemeriden, Perliden, Phryganiden, zum Teil
auch Culiciden u. s. w. finden. Aus Kiemen haben sich auch
die Gliedmassen der Vertebraten entwickelt. Die Kiefer, also
die Hauptmasse des Gesichtsskelets, gehen, wie die Embryologie
lehrt, noch heutigen Tages daraus hervor; bei den Vorder- und
Hinter- oder Ober- und Untergliedmassen, Armen und Beinen,
ist dagegen abgekürzte Vererbung eingetreten. Die Gesichts-
entwicklung stellt eine Palingenie dar; Arme und Beine haben-
eine Känogenie eingeschlagen. Da der Kiemenapparat als ein
Ganzes anzusehen ist, das von einem bestimmten Abschnitte des
Centralnervensystems innerviert wird, so leuchtet ein, warum so’
häufig, wie das auch schon Tierzüchtern aufgefallen ist, Gesicht
und Extremitäten in derselben Richtung geartet, beziehentlich
abgeändert sind, warum, wenn die Extremitäten kurz gerathen
sind, auch das Gesicht, insbesondere die Kiefer kurz sind, —
der Kopf selbst, d. i. der Schädel, ändert sich wohl erst, nach-
dem die Kiefer verändert sind —, warum dagegen, wenn jene
ein grösseres Längenwachstunm erfahren haben, auch diese sich
durch eine grössere Länge auszeichnen. Unter den Pferden die
englischen Rennpferde und die schottischen Ponnys, unter den
Rindern die holländische, die oldenburger und die schweizer,
namentlich aber die hornlose schottische Rasse, unter den
Schweinen die älteren deutschen, polnischen Hausschweine, die
englische Berkshire-Rasse und die ungarischen, sowie manche
englischen, z. B. die Suffolk-Rasse, unter den Hunden die Wind-
hunde, Windspiele, die dänischen, die Ulmer Doggen und die
Bullenbeisser oder Boxer, die Möpse, die King Charles- und
Bologneser Hündchen, unter den Kaninchen die sogenannten
weissen englischen und die wilden, unter den Tauben die Runt-
taube, der Kröpfer und das Möwchen, unter den Hühnern das
spanische, das japanische, vor allen aber das englische Kampf-
huhn und das belgisch-holländische Bart- und Haubenhuhn, und
endlich unter den Menschen, um nur einige wenige herauszu-
heben, die Angeln, die Engländer, die Nordamerikaner auf der
einen, und die Wenden der Lausitz, die Czechen, die Thüringer
auf der anderen Seite beweisen das vollauf. Indessen, weil doch
jeder Kiemenbogen auch wieder ein bis zu einem gewissen Grade
für sich Bestehendes ist, das von einem besonderen Theile des
gedachten Abschnittes des Centralnervensystems innerviert wird,
ist auch wieder ersichtlich, warum die fraglichen Abänderungen
nicht gerade immer Gesicht, beziehentlich Kiefer und Extremi-
täten zugleich treffen müssen, sondern warum sie sehr wohl
auch einmal nur auf diese oder jene, ja sogar blos auf eins oder
das andere dieser letzteren beschränkt sein können. So erklärt
sich z. B., dass der Dachshund trotz seiner kurzen Beine eine
lange, und die Bracken trotz ihrer verhältnismässig langen Beine
doch eine nur kurze Schnauze haben.
Wie die Entwickelung des Gesichtes, beziehentlich der Kiefer
aus dem ersten Kimenbogen sich macht, kann noch alle Tage
beobachtet werden. Aus der Basis dieses letzteren wächst der
Oberkieferfortsatz hervor, und der übrig bleibende. Teil wird
damit zum Unterkieferfortsatz. An diesem entsteht durch Aus-
wachsen der Meckel'sche Knorpel und an der Aussenseite des-
selben als Beleg- oder Deckknochen aus den Flementen der
Lederplatte der bleibende knöcherne Unterkiefer. Wie die
Extremitäten aus den Kiemenbogen entstehen, ist nicht bestimmt
festzustellen. Da muss Vieles erschlossen und namentlich durch
Combination von Thatsachen ans der vergleichenden Anatomie
und Embryologie wahrscheinlich gemacht werden. Über das
blos Wahrscheinliche kommen wir deshalb hierbei nicht hinaus;
allein es kann durch Umfang des Beobachteten der Wahrheit
so genähert werden, dass wir selbiges mit der bekannten Ein-
schränkung auch als solche ansehen können.
Nach Gegenbaur*) wird aus dem betreffenden Kiemen-
bogen selbst Schulter-, beziehentlich Beckengürtel,
und zwar auch nicht unmittelbar, sondern ebenfalls erst, nachdem
sich, wie beim Unterkiefer, Beleg- oder Deckknochen aus der
Lederplatte gebildet haben. Diese Beleg- oder Deckknochen
in ihren verschiedenen Verbindungen stellen dann der Haupt-
sache nach Schulter- und Beckengürtel dar, und nur ein unbe-
deutender Anteil dieser letzteren kann noch auf den ursprüng-
lichen Kiemenbogen oder seinen Knorpel zurückgeführt werden,
wie z. B. der Processus coracoides scapulae.. Arm und Bein
dagegen gehen aus gewissen Anhängen oder Auswüchsen des
* C. Gegenbaur, Grundriss der vergleichenden Anatomie, 2. Auflage,
Leipzig 1878. S. 496 u. ff.
112
Kiemenbogens hervor, wie solche sich z. B. an dem Hyoidbogen
des Barsches, des Zanders, des Dorsches u. a. m. finden, und
die in Fig. ı, d—e, schematisch dargestellt sind.
NZ RH s N
a an I —G N Be
i Ss 2 N Ne
on So Ss
U S
Schemata zur Erläuterungen der Entwickelung des Extremitäten-Skeletes aus den
Bier.
Kiemen. « b c d Kiemenbogen von Selachiern; e Archipterygiumform.
(Nach Gegenbaur.)
An den Kiemenbögen entstehen nämlich eine Anzahl von
strahlenartig angeordneten Stacheln oder Dornen, welche durch
Häutchen mit einander verbunden sind. In Folge von fort-
gesetzten Bewegungsversuchen werden diese Stacheln oder
Dornen selbst beweglich, und zwischen ihnen und dem Kiemen-
bogen bildet sich damit eine Art von Gelenk aus. Einer der
Stacheln oder, wie wir sie hinfort nach ihrer Anordnung nennen
wollen, Strahlen, entwickelt sich stärker, wird stämmiger und
länger, zieht damit die andern, durch Häute mit ihm verbundenen
seitlich an sich in die Höhe und entwickelt zwischen diesen noch
neue, ihnen ähnliche Strahlen. Hierdurch entsteht die Grund-
oder Urform der an den Schulter- und Beckengürtel angehefteten
freien Gliedmassen, die Gegenbaur als Archipterygium
bezeichnet hat, die Grund- oder Urform der Fischflosse, von
der sich alle anderen Gliedmassenformen ableiten lassen. Bei
den Selachiern, Haien, bei denen der Mittelstrahl sich stärker
entwickelt und so zum Hauptstrahl der ganzen Bildung wird,
lässt sich der Übergang von dem einfach stachelbesetzten
Kiemenbogen bis zum Archipterygium ziemlich genau verfolgen.
Die Stacheln oder Strahlen des Archipterygiums gliedern
sich. Wohl in Folge der Bewegung zerfallen sie in einzelne
immer kleinere, durch Häutchen unter sich verbundene Stücke,
und so entsteht die eigentliche Fischflosse, die, trägt sie den
vollständigen Charakter des Archipterygiums an sich, eine
biseriale genannt wird. Als solche findet sie sich noch
heutigen Tages bei dem Ceratodus Forsteri, einem in
NT
115
Australien lebenden Überbleibsel einer ehemals zahlreicheren
Gattung bis mehrere Fuss langer Fische (Fig. 2).
Bie2.
Brustflosse von Ceratodus Forsteri, a b Flossenstamm, cd Flossenstrahlen.
(Nach Haeckel.)
Wohl wieder in Folge von Bewegung, also auf Grund des
Gebrauches, wanderten danach die Flossen samt ihrem Gürtel
und rückten aus dem Bereiche des Kiemenapparates an Brust
und Bauch, den ganzen Rumpf so in Hals, Rumpf im engeren
Sinne und Schwanz teilend. Dass die Flossen wandern und in
Folge dessen verschiedene Lagen am Körper einnehmen, erliegt
wohl kaum noch der Frage. Namentlich sind es die Bauch-
oder Beckenflossen, welche solche Wanderungen zeigen, und
die deshalb als sogenannte Kehlflossen beim Meergrundel, Kabel-
jau, Dorsch, der Aalquappe (Blennius) z. B. vor, beim Barsch,
Zander unter und dicht hinter den Brustflossen, oder als soge-
nannte Brust-Bauchflossen bei den Lippfischen, dem Harder, etwas
weiter hinter denselben liegen. Doch das nur nebenbei, wenn
auch für die Erklärung, wie Arme und Beine aus Kiemenbogen
hervorgegangen sein sollen, wichtig!
Die einfache biseriale Flotte wird zum Ausgang der Glied-
massenbildung aller höheren Wirbeltiere. Bei Fischen kommen
zwar noch Flossen vor, welche gewissermassen aus einer Zu-
sammensetzung von mehreren, wenn auch sehr veränderten
biserialen Flossen beruhen, indem sie neben dem Archipterygium
aus den am Kiemenbogen sitzen gebliebenen Stachelstrahlen
noch weitere archipterygienartige Gebilde entwickelten, die dann
mit dem eigentlichen Archipterygium verschmolzen und so nun
eine Art zusammengesetzter Flossen darstellen. Gegenbaur
unterscheidet an solchen zusammengesetzten Flossen von vorn
nach hinten, beziehentlich von unten nach oben oder auch von
Bauch nach Rücken gezählt: das Propterygium, das Meso-
pterygium und Metapterygium, von denen das letzte dem
8
114
eigentlichen Archipterygium entspricht; allein diese Flossen
(Fig. 3, 4, 5), durch welche die mitunter sehr abwegig gebildet .
Fig. 3. Fig. 4.
Primäres Brustflossenskelet von
Acipenser ruthenus nach Entfernung
eines Teiles des sekundären Skelets.
B Basale des Metapterygiums, RB
knöcherner Randstrahl des nur teil-
weise dargestellten secundären Flos-
senskelets.
(Nach Gegenbaur.)
Brustflossenskelet von Acanthias vulgaris.
p Basale des Propterygiums, mt des Meta-
pterygiums, ms des Mesopterygiums,
B medialer Flossenrand. Die durch mt
gezogene Linie deutet die Stammreihe
des Archipterygiums an. Die punktirten
Linien entsprechen den Radien, die gröss-
tenteils lateral (R R) und nur in Rudi-
menten auch medial (Rl) angeordnet sind.
(Nach Gegenbaur.)
Fig. 5.
Schema der Brustflosse eines Selachiers. bbb Basale des Pro-
pterygiums pt, des Mesopterygiums ms und des Metaptery-
giums mt. Der schraffierte Anteil des Metapterygiums stellt
den in die Gliedmassen der höheren Wirbeltiere sich fort-
setzenden Abschnitt dar. (Nach Gegenbaur.)
erscheinenden Flossen der Rochen, Haie, Störe doch wieder
auf ein und denselben Bildungsvorgang zurückgeführt werden,
sind für die Entwicklung der Gliedmassen der höheren Wirbel-
tiere von keiner Bedeutung. Diese stehen nur mit der biserialen
FlosseinZusammenhang, wiesienochCeratodusForsteri besitzt.
An der biserialen Flosse heisst der Mittelstrahl der Stamm
der Flosse, der damit denn auch der Stamm des Archiptery-
giums ist. Er ist wie auch die Seitenstrahlen vielfach gegliedert.
Die betreffenden Glieder können mannigfache Veränderungen
erleiden. Die Seitenglieder können ganz in Wegfall kommen, so
dass nur knorpelige Fäden übrig bleiben, wie bei dem Lungen-
115
fiich Protopterus adnectens, oder starrere Stacheln ihre
Stelle einnehmen, wie bezüglich der Bauchflossen beim Stichling,
Gasterosteus, oder aber, was wichtiger ist, sie fallen nur
teilweise fort, auf einer, und zwar der äusseren oder Rückenseite,
und die Flossen werden dann uniserial. Demnächst können die
einzelnen Glieder sich vergrössern, namentlich verlängern, mit
anderen verschmelzen und dabei in die verschiedensten Formen
übergehen.
Das Glied des Flossenstammes, mit welchem derselbe dem
zugehörigen Gürtel aufsitzt, heisst das Basale. Dieses ver-
grössert sich zuerst und zumeist und wird, wie das die Glied-
massen vonlchthyosaurus beweisen, zum Humerus, beziehungs-
weise Femur. Doch dürfte mit Rücksicht auf das eben Gesagte
aus dem ursprünglichen Basale allein kaum Humerus und Femur
hervorgegangen sein, sondern vielmehr erst nachdem eine Ver-
schmelzung desselben mit den nächstfolgenden, wenigstens
zweien stattgefunden hatte. Aus den Basale selbst wurde dann
die obere, aus dem äussersten oder letzten die untere Epiphyse
und aus dem, beziehentlich den mittleren Stücken die Diaphyse.
Wir werden sehen, dass durch diese Annahme, für welche auch
die noch heute erfolgenden Össifikationen aus drei entsprechen-
den Össifikationspunkten ein nicht unberechtigtes Zeugnis ablegen,
mehr erklärt wird, als es sonst möglich ist. Das oder nach dem
eben Gesagten, die nachfolgenden wenigstens drei Glieder, wur-
den, wie ebenfalls Ichthyosaurus, mehr noch Plesiosaurus,
lehrt, zu Ulna beziehentlich Fibula, und das, oder wieder viel-
mehr die ersten Glieder des mit dem Basale verbundenen Seiten-
strahles zu Radius, beziehentlich Tibia. An Ulna, Fibula schliesst
sich dann, dem Stamme angehörig, das Os ulnare und fibulare,
an Radius und Tibia, dem ersten Seitenstrahle angehörig, das
Os radiale und tibiale an, und zwischen Ulna und Radius einer-
seits und Fibula und Tibia andererseits, den zweiten Seitenstrahl
darstellend, welcher von Ulna, beziehentlich Fibula ausgeht,
schiebt sich das Os intermedium ein, Zwischen Os ulnare, be-
ziehentlich fibulare, und Os radiale, beziehentlich tibiale, sind
zwei Ossa centralia eingeschaltet, von denen das Oscentrale radiale
und tibiale gleich dem intermedium ein Teil des zweiten Seiten-
strahles ist, während das Os centrale ulnare und fibulare zu dem
dritten Seitenstrahle zu rechnen ist, welcher von dem Ulnare seinen
gr
116
Ursprung nimmt. Vor diesen in zwei Reihen angeordneten
Knöchelchen, deren oberste von dem Intermedium allein gebildet
wird, liegen in einer dritten Reihe fünf Knöchelchen: die Car-
palia, beziehentlich Tarsalia primum bis quintum. Das erste,
eigentlich fünfte, schliesst sich an das Radiale und Tibiale an und
ist dem ersten Seitenstrahle zugehörig; das zweite, eigentlich vierte,
steht im Anschluss an das Centraie radiale und tibiale und
gehört zu dem zweiten Seitenstrahle. Das dritte oder mittlere
steht im Anschluss an das Centrale ulnare und ist Glied des dritten
Seitenstrahles; das vierte, eigentlich zweite, steht im Anschluss
an das fünfte, von dem der vierte Seitenstrahl sich abzweigt,
und den es somit als sein erstes Glied bildet, und das fünfte
endlich, unmittelbar an das Ulnare beziehentlich Fibulare an-
schliessend, gehört dem Stamme selbst an und ist somit eigentlich
als das erste der ganzen fraglichen Reihe zu betrachten.
Die genannten zehn Knöchelchen, in der geschilderten Weise
im Allgemeinen noch bei den Amphibien vorhanden (Fig. 6, 7),
bilden in ihrem Zusammenhange den Carpus, beziehungsweise
Tarsus. An jedes ihrer dritten Reihe setzt sich dann ein
Fig. 6.
Schema der Vordergliedmasse eines Amphibiums. Die Punktlinien
deuten die Radien an, welche am Stamm des Archipterygium ver-
bleiben.
(Nach Gegenbaur.)
Big.7.
Hintere Gliedmasse einer Larve von Salamandra maculosa. Die punktierten
Linien sind durch die Radien gelegt, denen die einzelnen Stücke angehören.
(Nach Gegenbaur.)
Metacarpal-, beziehungsweise Metatarsalknochen mit zugehörigen
Phalangen an, und diese, wahrscheinlich auch jeder aus mehreren,
ER
mit Berücksichtigung ihrer Össificationspunkte, wenigstens zwei
ursprünglichen Flossenstücken entstanden, bilden so das Ende
des Stammes und der beziehentlichen Seitenstrahlen. Die Glied-
massen der Wirbeltiere, Arme und Beine sowie Flügel,
sind also umgeänderte uniseriale Flossen, deren Stamm
durch Humerus, Ulna, kleinen Finger, Femur, Fibula,
Biene Zehe sche, unde deren andere, enesprechende
Teile, natürlich mit zugehörigen Weichteilen, Nerven,
Muskeln, Bändern, Gefässen, sich aus den entsprechen-
den Seitenstrahlen gebildet haben. Nicht Daumen und
grosse Zehe, nicht der innere Hand- und Fussrand sind, wenn
ich mich so ausdrücken darf, die vornehmsten Teile an Hand
und Fuss, sondern, obgleich am mächtigsten entwickelt, doch
nur Gebilde zweiter Ordnung, und darin liegt der Schlüssel zur
Lösung der uns beschäftigenden Angelegenheit.
Die zehn Carpal- und Tarsalknöchelchen sind bekanntlich
sehr grosser Veränderungen fähig. Auf denselben beruhen ja
wesentlich mit die zahllosen Fuss-, beziehentlich Handformen,
welche bei den Wirbeltieren vorkommen. Sie können sich hier
vergrössern, eigene Gestalt annehmen, dort zurückbilden, rudi-
mentär werden, ganz in Wegfall kommen; manche können auch
verwachsen. Bereits bei den Amphibien ist dergleichen zu be-
obachten, und im Hinterfusse schon der Larve von Salamandra
maculosa erscheint daher nur ein Carpale centrale: beide sind
mit einander verwachsen. Bei den Schildkröten ist das Inter-
medium mit dem Tibiale und entsprechenden Centrale zu einem
Astragalus verschmolzen, bei den Eidechsen sind es sogar die
ersten beiden Reihen, d.h. das Intermedium mit den vier daran-
stossenden, die dann zusammen noch mit der Tibia vereinigt
sind. Bei den Vögeln liegt die Sache ähnlich, und bei den
Säugetieren? Die verschiedenen Vorkommnisse sind da all-
bekannt.
Beim Menschen ist aus dem Intermedium das Os lunatum
s. semilunatum manus und das Corpus tali s. astragali, aus dem
Ulnare das Os triquetum und aus dem Fibulare das Corpus
calcanei, aus dem Radiale das Os naviculare manus und aus
dem Tibiale das Os naviculare pedis, vielleicht auch das Caput
astragali geworden. Aus dem Carpale primum ging das Os
multangulum majus, aus dem Tarsale primum das Os cuneiforme
118
primum, aus dem Carpale secundum das Os multangulum
minus, und aus dem Tarsale secundum das Os cuneiforme
secundum, aus dem Carpale tertium das Os cuneiforme tertium
hervor. Das Carpale quartum wurde zum Os hamatum, vielleicht
in Vereinigung mit dem Carpale quintum, das sonst, an das
Os triquetrum herangedrängt, sich zum Os pisiforme gestaltete,
und das Tarsale quartum ward Os cuboideum, vielleicht eben-
falls in Verbindung mit dem Tarsale quintum, das anders aber,
auch an den Calcaneus» gedrängt, nach seiner Verschmelzung
mit demselben sich zu seiner Tuberositas umgestaltete. Diese
letztere würde dann dem Os pisiforme entsprechen und die
Homologie zwischen Hand und Fuss möglichst vollständig sein.
Aus dem Carpale centrale radiale entstand, nach Verwachsung
desselben mit dem Carpale tertium s. Os capitatum, das Capitu-
lum desselben, und aus dem Carpale centrale tibiale, nach seiner
Verwachsung mit dem Astragalus, das Caput dieses. Das Car-
pale centrale ulnare verwuchs mit dem Os hamatum zu seiner
Pars superior, und das Tarsale centrale tibiale mit dem Os
cuboideum zu dessen Pars superior s. interna. Doch soll nach
Gegenbaur das Caput astragali aus dem Tibiale hervorge-
gangen sein und das Naviculare sich aus dem Centrale gebildet
haben, sowie das Hamatum aus dem vierten und fünften Tarsale.
Das Os pisiforme aber soll gar nicht den besprochenen zehn
Carpalknochen angehören, sondern ein Überbleibsel aus einer
Zeit sein, in welcher noch mehr als zehn Carpalknochen vor-
handen waren, wie bei Ichthyosaurus, Plesiosaurus u. s. w. In-
dessen das ist für unsere Zwecke nicht von Belang. Für diese
genügt zu wissen, dass die einzelenen Knochen von Hand und
Fuss mitsamt den zugehörigen Weichteilen einer uniserialen
Flosse entsprechen, deren sämtliche nach innen von den
unmittelbaren Ulnar- und Fibulargebilden, durch welche der
Flossenstamm geht, gelegenen Teile aus den Seitenstrahlen
dieser Flosse hervorgegangen sind.
Sehen wir nun einmal die Verbildungen der Gliedmassen
an Hand und Fuss, welche in Frage kommen können, näher an,
so sehen wir, dass sie fast ausnahmslos der Radial- und Tibial-
seite angehören, und dass selbst die, welche die Ulnar- und
Fibularseite betroffen zu haben scheinen, sich doch meist auf
jene zurückführen lassen.
Fassen wir zunächst z. B. den Plattfuss in’s Auge, so finden
wir, dass das Wesentliche desselben, der Verlust des Fuss-
gewölbes und das Berühren des Bodens mit dem ganzen inneren
Fussrande, auf eine Verlängerung dieses letzteren zurückzuführen
i5t. Schon Hueter machte, und so viel ich weiss, als der
erste, darauf aufmerksam, dass eine Verlängerung des Collum,
beziehentlich Caput tali, als die Hauptursache des Plattfusses
anzusehen sei, und schlug darum denn auch ein entsprechendes
Operationsverfahren ein. Allein nicht blos das Collum, beziehent-
lich Caput tali, sind verlängert; es sind es die sämtlichen
Knochen des inneren Fussrandes und seiner Nachbarschaft, das
Os naviculare, die Ossa cuneiformia, die entsprechenden drei
inneren Metatarsalknochen und Phalangen, beziehentlich Phalangen-
reihen oder Zehen. Wenn das Collum und Caput tali sich ver-
längert, so muss, wenn der ganze Körper des betreffenden
Individuums dadurch nicht gehoben wird, die Stellung des Collum
zum Corpus eine weniger steile, eine flachere, mehr horizontale
werden und das Fussgewölbe damit einsinken. Dass die Be-
lastung des Fusses durch das Körpergewicht dies nur zu ver-
mehren, zu beschleunigen geeignet sein wird, liegt auf der Hand,
zumal wenn, wie das beim Plattfuss gewöhnlich ist, die Weich-
teile und unter ihnen namentlich auch die Bänder, Gelenk-
kapseln schlaff und nachgiebig sind; aber es gelangt das nur
zur Wirkung, wenn jenes pathologisch vermehrte Wachstum
als prädisponierendes Moment voraufgegangen ist, die bezügliche
Disposition gesetzt hat. Dadurch jedoch, dass sich alle Knochen
des inneren Fussrandes, beziehungsweise der inneren Fusshälfte,
verlängern, während die des äusseren Fussrandes, der äusseren
Fusshälfie mehr die dem gerade vorliegenden Falle zukömm-
liche Länge behalten, muss ı. der innere Fussrand sich hervor-
wölben, also eine mehr oder minder convexe Krümmung er-
fahren, und 2. der ganze innere Fussrand und damit auch der
ganze Fuss nicht blos länger, sondern auch der Winkel, welcher
von den durch den inneren Fuss- und den vorderen Zehenrand
gelegten Linien eingeschlossen wird, kleiner werden, als er sein
sollte. Und darin liegt denn auch etwas durchaus Charakteristisches
für den Plattfuss. Er erscheint auffallend lang, spitz, wenigstens
verhältnismässig schmal und leicht nach aussen gebogen.
Im Übrigen sind, wie bekannt, so gut als keine ihn be-
120
dingenden Abwegigkeiten bisher aufzufinden gewesen. Was
sonst noch eigentümlich Fremdartiges bei ihm angetroffen worden
ist, sind mehr Folgezustände als Ursachen gewesen.
Beim Klumpfuss verhält es sich gerade umgekehrt. Der
innere Fussrand, die innere Fusshälfte, beziehentlich ihre Be-
standteile, sind verkürzt, mehr oder minder verstümmelt ge-
blieben. Vielleicht alle Knochen eines Klumpfusses haben
nicht die ihnen für den jeweiligen Fall zukommende Länge
und Dicke erreicht, sind vielmehr kürzer und dünner geblieben,
als sie sein sollten, allein die des inneren Fussrandes, der
inneren Fusshälfte ungleich mehr als alle übrigen. Zunächst
zeigt das wieder am auffallendsten der Astragalus. Sein
Corpus ist, wie Bessel-Hagen*) gezeigt hat, abgeplattet;
sein Collum, sein Caput sind kürzer, dünner und steiler,
d. h. stehen mehr senkrecht, als es der Regel nach sein
sollte.e Das Os naviculare ist kürzer, beziehentlich schmäler,
der Calcaneus zeigt eine abnorme Höhe seines Processus anterior
und einen Mangel seines Proc. lateralis; die Bänder, insbesondere
die seitlichen des Sprunggelenkes, sind aussergewöhnlich kurz,
und vornehmlich ist es das Lig. calcaneo-fibulare, welches kurz
erscheint, aber wohl blos dem Lig. laterale internum gegenüber
als ein Folgezustand. Wir wissen, dass ausserdem beim Klump-
fuss Subluxationen zwischen Os naviculare und Caput astragali
einerseits, sowie zwischen Corpus astragali und Calcaneus, be-
ziehentlich Tibia andererseits stattgefunden haben, und eine
Reihe von Autoren will gerade darin das Wesentliche des
Klumpfusses sehen. Es ist etwas Wesentliches, das ist richtig,
aber doch erst etwas mehr Secundäres. Es bildete sich erst
aus und konnte sich auch erst ausbilden, nachdem die Bedingungen
dazu gegeben, die Disposition dazu vorhanden waren, d. h. die
Verkürzung des inneren Fussrandes sich geltend gemacht hatte.
Denn dadurch, dass er verkürzt blieb, in Bezug auf den äusseren
verkürzt wurde, musste der Fuss sich nach innen krümmen, die
Fusssohle sich nach innen heben, der äussere Fussrand sich
senken und dadurch notwendig der Astragalus sich gegen Os
naviculare, Calcaneus und Tibia verschieben, sowie das ganze
*) Bessel-Hagen: Ueber die Pathologie des Klumpfusses und über die Be-
handlung hochgradiger Fälle mittelst der Talusexstirpation. Verhandl. d. deutschen
Gesellschaft f. Chirurgie, 1885, Bd. I, p. 76.
121
Bein nach Innen drehen. Dadurch indessen wurden wieder Folgen
hervorgerufen, die, auf den Fuss rückwirkend, die Uebel nur
verschlimmerten, aus denen sie selbst entsprungen waren, und
damit trat dann auch der Circulus vitiosus ein, welcher bei
allen pathologischen Vorgängen, wie bekannt, überhaupt eine
grosse Rolle spielt. Wenn der innere Fussrand sich dem äusseren
gegenüber verkürzt, so muss die Linie, welche, durch ihn ge-
zogen, sich mit der durch den Zehenrand gezogenen schneidet,
dies unter einem grösseren Winkel thun.
Der Klumpfuss erscheint deshalb kurz, relativ breit, nach
innen gekrümmt, concav. Er ist also ganz das Gegenteil vom
Plattfuss. Weitere seiner Eigentümlichkeiten sind wie beim Platt-
fuss als Folgezustände zu betrachten, die aber in dem Circulus
vitiosus, der sich ausbildete, auf ihre Ursachen, so weit die-
selben ständig wurden, nicht ohne Einfluss und damit wieder
ohne Folgen blieben. — In einzelnen wenigen Fällen von sehr
ausgesprochenem Klumpfuss, aber auch immer nur in Verbindung
mit diesem, hat man die Tibia nur mangelhaft entwickelt, z. B.
ohne Knöchel, rudimentär, oder wieBillroth, Albert, Thümmel,
Ehrlich, auch ganz fehlend gefunden. Der ursprünglich erste
Seitenstrahl war also nicht zur gehörigen Ausbildung gekommen.*)
Billroth nimmt an, dass eine frühzeitige Verrenkung mit
nachherigem Schwunde an dem Mangel der Tibia Schuld
sein dürfte; in dem einen oder anderen Falle warum nicht;
aber, da die Tibia’ wie der: Radıus in den bezüglichen
Fällen gewöhnlich vorhanden und nur mangelhaft und vor-
zugsweise in den unteren Teilen mangelhaft entwickelt und
ausgebildet ist, so ist die genannte Annahme für die Mehrzahl
der einschlägigen Fälle wohl nicht zutreffend. In diesen muss der
fragliche Mangel in anderer Art zu Stande gekommen sein.
Plaftfuss, sowie Klumpfuss kommen aber dadurch zu Stande,
dass sich die Teile des inneren Fussrandes, der inneren Fuss-
hälfte anomal entwickeln, entweder im Wachstum excedieren
oder zurückbleiben. Der äussere Fussrand, der Fibularteil des
Flossenstammes, beziehungsweise die Abkömmlinge desselben,
*) Franz Thiele, Ein Fall von angeborenem Defekt der rechten Tibia.
Dissert. inaug. Greifswald 1890 und N. Ehrlich, Untersuchungen über die
congenit. Defekte und Hemmungsbildungen der Extremitäten. Aus dem pathol.
Institut in Strassburg. Virchow’s Arch. für path, Anat., Bd. C., S. 107 und ff.
122
erweist sich so als die beständige, der innere Fussrand, die
Flossenstrahlen, beziehungsweise ihre Abkömmlinge, als die
veränderliche Grösse.
Und das zeigt sich auch an anderen, entsprechenden Teilen.
Mit Plattfuss findet sich gewöhnlich X-Bein, Genu valgum, mit
Klumpfuss O-Bein, Genu varum, vergesellschaftet. Zwar kommen
auch die Verbindungen von Plattfuss und O-Bein vor, selbst
diejenigen von Plattfuss und X-Bein; allein die Regel ist, dass
Plattfuss und X-Bein, sowie Klumpfuss und O-Bein zusammen
vorkommen. Die Mehrzahl der Forscher hat von jeher, seitdem
man die pathologisch-anatomischen Ursachen für diese beiden
Missbildungen zu erforschen gesucht hat, sich dafür entschieden,
dass neben grob mechanischen Einflüssen, wie Belastung, die.
nicht zu unterschätzen sind, vorzugsweise doch ungleiches Wachs-
tum in den Epiphysenlinien des Femur und der Tibia dafür
verantwortlich zu machen sei. Von deutschen Autoren sind da
besonders Roser zu nennen, der schon im Jahre 1859 dafür ein-
getreten ist*), demnächst Mikulicz, der vornehmlich heutigen
Tages dafür streitet,**) und König, welcher sich dem letzteren
der Hauptsache nach angeschlossen hat.***)
Das Wesentlichste am X-Bein ist ı. die Verlängerung der
inneren Seite des unteren Teiles des Femur und des oberen
Teiles der Tibia, so dass die untere Fpiphyse jenes und die
obere dieser wie unter einem Winkel an die Diaphyse angesetzt
erscheinen, und 2. die wenn auch nur geringe Vergrösserung
des Condylus internus femoris, welche freilich auch vielfach
bestritten wird und nur da sein soll, weil der Condylus externus
durch Druckatrophie kleiner geworden sei, die aber dennoch
vielfach recht wohl festgestellt werden kann. Endlich wird auch
noch angegeben, dass die Bänder an der Innenseite des Knies
zu lang und darum zu schlaff und die auf der Aussenseite
wenigstens verhältnismässig zu kurz und darum zu straff seien,
weshalb sie denn auch durchschnitten werden müssten, sollten
gewisse Fälle von X-Bein mit Erfolg operirt werden; allein es
wird auch dieses nicht allseitig zugegeben.
*) W. Roser, Handbuch der anatomischen Chirurgie, Tübingen 1859, S. 778.
**) J. Mikulicz, Die seitliche Verkrümmung am Knie und deren Heilungs-
methode. Langenbeck’s Archiv, 1879, Bd. XXIU, S. 596 u. ff.
***) O. F. König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 4. Aufl. Berlin 1886,
Bar 11,28. Agonu, tt
123
Beim O-Beine ist das gerade Gegenteil vorhanden. Die
äussere Seite von Femur und Tibia sind verlängert und die
bezüglichen Epiphysen wie unter entgegengesetztem Winkel an
die Diaphyse angesetzt, der Condylus femoris externus in Rück-
sicht auf den Condylus internus, allein nicht an und für sich
betrachtet, wie vergrössert, und nur der internus, der aber ent-
schieden, wie verkleinert; in Bezug auf die Bänder indessen ist
nichts Entsprechendes zu sagen.
Bei X-Bein wie O-Bein ist von den Oberschenkelknochen
also nur die Tibia krankhaft verändert und von den Ober-
schenkelknochen, wenigstens von vornherein, nur die innere
Seite des unteren Endes, soweit es von Epiphyse und Epi-
physenlinie beeinflusst wird. Denn die Veränderungen an der
äusseren Seite sind alle nur beziehentliche und wohl nichts An-
deres, als blosse Folgezustände. Die Epiphyse aber stellt, wie
seinerzeit hervorgehoben worden ist, nicht unwahrscheinlicher
Weise einen ursprünglich mehr selbstständigen Teil der Flossen-
strahlen dar, der erst nachträglich mit der Diaphyse sich verbunden
hat und bis dahin notwendigerweise Weise unter dem Einfluss
stand, durch welchen, wo er sich findet, der bezügliche Seitenstrahl
der Flosse hergevorbracht wurde. Wiewohl diese Angelegenheit
noch sehr der Klärung bedarf, erklärt sie so die fraglichen Ver-
hältnisse doch leichter als eine andere Annahme. Da auch sonst
die anatomischen Verhältnisse dazu auffordern, ist es viel natür-
licher, die langen Röhrenknochen aus mehreren, zum Mindesten
drei sich folgenden festeren Flossenstrahlenteilchen entstanden zu
denken, als blos aus einem. Der Fall III in der oben erwähnten
Arbeit vonEhrlich, welcher unterv.Recklingshausenarbeitete,
und namentlich die Besprechung desselben auf S. 123 und 124
a. a.O., bei welcher auf die Gegenbaur’sche Archipterygium-
Theorie ebenfalls Rücksicht genommen worden ist, kann dafür
nur als Beweis angesehen werden.
Man hat als eine beim X-Bein sehr häufig vorkommende
Veränderung des Oberschenkelbeines die Schlankheit seines
Schaftes betont und davon eine geringere Widerstandsfähigkeit
des Knochens überhaupt hergeleitet. Dem soll nicht wider-
sprochen werden; aber wir erinnern daran, dass wir Eingangs
angeführt haben, dass Plattfuss und X-Bein vornehmlich bei
124
langgliedrigen, schlanken, Klumpfuss und O-Bein bei mehr kurz-
gliedrigen, untersetzten Individuen sich finden.
Wo Plattfuss, Klumpfuss auch in den niedrigsten Graden
vorhanden sind, da werden meist auch wenigstens Andeutungen
von Platthand, wenn wir sie so nennen wollen, und Klumphand,
Manus valga und Manus vara, gefunden, — nicht immer, es
finden sich wohl öfter noch als die Verbindungen von Plattfuss
und O-Bein, von Klumpfuss und X-Bein die von Plattfuss und
Klumphand, von Klumpfuss und Platthand; allein die Regel ist
auch hier, dass die gleichnamigen Störungen verbunden auftreten.
Die Platthand weicht ausgestreckt mehr oder weniger nach der
Ulnarseite, die Klumphand nach der Radialseite ab; doch ist in
den gewöhnlich vorkommenden Fällen diese Abweichung nie
eine erhebliche, dazu durch leicht krampfartige Bewegungen
sehr verdeckte, und ist darum, wie es scheint, bisher vollständig
übersehen worden. Die Kleinheit der sie bedingenden Carpal-
knochen, in erster Reihe des Os lunatum und Os naviculare
mag daran vorzugsweise Schuld sein. Bei der Platthand ist die
innere Handhälfte, Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, gegenüber
den anderen verlängert, bei der entsprechenden Klumphand
verkürzt. Die Platthand erscheint lang und schmal, langfingrig,
die Klumphand kurz und breit, kurzfingerig. Die Fläche der
letzteren ist verhältnismässig gross, rundlich, die Finger, nament-
lich die äussersten Phalangen kurz, vielfach wie abgehackt, —
Cretinenhand der Franzosen. Sehr bezeichnend ist, dass auch
hier bei höheren Graden der Klumphand, der Talipomanus im
eigentlichen Sinne des Wortes, der Radius, also wieder der
ursprüngliche Seitenstrahl, oft nur unvollkommen vorhanden ist,
oder auch ganz fehlt.
Von Nicoladoni*) ist ein Cubitus varus, von v. Lesser**)
ein Cubitus valgus beschrieben worden. In den niederen
oder auch ersten Graden in ihrer Erscheinung namentlich
durch die beziehentliche Hyperextension dem Genu valgum,
und durch die leichte Flexion dem Genu varum entsprechend,
kommen sie gar nicht so selten vor und scheinen ganz wie diese
hauptsächlich auf Veränderungen der Innen-, also der Radialseite
*), Nicoladoni, Zur Arthrotomie veralteter Luxationen. „Wiener med. Woch.“,
1885, pP. 729.
**) L. v. Lesser, Über Cubitus valgus, Virchow’s Archiv für path. Anat.,
1833, Bd Xeli.p. 1.
125
der das Ellbogengelenk bildenden Knochen, welche herkömmlich,
aber mit Unrecht, die äussere genannt wird, zu beruhen.*) Beide
Formen der abwegigen Ellbogengelenkbildungen kommen am
häufigsten da vor, wo entsprechende Missbildungen an den übrigen
grossen Gelenken sich finden, also im Vereine mit diesen und den
entsprechenden Miss-, oder doch wenigstens eigentümlichen Bil-
dungen im Gesicht, besonders an den Kiefern; indessen sie finden
sich und zwar noch öfter als die bereits erwähnten Gliedverbil-
dungen, in allen möglichen einschlägigen Combinationen.
Das Alles zusammengenommen weist aber -auf eine gemein-
same Beeinflussung, ein gemeinsames Beeinflusstsein der fraglichen
Teile hin. Diese Beeinflussung, dieses Beeinflusstsein kann bei
dem weiten Auseinanderliegen der Teile indessen nur von einem
Orte aus geschehen, an dem sie alle einen Vereinigungspunkt
haben, und das wieder führt denn gleichsam von selbst auf das
Nervensystem und in Sonderheit das Centralnervensystem.
In diesem muss es dann eine umschriebene Stelle geben, ein soge-
nanntes Centrum, von dem aus dieser Einfluss geübt wird,
autonom oder functionär, automatisch oder reflectorisch, das ist
für jetzt ganz gleichgiltig, von dem aus er aber statthat. Mit
einem Wort: Es weist das auf nervöse Einflüsse hin, gleichviel
wo und woher dieselben ausgelöst werden.
Dass nervöse Einflüsse bei dem Zustandekommen der in
Rede stehenden Missbildungen eine grosse Rolle spielen, ist auch
seit Langem schon von den verschiedensten Seiten angenommen
worden. In welcher Weise jedoch die nervösen Einflüsse sich
geltend machten, darüber sind die Meinungen immer weit aus-
einander gegangen. Am meisten wurde noch angenommen, dass
sie durch Muskelwirkung sich zur Geltung brächten. Durch
krampfartige Zustände derselben, Contracturen, oder durch mehr
lähmungsartige, Relaxationen, und die dadurch hervorgerufenen
Folgezustände käme es zu Knochenverbildungen und durch
diese im Verein mit den anomalen Muskelwirkungen, durch
welche auch noch der ernährende Blutumlauf gestört würde,
zu den ausgiebigen Missbildungen, um die es sich handelt.
Diese Annahmen sind sehr beachtenswert, erklären Vieles,
aber nicht Alles, und sind deshalb auch immer wieder
durch andere zu ersetzen oder wenigstens zu ergänzen
SjeVierelave Besser, lc pe:
126
gesucht worden. Den rein mechanischen, von aussen her auf
die bezüglichen Gliedmassen wirkenden Ursachen räumte man
von Zeit zu Zeit ein mehr oder minder grosses Gewicht ein,
und dann und wann sah man in ihnen sogar nur die einzigen
überhaupt. Das Bäckerbein hat dem entsprechend seinen Namen
erhalten. Der angeborene Klumpfuss soll danach bis auf die
wenigen Ausnahmen, wo er von Vater und Mutter ererbt
worden, nur durch uterinen Druck zu Stande kommen u. s. w.
Die mechanischen Einflüsse sind nicht zu unterschätzen, als aus-
schlaggebendes Moment in einzelnen Fällen gewiss sogar von
hervorragendster Bedeutung, wie bei Bäckern, Schlächtern,
Maurern, Kellnern zur Entwicklung eines hochgradigen Platt-
fusses und X-Beines, aber erst dann, wenn, wie wir wiederholt
betont haben, die Disposition dazu vorhanden ist, d. h. die
inneren Bedingungen dazu gegeben sind. Denn wenn anders,
warum ist das Bäckerbein selbst bei Bäckern doch immer nur
verhältnismässig häufig, und warum findet es sich mitsamt
dem Plattfuss auch bei Schlächtern, Maurern, Kellnern doch
immer blos bei einem gewissen Prozentsatze derselben?
Die fraglichen nervösen Einflüsse sind von vornherein rein
trophische, die fraglichen Missbildungen dem zufolge Ausdruck
rein trophischer Störungen auf Grund neurotischer Vorgänge,
also Ausdruck von Trophoneurosen. Die fraglichen Einflüsse
erstrecken sich von Anfang an nicht blos auf die Knochen,
sondern auch auf die sie bedeckenden, namentlich ihnen zuge-
hörigen Weichteile, also die bezüglichen Bänder und Muskeln,
und diese, entsprechnd länger oder kürzer geworden, beein-
flussen dann selbst auch noch wieder, bald stark, bald weniger
stark die zugehörigen Knochen.
Von jeher hat es Autoren gegeben, welche angenommen
haben, dass Rhachitis bei der Entwickelung mancher der frag-
lichen Missbildungen, zumal des O-Beines, eine grosse Rolle
spiele; es ist das von anderen Autoren, wenn auch nicht ganz
abgelehnt, so doch stark in Zweifel gezogen worden; jetzt kommt
Mikulicz*) und erklärt, dass nicht blos die O-Beine, sondern auch
die X-Beine rhachitischen Vorgängen ihre Entstehung ver-
danken. Und da nun X-Bein und Plattfuss, O-Bein und Klumpfuss
so häufig zusammen vorkommen, sich selbst eine Art Platthand
* Mikuliczl. c., p. 620.
mit jenen, eine Art Klumphand mit diesen vergesellschaftet
zeigt, ja sogar Ellbogengelenke und Gesichtsknochen eine be-
zügliche Abänderung ihrer Gestalt an den Tag legen, sollten
da nicht auch hier immer die rhachitischen Vorgänge ihr Spiel
treiben oder auch getrieben haben? Ich für meinen Teil sehe
nicht ein, warum nicht.
Unter Rhachitis versteht man einen Krankheitsvorgang
welcher sich hauptsächlich durch einen Reizzustand im Knochen-
bildungsgewebe, das verhältnismässig am mächtigsten in den
Knochennähten und somit auch in den Epiphysenlinien ange-
häuft ist, zu erkennen giebt. Eine beschleunigte Wucherung
der betreffenden Gewebszellen ist Ausdruck jenes Reizzustandes.
Von der Heftigkeit desselben und der Umwandlung des neuge-
bildeten Knochenbildungsgewebes in Knochen selbst hängt es
ab, ob vermehrtes Längenwachstum oder auffälliges Kurzbleiben
der befallenen Knochen eintritt. Die langen Beine des Wind-
hundes und die kurzen des Dachshundes haben in letzter Reihe
den nämlichen Grund. Ist das Knochenwachstum auf Grund
einer Reizung an seinen Wachstumsstätten zwar beschleunigt,
aber nicht in dem Masse, dass die neugebildeten Knochen-
elemente nicht noch rechtzeitig verknöchern könnten, so erfolgt
ein vermehrtes Längenwachstum: die Glieder z. B. werden
lang. Es geschieht das unter Anderem sehr allgemein zur Zeit
des grössten Wachstums zwischen dem 2. und 5., sowie dem
ı2. und 17. Lebensjahre, wofür auch Billroth, Delore und,
wie es scheint, nicht minder wieder Mikulicz, eintreten. Ist
dagegen jenes Wachstum so beschleunigt, dass die Verknöcherung
mit ihm nicht Schritt halten kann, ist es darum dieser letzteren
gegenüber auch nur verhältnismässig zu stark, weil es in Bezug
auf sie vielleicht auch einmal blos darum zu stark ist, als sie selbst
eine Verlangsamung erfahren hat, so entwickelt sich zunächst ein
weiches, leichtzu verbiegendes und zu verkrümmendes Gewebe, das
später mehr oder minder rasch verknöchert und die zum Teil
durch Verkrümmungen bedingte, zum Teil mit ihnen blos ver-
gesellschaftete Kürze der befallenen Knochen zur Folge hat.
Das ist der rhachitische Prozess, die Rhachitis xat’ &Zoynv, welche
als Ausdruck nervöser Affectionen durch die Erfahrungen
namentlich Schiffs eine sehr kräftige Bestätigung erhalten hat.
Werden nämlich die sämtlichen Nerven einer Extremität, also
128
an der unteren z. B. die Nn. ischiadicus und cruralis durch
schnitten, so wird mit der Ernährung der Weichteile jener auch
die der Knochen in Mitleidenschaft gezogen, und zwar werden
bei ausgewachsenen Individuen sie im Verlaufe von einigen
Monaten blos einfach dünner, indem sie an Umfang verlieren,
während bei noch wachsenden sie geradezu entarten. Sie er-
weichen, werden knorpelartig, verkrümmen in Folge dessen
und, da ihr Periost unregelmässig zu werden anfängt, ungleich-
mässig an Dicke und Umfang zunimmt, werden sie selbst auch
ungleich dick und umfangreich. Sie erscheinen verkrümmt und
an verschiedenen Stellen wie aufgetrieben. Endlich kann das
besagte Wachstum und die besagte Verknöcherung gleichzeitig
beschleunigt sein; die letztere ist es aber in höherem Grade;
die Bildungszellen verfallen vorzeitig samt und sonders der
fraglichen Verknöcherung; sogenannte Bildungshemmungen im
engeren Sinne, Stehenbleiben auf früheren Entwicklungsstufen, die
eine Kürze der Glieder, vielleicht Kleinheit und Zartheit des ganzen
Körpers, Zwergwuchs, nach sich ziehen, sind dann die Folge.
Dass der rhachitische Prozess immer zu argen Verbildungen,
Verkrümmungen führe, ist darum nicht notwendig, und Miku-
licz dürfte deswegen gar nicht Unrecht haben, wenn er die an-
scheinend verschiedenartigsten Dinge auf denselben zurückführt.
Allein was ist der schlechtweg sogenannte rhachitische Process?
Doch nichts weiter als der Ausdruck eines Allgemeinleidens an
bestimmten Orten. Und da diese Orte in Bezug auf den Gesamt-
körper zumeist eine symmetrische Lage aufweisen oder in
sonstiger bestimmter Beziehung stehen, wie Tibia und Radius,
Fibula und Ulna, oder Hand- und Fussgelenk überhaupt, so ist
es wohl nicht anders möglich, als dass das Leiden sich örtlich
nur durch das Nervensystem, speziell durch einen beschränkten
Raum im Centralnervensystem, von dem die bezüglichen peri-
pherischen Nerven ihren Ursprung nehmen, zum Ausdruck
bringt. Der rachitische Process, abgesehen von dem ihm zu
Grunde liegenden Allgemeinleiden, würde damit zuletzt auch
nichts Anderes als einen neurotischen Vorgang, eine neurotische
Östeitis, kurzweg eine Trophoneurose darstellen. Auf Trophoneu-
rosen würden die fraglichen Missbildungen, zumal also Plattfuss
und Klumpfuss, auch aus diesen Gründen zurückzuführen sein,
und ersichtlich wird damit wie von der Geartung dieser Neurosen,
129
ihrer Gleichmässigkeit oder Ungleichmässigkeit es abhängt, ob
der bezügliche Gliederbau ein mehr gleichmässiger oder ungleich-
mässiger wird, warum in der Regel die gleichnamigen Ab-
weichungen in ihm zur Entwickelung kommen, warum das
aber nicht gerade sein muss, warum also z. B. Plattfuss und O-Bein,
Klumpfuss und Platthand, ja selbst die nicht so gar seltene Com-
bination von Plattfuss und Klumpfuss sich ausbilden kann. Die
einzelnen Glieder der einzelnen ursprünglichen Flossen-,beziehentlich
Seitenstrahlen derselben erhalten in Folge ungleicher Beeinflussung
eine ungleiche Ausbildung: Die Tarsalknochen bleiben kurz, ver-
krüppeln, während die Metatarsalknochen, namentlich ihr vorderes
Ende und die sich ihnen anreihenden Phalangen lang werden. Jeder
dieser Knochen, beziehentlich jedes dieser Glieder hat ja seine
besonderen Nerven und ist natürlich mittelst dieser im Central-
nervensysteme besonders vertreten.
Wenn dem nun in der That so ist, warum wird von den
fraglichen trophoneurotischen Störungen gerade die Innenseite
der Glieder, die Radial- und Tibialseite derselben befallen?
Denn die Radialseite des Armes ist ja, wie die Tihialseite des
Beines, die Innenseite geworden, und nur eine falsche anatomische
Betrachtungweise, welche die durch Gebrauch entstandene Dreh-
ung des Humerus ausser Acht liess, die wieder freilich erst nach
Darwins Auftreten gewürdigt werden konnte, hat den Daumen,
die grosse Zehe der Hand, und mit ihm den Radius an die
Aussenseite des Armes gebracht. Entsprechend musste dann
freilich der ursprüngliche Condylus internus humeri zu einem
Cond. externus und der ursprüngliche Cond. externus zu einem
internus werden. Praktisch ganz gleichgültig, hat das aber für
die Beurteilung mancher Vorgänge Bedeutung, und es wäre
deshalb vielleicht besser, statt von Cond. externus und internus
von Cond. ulnaris und radialis, fibularis und tibialis zu reden.
Doch das nur zur augenblicklichen Verständigung, sonst bleibt die
Frage: Warum machen sich die fraglichen trophoneurotischen
Störungen geradeander Radial- und Tibialseite der Glieder geltend?
Weil die Gebilde dieser letzteren aus ursprünglichen Flossen-
seitenstrahlen hervorgegangen sind, und diese als Äste des
Flossenstammes, wie sie schon auf den ersten Blick schwächer
und zarter als dieser selbst erscheinen, wirklich auch schwächer,
zarter und darum widerstandsloser und leichter beeinflussbar
9
sind, als er oder die aus ihm hervorgegangenen Teile. Die
Äste eines Stammes sind immer schwächer, darum biegsamer
und veränderlicher als der Stamm selbst.
Die Gliedmassen eines Tieres sind schon an und für sich
veränderlicher als sein Stamm; es müssen so auch gewisser-
massen die Gliedmassen der Gliedmassen veränderlicher sein als
ihr Stamm. Der Stamm ist immer den Ästen gegenüber der
stärkere, widerstandsfähigere und deshalb beständigere Teil.
Zwar sind auch mangelhafte Entwickelung beziehentlich gänz-
liches Fehlen der Ulna und Fibula bekannt geworden, — der Radius,
die Tibia sollen dann fast immer, wie bei den Equiden, stärker ent-
wickelt und hauptsächlich dicker gewesen sein —; allein das spricht
nicht dagegen. Geht ein Baum der Spitze seines Stammes, d.i.
seiner Axe verlustig, so erhebt sich einer der nächsten seiner
Äste, wird stärker und übernimmt gewissermassen die Führung
des Stammes als neue sekundäre Axe. Er wird aber damit
eben Axe, Stamm, wenigstens Ersatz desselben, wenn auch nicht
ohne Verkrüppelung, und in Bezug auf seine Äste wird er, was er
selbst ursprünglich in Bezug auf den Stamm, die primäre Axe, war.
Und nun kommt das biologische Grundgesetz zur Geltung:
Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel-
starke fördern sie, starke hemmen sie, und stärkste
heben sie auf.
Eine gewöhnliche Reizung lässt die Glieder gewöhnlich
lang werden; eine stärkere, sogenannte mittelstarke, hat die
langen Beine des Windhundes, eine noch stärkere, sogenannte
starke, die kurzen, krummen Beine des Dachshundes zur Folge;
eine übermässig starke Reizung lässt, wie bei Talipomanus, den
Radius, oder bei Pes varus den Processus lateralis calcanei, die
Tibia rudimentär werden oder scheinbar auch ganz ausfallen.
Drehen wir das biologische Grundgesetz aber um und lassen
wir die Reizgrösse die stetige, die Beeinflussbarkeit der Indivi-
dualität die veränderliche Grösse sein, so ergiebt sich: „Unter
einer bestimmten, sagen wir der alltäglichen Reizein-
wirkung entwickeln sich kräftige und auch blos kräf-
tiger veranlagte Individuen in alltäglicher Weise, d.h.
was wir normal nennen. Etwas schwächer veranlagte,
mässig reizbare Individuen, auf welche die genannten
Reize bereits als sogenannte mittelstarke wirken, ent-
131
wickeln sich zu grösserem Längenwachstum; ihre
Gliedmassen strecken sich, und namentlich sind es bei
einer geringeren Steigerung dieser Reizbarkeit die
inneren Seiten der Glieder, welche, ein grösseres
Wachstum zeigen. Pes valgus, Genu valgum, Manus
valga, Cubitus valgus sind die Folge. Sind die be-
treffenden Individuen noch schwächer veranlagt, daher
sehr widerstandslos und im hohen Grade reizbar, so
verhalten sie sich den gedachten Reizen gegenüber wie
bereits starken; ihr Wachstum erfährt eine Hemmung,
die Glieder bleiben kurz und namentlich wieder an
ihrer Innenseite. Pes varus, Genu varum, Manus vara,
Cubitus varus kommen zur Ausbildung. Sind endlich
die Individuen sehr schwach, so sterben sie schon unter
der Einwirkung der alltäglichen Reize, oder wenn sie
nur in einzelnen Teilen diese Schwäche besitzen, so
kommen diese nicht zur Entwickelung. Der Radius fehlt,
die Tibia fehlt, der Processus calcanei lateralis fehlt.“
Fassen wir nun das Ergebnis unserer Untersuchungen zu-
sammen, so ergiebt sich: Der Plattfuss und die ent-
sprechenden Gliedverbildungen sind der Ausdruck
einer allgemeinen, aber doch noch verhältnismässig ge-
ringen Schwäche und Widerstandslosigkeit des Körpers
überhaupt; der Klumpfuss und die ihm entsprechenden
Gliedverbildungen dagegen sind der Ausdruck einer
eben solchen, aber viel weiter gediehenen Schwäche,
einer bereits mehr oder minder grossen Hinfälligkeit.
Die Schwäche, Widerstandslosigkeit, Hinfälligkeit sind indessen
das Hauptwesen der Entartung oder Degeneration. Plattfuss
und Klumpfuss sind damit aber in der That, wie von einer
Reihe von Anthropologen und Aerzten, namentlich Irrenärzten,
behauptet wird, Degenerationszeichen, Stigmata degenera-
tionis, jener je nach seinem Grade ein noch mehr oder minder
leichtes, dieser ebenfalls je nach seiner Entwicklung ein schon
mehr oder minder schweres. Das Zustandekommen beider erfolgt
nach dem biologischen Grundgesetz, das auch hier seine Macht
entfaltet: „Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an,
mittelstarke fördern sie, starke hemmen sie, und stärkste
heben sie auf.“
— 0 9#
132
-
d.
Riesen, Zwerge und das biologische
Grundgesetz,
Auf dem X. internationalen medizinischen Kongress im Jahre
1890 zu Berlin hatte ich in der Abteilung für die Kgl. psychiatrische
Klinik zu Greifswald eine Reihe von Gypsabgüssen, namentlich.
von Händen, Füssen, Ohren, ausgestellt. Sie sollten dazu dienen,
das Wesen der sogenannten Stigmata degenerationis erläutern
zu helfen. Sie betrafen daher fast ausschliesslich Missbildungen,,
beziehentlich Verbildungen, welche durch die Symmetrie, mit der
sie an beiden Körperhälften aufgetreten waren, oder die Cor-
relation, in der sie sonst nachweislich standen, darthaten, dass,
nicht sowohl rein lokale Ursachen sie verschuldet haben könnten,,
als vielmehr Umstände, Verhältnisse, welche mehr oder weniger
gleichmässig durch den ganzen Körper, in Sonderheit das Nerven-
system, namentlich das Centralnervensystem, auf sie gewirkt
haben müssten. Vornehmlich waren es zwei Gruppen von
zusammengehörigen Händen und Füssen einer Person, welche:
dies zu beweisen schienen. Beide Gruppen stammten von Schwach-
sinnigen, beziehentlich geistigen Schwächlingen mit allerhand
Abwegigkeiten und selbst Verkehrtheiten her, welche beide in-
dessen noch immer im Stande waren, der eine als Fischer-, der
andere als Ackerknecht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die
beiden Gruppen sollten ebenso wie alle übrigen bezüglichen
Abgüsse beweisen, dass der jeweilige Schwachsinn, die jeweiligen
Abwegigkeiten und Verkehrtheiten nicht minder blosser Ausfluss.
einer mangelhaften, zu abwegigen und selbst verkehrten Pro-
duktionen geneigten Natur sei, wie diese letzteren selbst. Denn
das ist eben das Wesen der Stigmata degenerationis, dass sie als.
Ausfluss, Produkt, einer abwegigen, aus der Art geschlagenen,
also entarteten, degenerierten Natur, diese selbst anzeigen, kenn-
133
zeichnen. Sie sind deshalb, seit B. Morel zuerst mit aller Ent-
schiedenheit auf ihre Bedeutung aufmerksam gemacht hat, allein
ohne sich des bezüglichen genaueren Zusammenhanges be-
wusst geworden zu sein, noch mit viel grösserer Rücksicht in
allen anthropologischen Fragen zu behandeln, als man dies zur
Zeit noch im Allgemeinen zugestehen will.
Die eine der besagten Gruppen bestand aus Händen und
Füssen, an denen die vierten Metacarpal- und Metatarsalknochen
zum Teil auffällig verkürzt waren. Der entsprechende rechte
Metacarpalknochen war es nur unbedeutend; sein Köpfchen
erschien, und zwar auch blos bei schärferem Zusehen, etwas
schmächtiger. (Fig. 1.) Dagegen war der linke um ı,5 cm hinter den
benachbarten zurückgeblieben, und eine tiefe Grube zwischen den
Knöcheln beziehentlich Köpfchen des dritten und fünften Meta-
carpalknochens war die Folge davon. Der vierte Finger selbst
sowie seine Glieder liessen zwar keine einschlägigen Abweichungen
stärkerer Art erkennen; doch waren alle ihre Masse knapp,
a
Fig. 1. Fig. 2.
wo die der rechtsseitigen voll waren. (Fig. 2.) Die bezüglichen Meta-
tarsalknochen erwiesen sich ebenfalls um ı,5 cm kürzer als die
benachbarten. Die ihnen zugehörigen vierten Zehen waren dazu
erheblich kürzer und krummer, als sie in ihrem Verhältnis zu
den übrigen sein sollten, und sassen auf Grund dessen rund
1,5 cm hinter denselben wie auf dem Fussrücken. Sie lagen in
Folge davonwieder auch grossen Teils auf den fünftenkleinen Zehen,
diese zur Hälfte bedeckend, auf. Sie waren etwa 3,5 cm lang.
Ungefähr ı cm kam davon auf ihr erstes Glied; während die
ersten Glieder der benachbarten Zehen 2,o cm und darüber
134
massen. Was an den Händen schon bemerkt worden war, zeigte
sich auch an den
Füssen. Der linke
Fuss war hinterdem
rechten in der Ent-
wickelungein wenig
zurückgeblieben.
Namentlich erreich-
ten seine etwas
schmächtigeren Zehen nur knapp das Mass, das jene voll
besassen. Auch befanden sich dieselben anhaltend in einer
krampfigen Stellung, leichten Flexion, und waren deshalb krummer
als die des rechten Fusses. Sie befanden sich also offenbar in
einem erhöhten Reizzustande denen der rechten Seite gegenüber.
SonstwarenHände
und Füsse gut ge-
bildet u. konnten,
namentlich die
ersteren, ohne ir-
gend welche Be-
hinderung ge-
braucht werden.
Bei den letzteren wirkte nur das Schuhzeug angeblich öfters
recht störend ein. (Fig. 3. 4.)
Die andere der bezeichneten Gruppen wurde aus Händen
und Füssen zusammengesetzt, welche bei sonstiger, in Ganzen
guter Ausbildung einige merkwürdige Fehler an den Fingern
und Zehen aufwies. Die rechte Hand hatte nur einen Stummel-
daumen (Fig. 5.), die linke gar keinen (Fig. 6.). Es versteht sich
von selbst, dass danach geforscht worden ist, ob derselbe
etwa erst im Laufe der Zeit verloren gegangen; aber nein; er
hat von Geburt an gefehlt. Der Stummeldaumen rechterseits,
um ungefähr 1,0 cm kürzer, als er der Hand nach hätte sein
müssen, war sehr schmächtig; namentlich sein letztes Glied war
dünn, ausgesprochen kegelförmig, zitzenförmig. Eine ähnliche,
nur nicht so scharf hervortretende Form hatten auch die beiden
letzten und vornehmlich wieder das letzte Glied des linken Zeige-
fingers (Fig. 5. 6.). Die Füsse waren leichte Klumpfüsse, zeigten
wenigstens den Übergang dazu. Am rechten Fuss (Fig. 7.)
waren die Nagelglieder der Zehen, insbesondere das der grossen
Zehe kurz. Am linken Fusse (Fig. 8.) fehlte das Nagelglied
der grossen Zehe ganz, und ihr erstes war verkürzt, stummelig.
Dre, 5
Von seiner zweiten Zehe war nur das erste Glied vorhanden,
von der dritten und vierten ebenfalls nur dieses und zwar in
Sonderheit von der letztgenannten dieses, sogar blos sehr
rudimentär. Die fünfte, kleine Zehe fehlte vollständig.
Bis 7: Fig. 8.
Wenn wir nun die beiden Gruppen unter einem Gesichts-
punkt betrachten, so ergiebt sich zunächst, dass die sämtlichen
Fehler und die durch sie bedingten Missbildungen, beziehentlich
Verbildungen, welche in ihnen zur Anschauung kamen, sich
vornehmlich stark ausgebildete an den Gliedern der linken
Körperseite fanden. Es entspricht das ganz dem, was ich u.
A. schon im Jahre 1885 in meinem Buche „die Neurasthenie*
S. 99—101 gesagt habe, dass alle Dystrophien und aus ihnen
hervorgehenden sonstigen Dysergasien, ihren Sitz vorzugsweise
links haben, und der Grund davon sei, dass erfahrungsmässig
die linke Seite die schwächere, widerstandslosere, darum aber
136
reizbarere, veränderlichere und mithin auch zu abwegigen, krank-
haften Vorgängen und Bildungen geneigtere sei. Sodann sehen
wir, dass die bezüglichen Missbildungen, Verbildungen in einem
offenbaren Zusammenhange, in Correlation, stehen. In der ersten
Gruppe sind es hauptsächlich die vierten Metacarpal- und Me-
tatarsalknochen, sowie die beiden vierten Zehen, welche das zu
erkennen geben, in der zweiten entsprechende Teile der Hände
und Füsse überhaupt. Das letztere weist darauf hin, dass von
einem gemeinsamen Mittelpunkte aus die Bedingungen zu den
fraglichen Missbildungen oder Verbildungen gewirkt haben
müssen, und das erstere, dass das nur vermittelst des Nerven-
systemes, und in Sonderheit der Teile desselben geschehen sein
kann, welche durch den bedeuteten gemeinsamen Mittelpunkt
die miss- beziehentlich verbildeten Teile mit einander in Beziehung,
Verbindung, in Correlation, setzen.
Der fragliche Mittelpunkt selbst kann danach auch blos ein
Teil des Nervensystemes und zwar des Centralnervensystemes
sein. Er muss in ihm das sogenannte Centrum darstellen, von
welchem aus die Innervation der Gliedmaassen stattfindet oder
auch, durch das dieselbe blos vermittelt wird. Von diesem
Centrum aus oder, wohl richtiger gesagt, durch dieses Centrum
hindurch wurde die Ernährung der sich bildenden Gliedmassen
geregelt. Denn dass die Ernährung der einzelnen Körperteile‘
durch das Nervensystem geregelt wird, dass sie vielleicht sogar
blos unter dem Einflusse desselben vor sich geht, ist eine nicht
zu beanstandende Thatsache. Es giebt ganz entschieden tro-
phische Nerven und, wie ich in du Bois-Reymond’s Archiv für
Anatomie und Physiologie vom Jahre 1891 und zwar in seiner
physiologischen Abteilung in der Abhandlung „Über trophische
Nerven“ z. B. S. 67, 74, 75 u. a. m. glaube dargethan zu haben,
ist jeder Nerv, unbeschadet seiner sonstigen Thätigkeit und im
Besondern auch seiner Energie, in erster Reihe ein ernährungs-
regelnder, trophischer. Die Innervation der Gliedmassen durch
jenes fragliche Centrum würde so vorzugsweise für die Er-
nährung jener von Bedeutung sein. Da aber die linke Seite,
wie die Erfahrung gelehrt hat, die schwächere, widerstandslosere
und reizbarere überhaupt ist, so müssen das auch ihre Nerven
sein. Und in der That hat die Erfahrung auch dies gelehrt.
Die Nerven der linken Körperhälfte, namentlich sogenannter
137
nervöser Menschen, zumal hysterischer, sind ungleich reizbarer,
ungleich erregbarer, als die der rechten. Die von dem be-
sagten Centrum nach den Gliedmassen ausgehenden, beziehent-
lich auch blos durch dasselbe hindurch gehenden Reize, Er-
regungen mussten danach denn auch, ganz abgesehen von
anderen Verhältnissen, die linksseitigen Nerven anders, vor
Allem viel stärker erregen, als die rechtsseitigen, und damit
denn auch andere Ernährungsvorgänge und davon abhängige
Bildungen zur Folge haben.
Nun wissen wir jedoch: Kleine Reize, ehe nur zu schwachen
Erregungen führen, fachen die Lebensthätigkeit blos an, unter-
halten sie gerade, stärkere, sogenanntemittelstarke, welchestärkere,
sogenannte mittelstarke Erregungen hervorrufen, verstärken
dieselbe und fördern sie damit, noch stärkere, sogenannte
starke Reize, die starke Erregungen setzen, beeinträchtigen und
hemmen damit die Lebensthätigkeit, und stärkste heben sie auf.
Da wir allen Grund haben anzunehmen, dass im Grossen und
Ganzen immer dieselben Reize und zwar mit immer derselben Kraft
aufdieinBetrachtkommenden Teiledes Nervensystemes und nament-
lich desCentralnervensystemesgewirkt haben, so müssen die Erreg-
barkeitsverhältnisse dieser Teile und namentlich wieder der des Cen-
tralnervensystemes vorzugsweise hinsichtlich der Stärke von den ge-
wöhnlichen sehr abweichend gewesen sein. Sie müssen ver-
mehrte, gesteigerte gewesen sein und zwar in Bezug auf die
linke Seite in ungleich höherem Masse, als auf die rechte;
allein, was die Veranlassung dazu gegeben hat, das entzieht
sich zunächst wenigstens noch unserer Erkenntnis. Eine Er-
krankung jener Teile, in Folge deren sie widerstandsloser und
damit reizbarer wurden, wird daran, wie wir sagen, Schuld
gewesen sein. Die entsprechende Erkrankung jedoch war
unter allen Umständen die Folge einer Überreizung durch
stärkere oder auch starke Reize, und daraufhin mussten denn
natürlich alle nachfolgenden Reize auf die betreffenden Teile
immer stärker einwirken, als auf die anderen, nicht überreizten,
weil nicht erkrankten Teile.
Je nach dem Grade, dass die fragliche Überreizung statt-
gefunden hatte, und an den Stellen des Centralnervensystemes,
welche erfahrungsmässig der schwächeren linken Seite ent-
sprechen, hatte sie entschieden einen höheren Grad erreicht,
138
hatten nun auch die von ihnen innervierten Gliedmassen ihre
Ausbildung erfahren. Alle Reize hatten auf die fraglichen Stellen
und Nerven als starke gewirkt. Die in Betracht kommenden
Gliedmassen waren deshalb nicht zu ihrer gehörigen Ent-
wickelung und Ausbildung gekommen; sie waren in ihnen gehemmt
worden und je nachdem, waren sie kurz und dünn geblieben oder
ganz ausgefallen. Aus diesem Grunde sahen wir in der zuerst
besprochenen Gruppe vom rechten Os metacarpi quartum nur
das Köpfchen etwas verschmächtigt, das ganze linke gleich-
namige Os dagegen um ı,5 cm verkürzt, sowie den zugehörigen
Ringfinger in allen seinen Massen knapper als den rechten; und
an den Füssen erkannten wir, dass, wenn auch die näher be-
zeichneten Missbildungen wohl so ziemlich gleich waren, doch
die übrigen Teile der Füsse, namentlich ihre Zehen linkerseits.
dünner, schmächtiger, in allen ihren Massen ebenfalls knapper
sich erwiesen, als rechterseits. Auch hatten die letzteren eine
Art Krampfstellung uud erschienen deshalb krumm. Aus dem
nämlichen Grunde sahen wir dann weiter in der zu zweit be-
sprochenen Gruppe am rechten Fusse nur die grosse Zehe in
ihrem Nagelgliede etwas verkürzt, den rechten Daumen als
einen blossen Stummeidaumen, an der linken Hand den Daumen
ausgefallen, ftehlend, dazu den Zeigefinger namentlich in seinen
Endgliedern verschmächtigt, und am linken Fusse die sämt-
lichen Zehen teils nur halb, teils blos rudimentär, teils gar nicht
vorhanden. Das oben angeführte biologische Grundgesetz hatte
sich in seiner zweiten Hälfte, dass starke und stärkste Reize
die Lebensthätigkeit hemmen und vernichten, die Entwickelung
der Glieder beeinträchtigen, zurückhalten, oder gänzlich unter-
drücken, sowie ich dieSache nuneinmalansehe, vollständig bewährt.
Im Jahre 1889 habe ich einen Mann ärztlich zu behandeln
gehabt, der mir als Alkoholist zugeführt worden war. Der
Mann kam mit einem gebrochenen rechten Unterschenkel an.
Der entsprechende Bruch heilte zwar; aber das Bein wurde da-
bei immer krummer, zumal, seitdem kein Verband dauernd mehr
an ihm geduldet, sondern nach ein paar Tagen immer und immer
wieder abgerissen wurde.
In Anbetracht aller sonstigen Verhältnisse musste eine ein-
seitige stärkere Calluswucherung für dieses Kruimmmwerden ver-
antwortlich gemacht und dem Patienten wegen seines unruhigen
Verhaltens die Schuld daran zugeschrieben werden. Nach eini-
gen Monaten stellte sich heraus, dass Patient ein beginnender
Tabiker war. Gastrische Krisen hatten den ersten Verdacht
dazu aufkommen lassen; nachdem sie ein paar Wochen in wech-
selnder Stärke bestanden hatte, konnte er nicht mehr von der
Hand gewiesen werden. Die beginnende Tabes, Tabes dorsualis,
mit ihren Symptomen hatte den Mann bei einem Teil seiner
Umgebung in den Geruch eines Alkoholisten gebracht. Es
lagen sonst wenig Anhaltspunkte dafür vor, und von einem
anderen Teile seiner Umgebung wurden auch diese durchaus
bestritten.
Es ist nun bekannt, dass im Verlaufe der Tabes dorsualis
sehr weitgehende Knochenatrophien vorkommen. Charcot hat
ja welche beschrieben, durch die ganze Gelenkenden, z. B. des
Femur verloren gegangen waren. In unserem Falle dagegen
handelte es sich um eine Knochenhypertrophie. Denn eine
Calluswucherung ist doch am Ende nichts Anderes als eine
Knochenhypertrophie oder auch Knochenhyperplasie, was in-
dessen für den Fall ganz gleichgültig ist; sollte die Tabes, die
beginnende Tabes dorsualis auch solche verschulden können?
Dass die beginnende Tabes dorsualis sich durch allerhand
Hyperergasien kund giebt, dass diese gewissermassen zu den
Vorläufern derselben gehören, ist eine alte Erfahrung. Ganz
abgesehen von den mannigfachen Hyperästhesien und Hyper-
algien, den viel berufenen Hyperaesthesiae sexualis und urinaria,
den berüchtigten Neuralgien, Myalgien, Arthralgien, legen die
Hyperkinesien im Gebiete der Nn. erigentes penis, die zu qual-
vollen Priapismen, die Hyperkinesien des M. Detrusor vesicae,
welche zu der gefürchteten Incontinentia urinae führen, dafür
Zeugnis genug ab. Dasselbe thun auch das nervöse Erbrechen,
die nervösen Athembeschwerden, welche die sogenannten Crises
gastriques, lanryngees etc. bedingen, sowie die Hyperkinesien
in den Extremitätenmuskeln, auf welche hin die unheimlichen
Zuckungen in denselben erfolgen. Nicht minder Zeugnis legen
dafür aber auch ab die verschiedenen Hyperekkrisien, die
Hyperuresis, Hyperhidrosis, Hypersialosis, die zeitweise alle
Aufmerksamkeit erregen, und endlich auch manche Hypertrophien
oder Hyperplasien. Unter den letzteren sind namentlich die der
Gelenkenden der Knochen hervorzuheben. Sie bedingen eine
140
mehr oder minder grosse Anschwellung derselben, damit ein der
Arthritis nodosa ähnliches Bild, und gehen mehr oder minder
unmittelbar den atrophischen Zuständen vorauf, welche, wie er-
wähnt, von Charcot bekannt gemacht und danach auch von
Andern gesehen worden sind. Die Annahme, dass die besagte
Calluswucherung mit der beginnenden Tabes dorsualis im Zu-
sammenhang gestanden habe, ein Ausfluss der Reizzustände des
Rückenmarkes oder einzelner seiner Teile gewesen sei, welche
sich später auch sonst noch zu erkennen gegeben haben, war darum
keineswegs ungerechtfertigt. Unter der mittelstarken Reizung
vornehmlich einzelner, die gegebene Callusbildung vermittelnder
Nerven kam es zu entsprechenden Wucherungen bei derselben
und in Folge dessen zu ungleicher Entwickelung des Callus selbst.
In Folge hiervon wieder wurden sodann die bezüglichen Bruch-
enden in verschiedener und zwar einseitiger Weise auseinander
gedrängt, und der Unterschenkel selbst musste damit krummer
und krummer werden. Dass anhaltende Nervenreizung, z. B.
des N. ischiadicus, zur Vergrösserung des Schenkels und Fusses
führt, ist ja von Lewaschew experimentellnachgewiesen worden.
Wir würden demgemäss aber auch für die Vorgänge bei der
Tabes dorsualiss, und im Besondren für die die Knochener-
nährung und mit ihr das Knochenwachstum betreffenden, die
Gültigkeit des biologischen Grundgesetzes als erwiesen zu be-
trachten haben. Im Beginne der Tabes, wenn die Widerstands-
fähigkeit des Körpers und namentlich seines Nervensystemes
nachzulassen beginnt, und daraufhin die alltäglichen schwachen
Reize anfangen als stärkere, mittelstarke, zu wirken, kommt es
zu Gelenkendenanschwellungen, zu gelegentlichen Callus-
wucherungen und mit letzteren auch zu vermehrtem Längen-
wachstum. Unter Anderm, z. B. wenn dieses vorzugsweise ein-
seitig vor sich geht, vird dadurch Verkrümmung des bezüg-
lichen Gliedes herbeigeführt. Wenn danach im weiteren Ver-
laufe der Tabes die Widerstandsfähigkeit des Körpers und
wieder namentlich seines Nervensystemes noch mehr sinkt und
deswegen seine Reizbarkeit noch mehr gesteigert wird, wirken
die alltäglichen Reize mehr und mehr als starke ein; es kommt
zu Hypotrophien der Knochen und Knorpel, die sich auf Grund
sogenannter rarifizierender OÖsteitiden in einer abnormen Brüchig-
keit kund geben. Sinkt endlich die Widerstandsfähigkeit des
Körpers und seiner Nerven auf das Tiefste herab, wird seine
Reizbarkeit damit auf das Höchste gesteigert, so dass er sich
wie man sagt, gewissermassen selbst verzehrt, so verzehren sich
auch seine Knochen, und es kommt zu dem weitgehenden Schwunde
an denselben, mit welchem uns Charcot bekannt gemacht hat.
Im Jahre 1886 ist von Marie ein Krankheitsbild beschrieben
worden, das er mit dem Namen Akromegalie belegt hat. Es
ist dadurch gekennzeichnet, dass einzelne Glieder, namentlich
die Extremitätenenden, Füsse, Hände, der Unterkiefer, die Nase
ein stärkeres Wachstum erfahren, beziehungsweise erfahren haben
und in Folge dessen grösser als gewöhnlich, länger und haupt-
sächlich dicker geworden sind. In den zuständigen Kreisen
streitet man indessen noch immer darüber, ob die Akromegalie
eine blosse einfache Wachstumsabweichung oder eine eigentliche
Krankheit darstelle. dem Riesenwuchse zuzuzählen sei oder
unter einem ganz eigenen Gesichtspunkte betrachtet werden
muss. Nichtsdestoweniger neigen doch die meisten Kundigen
zu der Ansicht, dass, wie dem auch immer sei, die die Akro-
megalie hauptsächlich bezeichnende Vergrösserung einzelner
Glieder als ein Ausfluss besonderen Nervenlebens, einer beson-
deren Innervation dieser letzteren, der Riesenglieder, anzusehen
sei, und namentlich ist es v. Recklinghausen*) gewesen,
der sich in disem Sinne ausgesprochen hat. In Anbetracht des
erst von der Tabes dorsualis Mitgeteilten hätten wir demnach
in der akromegalischen Vergrösserung der betreffenden Glieder,
welche erstere trotz aller Einwendungen doch immer einen auf
diese letzteren beschränkten Riesenwuchs darstellt, den trophi-
schen Ausdruck einer mittelstarken Nervenreizung zu sehen, die
allerdings aus den verschiedensten Ursachen entsprungen sein
kann, das eine Mal aus intercurrenten Nervenkrankheiten
hervorging, wie in dem Fall von Holschewnikoff, das
andere Mal durch die ganze Anlage des Individuums, eine ge-
wisse Schwäche und Reizbarkeit seiner Teile bedingt war, wie
Freund**) des haben will. Eine Verstärkung dieser Reizung
führte dann zu entsprechenden Zwergformen, wie wir sie z. B.
*) F. v. Recklinghausen. Ueber die Akromegalie. Vircow’s Archiv für
pathol. Anat., Physiol. u. kl. Med. Bd. ıı19 S. 5ı. u. ff,
**) V. A. Freund. Ueber Akromegalie. Volkmann’s Sammlung klin. Vor-
träge. Serie IX., Nr. 329/30.
142
in den oben näher besprochenen Gruppen von Händen und Füssen
kennen gelernt und endlich zu dem Ausfall sämtlicher Bildung,
wie wir das ebenfalls daselbst in Erfahrung gebracht haben.
Was von einzelnen Nerven, einzelnen Bezirken im Nerven-
und besonders im Centralnervensysteme gilt, das gilt auch von
dem Nervensysteme als Ganzem. Es kann einmal auch das
gesamte Nervensystem, wenn auch vielleicht nicht erkrankt im
landläufigen Sinne des Wortes, so doch schwächer, und damit
widerstandsloser und reizbarer als gewöhnlich, d. h. beim Durch-
schnittsindividuum sein. Die Neurastheniker, die Hysteriker, bei
denen die einzelnen Nervenfasern, Nervenzellen, Ganglienkörper
mehr oder weniger allgemein dünner, schmächtiger, zarter, un-
fertiger, mit einem Worte hypoplastisch gegenüber denen
gesunder, nervenstarker Individuen geblieben sind, liefern den
Beweis dafür.
An verschiedenen Orten z. B. Virchow’s Archiv f. patholog.
Anat., Physiologie u. kl. Med. Bd. LXI in dem Artikel „Apho-
rismen zur patholog. Anatomie der Centralorgane d. Nerven-
systems“. S. 112; ın Bd. EXV Il Zinadem, Artikel; „Über die
Bedeutung der Markscheiden der Nervenfasern“ S. 4r u. ff., in
Bd. LXXII in dem Artikel: „Über einige bemerkenswerte Ver-
schiedenheiten im Hirnbau des Menschen“, habe ich schon vor
Jahren darüber des Genaueren berichtet und davon wenigstens
teilweise die mannigfachen Verschiedenheiten hergeleitet, durch
welche sich eben die einzelnen Individuen von einander unter-
scheiden, indem gerade durch sie das ihnen Eigene, Individuelle,
bedingt werde.
Nehmen wir an, dass Individuen schwächer und reizbarer
als gewöhnlich angelegt sind, weil ihre Bildungszellen schon die
Bedingungen dazu in sich trugen, und dass dem entsprechend
auch ihr etwaiges Nervensystem schwächer und reizbarer als
gewöhnlich ist, so wird je nach dem Grade der jeweiligen
Schwäche und der auf ihr beruhenden Reizbarkeit sich dies
zuerst in allerhand Hyperergasien, vornehmlich auch Hyper-
trophien und Hyperplasien und, sind dieselben mehr allgemein,
so auch in einer mehr allgemeinen Hypertrophie und Hyper-
plasie kund geben. Es kommt eine allgemeine Hypermegalie
oder besser gesagt, Hypermegethie, der Riesenwuchs, die soge-
nannte Makrosomie zu Stande. Zunächst wird dieselbe noch
143
gefördert, und wir sehen deshalb den Riesenwuchs sich in einer
gewissen Breite bewegen, d. h. Leute, die wir Riesen nennen,
in Bezug auf ihre Grösse um ein gewisses Maass schwanken, das
sie zum Teil nicht erreichen, zum Teil aber auch bedeutend
überragen. Ist die bezügliche Schwäche und Reizbarkeit aber
grösser, so bringt sie sich unter sonst gleichen Verhältnissen
in allerhand Hypergasien, namentlich auch wieder Hypotrophien
und Hypoplasien zum Ausdruck und, sind dieselben ebenfalls
mehr allgemein, so auch in einer mehr allgemeinen Hypotrophie
und Hypoplasie, welche wir als eine Hypomegalie, oder wieder
besser gesagt, als eine Hypomegethie bezeichnen wollen.
Die bezüglichen Individuen sind klein, kleiner als der Durch-
schnitt der Individuen gleicher Art, die Hauptmasse derselben,
nämlich der ersteren, nur um ein Geringes, einige wenige jedoch
so erheblich, dass sie oft ganz andere Wesen zu sein scheinen.
Es sind das die den Riesen scheinbar schroff gegenüber stehenden
Zwerge. Bei den ersteren, den blos kleinen Individuen ihrer
Gattung, wurden sie das, was sie wurden, wenn auch auf Grund
einer starken Reizbarkeit, so doch immer nur noch einer verhält-
nismässig starken. Die Zwerge jedoch wurden Zwerge, weil
ihre Reizbarkeit von Hause aus eine wirklich starke, eine sehr
starke, war. Ist die in Rede stehende Schwäche und Reizbar-
keit eine noch grössere, so gehen, weil die bezügliche Wider-
standslosigkeit eine fast unbedingte zu nennen ist, die betreffenden
Individuen schon früh zu Grunde. Jede Entwickelung bleibt aus;
es findet in keiner Richtung eine Bildung statt; eine Amegalie,
Amegethie, greift Platz, hat Platz gegriffen.
Der Riesenwuchs, der Zwergwuchs bilden dem entsprechend
denn auch ebensowenig wie die Riesen und Zwerge selbst Gegen-
sätze. Sie werden zwar gewöhnlich dafür ausgegeben, und bei
naiver Betrachtung erscheinen sie auch als solche; allein beide
sind doch eigentlich nur Erzeugnisse der verschieden starken
Reizung, welche gleichartige Individuen derselben Gattung er-
fahren haben.
Diese Reizung kann eine dem Grade nach wirklich ver-
schiedene gewesen sein, wodurch die etwaigen gleich starken
und widerstandstähigen Naturen eine allmähliche Abänderung in
dem Sinne des oben angeführten Gesetzes erfahren mussten;
oder sie war dem Grade nach zwar keine wesentlich ver-
schiedene, im Gegenteil eine im grossen Ganzen sehr gleiche,
indessen die bezüglichen Individuen waren von sehr ungleicher
Stärke und Widerstandsfähigkeit, und da musste denn dessen
ungeachtet doch ihr Beeinflusstwerden durch wenn auch immer
gleich starke Reize ein sehr verschiedenes sein und cben-
falls Abänderungen an ihnen im Sinne des nämlichen Gesetzes
nach sich ziehen. Der Riesenwuchs erweist sich sonach auch
nur gewissermassenals der Anfang, oder vielleicht treffender gesagt,
als der Vorläufer des Zwergwuchses, indem in Geschlechtern,
Familien, in denen Riesen auftauchen, sehr bald nach ihnen auch
Zwerge zum Vorschein kommen werden. Zunächst werden auf
grosse, Riesengestalten, wenn die Verhältnisse nicht gar zu un-
günstig liegen, allerdings nur kleine folgen; im Weiteren jedoch,
wenn nicht die gehörigen Rücksichten genommen werden, werden
wirkliche Zwerge sich einstellen und das einstige Riesengeschlecht
ersetzen. [Die Geschichte so manchen bekannten Geschlechts
dürfte dafür, glaube ich, die nötigen Beweise liefern.
Übrigens entstehen Riesen und Zwerge vielfach blos durch
die entsprechende Entwickelung einzelner Teile ihres Körpers,
vor allen derer, durch welche vorzugsweise ihre Grösse und
namentlich Höhe bedingt wird. Was insbesondere den Menschen
anlangt, so ist es hauptsächlich die Entwickelung seiner Beine,
welche ihn, ich will nicht sagen geradezu zum Riesen oder
Zwerge macht, aber ihm doch etwas Riesen- oder Zwerghaftes
verleiht. Mancher für einen Riesen ausgeschrieene Mann ist nur
langbeinig; mancher, der im Volksmunde als Zwerg geht, hat blos
kurze Beine. Wenn beide neben einander sitzen, gleicht sich
ihr auffallender Grössenunterschied häufig in wunderbarer Weise
aus. Wenn Ajax und Odysseus standen, war Ajax der
grössere; wenn sie beide sassen, so Odysseus.
Wo nun riesenhaftes und zwerghaftes Wesen des Menschen
auf der Länge beziehungsweise Kürze seiner Beine beruht, da
kommt nach den einschlägigen Auseinandersetzungen in der
Abhandlung Platttuss, Klumpfuss und das biologische
Grundgesetz dieses letztere in der Weise zur Geltung, wie
es daselbst gezeigt worden ist. Rhachitische Prozesse spielen
dabei eine hervorragende, ich möchte sagen, unzweifelhafte
Rolle. Sicher ist, dass bei der hierher gehörigen Art Riesen
die Exiphysenfugen viel länger unverknöchert bleiben, als das
dem Durchschnitt nach sein sollte und dass bei den hierher
gehörigen Zwergen meist eine so grosse Reihe rhachitischer
Folgeerscheinungen beobachtet werden, dass wenigstens über
die nächsten Ursachen ihrer Zwerghaftigkeit eigentlich Kein
rechter Zweifel mehr bestehen kann. Wie die langen Beine des
Windhundes, die kurzen des Dachshundes aus im Allgemeinen
gleichen, und nur in ihren Verhältnissen zu einander verschiedenen
Zuständen hervorgehen, so nehmen auch die entsprechenden
langen und kurzen Beine des Menschen und der durch sie be-
dingte Riesen- oder Zwergwuchs aus den nämlichen und nur in
ihren Verhältnissen zu einander verschiedenen Vorgängen ihren
Ursprung.
Die in Rede stehende Art von Riesen oder auch blos riesen-
haften Gestalten, zum Teil auch die entsprechenden Zwerge oder
blos zwerghaften Gestalten haben auch das mit dem Wind- und
Dachshunde gemein, dass ihre Gesichtsknochen, vornehmlich die
Nase und der Unterkiefer zumeist eine hervortretendere Ge-
staltung erfahren haben. Nicht immer! Keineswegs! Ich habe
Männer von mehr als 180 cm Grösse kennen gelernt, bei denen der
Unterkiefer kurz geblieben war und infolge dessen das Kinn in
kindlicher Weise auffällig zurücktrat; wie umgekehrt ich auch
kleinen kurzbeinigen Leuten begegnet bin, deren Unterkiefer lang
war und mit einem mehr oder weniger spitz hervortretenden Kinne
endigte..e Doch das sind Ausnahmen, welche auf verhältnis-
mässig stärkeren oder schwächeren Reizungen der bezüglichen
Nerven beruhen und den Verbindungen von Plattfuss mit O-Bein
oder Klumpfuss mit X-Bein an die Seite gestellt werden dürften. Die
Regel ist, dass der Unterkiefer bei den riesenhaften Gestalten
insbesondere lang geraten ist. Seine Schneidezähne stehen deshalb
vor denen des Oberkiefers. Es ist damit eine Art von Cranium
progenaeum entstanden, auf das überhaupt, als eine abwegige
Bildung, welche mit psychischen Unzulänglichkeiten in Beziehung
steht, Ludwig Meyer schon vor mehr als zwei Jahrzehnten
aufmerksam gemacht hat*), und merkwürdig, im Plattdeutschen
wird ein langer, hoch aufgeschossener, schlaffer, leistungsunfähiger
Mensch ein langscheniger Kerl geschimpft, um damit seine
Unbrauchbarkeit und Unzuverlässigkeit auf Grund geringer An-
*) L.Meyer, Archiv für Psychiatrie u. Nervenkrankheiten Bd.I. 1868 —69. S. 96.
10
146
stelligkeit, geringer Dauerhaftigkeit in wegwerfender, verächt-
licher Weise zu bezeichnen. Das Zusammentreffen der Beobach-
tung Ludwig Meyer’s, dass mit Cranium progenaeum, und
die des plattdeutschen Volkes, dass mit Langschenigkeit, d. i.
Langschienigkeit, Langbeinigkeit, welche beide wieder gemeinhin
zusammentreffen, psychische Mangelhaftigkeit, Widerstandslosig-
keit und damit Neigung zum psychischen Erkranken verbunden
sind, ist jedenfalls auffallend. Allein das Verständnis der Be-
ziehungen, welche zwischen Cranium progenaeum schlechthin
und Langbeinigkeit an und für sich obwalten, erklärt dasselbe
vollkommen.
Wo das Riesenhafte, Riesenmässige, das Zwerghafte, Zwerg-
mässige, zumal des Menschen, jedoch nicht auf der entsprechen-
den hauptsächlichen Entwickelung der Gliedmassen, besonders der
Beine, beruht, sondern in der mehr gleichmässigen Grössenzu-
oder Grössenabnahme aller Körperteile seinen Grund hat, wo
also das erstere durch eine allgemeine, nach allen Richtungen
gehende Vergrösserung, das letztere durch eine ebensolche Ver-
kleinerung des ganzen Körpers zu Stande gekommen ist, wo es sich
bei Wahrung der im Allgemeinen herrschenden Proportionalität,
ich möchte sagen, um ächte Riesen und ächte Zwerge handelt, da
pflegt die Gesichtsbildung von dem landläufigen Typus nicht
abzuweichen. Die einschlägigen Individuen haben deshalb auch
oft sogenannte runde oder breite Gesichter mit kleiner, häufig
etwas aufgestülpter Nase, mit wenn auch kräftig entwickeltem,
so doch in der Regel kurzem, breitem Kinn. Jedem, der offenen
Blicks in die Welt hinaus sieht, werden derartige Individuen
begegnet sein. Ich kenne ihrer eine ganze Anzahl und darunter
etliche, die 200,0 cm und darüber messen. Sıe sind wohl schon
den eigentlichen Riesen zuzuzählen, wenn sie sich auch nicht
für Geld sehen und an sich genauere Messungen vornehmen
lassen; ich hebe das aber ganz besonders hervor, weil von
mehreren und recht gewichtigen Seiten erst noch in jüngster Zeit
die Meinung ausgesprochen worden ist, die Verlängerung des
Unterkiefers sei für den Riesentypus etwas Charakteristisches.
Das ist indessen, ich betone es ausdrücklich, durchaus nicht
zutreffend. Nur wo das Riesenhafte auf der plattdeutschen Lang-
schenigkeit beruht, hat es Geltung, sonst aber nicht im Geringsten.
Im Gegenteil: das Cranium progenaeum Ludwig Meyer’s
147
findet sich vorzugweise bei kleinen vermissquiemten, freilich aber
verhältnismässig langbeinigen Gestalten. Die spanischen Habs-
burger von Carl I. (V) an haben ein solches in hohem Masse
besessen; sie besassen aber auch entsprechende Gestalten. Eine
so dürftige, kümmerliche und vermissquiemte Gestalt, wie sie
die Statue Carls V. auf der Piazza Bologni zu Palermo zeigt,
habe ich selten gesehen. Sie stimmt indessen zu allen Ab-
bildungen und Beschreibungen, welche mir sonst von diesem bis
in die neueste Zeit durchaus falsch beurteilten Manne der Geschichte
vorgekommen sind. Die seines Sohnes Philipp I. war nicht anders,
und die der Nachfolger dieses noch weniger günstig. Der lange
Unterkiefer mit den die oberen nach vorn überragenden Schneide-
zähnen, welcher vorzugsweise das Cranium progenaeum bedingt,
kommt sehr oft bei kleinen, zwerghaften Menschen, ja selbst
bei eigentlichen Zwergen vor und ist keineswegs für den Riesen-
typus bezeichnend.
Carls V. Bruder, Ferdinand I., war ein grosser, stattlicher
Mann. Er scheint allerdings auch ein Cranium progenaeum ge-
habt zu haben, jedenfalls doch nur ein sehr unbedeutendes.
Immerhin würde das aber dafür sprechen, dass auch seine Grösse
doch hauptsächlich nur durch eine gewisse Länge der Beine
und weniger durch eine den ganzen Körper betreffende, ent-
sprechende Ausbildung bedingt war. Allein wie dem auch sei,
beide Brüder legen dafür Zeugnis ab, wie nahe sich Riesen-
und Zwergwuchs stehen und, wie beide selbst in der nächsten
Verwandtschaft sich zeigen können. Dasselbe beweisen auch
Ferdinand Il. und seine Nachkommen. Denn dieser Ferdinandll.
war wie sein Grossvater Ferdinand I. ebenfalls ein grosser,
stattlIcher Mann, und wie es scheint, ebenfalls mit einem leichten
Cranium progenaeum behaftet. Sehr erheblich war dies jedoch
schon bei seinem Sohne, Ferdinand Ill, der auch sonst
eine viel unansehnlichere Persönlichkeit gewesen zu sein scheint,
und sein Enkel, Leopold I., ist, ein sehr beachtenswertes Zeug-
nis für die sprungweise Vererbung und die Cumulation der
Fehler und Schwächen durch Heiraten in zu naher Verwand-
schaft, der reine Carl V. Durch Eleonore von der Pfalz,
also durch das Haus Wittelsbach, findet eine Blutauf-
frischung statt, und der schöne, stattliche Josef I. wird der
Sohn dieses kleinen und unansehnlichen Leopold I1., des Enkels
10*
und Urenkels grosser, stattlicher, dem Riesenhaften sich wenigstens
nähernder Väter. Das Riesenhafte der Individuen einzelner Arten
ist aber nur der Vorläufer des Zwerghaften in denselben, das
sich in der Nachkommenschaft allerdings wieder verlieren kann,
wenn die Umstände, unter denen es entstanden ist, sich gleich-
falls verlieren und günstiger gestalten.
Alle Riesen, selbst alle blos riesenhaften Individuen sind
also, was sie sind, auf Grund einer gewissen Reizbarkeit und
damit wieder auch einer gewissen Widerstandslosigkeit, durch
welche sie sich von den Durchschnittsindividuen ihrer Art unter-
scheiden. Eine gewisse Schwäche und Hinfälligkeit ist darum
auch ihnen allen, wie sonderbar für's erste das auch manch
Einem erklingen mag, demnach eigen. Alle Riesen und riesen-
haften Individuen, und das ganz gleich, ob Pflanze, ob
Tier oder Mensch, erkranken darum auch leicht und gehen im
Allgemeinen leichter und früher zu Grunde, als die Durch-
schnittsindividuen ihrer Art. Dass sie dabei zu gewissen, rasch
vorübergehenden Kraftleistungen mehr befähigt sind, als die
Durchschnittsindividuen, aus denen sie hervorragen, widerspricht
dem nicht. Ihre Schwäche zeigt sich eben in dem Mangel an
Nachhaltigkeit und Ausdauer, welche vorzugsweise der Aus-
druck von Stärke sind. Es ist hier wieder einmal der Ort, auf
den Unterschied von Stärke und Üppigkeit hinzuweisen, welche
im gemeinen Leben nicht leicht unterschieden, sondern ganz ge-
wöhnlich zusammengeworfen werden. Jene ist der Ausdruck
einer Eu- oder gar Akroergasie, diese der einer Hyperergasie.
Die letztere jedoch birgt bekanntlich schon den Keim einer
Hyp- und Anergasie in sich, von welcher sie damit denn auch
gleichsam den Anfang bilde. Alle Riesen und riesenhaften
Individuen sind aber immer mehr üppige als starke Naturen.
Der sogenannte geile Wuchs der Pflanzen, einzelner ihrer Teile,
Äste und Früchte, die Neigung zur Fettleibigkeit bei den in
Frage kommenden Individuen der warmblütigen Wirbelthiere z.
B. des flämischen und des normännischen Pferdes, der sogenannten
Percherons, bei denen das ganze Individuum eine Hypertrophie
oder besser wohl Hyperplasie erfahren hat, beweisen das ebenso
wie die ächten Riesen unfer den Menschen. Alle ächten Riesen
sind fettleibig, sind mit einer Hyperlipomatosie behaftet, welche
in der Jugend mehr erethischer, im Alter mehr torpider Natur
ist und als solche eine Art paralytischer Fettbildung darstellt.
Die unächten, mehr scheinbaren Riesen, bei denen die Grösse
mehr durch die Entwickelung einzelner ihrer Teile, also bei
den warmblütigen Wirbeltieren und dem Menschen mehr durch
die Entwickelung ihrer Beine als durch die des ganzen Körpers
bedingt wird, besitzen diese entschiedene Neigung zur Fettlei-
bigkeit nicht. Ja sie fehlt ihnen oft ganz, und die betreffenden
Riesen sind hager und bleiben hager, selbst wenn sie ein höhe-
res Alter erreichen. Unter den Tieren die Windhunde, die
englischen Rennpferde, unter den Menschen der lange Herzog
von Alba mögen hierfür als Beispiele angeführt werden. Die
bezügliche Reizbarkeit ist bei diesen Wesen schon so gross, dass
es unter ihrem Einfluss nicht mehr zu Hypertrophien, wohl
aber schon zu Hypotrophien und gelegentlich selbst Atrophien
kommt. Im Fettgewebe, als dem leichtest gebildeten und
leichtest verzehrten Bestandteile des Körpers, giebt sich das
zuerst zu erkennen.
Bei den, ich möchte sagen, kleinen Formen der unächten
Riesen, bei den schon dem Zwerghaften sich zuneigenden, vermiss-
quiemten, aber verhältnismässig langbeinigen Gestalten mit einem
ausgesprochenen Cranium progenaeum fehlt die Fettleibigkeit, so-
weit bis jetzt meine Beobachtungen reichen, ausnahmslos, und bei
den Zwergen? Da trifft man sie bald; bald sucht man sie ver-
gebens. Allein wo sie vorhanden ist, da scheint sie erst im
Alter sich eingestellt zu haben, — Zwerge altern sehr früh —,
oder von vorn herein auf einem gewissen Torpor, einer gewissen
Paralyse, Parese, zu beruhen, wie bei den Cretins, vorzugsweise
denen von alpinem Typus.
Die allen Riesen zukommende grössere Reizbarkeit zeigt
sich ganz besonders auch in ihrem psychischen Verhalten. Sie
wird durch dieses gerade erst bewiesen. Alle Riesen sind
melancholisch, d. h. ihr Selbstgefühl, Ichgefühl, Ich, ist über-
reizt und stellt eine Hyperthymie dar, und zwar in um so höhe-
rem Grade, je geringer die Reaktionsfähigkeit ist, welche sie
selbst auf die sie treffenden Reize besitzen. Denn ihr langsames,
bald mehr gemessen, bald mehr träg erscheinendes Wesen ist
nur durch ihre Schwerfälligkeit, die grosse Masse, welche sich
in ihnen zu bewegen hat, bedingt, nicht aber etwa durch einen
Mangel an Erregbarkeit überhaupt oder auch blos eine daraus ent-
150
springende Gleichgültigkeit, wie man gemeinhin anzunehmen
beliebt. Im Gegenteil, alle Riesen und zumal die von mir der
Kürze halber als unächte bezeichneten, sind psychisch reizbar,
und gerade aus dem Missverhältnis zwischen dieser Reizbarkeit
und der durch ihre Masse verminderten Reaktionsfähigkeit ent-
springt die ihnen eigene ernste, trübe, traurige oder ärgerliche,
oft bösartige, d. i. eben die melancholische Stimmung, welche
sie beherrscht.
Jeder Melancholische ist zu gelegentlichen Ausbrüchen von
sogenannter Heftigkeit, die als mehr oder minder schwere
Raptus melancholici bekannt sind, geneigt. Es vermitteln die-
selben den Übergang vom Melancholischen zum Cholerischen,
zu welchem ersteres wird, wenn letzteres die Oberhand be-
kommt. Daher denn die Riesen auch vielfach als leidenschaft-
liche, jähzornige, wohl ungeschlachte Menschen gelten und durch
Sagen und Mähren als böse, grausame Wüteriche gehen, wenn
sie auch bisweilen von einer zarteren, sanfteren Hülle umgeben
zu sein schienen. Der lange Herzog von Alba kann wieder
als ein geschichtliches Beispiel für die Richtigkeit der ein-
schlägigen Beobachtung angeführt werden.
Das cholerische Wesen ist das eigentlich thätige, durch
seine gewaltigeren, indessen der Dauer ermangelnden Äusserungen
das zerstörende, durch seine massvolleren aber andauernden das
erbauende und damit auch das schaffende, schöpferische.
Riesen oder auch blos den Riesen sich nähernde Individuen
sind selten schöpferisch, am ersten noch die den ächten Riesen
zuzuzählenden. Die in jeder Beziehung ächte Riesen darstellenden
Gestalten Kaiser Wilhelms I. und Bismarcks legen
für letzteres Zeugnis ab. Die unächten, die blos langbeinigen
und darum auch blos als Riesen erscheinenden Menschen sind von
Ajax ab, wenn sie sich einmal stärker bethätigten, samt und
sonders nur wahnsinnige Zerstörer gewesen. Es fehlt ihnen,
um dort wieder etwas zu errichten, wo sie eingerissen haben,
vielleicht um etwas Neues zu errichten, an nachhaltiger Kraft,
dieses nun auch wirklich zu errichten, und so erscheinen sie uns
denn, was sie in der That auch sind, als blosse Zerstörer. Es
giebt auch da anscheinende Ausnahmen, von denen Schiller
eine ist. Dieselben stellen gewissermassen den Anfang zu denkleinen,
den Übergang zu den Zwergen vermittelnden Gestalten dar und
151
sind deshalb eben Ausnahmen, indessen doch nur solche, die sich
der Regel immer noch bis zu einem gewissen Grade unterordnen.
Nichtsdestoweniger tritt das cholerische Etwas im Ganzen
doch in dem Wesen der Riesen zurück, und das Melancho-
lische ist für sie kennzeichnend.. Mit dem Melancholischen
verbindet sich leicht etwas Pathisches, das von Unkundigen
häufig, ja vielleicht meist für etwas Apathisches gehalten wird
und deshalb die Riesen in den Geruch gebracht hat, im Ganzen
träge, gleichgültige Geschöpfe zu sein. Dass das jedoch
nicht der Fall ist, haben wir bereits mitgeteilt. Sie können
auch Choleriker, sogar arge Chloleriker sein, und einzelne der
ächten Riesen sind es vorzugsweise. Das Cholerische bedingt
stets etwas Pathetisches und zumal da, wo es sich aufbauend,
schöpferisch, erweist. Aussprüche wie: „Und wenn so viel
Beufelwie Zıeseln auf den Dächern wären, ich ginze
doch“ — „Ich dien“ — „Rocher de bronze“ — „Erster
Biiener des Staats“ — „Blut lund. Eisen“ —. .„Berst
wägen, dann wagen“ — „Songez, que de la hauteur de
ces pyramides quarantesiecles vous comtemplent“ und
derartige mehr bestätigen das. Sonst ist das Cholerische
und mit ıhm das Pathetische mehr Eigenschaft kleiner Leute,
deren Reizbarkeit und insbesondere deren entsprechende Reak-
tionsfähigkeit grösser, als die der Riesen ist, und die nach
meiner Meinung eben auf diese grössere Reizbarkeit hin klein,
beziehentlich kleiner geblieben sind. Mit der Reizbarkeit hängt
die Intelligenz zusammen. Je grösser innerhalb gewisser Grenzen
jene ist, um so grösser ist auch diese, und umgekehrt, je dürftiger
diese sich zeigt, nm so geringfügiger erweist sich auch jene.
Das Genie ist Genie wesentlich deshalb, weil es auf Grund seiner
ausserordentlichen Reizbarkeit dort noch Wirkungen wahrnimmt,
wo der gewöhnliche Mensch nicht mehr berührt wird, und der
blödsinnige ist häuptsächlich darum blödsinnig, weil ihn nichts
mehr von dem bewegt, in Erregung versetzt und seine Aufmerk-
samkeit auf sich zieht, was dem Durchschnittsmenschen schon
Freude oder Schmerz bereitet. Ein Blödsinniger kann in die
Sonne sehen, ohne zu blinzeln, am Ofen sich verbrennen, ohne es
zu merken; ein Genie dagegen wird leicht zu heftig gereizt. Es
leidet darum auch leicht, und Schmerzen, selbst aus ihnen ent-
stehende Krämpfe, sind seine tägliche Qual.
152
Diese Reizbarkeit des Genies, des intelligenten Menschen
überhaupt, die ja beide allein die schöpferischen, weil that-
kräftigen sind, ist wohl die Ursache, dass die Genies, die
hervorragenden Intelligenzen, die hervorragenden Männer der
That meist klein waren, meist klein sind. Wenn sie wohl auch
niemals Zwerge waren, so näherten sie sich doch oft schon dem
Zwerghaften. Die bei Weitem grösste Mehrzahl derselben war
unter Mittelgrösse, die meisten schwächlich, kränklich, vielfach
leidend, viele in der einen oder andern Art verwachsen, schief,
buckelig, lahm, mit grossen, dicken Köpfen (Kephalonen)
und hässlichen, affenartigen Gesichtern. Alexander d. Gr.,
Friedrich II. von Hohenstaufen, ‘Carl V., Philipps
Spanien, Carl XII. v. Schweden, der Prinz Eugen v. Sa-
voyen, der grosse Kurfürst, Friedrich Il. v. Pr., Friedrich
d. Gr., sein Bruder der Prinz Heinrich, der alte Ziethen,
Napoleon I. waren kleine, zum Teil sehr kleine Männer, des-
gleichen Aristoteles, der Apostel Paulus, der Papst
Gregor VI., Spinoza, Moses Mendelssohn, Voltaire,
Kant, Schleiermacher, Schopenhauer, Herman Lotze,
die beiden Humboldt, Schliemann, Lord Byron, Wieland,
Ibsen, Gottfried Keller, Mozart, Beethoven, CzW7
Weber, Robert Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdi,
Chopin, Meyerbeer, Richard Wagner, der jüngere Pitt,
Talleyrand, der Fürst Clemens Metternich, Disraei
Cavour, Thiers, Windhorst, Th. Mommsen, Rafael, van
Dyck, Meissonier, Adolf Menzel.
Unter diesen mehr oder weniger kleinen Männern, welche
die Welt in der einen oder der anderen Richtung bewegt haben,
waren einige mit dem Meyer’schen Cranium progenaeum be-
haftet, Carl V., Philipp IL, wie es scheint auch Carl XII.,
und ebenso Robert Schumann, Richard Wagner. Einige
waren, wenn auch schwächliche, so doch zierliche, elegante Ge-
stalten mit wenigstens in ihrer Jugend auffallend schönen Ge-
sichtern, so besonders Alexander d. Gr., Friedrich d. Gr.
Wenn die mit dem Meyer’schen Cranium progenaeum behafteten
kleinen, dürftigen Gestalten den Übergang von den unächten
Riesen zu den Zwergen bilden, so bilden die kleinen mehr oder
minder wohlproportionierten den Übergang von den ächten Riesen
zu den Zwergen. Und wenn wir uns nun das ansehen, was die
bezüglichen Individuen, welche diesen beiden Kategorien ange-
hören, geleistet haben, und das sie zu den thätigen und thatvollen
Männern gemacht hat, die sie waren, die sie sind, was ist aus den
Thaten Carls V., Philipps I., Carls XII. geworden? — „Und
jeder Ausgang ist ein Gottesurteil!“ — Der Ausgang der Thaten
der beiden Karle, der Thaten Philipps verurteilt sowohl diese
selbst, wie auch ihre Urheber; während die Thaten Alexanders
d. Gr. und Friedrichs I. v. Hohenstaufen noch immer ihre
segensreichen Früchte tragen, und die des grossen Kur-
fürsten, sowie Friedrichs d. Gr. erst anfangen, ihre Früchte
zu voller Reife zu bringen. Robert Schumann doch starb im
Irrenhause, und Richard Wagner galt Zeit seines Lebens als
problematische Natur. — Die Thaten, die wirklichen, Leben und
Welt gestaltenden Thaten der kleinen progenäen Menschen
gleichen denen der entsprechenden Riesen oder auch öfter blos
riesenhaften Gestalten. Sie zerstören, wenn auch nur langsam,
ohne dass sie jemals wieder das Fundament zu einem neuen,
bleibenden Aufbau gewährten. Damit aber kennzeichnen sie sich
als völlig ungeschickte, ungehörige, und wenn sie etwa gar in
der Absicht unternommen waren, Glück und Wohlergehen zu
schaffen, so als verkehrte, aller gesunden Logik bare. Und
wenn das Sprüchwort wahr ist: „An ihren Früchten sollt ihr sie
erkennen“, so wissen wir, was von den genannten, namentlich den
drei erstgenannten Persönlichkeiten zu halten ist. Sie waren
abwegig fühlende, abwegig denkende und daher auch abwegig
handelnde Persönlichkeiten; sie waren mit einem Worte —
Paranoiker. Ihr ganzes Leben hat das auch sonst bewiesen,
und wenn sie, die ersten drei, nicht an der Stelle gestanden hätten,
in die sie das Schicksal hineingeboren hatte, würden sie auch
längst als solche beurteilt worden sein. Die kleinen progenäen
Persönlichkeiten sind wie sie eigentlich niemals wirklich schöpfe-
risch. Der schöpferische Genius, der Dauerndes in das Dasein
treten lässt, scheint vielmehr an die kleinen Menschen gebunden
zu sein, welche den Übergang der ächten Riesen zu den Zwergen
vermitteln. Die Bedingungen, welche dem Genie zu Grunde
liegen, in erster Reihe die verhältnismässig starke Reizbarkeit,
haben auch die Kleinheit der jeweiligen Körper zur Folge. Dass
dabei die mannigfaltigsten Verhältnisse obwalten, die mannig-’
faltigsten Cumulationen und Paralysierungen standfinden können
liegt auf der Hand. Daher kommt es aber auch, dass einmal
ein schöpferischer Genius in einem grossen, selbst riesenhaften
Körper stecken kann, dass neben einem Windhorst, Thiers,
Disraeli, Cavour ein Bismarck, neben einem Alexander,
Friedrich, Napoleon ein Moltke, neben einem Mozart,
Beethoven, C. M. v. Weber ein Haendl erscheint. Das
Prinzip ist und bleibt indessen: Das Genie ist im Allge-
meinen an einen kleinen Körper gebunden, und zwar in Folge
der Ursachen, die es selbst bedingen, in Folge hauptsächlich
der Reizbarkeit. für welche die gewöhnlichen Reize sich schon
wie starke verhalten und, dann gereizt, eine stärkere Körper-
entwickelung hemmen.
Boveri*) will gefunden haben, dass bei künstlicher Be-
fruchtung von Seeigeleiern Zwerglarven zum Vorschein kamen,
wenn kernlose Abschnitte des jeweiligen Eies befruchtet wurden,
und dass bei künstlicher Ausbrütung von Hühnereiern Zwerg-
formen von Hühnchen sich einstellten, wenn die Ausbrütung bei
verhältnismässig sehr hoher Temperatur und mangelhafter Zu-
fuhr von Sauerstoff erfolgte. In beiden Fällen musste aber ganz
notwendig das in abnormer, unzulänglicher Weise befruchtete
und in abnormer, unzweckmässiger Weise ernährte Protoplasma.
der Eier sich abnorm weiter entwickeln. Es musste unkräftiger,.
widerstandsloser, erreg- oder reizbarer und damit auch beein-
flussbarer werden und dieses Letztere in einer entsprechenden:
Weise an den Tag legen.
Je stärker die Reizbarkeit, um so stärker wirken natürlich
die in Betracht kommenden alltäglichen, d. h. die gewöhnlichen
Reize ein. Die bezüglichen Individuen werden, je nachdem, in
ihrer Entwickelung gefördert oder gehemmt, und zwar zuerst
weniger dann mehr und wie sie daraufhin erst zu Riesen, aus.
Riesen zu mittelgrossen und kleinen Persönlichkeiten werden,
werden sie endlich zu Zwergen; die grösste Mehrzahl geht in-
dessen vorzeitig zu Grunde. Die Widerstandslosigkeit, aus welcher
ihre Reizbarkeit entspringt, lässt sie leicht erkranken und den
betreffenden Krankheiten unterliegen. Sie verkrüppeln deshalb
auch so oft; es giebt nur wenig nicht missgestaltete Zwerge,
*) Tb. Boveri. Ein geschlechtlich erzeugter Organism. ohne mütterl. Eigen-
chaften. Münch. Wochenschft. Jahrg. XXXVI. 1889 Nr. 41. S. 704 u. ff.
155
und das erklärt, warum so viele der kleinen Genies sich eben-
falls mehr oder weniger verkrüppelt zeigen. Der Apostel
Paulus, der Papst Gregor VII, Spinoza, Moses Mendels-
sohn, der Prinz Eugen, der Prinz Heinrich, welcher schielte,
Lord Byron, Talleyrand, welche beide ein zu kurzes Bein
hatten und hinkten, liefern dafür den Beweis. Auf Grund
ihrer starken Entwickelungshemmung und der daraus sich
ergebenden Unfertigkeit, sind Zwerge auch fortpflanzungs-
unfähig, wenigstens der Regel nach, und das erklärt, warum so
viele geniale Männer, Genies, kinderlos waren und kinderlos sind,
beziehentlich eine fortpflanzungsunfähige Nachkommenschaft hin-
terliessen.
Dem Riesenwuchs, dem Zwergwuchs liegt nach alledem wie
so vielem Andern lediglich das biologische Grundgesetz zu
Grunde. Von der Reizbarkeit des Individuums hängt es auch
ab, was ein starker, was ein schwacher Reiz ist; allein das be-
rücksichtigt, gilt wie sonst auch hierbei: Kleine Reize fachen
das Wachstum an, grössere fördern es, noch grössere hemmen
es, und grösste verhindern es ganz, und gar. Und da das
Wachstum Äusserung einer Lebensthätigkeit ist, gilt auch in
Bezusss auf, dasselbe; Kleine Reize tachen die TLebens-
thätigkeit an, mittelstarke fördern sie, starke hemmen
sie und stärkste heben sie auf.
— 0 u —
6.
Schwarz und Weiss bei Tier und Mensch
und das biologische Grundgesetz.
Schwarz und weiss pflegen als Gegensätze angesehen zu
werden und die schwarzen und weissen Tiere einer vielfarbigen
Art als die Repräsentanten der beiden Enden der Farbenscala,
unter welche sich die einzelnen Individuen einer solchen Art
unterordnen. Man sieht die schwarzen Tiere derselben gewisser-
massen als den Gegensatz, das Gegenteil der weissen an; man
sieht in dem Rappen das Gegenteil vom Schimmel, in dem
schwarzen Rinde, dem schwarzen Schafe das Gegenteil vom
weissen, in dem schwarzen Hunde, der schwarzen Katze, dem
schwarzen Kaninchen, den schwarzen Tauben und Hühnern das
Gegenteil von den weissen Tieren der entsprechenden Art.
Und beim Menschen? Der Neger gilt wohl allgemein als der
Gegensatz des Kackerlacken. Vom psysikalischen Standpunkt
aus ist das wohl auch ganz richtig und selbst vom anatomischen
aus dürfte sich nicht leicht etwas dagegen einwenden lassen.
Denn dem Schwarz der Tiere und Menschen liegt der grösste
Reichtum intensivsten Pigments zu Grunde, und das Weiss hat
seine Ursache in dem nahezu völligen Mangel an jedem Pigment.
Wie verhält sich aber die Sache vom psysiologischen, beziehent-
lich biologischen Standpunkte aus? Bis jetzt ist darüber noch
nichts Näheres bekannt, und selbst einer der neuesten Bearbeiter
des Gegenstandes, Herr Dr. Crampe, erklärt in seinem sehr ein-
gehenden Aufsatz: Die Farben der Pferde von Trakehnen.
I. Theil: Die Ergebnisse der Farbenreinzucht. Landwirthschaft-
liche Jahrbücher, herausgegeben von Dr. Thiel, Bd. XVII, 1888,
Heft 6, S. 834—835: Wir wissen es nicht! „denn,“ sagt er, „in
nahezu allen Säugetier- und Vogelspecies kommen Farben-
abänderungen vor. Dieselben haben mit einander gemein, dass
sie gelegentlich und aus unbekannten Ursachen in die Erscheinung
treten. Weshalb dies bei einigen Species häufiger geschieht,
als bei anderen und weshalb beispielsweise in einem Wurf Hasen
fünf Junge die Farbe der Species besitzen und eins weiss, ge-
157
scheckt, schwarz u. s. w. ist, das wissen wir nicht, und deshalb
vermögen wir auch nicht die Species durch Mittel der Zucht zu
zwingen, Abänderungen hervorzubringen..... Von zwei Pferden
gleicher Farbe fallen Nachkommen, die den Eltern gleichen und
ausserdem solche von anderen Farben. Welche Ursachen diese
Eigenschaften bedingen, das wissen wir nicht.“
Ein Zufall führte mich auf eine Fährte, die weiter verfolgt»
Licht in die fragliche Angelegenheit bringen zu können scheint.
Ich hatte zu physiologischen Zwecken mir eine Kaninchenzucht
angelegt. Ich wünschte die grossen weissen Kaninchen mit
langem, eckigem Kopfe, roten Augen und langen, durch-
scheinenden, die Blutgefässe in sehr klarer und deutlicher Weise
bervortreten lassenden Ohren, mir als weisse englische bezeichnet,
zu züchten. Ich musste sie mir von auswärts kommenflassen;
das mir zugesandte Paar stellte sich aber als aus zwei Weibchen
bestehend heraus. Ich suchte nach einem Männchen, konnte
jedoch lange keins bekommen. Die beiden weissen Kaninchen-
weibchen wurden indessen sorglicb gehütet, damit sie nicht mit an-
dern Kaninchenmännchen zusammenkämen, und dadurch vielleicht
ihre ganze Nachzucht bezüglich der Rassenreinheit verdorben
würde. Ein Hasenkaninchenmännchen aus einer schon vorhandenen
Zucht wusste nichtsdestoweniger den Weg zu ihnen zu finden.
Beide Weibchen wurden tragend, und beide warfen — die
Hasenkaninchen sind gelblich -braungrau, hasengrau — nur
schwarze oder schwarze und blos hin und wieder mit einem
kleinen weissen Flecken versehene zahlreiche Junge, kein einziges
weisses oder auch nur vorwiegend weisses, kein einziges graues
oder auch nur weiss und grau geflecktes. Alle hatten dem
entsprechend schwarze Augen und dazu einen kürzeren Kopf,
kürzere Ohren mit anscheinend weniger stark entwickelten Blut-
gefässen als die Mütter. Sie glichen in dieser Beziehung, d. i.
dem äusseren Bau, vielmehr dem Vater. — Warum im Bau so
gleichsam zwischen Vater und Mutter stehend und in der Farbe
von beiden vollständig abweichend? Der Vater grau, die Mutter
weiss, noch mehr als weiss, Kackerlack, und sie selbst
schwarz! Steht das Schwarz vielleicht auch in der Mitte zwischen
dem Weiss der Mutter und dem Grau des Vaters? Sonderbare
Frage! Aber ohne mich viel zu besinnen, beantwortete ich sie
mir mit Ja! Das Schwarz in der Färbung der Tiere ist nicht
158
wie sonst der Gegensatz von Weiss, sondern es ist die Vorstufe
von ihm, und in Folge dessen können auch von weissen oder
anders gefärbten Tieren gelegentlich schwarze erzeugt werden.
Um den raschen Schluss, den ich machte, zu verstehen,
wolle man sich an das in dem einleitenden Aufsatze Leben und
Lebensäusserungen S. 55 u. ff. Gesagte erinnern, nämlich dass
die Hyperergasien der Organismen und ihrer Organe, also die
Hypertrophien, Hyperästhesien, Hyperplasien, die Hyperek-
krisien, die Hyperkinesien, u. s. w. nicht das Gegenteil der Hyp-
und Anergasien seien, wie man gewöhnlich annimmt, sondern
dass sie vielmehr blos den Anfang dieser letzteren darstellen
und zwar so, dass sie den ersten Ausdruck einer Ernährungs-
störung bilden, welche mit den letzteren ende, dass die Endigung
dieser wieder aber keineswegs schon in dem nämlichen Individuum
zu erfolgen brauche, sondern erst in seinen Nachkommen zum
Abschluss kommen könne, worauf unter Anderem die Entartung
beruhe, ferner, dass das wirkliche Gegenteil der Hyp- und
Anergasien nur die Akro- oder Oxyergasien seien, einfache
Steigerungen der Euergasien, d. h. der als normal angenommenen
Durchschnittsäusserungen der jeweiligen Organismen, beziehungs-
weise Organe, während die Hyperergasien dem Gesagten nach
als krankhafte Steigerungen zu gelten haben, und dass das um
so mehr anzunehmen sei, als sie auch sonst noch in verschiedener
Richtung sich abwegig zeigen. Beide, die Hyperergasien und
Oxyergasien werden indessen gemeiniglich mit einander ver-
wechselt, wenigstens zusammengeworfen; aber daraus entspringe
eben die Unerklärlichkeit mancher Lebensvorgänge und unter
ihnen auch das „Warum schwarz, warum weiss“ in bestimmten
Fällen. Die Akro- oder Oxyergasien zeichnen sich durch Nach-
haltigkeit, Kraft und Ausdauer aus; das Zeichen der Hyperergasien
sei rasche Erschöpfung, Schwäche und Widerstandslosigkeit.
Die reizbare Schwäche schlechthin sei ihr Wesen. Die in ganz
abwegiger Richtung erfolgenden organischen 'Thätigkeiten seien
die Parergasien, für deren einzelne die schon längst gebräuchlichen
Ausdrücke: Parästhesie, Parakusie, Parosmie, Parageusie, Paralgie
und Paralgesie, sowie Parakinesie, Paralalie, Paraphasie, Para-
graphie, Parhidrosie zur möglichst treffenden Bezeichnung dienen.
Wenden wir das nun auf die Färbung vielfarbiger Tier-
arten an, so haben wir in der schwarzen Farbe derselben den
Ausdruck einer Hyperergasie, nämlich einer Hyperplasie von
Pigment zu sehen, und in der weissen Farbe den einer An-
beziehentlich Hypergasie, nämlich einer Aplasie oder Hypoplasie
von Pigment, und warum von einem weissen Kaninchenweibchen,
nachdem es von einem hasengrauen belegt worden ist, schwarze
Junge geboren werden können, indessen nicht gerade müssen,
liegt auf der Hand.
Die Farbe des wilden Kaninchens, nennen wir sie die Grund-
oder Urfarbe der Kaninchen überhaupt, ist ein sogenanntes
Hasengrau. Das Hasengrau des Kaninchens ist danach für das
jeweilige Individuum als Ausdruck einer Euergasie, einer Eu-
plasie von Pigment, aufzufassen. Eine Akro- oder Oxyplasie
von Pigment würde sich bei ihnen in einer grösseren Dunkelheit,
einer tieferen Sättigung des Hasengrau bis an das Schwarz
hinan, ohne aber wohl jemals ganz schwarz zu werden, zeigen.
Die Ratten, bei welchen sich solche dunklere, in das Schwärz-
liche hineinragende Varietäten vorfinden, liefern dafür die Beläge.
Im Winter 1890/91 haben Herr Dr. W. Müller und ich auch
entsprechend gefärbte, auf den ersten Blick schwarz aus-
sehende Sperlinge hier in Greifswald beobachtet. Das Schwarz
selbst aber ist der Ausdruck einer Hyper- mit einer gleichzeitig
einhergehenden Paraplasie. Denn der Natur der Sache nach
muss jede Hyperergasie auch eine Parergasie sein. Eine aus-
gesprochene Paraplasie von Pigment bei den Kaninchen würden
z. B. die falben, beziehentlich mehr oder minder ockergelben
an den Tag legen. Die schwarze Farbe jedoch ist, wie gesagt,
vorzugsweise bedingt durch eine Hyperplasie von Pigment.
Wenn diese Hyperplasie nun nachlässt, in eine Hypoplasie über-
geht, so tritt an die Stelle des Schwarz ein mehr einfaches
Grau, bei dem sich das paraplastische Element in einem bläu-
lichen Schimmer zu erkennen giebt. Tritt endlich an die Stelle
der Hypoplasie von Pigment eine Aplasie oder doch relative
Aplasie desselben, so werden die Kaninchen weiss. Zunächst be-
halten sie dann noch schwarze Augen; das Tapetum nigrum ihrer
Choroidea ist noch gut erhalten. Dann schwindet in Folge einer
allgemeiner gewordenen Pigmentaplasie auch dieses; die Augen
werden rot, und der Kackerlack ist fertig. Vermischt sich nun ein
solcher Kackerlack, der erfahrungsgemäss, wenn auch gross, doch
immer ein entarteter Schwächling ist, mit einem die Grund- oder
Urfarbe der Art tragenden und darum überhaupt im Allgemeinen
euergastischen Individuum, so findet für die bezüglichen Jungen
eine Blutauffrischung statt. Die Individuen werden stärker, in-
dem sie sich in ihren Eigenschaften denen des stärkeren Teils
ihrer Eltern nähern. In der Farbe zeigt sich das, indem je nach
der mitgeteilten Energie des stärkeren Teiles der Eltern das
anergastische Weiss zunächst in das hypergastische Grau über-
geht, das gewissermassen geteilt als weiss und schwarz oder,
etwas weiter vorgeschritten, als schwarz und weiss gefleckt er-
scheint, dann zum hyperergastischen Schwarz wird und danach end-
lich erst dem euergastischen Hasengrau Platz macht, als der gleich-
sam erst gesunden, vollkräftigen Hauptfarbe der Art. Es ist -
ersichtlich, dass je nach dem Einfluss der Eltern oder eines Teiles
derselben aber auch einmal ein weisses, ein hasengraues Junges
neben sonst schwarzen oder schwarz und weissen in einem
Wurf vorhanden sein kann, und manche der bis jetzt rätsel-
haften hierher gehörigen Erscheinungen klärt sich ganz von selbst
auf. Reicht die Kraft des die Ur- oder Grundfarbe tragenden
Individuums, beziehentlich des in Betracht kommenden Eichens
nicht aus, um auf das aus ihm hervorgehende Junge seine Farbe
zu vererben, so wird dieses schwarz oder schwarz und weiss
gefleckt oder auch ganz weiss; anderenfalls bekommt es die
Grund- oder Urfarbe überliefert, rein oder zum mindesten doch
in mehr oder minder grossen Flecken.
Ganz ähnlich verhält es sich mit den Pferden. Die Grund-
farbe derselben ist braun.*) Das braune Pferd in den verschie-
denen Farbentönen gilt auch ganz allgemein als das dauerhafteste,
weil widerstandsfähigste und nachhaltig leistungsfähigste. Die
Falben — es giebt solche mit schwarzen Mähnen und Schweifen
und solche mit weissen Mähnen und Schweifen, welch’ letztere
den Übergang zu Schimmeln zu vermitteln scheinen — die Falben
also und die Füchse, Ausdruck einer Paraplasie des Pigments,
Stehen ihnen am nächsten. Die Schimmel werden allgemein als
die widerstandslosesten, als die am leichtesten erschöpfbaren und
am wenigsten leistungsfähigen angesehen. Auch sonst zeigen
sie noch manche Unzuverlässigkeiten. Sie sind scheu, launenhaft,
*) Darwin, „Über Entstehung der Arten u. s. w.“ 2. deutsche Auflage
von Dr. H.G. Bronn, Stuttgart 1868, S. 191 und Crampe a.a. O.S. 834.
capriciös, jung lebhaft, ausgelassen, alt faul und schläfrig, und
das Alles zum Wenigstens mehr und häufiger als andersfarbige
Pferde. Die Rappen sind ihnen am ähnlichsten, doch entschieden,
zumal in ihrer Jugend, kräftiger, ausdauernder und darum auch
leistungsfähiger. Sie sind vor Allem stetiger, und darum wieder
zuverlässiger, wenn auch wegen ihres Feuers immer noch viel
weniger als die Braunen, die Füchse, die Falben. Im Übrigen
sind, wie in anderer Beziehung, so auch darin viele Übergänge
von den Rappen zu den Schimmeln vorhanden und umgekehrt —
beide sind auch besonders leichte Durchgänger —, und Rappen
und Schimmel verhalten sich deshalb zu einander etwa wie
Neurastheniker und Hysteriker. Der Hauptübergang zwischen
beiden liegt aber in der Farbe selbst. Der Grauschimmel in
allen Schattierungen beweist das nicht blos an und für sich,
sondern ganz besonders auch durch den Umstand, dassderbeiWeitem
grösste Teil der Schimmel als Rappen oder doch ganz dunkle, den
Rappen nahe stehende Grauschimmel geboren und erst im Laufe
der Zeit, das eine Mal rascher, das andere Mal langsamer, zu
eigentlichen Schimmeln werden. Junge, beziehentlich auch jugend-
liche Greise! Das Schwarz der Rappen erweist sich damit so
recht eigentlich als die: Vorstufe zum Weiss der Schimmel, ich
will einmal sagen, als die physiologische Mittel- oder Zwischen-
farbe zwischen dem Weiss und Braun der Pferde überhaupt,
und vom Weiss aus betrachtet, als ein Zeichen kräftigerer Kon-
stitution. Es ist bekannt, dass von allen noch so verschiedenartig
gefärbten Pferden sowohl Rappen wie Schimmel erzeugt werden.
Warum? Ist die Kraft der Erzeuger nicht so gross, um ihrem
Sprössling die Grund- oder Urfarbe geben zu können, so wird
dieser bei noch vorhandener grösserer Kraft derselben ein Rappe,
bei geringerer ein Schimmel, erst Grauschimmel, dann ein echter
Schimmel, oder auch einmal ein Rothschimmel, ein stichelhaariges
Pferd überhaupt und wohl auch ein Schecke. Das Mysteriöse
der Vererbung verliert so ausserordentlich viel von seinem Dunkel.
Bei Rindern liegt die Sache ganz gleich. Die Grundfarbe
des Rindes ist das bekannte Rot oder Rotbraun in seinen ver-
schiedenen Abänderungen. Wird indessen eine weisse Kuh und
ein solcher roter oder rotbrauner Stier zusammengebracht, so
sollte man erwarten und hat es lange erwartet, dass das danach
geborene Kalb rot, rotbraun, weiss oder wenigstens ent-
11
sprechend gescheckt wäre; allein es ist das gar nicht so selten,
dass es schwarzscheckig ausfällt, vielleicht auch einmal ganz
schwarz; doch ist mir darüber nichts Bestimmtes bekannt ge-
worden. Das Schwarz erweist sich somit auch hier wieder als
die physiologische Mittel- oder Zwischenfarbe zwischen weiss
und rot, beziehentlich rotbraun.
Wie aber da, wo von beiden ganz weissen Eltern ein
schwarzes, oder wenigstens schwarzfleckiges oder graues Kind
erzeugt wird, wie das bei den Schafen z. B. häufig der Fall ist?
Nun, da verhält es sich ebenso. Man nimmt für gewöhnlich an,
dass in einem solchen Falle unter den Vorfahren der Eltern
sich ein entsprechend gefärbtes Individuum befunden habe, und
dass so ein blosser Rückschlag auf dieses erfolgt sei. Gewiss
ist das wohl in der bei Weitem grössten Zahl der Fälle anzu-
nehmen; sicher jedoch ist es keineswegs. Ausserdem ist damit
zunächst blos eine Erfahrung festgestellt, aber ein Verständnis
für sie noch nicht gewonnen.
Die Grundfarbe der Schafe ist aller Wahrscheinlichkeit nach
wieder ein Braun, beziehentlich Graubraun oder Rötlichbraun,
wie es die wilden Arten Ovis Ammon und Musimon, von denen
ja auch das Hausschaf herstammen soll, an den Tag legen, und
wie dieses selbst es mitunter, namentlich in einigen nördlichen
Gegenden, Pommern, Rügen, Mecklenburg u. s. w. noch zeigt.
Ovis Musimon ist braun, in einer Art rehbraun, im Gesicht, an
den Füssen mehr oder weniger weiss und namentlich der Bock an
Brust und Schultern schwärzlich, selbst schwarz. Die Hufe sind
schwarz; das Kleid ist hären, das Haar kurz, straff. Ovis Aries
var. Kamerunschaf ist Ovis Musimon im Bau ähnlich; die Farbe
aber ist schwarz. Doch habe ich auch schwarz und weiss und
selbst weiss und schwarz gefleckte gesehen, so dass die Annahme,
es werde auch ganz weisse geben, gewiss nicht ungerechtfertigt
ist. Bei den gefleckten, die mehr weiss als schwarz waren, fanden
sich denn wohl auch vereinzelte weisse Hufe. Das Kleid des Ka-
merunschafes wird auch noch durch ein kurzes straffes Haar
gebildet, das beim Bock jedoch an Nacken, Brust und Bauch in
Zotten übergeht, und damit den Anfang der Wollbildung dar-
stell. Ovis Aries var. Heidschnucke ist im Bau den vorigen
nicht unähnlich, schwarz, weiss, stichelhaarig, schwarz-weiss,
weiss-schwarz gefleckt, und je nachdem sind auch seine Hufe
165
gefärbt. Das Kleid ist ein Zottenpelz in weit fortgeschrittener
Wollbildung; die Wolle desselben ist jedoch noch grob, zottig
und darum als Wolle schlecht. Der Übergang von Ovis Musi-
mon zu Ovis Aries var. Merinoschaf, das uns nur zart und ge-
meinhin auch nur weisswollig und dementsprechend mit weissen
Hufen vor Augen kommt, würde demnach eine gewisse Klärung
erfahren, zugleich aber auch ersichtlich werden, warum unter den
gewöhnlichen Schafen, von denen das Merinoschaf doch blos eine
Abart ist, neben weissen, schwarzen, auch braune vorkommen.
Das Schwarz würde damit aber auch hier, d.h. bei den Schafen
nur als die physiologische Mittelfarbe von der Entartungsfarbe
Weiss und der Grund- oder Urfarbe Braun auftreten und eine Er-
starkung der Art in dem betreffenden Individuum anzeigen, weil in
dem Elternpaare, trotzdem beide weiss waren, doch die Beding-
ungen zu Ausmerzung gewisser Entartungsursachen, zum Aus-
gleich gewisser Schwächen und Fehler lagen.
Ein mir bekannter Taubenzüchter zog unter anderen Rassen
weisse Hochflieger. Um eine Blutauffrischung in seine Zucht
hineinzubringen, liess er sich von weit her einen entsprechenden
Täuberich kommen. Derselbe war ganz weiss ebenso wie die
Taube, mit welcher er zusammengebracht wurde, und die ersten
beiden Jungen dieses Paares, im Ganzen auch weiss, hatten
schwarze Flecken an beiden Schultern und den Flügelspitzen.
Die Grundfarbe der Haustaube, der sogenannten Feldtaube,
welche, wie Darwin nachgewiesen hat, von der Felstaube ab-
stammt, ist blaugrau, mit nach hinten weisslichem Rücken, einer
schwarzen Endbinde am Schwanz und zwei schwarzen Binden
über den Flügeln. Die schwarzen Flecke bei den erwähnten
Jungen sassen also keinesweges entsprechend diesen schwarzen
Binden; sie sassen vielmehr an Stellen, welche bei der Felstaube
graublau gefärbt sind und erwiesen sich damit als physiologische
Zwischenfarben zwischen Weiss und eben Blaugrau, als eine
Vorstufe von diesem zum Weiss, oder umgekehrt, von diesem
wieder zum Blaugrau.
Wenn weisse Mäuse und Ratten in die Hauptart zurückzu-
schlagen scheinen, so zeigen sie häufig erst schwarze oder
wenigstens viel dunklere graue Flecke, als das Grau der Haupt-
art ist; es treten auch ganz schwarze Tiere auf oder gescheckte,
bei denen das Schwarz vorherrschend ist, nicht blos dunkler
11*
164
gefärbte, von denen oben die Rede war. Kurz, das Schwarz
vielfarbiger Tierarten ist nur eine Vorstufe des endlichen Weiss
derselben und nicht ein Gegensatz zu diesem. Es ist ein Zeichen
einer schon weit gediehenen Entartung, welche endlich in dem
reinsten Weiss, der grössten Pigmentarmut, wie sie bei den
Kackerlacken vorkommt, ihren weitest gehenden Ausdruck findet.
Um dahinter zu kommen, wie wohl der Zusammenhang
zwischen dem Allen sein möchte, legte ich mir eine Ratten- und
Mäusezucht an. Weisse Ratten, weisse Mäuse wurden mit
wild eingefangenen grauen gepaart. Bis jetzt hat indessen nur ein
Rattenpaar, ein wildes graues Männchen und ein weisses Weib-
chen, befriedigende Ergebnisse geliefert. Die übrigen Ratten
wie Mäuse haben sich entweder überhaupt noch nicht vermehrt,
oder sie haben ihre Jungen bald nach der Geburt, oder aber
sich selber unter einander aufgefressen. Besonders war ein
wildes Rattenweibchen von einem hervorragenden Kannibalismus
beseelt. Alle weissen Männchen, die mit ihm zusammengebracht
wurden, wurden von ihm angebissen, todt gebissen und halb
aufgefressen, so dass es, zur Zucht unbrauchbar, endlich ge-
tötet werden musste. Von dem Rattenpaare jedoch, das sich
vermehrt hat, sind bis jetzt fünf Würfe zu verzeichnen gewesen,
und jeder Wurf bestand blos aus grauen, die Farbe des Vaters
tragenden Jungen. Im ersten Wurf hatten dieselben alle eine
ı—2 Mmtr. lange weisse Schwanzspitze, in den übrigen vier
Würfen, bis auf ein Tierchen, dessen äusserste Schwanzspitze
ebenfalls weiss war, waren alle samt und sonders wie die
wilden Ratten grau, echte Kinder ihres Erzeugers. — Ich be-
hielt mir von dem ersten Wurf einige Junge zurück; alle übrigen
gab ich im Herbst 1890 an Herrn Loeffler zu seinen bakterio-
logischen Untersuchungen. Herr Loeffler liess sie, da er an
ihrer Zucht in einer bestimmten Richtung kein Interesse hatte,
alle zusammen sitzen; doch blieben sie für sich allein; keine
andere Ratte kam mit ihnen in Berührung. Im Frühjahr ı8gı
liess mich Herr Loeffler rufen, um mir die Jungen zu zeigen,
welche inzwischen geboren worden waren. Die sämtlichen
älteren Ratten, welche Herrn Loeffler übergeben worden
waren, waren grau. Einzelne waren fleckig ausgeblasst, grau
und grau gescheckt. Von den Jungen aber war nur eins der
Hauptsache nach grau, alle anderen waren grau und weiss ge-
LS
scheckt, 3 waren ganz weiss und 2 tief schwarz. — Von den
vom ersten Wurfe zurückbehaltenen Ratten suchte ich ein
Männchen und ein Weibchen, also Bruder und Schwester nächster
Beziehung aus und brachte sie zur Zucht zusammen. Beide
waren ächt rattengrau — die weisse Schwanzspitze war in-
zwischen abgestossen worden —, und die zuerst geworfenen
Jungen, elf an der Zahl? Keins ganz grau!‘ Eins grau mit
mehr oder minder weiss an den Beinen, 5 grau und weiss, be-
ziehentlich weiss und grau gescheckt, 3 weiss, ı weiss und
schwarz gescheckt, ı ganz schwarz. Das Schwarz erwies
sich somit hier in der That als die physiologische Zwischen-
farbe zwischen weiss und der Grundfarbe grau, als welche sie
nach den bisherigen Wahrnehmungen angenommen werden
durfte und, wenn das auch nicht unmittelbar an den Kindern
hervortrat, an den Enkeln zeigte es sich ausser Zweifel stehend.
Später wurden ganz unter denselben Verhältnissen noch mehrere
schwarze Tiere geboren. Sie alle waren Männchen, und wenn
vielleicht auch stärker, kräftiger als die weissen, so doch ent-
schieden schwächer als die einfach grauen,
Ich versuchte in derselben Richtung auch Tauben und
Hühner zu ziehen. Die Versuche mit Tauben schlugen fehl,
weil es mir nicht gelang, ein gutes Zuchtpaar zu beschaffen.
Es war mir bis jetzt unmöglich, eine ächte Feldtaube zu er-
langen, welche bekanntlich von allen Taubenarten der Felstaube
noch am nächsten steht. Doch ist immerhin interessant, dass
von einem weissen Täuberich und einer Brieftaube, welche in
ihrer Färbung der Feldtaube nahe kam und namentlich recht
gute schwarze Binden besass, ein Täubchen gezeugt wurde, das
weiss war und sepiafarbene Flügel, sepiafarbenen Schwanz
und gleichfarbene Flecken an der Brust hatte, das Schwarz
also wenigstens in einer gewissen Nüance enthielt.
Dagegen waren die Versuche mit Hühnern von sehr be-
stimmtem Erfolg. Vier rein weisse Hennen, italiener Rasse,
Halbblut-Italiener und Halbblut-Brahma, wurden mit einem Hahn
der alten Landrasse, ausgezeichnet durch seinen doppelten Kamm
und sein bunt glänzendes Gefieder, in einer gut vergitterten
Voliere zusammengebracht. Aus den bezüglichen Eiern wurden
ausgebrütet und dann bis zur Fortpflanzungszeit aufgezogen neben
einer Anzahl weisser Hennen, von denen einige später am Rücken
einen kupferigen Schiller zeigten, ein kleines rebhuhnfarbenes
Huhn, stark an die entsprechenden Italiener erinnernd, ein weisser,
ein grauer (sogenanter Kuckuckssperber) und drei schwarze
Hähne. Einer dieser letzteren war mit einem leicht goldigen
Schiller am Halse versehen; die beiden anderen aber waren
kohlschwarz. Beide waren ausserordentlich starke Tiere. Der
eine hatte den doppelten Kamm des Vaters geerbt; der andere,
dessen Mutter die Halbblut-Brahmahenne war, hatte das Aus-
sehen eines Minorkahahnes. Von guten Hühnerkennern ist er
auch von vornherein dafür gehalten worden und selbst, nach-
dem denselben seine Abstammung behannt gemacht worden war,
erklärten sie, trotzdem könne er als Minorkahahn auf jede Ge-
flügel-Ausstellung gebracht werden und als solcher daselbst
sogar einen Preis erhalten. Ich führe letzteres an, weil es mir
auf die Rassenbildung ein Licht zu werfen scheint, unter welchem
dieselbe bisher noch nicht recht betrachtet worden ist.
Der Olm der Adelsberger Grotten, der Proteus anguineus,
ist in der Regel gelbweiss mit einem bald schwächeren, bald
stärkeren rötlich-grauen Anfluge, der im Lichte stärker und
särker wird und zuletzt in ein förmliches Blauschwarz übergeht.
Letzteres aber kann sich wieder verlieren und in das eigentümliche
grauliche Gelbweiss zurückkehren, das vordem bestand. Es
braucht dem Molch nur das Licht wieder entzogen, und er in
dem anhaltenden Dunkel zu leben gezwungen werden, wie in
den genannten Grotten, denen er entstammt. Das Schwarz be-
ziehentlich Blauschwarz und das Weiss beziehentlich Gelbweiss
stehen also auch hier in nächster Beziehung und gehen vielfach
in einander über. Ja, hier ist sogar bekannt, was diesen Über-
gang für gewöhnlich vermittelt: das Licht, und dass es von der
Stärke desselben und der Dauer seiner Einwirkung abhängt, in
welcher Weise der gerade in Betracht kommende Übergang
sich macht und bis zu welchem Grade er gelangt. Viel Licht
führt zu einer tiefen Schwärzung; aber auch schwaches Licht,
wenn es nur Dauer hat, kann eine wenigstens verhältnismässig
starke herbeifüren; schwaches Licht von keiner Dauer oder
blosses trübes Dämmerlicht, das dazu noch häufig unterbrochen
wird, lässt jedoch nur eine geringe Schwärzung, ein mehr oder
minder lichtes Grau aufkommen. Das Schwarz ist so auch hier
nicht der Gegensatz von Weiss, sondern nur eine Vorstufe
167
desselben, zu dem im übrigen zahllose andere allmählig hin-
überleiten.
Im Berliner Aquarium findet sich ein gelber Aal, an dem
nichts Anderes als die Augen und zwar schwarz gefärbt er-
scheinen. Neben diesem Aal in demselben Behälter tummelt
sich ein anderer, der fast schwarz wie ein Meeraal, Conger, aus-
sieht, aber einen ungleich breiten gelben Streifen am vorderen,
beziehentlich oberen Teile des Rückens trägt und an verschie-
denen Stellen des Rumpfes durch dessen Schwarz gewisser-
massen ein gleiches Gelb durchschimmern lässt. Das Schwarz
und Gelb dieser beiden Aale steht in offenbarer Beziehung zu
einander. Die Urfarbe des Aales ist am Rücken und den
Seiten olivengrün, olivenbraun und am Bauche weiss. Die
Farbe der Seiten geht aber nur bei dem sogenannten Blankaal
unmittelbar in dieses Weiss über; bei der ungleich grösseren,
vornehmlich im Meere lebenden Anzahl von Arten dagegen
findet sich zwischen ersterer und letzterer oft ein noch
mehrere Milllimeter breiter gelber Streifen eingeschaltet, der
sich in das Grün oder Braun der Seiten allmählig verliert,
während er von dem Weiss des Bauches im Ganzen recht scharf
abgesetzt ist. Dieser gelbe Streifen ist der Ausdruck eines ganz
bestimmten Pigments, das sich von dem Weiss des Bauches
aus über den ganzen übrigen Körper verbreitet und an diesem
zum grössten Teil in das die olivengrüne oder olivenbraune
Färbung bedingende übergeht. Nehmen die Bedingungen, unter
denen das geschieht, zu, d. h. steigern sich die Vorgänge, unter
denen die Pigmentbildung stattfindet, so tritt dieses quantitativ
und qualitativ verstärkt auf. Die olivengrünen oder braunen
Hautteile nähern sich dem Schwarz, erscheinen schwarz. Nehmen
dagegen die Bedingungen, unter welchen diese Veränderungen
vor sich gehen, ab, lassen die Vorgänge, die der Pigmentbildung
zu Grunde liegen, nach, so tritt dieses auch sowohl der Masse,
wie seiner Farbe nach verringert, geschwächt auf. Die oliven-
grüne oder braune Farbe blasst ab, mehr und mehr kommt
gelb zum Durchbruch. Anfangs schimmert es nur hier und da
gleichsam durck; dann greift es an einzelnen Stellen, wie z. B.
am Rücken, in einem mehr oder minder breiten Streifen Platz,
der Aal ist gefleckt, gescheckt; endlich erstreckt es sich über
die ganze, sonst dunkel gefärbte Hautdeeke und das gelbe Tier
168
ist fertig. Es entspricht dann etwa den Schimmeln unter den
Pferden, wie da, wo das Gelb blos noch so durchscheint, den
Grauschimmeln, den stichelhaarigen Tieren überhaupt. Das
fragliche Schwarz geht somit auch hier dem das Weiss ver-
tretenden Gelb vorauf, ist die physiologische Zwischenfarbe
zwischen olivengrün oder braun und gelb, nicht aber etwa ein
Gegensatz zu diesem.
Und beim Menschen? Die sogenannten Weissen, d. h. die
weissen Rassen sind keine Homologa der weissen Tiere oder
weissen Tierrassen. Die sogenannten Weissen, welche ihren
charakteristischsten Ausdruck in den Blonden finden, sind noch
immer gefärbte, eigentümlich, wenn auch schwach gefärbte
Menschen, vielleicht bis zu einem gewissen Grade gleich den
rothaarigen, den Füchsen unter den Menschen, Erscheinungen
einer Paraplasie des Pigments. Den weissen Tieren, den Kacker-
lacken unter diesen, entsprechen allein die Kackerlacken unter
den Menschen. Diese letzteren nun kommen zwar unter allen
Menschenrassen vor, unter hell- und dunkelfarbigen, unter blonden
Europäern, bräunlichen Asiaten und Amerikanern, allein nirgend
häufiger als unter den mehr oder weniger schwarzen Bewohnern
des Äquatorialgürtels, namentlich unter den Negern Afrikas und
Centralamerikas. Unter diesen letzteren, unter denen sie über-
haupt zuerst und zwar im vorigen Jahrhundert von Wafer in
Panama gesehen worden sein sollen, sind sie wenigstens früher
am öftesten beobachtet worden, vielleicht blos, weil die Gelegen-
heit am öftesten sich darbot, vielleicht aber auch, weil die
amerikanischen Neger unter ganz besonders ungünstigen Verhält-
nissen, in einer drückenden Sklaverei lebten, dadurch sehr her-
untergekommen und zu einer weit gehenden Entartung vorbereitet
waren. Doch dem mag sein, wie ihm wolle; jedenfalls erweist
sich hierdurch das Weiss auch beim Menschen erst als ein Folge-
zustand des Schwarz, das unter allen Farben vorzugsweise zu
ihm hinneigt, und damit denn wieder auch blos als eine Vorstufe
und nicht als ein Gegensatz zum Weiss angesehen werden kann.
Unter den Cretins, den Repräsentanten der weitest gehen-
den Entartung der Menschennatur, giebt es zwei Arten, die Cretins
im engeren Sinne und die Marrons, welche letztere hauptsächlich
inSavoyen heimisch sind. Jene sind, mit Virchow zu reden, klein,
missgestaltet, leukophlegmatisch, pastös; diese sind verhältnis-
mässig gross, nicht auffallend ”ungestaltet, dazu trocken, hager.
Die ersteren, wie es nach Rösch scheint, meist jung, sind blass,
kreideweiss; die letzteren, nach demselben Gewährsmann meist
älter, sind braun, woher sie denn auch Marrons, Marronen, heissen.
Nach Virchov ist die Entartung der Marrons nie so weit ge-
diehen, wie die der eigentlichen Cretins, vernehmlich auch ihre
kleinen Köpfe nie so unförmig, wie diejenigen dieser. „Überall
hier scheint die Schädeldifformität entweder eine mässigere zu
sein, und man beschreibt die Leute als Halbcretinen, oder sie
betrifft das Schädeldach“.*) Die weniger entarteten Marrons,
die meist älter als die eigentlichen Cretins sind, wohl weil sie
diese einfach überleben, indem sie widerstandsfähiger als diese,
älter werden, die weniger entarteten Marrons also,sind braun,
dem Schwarz sich nähernd, stärker pigmentiert; die, weiter ent-
arteten ächten Cretins dagegen sind auffallend weiss, oft/an-
scheinend kreideweiss, — daher denn auch nach Vieler Annahme
überhaupt ihr Name Cretin, nämlich von cretinus,/ beziehentlich
Creta, und nach Virchow’s Ansicht noch im Besonderen," um
mit ihm zugleich den Gegensatz zu Marron auszudrücken —,
die weiter entarteten Cretins also dagegen sind kreideweiss, ‚d. h.
der Farblosigkeit sich nähernd und damit wenig oder so gut
wie gar nicht pigmentiert. Das Schwarz, wenigstens relative
Schwarz ist somit auch hier, in der Reihe der Entartungsformen,
welche den Cretinismus darstellen, nur die Vorstufe des Weiss,
nicht aber sein Gegensatz.
Dasselbe zeigt sich endlich auch an verschiedenen Ver-
färbungen der Haut und ihrer Anhänge, welche im Laufe des
Lebens bei diesen und jenen Individuen auftreten und wohl
immer durch Nerveneinfluss bedingt sind, vornehmlich an den
Chloasmata und Vitiligines.. Jene zeigen sich als mehr oder
minder grosse, dunkle, bisweilen sogar tief braunschwarze
Flecken, welche eine sogenannte Nigrities partialis darstellen;
diese erscheinen als entsprechende Stellen von hellerer Farbe,
als sie die übrige Haut besitzt, häufig sogar weisslich, ja dem
Anscheine nach selbst ganz weiss. Sehrmerkwürdig nun ist,
dass die Chloasmata, die Nigrities partialis, den Vitiligines vor-
aufgehen und zwar der Art, dass letztere sich an den Orten
*) R. Virchow. Knochenwachsthum und Schädelformen, mit besonderer
Rücksicht auf Cretinismus, Virchow’s Archiy f. pathol. Anat. u. s. w. Bd. XIIL.S. 355°
170
entwickeln, wo jene vor dem sich ausgebildet hatten, d. h. also,
dass die Vitiligines gewissermassen die Chloasmata ablösen,
verdrängen, indem sie sich an deren Stelle setzen.
Ich habe einen Herrn zu behandeln gehabt, dessen Scrotum
der Sitz grosser, unregelmässiger, schwarzer und weisser Flecken
war, die anscheinend bunt durch einander wechselten. In
Wahrheit aber sassen die weissen Flecke in mitten der schwarzen,
indem sie von diesen wie von ungleich breiten Rändern, welche
hie und da durch gesunde Haut, beziehentlich Hautfarbe getrennt
erschienen, umgeben waren. Nach Aussage des betreffenden
Herren sollen zuerst sich nur die schwarzen Flecken gezeigt
haben und erst, nachdem dieselben eine Zeit lang bestanden hätten,
in ihnen die weissen zum Vorschein gekommen sein. Anfangs
seien diese letzteren nur klein gewesen; sodann aber haben sie
sich mehr und mehr vergrössert, und in dem Masse, als das
geschehen sei, haben sich dann die schwarzen Flecke selbst, in denen
sie entstanden wären, vergrössert. Die schwarzen Flecke mit
ihrer weissen Mitte haben sich mehr und mehr genähert, seien
zusammengestossen, zusammengeflossen, und es habe zuletzt
ausgesehen, als ob nicht blos die schwarzen Ränder, um die sich
immermehr vergrössernden weissen Flecke breiter geworden und
hie und da zusammengeflossen seien, sondern auch diese selbst.
Übrigens wird von den Dermatologen ganz allgemein an-
gegeben, dass die Vitiligines von bald breiteren, bald schmaleren,
stärker oder schwächer pigmentierten Rändern umgeben sein,
und dass diese in dem Masse centralwärts verschwänden und
peripheriewärts neu entständen, als jene an Ausdehnung zunähmen.
Eine stärkere Pigmentbildung, die gelegentlich bis zum Schwarz
führt, geht also einer so schwachen Pigmentbildung, dass Weiss
zur Erscheinung kommt, vorauf, und das Schwarz erweist sich
damit auch hier wieder blos als eine Vorstufe, und nicht als
ein Gegensatz des Weiss.
Bei Leuten, die vorzeitig ergraut sind, was am häufigsten
hei dunkel-, selbst scheinbar schwarzhaarigen der Fall sein dürftes
welche in ihrer Jugend blond, in ihrer Kindheit vielleicht gar
flachshaarig gewesen sind, kommt es vor, dass sie wieder dunkler
werden, ihr Haupt-, ihr Barthaar sich wieder, wenn auch nur
stellenweise, dunkel, tiefkastanienbraun bis schwarz färbt, in-
dessen blos, wie es scheint, um nach einiger Zeit, und zwar in
171
je späterem Lebensalter um so sicherer, wieder rasch zu ergrauen
oder gar weiss zu werden. — Bekanntlich lebt gegen das Alter, im
Alter der Geschlechtstrieb, ehe er erlischt, noch einmal auf, in
der Regel jedoch, um danach um so schneller völlig zu erlöschen:
der Anergasie desselben geht eine zeitweilige Hyperergasie
vorauf. So auch hier. Das alternde, alt gewordene Haar lebt
gewissermassen noch einmal auf; es wird wieder dunkler, selbst
schwarz, um danach jedoch, wie es den Anschein hat, desto
schneller von Neuem zu ergrauen, selbst weiss zu werden. Das
Schwarz geht dabei auch wieder nur dem Weiss vorauf, bildet
keinen Gegensatz, sondern lediglich die Vorstufe zu ihm und ist
damit denn auch in vielen Fällen offenbar nichts Anderes als
die physiologische Mittel- oder Zwischenfarbe zwischen blond
und weiss.
Wir mögen so hinsehen, wohin wir wollen, das Schwarz
und Weiss im Tierreich treffen wir nirgends im Gegensatz zu
einander, sondern stets in den nächsten Beziehungen. Keine der
zahlreichen Farben im Tierreiche haben so die Neigung in ein-
ander überzugehen, wie gerade sie. Unter den vielfarbigen
Arten zeigen sie Entartungszustände an, das Schwarz geringere,
das Weiss weiter gediehene, zuweilen soweit gediehene, dass sie
zum Erlöschen der Art führen, wie das namentlich unter den
Kackerlacken der Menschen der Fall sein soll. Das Schwarz
ist Ausdruck einer hyperergastischen, das Weiss solcher einer
hypergastischen, um nicht zu sagen, anergastischen Konstitution.
Halten wir das nun fest, so erklären sich endlich auch
Vorkommnisse, wie die von Crampe erwähnten, warum
z. B. ı) manche Arten mehr, manche weniger zu Farben-
abänderungen neigen, und warum z. B. 2) in einem Wurf Hasen
fünf Junge die Farbe der Art besitzen und eins weiss, gescheckt
oder schwarz ist. Es sind nämlich einer Farbenveränderung,
beziehentlich einer Vielfarbigkeit nur die Arten unterworfen,
deren Individuen sich durch eine gewisse Widerstandslosigkeit,
Impressionabilität, Vulnerabilität, und davon abhängige Bieg-
und Schmiegsamkeit oder auch Anpassungsfähigkeit, welch’
letztere ja allein nur auf jenen ersteren beruhen kann, auszeichnen.
Die zu Farbenänderungen geneigten Arten haben wir deshalb
von vornherein als aus mehr oder minder schwächlichen Individuen
bestehende anzusehen und dem oben Erörterten nach die schwarzen,
udn
die gescheckten, nb. weissgescheckten, die weissen selbst als beson-
ders schwächlich geratene unter ihnen zu betrachten. Allerdings
lässt sich das nur erklären, wenn wir das Leben nicht als etwas
ganz Eigenes betrachten, sondern lediglich als eine in bestimmter
Weise auf einen kleinen Raum konzentrierte Bewegung des grossen
Alls, welche von ihrer Umgebung, d.i. von aussen her, unter-
halten wird, wie etwa ein Wirbel in dem Gewoge eines mächtig
dahiuflutenden Stromes; allein dann klärt sich auch die uns be-
schäftigende Angelegenheit an der Hand des biologischen Grund-
gesetzes wie von selbst auf.
Dieses biologische Grundgesetz aber lautet: Kleine Reize
fachen die Lebensthätigkeit an, mittelstarke fördern
sie, starke hemmen sie und stärkste heben sie auf. Kehrt
man den Satz um, insofern man die Reizgrösse ein und die-
selbe, dagegen die Lebensthätigkeit, vertreten durch die ver-
schiedenen Individuen, die veränderliche sein lässt, so lautet
' das Gesetz: „Dieselben Reize, welche bei gewissen, widerstands-
fähigen, darum als stark und kräftig bezeichneten Individuen
die Lebensthätigkeit gerade anfachen und unterhalten, fördern
und ‚beschleunigen sie bei andern, widerstandsloseren und darum
schwächeren, hemmen sie bei noch schwächeren und heben sie
auf, vernichten sie bei ganz schwachen.“ Das tägliche Leben
liefert dafür die zahlreichsten Beweise, vom Alkohol und Tabak
angefangen, bis zum Ärger und zur Freude. Auf die Farbe
übertragen heisst das aber: Dieselben Reize, d. h. dieselben,
namentlich äusseren Verhältnisse und Umstände,
welche bei widerstandsfähigen, kräftigen, sogenannten
Durchschnittsindividuen zu der Entwickelung der
Grundfarbe einer Art führen, führen bei schwäch-
lichen, speciellschwächlicher und darumreizungsfähiger
in ihrem Hornblatt veranlagten Individuen zur Ent-
wickelung der schwarzen Farbe in Folge von Pigment-
hyperplasie, bei noch schwächlicheren zur Entwicke-
lung eines mehr oder minder reinen Weiss in Folge
von Pigmenthypoplasie und bei den schwächlichsten
zur Entwickelung eines durchaus reinen Weiss mit
roten Augen in Folge einer mehr oder weniger voll-
ständigen Pigmentaplasie. Die etwaigen abwegigen Fär-
bungen dagegen beruhen auf einer abwegigen Konstitution des
173
betreffenden Individuums von Hause aus, auf einer Besonderheit
in der Geartung des mütterlichen Eichens, des väterlichen
Samens oder auch beider. An der Rothaarigkeit, der Fuchs-
farbe unter den Tieren, soll ein, wenigstens ein verhältnis-
mässig grosser Überschuss an Schwefel Schuld sein, ein etwas
geringerer an der gelben Farbe der Haare. Was bedingt die
bläuliche, beziehentlich die ins Blaue spielende Farbe, welche
vornehmlich bei Rindern, Kaninchen, Hunden vorkommt?
Doch dass sind Fragen, die noch kaum angeregt sind, zur
Zeit auch kaum anzuregen sind. Für jetzt mag darum genügen,
dass wir überhaupt nicht mehr in Unkenntnis darüber sind,
was die Vielfarbigkeit mancher Tierarten und ihre leichte Varia-
bilität in der Farbe bedingt, denn das biologische Grundgesetz:
Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel-
starke fördern sie, starke hemmen und stärkste heben
sie auf, giebt darüber genügenden Aufschluss.
174
M
Die Körperwärme, besonders das Fieber,
und das biologische Grundgesetz.
Die Körperwärme ist das Ergebnis einer Verbrennung der
Körperteile. Von der Art dieser Verbrennung, ob sie rascher
oder langsamer vor sich geht, ob diese oder jene Stoffe, Ele-
mentarverbindungen, dabei verbrannt werden, ob diese oder jene
äusseren Verhältnisse sich dabei geltend machen, hängt es ab,
ob die Körperwärme eine höhere oder niedrigere ist, ob sie
einen allen gleichartigen Wesen mehr gleichen Charakter besitzt,
oder sich davon abwegig zeigt. Denn auch die Wärme hat,
wie das Licht ihre Verschiedenheiten. Der 'Thermanismus, die
Thermochrosie ist wissenschaftlich nachgewiesen.
Die dem gesunden Menschen zukommende Wärme bewegt
sich zwischen 37,0 ° und 38,0 °C. Bei Einzelnen sinkt sie wohl
auch ein wenig darunter, oder steigt auch ein wenig darüber.
Als Durchschnittswärme, als sogenanntes Tagesmittel der be-
züglichen Wärme für alle hat man daher 37,5 °C. angenommen;
von derselben aus werden auch nunmehr alle Bestimmungen in
Bezug auf Abweichungen und deren Grösse gemacht. Die
Körperwärme von 37,5 °C. hat man deshalb als die normale
bezeichnet. Sie stellt, als eine Euergasie des menschlichen
Organismus, die Euthermosie desselben dar, und die Farbe,
Chrosis, welche ihr zukommt, dürfte ebenso wie sie selbst als
die normale angesehen werden.
Steigt die Körperwärme über 37,5 °C., so ist sie Ausdruck
einer Hyperergasie des jeweiligen Körpers, also eine Hyper-
thermosie; sinkt sie unter 37,5 'C., so ist sie Zeichen einer
Hypergasie desselben, also auch eine Hypothermosie. Hyper-
thermosien über 38,0 °C. bezeichnet man als Fiebertemperaturen,
Hypothermosien unter 37,0°C. als Collapstemperaturen. In-
dessen ist dabei festzuhalten, dass nicht jede der bezeichneten
Hyperthermosien als Ausdruck eines Fiebers und damit als eine
Fiebertemperatur anzusehen ist. Es geschieht das freilich viel-
fach; allein es ist auch vielfach davor gewarnt worden. Dem
175
Fieber, beziehentlich der Fieberwärme, der Fiebertemperatur,
kommt noch etwas Anderes, Besonderes, zu. Ausser der Höhe
ist auch die Farbe, die Chrosis, der normalen Wärme abgeändert.
Die normale Thermochrosis ist eine anomale geworden, die
Euthermosie in ihrer Steigerung zur Hyperthermosie eine Para-
thermosie, und darin besteht das Wesentliche, Charakteristische
der Fieberwärme.
Jeder Verbrennungsvorgang wird, wenn sich die Bedingungen
ändern, unter denen er sich vollzieht, ein anderer. Abgesehen
davon, dass man dies schon, während er sich vollzieht, nach-
weisen kann, liefern die Verbrennungsergebnisse vornehmlich
dafür Beweise. Dieselbe Kerze, welche bei reichlicher Sauer-
stoffzufuhr hell und licht brennt und fast nur Kohlensäure
liefert, brennt bei ungenügender Sauerstoffzufuhr trüb und
dunkel und liefert neben geringeren Mengen von Kohlensäure
noch Kohlenoxydgas, Kohlenwasserstoffverbindungen, Kohle,
in Form des Russes, überhaupt. Und dem entsprechend
muss die Wärme, welche sie liefert, da die Beschaffen-
heit derselben erwiesenermassen unter verschiedenen Um-
ständen eine verschiedene ist, auch verschieden sein. Ihre Farbe,
die jeweilige Thermochrose, muss einen anderen Charakter haben.
Die Wärme, die ein eiserner Ofen ausstrahlt, ist eine andere als
die, welche ein Kachelofen abgiebt, und empfindliche Personen
behaupten, dass die aus einem glasierten Kachelofen stammende
Wärme ihnen weniger angenehm sei, als die aus einem blos mit
Tünche versehenen. Die letztere habe etwas Weicheres, sei
weniger spitz. Dass die Wärme, welche glühende Metalle aus-
strahlen, als eine andere gefühlt wird, als die, welche Gas-
flammen oder gar das elektrische Licht verbreiten, ist allgemein
bekannt. Die feuchte Wärme, die trockene Wärme, die als
Gewitterschwüle bezeichnete Wärme u. s. w. sind ebenfalls in
ihrer Verschiedenheit jedermann bekannt. Kurz die Thermochrose,
die Farbe der Wärme, hängt gerade so wie die Farbe des
Lichts von den Umständen ab, unter denen beide, Wärme und
Licht, entstehen beziehentlich bestehen: von den Körpern, die
verbrennen, von den Umständen, unter denen sie verbrennen,
und von der Art und Weise, wie sie, Wärme und Licht, sich
fortbewegen beziehungsweise sich fortbewegen können.
Im Fieber nun, das, ich möchte sagen, die Fieberwärme
liefert, ist der Stoffumsatz nicht blos der bezüglichen Temperatur
gemäss beschleunigt, — sie beruht ja auf ihm —, sondern er
ist auch verändert. Der Harnstoff, die Harnsäure sind, jedoch
nur in dem Verhältnis, in welchem sie auch im gesunden Leben
zu einander stehen, vermehrt; aber der Harnfarbstoff, das Urobilin,
ist nach Jaffe, manchmal bis auf das gofache seiner normaler
Weise ausgeschiedenen Menge gestiegen. Ebenso ist nach
Salkowski die Kreatinin- und Kaliausscheidung durch den Urin,
sowie nach Koppe der Gehalt des letzteren an Ammoniak, zum
Teil sogar um ein ganz Erhebliches, grösser geworden. Auch die
Kohlensäureabsonderung hat zugenommen, und zwar nicht selten,
wie z. B. im Typhus, um ı13—15°/o. Statt 730-750 gr
werden 800—850 gr davon in 24 Stunden ausgeatmet. Dagegen
hat sich die Ausscheidung des Natrons, des Chlors in sehr auf-
fälliger Weise, die der Phosphate wenigstens stark vermindert.
Das Verhäitnis, in welchem die verschiedenen der genannten
Ausscheidungsstoffe regelrechter Weise unter einander stehen,
hat sich damit bald mehr, bald weniger verschoben. Woran
das liegt, mag unerörtert bleiben; allein unter allen Umständen
weist es darauf hin, dass der Stoffwechsel ein von der Norm
abweichender, ein abwegiger und der ihm zu Grunde liegende,
ihn ausmachende Verbrennungsprozess ein anderer, mehr oder
weniger sich in fremden Bahnen bewegender geworden oder
auch gewesen ist. Das Auftreten sonst nicht bemerkbarer Riech-
stoffe im Harn, in der Ausathmungsluft, in den Hautausdünstungen,
in den Darmgasen legt ein weiteres Zeugnis dafür ab.
Die Fieberwärme, Fiebertemperatur ist danach aber nicht nur
Ausdruck eines gesteigerten, sondern auch eigenartigen, d. h.
von dem Gewöhnlichen abweichenden Verbrennungsvorganges
der Körperbestandteile. Sie ist Ausdruck eines erhöhten, zu-
gleich aber abwegigen und darum fremdartigen, darum aber auch
wieder krankhaften Ernährungszustandes, einer Paratrophie des
Gesamtorganismus, und ist darum endlich eine Parathermosie.
Hierdurch unterscheidet sie sich eben von der einfachen Über-
hitzung, der blossen der Hyperthermosie, und ist der Unterschied
auch nicht haarscharf, so ist er doch immerhin so erheblich, dass
in charakteristischen Fällen er deutlich wahrgenommen werdenkann.
Jede Hyperergasie, jede Hypergasie enthält parergastische
Beimischungen. Es ist undenkbar, und die Erfahrung hat es
177
gelehrt, dass eine Bewegung beschleunigt, dass sie verlangsamt
werden kann, ohne dass sie sich dabei in ihrer Form veränderte:
Die Wellen des Meeres, die Wellen des kochenden Wassers,
die Wellen der Luft, die auf ein Blatt Papier verzeichnet werden,
die Entwickelung der Chladni’schen Klangfiguren, jeder Kreisel,
jede rollende Kugel, jeder Gährungs-, jeder Fäulnisprozess, die
letzteren namentlich in ihren Produkten, von Brot und Kuchen,
von Bier, Wein und Branntwein angefangen, bis zum eklen
Fleisch, das im Eiskeller oder in der warmen Küche in Zer-
setzung geraten ist, bezeugen dies zur Genüge. Jede Hyper-
thermosie, jede Hypothermosie muss deshalb auch zugleich eine
Parathermosie sein. Aber a potiore fit denominatio. Herrscht
das hyper- oder hypergastische Moment vor, so Hyper- oder
Hypothermosie; tritt besonders das parergastische Moment in die
Erscheinung, so Parathermosie. In Folge dessen sehen wir denn auch
insbesondere Hyperthermosien leicht in Parathermosien über-
gehen. Die einfache Überhitzung wird zum Fieber, das wieder,
wenn die Ursachen jener nicht in Wegfall kommen, sie nur
steigert und so den bekannten Circulus vitiosus bilden hilft, der
jede Krankheitsentwickelung gewissermassen beherrscht. Der
Hitzschlag, nicht Sonnenstich, liefert dafür den besten Beweis.
Ist die Fieberwärme dem Allen nach auch wohl eine eigen-
tümliche, eine Parathermosie, so ist sie der Hauptsache nach
doch eine Hyperthermosie, und das ist es, was mir am Herzen
lag, erst festzustellen. Dasselbe lässt sich mutatis mutandis in
Bezug auf die Collapstemperaturen sagen. Sind auch sie bald
mehr bald weniger Parathermosien, das Wesentlichste an ihnen
ist und bleibt doch, dass sie Hypothermosien sind. Ganz ab-
gesehen von all den Erfahrungen und den etwaigen, daraus ent-
springenden Bedürfnissen, welche zu den eben angestellten Er-
örterungen geführt haben, sollen im Folgenden darum alle
Temperaturen des menschlichen Körpers über 37,5° C. einfach als
Hyperthermosien, alle unter 37,5° C. als Hypothermosien be-
zeichnet werden. Für den beabsichtigten Zweck kann das nur
zur Klärung der Sachlage beitragen.
Die gesunde menschliche Körperwärme, die Euthermosie
des Menschen von 37,5 C., ist, wie die Erfahrung gelehrt hat,
im grossen Ganzen stets dieselbe. Der Mensch gehört wie die
Hauptmasse der Säugetiere und Vögel zu den homöothermen
12
178
Geschöpfen Bergmann’'s. Es kann zwar bei Herrschaft hoher
Temperaturen der Umgebung, die über die Körperwärme hin-
ausgehen, diese selbst eine Steigerung erfahren; sie erfährt eine
solche auch, und zwar um so sicherer, je höher jene sind, je besser
diese selbst die Wärme leitet und die Verdunstung der Körper-
ausdünstungen hindert. Ebenso kann auch die Körperwärme
mehr oder minder tief unter die Norm sinken und sinkt auch
ebenfalls um so gewisser unter dieselbe, je tiefer die Tempera-
tur der Umgebung unter jener steht, je besser die Elemente
derselben die Wärme leiten und die Entweichung der Körper-
ausdünstungen befördern. Allein zunächst leistet die Körper-
temperatur, so zu sagen, noch Widerstand gegen die Temperatur
der Umgebung. Sie bleibt fürs erste immer noch niedriger als
die höhere Temperatur der Umgebung, und höher als die
niedrigere derselben, sich so viel als möglich um 37,5° C.
haltend, obgleich das Gesetz der Wärmeausgleichung dabei
seine volle Geltung behält. Ganz besonders zeigt sich dies bei
den niedrigeren Temperaturen der Umgebung. Während bei
den höheren derselben, wenn sie anhalten, die Körpertempera-
tur sehr bald steigt und sich ihnen nähert, weil die dem
letzteren zu Grunde liegende, stets neugebildete Wärme nicht
entweichen kann und sich darum je länger je mehr häuft, so
hält sich bei niedrigen Temperaturen der Umgebung die Körper-
temperatur verhältnismässig lange auf wenigstens annähernd
gleicher Höhe der Normaltemperatur. Eine Temperatur der
Umgebung von 42,0° C.—45,0° C., die also nur 5,0°—7,0°
höher ist, als die normale Körpertemperatur, dürfte sich von
dem Durchschnittsmenschen nicht über ein, zwei Stunden er-
tragen lassen, ohne ihn in die grösste Gefahr zu bringen oder
gar zu töten. Wird die Umgebung von Wasser gebildet,
stellt sie z. B. ein Bad dar, so kann der Mensch eine Tempe-
ratur von 45,0° C. sogar nur 10o—ız Minuten aushalten ohne
in Lebensgefahr zu geraten. Denn steigt seine eigene Tempe-
ratur über 42,0° C., so tritt bald Herzlähmung ein. Eine Tem-
peratur der Umgebung, die 20,0 °—30,0° C. und noch niedriger
ist, als die in Rede stehende Körpertemperatur, wird dagegen
in der Regel ohne besonderen Nachteil ertragen und zwar weil
die Körpertemperatur auf wenigstens annähernd 37,5 °, d.h. 36,0,
35,0, 33,0°C. erhalten wird und nur in ganz besonderen Fällen
179
tiefer sinkt. Selbst Temperaturen der Umgebung unter 0,0°C.,
können, wie die alltägliche Erfahrung lehrt, noch ganz gut aus-
gehalten werden, natürlich aber nur um so kürzere Zeit, je niedriger
sie sind, weil die Körpertemperatur auf einer die Lähmung der
wichtigsten Körperorgane, namentlich des Nervensystems, aus-
schliessenden Höhe erhalten bleibt. Eine grosse Rolle spielt
dabei wieder die Natur der Umgebung, und in dem die Wärme
gut leitenden Wasser tritt die bezügliche Abkühlung wieder
leichter und früher ein, als in der die Wärme im Ganzen schlecht
leitenden trockenen Luft. Allein auch in sehr kaltem, selbst
Eis haltendem Wasser kann doch diese Abkühlung, wie vor-
nehmlich die Geschichte Schiffbrüchiger in den späten Herbst-
und Wintermonaten lehrt, erst nach ı0, ı2, 20 Stunden erfolgen.
Das Alles weist darauf hin, dass im Körper des Menschen
wie der homöothermen Tiere ein Apparat, ein Organ, thätig
sein muss, welches die Temperatur desselben, beziehentlich den ihr
zu Grunde liegenden Verbrennungsvorgang so regelt, dass jene
trotz der mannigfach wechselnden Temperaturen der Umgebung
immer auf wenigstens annähernd 37,5° C. erhalten wird. Es
weist das darauf hin, dass durch diesen Apparat die Ver-
brennungsvorgänge, also der Stoffwechsel überhaupt, erhöht,
beschleunigt wird bei äusserer Kälte, dass er dagegen herab-
gedrückt, verlangsamt wird bei äusserer Wärme. Dieser Apparat
ist das Nervensystem und wohl das ganze Nervensystem, wenn
auch seine Anfänge oder Ursprünge an der äusseren und inneren
Oberfläche, beziehentlich in dem Paremchym der einzelnen Organe,
als Anfänge oder Ursprünge seiner centripetalen Abteilung, d. i.
seiner receptiven oder sensibelen Sphäre, und daneben der Über-
gang dieser letzteren in seine centrifugale Abteilung, d. i. seine
reactive oder trophische, mithin auch motorische und sekreto-
rische Sphäre, am Ende die vornehmste Bedeutung in demselben
haben mögen.
Die Temperatur der Umgebung wirkt als Reiz und zwar
in einer gewissen Breite, die zwischen + 45,0° C. und — 10,0,
15,0, — ?”C. liegt, als ein um so stärkerer, je niedriger sie ist. Dieser
Reiz wird von den Aufnahme- oder Receptionsapparaten desNerven-
systemes aufgenommen, recipiert, wird durch die aus ihnen ent-
springenden centripetalleitenden Nerven nach dem Centralnerven-
system geleitet, in dessen dem Bewusstsein dienenden Abteilung er
12*
180
zu einer Empfindung oder Wahrnehmung wird, um dann durch
die centrifugalen Nerven nach den Bethätigungs- oder Reactions-
apparaten geführt zu werden, in welchen, oder vielmehr besser
gesagt, mit welchen sie enden. In diesen Organen, beziehungs-
weise deren Zellen, wird dadurch zunächst eine der Reizstärke
oder auch dem Wechsel in derselben entsprechende Veränderung
im Gange ihrer Ernährungsarbeit, des sogenannten Stoffwechsels,
hervorgerufen. Derselbe wird beschleunigt oder verlangsamt,
und zwar jenes mehr bei Abkühlung, dieses mehr bei Erwär-
mung der Umgebung. Der entsprechende Ernährungs- oder
Stoffwechselsvorgang, ein atomistisch-molekularer, wächst in der
Regel bald so an, dass er als molarer in die Erscheinung tritt,
und mehr oder minder ausgiebige Muskelbewegungen, die sich
in Zittern und Schauern des ganzen Körpers, in Zähneklappen,
Schütteln, Stampfen, Springen, Laufen, an den Tag legen, so-
dann beschleunigte Atmung, beschleunigte Absonderungen,
namentlich seitens der Nieren, aber wohl auch der Leber, der
Magen- und Darmdrüsen, wofür der gute Appetit und die treff-
liche Verdauung in der Kälte zu sprechen scheinen, sind die
Folgen davon. Bei all’ diesen Vorgängen wird nun, wie wir
wissen, Wärme erzeugt und inumso höherem Masse, je energischer
sie sich abspielen. Kälte steigert die bezügliche Energie; aber
wie jedermann an sich selbst wohl erfahren hat, jedenfalls in
strengem Winter leicht erfahren kann, geht sie über ein gewisses
Mass hinaus, so bewirkt sie das Gegenteil. Strenge Kälte, zu-
mal wenn sie längere Zeit ihren Einfluss ausübt, wirkt hemmend
auf die genannten Vorgänge ein. Es entwickelt sich ein läh-
mungsartiger Zustand, meist geradezu als Lähmung bezeichnet;
die Wärmebildung lässt nach, die Körperwärme sinkt. Und wird
die Kälte noch strenger, oder währt ihre Einwirkung noch länger
an, so führt jener lähmungsartige Zustand in den Tod hinüber.
Die näher bezeichneten Vorgänge werden, weil die ihnen zu
Grunde liegenden Thätigkeiten aufgehoben werden, selbst auf-
gehoben. Es tritt Ruhe ein, das Tier, der Mensch stirbt.
Was die Temperatur der Umgebung, die Kühle, die Kälte
derselben thut, das thut jeder andere Reiz. Ein mehr oder
minder starker Schlag, Stoss, Druck, ein entsprechender Knall,
Blitz, Duft, Geschmack, rufen je nach der Stärke, mit der sie
einwirken, eine grössere oder geringere Wärmesteigerung ins Sein.
Dunst
Dasselbe haben damit natürlich auch alle sogenannten Schädlich-
keiten zur Folge, welche gerade zur Wirkung gelangten, ins-
besondere Gifte, die je nach der Menge, in welcher sie zur
Wirkung kamen, die Lebensthätigkeit selbst erhöhen oder herab-
setzen, die Körperwärme damit steigern oder erniedrigen und
demgemäss sich als Heilmittel oder als Gifte im engeren Sinne des
Wortes erweisen. Unter den Giften sind es wieder hauptsächlich
die organischen und unter ihnen die die sogenannten Infections-
krankheiten verursachenden, welche in dieser Beziehung vorzugs-
weise die Aufmerksamkeit in Anspruch genommen haben, und
nach den heute gäng und gäben Anschauungen von Mikrobien,
aber wohl auch das eine oder das andere Mal von dem eigenen
Körper bereitet werden. Es sind das die Ptomaine, Toxine,
Leukomaine u. s. w.
Werden diese Gifte in die Säftemasse des Körpers auf-
genommen, so entstehen je nach ihrer Art verschiedene entzünd-
liche Krankheiten, Scharlach, Masern, Pocken, Rotlauf, Diphthe-
ritis, Typhus, Cholera, Ruhr, Lungen- und Leberentzündungen,
Entzündungen der Knochen, Muskeln, des Unterhautzellgewebes
u. dgl. m. und mit allen diesen eine für sie mehr oder weniger
charakteristische Steigerung der Körperwärme, ein Fieber.
Dieses Fieber, oder vielmehr blos diese Fieberwärme, Fieber-
hitze, ist um so höher, je grösser caeteris paribus die Menge
oder Stärke des aufgenommenen Giftes war, und je grösser
nach Intensität oder Extensität oder auch beiden zusammen die
entzündlichen Zustände wurden, welche sie nach sich zogen.
Aus der Höhe des Fiebers und heutigen Tages vornehmlich
aus der der Fieberwärme, zieht der Arzt, natürlich wieder
caeteris paribus, seine Schlüsse in Bezug auf die Schwere der
jeweiligen Vergiftung und ihrer Folgen. Ist das Fieber stark,
seine Temperatur hoch, so war die bezügliche Vergiftung schwer
und zu ausgedehnten entsprechenden Ernährungsstörungen
führend; ist dagegen das Fieber nur,schwach, seine Temperatur
niedrig, so war die in Betracht kommende Vergiftung auch nur
leicht und die durch sie herbeigeführten Ernährungsstörungen
unbedeutend. Die Erfahrungen, welche mit dem Tuberculinum
Kochii gewonnen worden sind, bestätigen das vollständig, so
gut wie ein Experiment. Kleine Dosen, von 0,0005—0,001,
steigern unter Umständen auch bei gesunden Menschen die
182
Körperwärme; grössere, von 0,00I —0,0015—0,002, rufen bei
Tuberkulosen mehr oder weniger heftiges Fieber hervor; noch
grössere führen zu Collaps und selbst zum Tode. Die Vac-
cination thut, mutatis mutandis, so ziemlich dasselbe. Das Fieber,
die Fieberwärme der Infectionskrankheiten hat so eine doppelte
Ursache, ı. Die Reizung des Organismus durch die eingeführten
Gifte und 2. die durch diese letzteren hervorgebrachten Ent-
zündungen. Denn jede Entzündung, und um so deutlicher je
schneller sie sich entwickelt, je akuter sie auftritt und verläuft,
ist von Fieber begleitet. Die nach einfach mechanischen Ver-
letzungen, nach Quetschung, Druck, Stoss, Schlag, nach Ver-
brennung, Erfrierung auftretenden beweisen das. Jede Entzün-
dung, jeder Entzündungsheerd stellt einen die Körperwärme
beeinflussenden Reiz dar, und, je nachdem, wird er wie jeder
andere Reiz, also auch die Temperatur der Umgebung, sich in
Bezug auf sie geltend machen. Von dieser letzteren jedoch
wissen wir, dass sie die Wärmebildung des Körpers um so höher
steigert, je stärker sie bis zu einem gewissen Grade auf den
Körper selbst reizend einwirkt, dass sie danach indessen die
gedachte Wärme wieder mehr und mehr herabsetzt, indem sie
die Bildung derselben hemmt.
Bringen wir das in eine bestimmte Formel, so würde die-
selbe etwa lauten: Kleine Reize fachen die Wärmebildung
des Menschen wie nachweislich jedes homöothermen
Tieres oder Wesens an; grössere Reize beschlew-
nigen die Wärmebildung, noch grössere dagegen
setzen sie herab, und über diese letzteren hinausgehende
vernichtensie ganz. Aufdas biologische Grundgesetz übertragen
würde das aber nun heissen: Kleine Reize fachen die Lebens-
thätigkeit an, mittelstarke fördern sie, starke hemmen
sie, und stärkste heben sie auf. Auch die Wärmebildung, die
Wärme der Organismen, namentlich des Menschen, wie der
homöothermen Wesen schlechthin, würde somit blos zur Be-
stätigung desselben beitragen.
Natürlich ist auch hierbei ganz individuell, was als ein
schwacher, was als ein starker Reiz zu betrachten ist. Für
schwache, widerstandslose und darum mehr oder minder reiz-
bare Persönlichkeiten, Kinder, Greise, sind schon Reize stark zu
nennen, die für kräftige und darum widerstandsfähige Personen,
Mh
a
183
gesunde Männer, nur als schwache, vielleicht auch einmal als
mittelstarke zu gelten haben. Auch ist die Widerstandsfähigkeit
ein und desselben Menschen nicht zu allen Zeiten dieselbe. Die
bei verschiedenen Menschen und bei den nämlichen zu ver-
schiedenen Zeiten verschiedene Neigung zu sogenannten Er-
kältungen, welche im Wesentlichen nichts Anderes als Über-
reizungen durch Abkühlung sind, finden hierdurch ihre Erklärung.
Reizbare Persönlichkeiten, Frauen, zarte junge Männer,
sogenannte nervöse Individuen, pflegen vielfach eine grössere
als die Durchschnittswärme zu besitzen. Das Tagesmittel ihrer
Temperatur beträgt 37,6%, 37,7°, selbst 37,8° und leicht geht es
einmal über 38,0°C. hinaus. Schwächliche, nervöse, reizbare
Menschen fiebern leicht, und ihr Fieber nimmt auf den geringsten
Reiz hin bald einen hohen Grad an; 40,0°, 41,0°, 42,0°C. treten
zumal bei nervösen Persönlichkeiten rasch auf, freilich um in
der Regel auch ebenso rasch wieder zu verschwinden. Bei
eben solchen Persönlichkeiten führen darum auch stärkere Reize
gar nicht selten zu einer auffallenden Temperaturerniedrigung,
und derselbe Reiz, welcher vielleicht erst eine Temperaturer-
höhung bis auf 40,0%, 41,0°C. und darüber herbeigeführt hat,
bewirkt durch Hemmung ein Absinken derselben bis auf 31,0,
30,0°C. und darunter. Bei den an allgemeiner progressiver
Paralyse leidenden Kranken, welche nach den leichtesten In-
sulten, den oberflächlichsten Erkältungen, oft ein lebhaftes
Fieber zeigen, dessen Temperatur bis auf 41,0°C. und darüber
steigen kann, kommen bei schwereren Verletzungen, die sie er-
fahren haben, ganz aussergewöhnlich niedrige Temperaturen
vor. Bechterew beobachtete solche von 27,5°C., ich selbst
solche von 27,0°C. und 25,5°C. in der Achselhöhle. In meinen
beiden Fällen waren Lungenentzündungen, die zum Tode führten,
die Ursache davon. Und dasselbe fand statt in einigen anderen
Fällen, in welchen indessen die Temperatur nicht so tief, sondern
Dur bis auf 73,02 220.@,, in, den letzten Tebenstagen «e-
sunken war.
Was eine Lungenentzündung macht, macht gelegentlich auch
eine stärkere Darmreizung, machen Entzündungen, akute Verschwä-
rungen, namentlich des Dickdarms. Die sogenannten subnormalen
Temperaturen, welche dergleichen Zustände begleiten, sind dann
auch nieht als Ausdruck einer Lähmung, sondern als einer zu
184
starken Reizung in einem heruntergekommenen, schwachen,
widerstandslosen Organismus aufzufassen. Der betreffende Or-
ganismus ist allerdings zur Erlahmung geneigt; aber er ist noch
nicht erlahmt. Denn eine Erlahmung oder, des besseren Ver-
ständnisses wegen, Erlahmtheit, schliesst all’ und jede Funktion
aus. Allein auf Grund einer sich ausbildenden, einer beginnenden
Lährnung, treten leicht krampfartige Zustände ein, welche jede
energischere Funktion behindern, hemmen, und das hat in den
bezüglichen Fällen wohl alle Mal statt. Die Temperatur-
erniedrigung in der Cholera um 2,0° bis 3,0°C. unter die Norm
wird so wohl nur durch die erwiesene starke Darmentzündung
verursacht, welche den von den Kranken so viel beklagten
innerlichen Brand bedingt, und der Umstand, dass bei Cholera-
kranken kurz vor dem Tode, also wenn der Darm nicht mehr
in der bisherigen Kraft auf den Gesamtorganismus wirken kann,
und der von ihm eingeleitete und danach für einige Zeit gewisser-
massen festgehaltene Verbrennungsprocess sich nunmehr gleich-
sam von selbst macht, der Umstand, dass da wieder eine
Temperaturerhöhung eintritt, spricht wohllediglich dafür. Alle so-
genannten prämortalen und postmortalen Temperatursteigerungen
lassen sich in gleicher Weise vielleicht am leichtesten erklären.
Die voraufgegangene Hemmung der Wärmebildung lässt nach;
der eingeleitete bezügliche Chemismus vollzieht sich von selbst.
Die Körperwärme, Ausdruck der Lebensthätigkeit, wie
immer sie sich auch zur Wahrnehmung bringt, folgt dem Allen
nach lediglich dem biologischen Grundgesetze. Auch für sie
gilt: „Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an;
mittelstarke fördernsie, starke hemmen sie, und stärkste
heben sie auf.“
185
8, |
Die Psyche und das biologische
Grundgesetz.
Was die Psyche ist, wissen wir nicht. Wir verstehen dar-
unter das Etwas, durch welches die Wesen, denen wir es zu-
schreiben, sich ihrer bewusst werden, indem sie durch die
Reize der sie umgebenden Welt getroffen, diesen entsprechend
empfinden, fühlen, sich regen. Was wir Psyche nennen, ist also
wesentlich das Etwas, das wir als Bewusstseinsträger schlecht-
hin ansehen, das die mit ihm ausgerüsteten Wesen gleichsam
aus der übrigen Welt heraushebt, über dieselbe erhebt. Dieser
Bewusstseinsträger schlechthin entwickelt sich indessen mit
jedem Individuum, dem er eignet, wie dieses selbst. Er ist ein
Produkt seiner Entwickelung und damit denn auch offenbar
Produkt der Thätigkeit seiner Substanz. Die Substanz der
Bewusstsein besitzenden Wesen, all’ derjenigen also, welche be-
fähigt sind, sich ihrer jemals bewusst zu werden, trägt demnach
in ihren Bestandteilen wenigstens die Elemente, die Bedingungen
dazu, dass sie sich ihrer bewusst werden können. Das Bewusst-
sein oder auch blos die Möglichkeit sich ihrer bewusst werden
zu können, muss darum wieder an diese Bestandteile, beziehungs-
weise die Elemente, aus denen sich dieselben zusammensetzen,
geknüpft sein. Das Bewusstsein, die Möglichkeit sich seiner
jemals bewusst werden zu können, muss deshalb eine Eigen-
schaft dieser Elemente, beziehentlich ihres Zusammenwirkens
sein, ist darum als eine Funktion der Wesen anzusehen, welche
aus ihnen und ihrem Zusammenwirken hervorgegangen sind.
Ein besonderes Etwas als Träger dafür ist nicht erwiesen; es
ist nur angenommen. Die Psyche ist somit als etwas Besonde-
res, vom übrigen Sein der bezüglichen Wesen Getrenntes auch
Dicht zu erachten; sie kann nur als eine Funktion derselben, wie
186
etwa die Wärme, welche jene Wesen auch bilden, angesehen
werden. Und Wärme und Psyche stehen sogar in einem un-
verkennbar nahen Zusammenhange. Ja, wenn wir die bezüg-
lichen Wärmeäquivalente, Motionen und Sekretionen, ins Auge
fassen, so ist dieser Zusammenhang sogar ein sehr inniger.
Gewisse psychische Vorgänge werden geradezu in jene Aqui-
valente umgesetzt und, werden diese in ihrer Art sich zu be-.
thätigen verhindert, so in die Wärme, die ihnen äquivalent ist.
Es ist allerdings schwer, ja kaum, es ist gar nicht zu be-
greifen, wie die Bestandteile, aus denen Bewusstsein entwickelnde
Wesen zusammengesetzt sind, dieses Bewusstsein hervorbringen
sollen. Denn die fraglichen Bestandteile sind erwiesenermassen
rein stoffliche, sind rein materieller Art, wie die Bestandteile
aller sonstigen sinnlich wahrnehmbaren Wesen. Eine Reihe von
Forschern hat deshalb auch angenommen, den materiellen
Stoffen, aus denen die sinnlich wahrnehmbare Welt besteht,
komme Bewusstsein, wenn auch nur in seinen allerersten An-
fängen zu, und jedes materielle Atom enthalte in sich die Be-
dingungen wie zur Schwere, zu der Elektrizität, der Wärme,
dem Lichte, dem Chemismus, so auch zum Bewusstsein, bezie-
hentlich der Psyche. Andere, denen das nicht wohl möglich
erschien, und unter diesen Lotze, nahmen neben den materiellen
Atomen noch Seelenatome an, aus deren Verbindung mit den
ersteren das, was wir Leben nennen, entstehen sollte. Als Aus-
druck desselben sollte dann nach einer gewissen Richtung hin das
Bewusstsein oder auch die Psyche überhaupt entstehen, die, wenn
das Leben bedeutungsvoll gewesen wäre, wohl auch nach demsel-
ben erhalten bleiben könnte, sonst aber mit ihm zu sein aufhörte.
Noch Andere, also Dritte, welchen auch die Lotze’sche Auf-
fassung nicht Genüge schafft, und die den Begriff Psyche enger
fassen, sehen- in ihr etwas von dem Materiellen, dem Körper
des jeweiligen Wesens, durchaus Verschiedenes, wenn ihn viel-
leicht auch gänzlich Durchdringendes. Kurzum, was die Psyche
ist, wie sie, beziehungsweise das Bewusstsein aus der Materie ent-
stehen sollen, entstehen können, wissen wir nicht und werden
wir auch wohl niemals wissen. Es erscheint das Bewusstsein
als Produkt der Materie uns geradezu unbegreiflich.
Nichtsdestoweniger sind die Bewusstseinsvorgänge doch
alle an das Materielle, den Körper der bezüglichen Wesen
187
geknüpft und bringen sich nur durch diesen sowohl subjektiv
als auch objektiv zur Geltung. Die Gesetze, nach denen sich
alle materiellen Vorgänge in den betreffenden Wesen vollziehen,
müssen deswegen auch für sie massgebend sein, wenigstens in
ihrer Bedeutung für uns. Um sie einigermassen richtig zu be-
urteilen, haben wir wenigstens kein anderes Mittel als die materiellen
Vorgänge, durch welche sie veranlasst werden, und welche sie
selbst der herkömmlichen Auffassung nach veranlassen, durch
welche sie sich also bemerklich machen, und nach denen sie auch
von all’ und jedermann seither beurteilt worden sind.
Alle Bewusstseinsvorgänge, alle Bewusstseinszustände lassen
sich auf ein blosses Fühlen, und zwar ein Sich-fühlen, ein Sich-
selbst-fühlen in Bezug auf etwas Anderes zurückführen. Jede
Empfindung, jede Wahrnehmung ist ein Sich-fühlen, Sich-selbst-
fühlen und darum ein Selbst- oder auch schlechthin Gemein-
gefühlszustand, ein Selbstempfinden, ein Selbstbewusstsein gegen-
über dem Reize, welcher es hervorgerufen hat und erhält, und
zwarzunächst blos insofern, als er eshervorgerufen hat und unterhält.
Jedes Streben und damit auch jeder Trieb, jede Absicht, jeder Wille
ist aber darum auch nichts Anderes als dieser nämliche Selbst- oder
auch blos Gemeingefühlszustand, dieses Selbstempfinden, dieses
Selbstbewusstsein in Bezug auf den genannten Reiz, und zwar inso-
fern als es von ihm angezogen oder abgestossen wird, als es ihn er-
strebt oder abwehrt, haben oder nichthaben will. Jede Aeusserung,
Bethätigung, Handlung, mithin aber auch jedes Wort und was
diesem zu Grunde liegt, jeder Gedanke, jeder Begriff, ist nur
der Ausdruck davon, die beiden letzteren der subjektive, die
ersteren der objektive.
Anziehend, weil angenehm, wirken alle sogenannten mittel-
starken Reize, abstossend, weil unangenehm, belästigend, widrig,
schmerzend, alle starken. Der Duft der Rose, eines ganzen Rosen-
bukets, ist angenehm; reines Rosenöl wirkt belästigend, widrig.
Der leichte Thrangeschmack des Kaviar macht diesen zum
Leckerbissen; Thran selbst ist unausstehlich. Den zarten Gesang
eines wohlerzogenen Kanarienvogels hören wir mit Vergnügen;
vor dem wilden Geschmetter eines sogenanten Natursängers
halten wir uns die Ohren zu. Dem milden Morgen- und Abend-
licht, vornehmlich im Frühling und Herbst, kommt etwas Er-
quickendes, Labendes zu; das grelle Mittagslicht im Hochsommer
188
lässt uns halb die Augen schliessen. Auch das sanfte elektrische
Glühlicht hat etwas Angenehmes, während das starke Bogen-
licht, das volle Sonnenlicht schmerzt. Das sanfte Streicheln,
Drücken der Haut wirkt wohlthuend ein; starkes Reiben,
Quetschen, Kneifen derselben thut weh. Liebe und Hass sind
demnach auch nicht Gegensätze, sondern lediglich Stufen, Phasen
in der Stärke einer bestimmten Erregungsrichtung. Daher geht
die Liebe auch so oft in Hass über, und kehrt der Hass, wenn
er eine Zeitlang ohne Nahrung geblieben ist, wieder in Liebe,
wenn auch nicht von alter Stärke, zurück. Liebe und Hass
sind somit auch kein Geheimnis mehr. Magnetes Geheimnis ist ge-
schwunden und das von Liebe und Hass auch.
Wenn jede Empfindung, jede Wahrnehmung nur ein Selbst-
oder Gemeingefühlszustand und damit ein Gefühl überhaupt ist,
wofür die, wie die älteren Psychologen sagten, sie begleitenden
oder betonenden Gefühle, die durch sie erzeugten Lust- oder
Unlustgefühle, sprechen, — in Wirklichkeit liegt es indessen
wohl so: Ein Reiz ruft je nach seiner Stärke, seiner Quantität
ein Lust- oder Unlustgefühl hervor, das je nach seiner Qualität
zu dieser oder jener Empfindung oder Wahrnehmung wird, die
wohl in der Betrachtung, nicht aber thatsächlich von jenen zu
trennen ist, da sie beide immer nur zusammen, als ein untrenn-
bares Ganze vorkommen, — wenn also jede Empfindung und
Wahrnehmuug nur ein besonderes, durch den ihnen zu Grunde
liegenden Reiz bedingtes Gefühl ist, so müssen auch die ab-
strakten Vorstellungen es sein, welche von ihnen zurückbleiben,
aus ihnen sich entwickeln. Denn im Grunde sind diese ab-
strakten Vorstellungen nichts Anderes als solche Empfindungen
und Wahrnehmungen minus des bezüglichen, ich will einmal zum
besseren Verständnis sagen, adäquaten Reizes, während die Empfin-
dungen und Wahrnehmungen selbst nichts als solche Vorstellungen
plus eben desselben ‚Reizes sind. Alle Vorstellungen aber, wie
beschaffen sie auch sonst sein mögen, sind mithin auch blosse
Gemeingefühls-, Selbstgefühlszustände oder auch Gemeingefühle,
Selbstgefühle schlechtweg und zwar in ihrer Beziehung zu dem
Reiz, welcher sie in das Leben rief und dabei anziehend oder
. abstossend wirkte, ein scheinbar aktives Streben nach ihm oder
von ihm weg, d. i. ein Begehren oder Abwehren desselben
bedingte. Das Wort jedoch, als Zeichen dafür, das auch durch
189
andere Zeichen, Schreie, Gesten, Minen, Marken an Steinen,
Bäumen, Wegen, am Erdboden, auf Holz, Papier, ersetzt werden
kann, ist nur, wie das ja auch zum Teil längst anerkannt wird, eine
Aeusserung dieses Zustandes, um einem Anderen denselben in
allen seinen Beziehungen zu erkennen zu geben.‘ Durch das Zu-
sammenleben mit Anderen ist das Zeichen dann durch eine Art
stillschweigenden Uebereinkommens gewohnheitsmässig geworden;
zur Bezeichnung desselben Gemeingefühlszustandes ist es dann
von sämtlichen Beteiligten gebraucht worden.
In der weiteren Entwickelung ist darauf wieder zur möglichst
genauen Bezeichnung des betreffenden Gemeingefühlszustandes,
um ihn von sehr ähnlichen unterscheiden lassen zu können, das
Wort gewissermassen auseinandergelegt, die durch dasselbe gege-
benekomplexe Bezeichnung noch durch andere spezialisiert worden.
Es entstand so die Sprache, Sprache in dem Sinne, wie der
Begriff derselben von den Anhängern einer dualistischen Welt-
anschauung gebraucht zu werden pflegt. Mit der Begriffsbildung
von vornherein, so, als ob diese ihr erst hätte voraufgehen
müssen, hat die Sprache wohl nichts zu schaffen. Denn dass
sie erst möglich geworden sei, nachdem sich Begriffe gebildet
hätten, beruht wohl auf irrtümlichen Beurteilungen einer Reihe
von sprachlichen Vorgängen. Die Begriffe dürften sich im
Gegenteil erst mit der Sprache entwickelt haben. Zuerst ist
immer, wie das auch noch heut zu Tage jede individuelle Ent-
wickelung lehrt, blos ein Concretum, ein durch dasselbe hervor-
gebrachter Gemeingefühlszustand — auf den kommt es immer
an — durch das Wort bezeichnet worden, und erst nach und
nach sind mehrere solche gleichartige oder sich auch blos ähnelnde
Concreta, beziehentlich Gemeingefühlszustände unter demselben
Zeichen, d. i. demselben Worte, begriffen worden.
Dass mit der entwickelten Sprache und deren Lehre es
sich gegenwärtig anders verhält, ist dem nicht entgegen. In-
dessen das Wort, obwohl es nach wie vor dasselbe Zeichen
geblieben ist, hat auch seinen ursprünglichen Wert bedeutend
verändert. Es stellt sich beim Sprechen ein, ohne dass nach
ihm gesucht, geschweige denn der Begriff in das Auge gefasst
wird, den es bezeichnet. Jeder, auch nur einigermassen ge-
wandte Redner weiss das. Er hält seine Rede und, nachdem
er sie gehalten, ist gegebenen Falls er ebenso wie seine Zu-
190
hörer mit dem in ihr Gesagten zufrieden und nicht selten sogar
darüber erstaunt, wie er zu allen den Worten gekommen ist, die
sich ihm einstellten. Sie kamen ihm eben von selbst. Ja sogar
über die einzelnen Gedanken, welche er in diese Worte kleidete,
weiss er sich nicht Rechenschaft zu geben, weder wie sie kamen,
noch woher sie kamen. Sie waren auf einmal da, und er wurde
sich ihrer erst beim Aussprechen bewusst. Nicht er hatte die
Gedanken, sondern die Gedanken hatten ihn, habe ich einmal
bei einem. modernen Schriftsteller gelesen, und das passt so
recht eigentlich auf jeden Redenden, jeden Sprechenden, und
um so mehr, je besser er redet, je besser, d. h. je schnellere,
gewandter er spricht. Der unerwünschte Umstand, dass ein
sogenanntes unbedachtes Wort entflieht, das, so zu sagen, gar
nicht beabsichtigt war und doch sich gar nicht selten durch das
ganze Leben rächt, spricht nur dafür. Allein, was dem Redner
unter allen Umständen zum guten Sprechen notthut, das
ist ein gewisser erregter Gemeingefühlszustand, ein in bestimmter
Richtung, weil durch bestimmte Reize erregtes und damit ver-
stärktes Ichgefühl, das sich in einem bestimmten Interesse zu
erkennen giebt. Daher auch der alte Satz: Pectus est, quod
disertum facit!
Damit jedoch würde in der That alles bewusste Leben, das
ganze psychische Sein und Wesen, auf nichts Anderem, als einem
blossen Fühlen, einem Sich-selbst-fühlen, und zwar entsprechend
den aus der Umgebung und ihren Verhältnissen wirkenden
Reizen beruhen. Und in Wirklichkeit kann ich denn auch nichts
Anderes in ıhm erkennen! Denn alles psychische Leben is‘
lediglich das Aeussern eines Selbsgefühls, eines sich fühlenden
Selbst, eines Ich’s. Wie das in Folge der Einwirkung, sit venia
verbo, materieller Kräfte möglich ist, wissen wir eben nicht,
ist auch gar nicht einzusehen, und deshalb werden wir es auch
nie zu wissen bekommen; allein es ist nun einmal so.
Das Selbstgefühl, das Gemeingefühl, aus dem das psychische
Leben hervorgegangen ist, das Persönlichkeitsgefühl oder Ich-
gefühl, zu dem es geführt hat, die aber alle im Grunde das-
selbe sind, wie die zum Teil scherzhaften Ausdrücke: „Ich, ich
selbst“, „Ich für meine Person“, „Ich, was mein hohes Selbst
anlangt“ u. s. w. bezeugen, das Selbstgefühl also in seinen
verschiedenen Modifikationen und Relationen, die wir an der
Art und Weise, wie sie sich äussern, erkennen, bildet den Inhalt
des psychischen Lebens. Von dem Selbstgefühl in dem an-
gegebenen Sinne wissen wir jedoch durch E. H. Weber, dass
Ess m = einem senauen ‚Verhältnisse zu) den Reizen‘ steht,
welche dasselbe bestimmen. Das sogenannte psychophysische
Grundgesetz oder Weber’'sche Gesetz, wie Fechner es genannt
hat, besagt, dass, wenn in einer gewissen Breite, der der mittleren
Reizgrössen oder Schwellenwerte, die Intensität der Em-
pfindung um gleiche absolute Grössen zunehmen soll,
der relative Reizzuwachs konstant bleiben muss, oder
auch, dass ein Unterschied zwischen je zwei Reizen nur
dann als gleich gross empfunden werden wird, wenn
das Verhältnis derselben unverändert ein und dasselbe
bleibt. Das Weber’sche Gesetz besagt so kurz, dass in einer
gewissen Breite jeder Empfindungszuwachs proportional
dem Reizzuwachs ist, und dass das Selbstgefühl sich damit
ähnlich einem Manometer, Barometer, Thermometer, Elektro-
beziehungsweise Galvanometer, Photometer u. dgl. m. verhält.
Es hat dies Weber’sche Gesetz, wie gesagt, allerdings volle
Gültigkeit nur in der Breite der mittleren Schwellenwerte, der
mittelstarken Reize; vornehmlich in der Region der grossen
Schwellenwerte, der starken Reize, ist der Reizzuwachs nicht
mehr ganz proportional dem Empfindungszuwachs; sondern um
denselben Empfindungszuwachs zu bewirken, muss der Reizzu-
wachs immer grösser werden, bis dann schliesslich überhaupt
durch Zunahme der Reizgrösse keine Zunahme der Empfindung
mehr erzielt wird; allein im Grossen und Ganzen behält das
Gesetz darum doch seine Gültigkeit. Man kann daher schlecht-
hin auch immer sagen: „Der Empfindungszuwachs ist propor-
tional dem Reizzuwachs.“ Das Selbstgefühl verhält sich somit
gleichsam wie die Flüssigkeitssäule oder die Spiralfeder in jedem
Kraftmesser, nainentlich wie letztere, die auch in der Region
der höheren Grade der zu messenden Kraft immer stärker be-
lastet werden muss, um gleiche Ausschläge des bezüglichen
Zeigers zu bewirken, und es zeigt sich damit in keiner Weise
abwegig von Vorkommnissen, welche auch sonst in der Natur
Statt haben.
Das Selbstgefühl, Ichgefühl, Ich, ist also von der Aussen-
welt und ihren Reizen in ganz bestimmter, gesetzmässiger Weise
192
abhängig. Es wird in ihr in ganz bestimmter, gesetzmässiger
Weise beeinflusst. Es ist gewissermassen das Dynamometer,
beziehungsweise die Skala an demselben, durch welches das
betreffende Wesen erfährt, wie und welche Kräfte der Aussen-
welt auf dasselbe wirken.
Weniger von der Art dieser Kräfte, gemeiniglich Reize
genannt, als von der Stärke derselben hängt es ab, wie das
Selbstgefühl, das Ichgefühl, das Ich eines Wesens berührt wird.
Dasselbe kann gesteigert, erhöht, es kann herabgesetzt, ver-
mindert werden; es kann ebenso auch eine Förderung und eine
Hemmung erfahren. Denn Steigerung, Erhöhung und Förderung
sind hier, d. h. in Betreff des Selbstgefühls nicht etwa Eins,
ebenso wenig wie Herabsetzung, Verminderung und Hemmung;
im Gegenteil ein gesteigertes, erhöhtes Selbst- oder Ichgefühl
ist in der Regel ein gehemmtes, ein herabgesetztes, vermindertes
ein gefördertes. Das gesteigerte, erhöhte Ich nur fühlt sich
leicht gehemmt, das herabgesetzte, verminderte gefördert. Das
erstere erscheint deshalb in seinen Äusserungen wie bedrückt,
belastet, mehr oder minder nach Befreiung von dem bezüglichen
Druck, der bezüglichen Last strebend; das letztere erscheint
frei und ungebunden, in Gleichgültigkeit, Behaglichkeit, Heiter-
keit, selbst Ausgelassenheit geniessend, was der Augenblick
bietet. Das erstere wird damit zum melancholischen, melan-
cholisch-cholerischen, cholerischen Ich, beziehungsweise Tempera-
ment desselben, dies, das ist das letztere, zum phlegmatiseuzu
phlegmatisch-sanguinischen, sanguinischen.
Steigern sich die charakteristischen Züge der angeführten
verschiedenen Formen des Ich’s oder Selbstgefühls, d. h. treten
die Temperamente des letzteren schlechtweg immer stärker
hervor, überschreiten sie die Breite des Gewöhnlichen, des
Masses, das der Durchschnittszahl der Wesen gleicher Art eigen
ist, werden sie damit aussergewöhnlich, krankhaft, so entsteht
die Melancholie im engeren, landläufigen Sinne des Wortes, die
Melancholia passiva, activa, der Furor, die Manie, die Mania
sensu strietiore, die Chaeromanie, der Stupor. Die Melancholie
ist das gehemmte Ich in des Wortes vollster Bedeutung, die
Manie das geförderte Ich in demselben Sinne und der Stupor
das 'aufgehobene, das wvernichtete, zu Grunde sc
193
gangene Ich, soweit dies eben der Fall sein kann, ohne dass
der Tod des betreffenden Wesens erfolgt ist.
Was man im gewöhnlichen Leben, in der schönen Literatur
ein vernichtetes, ein zu Grunde gegangenes Ich .nennt, ist etwas
Anderes. Darunter wird ein verzweifeltes, tief niedergeschlagenes,
zum Tode bedrücktes Ich verstanden, also ein melancholisches,
das zwar leicht ein stuporoses werden kann, indessen es noch
nicht ist. Die Melancholie, das gehemmte Ich oder Selbstgefühl, ist
aber auch zugleich ein gesteigertes, erhöhtes, also hyperästhe-
tisches Ich oder Selbstgefühl, weil, wie schon hervorgehoben
worden ist, und die Erfahrung alltäglich lehrt, nur ein solches
hyperästhetisches, also überempfindliches Ich oder Selbstgefühl
sich immer zu stark berührt, beeinträchtigt, bedrückt, behindert,
gehemmt fühlen kann. Die Melancholie ist darum auch wesent-
lich eine Hyperthymie, eine krankhafte Steigerung, Erhöhung
des Selbstgefühls, das leicht eine zu starke Reizung erfährt und
dadurch zum Unlustgefühl wird, zum Gefühl des Bedrücktseins,
des Gehemmtseins und damit des Sich -nicht-bethätigen-könnens
in der angemessenen Form. Das melancholische Ich ist demnach
auch kurzweg das unlustige Ich, das schmerzerfüllte Ich und
zwar auf Grund seiner Hyperästhesie, d. i. der Hyperthymie,
die es darstellt, und in der es sich, so zu sagen, weil erhöhter,
erhabener, so nicht entsprechend berücksichtigt, vorkommt.
Die Manie, das geförderte Ich oder Selbstgefühl, ist davon
so ziemlich das Gegenteil. Sie ist das hypästetische Ich oder
Selbstgefühl, das nur wenig, z. T. sehr wenig empfindlich ist,
deshalb durch alle Einwirkungen nur schwach, vielfach auch gar
nicht beeinflusst wird und aus diesem Grunde sich auch nur wenig
oder selbst gar nicht gehemmt fühlt. Im Gegenteil, weil es sich
nicht gehemmt fühlt, fühlt es sich frei und ungebunden und wie
in seinem Streben, sich in ihm gleicher Form zu äussern, gefördert.
Die Manie, das geförderte Ich oder Selbstgefühl ist das, was
es ist, auf Grund einer gewissen Stumpfheit, Hypästhesie, die
ihm eignet. Die Manie ist das lustige, das heitere, das aus-
gelassene Ich, weil dieses die Hindernisse, die Hemmnisse nicht
ordentlich fühlt, die es überall umgeben und sich ihm entgegen-
stellen. Die Manie ist somit die Hypothymie, auf Grund welcher
schrankenlose Ungebundenheit und damit sich allerdings auch
eine gewisse Erhoben- oder Erhabenheit geltend macht, die aber
13
194
doch von der die Hyperthymie kennzeichnenden verschieden ist.
Beide unterscheiden sich z. B. sehr charakteristisch als Selbstgefühl
eines nervösen Aristokraten und Selbstgefühl eines angetrunkenen
Protzen.
In der Regel wird die Melancholie als ein blosser Depres-
sionszustand, die Manie als ein reiner Exaltationszustand be-
schrieben, jene als ein depressiver, dieser als ein expansiver
Affekt bezeichnet.. Ich muss darauf hinweisen, um nicht in den
Ruf zu kommen, mit meiner Auseinandersetzung Verwirrung an-
gerichtet zu ‘haben. Nach dem schon Besprochenen ist es ja
richtig, dass, wenn die Melancholie das gehemmte, die Manie
das geförderte Ich ist, jene auch einen depressiven, diese einen
expansiven Affekt darstellt, jene ein Depressions-, diese ein
Exaltationszustand ist. Allein es geschieht das nur — ich wieder-
hole es — weil jene vor Allem eine Hyperästhesie, die Hyper-
thymie, und diese ein Hypästhesie, die Hypothymie, darstellt,
Und darauf kommt es zum Verständnis, dem genetischen Ver-
ständnis des Ganzen an.
Ist die Melancholie die Hyperthymie, die Manie die Hypo-
thymie, so ist der Stupor, der ächte wahre Stupor, die Athymie,
wenigstens soweit als dies bei einem lebenden Wesen möglich
ist. Auch hier zur Vermeidung von Missverständnissen, Athymie,
im hier gebrauchten Sinne, ist nicht, was wir gewöhnlich Mut-
losigkeit nennen; das ist ein melancholischer Zustand; sondern
es ist auch wieder und zwar noch mehr als die Manie, das
Gegenteil davon. Was hier aus Zweckmässigkeitsgründen als
Athymie bezeichnet worden ist, entspricht dem, was man sonst
in der Regel Apathie nennt, das in der That aber nur eine
Selbstgefühlslosigkeit, Ichlosigkeit, und das ist eben die Athymie,
anzeigt.
Der physiologische, beziehentlich anatomisch-physiologische
Grund für alle diese Verhältnisse liegt bei den höheren Wesen
und vornehmlich beim Menschen, bei welchem bis zu einem ge-
wissen Grade es nachgewiesen werden kann, in der Ernährungs-
und den davon abhängigen Reizleitungsverhältnissen des Nerven-
systems. Denn das Nervensystem und in diesem wieder das
Gehirn, und in Sonderheit, das grosse Gehirn, ist der materielle
Träger des Bewusstseins und damit des Selbstgefühls, des Ichs.
Die Arbeit des grossen Gehirns, seine Funktion, ist, die ihm
zugeführten Reize bewusst zu machen und die bewusst gemachten
195
in entsprechende Thätigkeiten, Handlungen, umzusetzen. Durch
centripetalleitende Nerven und deren Reizaufnahme- Apparate
werden sie ihm nach physikalischen Gesetzen zugeführt; durch
centrifugalleitende Nerven und deren Reizumsatz-Apparate werden
sie wieder von ihm auf gleiche Weise abgeführt. Während die
Reize das Gehirn selbst durchwandern, empfindet es sie, nimmt
es sie wahr, wird es sich ihrer bewusst. Was geht dabei vor?
Das ist eben die Frage, die wir nicht zu beantworten vermögen,
obwohl wir uns recht gut schon sagen können, was rein physika-
lisch dabei geschieht, geschehen muss.
Die centripetalleitenden Nerven leiten die sie erregenden
Reize 2—3 mal so rasch als die centrifugalleitenden. Die Folge
davon ist, dass die fraglichen Reize in dem zwischen beiden
liegenden Gehirn, in welchem auch noch wieder eine Menge
entsprechender Leitungsverschiedenheiten zwischen seinen Ele-
menten vorhanden sind, aufgehalten, gehemmt werden. Dabei
wird die lebendige Kraft, welche diese Reize darstellen, in
Spannkraft, Druckkraft umgewandelt und so lange aufgestapelt,
bis die vorhandene, durch immer wieder neu angekommene und
in Spann- oder Druckkraft umgewandelte, lebendige Kräfte so
verstärkt worden ist, dass sie die hemmenden Leitungswider-
stände zu überwinden vermag und sich damit wieder in leben-
dige Kraft umsetzend in die centrifugalleitenden Nerven entladen
kann. In den mit diesen zusammenhängenden Endapparaten,
den verschiedenen Äusserungs- oder Reaktionsorganen, treten sie
dann als sogenannte auslösende Kraft auf.
Aus diesem Gehemmtwerden, Gehemmtsein der einwirken-
den Reize geht aber allem Anscheine nach das Selbstgefühl,
das Ich in den verschiedenen Modifikationen hervor, weiche wir
besprochen haben. Die vorhandenen Spannkräfte, ihr Druck
auf das Hindernis, das ihre Umwandlung aus lebendigen Kräften
bedingt und ihre Wiederumwandlung in lebendige Kräfte annoch
verhindert, werden bewusst, und es tritt der jeweilige, eigenartige
Selbstgefühlszustand in’s Leben, wie das seiner Zeit auseinander-
gesetzt worden ist. Je grösser die Menge der vorhandenen
Spannkräfte ist, um so grösser muss das Hindernis sein, unter
dem sie entstanden; um so grösser jedoch muss auch das aus
ihnen hervorgehende Selbstgefühl an sich, sowie der Druck, die
Hemmung sein, welche dieses an oder von dem Hindernis her
13%
empfindet, durch dessen Einwirkung es selbst erst entstand.
Jedes stärkere Selbstgefühl, jedes regere Ich muss darum auch
ein gehemmtes sein. Die Erfahrung lehrt es auch alle Tage.
Die Unzufriedenheit, nämlich mit dem Gegebenen, ist der erkenn-
bare Ausdruck davon. Umgekehrt, je weniger Spannkräfte in
dem Gehirn angesammelt sind, um so geringfügiger kann
auch nur das Hindernis sein, unter dessen Einfluss sie überhaupt
entstehen. Die ankommenden, lebendige Kräfte darstellende
Reize werden mehr oder weniger rasch weiter geleitet. Damit
muss dann aber auch das aus den bezüglichen Spannkräften
hervorgegangene, sie in gewisser Weise kennzeichnende Selbst-
gefühl nur ein geringes, und der Druck, den es Seitens des in
Betracht kommenden Hindernisses empfindet, ein unbedeutender,
kaum zu bemerkender sein. Jedes schwächere Selbstgefühl,
jedes trägere Ich muss deshalb auch ein gefördertes sein, und
das tägliche Leben beweist auch dies. Die Zufriedenheit, die
Wohligkeit, die Ausgelassenheit ist die Marke davon. Das un-
zufriedene, verdriessliche, mürrische, nach Veränderung strebende
Ich ist als solches immer ein starkes, bedeutendes; das zufrie-
dene, gelassene, heitere und fröhliche, nach Genuss der Gegen-
wart drängende ist immer ein schwaches, ein unbedeutendes.
Dass jenes ein für Andere leicht unbequemes, dieses ein immer
bequemes ist, ändert daran auch nicht das Geringste.
Der Unterschied in den Leitungsverhältnissen zwischen
centripetal- und centrifugalleitenden Nerven ist schon in gewöhn-
lichen Zuständen, d. h. solchen, die wir als normal bezeichnen,
ein marnigfaltiger. Die Thatsache, dass die ersteren 2—3 mal,
also in einer nicht genau bestimmbaren Breite schneller als die
letzteren leiten, beweist das. Es ist das bei den verschiedenen
Individuen verschieden. Auch leiten nicht alle centripetal-, nicht
alle centrifugalleitenden Nerven gleich rasch. Unter jenen dürften
die höheren Sinnesnerven, besonders N. opticus und acusticus,
unter diesen die Vasomotoren und vorzugsweise die Regulatoren
des Herzens am raschesten leiten.
Auf diesen mannigfachen, im Einzelnen ganz individuellen
Verschiedenheiten beruhen die Temperamente und ihre krank-
haften Ausschreitungen, die oben aufgeführten psychischen
Störungen. Ist der Unterschied in der Geschwindigkeit der
Leitung der centripetal- und centrifugalleitenden Nerven sowie
197
des zwischen beiden eingeschaltenen Gehirns nur ein geringer, so
kommt es in diesem letzteren zu keinen sonderlichen Hemmungen
und damit auch zu keinem recht gehemmten Ich. Ist die Erreg-
barkeit des Nervensystems überhaupt dabei eine geringe, so
entsteht vielmehr das lässige, behäbige Ich, das sich im phleg-
matischen Temperamente zum Ausdruck bringt, und ist die ge-
nannte Erregbarkeit eine grössere, so entsteht das heitere,
fröhliche, ausgelassene Ich, das sich in den verschiedenen Formen
des sanguinischen Temperaments an den Tag legt. Wenn da-
gegen der Unterschied in der Leitungsgeschwindigkeit der
centripetal- und centrifugalleitenden Nerven sowie des dazwischen
liegenden Gehirns ein grösserer ist, so kommt es je nach der
Grösse dieses Unterschiedes zu mehr oder weniger grossen
Hemmungen in diesem letzteren und daraufhin auch zur Aus-
bildung eines mehr oder weniger gehemmten Ich’s. Das melan-
cholische, das cholerische Temperament kommt zur Erscheinung.
Werden die in Rede stehenden Verhältnisse in der Leitungs-
geschwindigkeit der verschiedenen Nerven-, beziehentlich Ab-
teilungen des ganzen Nervensystemes durch krankhafte Zustände
in ihm sehr verschoben, gleichen sich die betreffenden Leitungs-
unterschiede mehr aus, wachsen sie mehr an, so entsteht der
Stupor, der ächte, rechte Stupor — denn es giebt auch einen
Stupor, der eigentlich eine Melancholie ist, die Melancholia
stuporosa, cum stupore oder, wie man ihn sonst wohl noch
nennt — und ferner die Manie, die Melancholie, der Furor. Da
die betreffenden krankhaften Zustände aber auf entsprechenden
Ernährungsvorgängen beruhen, welche im grossen Ganzen immer
ein und denselben Gang einhalten, schwach anfangen und all-
mählich erst an Stärke gewinnen, so treten auch die bezüglichen
psychischen Störungen im grossen Ganzen immer in derselben
Weise, hauptsächlich Reihenfolge, auf. Den Reigen eröffnet
die Melancholie. Ihr folgt der Furor. Die Manie verdrängt
diesen und an ihrer Statt tritt endlich der Stupor, häufig ersetzt
durch eine Melancholia stuporosa, auf. Genesung oder unheil-
barer Blödsinn bildet ‚das Ende beider.
Nach diesen Auseinandersetzungen, welche hauptsächlich
gemacht worden sind, um den scheinbaren Widerspruch zu lösen,
der in der Annahme liegt, dass das gehemmte Ich ein an sich
erhöhtes und das geförderte ein an sich herabgesetztes sein soll,
198
wenden wir uns wieder zu den Reizen und ihren Wirkungen auf
das Selbstgefühl, Ichgefühl, das Ich selbst.
Wenn jemand aufmerksam eine zechende Gesellschaft beob-
achtet, so wird er leicht Gelegenheit bekommen, die allmählich
sich steigernde Wirkung des Alkohols und seiner Verbündeten
sowohl an und für sich, als auch in Bezug auf die einzelnen
Persönlichkeiten wahrzunehmen. In letzterer Beziehung herrschen
viele Verschiedenheiten. Sie sind so zahlreich wie die Individuen,
die sie zu erkennen geben. Sie beruhen eben auf dem Indivi-
duellen. Dessenungeachtet ordnen sie sich doch auch wieder
einem allgemein Gültigen unter, das gewissermassen den Rahmen
bildet, in dem sie alle erscheinen, und dies ist das Charakteristische
der Alkoholwirkung. Dieses Charakteristische der Alkohol-
wirkung in psychischer Beziehung zeigt sich nun zuerst, also nach
einer geringen Einfuhr von Alkohol, in einer leichten Erhöhung
des Selbstgefühls. Das betreffende Individuum kommt sich in
sich gefestigter vor. Es zeigen alle seine Äusserungen mehr
Zuversicht und Selbstvertrauen, daher auch mehr Haltung, selbst
Würde. Danach tritt, nach weiterer Aufnahme von Alkohol,
ein Zustand ein, in welchem das Individuum sich offenbar schon
recht gehoben fühlt und das durch allerhand Überhebungen
anzeigt. Es tritt aus sich heraus, drängt sich mehr und mehr
hervor, zunächst noch in mehr rücksichtsvoller, sehr bald aber
auch in mehr oder weniger rücksichtsloser Weise. Es ent-
wickelt sich in ihm eine missmütige, ärgerliche Stimmung; es
fängt an zu nörgeln, zanken, zu streiten und, wie man ja weiss,
leider auch oft genug handgreiflich zu werden oder in Heulen
und Elend zu verfallen. Wird nun noch mehr Alkohol aufge-
nommen oder kommt der bereits aufgenommene zu stärkerer
Wirkung, so schlägt die Stimmung jetzt in der Regel um.
Das betreffende Individuum zeigt sich heiter, selbst ausgelassen,
macht allerhand Scherze und Spässe und lässt solche mit sich
treiben. Haltung und Würde, die eine Zeitlang zugenommen
hatten, gehen mehr und mehr verloren. Das Individuum macht
sich zum Narren, lässt sich zum Narren machen und dünkt sich
zur Herrlichkeit geboren, ein halber Gott zu sein. Geht die
Alkoholwirkung weiter, so fängt das Individuum an, unbesinn-
lich zu werden, erst unvollkommen, zeitweise, vorübergehend,
dann vollkommen und anhaltend. Zuerst percipiert und apper-
199
cipiert es wohl noch ganz leidlich; aber es vermag nicht mehr
gehörig dagegen zu reagieren. Es stockt in der Rede, es wird
verworren, redet Unsinn. Es kann nicht mehr sich recht halten;
es wankt und schwankt beim Gehen, selbst Stehen, fällt nieder.
Die bezüglichen Impulse erfolgen nicht mehr korrekt genug, im
Ganzen oder theilweise verlangsamt, und daher die jeweiligen
Störungen. Noch weiter und alle bewusste Thätigkeit hört
auf. Schlaf, selbst Schlaf bis zum Tode stellt sich ein.
Wer eine gute, kräftige Cigarre raucht, wird finden, dass
schon mit den ersten Zügen aus derselben sein Daseinsgefühl,
und das ist nichts Anderes als sein Selbstgefühl, ein gehobeneres,
gesteigerteres wird. Das Gefühl etwaiger Ermüdung, Er-
schöpfung, Schläfrigkeit schwindet; ein neuer, frischer Lebens-
genuss greift Platz und tritt immer stärker hervor. Der Raucher
fühlt sich gehoben, damit indessen doch auch bis zu einem ge-
wissen Grade gehemmt; in Rede und Widerrede, im ganzen
übrigen Denken, im Pläne- und Entwürfe-Machen, findet das
seinen Ausdruck. Das nimmt eine Zeitlang mit jedem Zuge aus
der Cigarre zu, und darauf gründet sich vorzugsweise der
Genuss des Rauchens an sich. Allein nach einiger Zeit ändert
sich das. Die Cigarre ist oft noch nicht aufgeraucht oder die
zweite ist kaum erst angeraucht, so hört die Unterhaltung, das
Pläne- und Entwürfe-Machen auf; eine beschauliche Ruhe tritt
an seine Stelle. Bilder um Bilder ziehen, wie wir sagen, an der
Seele des Rauchers vorüber, d.h. sein Selbstgefühl ändert sich
ohne Unterlass, aber ohne jede tiefere Erschütterung. Eine be-
hagliche Wonne, ein wonniges Behagen erfüllt ihn. Er fühlt
sich in sich gefördert, zufrieden, glücklich. Indessen das dauert
nicht lange. Abgesehen von den Zuständen der Nausea, die
sich einzustellen beginnen, manchmal einen sehr hohen Grad
erreichen, aber, nachdem sie zu Erbrechen und Stuhlgang ge-
führt haben, die Lage meist rasch ändern, treten jetzt auch
Zustände von Benommenheit des Bewusstseins auf, stellen sich
sogenannte Bewusstseinspausen ein. Es scheinen diese um so
bedeutender zu sein und um so mehr in den Vordergrund sich
zu drängen, je weniger die Nausea mit Allem, was zu ihr ge-
hört, ausgebildet ist. In der Regel hört jetzt aber der Be-
treffende auf zu rauchen. Er hat sich beraucht; das Weiter-
rauchen widert ihn an. Legt er die Cigarre nicht weg, raucht
200
er fort oder wirkt das Gerauchthaben weiter, so wird der
Raucher immer weniger im Stande zu percipieren oder gar zu
appercipieren; er hört auf, darauf zu reagieren und verhält sich
ganz analog, dem in demselben Stadium befindlichen Trunkenen.
Endlich verliert er wie dieser das Bewusstsein, sinkt oder bricht
auf einmal jäh in sich zusammen und verfällt in einen tiefen,
tiefen Schlaf.
Der Zustoss eines angenehmen Freignisses, eine kleine
Freude will ich sagen, deren Wesen ist, dass Hindernisse hin-
weggeräumt, Hemmungen beseitigt und Spannkräfte in lebendige
umgewandelt werden, ruft ein Gefühl der Behaglichkeit, des
Wohlseins hervor. Eine grössere Freude bewirkt Hüpfen und
Springen, Johlen und Singen, ganz Ausser-sich-sein vor Freude.
Eine noch grössere Freude kann für Augenblicke stumm und
starr machen. „Die Freude übermannte ihn.“ „Er konnte kein:
Wort reden.“ „Es dauerte erst einige Zeit, ehe er sich zu
fassen vermochte.“ Endlich kann die Freude, die übergrosse
Freude, der freudige Schreck tödten. „Vor Freude rührte sie
der Schlag.“
Ganz ebenso verhält es sich mit dem entgegengesetzten
Zustande, der Trauer. Die Trauer entsteht durch das Eintreten
von Hindernissen, welche die Bethätigung von Strebungen
hemmen, unmöglich machen. Ein unbedeutendes entsprechendes.
Vorkommnis macht missmutig. Ein Wehgefühl greift Platz, das
in etwas höherem Grade sich durch Thränen oder einige
heftigere Äusserungen Luft zu machen sucht. Ist das traurige
Vorkommnis bedeutender, so äussert sich seine stärkere Wirkung
durch verzweiflungsvolles Heulen, Schreien, Umherlaufen, Haare-
raufen u. dgl. m. Eine noch stärkere Trauer macht auch hier
stumm und starr. „Sie war vor Schreck wie gelähmt“. „Sie
konnte vor Schreck kein Wort sagen“. „Sie war wie ver-
steinert“. „Sie gab keinen Laut von sich, verlor keine Thräne“.
„Sie war wie zu einer Bildsäule gewandelt“. Dass endlich
Trauer auch tötet und viel leichter und öfter noch als Freude,
ist auch bekannt. „Vor Schreck fiel er tot um“. „Die Trauer--
botschaft erschütterte ihn so, dass er tot vom Stuhle sank“.
Les extremes se touchent.
Süssigkeiten, Leckereien aller Art in kleinen oder mässig‘
grossen Mengen, beziehentlich nicht zu lange Zeit hintereinander
em20l
genossen, steigern das Wohlbefinden, fördern damit das Selbst-
gefühl, das Ich. In grösseren Mengen oder durch zu lange
Zeit hinter einander genommen, erzeugen sie dagegen Wider-
willen gegen sie, Ekel, Übelkeit, Erbrechen. “Sie setzen das
Wohlbefinden herab, erst in geringerem, dann in stärkerem
Masse, heben es endlich auf, und indem sie das thun, schwächen
und vernichten sie, wenigstens bis zu einem gewissen Grade
auch das Selbstgefühl, das Ich.
Jeder Genuss, wie beschaffen er auch immer sein mag,
regt stets zuerst das Wohlbefinden an, steigert es bis zu einer
bestimmten Höhe; dann setzt er dasselbe herab, hebt es auf,
indem er Überdruss, Widerwille, Ekel bis zum Erbrechen erzeugt.
Musik und farbenprächtige Bilder, die Erzeugnisse selbst der
edelsten Literatur sind in ihren Wirkungen davon nicht ausge-
nommen.
Man ist im Conzert, in einer länger dauernden Oper. Die
ersten Stücke jenes, der erste Akt dieser rufen eine gehobene
Stimmung hervor. Durch die nächsten Stücke jenes, den zweiten,
dritten Akt dieser wird dieselbe gesteigert; die dann folgenden
Stücke, der vierte Akt, wirken schon auf Viele, nämlich die
reizbaren, weil widerstandslosen Zuhörer, wie dafür der ge-
wöhnliche Ausdruck ist, ermüdend. Die betreffenden Personen
sind nicht mehr im Stande, alle Eindrücke in der bisherigen
Schärfe und Gesondertheit aufzunehmen. Die schwächeren,
zarteren Töne entgehen ihnen; nur die stärkeren, härteren ver-
nehmen sie noch und dazuin vielfach veränderter, unreiner Weise.
Sie sind unvermögend geworden, aufzumerken. Erst gehen ihre
Gedanken spazieren; eine Art Ideenflucht bildet sich aus. Dann
verwirren sich die Gedanken; ein Träumen, ein in sich Versinken
stellt sich ein. Die betreffenden Personen hören nicht mehr,
sehen nicht mehr. Der lange andauernde Gehörsreiz, anfänglich
ein verhältnismässig schwacher, wurde durch seine Dauer erst
ein mittelstarker, dann ein starker und wirkte als solcher
hemmend. In Folge dessen wurden zuerst die schwächeren
Töne nicht mehr percipiert und appercipiert, zuletzt aber so
gut als keiner mehr. Die meisten in der Art berührten Zuhörer
verlassen dann bei passender Gelegenheit das Conzert, die Oper.
Geht das nicht und können sie sich nicht in den etwaigen
Pausen gehörig erholen, so kann es sich ereignen, dass sie
während der folgenden Musikstücke einschlafen und dass nach Be-
endigung des betreffenden Finale der bezüglichen Oper sie müssen
erweckt werden, um endlich nach Hause gehen zu können. Der
starke Gehörsreiz wurde durch seine Dauer zu einem sehr
starken, stärksten, und der lähmte, hob die Bewusstseinsfähigkeit
auf und veranlasste damit das, was wir Schlaf nennen.
In Ausstellungen, Gewerbe- und Kunstaustellungen, Ge-
mälde- und Skulpturensammlungen, in Museen, überall, wo es
viel zu sehen giebt und namentlich von einerlei Art, kann man
etwas Ähnliches gewahren. Die Besucher treten ein. Man
sieht jedem die Freude, das Entzücken an, das er empfindet, .
und hört es ausserdem bestätigt. Freude und Entzücken nehmen
zunächst noch mit jedem Saale, der neu beschritten wird, zu;
danach aber macht sich, und zwar zuvörderst nur bei Einzelnen,
sehr bald aber mehr allgemein eine gewisse Abspannung, wie
wir sagen, bemerkbar. Je länger, je mehr tritt sie hervor. Die
Leute sehen nicht mehr recht. Das, was sie sehen, verwirrt
sich unter einander. Es sind nicht mehr einzelne Dinge, welche
sie wahrnehmen, sondern ein Chaos von solchen. Sie ver-
stummen, setzen sich, starren vor sich hin, starren ins Leere, ver-
lieren sich in demselben und fangen an, einzuschlafen, schlafen
wohl auch ein. Die ersten Eindrücke, beziehentlich Reize, waren
noch verhältnismässig schwach und regten das bewusste, das
Gefühlsleben blos in etwas stärkerer Weise an. Dasselbe nahm
fürs erste durch immer neue Reize und Dauer der Einwirkung -
derselben zu. Die Reize wurden dadurch zu stärkeren, mittel-
starken. Dann wurden die folgenden und vornehmlich wieder
auf Grund der schon bestehenden Reizung, zu starken, und eine
Hemmung des bewussten Lebens trat ein. Endlich wurden die
fort und fort wirkenden Reize, auf Grund der Zeit ihrer Wirkung,
beziehungsweise ihrer Häufung zu sehr starken oder stärksten,
und die in Rede stehenden Lebensvorgänge wurden mehr und
mehr wenigstens auf Zeit vernichtet.
Wer hätte nicht an sich selbst erfahren, dass ein anerkannt
vortreffliches Buch, welcher Art es auch sonst war, zuerst blos
ein gewisses Interesse erregte, dass dieses Interesse jedoch mit
jeder Seite, die gelesen wurde, wuchs; bis mit einem Male es
‚nachliess, sich verlor, die Fähigkeit das Gelesene aufzunehmen
und zu behalten erlosch, und schliesslich das interessante Buch
203
nicht blos nicht vor dem Einschlafen schützte, sondern geradezu
einächtes, rechtes Schlafmittel wurde? Wer hätte dasselbe nicht an
einem längeren, noch so guten Schauspiele, an einer längeren,
im Übrigen ganz vorzüglichen, geistreichen Rede, zumal Jubi-
läumsrede, oder entsprechenden Predigt erlebt? Jeder Genuss,
wie beschaffen er. auch sein. wie sehr er auch von dem
Materiellen losgelöst, geistig, hehr und erhaben erscheinen mag,
regt eben immer zuerst blos das Wohlbefinden an, steigert es
danach bis zu einem gewissen Grade; dann setzt er dasselbe
herab und hebt es endlich auf. Die Neigung verwandelt sich
in Liebe, die Liebe in Abneigung, Hass und zuletzt in Gleich-
gültigkeit.
Je stärker ein Genuss von vornherein wirkt, je früher tritt
die entsprechende Phase auf, und man kann deshalb kurzweg
sagen, dass, da jeder Genuss auf Aneignung eines Reizes beruht,
kleine Reize das Wohlbefinden, beziehentlich das Selbst-
Mesinls das Ich, ın irsend) einer Wieisel anreoen, an-
fachen, mittelstarke es fördern, starke es hemmen und
sfärkste es aufheben.
Das biologische Grundgesetz hat somit auch für das psy-
chische Leben, die Psyche kurweg, Geltung. Sobald wir uns
nur mit ihm und seinem Wesen, mit dem Wesen der Psyche
und ihren Aeusserungen bekannt gemacht haben, gewahren wir
seine Herrschaft über sie allenthalben. Unser ganzes Fühlen und
Denken, unser ganzes davon abhängigesStreben und Handelnist dem
biologischen Grundgesetz unterworfen, wenn auch individuelle
Verhältnisse, eine grössere oder geringere Reizbarkeit, eine
grössere oder geringere Erschöpfbarkeit im Allgemeinen oder
in besonderen Gebieten noch so viele Ausnahmen davon zu
bilden scheinen. Schwächere Individuen lassen es in seinen
Wirkungen auf sich früher und deutlicher erkennen; stärkere
setzen ihm einen grösseren und längeren Widerstand entgegen,
und namentlich sind es seine gewaltigen Wirkungen, die sie nur
schwer an sich erkennen lassen; aber gebeugt werden sie zu-
letzt doch alle durch dasselbe.
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